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Landesverein Sächsischer
Heimatschutz
Dresden
Monatsschrift für Heimatschutz, Volkskunde und Denkmalpflege
Band XIII
Inhalt: Um Lugstein und Kahleberg – Aus Ritter Turmfalks Burg und Kinderstube – Ins Trappengebiet – Aus einem alten Stammbuche – Unsere alte Linde – Leineweber-Weihnachten auf der Neusorge vor fünfzig Jahren – Flurnamen im Dienste der Ortsgeschichte – War sich a Kuh kaafn will, muß erscht in Schtall hom! – Eine vergehende Windmühlenlandschaft in der südlichen Oberlausitz – Zur Steinkreuzfrage – Warum muß der Dresdner Zwinger erhalten werden? – Bücherbesprechung – Naturdenkmäler
Einzelpreis dieses Heftes 2 Reichsmark
Geschäftsstelle: Dresden-A., Schießgasse 24
Bankkonto: Commerz- und Privatbank, Abteilung Pirnaischer Platz, Dresden Bassenge & Fritzsche, Dresden
Dresden 1924
[393]
Die Mitteilungen des Vereins werden in Bänden zu 12 Nummern herausgegeben
Abgeschlossen am 31. Dezember 1924
Von Dr. Kurt Schumann, Dresden
Mit Bildern von Walter Möbius, Dresden
Ich fahre gern mit der Kleinbahn. Man kann sich in Ruhe alles ansehen, was draußen vorgeht, kann die Gesteinsarten und ihre Pflanzendecke gründlich studieren, sich mit der Bevölkerung, ihren Sitten und ihrer Sprache vertraut machen, ist gegen Zusammenstöße mit Schnellzügen geschützt, wenn es auch vorkommt, daß die Lokomotive mit dem ersten Wagen in die Müglitz fällt, und man fährt vor allen Dingen sein Geld ordentlich ab. Die Mehrzahl dieser Vorteile fällt im Winter, wenn man zum Skilauf ins Gebirge fährt, weg. Draußen sieht man nichts, weil es bei der Bergfahrt wie bei der Talfahrt finster ist, die Bevölkerung im Wagen verschwindet unter Bretterhaufen und Rauchschwaden, und die lange Fahrt wird, wenn man sich nach sportlicher Betätigung sehnt, ein zweifelhaftes Vergnügen. Deshalb ist es außerordentlich zu begrüßen, daß in dieser Jahreszeit die Bahnverwaltung Züge fahren läßt, die statt der üblichen fünfzehnmal nur dreimal zwischen Heidenau und Altenberg halten. Daß sie trotzdem dieselbe Zeit brauchen wie die fünfzehnmal haltenden Züge, liegt diesmal nicht an der wohlmeinenden Bahnverwaltung, sondern an der klimatischen Eigentümlichkeit unsrer Gebirge, die doppelt soviel Niederschläge erhalten wie die vorgelagerten Niederländer, und zwar im Winter in Form von Schnee, weshalb man ja zum Wintersport ebendahin fährt. Dazu[394] kommt noch, daß in diesen Gebirgen, namentlich da, wo sie der Mensch abgeholzt hat, der Wind in unfreundlicher Weise bläst, was zur Folge hat, daß auf den Feldern, wo man den Schnee zum Fahren braucht, der Sturzacker herauskommt, während er an anderen weniger zum Skifahren geeigneten Stellen meterhoch liegt. Zu diesen anderen Stellen gehört die Bahnstrecke Geising–Altenberg. Trotzdem waren wir, als wir am 1. März nach dem üblichen Mord und Totschlag beim Umsteigen in Heidenau im Sportzug saßen und durch eine merkwürdige Fügung auch noch einen Sitzplatz erhalten hatten, auf den sich niemand zu setzen gewagt hatte, weil es niemand für möglich hielt, daß zehn Sekunden nach Ankunft des Dresdner Zuges es noch einen freien Platz geben könnte, guter Hoffnung voll, zumal es in den letzten Tagen nicht geschneit hatte. Um das Versäumte nachzuholen, fing es hinter Bärenstein derartig an Schnee zu schütten, als hätte es den ganzen Winter noch nicht geschneit, und so geschah wieder einmal das Unausbleibliche. Als das Zügel mühsam an dem Hang des Geisinger Tals hinaufgeklettert war und nun auf der Westseite vom Geisingberg die Hochfläche erreicht hatte, die das Tal des Roten Wassers von dem der Biela trennt, stand es trotz seiner zwei Maschinen still. Es fuhr noch einmal zurück, nahm einen gewaltigen Anlauf und blieb abermals stecken. Dann fuhr eine Maschine allein los und soll der Sage nach auch in Altenberg angekommen sein. Zurück kam sie jedenfalls nicht, und so schneite die andre Lokomotive samt Zug und Passagieren langsam ein, spuckte noch eine Weile verzweifelt Dreck und Feuer und ergab sich dann in ihr Schicksal. Ich ergab mich auch in das meine, zumal ich es als eine gerechte Strafe des Himmels dafür empfand, daß ich der Mahnung meines Söhnleins (Vater, du könntest[395] eigentlich auch einmal zu Hause bleiben) wieder einmal nicht gefolgt war, obwohl ich den Winter in der Sächsischen Schweiz, in der Dresdner und Dippoldiswaldaer Heide, auf dem Carolasee und der Waldparkbahn wirklich zur Genüge schon genossen hatte. Ich wäre vielleicht auch diesmal zu Hause geblieben, wenn nicht Beelzebub in der Gestalt des Wandergenossen, der die schönen, diesen Aufsatz schmückenden Bilder geschaffen hat, mir mit dem Versprechen genaht wäre, daß er mit mir am Sonntag nach der Strobnitz fahren wollte, jenem schönen Aussichtspfeiler am böhmischen Hang, der durch Schiffners und Wagners begeisterte Schilderung zum Traum meiner schlaflosen Nächte geworden war. Reue und Gram im Herzen verließen wir schließlich den warmen Wagen, um uns gegen den Südweststurm nach Altenberg hineinzukämpfen. Glücklicherweise klebte es wenigstens nicht, und so kamen wir schon nach einer Viertelstunde in die Altenberger Vorstadt, die den ebenso unerklärlichen wie anheimelnden Namen »Polen« führt, stolperten an verschiedenen Hausgiebeln vorbei, liefen manchmal Gefahr, in einen zu irgendwelcher Haustüre führenden Tunnel zu fallen, erblickten ab und zu tief unter uns am Grunde von kunstgerecht ausgeführten Schächten (wir sind hier im Zinnbaugebiet) einen Lichtschein, der sich hinterher als Stubenfenster erwies, rutschten noch über einige gewaltige Schneewogen und standen plötzlich vor unserem Quartier. Drinnen fanden wir eine warme Küche und zwei alte Weiblein, die nach vorsichtiger Schätzung den Einbruch der großen Binge schon mit erlebt haben mußten, dazu drei alte Katzen, die teils blind und teils zahnlos waren und sich auch sonst sehr würdig benahmen im wohltuenden Gegensatz zu einer vierten, die sich mit ihrem noch wohlerhaltenen Gebiß über den in der üblichen liederlichen Weise eingepackten Rucksack des, abgesehen[396] vom Namen, ganz unprophetenhaften Wandergenossen Elias hermachte und ihm den Belag von den Bemmen fraß. Das wurde für uns zum willkommenen Anlaß, den Rest unseres am Morgen gefaßten Gehaltes in Gewiegtem anzulegen und uns auf die Weise für die Strapazen des Sonntags zu stärken. Hätten wir allerdings gewußt, was uns bevorstand, so hätten wir zweifellos noch ein paar Eier an das Fleisch gerührt.
Am nächsten Tage brach nämlich im Flachland der Frühling aus, was die Dresdner veranlaßte, schöne Spaziergänge in den Großen Garten zu machen. Wir aber erlebten nach dem bekannten Gesetz von der Tücke des Objekts wieder einmal die Kehrseite von der Medaille, indem es fürchterlich pappte, als wir am Morgen am Raupennest (Name einer alten Bergherrenfamilie) emporkletterten. Ich gedachte zunächst wie immer an dieser Stelle meiner schönen Konfirmationsuhr, die ich vor zehn Jahren hier beim Hinabrollen nach Altenberg verlor, ohne sie jemals wiederzusehen, und dann faßten wir angesichts der zwanzig Zentimeter dicken Schneeschicht, die an den Brettern klebte, den männlichen Beschluß, die geplante Strobnitzexpedition aufzugeben und einen Spaziergang nach den nahegelegenen Lugsteinen zu machen. Also begaben wir uns zunächst nach Georgenfeld, dessen spaßige Häuselreihe im Winter noch putziger aussieht als sonst. Auch die übrigen Siedelungen der Hochfläche, Alt-Georgenfeld und Zinnwald mit ihren zerstreuten Schindelhäusern hatten in dem Winterkostüm nur gewonnen, zumal die sonst die Landschaft verunzierenden Halden der Wolframwerke auch mildtätig vom großen weißen Tuch eingehüllt worden waren. Einen besonders schönen Überblick über dieses Kammgebiet wie über die böhmischen Riesen hat man von dem glücklicherweise[397] noch nicht mit Wegweisern bedachten Kleinen Lugstein, der nur um zehn Meter hinter der höchsten Erhebung dieses Gebiets, dem Kahleberg zurücksteht. Seine schroffen Porphyrklippen ragten nur mit den Spitzen aus dem dicken Schneepanzer heraus, der ihn jetzt umgibt, so daß er geradezu alpin aussah. Vielleicht könnte man mit Hilfe einer Tafel mit der Inschrift: »Nach dem sächsischen Matterhorn« den Fremdenverkehr an dieser Stelle etwas heben und für die Herbeischaffung der Konservenbüchsen, Apfelsinenschalen und Bemmenpapiere sorgen, die diesem in jeder Hinsicht reizvollen »Gipfel« zur Zeit noch fehlen.
Seinen etwas niedrigeren Bruder, den Großen Lugstein, ließen wir diesmal rechts liegen und schoben uns gleich über das Georgenfelder Moor, den »See«, der den Neugraben speist, mit seinen kaum noch sichtbaren Legföhren in den Märchenwald am Niklasberger Weg, von dessen bizarren Baum- und Schneeformen, die Menschen, Bären, Embryonen und Riesenschnecken glichen, unser Bild einen bessern Begriff gibt, als es irgendwelche Worte vermöchten. Auf der Suche nach immer neuen Überraschungen waren wir so tief ins Dickicht geraten, daß wir erst nach langem Suchen die Lichtung entdeckten, an deren Rande der Böhmische Lugstein, eine dreigeteilte Porphyrklippe, die von schönen Wetterfichten gekrönt wird, wie eine Burg sich aufbaut. Unter wehmütigem Gedenken an die Heidelbeermengen, die ich einst mit meinen Kursteilnehmern an dieser Stelle vertilgt hatte, schlugen wir den Weg nach dem oberen Weißeritztal ein. Merkwürdigerweise funktionierte trotz des mäßigen Schnees die Abfahrt nach Kalkofen ausgezeichnet, was meinem Schneeschuh veranlaßte, gerade in diesem Augenblick sich der Bindung mit Hilfe einer abgebrochenen Schraube zu entledigen, so daß ich tiefen Groll im Herzen in[398] dem gemütlichsten Gasthaus des östlichen Erzgebirges anlangte, als meine Gefährten bereits beim zweiten Gang angekommen waren. Die nicht erst aus neuester Zeit datierende Bekanntschaft mit dem Kalkofener Gasthaus verdanke ich einem mir auch durch andere touristische Qualitäten sehr lieb gewordenen Schnapspascher, der sich unterdessen wieder seinem Originalberufe zugewandt hat, zumal die Früchte seiner beschwerlichen Tätigkeit ihm zerrannen, als er schließlich doch einmal erwischt worden war. Trotzdem mußten auch die Stammgäste das Lokal meiden, als die tschechische Krone so gestiegen war, daß selbst alles Entgegenkommen des Wirts die Valutadifferenz nicht mehr ausgleichen konnte. Nun sind wir die Hochvalutarischen geworden, und damit ist das freundliche Gasthaus aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Kaum kann die kleine Stube die Fülle der Gäste fassen, und ich sehe schon den fürchterlichen Augenblick nahen, wo die kleine Grenzkneipe dem Schicksal verfällt, dem schon so manches stille Grenzwirtshaus verfallen ist. Glücklicherweise hat unter dieser Entwicklung die Qualität bisher nicht gelitten, wie wir in ausführlicher Weise feststellten, indem wir die einst durch die Mitarbeit an Prager und Teplitzer Zeitungen verdienten Kronen hier in Sachwerten anlegten. Wir beschlossen darauf einstimmig, daß unsre noch unbeweibten Gefährten in Bälde eine »Böhmische« zu ehelichen und uns wöchentlich mindestens einmal zu Gansbraten mit Knödeln einzuladen hätten.
Dieses sonnige Zukunftsbild im Herzen reparierten wir zunächst den unzuverlässigen Schneeschuh in musterhafter Weise (ich hatte schon vorsichtshalber einen erprobten Fachmann mitgenommen), und damit war der Nachmittag gerettet, der sich nun zu einem Gipfel des Naturgenusses auswuchs. Zunächst gings hinab in[399] die Weißeritzaue und auch irgendwo über die Weißeritz, die nicht zu sehen war, hinweg. Der Schnee pappte zwar auch hier noch im unbefahrenen Gelände nicht anders als am Vormittag. Aber glücklicherweise war hier überall so gründlich gespurt worden, daß die Bretter glänzend liefen, wenn man sich an die ausgefahrenen Gleise hielt. Noch besser wurde es im Tale des Warmbachs, das im Schatten lag. Auch hier hatte der Schnee allerhand Veränderungen hervorgebracht. Der übliche Weg auf dem rechten Ufer war durch eine mächtige Schneewächte gesperrt, und erst da, wo als Zeugen des einstigen Kalkabbaus mächtige Halden im Walde liegen, konnten wir wieder auf den geordneten Pfad zurückkehren. Da wo die Quellbäche des Warmbachs, der trotz seiner geringen Länge infolge der starken Niederschläge ziemlich wasserreich ist, sich vereinigen, ist eine breite Aue, deren Nordseite durch einen steilen Hang, wie wir ihn im Porphyrgebiet oft finden, begrenzt wird. Jetzt deckte ihn eine einheitliche Schneemasse, so daß wieder ein Bild entstand, wie man es sonst nur in den Gletschergebieten der Alpen findet. Und über der überhängende Wächte, die ihn krönte, spannte sich als Künder des nahenden Frühlings ein ganz unwinterlicher geradezu italienisch blauer Himmel. In langen Kehren schoben wir uns an der Schneewand empor. So gelangten wir wieder auf die hier ungefähr achthundert Meter hoch liegende Rumpffläche, von der aus sich ein herrlicher Blick auf das obere Weißeritztal, den buchenbestandenen Hemmschuh, Bahnhof Moldau, Böhmisch-Ullersdorf und Neustadt und die beiden Eckpfeiler des Niklasberger Tals, Stürmer und Bornhau, bot. Am alten Teich kamen wir auf die um die Abendzeit schon etwas verödete »Heerstraße«, die uns an unsern alten Freund Kahleberg heranbrachte. Auch er hat leider unter der großen Mode, die dazu führte, daß es[400] in Dresden bald so viele Schneeschuhe gibt wie in Amerika Automobile, etwas gelitten. Nach neun Uhr vormittags und vor fünf Uhr abends kann man ihn neuerdings nicht mehr besuchen, wenn man nicht zuviel von dem Volk dort treffen will, das überall besser hin paßt als in die freie Gottesnatur, während man in den stillen Stunden höchstens ihre Visitenkarte findet, und auch diese nur an dem allgemeinen Lagerplatz am Turm. Die Aussicht von dort aus bietet aber am Abend die geringsten Reize, weil der Osten dann im Dunkel liegt. Unsere Feierstunde erlebten wir diesmal am entgegengesetzten Ende des Berges, wo die Neunundzwanzig seinen Rücken erreicht. Wie gestochen zeichneten sich Burg und Kirche von Frauenstein am Westhimmel ab. Von da zog sich die einförmige für das Erzgebirge so charakteristische Rumpffläche bis zum Stürmer, neben dem unser ursprüngliches Ziel, der Turm der Strobnitz auftauchte. Und dann gabs noch ein besonderes Geschenk. Weit im Südwesten über langgestreckten Waldflächen hoben sich zwei Gipfel heraus, die alle andern überragten. Im Zeiß zeigten sich auf dem rechten Turm und Schutzhaus. Kaum wagten wir auszusprechen was alle dachten. Der höchste Berg der Heimat und sein stolzer böhmischer Bruder sandten uns freundlichen Abendgruß beim Abschied von winterlichen Gebirge. Und über dem allen ein Himmel, der frühlingsselig grün und blau und rot leuchtete und sich in den Zapfen spiegelte, die zu Hunderten an den Rauhreiffichten um uns herum hingen. Als ich im vergangenen Herbst in der Dresdner Volkszeitung einen Bericht über meine Algerienfahrt veröffentlichte, schloß ich mit den Worten: Was sind alle Schätze des Orients neben dem bescheidenen Grün der Zäunlinge, das jetzt wieder unsere Anlagen schmückt, und was sind selbst die hundertfünfzigtausend Palmen Biskras[401] neben einer rauhreifgeschmückten Fichte am Kahleberg! Daß selbst dieses kühne Wort noch nicht genug sagte, lehrte mich diese Stunde, als das Abendlicht über Schnee und Eis und Rauhfrost seine letzten grellen Lichter warf und damit einen Schönheitsgarten um uns schuf, aus dessen Verzauberung wir uns nur schweren Herzens losreißen konnten. In sausender Fahrt trugen uns die nun wieder ganz brav gewordenen Bretter den Schlängelweg hinab nach der Einunddreißig und von da nach Altenberg, wo unser Zügel immer noch nicht angelangt war, so daß uns wohl oder übel noch die Abfahrt nach Geising blühte. Eine Viertelstunde später langten wir über den glattgefahrenen und gefrorenen Schnee der Vorwerkswiesen am Bahnhof an.
Als wir nach Absolvierung der fünfzehn Stationen in Reick landeten, war alles schwarz: Himmel und Erde. Ein Ahnen von nahen Veilchen und Schneeglöckchen[402] stieg aus der feuchten dampfenden Elblandschaft auf. In unseren Herzen vermählte sich das Lenzhoffen des Niederlands mit dem Glanz, den vor wenigen Stunden der scheidende Gebirgswinter um uns ausgebreitet hatte. Am nächsten Morgen aber wußte Karl nicht, was ihn von dem Winter-Frühlingsglück am meisten freuen sollte: der steckengebliebene Zug mit den zwei Lokomotiven oder der Kalkofener Streuselkuchen, den er aus den Tiefen des Rucksacks ausgegraben hatte.
Von Stadtbaurat Rieß, Freiberg[1]
Hoch über alle Dächer der alten Bergstadt recken sich die Petritürme zum Himmel und schauen weit in die Ferne. (Abb. 1.) Weit liegen Wiesen und Felder und im immergrünen Kranze die Wälder gebreitet. Blinkende Teiche blitzen auf mit silbernem Spiegel und die Halden des alten Bergbaues grüßen herauf als Zeugen vergangener Bergherrlichkeit und harter Arbeit hundert zäher Bergmannsgeschlechter.
Und zu Füßen drängen sich die Dächer und Häuser, die Höfe und Gassen zusammen, und es wimmeln dort unten die Menschen im eiligen Hin und Her und scheinbar so zweckloser Hast, von der es nur wie das Rauschen einer Brandung verworren heraufklingt.
Diese ruhevolle Höhe mit weitem Blick in alle Himmelsfernen ist so recht ein Platz für Leute, die über die Alltäglichkeit sich erheben wollen, denen Einsamkeit mehr gibt als Zwang und Drang des engen Zusammenhausens, als das Rennen und Hasten mit und in der Menge.
Freilich muß man gut Freund sein mit dem Sturm, der um die Mauern manchmal fegt und heult als wollte er die Türme mit starken Fäusten schütteln, wie ein wilder Bub den Apfelbaum schüttelt, der schnaubend auch durch Ritzen und Schlitze und Winkel pfeift und faucht, daß im Gebälk es knistert und knackt, der prasselnd Regen und Hagel an Dach und Mauern und Luken wirft. Man muß Freund sein mit den Glocken, die dort oben leise summen und brummen und dann gewaltig wieder mit ehernen Stimmen hinausrufen, daß Menschenstimmlein ganz versinken und ertrinken im Schwalle der Brandung dieser flutenden Tonwellen. Auch der Klang der Orgel, die in Feierstunden unten im Kirchenschiff in an- und abschwellenden Akkorden dröhnt, darf ihn nicht stören. Wer dort oben wohnen will, darf auch den Blitz nicht fürchten, der mit grellen, funkelnden Augen hereinschaut und mit wildem Geknatter vorbeispringt und als feurige Schlange mit züngelndem Kopfe knisternd die Leitung herabgleitet.
Ja, wer seine Ziele hochsteckt und aus einsamer Höhe das Land und die Welt der Lebendigen überschauen will, wer auf sich selbst gestellt, allein stolz das Leben meistern will, muß scharfe Augen haben, raschen Entschluß und Kräfte zum Zupacken,[404] darf Wind und Wetter und Sonnenbrand nicht scheuen, der muß früh wach sein und unermüdlich am Tage, bis die Nacht mit geheimnisvollem Dunkel die Gründe der Erde deckt. –
Frühling wars geworden in der alten Bergstadt nach langer schwerer Wintersnot. Der Schnee war wirklich auch am letzten schattigen Grabenrande getaut und verschwunden, und der Ring der alten Wallpromenaden lag wie ein frischer, grüner, duftender Kranz geschlungen um das graue Häusergewimmel der Altstadt. Wie atmete so mancher auf, viel mehr als sonst wohl in früherer Zeit, dem in unerbittlicher schwerer Wohnungsnot Winterkälte, Nässe, Schnee und Regen in engen, dumpfen Räumen die Tage und die Seele verfinstert und den Leib siech und matt gemacht hatten. Frühling wars geworden auch in der alten Bergstadt! Die harzigen Knospen der mächtigen Kastanien am alten Herzogsschlosse Freudenstein öffneten sich mit tausend Fäustchen, die ihre grünen Blätterfingerlein der Sonne, dem Lichte entgegenstrecken und ihre goldenen Strahlen greifen wollen. Die Birken hatten ihren lichtgrünen Schleier angelegt und das weiße Atlasgewand ihres bräutlichen Frühlingskleides schimmerte wie Silber.
Die Lerchen hingen im Himmelsblau und ihre Lieder rieselten wie kristallene Tropfen hernieder auf das Frühlingsland und die graue Stadt. Und die in den Straßen gingen und standen, lachten, und ihre Augen leuchteten, sie nickten sich zu und sagten: »Der Frühling ist da, nun wird es wieder besser werden!«
Die Mädchen sangen Lieder vom Lenz und vom Wandern und die Kinder spielten und tanzten auf dem Petriplatz zu Füßen der alten Turmriesen. Sie schauten hinauf nach dem in der Sonne funkelnden Turmknopf, denn »Sonnenstrählchen«, das Frühlingsengelchen aus dem Bilderbuche, hatte eins der Kleinen soeben dort oben sitzen und die weißen schimmernden Flügelchen heben sehen. Sie schauten auch nach dem grünen Birkenbäumchen, das dort oben aus der grauen, harten Mauer des südlichen niedrigeren, des »faulen« Turmes hervorgewachsen war und dort prangte, wie ein Frühlingssträußchen, das der graue Riese sich an die steinerne Brust gesteckt hatte. Wieder trieb es seine grünen Knospen und Blättlein stark und lebensfreudig, wo doch kein nahrhaftes Krümchen Erde es stärkte, kein Gärtner es pflegte und mit Wasser erquickte, sondern nur der Sturm es zauste. Ein kleiner Dreikäsehoch fragte, ob es der Pfarrer oder der Kirchner oder der liebe Gott gepflanzt habe, und woher sie die lange, lange Leiter dazu wohl genommen hätten! –
Da kamen zwei große Vögel schwebend vom blauen Himmel hernieder, so groß, wie noch keines der Kleinen in den Lüften geschaut, und stolze Kreise zogen sie, wie die bunten Tauben und die schwarzen Dohlen und alle die kleinen lustigen Vögel noch nie geflogen waren. Stumm, mit großen Augen und offenem Mund schauten die Kinder empor und, husch, verschwanden die Vögel gerade über dem jungen Birkenbusch am Turm in einem schmalen Fensterschlitz.
Was war das? –
Was war geschehen? Der edle Ritter Herr von Turmfalk und Frau Gemahlin waren von weiter Fahrt aus fernen Landen gekommen, hatten hier einen Hochsitz gefunden, wie er ihnen, den Hochgeborenen, gefiel und darum gleich hier Wohnung[405] genommen, ohne nach Wohnungs- oder Meldeamt erst lange zu fragen, ohne den Hauswirt erst artig und höflich zu bitten, aber auch ohne Ansprüche an seinen Geldbeutel zu stellen. »Kiii–je, Kiii–je!« das war der Ruf, mit dem sie sich anmeldeten, ihren Turm umkreisten und mit dem sie in den blauen Himmel emporstiegen oder in die Weite davonflogen, mit dem sie auch dem Gesindel zänkischer Dohlen begegneten, die ihnen eifersüchtig den bisher nicht beachteten Platz nun streitig machen wollten. Etwa zehn dieser ruppigen Gesellen traten mehr mit Geschrei und Gezeter als Mut auf, um den wehrhaften Ritter von seinem Burgsitz zu vertreiben. Das edle, hochgeartete Paar ließ sich aber durch das Geschrei nicht anfechten, denn sie wußten wohl: Feigheit flieht und fürchtet scharfe Fänge! Ritter Turmfalk von Scharfenklau ließ in überlegener Ruhe und Kraft die Dohlen flattern, kreischen und schimpfen, und fuhr nur selten einmal durch den auseinanderstiebenden Schwarm vor oder über seiner Haustür. –
Der Hochsitz, den er sich hier vierhundertdreißig Meter über dem Meere erkoren, war sehr einfacher Art. Ein kleiner Fensterschlitz in der Turmmauer unterhalb der großen Schalluke des niedrigeren Südturmes (Abb. 1), fünfundzwanzig Meter etwa über der Erde gelegen, von fünfunddreißig Zentimeter Breite und fünfundsiebzig Zentimeter Höhe und fünfzig Zentimeter Tiefe war seine Burg. Wie der harte Mann im siebenbürgischen Jägerliede hat er sich hier »den Stein zum Bett gemacht« und ohne Halm und Ästchen, ohne Blatt, Feder oder andere weiche Dinge auf dem rauhen Gneis des Fensterquaders seinen Hausstand zwischen engen, harten Wänden eingerichtet. Einfach, enge, rauh und schlicht zwar war der Burgsitz, aber doch gut gewählt und sicher gegen die Feinde und die Wetter, welche Ritter Turmfalk kannte, denn starke Mauern schützten sein Heim von oben, unten und den Seiten und hart war auch die Rückwand seines Horstes, nach seinen mineralogischen Kenntnissen auch von blankem, glattem Stein.
Doch dieser harte, blanke, glatte Stein war blankes Glas, durch welches neugierige, freundliche Menschenaugen heimlich schauten und zudringlicher und frecher als jene ruppigen Dohlen in seine Familienverhältnisse einzudringen suchten, aber immer heimlich, ganz heimlich mit dem höflichen, stillen Ersuchen: »Bitte, bitte, gnädige Frau, sich nicht stören zu lassen.«
Mitte Mai legte Frau Turmfalk ein schönes bräunliches Ei. Nach dieser Leistung schwang sie sich mit dem Herrn Gemahl fröhlich in die Lüfte, um noch einmal vor weiteren Familienereignissen einen frischen, flotten Jagdzug in die Felder zu machen, wo zwischen grünenden, wogenden Saaten so recht runde, fette Mäuslein liefen. Erfrischt, gesättigt, angeregt kehrte sie mit hellem Kiii–je zum Horst zurück. – – Wehe! Das Ei, das erste Ei, das einzige Ei, der Stolz des jungen Ehepaares war fort! Spurlos verschwunden, geholen, gestohlen! Leer der steinerne Horst! Wer war der freche Dieb? – Gewiß diese Nesträuber, diese Dohlen! Doch nein, Frau Turmfalk, Sie sind im Irrtum! Das hatten die schwarzen Burschen mit dem lauten, frechen Schnabel doch nicht gewagt, heimlich in Ihr festes Haus, die Burg des Ritters Turmfalk von Scharfenklau einzudringen. Nein, ein wissensdurstiger Knabe hatte heimlich das Fenster hinten geöffnet, rasch das Ei geholt und freudestrahlend seinem Lehrer gebracht, der es der Schulsammlung einverleibte. Ja,[406] auch im Menschen stecken oft schon frühe Dohlentriebe! Leider! – Frau Turmfalk war nun aber gewarnt! Sie blieb daheim und hütete den Horst und beschenkte nach und nach mit vier Eiern ihren Herrn Gemahl. Die hochgeborene Dame, die im stolzen Fluge nur in den höchsten Kreisen zu verkehren gewohnt war, die weite Reisen und ein buntes, ungebundenes Leben liebte, zog sich von der großen Welt zurück, verließ das feste Haus nur selten und ward ein braves, gewissenhaftes Hausmütterchen.
Herr Turmfalk war um seine Eheliebste recht besorgt. Er mußte für die Nahrung sorgen und brachte treulich seiner trauten Gattin manchen saftigen Braten, feines Wildbret von delikater Feldmaus, der sorglich und glatt der Kopf mit scharfem Schnabel abgeschnitten war. Nur wenn der warme Sonnenschein nachmittags am Turm anlag, vermochte er sein Hausmütterchen zu bewegen, vom Brutplatz aufzustehen, die Schwingen zu schütteln und zu kurzem Fluge in die Luft und in das grünende, üppige Frühsommerland zu schweben. Mutter Sonne hielt inzwischen für die Lieblinge der strahlenden Höhe die Eier warm, bis sie von ihrem Fluge in die Höhe und die Weite zurückkehrten und Frau Turmfalk gewissenhaft den Platz ihrer Hoffnungen mit neuer warmer Mutterliebe wieder einnahm. Was kümmerte es sie, daß mittags um zwölf Uhr und abends um sieben Uhr das Häuerglöckchen eine Viertelstunde dicht über ihrem Horste und Haupte läutete und mit seinem traulichen Bimbam die Lüfte erfüllte! Was ging es Frau Turmfalk an, wenn hinter ihrem Rücken so oft ein seltsames Gepolter sich erhob, wenn die Läuter der großen Kirchenglocken die hölzernen Treppen im Turme heraufstolperten oder herunterpolterten und es dann plötzlich stille wurde und mit Rascheln und Scharren dunkle Gestalten an ihrem Fenster sichtbar wurden und wieder verschwanden. Was kümmerte es sie, wenn Sonntags und in der Woche die großen Glocken tönten und dröhnten und wie ein wunderbares Klanggewitter über sie dahinging! Sie duckte sich fester und schmiegte sich mit schirmendem Flügel über ihren kostbaren Besitz mit der göttlichen Muttertreue, welche den brütenden Vogel zum rührenden Sinnbilde der aufopfernden Liebe macht. –
Vier Wochen gingen vorüber, nachdem sie die Eier gelegt, da, acht Tage nach Pfingsten etwa, mitten im wonnigen Junimonat, in den Tagen der Rosen wurde Frau Turmfalk unruhig. Es war ihr so eigen zumute, als sollte nun das Sitzen im engen Burggemach zu Ende sein, als sollte die fröhliche Jagd in Feld und Flur, das Kreisen in blauer Luft, das scharfe Spähen aus schimmernder Höhe und das Niedersausen zu scharfem Stoß, Griff und Fang wieder beginnen, aber eine ganz andere, höhere Bedeutung gewinnen, einen Zweck, den dunkel keimende Mutterliebe ahnte.
In den Eiern unter ihr war es schon so merkwürdig unruhig gewesen in den letzten Tagen. Jetzt sprangen die harten Schalen und sie fühlte, wie krabbelnde weiche Bällchen sich an ihre wärmenden Federn drückten, erst eins, dann zwei, dann drei und schließlich noch am nächsten Tage ein viertes, das Nesthöckchen, welches besonders warm und weich es haben wollte.
Wann Frau Turmfalk dieses frohe Ereignis ihrem ritterlichen Gatten mitgeteilt hat und wie er es aufgenommen hat und seinen Schnabel verzogen, wissen[407] wir leider nicht, hoffen wir, fröhlicher als ein menschlicher Vater, dem Vierlinge angemeldet werden.
Genug, eines Tages, nicht lange nach Pfingsten, bemerkten die heimlichen Beobachter hinter der verräterischen Glasscheibe, daß vier kleine weiße Bällchen mit großen schwarzen Augen, großen Schnäbeln und ganz zartem Flaumkleid in ihrer Kinderwiege umherkrabbelten, sich zusammendrängten und noch recht unbehilflich ihre Köpfchen drehten. Die liebe Mutter war davongeflogen, den Vater kannten sie noch nicht recht, ihr schwaches Kinderstimmchen reichte noch nicht weit, der kalte Wind blies in ihr Eckchen, und ihr kleiner Magen hatte so seltsame, unangenehme Gefühle, daß die Schnäbelchen öfter ganz wie von selbst trichterartig sich öffneten und wieder schlossen. Ja, sie merkten, wie warm und wohl Mutterliebe und Muttersorge tut! Doch da kam sie schon herangeschwebt wie ein schneller Schatten und saß am Rand, an der Tür ihrer lieben Kinderstube. Und was hatte sie mitgebracht! Ein schönes, zartes, junges Mäuslein, so recht für den jungen Magen ihrer kleinen Brut geeignet und leicht verdaulicher Leckerbissen! Den Kopf hatte sie draußen schon abgeschnitten. Nun faßte sie das Mäuslein mit den Krallen, indem sie sich auf die Fußgelenke oder gleichsam auf die Ellenbogen setzte, um die Hände frei zu haben, und als wäre das tote Mäuslein ein Sack, aus dem sie allerlei Gutes hervorholt, holte sie mit dem spitzen Schnabel das Fleisch und die Eingeweide aus dem grauen Mäusewams heraus. »Sie hat das Fell ausgehöselt,« sagte der Kirchendiener Klemm. Das leere Fell wurde in die Tiefe befördert, und öfter fand man später am Fuß des Turmes in den Gebüschen und am Boden solch sauberen Mäusebalg, an dem nur noch die vier Beinchen und das Schwänzchen hingen.
Der Reihe nach bekamen die Jungen ihr Häppchen in ihren Schnabeltrichter und jedes wartete fein geduldig, bis sein Trichterlein an der Reihe war. Und wenn doch einmal das Nesthöckchen von den drei älteren Geschwistern zurückgedrängt war, dann überging Mutter Turmfalk auch einmal die drei vordringlichen dicken Brüder und nahm Nesthöckchen zuerst vor und füllte ihm den kleinen Hals mit einem Leckerbissen, und Dickbrüderchen mußten warten. O ja! in der Kinderstube von Ritter Turmfalk und Frau Gemahlin herrschte Ordnung und Zucht, Verträglichkeit und Reinlichkeit. Schon während der Brutzeit hatte Frau Turmfalk fleißig dafür gesorgt, daß das Haus rein war, damit der Herr Gemahl nichts zu tadeln fand: Keine Speisereste, kein Mäusewams, kein Schmutz und Kot wurde geduldet, sondern über die Schwelle des Hauses gekehrt. Auch die Kinder mußten dies lernen und waren in wenigen Tagen, lange ehe sie rechte Federn hatten und fliegen konnten, stubenrein und besser erzogen als manches kleine Menschenkind, das schon laufen kann. Wenn die braven, jungen Fälklein spürten, daß ein kritischer Augenblick nahte, dann krabbelten sie zum Rande des Mauerschlitzes vor, drehten sich um und hielten das Schwänzchen in die freie Luft hinaus und – – Klex – die Sorge war vorüber! Die liebe Mutter brauchte nicht das Kinderstübchen auszuputzen, denn das tat sie wohl nicht besonders gern.
Fleißig war nun das Elternpaar auf der Jagd, um ihre junge Brut zu sättigen. In zwanzig Minuten oder einer halben Stunde war eine Maus erlegt und zum[408] Horst getragen. Doch es wurde nicht wahllos den ganzen Tag über gefüttert, denn das hätte dem jungen Magen der Fälklein geschadet. Die Stunden der Mahlzeit hielt Mutter Turmfalk streng inne, nämlich morgens etwa um sieben Uhr, mittags um zwölf Uhr und abends auch wieder um sieben Uhr, wenn oben im Turme das Bergglöckchen läutete. Die Mahlzeiten dehnten sich natürlich über längere Zeit aus, denn es ist nicht leicht und rasch getan, für vier hungrige Kinderlein die Nahrung herbeizuschaffen, sie zu füttern und zu sättigen, und schließlich selbst auch noch dabei satt zu werden. Ausschließlich Mäusebraten war die Nahrung unserer ritterlichen Familie Turmfalk. Trotz eingehender Beobachtung wurde nie ein Vogel oder ein Restlein Geflügelbraten oder auch nur eine Feder im Nest oder bei der Atzung bemerkt. Was ist denn auch ein Vögelchen für ein dürftiger Braten, mehr Knochen und Haut als Fleisch, gegen eine runde, appetitliche Feldmaus mit speckigem Rücken! Nur wenn es gar nichts Besseres gibt und der Hunger weh tut, mag auch mal ein Vogel als »Mausersatz« auf Turmfalks Speisezettel stehen. Unser Ritter vom Petriturm hatte solchen »Ersatzbraten« jedenfalls nicht nötig, sondern sein Jagdgebiet bot ihm reichlich die gesuchte Beute.
Im stillen Garten des benachbarten Logenhauses war es schon seit längerer Zeit den Mäusen unheimlich geworden. Sie hatten so lange ein friedliches, ungestörtes Leben geführt, waren umhergehuscht auf Besuch bald hier, bald da, hatten Hochzeiten und fröhliche Feste gefeiert, von allem genascht und niemals gehascht, und nun kam ein blitzschneller Schatten vom Himmel herabgeschossen, ein ängstliches Piepen und eine Maus aus ihrem Volk, eine Hauptmaus mit besonders ausgeprägtem Speckrücken war verschwunden, blitzschnell wie der Schatten! Wo war sie geblieben! Aufgeregt lief man zur Nachbarin, die schon allerlei erlebt hatte und zu erzählen wußte! Dieses unerhörte Ereignis mußte gründlich besprochen werden! Wie konnte so etwas im friedlichen Logengarten vorkommen?!
Wie sollte man sich dagegen schützen? – Doch die Tür der weitgereisten Nachbarin war noch nicht erreicht, da fuhr es plötzlich wie scharfe Dolche durch den Leib der neugierigen Mäusedame! Ein Zappeln und pfeifender Aufschrei und alle Neugierde ihres Lebens war befriedigt. Die unfehlbaren, nadelscharfen Krallen Ritter Turmfalks trugen sie zum nahen Horst. Tagaus, tagein minderte sich so das Mäusevolk. Eine unheimliche Stimmung und Angst breitete sich aus. Die tapfersten Mäusemänner wurden kleinlaut und sehr häuslich und ihre langen Schnurrhaare wurden stumpf und grau. Die blanken, schwarzen Äuglein matt und trüb! Die ganze Staatsordnung kam ins Wanken! Von Auswanderung wurde heimlich in den Gängen gewispert, denn man durfte sich bei Tage nicht mehr ins Freie wagen, da das fast an Selbstmord grenzte. Kein Mäusegatte ließ seine Gattin mehr zum Einholen aus dem Loche heraus. Der Speisezettel wurde täglich dürftiger, und der bisher so prall sitzende graue Leibrock wurde merklich weiter und unangenehm bequem! Ausgestellte Wachen an versteckten Eingängen zur Mäusesiedlung hatten mit zitternden Schwänzen und bebendem Fell beobachtet, daß der blitzschnelle Schatten ein großer Vogel gewesen war! Als erstes habe er stets ohne Unterschied dem erbeuteten, schmählich geraubten Mauseherrn oder Dame mit dem Schnabel haarscharf den Kopf abgeschnitten, wie mit einem Messer oder Schere, und das warme[409] Blut sei umhergespritzt! Furchtbar! Solche Kopflosigkeit war nicht nach ihrem Geschmack! – – Ja, es ist nicht gut, einen stark bewehrten Feind mit scharfem Schnabel und spitzen Fängen als Nachbar zu haben, wenn man schwach und wehrlos ist! Wehrlosigkeit zeugt Feigheit, Nachgiebigkeit, Ehrlosigkeit, Armut, Hunger, Auswanderung, Untergang! – –
So war Ritter Turmfalk und Gemahlin der Schrecken des ganzen Mäusevolkes der Umgegend. Doch auch die Vogelwelt blieb nicht ganz unbeeinflußt. Obgleich man nie beobachtete, daß er einen Vogel gejagt oder geschlagen hätte, hatten sich doch auch die kleineren Vögel, welche sonst in den grünen Lindenwipfeln des Kirchplatzes fröhlich sangen und zwischen den Zweigen umherschlüpften und spielten, vorsichtig aus der unmittelbaren Nähe der Burg des reisigen Ritters zurückgezogen. Ob die neidischen Dohlen ihn verleumdet hatten? Ob den Vögelchen die Mäuse etwas von ihren Sorgen gepfiffen hatten? Ob alte Sagen und Aberglauben überliefert waren, die nun noch in den kleinen Vogelköpfchen spukten, und den bisher niegesehenen Vogel dort oben verdächtig machten? Ob der Anblick seiner scharfen Krallen und des spitzen Schnabels sie allein schon furchtsam machte? Ob sie den unfehlbaren Stoß bei der Mäusejagd beobachtet hatten und ihn nun für sich fürchteten? Ob sie aus Vorsicht nur die unheimliche Nähe des Raschen und Starken mieden, um nicht einem plötzlichen Begehren oder Einfall des Unberechenbaren ausgesetzt zu sein? – Der Schluß ihrer Vogelphilosophie war jedenfalls, daß sie sich drückten, denn geh zu den mächtigen Herren nur, wenn sie dich rufen, und bleib in ihrer Nähe nur, wenn du mußt. Der Schwache ist neben dem Starken leicht in Gefahr! – – –
Unermüdlich trieben so Herr und Frau Turmfalk ihre Mäusejagd, um ihre edelste Aufgabe in rechter Weise zu erfüllen, nämlich ihre Jugend aufzuziehen zu rechter Kraft und echtem Falkentum, um allen Aufgaben des Falkenlebens gewachsen zu sein. Sie waren auch vorsichtig und vorausschauend wie ein rechtes Elternpaar, das nicht nur für heute sorgt, sondern auch für die Zukunft, und daran denkt, daß für jede Mahlzeit genügender Vorrat zur Verfügung stehen muß, daß die Kinder nicht lange auf die Beschaffung warten und schließlich gar hungern müssen. Turmfalks hatten ihre Vorratsschränke und ihren Vorratsboden, die eifrig gefüllt wurden mit blutfrischen Braten, solange nicht die Atzung der Kinderlein sie in Anspruch nahm. In den seitlichen Wandungen rechts und links ihres steinernen Horstes befanden sich die Speiseschränke, das heißt etwa zehn Zentimeter tiefe aus den breiten Fugen des Gneissteinmauerwerks ausgewitterte Löcher, in welche sie sorgfältig erlegte Mäuse hineinlegten, ein Mäuslein über das andere gepackt, öfter drei oder vier in jedem Mauerschrank, alle Mäuse selbstverständlich ohne Kopf. Die braven Kinder konnten leicht an die offenen Schränke, wo das appetitliche Wildbret lag, aber Naschen und Stehlen lag ihnen fern. Sie warteten geduldig, bis die gute Mutter an den Vorrat ging und ihre aus dem Mäusewams »ausgehöselten« Leckerbissen verteilte. Mit dem raschen Wachstum der Falken wurden diese Happen größer und größer, bis sie schließlich Mann für Mann bei jeder Mahlzeit eine Maus bekamen und selbst an ihr das »Aushöseln« lernten. Da kam es auch vor, daß zwei Fälklein sich mit einer Maus[410] beschäftigten und mit den Eingeweiden ihre liebe Not hatten. Das eine Brüderchen zog an einem Ende des Darmes, das andere am anderen Ende. Es wurde erst einmal »Tauziehen« gespielt, bis jedes seinen Happen sich einverleibt hatte. Das war nicht leicht und für Fälkleins vielleicht ebenso schwierig, wie wenn kleine Menschenkinder faserigen Stangenspargel oder glatte weiche Makkaroni essen sollen, ohne mit den Fingern nachzuhelfen!
Die Speiseschränke reichten manchmal nicht aus bei dem gesunden Hunger der kräftigen Falkenjugend und wenn die Jagd besonders ergiebig war. Als man eines Tages die Holzläden an den Fenstern des Glockenbodens auf dem Turme hoch über dem Horste öffnete, sah man auf einem hölzernen Sims oben eine Reihe von blutfrischen Mäusen liegen, nebeneinander kopflos und friedlich aufgereiht, wie der Wildhändler seine Hasen auf dem Schaubrett auslegt. Ob dieses Vorratslager der alte Herr Ritter Turmfalk nun heimlich für sich zu besonderen Genießerzwecken angelegt hatte, oder ob er in treuem Vaterpflichtgefühl hier seine Jagdbeute für die Jungen niederlegte, solange die Gattin mit der Atzung der Kinder beschäftigt war, damit sie ohne Mühe und ohne Zeitverlust die Nahrung von dem verabredeten Platze rasch herbeiholen könnte, das läßt sich nicht genau feststellen. Wir glauben aber, daß solche Arbeitsteilung und die gemeinsame Sorge für ihren hoffnungsvollen Nachwuchs durchaus in dem ritterlichen Charakter unserer geflügelten Helden liegt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß auch an anderen Stellen Ritter Turmfalk sich solch Lager von Wildbret anlegte, denn man sah ihn öfter um den Turm kreisen und auch durch eine fehlende Scheibe im unbewohnten Kämmerchen des ehemaligen Türmers auf der Ostseite des hohen nördlichen Turmes verschwinden und bald wieder herausfliegen. Was suchte er in dem öden engen Raume, wo höchstens Spinnen ihre Nester bauen und ihr Dasein kümmerlich fristen? Er hat sein Geheimnis nicht verraten! Vielleicht hatte er dort auch eine Niederlage eingerichtet, um auf alle Fälle gerüstet zu sein und seine hungrige Gesellschaft stets reichlich versorgen zu können, wenn die Jagd einmal nicht so ergiebig sein sollte. –
Die jungen Falken hatten sich in wenigen Wochen so kräftig entwickelt, die kleinen Schnäbel hatten sich hakenförmig gekrümmt und eine nadelscharfe Spitze bekommen, das zarte, weiche Daunenkleid war einem Federkleide gewichen, dessen Weiß mit feinen braunen Streifchen gesprenkelt war und allmählich namentlich auf dem Rücken mehr und mehr in Braun überging. Die kleinen Gesellen waren immer lebhafter geworden und der enge Raum der Fensternische wollte kaum mehr reichen. Vater und Mutter Turmfalk hatten schon auswärts Wohnung suchen müssen, weil für sie der Platz nicht mehr reichte. Wer weiß, ob nicht in wenigen Tagen die Kraft der jungen Flügel erprobt werden sollte – und dann war es zu spät, eine photographische Aufnahme zu machen! Am 18. Juli stiegen nachmittags drei Uhr Herr Kantor Bretschneider und Herr A. Schreiber mit photographischem Apparat die enge Wendeltreppe zum Turme hinauf, um die vier Junker Turmfalk auf die Platte zu bannen. Die Aufgabe war nicht leicht, denn die Aufstellung des Apparates war durch das Gebälk und die Treppe im Turme stark behindert. Die jungen Falken hatten scharfe Augen und scharfes Gehör. Auf jedes Geräusch und jede Bewegung antworteten sie durch Stutzen. Leise, ganz leise nur durfte das Fenster[411] geöffnet werden, um nicht die Fälklein durch plötzliche Bewegungen zu erschrecken und dadurch etwa ein Zurückweichen und einen Absturz aus der engen Kinderstube über den Mauerrand in die Tiefe zu verursachen. Die Hand ging leise und langsam stückweise am Fensterrahmen innen hoch mit Ruhepausen und oben am Rahmen allmählich entlang und wieder abwärts, um Wirbel und Knopf zu erreichen, aber unverwandt folgten die funkelnden Falkenaugen, die Köpfe und die sich hebenden Hälse voll Mißtrauen der Bewegung, bis die Hand verschwunden und die dunkle Gestalt am Fenster nicht mehr sichtbar war.
Da die Aufnahmen jedoch aus dem dunklen Raume gegen das helle Tageslicht gemacht werden mußten, ergaben sie leider nur dunkle Schattenbilder ohne Durchzeichnung, die nicht befriedigen konnten. Eine Wiederholung der Aufnahme gleich am Abend wurde beschlossen zu einer Zeit, wo die nun bald flügge Junkerschar reichlich und fertig geatzt, satt, ruhig und behaglich im Horste saß und der gestrenge Herr Ritter von Turmfalk nebst Frau Gemahlin schon beruhigt fern von der Kinderstube sich einen sicheren Ruheplatz gesucht hatten.
Einhalbneun Uhr abends ging es nun wieder leise die dunkle gewundene Turmtreppe hinauf, ausgerüstet mit Blitzlicht, um, wie Schillings es nennt, eine »Natururkunde« zu gewinnen. Leise und vorsichtig beim Scheine einer Taschenlampe wurde der Apparat gerichtet, das Blitzlicht fertig gemacht und das Fensterchen am Horste geöffnet. Es war nicht leicht, die Linse scharf einzustellen, da ein scharfer Wind und Gegenzug durch das geöffnete Fenster sauste und alle Vorsicht zu Schanden zu machen drohte, auch das Holzwerk des Turmes innen Unbequemlichkeiten bot. Auch die geringste Bewegung und das leiseste Geräusch merkten die jungen Falken, wurden unruhig, zogen sich bis an den Außenrand der Nische, den Rand des finsteren Abgrundes zurück, wobei ein oder zwei der Tierchen verdeckt waren und die Absturzgefahr drohte.
Das machte eine Aufnahme zunächst unmöglich. Es galt die scheuen und ängstlichen Tierchen zu beruhigen, an das Geräusch und das Blitzen zu gewöhnen. Der Apparat wurde öfters »blind« abgedrückt, so daß ihnen das Knipsgeräusch nicht mehr auffiel und mit der elektrischen Taschenlampe wurde ein kleines Wetterleuchten veranstaltet, dessen Blitze die Falkenbrüder manchmal blendete, aber nicht weiter erschreckte, denn von ihrem Hochsitz aus hatten sie schon andere Flammenstrahlen die Dunkelheit zerreißen sehen. Nach ein und einer halben Stunde, etwa um einviertelelf Uhr, waren die Tierchen so beruhigt über das merkwürdige geheimnisvolle Treiben im Turm, daß sie zuletzt ihre Stellung nicht mehr verließen.
Jetzt konnte Blitz und Aufnahme gewagt werden. Brav saßen die vier Junkerchen nebeneinander gedrängt, denn der Nachtwind pfiff ganz ungewohnt und scharf aus der Finsternis durch ihre sonst so gemütliche Kinderstube, und sie drehten dem ungemütlichen Blaser, den durch die Flügel besser und wärmer gedeckten und geschützten Rücken zu und schauten gerade richtig in den Turm hinein auf die Kamera (Abb. 2). In der Mitte saß ziemlich breitspurig der älteste der Brüder und reckte den Kopf. Er fühlte sich verantwortlich für die Sicherheit der Burg. Er hatte doch ein ungewohntes Geräusch gehört, auf das er lauschen wollte. Halb hinter ihm der kleine Dicke, der den Mäusespeck so gern hatte, schlief schon halb und[412] klappte ab und zu die runden Augen auf. Er war der satte Phlegmatiker, der ruhig für sich sorgen ließ, am wärmsten saß, dabei aber den jüngsten Bruder, das Nesthöckchen, ganz selbstverständlich und gemütlich noch an die Wand drängte, um recht bequemen Platz für sich zu haben, und der dazu noch sein dümmstes Gesicht aufsetzte. Das kleine ängstliche Nesthöckchen aber hob ergeben das kleine scharfe Schnäbelchen, zufrieden, daß es wenigstens noch ein Plätzchen hatte dicht bei den Brüderchen in dieser kalten unheimlichen windigen Nacht voller Unruhe. Dem vierten älteren Bruder war die Spannung des ältesten nicht entgangen, und mit ihm gemeinsam lauscht er hinaus in die unheimliche Finsternis, aus welcher eine ungekannte[413] Gefahr sich zu nahen schien. Eben will er sein Bedenken und finstere Ahnung mitteilen, da blitzt es plötzlich blendend und grell auf, als wollte das Licht ihre Augen verbrennen und pechschwarze Finsternis folgt. Sie fahren entsetzt auseinander, Dickbrüderchen ist hellwach geworden und reißt die runden Augen auf, als wäre er eine Eule mit den großen Telleraugen. – Erst gestern Nacht hatte er ja eine mit leisem Flug um den Turm streichen seh’n! – Sie wenden sich rückwärts und wollen auf und davon im ersten Schrecken, Nesthöckchen ist schon fast am Rande des Horstes; da blitzt es zum zweiten Male auf, ebenso grell, ebenso schnell und dann bleibt es dunkel (Abb. 3). Wie gelähmt bleiben sie sitzen und[414] können sich nicht rühren. Wohin sollen sie flüchten? Erst allmählich, als kein neues Entsetzen folgt und alles still bleibt, fällt die bannende Angst ab. Nur leise Geräusche im Turme, wie sie schon oft gehört, vernehmen sie noch, das Fenster wird geschlossen und plötzlich hört auch der kalte zugige Wind auf und sein unangenehmes Zausen, Zupfen und Wühlen in ihrem Gefieder. Der Wind, der ungebärdige böse Zausegeselle, ist wieder aus der Kinderstube der Falken ausgeschlossen. Sie drängen sich wieder zusammen, daß eins am andern sich wärmt, vergessen den Schrecken und schlafen dann ruhig im warmen Winkel ein, bis morgen früh die Sonne sie weckt oder die liebe Mutter Turmfalk mit dem heißbegehrten Frühstück kommt. – – –
Froher hätten die drei Jäger auch nicht nach Hause wandern können, wenn sie den weißen Hirsch erlegt hätten – sie haben ihn aber nicht erlegt!! – als wie unsere Photographen, als sie nach langem geduldigen Mühen den Lohn wohlgelungener seltener Aufnahmen nach Hause trugen. Sie fühlten sich beim Herabsteigen auf der schwarzen Wendelstiege des Turmes zu mitternächtiger Stunde wie Schillings, als er »mit Blitzlicht und Büchse« aus dem finsteren Urwald heimkehrte. Hellauf flammte der Mut: »In den nächsten Tagen oder Abenden wiederholen wir die Aufnahme und stellen untrüglich fest, wie die Entwicklung vorgeschritten ist!« »Natururkunden!« Doch Hindernisse treten ein: Als nach acht Tagen die Forscher zur Tat schreiten wollten, da war das Nest leer, und die jungen Falken hatten ihren Flug in die Welt angetreten.
Den 27. Juli, einen schönen Sonntag, hatten sie zu ihrem ersten Ausflug auf eigenen Flügeln sich ausgesucht. Bis zu den benachbarten Dachfirsten hatten sie ihre jungen Schwingen zunächst abwärts getragen. Dort saßen sie dann mehr ängstlich und erstaunt über ihren eigenen Mut und warteten, daß die Eltern ihnen den gewohnten Braten brachten. Die Maus auf dem Dachfirste, von den Eltern zugetragen, war ihnen so lieb wie die Maus im Turmhorst. Auch hier auf dem Dachfirste hielt aber die gestrenge Frau Mutter scharf die Reihenfolge ein, so daß nicht etwa ein kleiner Frechling doppelt erhalten konnte, während ein anderer leer ausging. Wenige Tage nur ging es von Dachfirst zu Dachfirst, auf Essenköpfe in immer gewandterem Fluge, dann hinüber in die benachbarten Gärten und Promenaden. Auf hohen Bäumen hat man sie noch bemerkt, bis eines Tages ihre erstarkten Flügel sie in die Ferne trugen zu eigenen Fahrten, Jagden und Abenteuern.
Die Kindheit war vorüber. Sie hatten gelernt, daß Mäusebraten jedem anderen Braten vorzuziehen, ja das einzige würdige und ritterbürtige Essen ist, daß die Mäusejagd der einzige Turmfalkensport ist, in dem Kraft, Gewandtheit, Schnelligkeit, scharfe Augen und Fänge sich rühmlich und nützlich betätigen können.
Drei Monate etwa hatten Ritter Turmfalks auf dem Petriturm gehorstet und täglich wohl mindestens durchschnittlich zehn Mäuse geschlagen. Das sind etwa tausend Mäuse in kurzer Zeit! Ruhm und Dank darum dir du wackrer, schneller Held!
[416]
Wenn aber ihr jungen Falken über den Feldern schwebt, wenn ihr in die blaue Höhe steigt, wenn ihr eure Beute schlagt, möge kein Schießer euch treffen, kein Feind euch verderblich werden! Eure Burg und Kinderstube auf dem Petriturm ist leer. Bald braust der Wintersturm um seine Ecken. – Wenn der Frühling kommt und das Birklein an der Brust des alten Riesen grünt und die Kinder nach dem Sonnenstrählchen auf dem Turmknopf spähen, wird dann ein Paar von eurem ritterlichen Geschlecht dort oben wieder horsten auf stolzer Burg über dem Treiben und der Unruhe der Welt? (Abb. 4).
Willkommen seid ihr uns, uns und der heimlichen neugierigen Kamera!
Fußnote:
[1] Nach eigenen Beobachtungen und Mitteilungen der Herren Kantor Bretschneider, Obersekretär Walter, Kirchendiener Klemm, Glöckner Lohse und des Herrn A. Schreiber in Freiberg.
Von Friedrich A. Bäßler
Acht wetterfeste Ornithologen, ein Weiblein und sieben Männlein begrüßten sich am frühen Morgen auf dem Bahnhof in Großenhain. Wetterfest, denn auf dem Wege zum Bahnhof in Dresden war man schon einmal »durch« geworden vom Schnee und Regen, den der launische April herunterschüttete. Da es aber jetzt nicht mehr regnete, ging’s mit gutem Mute voraus ins Trappenrevier. Aus dem Park am Ufer der Röder begrüßte der Zilp-Zalp als erster Vertreter der Ornithologie ihre getreuen Jünger. Weitere Namen konnte der Buchführer bald in seine Liste eintragen. Dicht vor der Mühle von Kleinraschütz flog ein Ringeltäuber vom Boden auf, ließ sich in einem Baume nieder und machte so die Beobachter auf sein Nest aufmerksam, in dem seine bessere Hälfte brütend saß. Vom Mühlendach herab ließ der Hausrotschwanz sein krächzendes Liebesliedchen erschallen. Rechts der Straße breitete sich nun die kahle Fläche des Exerzierplatzes aus, spärlich bewachsen mit Gräsern und fruchtendem Moosrasen, nur hie und da durchsetzt von niedrigem Gebüsch. Mehrere Steinschmätzerpärchen trieben dort ihr Wesen. Ein Männchen war sogar so freundlich, vom Telephondraht herunter sein wenig bekanntes Lied zum besten zu geben. Aus einem Wiesengraben der Röderniederung erhob sich ein Stockentenpärchen, um bald wieder plätschernd in dem Überschwemmungsgebiet einzufallen. Langgeschwänzte Elstern, diese bösen Nesträuber im schmucken Kleide, kreuzten schwerfälligen Fluges den Weg, und ein Bussard zog über den Wiesenflächen seine Kreise.
Weiter wandern wir auf Skassa zu, das von drüben über der Röder herübergrüßt. Die Straße biegt jetzt links ab und führt über eine Brücke ins Dorf. Wir halten uns rechts auf einem Feldweg, an großen Kartoffelmieten vorbei, der Neumühle zu. Ein mächtiger Eichenstamm, der gefällt am Wege liegt, bietet willkommene Gelegenheit zur Frühstücksrast. Selbst während der Rast bietet sich dem Vogelfreund Gelegenheit zum Beobachten. Vor uns liegen überschwemmte Wiesen, über denen dreißig bis vierzig Rauchschwalben hastigen Fluges durcheinanderfliegen. Für diese armen Tierchen, die ja nur fliegende Insekten fangen können, ist noch karge Zeit. Mücken und Fliegen halten sich vor der Kälte noch verborgen in ihren Schlupfwinkeln. Drüben jenseits des Wassers erfreuen Fasanen das Auge der Beobachter. Frisch gestärkt geht’s nun weiter. Ein prächtiges Bild bietet die Neumühle drüben[417] am andern Ufer. In breitem Bette strömt das Wasser schäumend über ein flaches Steinwehr, über dem dicht der schmale Steg in den Mühlenhof führt, während der Fahrweg durch das rauschende Wasser am Fuße des Wehres nebenherläuft. Weit kann das Auge dem Laufe des Flusses folgen, der sich von Auwald umsäumt nach Norden wendet.
Nun gehts aber ernstlich hinein ins Trappengebiet. Auf Feldwegen nähern wir uns Weißig, dessen Windmühle schon über den Höhenrücken herüberschaut. Auffällig viele Hasen treiben hier auf den Feldern ihr Wesen. Bald links, bald rechts sucht einer, aufgescheucht durch unser Nahen, das Weite. Dicht beim Dorfe sind mindestens zwanzig Vertreter dieser Sippe auf engstem Raume versammelt und lassen sich beim »Karussell« bewundern, das heißt sie jagen sich unermüdlich im Kreise herum, einer hinter dem andern.
Wir haben nun Weißig durchschritten und vor uns in einiger Entfernung liegen die Häuser von Roda im schönsten Sonnenschein. Dort, vor jener schiefergedeckten Scheune balzten die Trappen im vorigen Jahre. Jetzt also die Prismengläser zur Hand, und aufgepaßt! Aufmerksam durchforschen wir das Gelände. Nichts ist zu sehen von den stattlichen Vögeln. Also näher heran! Wir folgen der Straße nach Wildenhain. Von da haben wir die Felder vor Roda in günstigster Beleuchtung vor uns. Aller paar Schritte bleiben wir stehen, um die Gegend zu durchmustern. Endlich ruft jemand: »Dort sind sie.« In einer Bodentelle bewegen sich braune Gestalten und schneeweiße Flecken leuchten im Sonnenschein herüber. »Ja, jetzt habe ich sie auch.« So ruft einer nach dem andern. Was doch die Suggestion ausmacht! Keiner will’s glauben, als der Führer behauptet, das seien nur Rehe, deren Spiegel so hell leuchte. Endlich hat sich aber auch der letzte Zweifler überzeugen müssen, daß drüben elf »Feld«-Rehe an der jungen Saat sich gütlich tun und dabei hin und her treten. »Aber dort, weiter rechts, das sind Trappen.« Ja, das sieht doch ein wenig anders aus, als vorhin die Rehe. Dort stehen unsre größten einheimischen Hühnervögel. Ein Trapphahn in Balzstellung zeigt, den Kopf von uns abgewendet, den gefächerten Schwanz, unter dem das reine Weiß der Unterschwanzfedern wie ein Wattebausch hervorschimmert. Jetzt dreht er sich langsam um und über dem Braun der herabhängenden Flügel und des Rückens wird der graue Hals sichtbar. Mehrere Hennen, wesentlich kleiner als der Hahn, stehen und liegen um ihn herum. Nun ist das »Jagd-« oder besser »Beobachtungs«-Fieber erwacht. Wir müssen noch näher heranzukommen suchen. Auf Rainen und Feldwegen pirschen wir uns heran. Von Zeit zu Zeit tun wir einen Blick durchs Glas, dann geht’s weiter. Da streichen von Weißig her zwei Trappen heran, und jetzt entdecken wir immer mehr der großen Vögel. Einunddreißig Stück zählen wir mit Befriedigung, darunter auch noch einige Hähne, doch sie haben uns eräugt, und langsam ziehen sie von uns weg. Auf einem Umweg gelingt es uns noch einmal, auf einhundertfünfzig Meter heranzukommen, so daß wir den ganzen Trupp mit einem Blick überschauen können. Alle Einzelheiten können wir durchs Prismenglas erkennen: die grauen Hälse, die braunen Rücken, die schwarzgesäumten Flügel und den Backenbart der Hähne. Fürwahr, ein prächtiges Bild fürs Ornithologenherz und für jeden Naturfreund.
Doch die Trappen lieben es nicht, daß der Mensch sich so eingehend mit ihnen beschäftigt. Langsam machen sie kehrt und bewegen sich von uns weg, und als[418] wir noch näher herangehen, da erhebt sich einer der scheuen Vögel nach dem andern. Ruhigen Flügelschlages geht’s fort. Ein Bild, nicht weniger wirkungsvoll als vorhin, so fünfundzwanzig der großen Flieger in dichtem Schwarm beieinander in der Luft zu sehen. Den Hals gerade nach vorn gestreckt, die Ständer nach hinten gelegt, so ziehen die schweren Vögel scheinbar mühelos dahin, den neugierigen Beobachtern zu entgehen, um nach kurzer Zeit wieder Fuß zu fassen.
Voll befriedigt verschnaufen wir ein Weilchen. Wir suchen noch die Stelle auf, wo vorhin der Hahn balzte. Dort liegen einige der großen schneeweißen Dunenfedern, die wir uns zur Erinnerung an die Trappenbalz mitnehmen.
Und während wir rasten, da erörtern wir das Thema, ob hier nicht eine lohnende Aufgabe für den Verein Heimatschutz wäre, diese einzigartigen »Hühnerstelzen«, die in solcher Zahl wohl nirgends mehr in Sachsen vorkommen, zu schützen. Denn es wäre jammerschade, sollte dieser Steppenvogel etwa ganz verschwinden. Doch ist wohl noch kein Grund für ein Eingreifen vorhanden. Die Zahl hat sich in den letzten Jahren immer auf derselben Höhe gehalten. Der Vogel weiß sich selbst am besten zu schützen. Seine Größe läßt ihn den Feind schon von weitem erkennen. Jetzt wo Klee und Getreide noch niedrig sind, kann man näher nicht herankommen als wir. Wenn dann gegen Ende Mai die Äcker kniehoch bewachsen sind, dann kann man sich wohl auf fünfzig bis fünfundsiebzig Meter heranschleichen, dann sind aber auch die Tiere viel schwerer zu entdecken. Und wie klug die Tiere sind, das konnten wir im vorigen Jahre beobachten. Zum Greifen nahe flogen sie über die arbeitenden Bauern und Pferde hinweg, während sie uns nicht näher heranließen als auf einhundertfünfundzwanzig bis einhundertfünfzig Meter. So kommt es, daß nur selten einmal eine Trappe zur Strecke kommt, wie erfahrene Jäger der dortigen Gegend versichern.
Unerwartet schnell hatte uns der Vormittag einen so guten Erfolg beschert, und da wir den Tag noch vor uns hatten und das Wetter gut war, so beschlossen wir, den Teichen zwischen Koselitz und Frauenhain im Norden unsres Gebiets noch einen Besuch abzustatten. Am Glaubitzer Pfarrbusch vorbei, über Radewitz strebten wir dem Höhenzuge zu, an dessen Fuße der Grödel-Elsterwerdaer Floßgraben von Süd-West nach Nord-Ost sich hinzieht. Die feuchten Wiesen wären so recht ein Gelände für den Brachvogel gewesen und die sandigen Äcker auf der Höhe für den Triel, aber keiner von beiden zeigte sich uns. Nur Kiebitze riefen uns im wuchtelnden Flug ihren Namen zu.
An windgeschützter Stelle wurde aus dem Rucksack ein »Promenadendiner« eingenommen, dann gings weiter in Richtung Koselitz. Ein Schnee- und Regenschauer erinnerte uns daran, daß der April noch am Ruder sei. Es war aber eine letzte, schüchterne Mahnung, denn ein wundervoller Nachmittag war uns noch beschieden. Allerhand boten uns noch die Koselitzer Teiche. Schwarz-, Rothals- und Haubentaucher, Bläßhühner, Stock-, Schell- und Tafelenten belebten die Wasserfläche. Die freudigste Überraschung bot uns aber der Neue Teich bei Frauenhain, als wir im Schilf Freund Adebar »herumstorchen« sahen. Als wir dann im Dorfwirtshause bei einem Schälchen »Heeßen« von den Strapazen der Wanderung uns erholten, da erfuhren wir, daß ein besetztes Storchnest im Dorfe vorhanden sei. Ein Besuch[419] bei ihm sollte den würdigen Abschluß des so erfolgreichen Tages bilden. Im Garten hinter der Scheune von Nummer einundvierzig steht es auf einer hohen Eiche. Drei mächtige Äste, die schräg emporwachsen, bilden eine vorzügliche Unterlage für den massigen Horst. Frau Adebar saß – wie es schien brütend – darin. Und während wir schauen und uns berichten lassen vom Besitzer des Grundstückes, daß das Nest seit vierzig bis fünfzig Jahren immer besetzt gewesen ist, da kommt auch der Gatte herangestrichen, fußt auf dem Nestrande und verflicht einen mitgebrachten Zweig ins Gewirr der schon vorhandenen.
Lange stehen wir und freuen uns des in unsrer Heimat so selten gewordenen Anblicks und übersehen dabei auch die Spatzen nicht, die im Neste des großen Vettern ihre winzige Kinderstube aufgeschlagen haben.
In halbstündigem Marsch ist dann die Station Frauenhain erreicht, und rasch bringt uns das Berliner »Zügle« den heimischen Penaten zu. Die Fahrt gibt uns noch einmal Gelegenheit, zu überdenken, was uns an Schönem der Tag alles beschert hat.
Von Geh. Reg.-Rat Benno von Polenz
Vor mir liegt ein altes Stammbuch aus dem letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts. Es trägt den Titel
Denkmahl der Freundschaft
gestiftet von Christian Ferdinand von Reiboldt.
Reinsdorff 1772.
Die Einträge sind aus den Jahren 1772 bis 1777.
Christian Ferdinand von Reiboldt entstammte einem inzwischen ausgestorbenen vogtländischen Adelsgeschlechte, an welches noch jetzt die Ortsnamen »Reiboldsruhe« und »Reiboldsgrün« erinnern. Die Überlieferung berichtet, es habe früher »das halbe Vogtland« der Familie von Reibold (so schrieb sie sich zuletzt) gehört. Der Vater Christian Ferdinands besaß Reinsdorf, ein Gut in nächster Nähe von Plauen. Hier ist unser Christian Ferdinand im Jahre 1754 geboren worden. Den ersten Unterricht erhielt er von Haushofmeistern, wie es damals bei jungen Kavalieren der Brauch war. Es waren Kandidaten der Theologie. Ihre Namen sind am Schlusse des Buches verewigt. Sie haben sich bescheidentlich auf den letzten Blättern eingetragen, obwohl die Einträge der Zeit nach zu den ersten gehören. Christian Ferdinand hat dann (offenbar im Jahre 1773) die Universität Leipzig bezogen und dort seine Studien bis zum Jahre 1777 fortgesetzt.
Er hat – den Einträgen nach zu schließen – einen großen Bekanntenkreis gehabt. Wiegt zunächst der grundbesitzende Adel der näheren und weiteren Umgegend von Plauen vor, so treten von dem Augenblick an, wo Christian Ferdinand von Reiboldt nach Leipzig kommt, das Bürgertum und die gelehrten Kreise sowie die Studentenschaft in den Vordergrund.
Leipzig stand im achtzehnten Jahrhundert im Mittelpunkt des geistigen Lebens. Darum hatte Goethes Vater im Jahre 1765 mit solchem Nachdrucke verlangt,[420] daß Leipzig die erste Universität sei, die sein Sohn besuchen solle. Allerdings waren inzwischen zwei der berühmtesten Professoren – Gottsched und Gellert – gestorben. Immerhin besaß Leipzig noch eine Anzahl von Männern, deren Namen einen guten Klang hatten, vor allem die Professoren Clodius und Ernesti, sowie den Singspieldichter und Jugendschriftsteller Weiße, einen der vertrautesten Freunde Lessings, der auch auf den jungen Goethe nicht ohne Einfluß gewesen war. Noch immer standen jedem Kunstbegeisterten die Kunstanstalten und die reichen Sammlungen Leipziger Bürger zur Verfügung. Noch immer war Leipzig der Mittelpunkt des deutschen Buchhandels und Buchgewerbes, wo die wichtigsten Erzeugnisse deutschen Geisteslebens gedruckt, verlegt und vertrieben wurden. Noch immer kamen bedeutende Leute von auswärts herbei, um für einige Tage oder Wochen die Luft Leipzigs zu atmen, denn die einmal geschaffene geistige Atmosphäre verflüchtigt sich nicht so leicht, um so mehr als die Abzugskanäle – Verkehrs- und Zeitungswesen – damals viel enger waren als heutzutage.
Neben Wissenschaft und Kunst blühte in Leipzig der gesellige Verkehr. Goethe hatte ihn selbst in reichem Maße genossen. In den Familien der großen Handelsherren, nicht zum wenigsten in denen der Buchhändler, waren Studenten, die sich dem Tone des Hauses anzupassen wußten, gern gesehene Gäste. Wie herzlich sich die Beziehungen Goethes zu der Familie des feinsinnigen Buchdruckers und Musikalienhändlers Johann Gottlob Immanuel Breitkopf gestaltet hatten, geht aus dem achten Buche von »Dichtung und Wahrheit« hervor. Weniger bekannt ist die Tatsache, daß Goethe, nachdem er Leipzig verlassen hatte, in brieflicher Verbindung mit der Familie Breitkopf blieb, hierbei den jüngeren Sohn mit »Bruder Gottlob« anredete und des älteren unter der gleichen Bezeichnung – »Bruder Bernhard« – gedachte[2].
Daß der Verkehr der Studenten untereinander sich gleichfalls immer in so gesitteten Bahnen bewegt habe, muß, wenn man sich die Szene in Auerbachs Keller vor Augen hält, billig bezweifelt werden. Immerhin wissen wir aus »Dichtung und Wahrheit«, daß auch innerhalb der Studentenschaft Quellen geistiger Anregung flossen.
Dies war die Umwelt auch unsers jungen Reiboldt. Die Einträge im Stammbuche reden eine deutliche Sprache. Der Zahl nach überwiegen naturgemäß die Einträge von Studenten. Aus allen Gegenden Deutschlands stammen sie. Aber auch Ausländer haben sich verhältnismäßig häufig eingezeichnet. Man würde sie nach ihrem Namen und nach der Art ihres Eintrags nicht immer als solche erkennen, wenn nicht viele der Einzeichner nach guter alter Sitte bei ihrem Namen die Heimat angegeben hätten. Wir finden Leute aus Holland, England, Dänemark, Schweden, Norwegen, Kurland, Livland, Estland, Polen und dem eigentlichen Rußland.
Von den Universitätslehrern haben sich eingetragen:
Der in Gottscheds Bahnen wandelnde Christian August Clodius, Professor der Philosophie und Poesie (Goethe hatte seine Vorlesungen besucht, ihn aber als Dichter nicht allzuhoch einzuschätzen gewußt und ein seine dichterischen Eigenheiten nachahmendes Spottgedicht verfaßt),
[421]
Johann August Ernesti, berühmter Philolog und Theolog (Goethe, dessen Sinn ursprünglich nach Göttingen stand, hatte sich mit Leipzig in der Erwartung abzufinden gewußt, daß er dort unter anderen auch Ernesti würde hören können),
Hofrat Johann Gottlob Böhme, Professor der Geschichte (hatte für Goethe den Studienplan aufgestellt, freilich ohne sich dessen Beifall zu erwerben; anderseits war »Madame Böhme« bemüht gewesen, dem jungen Studenten die für Leipzig unbedingt erforderliche Lebensart beizubringen),
Hofrat Carl Andreas Bel, Professor der Poesie und Universitätsbibliothekar,
Dr. Christian Rau, Professor der Rechtswissenschaft,
der Universitätsfechtlehrer (maître des armes de l’academie) Georg Gottfried Michaelis (Reiboldt vermerkt: »Einer der seltenen Edeln!«).
Ferner finden sich Einträge des schon erwähnten Jugendschriftstellers Christian Ferdinand Weiße, der im Hauptberufe Kreissteuereinnehmer war und sich als solcher eingezeichnet hat, sowie des Lustspieldichters Johann Friedrich Jünger, der allerdings damals noch studierte. Gleichfalls Student war zur Zeit seiner Einzeichnung C. F. Ludwig, offenbar Christian Ferdinand Ludwig, der Sohn jenes Hofrats Ludwig, bei dem Goethe zunächst seinen Mittagstisch gehabt hatte. Der Sohn wurde später Professor der Chirurgie und fruchtbarer Schriftsteller in der Heil- wie in der Pflanzenkunde, bei dem sich Goethe für seine Forschungen Rat holte. Zu den damals noch unentdeckten Gestirnen gehört ferner Wilhelm Becker, der sich im Oktober 1776 eingetragen hat. Er wurde 1795 Inspektor der Dresdner Antikengalerie und des Münzkabinets und erhielt 1805 auch die Aufsicht über das Grüne Gewölbe. Goethe erwähnt in einem Briefe an Schiller Beckers Schilderung des Tales von Seifersdorf, die durch Kupferstiche[3] erläutert in dem von Becker herausgegebenen »Taschenbuch zum geselligen Vergnügen« erschienen war. In diesem Zusammenhange muß auch eines Eintrags des Kunstschriftstellers und Generaldirektors der Sächsischen Kunstakademieen Christian Ludwig von Hagedorn gedacht werden. Goethe war ihm vorgestellt worden, als er im Jahre 1768 von Leipzig aus Dresden besuchte, und Hagedorn, erfreut über seine Kunstbegeisterung, hatte ihm persönlich seine Sammlungen gezeigt. Auch Reiboldt, der in so mancher Hinsicht auf Goethes Spuren gewandelt zu sein scheint, hat Hagedorn offenbar bei einem mehrwöchigen Besuche in Dresden kennen gelernt, den er während seiner Studienzeit ausführte.
Bemerkenswert ist, daß sich unter den Einzeichnern auch ein Schauspieler befindet, der zur Bondinischen Gesellschaft gehörende Friedrich Günther. (Der Besitzer des Buches kennzeichnet ihn in einem Randvermerke: »Einer der ersten deutschen Schauspieler im komischen Fach und ein braver Mann).« Das gesellschaftliche Vorurteil gegen die Schauspieler, unter dem noch die Neuberin (gestorben 1760) zu leiden hatte, war also damals doch schon stark geschwunden.
Daß Reiboldt auch in den Kreisen der Leipziger Bürgerschaft verkehrt hat, geht aus den Einträgen von Christoph Gottlob Breitkopf (dem schon erwähnten »Bruder Gottlob«) sowie seiner Schwester Konstantia (von ihren näheren Bekannten[422] meist »Stenzel« genannt) hervor. Stenzel hatte seiner Zeit Goethes Vertraute bei seinem Liebeshandel mit Kätchen (Annette) Schönkopf gespielt und ist von ihm in der »Laune des Verliebten« verewigt worden, denn hinter den Schäfernamen dieses Stückes steckt niemand anders als auf der einen Seite Goethe selbst in seiner leidenschaftlichen Laune und das von ihm geplagte Kätchen, und auf der anderen Seite die muntere Stenzel und Goethes übermütiger Freund Horn. Stenzel hat sich im Jahre 1774 mit dem Dresdner Arzte Dr. Oehme verheiratet[4]. Reiboldt, der sie offenbar noch von Leipzig her kannte, hat sie, wie aus ihrem Eintrage hervorgeht, im Jahre 1776 in Dresden besucht. Dies und andere Umstände deuten darauf hin, daß der Verkehr Reiboldts im Breitkopfschen Hause sich nicht bloß auf gelegentliche Besuche beschränkt hat. Daß es auch damals noch lebhaft im Hause Breitkopf zuging, berichtet der Musikschriftsteller Reichardt im Jahre 1772:
»Das ansehnliche Breitkopfische Haus war ein sehr gastfreies, und mancher Abend wurde da unter frohen Spielen und lebhafter, witziger Unterhaltung durchlebt, bald mit Musik, bald mit sinnreichen und lustigen Aufführungen dramatisierter Sprichwörter. Man erzählte damals noch oft davon, wie Goethe wenige Jahre vorher in diesen Spielen geglänzt habe.« –
Ob Reiboldt ein Autographenjäger gewesen ist? Fast könnte man es vermuten, wenn man in seinem Stammbuch Einträge von Lessing, Goethe und Ramler findet. Billigerweise werden wir uns aber sagen müssen, daß die Bitte um einen Stammbucheintrag damals wohl auch dem Fernerstehenden nicht unbedingt verdacht wurde. Lessing hat sich am 20. Februar 1775 eingezeichnet. Er hat damals auf einer Reise von Berlin nach Wien in Leipzig Halt gemacht. Goethes Eintrag ist vom 31. März 1776. Er war damals von Weimar aus auf reichlich eine Woche herübergekommen, um sein geliebtes Leipzig nach der Studentenzeit zum ersten Male wiederzusehen. Wie dringlich es ihm mit diesem Besuche gewesen ist, geht daraus hervor, daß er erst seit dem 7. November 1775 in Weimar weilte! Ramlers Eintrag ist vom 22. Juni 1776. Ramler (damals Professor an der Kadettenanstalt in Berlin) galt als der Mann, der die deutsche Sprache am besten beherrschte. Trotzdem hat er nichts Eigenes, sondern einen Vers von Logau eingetragen. Lessings Eintrag ist ziemlich farblos. Er lautet ins Deutsche übersetzt: »Besser keinen Freund als einen oberflächlichen!« Viel bedeutsamer ist Goethes Eintrag: »Wer gern zu tun hat, dem gibt Gott zu schaffen!«
Daß Reiboldt zu dem Goetheschen Eintrage durch die Familie Breitkopf gekommen ist, halte ich nicht für unwahrscheinlich, denn Goethe hat bei seinem Besuche in Leipzig den oft gegangenen Weg zum »Silbernen Bären« sicherlich wiedergefunden. Die Einträge von Lessing und Ramler sind vielleicht durch Weiße vermittelt worden.
Nach alledem werden wir annehmen dürfen, daß Christian Ferdinand von Reiboldt am geistigen Leben seiner Tage einen mehr als gewöhnlichen Anteil genommen hat. Er scheint aber auch ein Mann von gutem Geschmack gewesen zu sein, wenn[423] anders wir aus der Gestaltung des Buches einen Rückschluß auf die Gesinnung des Besitzers ziehen dürfen.
Auf jeden Fall spricht das Buch für den hohen Stand, den das Buchbinderhandwerk damals eingenommen hat. Solid und dabei doch gefällig ist schon das lederüberzogene, zum Auseinanderziehen und Ineinanderschieben eingerichtete Behältnis. Der Rücken dieses Futterales trägt die Aufschrift »Stammbuch« und ist im übrigen so gestaltet, wie es bei den gedruckten Büchern der damaligen Zeit üblich war, so daß man das Stammbuch nicht nur auf den Tisch legen (wie wir es mit dem sogenannten »Album« zu tun pflegen), sondern auch – wohlverwahrt gegen Staub und Schmutz – in die Bibliothek neben andern Büchern einstellen konnte. Und nun das Buch selbst. Der Einband besteht aus rot und schwarz marmoriertem Pergament, dem reizvolle Goldornamente aufgepreßt sind, aus denen auf der Vorderseite die Anfangsbuchstaben des Namens, auf der Rückseite die Jahreszahl deutlich, wennschon nicht aufdringlich, hervortreten. Klappen wir den Deckel auf, so finden wir auf den beiden ersten Seiten an Stelle des Vorsatzpapieres einen Bezug von zartblauer Seide. Dann folgt auf den beiden nächsten Seiten links das Reiboldtsche Wappen, rechts der oben angeführte Titel, dessen zierliche in lichtroter Farbe gehaltene Umrahmung mit den blauweißen Wappenfarben gut zusammengeht.
Nun folgen dreihundertachtundfünfzig Seiten, von denen über dreihundert beschrieben oder bemalt sind. Wenn die Einzeichner adligen Standes waren, so[425] ist auf der gegenüberliegenden Seite das Wappen in bunten Farben wiedergegeben. Ein Teil der Wappen ist von ebenderselben Hand gemalt, die auch das Titelblatt hergestellt hat. Diese Wappen zeichnen sich dadurch aus, daß sie in geschickter Weise in gekreuzte Palmen- und Lorbeerzweige gebettet sind, die rechts und links um das Wappenschild bis etwa zur halben Höhe herumgreifen; ein Schmuckgedanke, der sich bei den Wappenabbildungen im achtzehnten Jahrhundert öfters vorfindet. Der Maler, dem wir die Ausschmückung des Stammbuches verdanken, hat sich auf einem der letzten Blätter eingetragen. Unter seinem Künstlerwappen mit der Göttin Minerva, die eine Fahne in der Hand hält, stehen die Worte:
Plauen, am 3. des Hornung 1774.
Auf gnädigen Befehl des Hochwohlg. Herrn Besitzers habe dieses beifügen und mich zu Gnaden empfehlen wollen.
Christian Friedrich Zimmermann, Kunst- und Portraitmaler.
Unter den übrigen Bildern zeichnen sich mehrere durch ihren allegorischen (sinnbildlichen) Inhalt aus. Eines von ihnen soll offenbar den göttlichen Schutz darstellen. Eine weibliche Gestalt weist mit der ausgestreckten Rechten, in der sich ein Kreuz befindet, einen neben ihr sitzenden Mann auf einen im Hintergrund stehenden Tempel hin. Über dem Manne schwebt eine andere weibliche Gestalt, die mit einem Schild einen aus den Wolken zuckenden Blitz auffängt. Auf einem andern Bilde sieht man Herkules, der die Erdkugel an einem Band über die Schultern gehängt hat und am Stamme einer Palme in die Höhe klettert. Oben auf den Zweigen der Palme ruht eine zweite Kugel, vielleicht die Himmelskugel. Auf der Rückseite finden sich die Worte: »Dat gloria vires«, zu deutsch: »Der Ruhm verleiht Kräfte« oder in diesem Zusammenhange: »Der Erfolg spornt uns an, immer höheren Zielen zuzustreben«. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hinter diesen Bildern freimaurerische Gedanken verborgen sind. Bis zum Erscheinen der »Zauberflöte« waren nur noch einundeinhalb bis zwei Jahrzehnte.
Den Beschluß bildet ein vom Besitzer mit großer Gewissenhaftigkeit angelegtes alphabetisches Verzeichnis der Einzeichner. Man sieht, welchen Wert er dem Buche beigemessen hat. Daß er sich auch in späteren Jahren noch mit seinem Stammbuche zu beschäftigen pflegte, geht aus vielen Randbemerkungen hervor, in denen er sich über den Charakter oder das Lebensschicksal des Einzeichners ausspricht. Da heißt es zum Beispiel:
An ihm verlor Deutschland eines seiner seltensten Originalgenies und ich einen wahren Freund; er starb an den Blattern am …
oder
starb in erbärmlichen Umständen und von jedermann verlassen im Jahre 1797; allen Hagestolzen zum abschreckenden Beispiel.
Zu dem Eintrage Lessings hat der Besitzer vermerkt:
† den 15. Febr. 1781 im 52. Jahr zu Wolfenbüttel, wo ihm ein Monument errichtet wurde, welches ich am 28. Sept. 1787 sah und des großen Gegenstandes nicht würdig fand.
Von den zweihundertsechsundsechzig Einträgen sind einhundertsechsunddreißig in deutscher und einhundertdreißig in fremder Sprache gehalten (also[427] eine knappe Mehrheit für deutsch!), und zwar sechzig in französischer, neunundfünfzig in lateinischer, sechs in englischer, vier in italienischer und einer in griechischer Sprache. Die sechs englischen Einträge weisen darauf hin, daß gerade damals die englische Dichtkunst auf das geistige Leben Deutschlands einzuwirken begann, nachdem bis dahin die klassischen Schriftsteller und die Franzosen fast unumschränkte Herrscher gewesen waren. Die französischen Einträge stammen in der überwiegenden Mehrzahl von Personen adligen Standes (achtunddreißig); soweit dies nicht der Fall ist (zweiundzwanzig), sind die Einzeichner meist weiblichen Geschlechtes. Bemerkenswert ist, wie die Familie des Superintendenten Dr. Strantz in Plauen sich eingetragen hat. Der Herr Superintendent, der den Besitzer des Buches getauft hat und sich als sein Beichtvater bezeichnet, schreibt ein Psalmwort (Psalm 37, Vers 37). Dann folgt seine Ehefrau Eleonora Charlotta Strantzin geb. Kleinhemplin mit einem Verse in deutscher Sprache (von Brockes). Der älteste Sohn schreibt einen lateinischen Vers (aus der Medea des Seneca); die beiden ältesten Demoisellen Töchter schreiben französische Sprüche; dann folgt ein jüngerer Sohn mit einem griechischen und die jüngste (der Schrift nach kaum herangewachsene) Tochter mit einem deutschen Verse.
Die Einträge – es handelt sich meist um Verse, zum Teil aber auch um Sinnsprüche in ungebundener Rede – stellen sich in der Hauptsache als Zitate dar. Der Einzeichner hat den Eintrag also nicht selbst entworfen, sondern von anderen[428] Leuten erdachte und bereits veröffentlichte Aussprüche benutzt. Als Quelle und Verfasser werden unter anderen angegeben: Die Bibel, Theognis, Cicero, Horaz, Livius, Tibull, Seneca, Logau, Weise, Canitz, Brockes, Haller, Friedrich der Große, Kleist, Gellert (von ihm findet sich ziemlich viel), Gleim, Uz, Zachariä, Giesecke, Cronegk (auch dieser wird öfters angeführt), Wieland, Clodius, Jacobi, Boileau, Voltaire, Young, Thompson, Pope. Klopstock ist niemals als Verfasser ausdrücklich genannt. Ich nehme aber an, daß verschiedene in seinem Geiste gehaltene Verse sich bei genauem Suchen auf ihn zurückführen lassen.
Von besonderem Reiz ist es, den Grundgedanken nachzugehen, die in den Einträgen zum Ausdrucke kommen. Wir gewinnen dadurch ein Spiegelbild vom Seelenleben der damaligen Zeit.
Lebensweisheit – zuweilen in etwas nüchterner Form – thront an erster Stelle. Der Vater widmet seinem Sohne folgenden Eintrag:
Ein alter kurfürstlicher Geheimer Rat, Carl Friedrich von Beust, hält dem jungen Eigentümer des Buches folgenden Spiegel der Kavalierstugenden vor:
Les vertus nécessaires pour la perfection d’un gentilhomme sont la prudence qui l’éclaire, la tempérance qui le rend victorieux de la volupté, la vaillance qui lui fait mépriser les périls, où il se faut exposer pour faire de belles actions et enfin la justice pour lui faire rendre à un chacun ce qui lui appartient et l’unir par ce nœud sacré avec les autres hommes dans la société civile. C’est d’être:
Vir quadratus sine vituperio.
Kürzer und einfacher sind folgende Lebensregeln:
Ein wahrer Menschenfreund bleibt weise, wenn er lacht, und heiter, wenn er weint.
(Cronegk)
Einen alten Bekannten werden viele in den Gellertschen Zeilen finden:
Überhaupt bestätigt sich, daß Gellert den überragenden Einfluß auf die sittliche Bildung des Zeitalters behauptet.
Naturgemäß findet auch Gottesfurcht verschiedentlich ihren Ausdruck. Aber auch das Religiöse bewegt sich meist im Gedankenkreise der Aufklärung. Von Herrnhuter[429] Einfluß ist nichts zu finden. Von den sogenannten »Pietisten« wird nur Canitz (aus dem Freundeskreise Speners) angeführt:
(Canitz)
Recht nüchtern muten uns auch die Verse an, in denen das Lob der Tugend gesungen wird:
(Kleist)
Neben den Altären der Tugend rauchen die Altäre der Freundschaft. Ist doch das ganze Buch der Freundschaft gewidmet. Deshalb hat man ihm folgenden Vers vorangesetzt:
(Gellert.)
Mehr in der Tonart der »Empfindsamkeit« gehalten sind folgende Verse, die zwar auch der Freundschaft gelten, in denen aber der Modeausdruck »Sympathie« in erster Linie gebraucht wird:
[430]
Im scharfen Gegensatze hierzu steht die Äußerung eines bitteren Spötters:
Den Ausgleich bildet der von Lessing geschriebene Spruch:
Nach dem hohen Liede der Freundschaft erwarten wir das hohe Lied der Liebe. Doch von Liebe ist bezeichnenderweise wenig die Rede, um so mehr von Empfindung, damals gleichfalls ein Modeausdruck. Es heißt da zum Beispiel:
Etwas weniger klar ist der Ausspruch:
Natürlich kann es im Zeitalter der Schäferspiele und Einsiedlerhütten nicht an Sprüchen fehlen, welche die Schönheit des ländlichen, in idyllischer Zurückgezogenheit verbrachten Lebens preisen:
(Kleist.)
An klassische Vorbilder gemahnt:
(Zachariä.)
[431]
Denselben Gedanken, nur ein bißchen mehr ins Spießbürgerliche übertragen, bringt folgender, gleichfalls von Zachariä verfaßter Vers zum Ausdruck:
Doch bald werden wir wieder zu höheren Schichten erhoben:
Der Naturbetrachtung ist ein Vers von Brockes gewidmet, der uns schon wieder ins Gebiet des nüchternen Rationalismus führt:
Aber gleich darauf kommen Verse, die Sonnenschein, Friede und süße Lieder atmen:
(Jacobi.)
Einen begeisterten Hymnus auf die Musik stimmt der Organist Ernst Friedrich Rösler in Plauen an. (Vielleicht hat er den jungen Herrn in der Kunst des Flötenspieles unterrichtet):
Ein anderer wieder schätzt die Musik im Rahmen heiterer Lebenslust:
[432]
Den hübschen Kindern gilt mancher Vers:
Ein Offizier schreibt:
Ein weiterer Eintrag beweist, daß Logaus Vers
nicht erst durch Kellers »Sinngedicht« weiteren Kreisen bekannt geworden ist. – An anderer Stelle finden wir ein eigenartiges Rezept für die Behandlung heranwachsender Töchter:
Ein Studiengenosse streift das Gebiet der Eindeutigkeiten:
Aber es gibt auch strenger Denkende:
Man frägt sich unwillkürlich, ob bestimmte Einträge im Stammbuch dem Einzeichner Anlaß zu dieser Ermahnung gegeben haben. Im allgemeinen war man ja damals nicht übermäßig prüde. Ich habe ein anderes Stammbuch aus derselben Zeit gesehen, das wesentlich derbere Einträge enthielt. Und dieses Stammbuch[433] gehörte einem Theologen! Vielleicht aber haben Einträge im Reiboldtschen Stammbuch gestanden, die über das, was damals als zulässig galt, hinausgingen, und der Besitzer hat diese Seiten nachträglich entfernt. Hierfür würde der Umstand sprechen, daß mehrere Seiten fehlen, die – nach der Seitenbezeichnung zu schließen – ursprünglich darin waren. Andererseits könnten es auch leere Blätter gewesen sein, denn auch der jetzige Bestand weist eine Anzahl unbeschriebene Seiten auf. Und hier erhebt sich die weitere Frage, warum das Stammbuch vom Jahre 1778 an nicht mehr benutzt worden ist. Erschien dem Besitzer nach seiner Rückkehr ins Philisterium die Umwelt so öde und nüchtern, daß es ihn nicht verlockte, seinem neuen Bekanntenkreise ein bleibendes Andenken zu sichern? Oder sollte er sich grollend vor den Erscheinungen der neuen Zeit zurückgezogen haben? Der Inhalt der Randvermerke spricht dagegen. Aus anderen Quellen habe ich über sein späteres Leben nichts erfahren können, als daß er sich mit Henriette Eleonore Sophie von Watzdorf vermählt hat und im Jahre 1799 als Amtshauptmann des Vogtländischen Kreises unter Hinterlassung von sechs Kindern in Taltitz gestorben ist. –
Kehren wir zum Buche zurück! Es ist bezeichnend für den Geist des Zeitalters, daß von Liebe zur Heimat oder von Begeisterung für das Vaterland so gut wie niemals die Rede ist. Aber auch Weltbürgertum wird nur einmal, und zwar in dem kurzen Wahlspruche »Patria est, ubi bene est« (zu deutsch: Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland) gepredigt. Hingegen findet das Ideal der Freiheit, das anderthalb Jahrzehnte später so gewaltige Umwälzungen hervorrufen sollte, in einigen der Einträge einen, wenn auch nur vorsichtigen Ausdruck:
(Clodius.)
Im Gegensatz hierzu steht der Eintrag des Schwagers Heinrich Christian August von Tümpling, der sich an das Altüberlieferte hält:
Nüchterner Rationalismus und schwärmerische Sentimentalität hielten sich – das geht auch aus unseren Einträgen hervor – im Zeitalter des Rokoko die Wage. Aber es hatte sich auch schon ein drittes gemeldet. Friedrich der Große hatte an die Pforten der Zeit geklopft. Mannesmut, Ehre, tätiges Leben wurden nun wieder erstrebenswert. Auch dies hat seinen Niederschlag im Stammbuch gefunden:
(Logau.)
[434]
Das Genie ist ein mutig Pferd, geht immer seinen stolzen, sichern Gang vor sich hin, sprengt weg über alles, was ihm im Wege steht, über Gräben und Hügel, Felder und Gebüsch – wohl ihm, wenn es nie zu kurz faßt! –
Wer gern zu tun hat, dem gibt Gott zu schaffen.
(Eintrag Goethes.)
(Haller.)
Wir haben uns bis jetzt in der Hauptsache mit dem Kern der Einträge beschäftigt, mit den Aussprüchen in gebundener oder ungebundener Rede, die der Einzeichner dem Besitzer des Buches als Geleitwort zum bleibenden Andenken mit auf den Weg gab. Dazu kam die eigenhändige Unterschrift und, wie wir gesehen haben, in einigen Fällen das Wappen. Oft aber war auch noch anderes Beiwerk vorhanden.
Da findet sich z. B. neben der Unterschrift die Angabe eines sogenannten »Symbols«; wir würden »Wahlspruch« sagen. Meist sind es kurze Stichworte: »toujours sincère« (immer aufrichtig), »toujours le même« und »semper idem« (beides: immer derselbe), »Sympathie«, »Alles um Liebe«. Nur zweimal finden sich als Wahlspruch Verse:
und
[435]
(Young)
Sodann die Höflichkeits-Bindesätze: So wie wir es noch jetzt für unschicklich halten, unter unsere Briefe schlankweg unsern Namen zu setzen, so glaubten damals viele – besonders scheinen es die älteren Leute gewesen zu sein – einen Verstoß gegen die Regeln des guten Tones zu begehen, wenn sie ihre Unterschrift mit dem eigentlichen Eintrage nicht durch einen Schwall von Höflichkeitsfloskeln verbanden. So heißt es zum Beispiel:
Mein Herr! Ich hatte das schätzbare Glück, mit unter die Zahl Ihrer Freunde aufgenommen zu werden, und da ich itzt Sie verlassen muß, so tue ich es mit dem Wunsch, daß Sie mich fernerhin Ihrer schätzbaren Freundschaft und geneigten Andenkens würdigen mögen.
Noch schöner machen sich solche Redensarten auf französisch:
Monsieur – La permission que Vous m’avez donnée de mettre mon nom dans ce livre d’amis me fait espérer l’exaucement de ma prière que j’adresse par ceci à Vous en Vous conjurant de me conserver toujours la même amitié dont Vous m’avez honoré jusqu’ici, qui je suis – Monsieur – Votre – usw.
Herzlicher klingen die Worte:
Teuerster, schätzbarster Freund! Erinnern Sie sich bei diesen wenigen Worten Ihres Freundes, der Sie auch in der Entfernung so lieben und hochschätzen wird, wie es Ihr vortrefflicher Charakter verdient.
Aber die Zeitenwende zeigt sich auch auf diesem Gebiete. Die verbindenden Worte werden kürzer. Goethe schreibt nur »Zur Erinnerung«; andere setzen den nackten Namen darunter.
Eigenartig sind die nicht seltenen Vermerke, durch welche zum Ausdrucke kommt, daß zwei Personen, die sich hintereinander eingetragen haben, durch Bande der Freundschaft verknüpft sind. Meist geschieht dies durch die über zwei Seiten hinwegreichenden Worte: Haec pagina || jungit amicos oder Quos junxit amicitia || junguntur pagina (der Papierbogen verbindet die Inschriften von Freunden). An anderer Stelle heißt es kürzer; Amici || tia (Freundschaft). Auch der Abschiedsgruß »Adieu mein || liebster Freund« ist offenbar aus demselben Gedanken erwachsen. Noch schlichter und zu Herzen gehender wird der Gedanke durch die Worte ausgedrückt: »Ich suchte || dich, Freund.«
Je mehr man sich in das Buch vertieft, um so stärker wird man gefesselt. Die Umwelt des Christian Ferdinand von Reiboldt und das Zeitalter des ausgehenden Rokokos treten greifbar vor unsere Seele. Aber auch das Buch selbst erhält Leben, wird ein selbständiges Wesen, dem man seine Liebe dadurch bezeugen möchte, daß man kosend mit der Hand über den Einband hinfährt.
Unwillkürlich zieht es uns zu Vergleichen. Man denkt daran, was unsere – angeblich so hochentwickelte – Zeit aus den Stammbüchern gemacht hat. Sie führen gar nicht mehr den ehrlichen Namen »Stammbuch«. Bestenfalls heißt es[436] »Album«, ein Wort, das so gut wie gar nichts sagt. Aber es kommt noch schlimmer. Denn »Poesie« leuchtets in Golddruck von dem schäbigen Einband. Aber was darin steht, ist vielfach barbarische Unkultur, und der abgedroschene Witz, auf die letzte Seite des Buches den Vers zu schreiben:
gehört immer noch zu den besseren Einfällen.
Doch wir wollen gerecht sein. Die Stammbücher spielen bei uns auch nicht entfernt die Rolle, die ihnen in früheren Jahrhunderten zukam. In der Hauptsache stammen die Einträge ja doch nur von Kindern und jungen Leuten, die noch nicht recht flügge geworden sind, allenfalls von Lehrern und Geistlichen, die in Erfüllung einer Art von Berufspflicht den Eintrag bewirkten. Wer einmal in hundert Jahren die Stammbücher aus dem letzten Drittel des neunzehnten und dem ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts betrachtet, der täte uns Unrecht, wenn er unsern Kulturgrad nach diesen Büchern beurteilen wollte. Ganz so tief sind wir im großen und ganzen denn doch nicht gesunken!
Fußnoten:
[2] Vergleiche die von Oskar von Hase verfaßte Denkschrift »Breitkopf u. Härtel«, Verlag Breitkopf u. Härtel, I. Band, S. 116.
[3] Vergleiche Band XIII, Heft 1/2, Seite 9 ff. der Mitteilungen des Heimatschutzes.
[4] Näheres über Gottlob und Stenzel in der schon erwähnten Denkschrift »Breitkopf u. Härtel«, I. Band, Seite 115 ff.
Von Marianne Bieber
In dem kleinen Orte Kleinolbersdorf bei Chemnitz fiel im Sommer 1923 die tausendjährige Linde am Kirchhof einem Sturme zum Opfer. Die Pfarrerstochter, die im Schatten des Baumes aufgewachsen ist, widmet dem untergegangenen Naturdenkmal ein Gedenkblatt.
Schon seit frühesten Kindheitstagen war sie uns eine liebe Freundin – unsere alte Kirchhofslinde! Außerhalb des Friedhofes stand sie, an der Umfassungsmauer und ihr Stamm bildete, völlig krumm gebogen, – ob durch Alter oder durch Blitzschlag, war nicht zu ermitteln – einen natürlichen Torbogen zum Friedhofseingange. Ihr Alter war nicht festzustellen, die ältesten Dorfchroniken, die bis ins fünfzehnte Jahrhundert zurückreichen, erwähnen schon ihr Vorhandensein, aber nie ist darin der Tag ihrer Einpflanzung genannt. So zogen Jahrhunderte an ihr vorüber, sie sah Geschlechter kommen und vergehen und blieb immer die alte. Wenn an linden Sommerabenden die Dämmerung ihre zartvioletten Schleier über die heimatlichen Fluren breitete und süßer Heuduft das Tal durchwehte, dann huschten wir Geschwister oft zur alten Mauer. Auf weichem Moospolster eng beisammenhockend, lehnten wir uns an den breiten Stamm unserer alten Linde – drei Männer konnten ihn kaum umfassen – und wenn unser Auge verträumt den goldenen Reflexen folgte, die der letzte Schein der Abendsonne in die Fenster unseres Kirchleins zauberte, lauschten wir dem Blättergesäusel. Oh, wir verstanden so gut, was uns unsere alte Freundin erzählte. Führten doch der Anfang und das Ende eines jeden Lebensweges durch den Bogen der alten Linde, zum Anfang, wenn der zarte Täufling[437] durchs Tor getragen ward, um im Kirchlein durch die heilige Taufe ein junger Christ zu werden und am Ende, wenn der müde Erdenpilger seine letzte Reise antrat.
Doch auch sonst war die alte Linde der Mittelpunkt des Dorflebens. Um ihren Stamm tummelten sich die Dorfkinder mit Haschen und Versteckspiel in frohem, jugendlichem Übermut und sorgloser Heiterkeit. Die Konfirmanden schritten in feierlichem Zuge hindurch, um als erwachsene Christen eingesegnet zu werden, um Kraft zu finden für den beginnenden Ernst des Lebens. Aus den Kindern, die sich einst am Fuße der alten Linde geneckt und gezaust hatten, wurden Leute und manchem erblühte nun in ihrem Schatten beim silbernen Schein des Mondes das selige Glück der ersten Liebe, und hatten sich zwei junge Herzen fürs Leben gefunden, so schritten gar bald zwei Glückliche Hand in Hand unter der Linde hindurch, um den Bund der Herzen im trauten Kirchlein durch Gottes Segen zu weihen.
So folgte ein Abschnitt des Lebens auf den anderen, bis dann der letzte Weg herannahte. Manch ernster, stiller Zug ging durch das Tor, tränenden Auges folgten wehe Herzen in verzweifeltem Schmerz dem Sarge, der das Liebste für immer entführte zur letzten Ruhestätte. Die greise Mutter, deren einziges Kind, die Stütze ihres Alters, der unerbittliche Tod genommen, der gebeugte Witwer, der mit seinen jammernden Kleinen das Grab der treuen Kameradin aufsuchte, die verzweifelte Braut, deren blühendes Liebesglück des Todes eisige Faust unbarmherzig zerstörte: sie alle gingen den Weg durch das Tor des treuen Baumes.
Als die schweren Kriegsjahre kamen, gingen tiefbewegte Menschen durchs Lindentor, um im Gotteshause Schutz und Hilfe für teure Angehörige zu erbitten,[438] und in der folgenden Zeit ward mancher Kranz mit Ehrenschleife hindurchgetragen, um der Nachwelt als Erinnerungszeichen das Angedenken Eines wachzuhalten, der für das Vaterland sein Leben dahingegeben. Es kam der Tag, an dem unsere liebe Glocke in früher Morgenstunde ihren letzten Gruß durchs Dörflein hallen ließ. Groß und klein stand unter der Linde, und manche stille Träne rann.
So teilte unsere alte Linde mit uns Freud und Leid; sie war uns allen ans Herz gewachsen. Sie gehörte zu uns. Wie stolz waren wir, wenn Schüler und Touristen auf der Wanderung unsern lieben Baum, das seltene Naturgebilde, anstaunten und abzeichneten.
Längst schon bestand er nur noch aus geborstener Rinde, und es war ein Wunder, daß er sich dennoch frisch erhielt, weiter grünte und blühte. Sorgsam stützten wir den Hauptast, als sich Altersschwäche bemerkbar machte, durch einen Pfeiler, und doch sollte der Tag kommen, an dem unser treuer Baum, der fast ein Jahrtausend allen Stürmen getrotzt hatte, morsch in sich zusammenfiel. Ein heftiger Wirbelwind knickte eines Abends den Bogen, so daß nur noch ein trauriger Stumpf stehen blieb, der wohl oder übel entfernt werden mußte. Wie groß war die Bestürzung, als diese Botschaft durchs Dorf lief. Manches Auge wurde feucht.
So ist mit unserm lieben Baum ein Zeuge vergangener Jahrhunderte dahingesunken; aber in unseren Herzen wird das Gedenken an unsere treue Lebensfreundin fortleben; Kindern und Kindeskindern werden wir noch dankbar und stolz erzählen von unserer alten Linde.
Von William Bergmann, Sebnitz
Als ich im Jahre 1866 auf der Neusorge das Licht der Welt erblickte, war Sebnitz ein armes Weberstädtchen. Von seinen Weihnachtsfeiern will ich erzählen.
Wenn der liebe Herbst herankam, die Abern – Kartoffeln klang fremd – im Keller lagen, finstere Nächte begannen, die Erde in Dunkel zu hüllen, dann leuchteten aus der Ferne die ersten Strahlen des kommenden Weihnachtssternes in die Nacht. Jetzt begann die Zeit der seligen Weihnachtsträume. Jeder Tag und jede Nacht wurden gezählt.
Die Anfangsvorbereitungen galten der Christmette, welche den Glanzpunkt des Festes bildete. Wochenlang vorher fing man an, die Lichter zu kaufen, die man zur Mette brauchte. »Pfenglichtel« hieß man sie damals, die man nur nach und nach kaufen konnte, denn es gab weniger Pfennige als heute. Die meisten Kinder – auch Erwachsene – hatten jedes einen langen Nagel am Fenstergewändel, an welchem die Lichter aufgehängt wurden, und zwar so, daß man sie durchs Fenster von außen sehen konnte.
[439]
Es wurde gewetteifert, soviel als möglich Lichtel zusammenzubringen, und man war stolz und glücklich, wenn sich die »Globbe« vermehrte. Nun ging es in die Nachbarschaft gucken. Siehe da: Der Hillemann Emil hatte schon zwölf, ich erst acht, der Schwach Karle hatte noch mehr, aber der Just Elwin hatte wieder weniger, das war ein Trost.
Die weiteren Vorboten kamen in Gestalt der Zimmermann Karoline, Funkhähnel Male, Adler Mine und Pate Biesold seiner Mutter, welche mit Pfefferkuchen in allen möglichen Farben, Figuren und Formen hausieren gingen. Damit zu Weihnachten der nötige Vorrat da war, wurden immer einige Stück gekauft und hingelegt.
Die Ausstellungen hatten begonnen. Man besichtigte bei Henkbäcken, Hillbäcken, Krachbäcken, Heymannbäcken, Endlerbäcken, Laubnerbäcken, Giebnerbäcken, Hochbäcken, wo ich Pfefferkuchen mit malen durfte, weil seine Frau die Gruhnert Guste von der Neusorge war, mit Bewunderung die Fenster mit den ausgestellten Männern, Frauen, Reitern usw. Die schönsten Pfefferkuchen hatte der Güntherbäcke …
Sorgenvolle Stunden bereitete die Ruprechtzeit. – Ob er heute kommen wird? … Da plötzlich schlug die Rute unbarmherzig an die Fensterläden. – Der Ruprecht kommt! der Ruprecht kommt! – Vor Schreck schleunigst alle unter die Leineweberstühle gekrochen und gebetet. – Die Äpfel und Nüsse mußten in allen Ecken und Winkeln zusammengesucht werden und wurden sofort verspult. Aus den leeren Nußschalen wurden Schnepperchen gemacht, Zwirnsfäden drumgebunden und Holzspänel hineingesteckt. Damit wurde bis Weihnachten geschneppert.
Haufens Großer parierte immer nicht. Den hat der Ruprecht in den Sack gesteckt und mitgenommen. Der hat aber gezappelt und gegorgelt …
Das Ausschneiden der Modellierbogen spielte eine große Rolle. Es entstanden Kirchen, Häuser, Burgen, deren Fenster mit buntem Papier überzogen, durch Lichtel erleuchtet, einen herrlichen Anblick boten.
Zum Kammerfenster wurde jeden Morgen hinausgeguckt. Oh, es hat geschneit! Diese himmlische Freude! Von diesem Tag an mußten alle Pferde auf den Straßen Glockengeläut tragen, und dieser Klang läutete in unsere Herzen die seligmachende, gnadenbringende Weihnachtszeit ein.
Während der Adventszeit erfüllte die Leineweberstube täglich der Gesang der Weihnachtslieder: »Ehre sei Gott in der Höhe«, »O Tannenbaum, o Tannenbaum«, »Ihr Kinderlein kommet« oder »Stille Nacht, heilige Nacht« usw.
Der Vater ging jeden Sonntag in die Kirche und offenbarte zu Hause in der Familie die Weihnachtsbotschaft, die er durch die Predigt vernommen hatte.
Nicht unerwähnt soll bleiben, daß in den letzten Wochen in vielen Geschäften die bunten Wachsstöckel in allen Größen ausgestellt waren, welche hauptsächlich ein Geschenk für die Kundschaft bildeten. Große Bewunderung riefen die Spielsachen bei Buchbinder Schuberts und bei Eckböhmens hervor. Stundenlang wurden sie angestaunt.
Was nun den finanziellen Teil der Leineweber betraf, so konnte von Reichtümern keine Rede sein. Der dicke Haufe, bekannt als der fleißigste Leineweber von der Neusorge und Retschine, machte jede Woche eine Werfte ab und verdiente[440] fünf Taler. Die übrigen Leineweber, wie mein Vater, brauchten ziemlich zwei Wochen dazu. Vor dem Abmachen mußte gewöhnlich eine Nacht durchgearbeitet werden; denn Montag war öfters blauer Montag. Die Woche vor dem Fest ging es natürlich feste Tag und Nacht, damit Geld ins Haus kam. Als der heilige Abend herangekommen war, gingen Vater und Mutter – Mutter mit dem Tragkorbe – in die Stadt einkaufen. Der geheimnisvolle Bescherungsakt ließ dann nicht mehr lange auf sich warten. Beim Onkel Adolf horchten wir ungeduldig auf das Zeichen. In Blitzesgeschwindigkeit war der Gabentisch gestürmt. Nun wurde bewundert, probiert, gekostet, und es wurden die Häuflein kritisch betrachtet, daß ja nicht eins mehr hatte als das andre.
Das Christgeschenk erhielt seinen Platz auf dem Längertüchel, das nur Sonntags und Festtags den Leineweberstuhl zierte, oder auf der Sitzebank.
Ins Bette wollte niemand gehen. Die Glocken tönten, die Mette wurde eingeläutet. Der Höhepunkt war da. Alle Lichtel und Wachsstöckel wurden mitgenommen und in langen Reihen aufgestellt. Tausende von Lichtern erglänzten, und ein köstlicher Duft durchströmte die Kirche. Die alte, in Fleisch und Blut übergegangene Bergsche Motette, das Mettelied, verfehlte nicht ihre Wirkung und erfüllte alle Herzen mit heiligem Zauber. Umfangen von reinster und seligster Weihnachtsstimmung gings nach Hause.
Aus vielen Häusern leuchtete Kerzenglanz.
Im eisernen Ofen in der Mitte der Stube wurde Feuer gemacht und sich drumgesetzt. Die Schmauserei ging los mit beneidenswertem Appetite so lange, bis alles weg war.
Vom ersten Feiertag bis zum Hohen Neujahr zog alle Welt durch die Stadt, um die Schattenspiele, Hirtenhäuser, Pyramiden, Sterne und Christbäume – letztere waren damals noch nicht so Mode wie heute – in Augenschein zu nehmen. Die Fensterläden waren natürlich alle offen. Bei Bauer Stohbachs war ein Krippel mit Springbrunnen aufgestellt, ein Wunderwerk der ganzen Umgegend. Scharenweise standen die Leute vor dem Fenster.
Wir zu Hause hatten das unbeschreibliche Glück, auch ein Krippel zu besitzen, beweglich mit Handbetrieb. Alle Kinder der Neusorge kamen und wollten die Leier leiern. Außer Joseph und Maria, die das Christkindlein bischte, sah man die Weisen aus dem Morgenlande, Hirten und Schafe. Auf zwei beweglichen Bahnen liefen durch die Häuserreihen Figuren, deren jede einen Sebnitzer Namen bekommen hatte. – Achtung! Jetzt kommt die Hampel Hanne, die Bockmale, die Kahlguste, die Krausenguste, der Franz vom Hofe, der Postelbatz, der dicke Vollmann, der Bergmann Emil, der Lautevetter, der Hundehenke, der Trampelhenke, der Bäumelhenke, der Nasenhenke, der blecherne Hantzsch, der eiserne Hantzsch, der Kullrübentürke, der Gückelpeschke, der alte Schleifer Hartmann, der Kätzrichter, Budäus genannt, Kacheltopp, der alte Knöfel, der alte Mäuerschneiders Kitzwauwau, Türmelwirt und Finkenritter usw.
So feierte man Weihnachten vor fünfzig Jahren.
[441]
Von Oskar Merker, Dresden
Lamprecht schreibt im dritten Bande seiner »Deutschen Geschichte«: »Weit mehr als die Eroberung der Slawenländer im zwölften und dreizehnten Jahrhundert erscheint ihre Germanisation als ein wahrhaft erstaunlicher Vorgang: es ist die Großtat unseres Volkes während des Mittelalters.« Aber gerade diese Zeit ist noch voller ungelöster Rätsel, vor allem deshalb, weil das wichtigste Mittel geschichtlicher Forschung, die Urkunde, gerade für jene Zeit uns so gut wie im Stich läßt. Und doch sind wir nicht so verlassen, wie es zunächst aussieht! Meitzen sagt in seinem Werke über »Siedelung und Agrarwesen der West- und Ostgermanen«: »In der Tat wandeln wir in jedem Dorfe gewissermaßen in den Ruinen der Vorzeit, und zwar in Ruinen, die an Alter die romantischen Trümmer der mittelalterlichen Burgen und Stadtmauern weit hinter sich lassen. Bei jedem Schritt, überall in Hof und Feld können wir Spuren der ältesten Anlage begegnen, und das Kartenbild der Besitzungen ist eine eigenartige Schrift, die uns Ideen und Absichten der Gründer wie in Hieroglyphen lesbar übermittelt«.
Diesen Gedanken wollen wir heute etwas nachgehen, und zwar vor allem unter Berücksichtigung der Flur Schullwitz (östlich Dresden, südlich Radeberg).
Schullwitz liegt am Schullwitzbache, einem rechten Nebenflüßchen der Wesenitz. Die Gehöfte liegen auf der Höhe rechts und links des Baches. Die Fluren ziehen sich in langen Streifen von jedem Gehöft nord- bzw. südwärts. Also das typische Bild des mit Waldhufen ausgestatteten Zeilendorfes – also: eine Gründung der Kolonisationszeit! Das Jahr der Gründung nennt uns keine Urkunde. 1378 ist die älteste bis jetzt durch das »Zinsregister von 1378« bekannte Jahreszahl[5].
Die Hufen mit der Richtung nach Süden enden am Landraine. Er bildet nach Oberreit[6] die Grenze zwischen dem Amte Dresden, zu dem Schullwitz gehörte, und dem Amte Lohmen. Parallel zu ihm, aber im Norden durchzieht »die Straße« die Dorfflur. Nicht die Dorfstraße war also die eigentliche Verkehrsstraße; schon daß die Dorfstraße mit dem Dorf im Osten eigentlich aufhört, beweist dies. Die Straße im Norden – noch heute wird sie nicht selten schlechthin »die« Straße genannt – hat eine gar reiche Geschichte. Ich brauche nur die Namen aufzuzählen, die sie im Laufe der Jahrhunderte geführt hat, um sie zu beleben: die Dreßnische Strasse – Stolpischer Weg – Hornstraße – Poststraße – Hohe Straße – aber auch: alte Dresdner Straße – alte Hornstraße – alte Poststraße – alte Hohe Dresdner Straße: der Verkehr ist abgelenkt auf die jenseits der Höhen geführte Bautzner Straße[7]!
Auf der Skizze habe ich nördlich der »Straße« den Namen »Ameisenberg« eingetragen, zugleich die Dorfstraße mit diesem Ameisenberge verbunden. Diese Verbindung führt nun heute noch den Namen Viebig, Viehweg. Die Zeiten werden[442] wieder lebendig, wo das Vieh zur Weide hinausgetrieben wurde, hinaus zu dem der Allgemeinheit gehörenden Besitze, der Allmende. Knothe sagt einmal, daß dieses Wort in der Lausitz nicht festzustellen sei. Dr. Schoof hat sich nun mit diesem Wort eingehend beschäftigt[8]. Er kommt zu dem Ergebnisse, daß das Wort »Ameisenberg« unter volksetymologischer Anlehnung an mundartliche Formen für Ameise aus jenem »Allmende« entstanden ist. Dann kennt aber auch die Lausitz dieses Wort.
Ich habe nun auch das Sammelwerk der Luise Gerbing[9] durchgearbeitet. Leider ist diese fleißige Sammlerin vollständig voraussetzungslos an ihre Aufgabe herangetreten. Trotzdem wären wir glücklich, wenn wir recht viele solcher Flurnamensammlungen hätten! Auch Sachsen braucht noch viele Helfer!! – Aus der Sammlung der Luise Gerbing einige Beispiele zu unserer Frage: Wie hat sich das Wort »Allmende« gewandelt? In der Flur Emleben heißen Wiesen »die krummen Alken«, mundartlich »die krummen Alten«, urkundlich 1453 »bie der krummen Almten, Almpten«; 1469 »in der krummen Almoten«; 1479 »in der krummen almeit«; 1492 »in der almeth«; 1641 »in der krummen Alten«. Dazu steht die Bemerkung: »Eines der seltenen Beispiele von Erhaltung des Almende-Namens im Gebiet. Die betreffenden Flurstücke sind Gemeindewiesen.« In einer andern Flur: »Die Alten oder Alken«, mundartlich die Alten, 1641 »uf der Alten«. – Anmerkung: »Früher Gemeindeland.« Einer der wenigen im Gothaischen erhaltenen Anklänge an »die Almende«. Noch ein drittes Beispiel: »Am Falkenrode«; mundartlich »Dalkenrode«; »Wüstung«? Schade, daß die Sammlerin nicht auch hierin das Wort Alke (D – alken – rode!) – erkannt hat, sie hätte dann sicherlich wie bei so vielen ähnlichen Beispielen »Gemeindeland« hinzufügen müssen. Und das ist das Wesentliche, daß alle diese Fluren Gemeindeland sind oder doch gewesen sind. Auch für unsere Flur Schullwitz trifft das zu. Der »Ameisenberg« liegt ja auch an der Grenze des Gebietes, im ansteigenden, hügeligen Gelände. Den entgegengesetzten Abhang besitzt die Gemeinde Weißig. Diese kennt nun zwar anschließend an unsern »Ameisenberg« diesen Namen nicht, sie spricht dafür aber von »Hutung vom Dorfe nach dem Gemeindebusche«[10]. Also auch hier wieder: Verbindung von Gemeindeland und Viebig, Viehweg! Wenn wir nun in Schullwitzer Flur den Namen »Alke« lesen, so wird wohl niemand mehr an die Dohle denken, die nach Lexer[11] und andern mittelhochdeutsch alke geheißen hat, wir werden vielmehr sagen:
Alke = Ameisenberg = Allmende.
Und damit erweitert sich ungesucht der Gemeindebesitz im Grenzgebiete der Flur! Daß noch das Kroki von 1835 Waldreste auch hier zeigt, ergänzt diese Gedankenreihe.
Nun habe ich daneben den Flurnamen »Aspigstraße« und »Am Aspig« eingetragen. »Der Aspig am Rodelande« sagt der Volksmund und weckt damit Bilder der vergangenen Tage. Aber Aspig? Ist Aspe = Espe = Zitterpappel? Dr. Schoof[444] schreibt 1917 in den »Deutschen Geschichtsblättern«: »Es steht heute fest, daß die große Zahl von Bäumen (wie Erle, Esche, Espe, Buche, Eiche, Hasel, Ulme), die scheinbar in den Flur- und Ortsnamen enthalten sind, erst später durch Volksetymologie eingedeutet worden sind, daß es unsern Vorfahren bei der ersten Besitzergreifung und Besiedelung des Bodens ferngelegen hat, denselben nach rein zufälligen, äußeren Merkmalen zu benennen. Für sie war die Verwertung des Bodens als Acker-, Trift-, Wiesen-, Heide-, Waldboden und die Art seiner rechtlichen Ausnutzung allein maßgebend.« Und an anderer Stelle[12] schreibt er: »Erkennungsmerkmale für die Umdeutung bieten meist noch die zweiten Kompositionsteile, ferner die Tatsache, daß alte Flurnamen nie nach Zufälligkeiten, sondern nach tiefeingreifenden, dauernden Lebensverhältnissen (Ackerbau, Jagd, Viehzucht) benannt und erst später bei veränderter Kultur nach zufälligen Ereignissen willkürlich oder unwillkürlich umgedeutet worden sind. Hierfür bietet die systematische Flurnamenforschung immer neue Belege, und sie räumt mit den alten märchenhaften Deutungsversuchen (Mythologie, Keltentum) auf«.
Machen wir uns diese Gedankengänge zu eigen, dann müssen wir für »Aspig« eine dementsprechende Erklärung suchen. Oesterley[13] bringt in seinem Wörterbuche den württembergischen Ort
Allmerspann und fügt hinzu: 1090 Almaresbiunt.
Also, so können wir wohl unbedenklich folgern, ist »pann« = biunt – biunda, beunde. Grimm bringt eine Reihe von Belegen, aus denen hervorgeht, daß es sich dabei um ein umzäuntes Stück Land gehandelt hat, aber außerhalb der Allmende, nur für eine beschränkte Zahl von Bevorrechteten. Und »es«? Aß, Eß ist der Stamm zu unserm Verb »essen« – Eß die Weide, der Weideplatz.
Ein neuer Zug im Geschichtsbilde: neben die Gemeinde, die Gemeinschaft Gleichberechtigter, tritt ein Bevorrechteter. Wer ist es gewesen? Vielleicht der Locator, der spätere Erbrichter? Schullwitz hat doch aber kein Erbgericht! Doch das scheint nur so. Das Gut Nr. 1 – in der Nähe des Nixenteiches – ist das alte Erbgericht, sein Besitzer heißt heute noch im Volksmunde der Erbrichter. Und in Urkunden wird ja des öfteren »das Schullwitzer Erbgericht« erwähnt.
Nun liegt aber dieser »Aspig« an der Grenze der Schönfelder Flur; die »Aspigstraße« führt nach Schönfeld, sie kommt von Schönfeld – von dem Orte, in dessen Abhängigkeit Schullwitz sehr bald geraten war. Feststellen, urkundlich feststellen läßt es sich freilich nicht, ob der Bevorrechtete nicht doch der Schönfelder Gutsherr gewesen ist.
Wer waren seine Schullwitzer Gutsuntertanen? Waren es Deutsche oder waren es Slawen? Zweierlei kann uns Antwort geben. Zunächst die Größe der Flur. Das Stück, das wir bis jetzt betrachtet haben, also nach Osten zu bis zum »Viebig«, dieses Stück ist etwa die Hälfte der Gesamtfläche, also etwa zweihundertvierzig Hektar, da die Schullwitzer Gesamtflur vierhundertsechsundsiebzig Hektar beträgt[14]. Ich vermute, daß dieses Stück die ursprünglich gerodete Fläche darstellt, daß sich erst[445] später das Bedürfnis herausgestellt hat, weiter zu roden, die Siedlung weiter ostwärts vorzuschieben. Dort hat sich ja auch der Wald am längsten gehalten, und auch in jenem Teile, nicht hier haben wir den Flurnamen »die Folge«, auf den ich noch einzugehen habe. Zweihundertvierzig Hektar sind nun nach den Untersuchungen von Meitzen[15], Markgraf[16], Langer[17] eine Fläche, die weit über das Höchstmaß slawischer Siedlungen hinausgeht.
Und das Zweite sind wieder Flurnamen. Humelius hat auf seinem Risse[18], der ältesten kartographischen Darstellung der Gegend, an der Stelle des Ameisenberges »der Schullwitzer Puschel«; südlich der Alten Straße gibt es einen »Heidehübel«; südlich des Dorfes ein »Gründel«; im östlichen Teil der Flur ein »Seegründel«; Oeder[19] trägt ein: »Flößl« – es ist der Grenzfluß zwischen Schullwitz und Weißig. Also eine Reihe von Wörtern mit der Endung »el«; die aber erzählt von oberdeutschem Einschlage. Münchner Kindl, nicht: Münchner Kindchen! Diese Endung »chen« haben erst neuerdings ortsfremde Schreiber mehrfach gebraucht. Sie haben auch hier nicht geahnt, daß sie damit einen charakteristischen Zug der Gegend verwischen!
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, daß sämtliche Dörfer der Hochfläche, übrigens auch die nördlich anschließenden, von Ober- und Niederdorf sprechen, nicht von Unterdorf. Professor Dr. Meiche hat in seiner bekannten Arbeit über diese Frage den Beweis geführt, daß dieses »Nieder« thüringische Siedler voraussetzt[20].
Und nun ein Wort zu dem Flurnamen »die Folge«. Müller-Fraureuth sagt in seinem »Wörterbuche der obersächsischen und erzgebirgischen Mundarten«: »Folge, die Folgen, Feldstücke, die für sich – auf früherer Waldfläche – fern vom übrigen Besitz der Bauern liegen.« Das trifft hier zu, erklärt aber nicht den Namen. Knothe[21] hat versucht, den Begriff »Folge« zu erfassen. Er sagt: »Es trat gar bald der Fall ein, daß ein Bauer zu dem ihm zugemessenen Hufengute von der Hufe eines anderen oder von dem noch nicht aufgeteilten Gemeindelande noch ein Stück erblich hinzuerwarb. Dieses Stück lag nicht »in den vier Rainen« seines Gutes, gehörte aber zum Hauptgute als integrierender Bestandteil, wurde also mit diesem vererbt und verkauft. Den Übergang eines Besitztums in den Besitz eines andern bezeichnete man im Mittelalter mit dem Ausdruck »folgen«. Folge, mittelalterlich – lateinisch vollunga, also ein Pertinenzstück«.
[446]
Mit Knothe hat sich Dr. Seeliger in der »Festschrift der Stadt Löbau« auseinandergesetzt[22]. Eine Widerlegung der Knothischen Bestimmung kann ich in seiner Arbeit aber nicht erblicken. Ohne Bedeutung für die Frage ist seine Feststellung der Lage der Löbauer Folge. Da ist mir denn doch die Feststellung Knothes wertvoller, daß der Ausdruck »Folge« in den deutsch angelegten oder nach deutscher Weise umgestalteten Dörfern, und nur in solchen, nicht in altwendisch verbliebenen, vorkommt. Trifft das zu, so müssen die Orte mit dem Flurnamen der »Folge« auch der Größe nach deutsche Orte sein, also über der bereits erwähnten Höchstgrenze liegen. Das trifft mit verschwindend wenigen Ausnahmen denn auch bei den bis jetzt bearbeiteten sächsischen Gemeinden zu. Neben etwa fünfundsechzig großen stehen folgende kleine Fluren:
In der Amtshauptmannschaft Dresden-Altst.: | Liebau | 161 Hektar |
In der Amtshauptmannschaft | Birkigt | 86 Hektar |
In der Amtshauptmannschaft Pirna: | Prossen | 109 Hektar |
In der Amtshauptmannschaft Dippoldiswalde: | Paulsdorf | 161 Hektar |
In der Amtshauptmannschaft Flöha: | Braunsdorf | 193 Hektar |
In der Amtshauptmannschaft Zittau: | Zittel | 135 Hektar |
Davon könnte sogar noch Braunsdorf ausscheiden. Liebau und Paulsdorf liegen auch hart an der Grenze Meitzens! Es wäre lohnend, dem Gedanken weiter nachzugehen[23]!
Nördlich der Straße heißt die Flur »In Boden«. Buck schreibt in seinem »Oberdeutschen Flurnamenbuche« zu »beunt«, »biunda«, daß daraus im Allgäu »Bunk«, in Franken aber »Both« geworden sei. L. Gerbing hat: »Unter der Bullerleite – Im Boden«; mundartlich: »uff der Butterweide«; Anmerkung: Die Generalkarte hat »Bullerleite«, das Meßtischblatt »Butterleiste«. Öder: »Der Butterweck«, 1669: »Der Butterweck vfn Herrenberge«; »Butterweck«, mundartlich: »Boderweck«. Wesentlich ist, daß von Guttenberg[24] unter den vielen Verwitterungsformen des Wortes »Peunt« auch die Form »boten« nachweist, und zwar nur in Oberfranken!
Wir erinnern uns: biunda = eingezäuntes Privatgrundstück. Hier: Entwickelungsreihe bis hin zu »Butter«. Was sagen dazu unsere sächsischen »Butterberge«? Ein besonders lehrreiches Beispiel dürfte der Bischofswerdaer Butterberg sein. In einer Skizze über den Stadtwald schreibt Wustmann[25] betr. des Butterberges: »Ein großer Teil des Butterbergreviers zeigte zu Anfang des vorigen Jahrhunderts in floristischer Beziehung ein ganz anderes Gepräge als heute, da sich an dem Abhange des Berges Weideflächen hinaufzogen, die eine Triftflora beherbergten. Als aber im Jahre 1835 das Rittergut Pickau, zu dem ein Teil des Butterbergreviers gehört, seitens der Stadt Bischofswerda nicht mehr verpachtet wurde, waren die Schafhutungen überflüssig«.
Hier also außerhalb der Flur liegendes Gelände – niederdeutsch heißt außen, außerhalb »buten«; dann: Besitz eines Rittergutes, nicht der Allgemeinheit – biunda![447] Unter den Gothaischen Beispielen fanden wir bereits: »1669 der Butterweck vfn Herrenberge«! Hierher gehört sicher auch das bekannte »Buttertöppel« Frauensteins in der Nähe des weltberühmten »Weißen Steines«, das auf ehemaligem Rittergutsgebiete liegt. Und der Schullwitzer »Boden« hat auch – noch bis vor kurzer Zeit – dem »Erbrichter« gehört!
»In Boden« und »Ameisenberg«,
»Aspig« und »Alke« –
in unserer Flur also »Biunda« und »Allmende« zweimal nebeneinander, eine Tatsache, die sich auch sonst bestätigt findet, die also für die Ortsgeschichte ein Mittel sein kann, das eine zu finden, wenn das andere bereits bekannt ist!
Fassen wir zusammen, so kommen wir zu folgendem Ergebnisse:
Schullwitz ist eine deutsche Siedlung – trotz des slawisch klingenden Ortsnamens. Sie ist entstanden in der Zeit der ostdeutschen Kolonisation: Hufeneinteilung der Flur, Dorfanlage (Zeilendorf) beweisen das, ebenso das Vorhandensein des Erbrichters; besonders überzeugend die Flurgröße. Die Siedler sind Oberdeutsche und Thüringer gewesen – vermutlich haben Schönfeld und andere westwärts gelegene Orte überschüssige Kräfte abgegeben.
Ich habe versucht zu zeigen, welch wertvolle Dienste die Flurnamen der Ortsgeschichte leisten können. Im kommenden Sommer wird mancher in einem stillen Dörfchen unsrer sächsischen Heimat Erholung suchen. Möchte er dabei nicht mit sammeln helfen?
Fußnoten:
[5] H. St. A. Loc. 4333.
[6] Oberreitscher Landesatlas von Sachsen, Blatt 10.
[7] Vgl. »Der Rossendorfer Schenkhübel. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der »Bautzner Straße«« in der Zeitschrift »Über Berg und Tal« 1924, 2! (Beitrag vom Verfasser.)
[8] »Korrespondenzblatt d. Gesamtv. d. dtsch. Gesch.- u. Altertumsv.« 1917 (u. in vielen anderen Schriften, die mir Herr Oberstaatsarchivar Dr. Beschorner zur Verfügung gestellt hat, wofür ich auch an dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank aussprechen möchte.
[9] L. Gerbing, »Flurnamen des Herzogtums Gotha.«
[10] Vgl. das von mir bearbeitete Flurnamenverzeichnis! (H. St. A.)
[11] Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, 1872.
[12] Hessenland, 1913, 12, 13.
[13] Oesterley, Historisch-geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters, Perthes, Gotha 1883. (Hinweis bei Dr. Schoof.)
[14] »Zeitschrift des Kgl. Sächs. Statist. Bureaus« 1901.
[15] Neues Archiv f. Sächs. Geschichte, Bd. 42, S. 207.
[16] Mitteilungen des Vereins f. Sächs. Volkskunde, Bd. 5, 3 (S. 76).
[17] Neues Archiv f. Sächs. Geschichte, Bd. 42, S. 207.
[18] H. St. A.
[19] Riß (etwa 1600) im H. St. A.
[20] Meiche, »Herkunft der deutschen Siedler«. O. Philipp, »Die Besiedlung des südwestl. Sachsens – –«.
[21] Neues Lausitzer Magazin 1893.
[22] Seeliger, Geschichte der Stadt Löbau und ihrer Umgebung. Anhang: Die Löbauer Folge. (S. 164 ff.).
[23] Klein-Erkmannsdorf bei Radeberg hat ungefähr achtundsechzig Hektar Fläche. Daß es trotzdem keine slawische Siedlung ist, werde ich an anderer Stelle nachweisen!
[24] Frh. v. Guttenberg, Würzburg, »Germanische Grenzfluren«. Archiv für Anthropologie, Neue Folge VIII (1909), S. 218 b.
[25] E. Wustmann, Bischofswerda, »Der Stadtwald von Bischofswerda und seine Flora«.
Erzählung aus dem Erzgebirge von Paul Meile, Lugau (Erzgeb.)
In einem jener kleinen, aber volkreichen Industriedörfer des Erzgebirges, dessen Spielwaren auf dem Weihnachtstische das Entzücken der Kinder bilden und die in alle Welt hinausgesandt werden, gleich wie das heilige Evangelium, stand etwas abseits ein kleines Häuschen. Seine Mauern und Giebel zeichneten sich scharf von den dahinterliegenden weißen Schneeflächen ab. Friedlich lag es im Mondscheine da und sah, wie ein altes Großmütterchen, müde und schläfrig aus mit seiner Schlafmütze aus weißen Schneeflocken, die von einer wundersamen Garnitur glitzernder Eiszapfen umgeben war. Es war vollständig eingeschneit und von Schneewehen verhüllt, so daß nur, gleich zwei verschlafenen Äuglein, die erleuchteten Fensterchen hervorblinzelten. Die Stakete des Gartenzaunes aber hatten weiße Mützen bekommen, so daß sie in dem flimmernden, bleichen Mondlicht wie ein Glied Soldaten erschienen, dem der davorstehende Brunnenständer »Stillgestanden!« kommandiert hat. Und er hatte in jener Nacht wirklich ein Gesicht bekommen, der Brunnenständer, ein martialisches, verdrießliches Gesicht, mit einem weißen Schneebarte. Aus seinem langgestreckten Arme rieselte schon längst kein Wasser mehr und ein langer Eiszapfen hing wie ein blanker Säbel daran herunter. Er zeigte mit dem Arme sehnsüchtig nach den beiden hellstrahlenden Fenstern hin, hinter denen es hübsch warm war, wie in einer richtigen, erzgebirgischen Stube. Drinnen auf dem Lehnstuhle saß ein alter grauhaariger Mann mit einem Paar fröhlich blinkender Augen. Der Tisch vor ihm sah wie ein Schlachtfeld aus, wenn man sich den Pulverdampf und das vergossene Blut hinzudenkt. Hier lag ein ganzer Haufen herrenloser Arme und Beine, dort einsame Köpfe ohne Besitzer, oben in der Ecke verstreut Flinten und Säbel, daneben eine Menge Krieger, die ganz und gar den Kopf verloren hatten und etwas davon entfernt ein Glied vollständig gerüsteter Musketiere, welche des Kampfes zu harren schienen, kurz es war ein richtiges Motiv für einen Schlachtenmaler. Und davor saß, unentwegt von all den Greueln,[448] Meister Berthold mit dem Leimtiegel und fügte, wie weiland Wodan in Walhall, die getrennten Gliedmaßen an die Leiber der Helden.
Die alte Wanduhr hatte eben ausgeholt, die Stunde zu schlagen und zwei Augen blickten, wie erschreckt, auf ihr Zifferblatt. Ein Paar blaue, zärtliche Augen waren es, mit feuchtem Glanz und einer stummen Bitte, als wollten sie die alte Wanduhr ermahnen, sich nicht so anzustrengen und fein langsam vorzuschreiten, man merkte ja an dem Knarren und Rasseln, wie schwer es ihr wurde. – Ob sie dem alten Berthold gehörten? – Behüte der Himmel, wie könnt ihr so etwas denken! Es waren junge, kaum achtzehnjährige Augen und sie gehörten seinem Töchterlein, der Liesel, welche neben dem Tisch am Klöppelsacke saß. Sie hatte die fleißigen Hände in den Schoß gelegt und blickte verstohlen in das Halbdunkel, wo die Ofenbank stand. Nicht etwa, daß der alte Ofen so besonders merkwürdig gewesen wäre oder die alte Ofenbank etwa irgend etwas Interessantes geboten hätte, durchaus nicht. Übrigens waren das auch alte Bekannte, deren allerinnersten Herzensgeheimnisse sie schon wußte. Das war es also nicht. Aber es saß dort jemand, dem fortwährend die Pfeife ausging und der jeden Abend in notwendigen Geschäften zum alten Berthold herüberkam. Bald mußte er im Kalender etwas nachsehen, bald ein wenig Vogelfutter für den Grünitz holen, bald etwas fragen oder etwas ausrichten, er wurde gar nicht mehr fertig. Und dann setzte er sich noch ein wenig auf die Ofenbank, natürlich nur der Unterhaltung wegen und sagte kein Wort mehr. Das tat, außer dem Alten, überhaupt niemand, nur der graue Kater schnurrte gravitätisch, denn er hatte sich in die zu Boden gefallene Pelzmütze gesetzt, in deren riesigen Dimensionen es ihm außerordentlich behagte. Höchstens flüsterte noch das Rotkehlchen auf der Trockenstange am Ofen einmal vor sich hin, weil es vom Frühling träumte und vom grünen Wald. –
Also, die Uhr hatte ausgeschlagen und ächzte noch ein wenig hintennach von der Anstrengung. Ein verstohlenes Lächeln flog über das wettergebräunte Gesicht des Alten, denn in demselben Augenblicke waren zwei leise Seufzer hörbar, die das Bedauern zweier Anwesenden über den so schnell verflossenen Abend ausdrücken sollten. – Ich hoffe, ich brauche nicht erst zu erklären, daß nicht der Kater und das Rotkehlchen es waren, die auf diese Art ihren Gefühlen Luft machten.
»Du wolltst uns doch noch a Geschicht erzehln, Vater!« sprach plötzlich die Kleine und wurde feuerrot über ihre Kriegslist. Dabei klöppelte sie vor Verlegenheit so eifrig, daß der Klöppelsack diesmal dem Kater den Vorrang ablief, was musikalische Leistung anbetraf. »Aber bitt schie, kaa sette grusliche, sinst kaa m’r net eischlof’n.«
Der erzgebirgische Dialekt klang prächtig von diesen roten Lippen und das Dirnlein selber sah dabei aus wie eine Moosbeerenblüte droben vom Gebirgskamm.
»Iech denk m’r när, du kast öftersch net eischlof’n un’ denkst an Geschpenster, freilich warn se für dich net grod zum Fürchtn sei.«
Nein, es war nicht hübsch von dem Alten, daß er das gleich so frei heraussagte, und so behäbig dabei schmunzelte und die Verlegenheit der Kleinen noch ärger machte! Vom Ofen her kamen jetzt dichte Dampfwolken, als wenn frisch eingeheizt würde. Die Klöppel flogen durcheinander und ich möchte gerade nicht behaupten, daß immer jeder Schlag richtig war. Die wassergefüllte Glaskugel über dem Klöppelsacke warf ihr flimmerndes Licht auf ein Paar feine, zitternde Hände, die offenbar nicht recht wußten, was sie taten, während ein liebes Gesichtchen sich tief herabbeugte, ohne zu bedenken, wie schädlich das für die erwähnten blauen Augen sein mußte. Aber die Kleine hatte einen wackeren Bundesgenossen, der ihr zur rechten Zeit zu Hilfe kam. Der Kater hatte sich von seiner etwas ungewöhnlichen Lagerstätte erhoben. Pflichtgefühl und Tatendrang regten sich plötzlich in ihm, er stand eine Zeitlang erwartungsvoll da, jeder Zoll ein Held, dann plötzlich ein Satz, ein Schlag, ein stolzes Murren und er hatte die fetteste Maus beim Kragen, den berüchtigten Einbruchsdieb in Rotkehlchens Bauer und Liesels Küchenrevier.
»Hot mich doch de Miez do gleich of in Gedank’n gebracht,« lachte der alte Berthold, »’s is’ freilich schie a bis’l schpät, obr iech muß eich die Geschicht doch noch erzehln, wie m’r a Maus ze män Glück v’rholf’n hot.«
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schmunzelte pfiffig und erzählte:
’s is’ freilich schie a hübsch paar Gahr har, do bie ich a mol vun män Schatz kumme, Gott hob se salig, un do is’ m’r ’s Harz asu schwar gewasn, daß ich net wu aus un ei wußt. Iech war dazemol a gung’s Bärsch’l un ho miech gerod asu durchgebracht in dar schlacht’n Zeit.[449] Mei Schatz aber war ’s aanzige Kind a’gesass’ner Leit. Un wie uns dar ihr Vater aanistogs unner d’r Haustür ertappt hot, kloppet ’r mir asu ganz ruhig of de Achsel, lachet a weng un saaht: »Bartholdgust, war sich a Kuh kaaf’n will, muß erscht in Schtall hom!« Drauf ging ’r fort und iech schtand mutterseelnalaa do, denn mei Schatz war schu lang über alle Barg.
»War sich a Kuh kaaf’n will, muß erscht in Schtall hom!« Mir wollt’n die Wort net wieder aus’n Kopp un schwar ful m’rsch of’s Harz, wos f’r a armer Teifel iech war. Über dann Sinniern war ich aus’n Dorf nauskumme, immer wätter un wätter lief ich, bis in de Baarnbach naus, wu iech mich unner in Haselnußschtrauch hieleget un ze simeliern aafing. ’s war a wunnerschiener Harbsttoog. De Lärng gubeliert’n drum am Himmel, d’r Buch’wald sah fei rut und gahl aus un de liebe Sunn lachet asu freundlich, als wollt se ne Abschied vun Summer noch racht schwar mach’n. Iech soß dort’ un tat su racht wehmütig an mei Elend denk’n, an mein Vater un an mei alt’s gut’s Mutterle, die drüm of’n Gottsacker lieng, schie seit langer, langer Zeit. Wie se sich aa hatt’n plong müss’n, bis se endlich aa hiegange sei, wu m’r net wieder kimmt un endlich sei Ruh hot. Iech dacht dra, wie m’rsch aa asu gieh söllt, wie iech mich aa asu durchschlepp’n müßt, uhne Fraad, när in Armut un Harzelaad. Mir kam ’s Wasser in die Aang un ich hatt’s Gesicht in’s Moos gedrückt, dos mit sän rut’n Schpitzeln aus’n Aarzbudn vorgucket. Drum im Busch zankt’n sich de Nusser, d’r Wind fuhr durch’s treiche Laab vum Wald rüber. A klaans goldigs Kaaferle kletterte im Moos rim, sinst war alles ruhig un mir warsch, als söllt iech aa miet eischlof’n, wenn d’r Winter käm, wie das Kaaferle un jedes Pflanz’l un Kreitich, dos iech d’rnooch aa mei Ruh hätt’.
Wie iech asu dolog, här iech of aamol was wispern, iech richt mich in de Höh’ un sah’ a wunnerschiene Haselmaus of in alt’n Schtrunk sitz’n, a Nuß zwisch’n de Pfötle an dar’sch draarim knapperet un guckt miech su racht harzlich aa. ’s war a klaans erbersch Ding’l un blinzlet mit sän halln Äugle lustig har, als wollts song: »När net v’rzoong, dei Pack’l, wos du ze troong hast, is noch lang net’s schwarste!« Wie iech mich noch übersch Tierl freu’ rauscht’s of aamol in d’r Luft un a grußmachtiger Grimmer prellt of dan Haselnußschtrauch, verfitzt sich drinne, reißt sich wieder lus un macht Gagd of das Tierl. Iech ob’r besinn mich net lang, greif nong erscht’n, best’n Schtaa un warf d’rnooch, sudoß ’r d’rschrackt wieder auf un d’rzu fliegt.
»Bist aa asu aan’r dar’ne arme Leit’n nischt gönnt’«, schrier iech d’rbußt un war ganz wutig worn. D’rauf setzt iech mich wieder hie un simeliert wätter. De Nusser zanktn sich noch immer drüm im de Buchecker, ’ne Kräh’ flug langsam übern Wald und tat laut krachzn, d’r Wind raschlet noch immer im Laab wie zevor un mir warsch ganz dumm un deebrig im Kopp worn, wie zum Eischloofn. Wie lang iech asu do gelang hob, waß iech net. Nooch ’ner klänn Weil här iech awos rasch’ln un of aamol schtieht a klaans Mannl v’r mir mit gruß’n Schtief’ln, lange graue Bart, in gruß’n Maul, des vun än Ohr bis zum annern gieht, – na ihr wards nooch’r noch härn, wie’s vull’ns aussooch.
»Grüß Gott, Bartholdgust,« saht’s ganz freundlich un lachet miech aa. »Hob när schinn dank, doß de m’r geholf’n hast, ’s wär m’r dißmol, Gott schtraf mich, an Krong gange.« Iech war ganz deebrig, rieb m’r v’rwunnert de Aang un wußt net, ob iech wach war oder traamet. »Ja, ja,« sooget’s un nicket mit sänn Köpp’l, doß de gruß’n Zäh’ när asu klappert’n, »’s war d’r Tannegeist drüm vun d’r Eberleith, v’r dann iech amool de Holzweib’le in Schutz genumme hob, d’rseit hoot’r sänn Bittern of miech.«
Iech war asu d’rschrockn, doß iech kaa Wört’l rausbränge kunnt. Endlich d’rmahnet iech mich ob’r doch wieder un freeget, mit wen iech aangtlich de Ehr’ hätt. »Kennst miech wuhl net?« schpricht’r, »iech bie doch ’s Nußknackerle vun Baarnbach. Schau, de ganz’n Haselschträucher immedim sei mei, drinne wuhn iech mit män Haselgeisterle un mei richtiger Name is’ Alraun vun Baarnbach.«
’r zug a klaa Pfeif’l aus d’r Tasch, mit ’ner Haselnußschool als Kopp, schtoppet’s mit treing Blütenträub’le un schlug mit zwee Nüss’n Feuer.
»Iech hob diech oft schu gesaah mit dänn Schatz dohauß’n. Waßt’s noch, do drüm biste’s erschte mol mit’r gesaßn.«
»Ach Gott, Harr Alraun,« lametirt iech, »des is itze alles v’rbei! ihr Vater« –
»Waß schie, kenn de ganze Geschicht, un wos willste dä nu aafange?«
[450]
»Schtarm möcht ich!« schrier iech un heult’, doß miech d’r Bock schtieß, iech kunnt mir net half’n.
»Schaam dich, asu wos ze soong, ze wos haste dä deine Händ. Biste net d’r beste Holzdreher im ganz’n Gebirg?«
»»War sich a Kuh kaaf’n will, muß erscht in Schtoll hom,« hoot ehr Vater ze mir gesaaht un wie sell iech’s aafange bei dan schlacht’n V’rdienst?«
»Schau Gust’l,« saaht ’r racht bedächtig, »iech will d’r half’n, weil de m’r vorhin asu brav beigeschtand’n hast.«
»Half’n, wenn ’r des’ wollt un könnt, ob’r wie?«
»Nu,« schpricht ’r drauf, »do könnt iech d’r zum Beischpiel dan machtig gruß’n Topp vull Dukatn weiß’n, dann de Schwed’n gleich do drüm v’rgroom ham.« –
»Dukatn? un än ganz’n Topp?«
»Freilich,« nicket ’r un feixet asu racht hamisch, »galle, des wär wos? oder ne Otterkönig sei gold’n’s Krönl’, dos alle Wünsch d’rfüllt?«
»Ach Gott, Harr Alraun …«
»Odr sell iech d’r soong, wu die gruße Aarzod’r ze Toog tritt, die do drunt’n schtreicht? richtig raans Rutgültig! …«
»Lieber Gott, Harr Alraun,« schrier iech mit gefalt’n Händ’n un knie’et v’r dan klän Mannl nied’r, »mir is’ aans asu lieb wie’s annere, song Se’s när fix.« –
»Fällt m’r gar net ei,« schpricht ’r of aamol. »Schaamst de dich net, doß de dei Glück geschenkt hom willst un drim batt’ln tust?«
»Ja, ’s is’ net schie, obr, wie sell iech’s sinst aafange?«
»Arwett’n sell’ste, daß de drnooch soong kast ›des is’ mei un des hob iech salb’r fartig gebracht un kaa Mensch hoot m’r awos dreizereedn un m’r wos geschenkt.‹ Ab’r iech will d’r d’rbei a bis’l of de Schprüng half’n.«
Iech wußt noch immer net, wu dos’ naus sollt und gucket’n froogweis aa. De Geschicht fing aa furchtsam ze warn. ’s Nußknackerle schtellet sich kerzengrood v’r mich hie un sooget: »Na guck amol haar un merk d’r’sch genau was de itze si’st.«
Ja du lieber Gott, was goob’s do viel wätter ze sah? ’s Mannl sooch narrisch genung aus, hatt korze, schtammige Baa mit gruß’n Schtief’ln aus Baamrind, a korz Röck’l, schie künstlich aus Ficht’nnood’ln geschpunne, in grußmachting Kopp mit in gruß’n Maul un in lange Bart, wie weiß’ Moos. Sei Hut war a brauner Schtaapilz, de Aang funkelt’n wie Bleiglanz, d’rbei raacht’s ganz gewaltig aus seiner Haselnußpfeif’ – ’s roch wie richtig gepascht’r Dreikönigsknast’r – d’rbei sooch mich’s immer schtarr un schteif aa.
»Fällt d’r noch immer nischt ei?« froogt’s endlich.
»Naa.«
»Bist a racht’r Dam’l,« schpricht’s un fängt aa mit’ne Zänne ze klappern, daß m’r himm’langst wur.
»Na, ob’r itze?«
»Lieb’r Gott, Harr Alraun,« saht iech, »iech sa’h immer noch nischt vun Dukat’ne –«
»Schau Bartholdgust,« schpricht’r do of aamol, »iech hätt wirklich net gedacht, daß de asu damlich wärscht. Selling Leit’n is’ freilich net ze half’n. In Gebärg is’ annersch, do hamm de Dumme kaa Gelick.«
Wie ’r des gesäht hatt, schtand’r karz’ngrood v’r m’r, gucket miech wied’r mit sänn feuring Aang aa un raachet wos ’s Zeug hält. D’r Qualm wur immer schlimmer, ’r blus mir’n grood in’s Gesicht, daß m’r’sch ganz drehet wur un ’s Maan’l schließlich gar net meh sooch un iech geroodaus schrier, er söllt aufhör’n, iech könnt’s nimmer aushalt’n. –
Ja, wos war dä des’? Iech richt mich in de Höh’ un reib m’r de Aang. V’r m’r schtieht mei Fabrikharr un fröget »Hast wuhl nischt wätt’r ze tu, wie in d’r Baarnbach hauß’n zu lieng un ze schloof’n?«
Iech bie wie v’rn Kopp geschloong, schtieh’ net Red un Antwort un freeg när immer, wu d’r Harr Alraun vun Baarnbach wär un de Dukat’n.
»De hast wuhl a bis’l wos in d’r Kru’?«
[451]
Des bracht miech a bis’l wieder ze V’rschand und iech d’rzehlet d’rauf alles, wie m’rsch gange war, vun meiner Liebschaft un meiner Armet, ob’r vun Nußknackerle sa’ht iech nischt. ’r mocht sich d’rbei wos überleeng, gucket mich immer mol miet asu froogweis vun d’r Seit aa un maanet endlich asu korzwak, wie ’s sei Art war: »Iech will d’r amool awos soong, iech brauch in tüchting Modellschnitzer.«
Iech gucket’n ganz erschtaunt aa. – Modellschnitzer? – Iech? – die immer erscht weithaar v’rschriem wurn? Iech war ganz v’schtaanert un sa’ht kaa Wört’l.
»Iech hoo deine Arwett’n gesah’, iech will d’r amol wos soong: Bräng m’r amol a nei’s Modell, ab’r awas besunn’rsch nei’s un appart’s. Gestern is’ a gruße Beschtelling of Nußknack’r kumme – also a appart’s Nußknack’rmodell, v’rschtand’n?«
Iech war wie vun Schloog gerührt. Ob’r des waß’ iech noch, wie’r fort war, hob iech mei Mütz in de Höh’ geworf’n un Juchhe geschrien, wos när de Kahl haargoob. Of aamol war m’rsch zum Bewußtsei’ kumme, ’s Nußknackerle hatt’ m’r Modell schtieh’ wulln. D’rauf bie ich hamm gange, ho’ gebast’lt, gedreht un geschnitzt un ne dritt’n Toog drauf schtand iech mit män Modell in män Maast’r sein’r Schtub’ – ’s leibhaftige Nußknackerle, wie ’s v’r m’r geschtand’n hatt.
Iech soog wätt’r nischt, ob’r wie daar die Arwett’ sooch’, schrier ’r wie besaß’n: »Zaa Taler kriegst de of d’r Schtell, du Sack’rment’r, un Modellschnitzer bist de aa.« – Zug de Lood auf un – Gott schtieh’ mir bei – zaa Taler loong v’r mir, a Gald, wos iech sinst in vierz’n Toong net v’rdient hatt’.
»Na, guck miech när net asu dumm aa, gieh’ in de Schänk un loß de Apost’l schpringe.«
Des hob iech nu freilich net gemacht, ohamm bie ich gange, hoob’s Sunntigzeig aagezung un ze män Schatz’l gange. Wie iech z’r Tür neitroot lachet daar ihr Vater über’sch ganze Gesicht.
»Na su wos, bei euch is wuhl Kirmiß«, schprich’r, »weil de asu aufgedunnert bist?«
»Naa«, sa’ht iech, »Kirmiß net, ob’r Hebeschmaus, iech hoob grood’ne Grundschtaa gelegt, zum Schtall, dann iech m’r f’r de Kuh’ erscht baue sollt.«
»Nu, halt’s Maul, du Baarnbach’r Modellschnitzer, iech waß schu alles, ob’r a Gahr müßt d’r noch wart’n mit d’r Hochzig, ’r seid doch noch de raane Kinner. – Itze dauert miech blus noch’s Pflast’r v’r meiner Haustür.« –
Na ’s Pflast’r v’r d’r Tür hoot nimmer viel Schoodn geliet’n. Vun daar Zeit aa kunnt iech nei in de Schtub ze män Schatz’l gieh’. M’r ham freilich noch länger wie a Gahr mit d’r Hochzig gewart’t, weil m’r ’ne Schtall erscht noch orndlich ausbaue wollt’n. Ob’r aamol is’ d’r Toog doch kumme. Noch heit klingt m’r’sch in de Ohr’n, wie d’r Schmiedhenner un d’r Clarenettschneider ’ne Grußvat’rtanz blus’n un se miech mit ’ne Baarnbacher Modellschnitz’r genast hom. Ob’r heit noch soog iech: »War sich a Kuh kaaf’n will, muß erscht in Schtall hom!« – –
Die Geschichte war zu Ende und eine Fortsetzung kaum zu erwarten. Die Uhr tickte wieder geheimnisvoll und der Alte saß mit einem pfiffigen Lächeln da, so daß man wirklich in Zweifel war, ob er die eben erzählte Geschichte selbst für glaubwürdig fand. Darauf trat er vor die alte Uhr hin, um sie aufzuziehn. Und das ist wahr, solch’ ein altes Familienmöbel mit einem Gehäuse wie ein Kleiderschrank, hat so viel Mucken und Schrullen, wie die alten Leute selbst. Drum kostete auch die rationelle Behandlung derselben viel Zeit, welche man anderswo besser zu verwenden können glaubte. So mochten wenigstens die beiden Zuhörer denken, die hinter dem Rücken des Alten plötzlich eine lebhafte Unterhaltung in – wie es schien – schon oft geübter Flüster- und Zeichensprache eröffneten.
Wir wollen versuchen, es in gut Erzgebirgisch zu übersetzen.
»Mach när, soog’s!« beginnt der weibliche Teil. –
Energisches Kopfschütteln und betrübte Resignation seitens des starken Geschlechts.
»Worim dä net?« –
»’s hilft doch nischt!« –
»Freilich hilft’s, mach när!«
Zweifelndes Kopfschütteln und demonstratives Qualmen.
»De hast blus kaa Harz, bist m’r net gut!« – –
Pause zur Verarbeitung der kränkenden Gefühle. – Die alte Uhr schnarrt drohend und ist zur Hälfte aufgezogen. Nur das Schlagwerk fehlt noch.
[452]
Neue Attacke: »Mach när, bie net asu narrsch’, iech half d’r!« –
Dumpfe Resignation und ein tiefer Seufzer, die Schwere des Entschlusses kennzeichnend. –
»Net wahr, de sag’st’s? Schau, iech hob dich doch asu garn.« –
»Iech will’s versung …, naa, naa, ’s gieht wirklich net, iech bräng’s net zu waag!« – –
Anhaltendes Schnarren. Die Uhr ist aufgezogen und schlägt dröhnend und unwiderruflich die Abschiedsstunde. Der Alte kehrt an den Tisch zurück und setzt demonstrativ die Pelzmütze auf. Auf dieses Zeichen erhebt sich ein großer, hübscher Bursch aus einer ungeheuren Rauchwolke und schickt sich an zu gehen. Er dreht furchtbar linkisch und unbeholfen die Mütze zwischen seinen Händen, nimmt verlegen Abschied, trotz des ermunternden Blickes aus den blauen Augen und greift nach der Türklinke.
»Na, Grüß Gott, un loß’ d’r heut’ Nacht net ’s Nußknackerle in Traam vürkumme,« sagt der alte Berthold schmunzelnd beim Abschied.
»Ich gelaab’s net – – ob’r« –, die Tür ist schon halb geöffnet und der Bursche steht schon in der Hausflur – »ob’r … Nachb’r, iech wollt’ dir när soong, doß iech heit Warkführer in d’r Dampfschneidmühl drüm woorn bie.« – Die Tür wird schnell zugemacht und der, der diese welterschütternde Neuigkeit gebracht hatte, schickte sich eben an, vor lauter Verlegenheit wegzulaufen. Das ging nun aber nicht so leicht. Erstaunen und Verwunderung war jetzt auf Seiten des Alten, daß seine Erzählung so unverhofft schnell ein Gegenstück gefunden hatte. Schon hatte auch er die Türklinke in der Hand und seine Kommandostimme ertönte.
»Wirst de gleich noch amol reikumme! Na, warts epper ball?« Freilich kam er wieder, aber verlegen wie ein armer Sünder.
»Warkführer bist de worn, saht amol aa! – Ob’r warüm haste dä des net schu lang gesaht?«
»Iech hatt’ doch gar kaa Zeit a Wört’l ze red’n,« hieß es nach einer langen verlegenen Pause – »Ihr v’rgönnt aan doch ’s Wort net!«
Der Alte hielt sich den Bauch vor Lachen. »Kaa Zeit,« rief er, »un sitzt schtund’nlang doo, wie a schtaanern’s Mannl. Also Warkführer bist de woorn – hm – ja un wos’ nu wätt’r?«
»Ja, un … un …«
»Warkführer is’r woorn … un … un …« mischte sich die Kleine über und über errötend ein. –
Wenn der alte Berthold sich vorhin den Bauch vor Lachen halten mußt, jetzt mußt er sich setzen. –
»Un asu a Fürchtebuz’ will heirat’n,« stöhnte er. – »Na, iech will euch när of de Schprüng halfn, daß de Pantoff’lwirtschaft lusgieh’ kaa, ’raus brängste doch net, was de soong willst. Also heiratn! – Na, meinthalm, nu’mehro hoob iech nischt meh’ dr’geeng, män Seeng hab’t’r.«
Und nun ereignete sich wirklich das Unerhörte, daß die erloschene Pfeife von neuem in Brand gesetzt wurde und das große Schweigen von neuem anfing. Die alte Uhr schlug noch manche Viertelstunde mit merkwürdig zitternder Stimme. Sie teilte wohl die Stimmung des alten Berthold, der still und versonnen in seiner dunklen Ecke saß und sich seinen Erinnerungen hingab. Er sah seine Jugend in seinem geliebten und gehüteten Kinde wiederkehren, er sah den Burschen, der, treu wie Gold, wohl nach menschlichem Ermessen imstande war, sein Kind vor Leid zu bewahren und ihm ein liebes, warmes Nest zu bereiten. Er dachte an seine treue Lebensgefährtin, die längst unter dem grünen Rasen schlief und der er wohl bald folgen würde und berichten konnte, daß sein Kind treu behütet zurückblieb. In seinem Auge glänzte etwas – nein, Gott bewahre! – eine Träne war es nicht. Später ging die Tür und hinter der Schwelle hörte man noch lange heimliches Flüstern, als wären die alten guten Hausgeisterchen wieder lebend geworden und huschten über den Flur. Der Mond kam über die Berge herauf und sein silberner Strahl flimmerte auf den Eiszapfen und den Millionen Sternchen an den Fenstern des Häuschens. Schließlich verstummte auch das Flüstern. Ein junger Bursche trat aus der niedrigen Tür und stapfte durch den tiefen Schnee. Droben auf dem Berge schaute er noch einmal nach dem Häuschen zurück, das sein Liebstes barg, warf seine Mütze in die Höhe und jauchzte laut in den dunklen Wald hinein.
[453]
Von A. Eichhorn, Glashütte
Aufnahmen von Max Nowak, Dresden
Die Windmühle (Rudolf Löwenstein)
(Aus »Heimatstimmen« von Bernhard Schneider.)
»Überdies bemerke ich nun schließlich noch, daß man auch fünfundzwanzig Windmühlen zählen kann.« Diese Nachricht aus dem Jahre 1857 gibt uns die alte Chronik des Südlausitzer Industrieortes Neugersdorf. Der Chronist beschreibt darin die Aussicht vom Kirchturme des genannten Dorfes. Fünfundzwanzig Windmühlen innerhalb des Gesichtskreises eines »Zweihundertvierunddreißig Stufen« hohen Turmes in Berg- und Hügellandschaft ist viel, da fast alle im Stundenkreise des erwähnten Standortes liegen. Eine derartige Windmühlenhäufung findet sich in der ganzen Oberlausitz nicht wieder, so daß die Bezeichnung Windmühlenlandschaft für dies Blickfeld zu Recht bestehen kann. Die umstehende Skizze zeigt die Verteilung der Windmühlen im Gelände.
Gegenwärtig kreisen hier nur noch sechs Windmühlen ihre Flügel: Je eine in Hetzwalde, Oberleutersdorf (Eibauer Flur), Kottmarsdorf und drei in Oderwitz. Auf manchen Hügeln steht noch einsam das Wohnhaus, wo einst so viele Dorfbewohner ein- und ausgingen. In Schankstätten wandelten sich andre Windmühlen, und manchen Windmühlengrund furcht wieder der Pflug zur Keimstatt fürs liebe[454] Brot. Die Übersicht berichtet über Standort, Erbauung und gegenwärtigen Befund einer Anzahl Windmühlen, die auf der Skizze angegeben sind, soweit es dem Verfasser nach eingeholten Erkundigungen möglich war.
Standort | Erbaut | Abgetragen | Gegenwärtiger Befund |
Beckerbergwindmühle in Eibau | 1759 | 1889 | Gasthaus |
Röthemühle, Eibau | 1790 | um 1885 | Wohnhaus steht noch |
Klingermühle, Leutersdorf | um 1800 | 1891 | Wohnhaus steht noch |
Hetzwalder Windmühle | 1802 | — | Noch in Betrieb |
Knochenmühle, Ebersbach | 1803 | um 1882 | Fabrik |
Dutschkemühle, Kottmarsdorf | 1840 | — | Steht noch, aber außer Betrieb |
Felsenmühle, Spreedorf | 1842 | 1894 | Gasthaus |
Burgmühle, Kottmarsdorf | 1843 | — | Noch in Betrieb |
Zimmermannmühle, Eibau | 1844 | — | Noch in Betrieb |
Beerbergmühle, Neugersdorf | 1846 | 1903 | Wohnhaus steht noch |
Müllersche Windmühle, Neugersdorf | 1805 | 1835 | Wohnhaus steht noch |
Hohlfeldtmühle, Neugersdorf | 1819 | 1863 | Wohnhaus steht noch |
Wemmemühle, Ebersbach | 1867 | — | Schuppen |
Röthigmühle, Spreedorf | — | 1895 | Wohnhaus steht noch |
Hofewegmühle, Ebersbach | — | 1914 | Wohnhaus steht noch |
Spitzkunnersdorfer Mühle | — | 1898 | Wohnhaus steht noch |
Hainbergmühle | 1871 | um 1890 | Wohnhaus steht noch |
Zimmermannmühle, Neueibau | — | 1913 | Wohnhaus steht noch |
Neumannmühle, Oderwitz | 1867 | — | Noch in Betrieb |
Birkmühle, Oderwitz | 1817 | — | Noch in Betrieb |
Berndtmühle, Oderwitz | 1847 | — | Noch in Betrieb |
Adlermühle, Oderwitz | 1807 | 1905 | Wohnhaus steht noch |
Dienelmühle, Oderwitz | — | 1905 | Gasthaus |
Ausführlicher erzählt der Chronist die Geschichte der Windmühlen, wie folgendes Beispiel bezeugt. »Die Beerbergwindmühle. Diese wurde im Jahre 1846 von J. Gottlieb Hänsch aus Ober-Oderwitz auf ein Areal von 183 □Ruthen, das derselbe von dem Besitzer J. Gottfr. Hermann um 240 Thaler erkauft hatte, erbaut und am 8. August desselben Jahres gehoben. Bald darauf übernahm sein Schwiegersohn Johann Gottlob Palme, ebenfalls aus Ober Oderwitz, diese holländische Mühle und erbaute im Jahre 1850 ein Wohn- und Backhaus daneben, was im Jahre 1853 nahe daran war, abzubrennen. – Anno 1851 den 6 Octbr. erkaufte dieselbe der Wassermüller K. Gottlieb Richter ebendaher, und Anno 1852 den 20. Novbr. acquirirte diese unter Nr. 153 gebrachte Mühle der Bäcker Vincenz Gampe von Seifhennersdorf, gebürtig aus Cunnersdorf in Böhmen, um 1200 Thaler. Sie hat 2 Mahlgänge mit Graupenstampe und giebt jährlich nach Zittau 4 Thaler Windzins. Gegenwärtig ist sie an Fr. Aug. Förstern von hier um 50 Thaler verpachtet.« So lautet der Bericht des Chronisten vom Jahre 1857 über diese Windmühle. Die neue Chronik erzählt weiter: »Nach mehrfachem Besitzwechsel gelangte die Mühle in den Besitz der Familie Neumann und ging vom Vater auf den Sohn über. Dieser ließ die Mühle vor wenigen Jahren abbrechen, so daß sie nur ein halbes Jahrhundert gestanden hat. Es schwand mit ihr die letzte Mühle im Orte. Neumann verkaufte[455] die Bäckerei 1903 und zog nach Oderwitz.« Die wenigsten Jahre ist die Windmühle am Hainberg in Betrieb gewesen, die 1871 erbaut und 1890 bereits wieder abgebrochen wurde. Was will diese kurze Spanne Zeit besagen gegen das Alter der Windmühlen von Moos bei Alexandria in Ägypten. Die zum Teil noch gut erhaltenen Mühlen (sechs- und achtflügelig) werden auf etwa dreitausend Jahre geschätzt.
Achtet man auf die Erbauungszeit der »Südlausitzer Windmühlen«, so muß auffallen, daß sie fast alle vom Jahre 1800 an »aufgestellt« worden sind. Diese Tatsache steht im Zusammenhange mit dem von der Stadt Zittau ausgeübten Mühlzwange. Die genannte Stadt hatte seit dem Dreißigjährigen Kriege bis 1800 fast alle Mühlen (Wassermühlen) der Umgegend in ihren Besitz gebracht und übte scharfen Mühlzwang aus. Nur in den »Ratsmühlen« durften die Bauern ihr Getreide mahlen lassen. »Aber mit der Zeit machten sich an diesen Grundstücken allgemeine große Baulichkeiten notwendig, und wenn das aus öffentlichen Mitteln geschah, so entstanden allzu hohe Kosten.« (Wauer, Geschichte der Industriedörfer Eibau und Neueibau). Zittau verkaufte darum nach und nach alle Mühlen, die außerhalb der »Flurzäune der Stadt lagen«. Weise berichtet in seiner Chronik von Ebersbach: »Die 4 Wassermühlen waren im Besitze des Rathes zu Zittau. Ende des vorigen Jahrhunderts verkaufte die Stadt Zittau diese Mühlen, und zwar: 1792 die Buschmühle an Gottlob Freude für 860 Thaler und einen jährlichen Wasserzins von 40 Thalern nebst 6 Scheffel gutes Landkorn zur Lichtmeß (die seither in Nutzung gehabten beiden Teiche wurden dem Käufer gegen eine jährliche Erbpacht von 14 Thalern überlassen), 1796 die Obermühle an Johann Christian Zumpe für 500 Thaler und 40 Thaler jährlichen Wasserzins; 1797 die Niedermühle an Christian Friedrich Wagner für 500 Thaler und 81 Thaler jährlichen Wasserzins; 1801 die Mittelmühle für 500 Thaler und 80 Thaler jährlichen Wasserzins an Johann Christoph Winkler«. »Am 4. Juni 1804 ordnete nun die Revisionskommission schlechthin an, es sollten alle Mühlen Zittaus, die außer den Flurzäunen der Stadt lagen, allmählich verkauft werden, weil man die Kämmereikasse von den immer wiederkehrenden großen Ausgaben für Bauten befreien wollte. Um nun diese Kasse möglichst wenig zu verwirren,[456] sah man beim Verkaufe nicht darauf, die Preise, soweit es ging, emporzutreiben, sondern bedang sich lieber einen jährlichen Wasserzins aus, der dem bisherigen Pachtzins möglichst gleichkam.« (Wauer, Eibau, Neueibau.)
Mit dieser Verordnung fiel auch der drückende Mühlzwang. Neue Mühlen wurden gebaut, und zwar Windmühlen. Daß einige Jahre vorher schon vereinzelt[457] Windmühlen aufgerichtet wurden, mag seinen Grund darin haben, daß man mit Bestimmtheit auf eine Aufhebung des Mühlzwanges in nächster Zeit rechnen konnte, auch nicht alle Windmühlen in dieser Landschaft auf Zittauer Grundeigentum standen. Die Windmüller standen in keinem guten Ansehen bei dem Rat der Stadt Zittau. Wauer schreibt in seiner »Geschichte der Industriedörfer Eibau und Neueibau«: Einen auffallenden Vorsprung hatte Eibau ferner vor manchem Nachbardorfe betreffs der Windmühlen. Erst im Jahre 1803 erteilte der Rat die Erlaubnis, in Ebersbach eine Windmühle zu errichten, während Eibau bereits seit 1759 auf dem Bäckerberge und dann auf dem Röteberge und Kieferberge je eine Windmühle besaß. Als aber die letztgenannte abbrannte, zeigte der Rat deutlich, daß bei Erteilung dieser Windmühlkonzessionen nicht etwa das Bedürfnis oder der Vorteil der Dorfuntertanen entschied, sondern daß auch hierbei die Interessen der Stadt im Vordergrunde standen. Der Rat erlaubte weder 1792 noch 1795 die abgebrannte Windmühle auf dem Kieferberge wieder aufzubauen, da er selbst einmal einen derartigen Plan ausführen könne; die Windmüller verdienten überhaupt keine Begünstigung, hieß es, denn sie zahlten nur vier Thaler Zins und entrichteten auch diese geringe Abgabe nicht pünktlich, während sie andererseits den Ratsmühlen Konkurrenz machten. Erst unter dem Einfluß der Revisionskommission, welche ja auch im Mühlwesen Zittaus bedeutsame Änderungen mit sich brachte, wurde das anders: 1804 erlaubte infolgedessen der Rat wiederum, auf dem Mundgute in Eibau eine Windmühle zu errichten. Eine Anmerkung Wauers beim Windzins (4 Taler) lautet: »Hieraus erklärt es sich vielleicht, daß bei der Kriegssteuer von 1779 für die Hufe nur 1 Thaler, für einen ganzen Garten 6 Groschen, für ein[458] Haus 1 Groschen, für eine Windmühle aber 16 Groschen gezahlt werden mußten.« Die Beerbergwindmühle zahlte auch nur 4 Taler Windzins, wie der Chronist von 1857 uns berichtete. Etwas verwunderlich lesen wir darum die Nachricht über die Erbauung der Windmühle in Spreedorf. (Weise, Nachrichten aus der Vergangenheit und Gegenwart der Gemeinde Ebersbach, II. Teil.) Dort heißt es: »Im Jahre 1803 wurde die erste hiesige Windmühle, ohnweit des Schlößchens, erbaut; auch diese wurde mit einem Wind- oder Mahlzins belegt. Wegen Erbauung einer Windmühle beim oberen Spreedorf 1842, auf Wünsches Bauerngute, wird bei dem Genehmigungsgesuch der Stadtrat zugleich gebeten, daß der Windzins möglichst niedriggestellt werde. Diese Mühle hatte zuvor in Altendorf bei Schandau gestanden. Der Mangelwerkbesitzer Büchner unternahm deren Aufbau hier.« Bemerkenswert ist die Nachricht, daß die Windmühle zuvor an einem anderen Orte gestanden hat. Die Annahme liegt nahe, daß Windmühlen in jenen Zeiten »versetzt« worden sind, sei es bedingt durch Verkauf oder ungünstige Windverhältnisse, die nach dem Erproben am ersten Standorte fühlbar wurden. Angefügt sei noch die Anmerkung Wauers betreffs der Röthemühle. »1790 ließ der Käufer des Nüfeltschen Gutes seinem Bruder einen unbrauchbaren Fleck hinten ›auf dem Berge an dem Kottmarwalde‹ unentgeltlich ab, um darauf eine Windmühle zu errichten. Der Müller hatte alljährlich folgende Abgaben zu leisten: a) an Zittau 4 Thaler gewerblichen Zins; b) ans Bauerngut 1 Thaler 8 Groschen Ackerzins, 7 Pfennig Beitrag zur Steuer und 8 Pfennige Botengeld. Meister Nüfelt und seine ›Mahlgäste‹, welche also bei ihm ihr Getreide mahlen ließen, durften dagegen den Fußsteig von der Windmühle hinten bis an die Ruppersdorfer Grenze ungehindert benutzen.« Das Wort »Mahlgäste« verrät uns, daß die Kunden mitunter »zu Gaste« blieben, also zuweilen »stundenlang« warteten, bis ihre abgelieferten Körner ihnen als Mehl zurückgegeben wurden.
Wenn nun besonders Windmühlen gebaut wurden, so hat das seinen Grund in der Tatsache, daß die Gegend von Neugersdorf, Hetzwalde, Leutersdorf, Eibau und Kottmarsdorf arm an natürlichen triebkräftigen Gewässern ist. Der alte Chronist sagt: »An Gewässern fehlt es uns ebenso; denn wir haben hier in Altgersdorf blos 1. den Spreegraben, 2. den Mühl- und Fluthgraben, 3. den Rothen-Mühlteich, 4. den Bleichteich und 5. die Kranichpfütze. Ein Fluß, oder auch nur ein Bach, geht leider durch unsre Fluren nicht. An Gewässern ist auch Neugersdorf ziemlich arm, weshalb ja auch seine Erbauung so lange Zeit problematisch blieb, denn es hat nur zwei große und einen kleinen Teich, nebst einigen Teicheln und Dorfgraben, welche bereits bei Angabe der Spreequellen erwähnt worden sind. Daß die Dorfgraben bei Weitem noch nicht die Breite eines Baches erreichen, ist bekannt. Am wasserärmsten ist die Vorderecke und der Berg. Es sind da nur einige von den Teicheln, von denen die Gründungsschrift sagt: man solle ›wieder Gruben und ausgebohlte Wasserkasten‹ machen, um Wasser zu sammeln, weshalb namentlich am Berge leicht Wassermangel eintritt.« Die genannten stehenden Gewässer reichten oft nicht aus, um einer Wassermühle das ganze Jahr hindurch Triebkraft zu liefern, denn sie waren meist nur Sammelbehälter des Regenwassers, lagen also in Bodenmulden. In der neuen Chronik von Neugersdorf lesen wir: »Da, wo jetzt der von dem Brauereibesitzer Bundesmann erbaute Eiskeller steht[459] und oberhalb des Röthigschen, jetzt Rotheschen Hauses, befand sich früher der obere Mühlteich. Dort stand eine Mühle mit unterschlägigem Gange. Da aber zur heißen Sommers- und zur kalten Winterszeit wenig Wasser zum Betriebe vorhanden war, ist diese sogenannte Obermühle in der Zeit von 1740 bis 1750 außer Betrieb gesetzt, der Teich zugefüllt und in Wiese verwandelt worden.« Und die »Teichel« waren angelegt, um bei Feuersgefahr Wasser zu haben oder als Viehtränke zu dienen, wie aus folgender Nachricht ersichtlich ist. »Außerdem fand sich auf der Langewiese ein Teich vor, welcher zum Tränken des Viehes benutzt wurde. Als der Rat zu Zittau im Jahre 1775 ein Geräumigt von 1 Scheffel an Gottfried Gocht verkaufen wollte, in welchem dieser Teich gelegen war, erhoben die Altgersdorfer dagegen Protest, da die Pfütze mit ihrem laufenden Wasser zum Tränken des Viehes diene, ›sie seien keine Bauern und keine Gärtner, sondern nur reine Leineweber, mithin die Milch und Butter ihr größtes Labsal sei.‹ Außerdem wird Repert. III., Kap. 1, 3 der Kranichpfütze Erwähnung getan, welche ebenfalls zum Viehtränken benutzt wurde. Es waren von 3 Seiten Dämme errichtet, von der Westseite aus wurde das Vieh hineingetrieben. Als der Teich einmal geschlemmt worden war, wurde die Benutzung desselben von Zittau verboten, später aber auf Ansuchen des Richters und Gemeindeältesten im Jahre 1819 gestattet.« Für neue Wassermühlen in Neugersdorf waren außerordentlich kostspielige Kunstteiche nötig, um dauernde Triebkraft zu erhalten, denn die vorhandenen standen bereits an den Plätzen im Gelände, die von Natur aus zur Wasserstauung günstig lagen, um den »Mühlteich«, den Lebensnerv für die Mühle, das ganze Jahr hindurch triebkräftig zu haben. Ähnlich lagen die Verhältnisse in Hetzwalde, Neueibau, Oberleutersdorf, Spreedorf und Kottmarsdorf. Den neuerrichteten Mühlen in dieser Landschaft blieb in jenen Zeiten nur der Wind als Antriebskraft übrig. In den vielen Hügeln war eine Vorbedingung für den Windmühlenbetrieb erfüllt.
Abbildung 1 zeigt uns eine von den noch in Betrieb befindlichen Windmühlen. Es ist die Windmühle zu Hetzwalde, im Munde der Einheimischen »Hetzemühle« genannt. Eine Besonderheit trug und trägt sie an sich. Hatte sie ehedem acht Flügel, so läßt sie zur Stunde fünf Flügel vom Winde bewegen. Ihre in nächster Umgebung noch »gehende« Windmühle, die Zimmermannmühle bei Oberleutersdorf, hat gegenwärtig auch fünf Flügel, seit 1917, bis dahin deren vier. Abb. 2 u. 3. Vier ist die gewöhnliche Flügelzahl. Auf die Frage, warum die Flügelzahl von acht auf fünf gebracht wurde, antwortete der »Hetzemüller«, es sei unpraktisch gewesen, der Wind habe sich »darin verfangen«. Die Flügel sind aus kleinen Brettern, den Windklappen, zusammengesetzt. Unser Bild 2 zeigt, daß jeder Flügel eine schmale und eine breite Reihe Windklappen aufweist. Bei der schmalen Reihe ist jede Klappe 60 Zentimeter, bei der breiten 1 Meter 10 Zentimeter lang. Die Windklappen sind beweglich. Starker Wind öffnet die »geschlossene« Fläche. Auch vom Innern der Windmühle aus kann der Müller mit Hilfe des Regulierkastens die Windklappen so stellen, daß der Windaufprall so geschieht, wie er ihn für seine Arbeit gerade braucht. Daß mitunter der Wind der Windmühle gegenüber ein gewalttätiger Herr werden kann, beweist die Tatsache, daß er der »Hetzemühle« 1921 drei Flügel, 1922 einen Flügel und 1923 wieder einen Flügel abbrach, so daß innerhalb drei Jahren alle fünf Flügel erneuert werden mußten. Damit sich die[460] Flügel drehen, muß der Wind immer senkrecht auf sie auftreffen, nie von links oder rechts. Um dabei den Anprall auf das »Windmühlenhaus« etwas zu mildern, ist die Flügelwand möglichst schmal und mit den Seitenwänden durch abgeschrägte Flächen verbunden (siehe Abb. 4).
Der Wind wechselt seine Richtung. Die Flügel müssen also so gestellt werden können, daß er sie senkrecht trifft. Aus diesem Grunde ist die ganze Windmühle drehbar. Sie ruht auf einem ungeheuer starken Balken, der senkrecht auf einem in die Erde eingelassenen Steinblock steht. Gestützt wird der Balken durch einige andere fast ebenso starke. Dies Grundgerüst heißt Bock, die Windmühle eine Bockwindmühle. Abbildung 5 zeigt die »Hetzemühle« von hinten. Aus der Windmühle ragen zwei Balken, einer schräg, der andere wagerecht. Der wagerecht herausstehende ist mit einem zweiten, der auf einem eisernen Rad ruht, verbunden. Diese Vorrichtung nennt der Windmüller den »Sterz«. Um ihn vor schädigenden Witterungseinflüssen zu schützen, wurde er mit einem Bretterverschlag umgeben. Das Ganze macht den Eindruck eines offenen Tores, besonders wenn man sich auf unserm Bild etwas nach links gestellt denkt. Auch aus der Ferne gesehen, wundert sich so mancher Wanderer über das »offene Tor« an der Windmühle. Bei anderen Windmühlen ragt der »Sterz« nur als ein langer Balken schräg aus der Mühle heraus. Der schräg herausstehende Balken auf unserm Bild ist ein Stützbalken. Um nun die Flügel in senkrechte Stellung zum Winde zu bringen, geht der Windmüller an den »Drehwagen« (siehe Abb. 4). Auf einem fahrbaren Gestell steht senkrecht die Achse eines Wellrades. Oben ist die Walze durchbohrt. Durch das Loch steckt der Windmüller eine Stange, die die Speiche eines Rades darstellt. Vom »Sterz« aus führt eine eiserne Kette (auf dem Bild 5 am eisernen Rad sichtbar) zur Walze und wickelt sich darum, wenn der Windmüller mit Hilfe der Stange sie dreht. Dann nähert sich der »Sterz« dem Drehwagen, die Windmühle wird »gedreht«, in unserm Falle rechts herum. Das Gesetz am Wellrad ausnutzend, nach dem die Kraft nur der sovielte Teil der Last zu sein braucht, wie der Halbmesser der Welle vom Halbmesser des Rades, um einer Last das Gleichgewicht zu halten, läßt er die Stange (Speiche des Rades, Halbmesser!) auf der einen Seite möglichst weit aus dem Walzenloch herausstehen. So wird es ihm möglich, die Windmühle, die mit ihrer Inneneinrichtung eine bedeutende Last darstellt, nach Bedarf zu drehen. Der Drehwagen wird an einem der vorspringenden Steine, die im Kreise um die Mühle in die Erde gelassen sind, während des Drehens verankert. Ist der »Sterz« bis ziemlich an den Drehwagen gekommen, dann wird dieser bis zum nächsten vorspringenden Steine gefahren, festgemacht, und die Arbeit des Drehens beginnt von neuem. Dies wiederholt sich solange, bis die Windmühle die gewünschte Stellung einnimmt. Da ein großer Teil der Windmühlenlast auf dem Sterz ruht, so drückt das eiserne Rad erheblich auf den Erdboden. Um ein Eindrücken in denselben zu verhindern, was ja ein Neigen der Windmühle zur Folge hätte, läuft das Rad auf Steinfließen, die einige Zentimeter breiter als das Rad sind und einen Steinkreis um die Mühle bilden.
Unser Bild 5 zeigt eine Mühle, die durch die vielen Fenster bemerkenswert ist. Vierzehn große Fenster sind zu sehen, auf der uns abgekehrten rechten Seite weist sie[461] ebenfalls sechs auf, gibt zwanzig Stück. Dazu kommen noch drei kleine, zwei über, eins unter dem vorspringenden Dache. Sie ist die größte von den noch »gehenden« Windmühlen. Auch im Innern weist sie eine Sonderheit im Vergleich zu andern auf, indem außer Spitzgang und Mahlgang noch ein Walzenstuhl aufgestellt ist.[462] Eine beherrschende Stellung nimmt die »Hetzemühle« in dieser Windmühlenlandschaft ein, da sie einmal ziemlich in der Mitte derselben liegt und zum andern auf einem in diesem Gelände besonders hervortretendem Hügel (Abb. 1). Siebzehn Windmühlenstandorte sind von ihm aus zu sehen. Aber nur noch fünf Windmühlen, und davon wieder nur vier kann der »Hetzemüller« gegenwärtig beim Mahlen beobachten.
[463]
Wie behaglich ist es, mit dem Windmüller im kleinen Mahlstübchen der Zimmermannmühle auf dem staubigen »Kanapee« zu sitzen. Am Fenster huschen die Flügel vorbei. Das Gebälk knarrt. Das Mahlstübchen mit dem Kanapee und uns schaukelt ganz merklich. Der Lehrbursche besorgt für eine Viertelstunde des Meisters Arbeit.
Auf die Frage, warum soviele Windmühlen »eingegangen« seien, erzählt der Windmüller vom Aufkommen der Dampfmühlen, daß viele Windmühlen zum[464] Aufstellen von modernen Mahleinrichtungen nicht geeignet gebaut waren, daß die Eisenbahn viel Mehl ins Dorf brachte und mit Wichtigkeit von schlechten Windjahren. Oft brachte der Bauer sein Korn erst zur Mühle, wenn er das letzte Mehl gerade verbrauchte. Nun sollte der Müller gleich mahlen. Ja, gern, aber der Wind blieb aus! Viele Bauern gingen zum Bäcker, der ihnen aus seinem Vorrat sogleich Brot und Mehl gegen ihre Körner eintauschte. Dadurch zogen die Bäcker die Bauern an sich. Der Windmüller hatte das »Zugucken«, er kam um seine Arbeit.
Und auf die zweite Frage, warum trotz dieser Umstände sich einige Windmühlen bis auf den heutigen Tag gerettet haben, gibt er uns den Bescheid: »Das ist durch den Krieg geworden.« In den Kriegsjahren waren die meisten Bauern »Selbstversorger«. Der Bäcker konnte ihnen kein Mehl und kein Brot für ihr Getreide geben; denn sein »zugeteilt bekommenes« Mehl mußte ja mit den von ihm »abgegebenen« Brotmarken übereinstimmen. Der Selbstversorger bekam keine Brotmarken, mithin war mit dem Bäcker »nichts zu machen«. Schaffte er seine Körner in die Mühle, so bekam er dafür sein ihm zustehendes Mehl und Brot, da der Windmüller in den meisten Fällen auch einen Backofen hat. Während der Inflationszeit kamen dem Windmüller die Kohlenteuerung (Dampfmühlen!) und die hohen Frachtsätze der Eisenbahn und Lastautos zugute; denn der Bauer fuhr sein Getreide in die Mühle, anstatt beim »teuren« Bäcker zu kaufen oder zu handeln. So[465] lebte ein Stück Windmühlenzeit noch einmal auf. Wie lange? Ist es ein letztes Aufflackern? Dann gehört auch Julius Lohmeyers Reim vom Windmüller der Vergangenheit an:
Von Dr. Kuhfahl, Dresden
Auf meine ausführlichen Schilderungen im Heft 7/8 ist mir eine sehr große Zahl von Zuschriften zugegangen, für die ich zunächst nur hierdurch danken möchte. Wenn wirklich neue Entdeckungen vorliegen, so werde ich mit den Einsendern noch selbst in Verbindung treten. In den meisten Meldungen werden mir jedoch Steinkreuze genannt, die bereits in meinen früheren Verzeichnissen von 1914 erwähnt waren; ich bitte hierfür den Dank im allgemeinen entgegenzunehmen.
Bei dem großen Interesse, das der Steinkreuzforschung allgemein entgegengebracht wird, erscheint es wünschenswert, meine längst vergriffenen früheren Aufsätze mit dem Ergebnis der neueren Forschungen zusammenzuarbeiten und in Form einer geschlossenen Veröffentlichung herauszubringen. Der Landesverein Sächsischer Heimatschutz beabsichtigt, hierzu die Möglichkeit zu schaffen.
Von Dr.-Ing. Hubert Ermisch
Zur Leipziger Messe, dem Treffpunkt von Nord und Süd, sprach ich mit einem norddeutschen Maler, der kunstgewerbliche Arbeiten ausgestellt hatte, über die Wiederherstellung des Zwingers. Ich hatte ihm erzählt, daß man mir voraussichtlich diese Arbeiten anvertrauen wollte. »Nun, das werden Sie doch unbedingt ablehnen.« – »Warum? Im Gegenteil, ich freue mich über diese interessante Aufgabe.« – »Beim Heidelberger Schloß ist man doch auch dagegen, daß der Ott-Heinrichbau wieder erneuert wird.« – »Ja, das ist doch etwas ganz anderes, das ist eine Ruine.« – »Nun dann schmeißen Sie ein paar Bomben hinein, daß der Zwinger auch eine Ruine wird.« – »Aber hören Sie mal, was hat Ihnen unser Dresdner[466] Zwinger angetan?« – »Solange uns diese scheußlichen überlebten Formen wie Klötzer an den Beinen hängen, werden wir keine Fortschritte in der neuen deutschen Kunst erreichen!« – »Aha, der berühmte Bolschewistenstandpunkt,« dachte ich, »erst mal alles kurz und klein schlagen und dann hinterher nicht annähernd Gleichwertiges schaffen können.« Und doch ging mir dies Gespräch, besonders der Vergleich mit dem Heidelberger Schloß lange Zeit durch den Kopf. Aber es ist doch ein Unterschied. In Heidelberg ist es eine Fassade, die man übrigens auch hin und wieder ausbessert, Vierungen einsetzt und Teile ergänzt. Man hat aber abgelehnt, das zu dieser Fassade gehörige Haus mit Dach usw. zu erneuern. Man wollte die Idee der Fassade erhalten, den Kunstgedanken, ohne ihn durch moderne Zutaten beeinträchtigen[467] zu lassen. Zu diesen Zutaten hätten die Fenster, Türen, Dachrinnen und schließlich vor allem das Dach gehört. Beim Zwinger liegt die Sache ja wesentlich anders: Der Zwinger ist das Gehäuse überaus wertvoller Sammlungen, die kaum in absehbarer Zeit den erhofften Neubau werden bekommen können. Schon aus diesem rein praktischen Grunde muß der Zwinger erhalten bleiben.
Aber auch der Kunstgedanke muß hier erhalten bleiben, der Kunstgedanke dieses einzigartigen, formenvollendeten Bauwerkes des Dresdner Barock. Der Gedanke des Bauwerkes: Ein Rahmen für »alle Arten öffentlicher Ritterspiele, Gepränge und andere Lustbarkeiten des Hofes« konnte schöner und überzeugender nicht zum Ausdruck gebracht werden. Dabei die wohltuende klare Grundrißentwicklung. Bedauerlich ist nur, daß[468] spätere Zutaten den Gesamteindruck beeinträchtigen und daß die umgebenden Bauten so wenig Rücksicht auf dieses Kunstwerk genommen haben. Aber trotzdem können wir stolz sein auf dieses Meisterwerk des deutschen Barock. Es ist wahrlich erhaltenswert. Es war aber auch allerhöchste Zeit, daß mit aller Energie dem weiteren Verfall entgegengearbeitet wurde. Das Schicksal schreitet unheimlich schnell. Besonders in der kalten Jahreszeit bringt jeder Frost neue Schäden an den Tag. Wie gewöhnlich kommt kein Unglück allein. Die Geldnot der letzten zehn Jahre, die alle Vorbeugungsmaßnahmen unmöglich machte, der unglückselige[469] Ölfarbenanstrich, mit dem man im vorigen Jahrhundert den Bau zu schützen suchte, und nicht zum wenigsten auch die bodenlose Leichtsinnigkeit mit der vor zweihundert Jahren der Bau errichtet wurde und die wohl schon oft denen zu denken gegeben hat, die mit dem Schutz des Bauwerkes betraut waren. Noch ist der Gesamteindruck nicht[470] zerstört, aber eine Figur nach der anderen fällt um, ein Zierat nach dem anderen bröckelt ab. Wie soll aber der Bau erneuert werden, wenn man vom alten Bestand nur kümmerliche Bruchstücke überliefert bekommt. Im Januar 1924 fiel eine der reizvollsten Putten vom Pavillon F – dem Mathematischen Salon – herunter, eine weitere liegt z. Zt. zertrümmert in der Dachrinne, eine dritte hatte man zur Sicherheit mit Stricken an die Esse angebunden. Da gilt es rasch handeln und dauernd auf dem Posten zu sein, weiteres Unheil zu verhüten. Alle gefährdeten Teile werden photographisch festgelegt und danach in Sicherheit gebracht um dann, wenn die Wiederherstellungsarbeiten an diesem Punkt angelangt sind, ganz oder teilweise erneuert wieder an die alte Stelle zu kommen. Bei allen Erneuerungsarbeiten wird mit peinlichstem Abwägen darauf gesehen, daß möglichst viel »Altes« erhalten werden kann. Georg Wrba wacht über der Schar der Bildhauer, daß der Charakter des Baues durch die Erneuerung nicht verlorengehe. Besonders alle Ergänzungen, die ja leider nicht zu umgehen sind, werden unter seiner Leitung und nach seinen Angaben ausgeführt. Die Arbeiten der Wiederherstellung werden im Frühjahr außer am Wallpavillon, noch an der Langgalerie nach der Ostraallee zu, und im Sommer voraussichtlich am Pavillon F (dem Mathematischen Salon) in Angriff genommen werden. Ein gut Teil der Mittel für diese Instandsetzung soll aus der Geldlotterie des Heimatschutzes fließen. Möchten alle Freunde unseres schönen Dresden, möchten alle, die für Kunst und Denkmalpflege ein warmes Herz haben, an ihrem Teil zum Erfolge der Lotterie beitragen und so helfen, daß dem völligen Zerfall dieses Meisterwerkes deutscher Barockbaukunst erfolgreich entgegengearbeitet werden kann.
1923 ist bei der Franckh’schen Verlagshandlung in Stuttgart ein Heft erschienen: R. H. Francé, Die Entdeckung der Heimat. Wenn das Büchlein infolge seines beschränkten äußeren Umfanges auch mehr anregend als erschöpfend darstellen kann, so hat es doch eine besondere Bedeutung: war »Heimat« bisher nur ein starkes, jedoch auch dunkles Gefühlserlebnis vieler – durch dieses Buch wird uns das bloße Gefühl zu klarem (wer brauchte heute nicht Klarheit!) Erkennen. Das heißt: Wer es noch nie gefühlt haben sollte (es gibt solche Großstädter), der muß es beim Lesen dieses Buches erkennen, und wer es bisher dunkel fühlte, der »entdeckt« es jetzt klar und deutlich: Heimat ist eine Großmacht, unbesieglich und letzten Endes auch unzerstörbar. Wenn wir sie zerstören, dann zerstören wir uns nur selbst. – Es gibt kein größeres Unglück als heimatlos zu sein. Heimatkunde ist die Königin alles Wissens und Heimatkunst die Krone alles Schaffens. – Eine Schule, die den ihr Anvertrauten die Fertigkeiten des Berufs und dazu als Untergrund und Erdreich aller seelischen Blüten eine richtige Heimatkunde mitgibt, kann nicht mehr übertroffen werden. – Das sind keine Schlagworte. Durch sachliche, objektive Anschauung in der Natur (Pflanze und Tier, Klima und Bodenbeschaffenheit) gelangt der Verfasser – und mit ihm muß das jeder ehrliche Leser tun – zu den angeführten Folgerungen. Zu ihnen will das Büchlein jeden führen. Ein solches grundlegendes, Klarheit schaffendes Werk müßte in jedes Heimatfreundes Hände gelangen (zumal es nur 1.20 M. kostet); und wer noch kein »Heimatfreund« ist, der sollte es erst recht lesen!
Das ist des Buches besonderer Wert: Heimat bleibt nicht nur ein Teil unsrer Gefühlserlebnisse, sondern Heimat wird uns auch die wichtigste Entdeckung unsres Erkenntnisvermögens.
Günther Lamm.
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Für die Schriftleitung des Textes verantwortlich: Werner Schmidt – Druck: Lehmannsche Buchdruckerei
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Weitere Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Lange Reihen von Gedankenstrichen wurden verkürzt. Die doppelte Werbeseite am Ende des Buches wurde entfernt.
Korrekturen:
S. 425: 1887 → 1787
welches ich am 28. Sept. 1787 sah und des großen Gegenstandes