*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK TAG UND NACHT ***
Anmerkungen zur Transkription
Das Original ist in Fraktur gesetzt.
Im Original gesperrter Text ist so ausgezeichnet.
Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich
am Ende des Buches.
Der deutsche Spielmann
Eine Auswahl aus dem Schatze deutscher Dichtung
für Jugend und Volk
Herausgegeben von Dr. Ernst Weber
✥
Tag und Nacht
Der Stunden schneller Wechsellauf
vom Morgengraun bis Mitternacht
Bildschmuck von Otto Bauriedl
Zweite, veränderte Auflage
✥
München 1924
Georg D. W. Callwey + Verlag des deutschen Spielmanns
Druck von Kastner & Callwey, München
[3]
Geleitspruch des deutschen Spielmanns
Tag und Nacht – im Wechsel schweben
Sie durch unser Erdenleben;
Ihnen folgt der Stunden Schar.
Morgenlicht und Dämmerdunkel,
Sonnenglanz und Sterngefunkel
Tragen sie als Kranz im Haar.
Leicht und frisch und frei von Sorgen
Tritt der schöne Knabe Morgen
Aus dem goldbesonnten Tor.
Tausend Hände werden rege,
Menschenlaut die stillsten Wege;
Froh erschallt der Vöglein Chor.
Mittag naht – und ernster schreiten
Seine Stunden ihm zur Seiten;
Immer müder wird ihr Schritt,
Bis aus kühlem Waldesschatten
Auf die taubenetzten Matten
Leichtbeschuht der Abend tritt.
Seiner Hand entsinkt die Leier,
Und ein sternbesäter Schleier
Spannt sich wie ein Baldachin
Über weite Himmelsräume,
Und ins Reich der schönen Träume
Lockt die stille Königin.
Tag und Nacht hält uns umwunden:
Alle unsre Lebensstunden,
Dunkel bringen sie und Licht,
Bis beim letzten Abendglühen
Eine Hand den Flor darf ziehen
Über unser bleich Gesicht.
Der deutsche Spielmann
[4]
Vor dem Morgen
Es zieht ein fahler Schein
Am Himmel auf; hellroter Schimmer
Glänzt schon die Wolken an von Osten her.
Die Sterne sinken unter, wie im Meer
Todmüde Schwimmer.
Vom Bett aufsteht der Wind.
Schlaftrunken noch, im halben Traume,
Greift in die Luft ein Zweig, kühl angeweht,
Und schwankt und zittert, und ein Schauer geht
Von Baum zu Baume.
Ein Vogel ruft im Holz,
Ein andrer noch; aus allen Nestern
Wird froh der Tag begrüßt, der sich erneut.
Begehrend drängt das Leben sich zum Heut,
Fern liegt das Gestern.
Johannes Trojan
Morgengrauen
Noch ist im sternenvollen Raum
Der frischen Nacht kein Hauch zu spüren.
Zuweilen nur im halben Traum
Wie schauernd sich die Wipfel rühren.
Noch liegt es rings auf Feld und Au
Wie namenloser Trauer Schweigen;
Die Gräser stehn gebeugt im Tau,
Die Vögel schlummern in den Zweigen.
Da trägt ein Hauch vom Himmelszelt
Den ersten Lerchenjubel nieder;
Ein Schimmer überhaucht die Welt,
Und rein ersteigt der Tag uns wieder.
Wilhelm Weigand
[5]
Das Christusbild
Im Walde oben auf dem Berge, im Gerank von wilden
blühenden Rosen, hängt Christus am Kreuze an der weißgetünchten
alten Kapelle.
Sein Mund ist im Schmerz halb geöffnet, rote, schwere Blutstropfen
quellen unter dem Dornenkranze hervor und rieseln aus
der Seitenwunde über den grauen Schurz, der seine Blößen deckt.
So hat er dort gehangen, Jahrhunderte hindurch, Mitleid
und Schrecken allen Betern.
Aus dem Dorf unten im Tal klingen die Glocken der Frühmette
herauf …
Ein Vogel beginnt mit leisem Gesange … und nun geht die
Sonne groß hinter dem Walde auf …
Sie sendet ihre hellen Strahlen durch Birkengrün und Tannendunkel
… feines Klingen läuft vor ihnen her.
Und weiter fliegen die Strahlen bis an die alte Kapelle …
Die weiße Wand entlang … und treffen das Heilandsbild mit
ihrem vollen warmen Glanze …
Ein heimliches Flüstern wacht auf in den Bäumen, die
wilden Rosen neigen sich im Morgenwind, und über das traurige
schmerzerfüllte Antlitz des Gekreuzigten geht ein mildes, sonniges
Lächeln …
Albert Sergel
Neues Leben
Der Himmel glänzt wie Seide,
Ein junger Tag erwacht;
Was ich gelitten habe,
Es starb in dieser Nacht.
Das war ein stilles Sterben
– Die Bäume rauschten kaum –
Das war ein süßes Sterben,
Ein Sterben wie im Traum.
Nun soll durch meine Nächte
Ein tiefer Friede gehn,
Und meine junge Sehnsucht
So in der Sonne stehn.
Oskar Wiener
[6]
In der Frühe
Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
Dort gehet schon der Tag herfür,
An meinem Kammerfenster.
Es wühlet mein verstörter Sinn
Noch zwischen Zweifeln her und hin
Und schaffet Nachtgespenster.
– Ängste, quäle
Dich nicht länger, meine Seele!
Freu dich! Schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.
Eduard Mörike
Morgendämmerung
Die Nacht liegt ausgebreitet,
Erquickt die Erde ruht,
Der Mond, der zitternde, gleitet
Hinab in düsterer Glut.
Noch stehn am Himmelsraume
Gestirne sonder Zahl.
Am fernen dämmernden Saume
Zuckt schon ein purpurner Strahl.
Die Vögel werden munter,
Der Hahn ist längst erwacht,
Leis ziehen die Schatten hinunter,
Hinunter die tauende Nacht.
Martin Greif
Vogelmette
Dringt das erste Dämmerlicht
Grüßend mir ans Bette,
Hör ich vor dem Fenster dicht
Eine Vogelmette.
Hell vom Platz vor meinem Haus,
Wo die Sträucher ranken,
Klingt sie in die Stadt hinaus
Wie ein kindlich Danken.
[7]
Leise da und dort erwacht
Erst ein Vogelseelchen,
Und halb schlummernd noch und sacht
Stimmen sich die Kehlchen.
»Guten Morgen!« hör ich’s dann,
»Fehlen denn auch keine?«
»Munter, Kinder, fangt nur an:
Noch sind wir alleine!«
Und nun setzt es silbern ein,
Keusch in jedem Klange,
Vogelfröhlich, glockenrein,
Frisch zum Morgensange!
Innig wie ein Kinderlied,
Wie ein Märchen traulich,
Daß es durch die Lüfte zieht
Wundersam erbaulich.
Wie es schwillt und wogt und rollt
Und zum Schöpfer schwebt,
Bis das erste Sonnengold
Um die Dächer webt!
Ferdinand Avenarius
Die Wolke
Noch ist es still. Noch schlummert rings die Erde.
Nur frühe Vöglein zwitschern, halb im Traum.
Hoch droben segelt eine lichte Wolke
Im Morgendämmern durch den Himmelsraum.
Und schwebend, wie auf weitgespannten Schwingen,
Gleicht einem Engel sie, der heimwärts zieht;
Vielleicht hat an verlaßnem Sterbelager,
Ein stiller Hüter, er zur Nacht gekniet,
Vielleicht auf eine Stirn in Fiebergluten
Mit lindem Trost die kühle Hand gelegt,
Vielleicht ein leidgeprüftes Herz beruhigt,
Das hoffend nun dem Licht entgegenschlägt …
[8]
… Da ich noch sinnend in die Ferne träume,
Zerfließt die Wolke still im Sonnenschein.
Der Himmel öffnet seine blauen Tore:
Er läßt den heimgekehrten Seraph ein.
Alice von Gaudy
Der Morgen
Der erste Strahl von Osten her
Fliegt kräftig, wie ein lichter Speer,
Die Finsternis zu töten.
Es steigt von ungesehnem Chor
Der Lerchen Sang zum Herrn empor
In jubelnden Gebeten.
Die Blume wacht aus Träumen auf
Und schaut zum Himmel still hinauf,
Ihr Auge weint und lächelt,
Und rascher jeder Pulsschlag strebt,
Und alles jauchzt, und alles lebt,
Vom frischen Hauch umfächelt.
Und alldurchdringend blitzt der Strahl,
Er gleitet in das stille Tal,
Was er berührt, das scheinet;
Er trifft ein niederes Hüttendach,
Wo grad ein treues Herze brach,
Das lang umsonst geweinet.
Friedrich von Sallet
In Hangen und Bangen
Zerstoben sind die Wolkenmassen,
Die Morgensonn ins Fenster scheint:
Nun kann ich wieder mal nicht fassen,
Daß ich die Nacht hindurch geweint.
Dahin ist alles, was mich drückte,
Das Aug ist klar, der Sinn ist frei,
Und was nur je mein Herz entzückte,
Tanzt wieder, lachend, mir vorbei.
[11]
Es grüßt, es nickt; ich steh betroffen,
Geblendet schier von all dem Licht:
Das alte, liebe, böse Hoffen –
Die Seele läßt es einmal nicht.
Theodor Fontane
Für und für
Im ersten matten Dämmer thront
Der blasse, klare Morgenmond.
Der Himmel zeigt ein kühles Blau,
Der Wind knipst Perlen ab vom Tau.
Der Friede zittert: ungestüm
Reckt sich der Tag, das Ungetüm,
Und schüttelt sich und brüllt und beißt,
Und zeigt uns so, was leben heißt.
Die Sonne hat den Lauf vollbracht,
Und Abendröte, Mitternacht.
Im ersten matten Dämmer thront
Der blasse, klare Morgenmond.
Und langsam frißt und frißt die Zeit
Und frißt sich durch die Ewigkeit.
Detlev v. Liliencron
Stille Tränen
Du bist vom Schlaf erstanden
Und wandelst durch die Au,
Da liegt ob allen Landen
Der Himmel wunderblau.
So lang du ohne Sorgen
Geschlummert schmerzenlos,
Der Himmel bis zum Morgen
Viel Tränen niedergoß.
In stillen Nächten weinet
Oft mancher aus den Schmerz,
Und morgens dann ihr meinet,
Stets fröhlich sei sein Herz!
Justinus Kerner
[12]
In der Frühe
Goldstrahlen schießen übers Dach,
Die Hähne krähn den Morgen wach;
Nun einer hier, nun einer dort,
So kräht es nun von Ort zu Ort;
Und in der Ferne stirbt der Klang –
Ich höre nichts, ich horche lang.
Ihr wackern Hähne, krähet doch!
Sie schlafen immer, immer noch.
Theodor Storm
Morgenwind
Wenn noch kaum die Hähne krähen,
Macht sich auf der Morgenwind,
Feget aus mit starkem Wehen
Stadt und Flur und Wald geschwind.
Allen Bäumen in der Runde
Schüttelt er die Locken aus,
Weckt die Blümlein in dem Grunde,
Lockt die Lerch ins Tal hinaus.
[13]
Nebel, die an Bergen hangen,
Jagt er ohne Gnade fort;
Kommt Frau Sonne dann gegangen,
Find’t sie sauber jeden Ort.
Will sie bei dem treuen Winde
Sich bedanken in Person,
Ist er, daß ihn keiner finde,
Über alle Berge schon.
Paul Heyse
Gruß der Sonne
Aus den braunen Schollen springt die Saat empor,
Grüne Knospen rollen tausendfach hervor.
Und es ruft die Sonne: »Fort den blassen Schein!
Wieder will ich Wonne, Glut und Leben sein!
Wieder wohlig zittern auf dem blauen Meer
Oder zu Gewittern führen das Wolkenheer!
In den Frühlingsregen sieben Farben streun
Und auf Weg und Stegen meinen goldnen Schein!
Ruhn am Felsenhange, wo der Adler minnt,
Auf der Menschenwange, wo die Träne rinnt!
Dringen in der Herzen kalte Finsternis,
Blenden alle Schmerzen aus dem tiefsten Riß!
Bringt – ich bin die Sonne – an das Kerkertor,
Was ihr habt gesponnen winterlang, hervor.
Alle finstern Hütten sollen Mann und Maus
Auf die Aue schütten, an mein Licht heraus!
Mit all euren Schätzen lagert euch herum,
Wendet eure Fetzen vor mir um und um!
Daß durch jeden Schaden leuchten ich und dann
Mit dem goldnen Faden ihn verweben kann!«
Gottfried Keller
[14]
Morgenlied
Mit edlen Purpurröten
Und hellem Amselschlag,
Mit Rosen und mit Flöten
Stolziert der junge Tag.
Der Wanderschritt des Lebens
Ist noch ein leichter Tanz,
Ich gehe wie im Reigen
Mit einem frischen Kranz.
Ihr taubenetzten Kränze
Der neuen Morgenkraft,
Geworfen aus den Lüften
Und spielend aufgerafft –
Wohl manchen ließ ich welken
Noch vor der Mittagsglut;
Zerrissen hab ich manchen
Aus reinem Übermut!
[15]
Mit edeln Purpurröten
Und hellem Amselschlag,
Mit Rosen und mit Flöten
Stolziert der junge Tag –
Hinweg, du dunkle Klage,
Aus all dem Licht und Glanz!
Den Schmerz verlorner Tage
Bedeckt ein frischer Kranz.
C. F. Meyer
Pförtners Morgenlied
Verschwunden ist die finstre Nacht,
Die Lerche schlägt, der Tag erwacht,
Die Sonne kommt mit Prangen
Am Himmel aufgegangen.
Sie scheint in Königs Prunkgemach,
Sie scheinet durch des Bettlers Dach,
Und was in Nacht verborgen war,
Das macht sie kund und offenbar.
Lob sei dem Herrn und Dank gebracht,
Der über diesem Haus gewacht,
Mit seinen heilgen Scharen
Uns gnädig wollt bewahren!
Wohl mancher schloß die Augen schwer
Und öffnet sie dem Licht nicht mehr;
Drum freue sich, wer neu belebt
Den frischen Blick zur Sonn erhebt!
Friedrich Schiller
Guter Rat
Des Morgens denk an deinen Gott,
Des Mittags iß vergnügt dein Brot,
Des Abends denk an deinen Tod,
Des Nachts verschlafe deine Not!
Volksmund
[16]
Mittagsstille
Am Waldsaum lieg ich im Stillen,
Rings tiefe Mittagsruh,
Nur Lerchen hör ich und Grillen
Und summende Käfer dazu.
Die Falter flattern im Kreise,
Kein Blatt rührt sich am Baum,
Die Gräser beugen sich leise,
Halb wach ich, halb lieg ich im Traum.
Martin Greif
Um die dritte Stunde
Die dritte Stunde nachmittags,
Das ist die müde Stunde,
Es geht das Zittern ihres Schlags
Wie Lähmung in die Runde.
Da liegt sie stumm, die heiße Welt,
Verschmachtet und begraben;
[17]
Der Glutengott alleine hält
Die Fackel noch erhaben.
Wie Wüstenodem tödlich drückt
Sein schwüles Reich die Matten,
Und von des Turmes Kuppel bückt
Sich welk der müde Schatten.
Verlechzend ist auf dürrem Moos
Das Flurgeräusch entschlafen,
Die Welle schlürft gedankenlos
Ums träge Schiff im Hafen.
Wie ein erschlagner Riese schweigt
Die glühe Felsenflanke;
Im Menschenhaupt hat sich geneigt
Zum Schlummer der Gedanke.
Kein Laut ergeht, kein Hauch, kein Lied
Gibt noch von Leben Kunde,
Als ob der Erdengeist verschied
Um diese dürre Stunde.
J. G. Fischer
Nach trübem Tage
Der Tag war trüb; nun will das Licht
Im Scheiden noch den Gram besiegen;
Es übt die alte Liebespflicht,
Und Stadt und Hain im Schimmer liegen.
Die Bäume standen schwer vergrollt,
Als gäb es nirgends einen Retter –
Nun brach hervor das Sonnengold
Und leuchtet lächelnd durch die Blätter.
Hanns von Gumppenberg
Abendlied
Ich stand auf Berges Halde, als heim die Sonne ging,
Und sah, wie überm Walde des Abends Goldnetz hing.
Des Himmels Wolken tauten der Erde Frieden zu,
Bei Abendglockenlauten ging die Natur zur Ruh.
[18]
Ich sprach: »O Herz, empfinde der Schöpfung Stille nun,
Und schick mit jedem Kinde der Flur dich auch, zu ruhn.«
Die Blumen alle schließen die Augen allgemach,
Und alle Wellen fließen besänftiget im Bach.
Nun hat der müde Sylphe sich unters Blatt gesetzt,
Und die Libell am Schilfe entschlummert taubenetzt.
Es ward dem goldnen Käfer zur Wieg ein Rosenblatt;
Die Herde mit dem Schäfer sucht ihre Lagerstatt.
Die Lerche sucht aus Lüften ihr feuchtes Nest im Klee,
Und in des Waldes Schlüften ihr Lager Hirsch und Reh.
Wer sein ein Hüttchen nennet, ruht nun darin sich aus;
Und wen die Fremde trennet, den trägt ein Traum nach Haus.
Mich fasset ein Verlangen, daß ich zu dieser Frist
Hinauf nicht kann gelangen, wo meine Heimat ist.
Friedrich Rückert
Der letzte Glanz
Vom Berge kamen wir daher
Nach Sonnenuntergang;
Tief unten stieg ein Nebelmeer
Empor den Fluß entlang.
Wie dunkel drüben Wald und Rain,
Schwarz dort die Felsenkluft! –
Doch lag noch roter Sonnenschein
Hoch oben in der Luft.
So scheidet alles – auch das Glück,
Wenn’s dir entwichen ganz,
Es läßt doch in der Luft zurück
Noch einen letzten Glanz.
Adolf Bartels
[19]
Der Sandmann
Der Abendwind säuselt im Strauche der Schlehn.
Die Herbstzeitlosen im Felde stehn.
Die Mondsichel blitzt aus ätherischem Blau,
In den Wiesengräsern glitzert der Tau.
Auf der Landstraße zieht eine eigne Gestalt –
Hat Flugsand zu Menschenleib sich geballt?
[20]
Was will denn der Wandrer abends noch spät,
Daß er Körner ausstreut, wie ein Mann, der sät?
Sein Haupthaar ist Sand, und sein Vollbart ist Sand,
Und in sandigen Falten fließt sein Gewand.
Von Sand ist sein Mantel, von Sand ist sein Hut,
Nur die Augen schillern in grünlicher Glut;
Drin lodert bald grünlich, bald bläulich der Brand,
Und es knistert sein Wandeln wie rieselnder Sand.
Vom wachsgelben Körper im Mondsichelschein
Die Sandkörner glühn wie Geschmeid und Gestein.
Von fern aus milchweißem Nebelflor
Tauchen Mauern und Türm einer Stadt empor.
Und er schlüpft, eine Welle sickert so fein,
In die mondhellen Gassen durchs Tor hinein.
Durch die Fenster die Menschen er sitzen sieht,
Beim Abendbrot und beim Abendlied.
Die Mutter erzählt im Kinderkreis
Ein grusliches Märchen, flüsternd leis.
Da tönt von den Türmen Spätglockengeläut,
Und der Sandmann ins Zimmer die Körner streut.
Er schleudert in Garben aus blinkender Hand,
Wie ein Regen von Sternen, den goldenen Sand.
Und den Kleinen, pausbäckig und märchenfrisch,
Sinken traumschwer die Wimpern über den Tisch.
Das sticht so dornig, das prickelt so spitz,
Sie reiben die Augen, da leuchtet’s wie Blitz.
Die Mutter den Ruf aber schallen läßt:
»Der Sandmann ist da! Flugs, Kind, ins Nest!«
Heinrich Vierordt
[21]
Maiabend
Amsel singt ihr letztes Lied
Und versteckt ihr Köpfchen,
Vom vergangnen Regen müd
Sickert’s noch in Tröpfchen.
Zarte Frühlingswehmut webt
Träumerisches Schweigen,
Und ein süßes Sehnen schwebt
In den dunkeln Zweigen.
Ferdinand Avenarius
Die Sonne liegt im Sterben
Die Sonne liegt im Sterben, da kommen allzumal
In langen, weißen Kleidern die Wolken in den Saal.
Als alle sich versammelt an ihres Bettes Rand,
Vermacht sie jeder Wolke ein feuerrotes Band.
Und mit den roten Bändern, wie prahlen sie so sehr!
Und wenn die Sterne kommen, so hat es keine mehr.
Hermann von Gilm
[22]
Mailied
Ich sah dem Glanz der Sonne nach,
Sie brückte ganz mit Gold den Bach.
Und als ihr Bild ich sah nicht mehr,
Da glänzt’ es mild vom Rücken her.
Um wandt ich mich, der Mond ging auf.
Die Sonn entwich; nun komm im Lauf!
Der Sonne Gold zerschmolz im Bach;
Nun streu ihm hold dein Silber nach!
So zwischen Gold und Silberglanz,
O flösse hold mein Leben ganz!
Friedrich Rückert
Sonnenuntergang
Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir
Von aller deiner Wonne; denn eben ist’s,
Daß ich gelauscht, wie, goldner Töne
Voll, der entzückende Sonnenjüngling
Sein Abendlied auf himmlischer Leier spielt’;
Es tönten rings die Wälder und Hügel nach,
Doch fern ist er zu frommen Völkern,
Die ihn noch ehren, hinweggegangen.
Chr. Friedr. Hölderlin
Die Großmutter
Großmutter, wie wir noch Kinder waren,
War selbst schon ein Kind mit schneeweißen Haaren,
Nun hatte sie gar keine Freude mehr,
Und bloß ihre Lampe liebte sie sehr.
Mit der hat sie immerfort was gesprochen.
Und war kaum die Dämmrung angebrochen,
Saß sie beim Tisch im Lampenlicht
Und wackelte mit dem Runzelgesicht.
[23]
Und wollten wir Schlimmen sie abends erschrecken,
Mußten bloß die Köpfe zur Türe reinstecken.
Dann weinte sie: »Macht doch die Türe zu,
Laßt doch die arme Lampe in Ruh!« –
Und hob die kleinen, verschrumpelten Hände
Und hielt sie vors Lämplein wie eine Blende
Und weinte: »Aber, aber! Ihr Schlimmen! Nein, nein!
Macht doch zu! Ihr laßt ja das Dunkel herein!«
Aber einmal, da sind wir’s nicht gewesen,
Und die Lampe war doch erloschen gewesen,
Und die Tür stand auf und der Tag war schon licht,
Und Großmutter saß und rührte sich nicht …
Hugo Salus
Mondaufgang
Seltsam in den Büschen Schatten und fahles Licht –
Sie stehen rings um mich herum mit fragendem Gesicht,
Sehn alle ernst zum Monde hin – der steigt aus der Erd empor,
Steigt wie eines toten Königs Geist aus seiner Gruft hervor
Blickt groß und traurig um sich her – da wandelt’s bleich übers Feld,
Wird alles eine andere, wird wieder seine Welt.
Ferdinand Avenarius
Feierabend
In einen brennenden Abendhimmel
aus Staub und Dunkel
steigt der Dom.
Seine Glocken läuten.
Die kleinen Linden stehen schwarz,
vor ihren Türen sitzen die alten Leute.
Feierabend!
Die Gassen schweigen.
Die Glut erlischt,
am Himmel
leise
ziehn die ewigen Sterne auf.
Arno Holz
[24]
Abendlied
Der Mond ist aufgegangen,
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar;
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämmrung Hülle
So traulich und so hold!
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.
Seht ihr den Mond dort stehen? –
Er ist nur halb zu sehen
Und ist doch rund und schön!
[25]
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel.
Gott, laß uns dein Heil schauen,
Auf nichts Vergänglichs trauen,
Nicht Eitelkeit uns freun!
Laß uns einfältig werden
Und vor dir hier auf Erden
Wie Kinder fromm und fröhlich sein!
Mathias Claudius
Der Abendfriede
Es saßen zwei alte Leute, Mann und Frau, auf der Steinbank
vor ihrem Häuschen; zwei steinalte Leute. Sie waren
schon so lange miteinander verheiratet, daß sie sogar die goldene
Hochzeit gefeiert hatten, und das will schon etwas sagen.
Recht würdige alte Menschen geben immer ein rührendes
Bild ab! Sie gleichen ein wenig jenen hohen, einsamen, schneeweißen
Alpengipfeln, die man auch nie ohne tiefe Rührung
sehen kann: so spärlich und einsam stehen sie unter den zahlreichen
Häuptern jüngerer Geschlechter, so still und ernst und
groß muten sie an, so weit vermag ihr Blick in die Ferne zu
schweifen; und wie jene entbehren sie den Schmuck blühender,
schwellender Lebenskraft: weiß liegt es auf ihrem Scheitel, und
runzlig ist ihre Haut wie der zerrissene und zerklüftete Fels
der Firnen. Besonders rührend aber ist ein altes Ehepaar,
welches durch ein ganzes Leben mit Leid und Lust wie zu
einem einzigen Menschen zusammengeschmiedet worden ist, so daß
Mann und Frau gar nicht mehr fühlen, wie sie sich lieb haben.
Sie saßen beide ganz still; denn die Stunde war nahe, wo
der Abendfriede durch die Luft zieht, und da wird es in jedem
Herzen still, am meisten aber bei alten Leuten.
[26]
Sie dachten an dies und das, an die Vergangenheit und an
die Zukunft.
Die laue Sommerabendluft strich um das Häuschen so weich
wie Kinderatem. Über die Wiesen und Äcker mit dem grünen
Sammet und dem gilbenden Ährensegen zog sich der Widerschein
der Abendröte; die Grillen zirpten, die letzten Lerchen wirbelten
im Trichterfluge zu ihren Nestern nieder, und ferne begannen die
Geisterrufe des Wachtelkönigs.
Im Dorfe scholl munterer Kinderlärm und über allem
Irdischen in hoher Luft Glockenläuten, das Läuten der Feierabendglocken.
Immer stiller ward es; die Glocken verklangen, das Abendrot
verglühte, und jetzt tauchte blitzend an dem dämmernden
Himmel der erste Stern auf.
Da kam er, der Abendfriede. Von dem Stern flog er her,
schnell wie das Licht fliegt, ganz etwas Unsichtbares. Wenn
einmal einen Augenblick gar nichts weiter zu hören war, selbst
nicht das leise Wehen des Windes, dann spürte man im Ohr
ein Flügelrauschen, aber ganz schwach; das kam von ihm. Er
war eine Art Engel und der blinkende Stern droben seine
Wohnung.
Er blieb heute lange bei den zwei alten Leuten; er schwebte
um sie, und so oft er über sie hinstrich, schüttelte er ein wenig
die Flügel, da rieselte es auf sie nieder, wunderbare Tropfen
der Erquickung, daß ihnen das Herz freudiger schlug als sonst.
»Es ist doch schön auf Gottes Welt, Gertrud,« sagte der
alte Mann; »es will mir gar nicht recht zu Kopf, daß wir nun
bald fort müssen. Ich glaube, ich könnte dreimal so alt werden,
wie ich bin, und ich würde mir nicht wünschen, meines Leibes
ledig zu werden.«
»Red nicht so, Heinrich,« antwortete das alte Mütterchen
und hüstelte ein wenig; »das ist doch dein Ernst nicht. Wir
haben beide allerlei Gebresten, die uns quälen, wenn auch gerade
nicht auf diese Stunde. Ich weiß wohl, was ich mir alle Nächte
wünsch, wenn der Husten kommt, daß man nicht schlafen kann
und denkt: Hüter, ist die Nacht schier hin? Oder wenn mir
die Hand zu zittern anfängt, daß die Arbeit hinausfällt auf
den Estrich. Ein älter Mensch ist so mürbe und zerrieben, daß
er froh sein muß, wenn er auseinandergeht und die müde Seele
Frieden findet.«
[27]
[29]
»Nein,« sprach der Greis wieder, »ich fühl’s nimmer, daß
mir so zumute wäre. Der Tod ist alleweg ein bitteres Kraut,
da wollen wir uns nichts einreden. Vielleicht wenn ich meine
Kräfte nicht mehr hätte, daß mir das Auge trübe oder das
Ohr taub wäre oder mir kein Essen mehr schmecken möchte:
daß ich dann lieber stürbe als jetzt. Aber so weiß ich schon, ich
werd ein schweres Sterben haben, wenn ich denke, daß ich nachher
Gottes Sonne nicht mehr sehe und das liebe Gewächs, mit
dem ich mich mein Lebtag abgegeben habe, und alles das nicht
mehr höre, was mich immer gefreut hat, die Vögel, die Kinder
im Dorf, die Orgel und die Glocken.«
So redeten sie eine Weile hin und her, und über ihnen
auf der Laube saß unsichtbar der Abendfriede und lächelte so
lieb, wie Engel lächeln.
Er hörte jedem Wort zu, das sie sprachen, und endlich
wurde er nachdenklich.
Er dachte sich etwas aus, etwas recht, recht Schönes. Und
endlich hatte er das Richtige. Aber er konnte es nicht ausführen,
wie er wollte. Ohne den lieben Gott, der erst ja dazu
sagte, ging das nicht.
Die beiden alten Leute begaben sich in das Häuschen, und
er flog weiter und schüttelte seine Schwingen recht oft; denn er
war jetzt ganz besonders froh. Reichlicher als sonst lag die
Welt voll von dem Wundertau der Erquickung, als er zum
Himmel aufstieg.
Er schwebte diesesmal bei seinem Stern vorüber, zu Gott
hin. Und als er dort gesagt, was er sich ausgedacht hatte, da
lächelte ihm der himmlische Vater zu und nickte.
Und nun war der Abendfriede erst recht glücklich.
Einmal des Abends blieb er bei dem Häuschen und wartete,
bis die beiden alten Leute schliefen. Da huschte er in die
Schlafstube hinein und erlöste die Seele des alten Mütterchens
von ihrem Leibe, ganz in der Stille.
Wie ward die so froh und jung! Sie sah den Abendfrieden
an und sagte: »Dich kenne ich, du mußt des Abends manchesmal
um uns gewesen sein.«
»Ja,« nickte der ihr zu. »Ich bin der Abendfriede. Ich
will dich mit zu meinem Stern hinaufnehmen. Er hat das
allersanfteste Licht, und sanft und friedlich wie sein Licht ist
alles auf ihm.«
[30]
»Ach,« sagte die Seele des alten Mütterchens, »willst du
mich allein erlösen und ihn dort nicht?«
Und sie zeigte nach dem Bett, in dem der alte Mann schlief,
welcher keine Lust hatte, von der Erde zu scheiden.
»Noch nicht,« nickte der Abendfriede zu dem Bett hinüber.
»Aber bald!« Und er lächelte wie in Gedanken.
Das sah die Seele der alten Frau, und es überkam sie so
friedlich und freudig; und die beiden schwebten himmelauf, zu
dem Stern hin.
Acht Tage lang ließ sich der Abendfriede nicht bei dem
Häuschen spüren; nur im weiten Bogen flog er um dasselbe
herum. Dann kam er wieder zu der Steinbank.
Aber der alte Mann war nicht auf der Steinbank.
Er guckte in das Fenster, und da sah er ihn drinnen auf
der Ofenbank sitzen und schlüpfte zu ihm in das Stübchen.
Der arme alte Mann war ganz allein. So wehmütig sah
es aus, wie er ganz versunken dasaß, die braunen, schwieligen
Hände zwischen den Knien zusammengelegt. Er weinte nicht;
aber seine Augen waren rot, und er hatte das weiße Haupt
gesenkt und rührte sich nicht. Die Kuckucksuhr an der Wand
tickte so eilig, als ob sie etwas versäumt hätte, und das Herz
des Greises tickte auch, aber so müde, so langsam!
Neben ihm lagen das Gesangbuch und die Brille; und in dem
aufgeschlagenen Gesangbuch war ein Lied zu sehen, das fing an:
»Jerusalem, du hochgebaute Stadt,
Wollt Gott, ich wär in dir:
Mein sehnlich Herz so groß Verlangen hat
Und ist nicht mehr bei mir.
Weit über Berg und Tale
Und über blaches Feld
Schwingt es sich über alle
Und eilt aus dieser Welt.«
Der Abendfriede las das und hatte wieder ein Engelslächeln
auf den Lippen.
Nun fing der alte Mann an, vor sich hin zu sprechen.
»Sonst saßen wir um diese Zeit auf der Bank draußen.
Aber nunmehr bringe ich es nicht über das Herz, hinauszugehen.
Es ist mir alles vergällt. Das Licht tut meinen Augen
weh, von dem Vogelgepiep und Kinderschreien schmerzen mir
die Ohren, und wenn ich die Glocken so läuten höre, quält es[31]
mich da drinnen, wo das Herz sitzt. Die Glocken haben auch
geläutet, als wir mein altes Mütterchen Gertrud begraben haben.
Was soll ich auch noch auf der Welt? Das möchte ich
wissen. Ich ginge je eher je lieber hinaus. Aber da läßt
mich’s nicht, als ob die Welt ohne mich nicht bestehen könnte.
Jeder kann froh sein, der erlöst ist.
Ach, lieber Tod, komme bald!
Ich glaube, daß er wirklich kommt; denn ich weiß nicht,
wovon mir jetzt so wohl wird.«
Er konnte es nicht merken, daß der Abendfriede über ihm
flog und seine Flügel schüttelte. Der Wundertau rieselte über
ihn, das war es, was ihm so wohl tat.
Der Tod kam nicht; aber erlöst wurde er doch in der Nacht,
so sanft wie das alte Mütterchen, und es war wieder der
Abendfriede, der ihn erlöste. Der Tod mit der Sense schneidet
bloß in ein Leben, das anders nicht zerreißen will.
»Ach, das ist schön,« sagte die Seele des alten Mannes zu
dem Engel. »Nun führe mich zu meinem lieben alten Mütterchen!«
Und der Abendfrieden nickte.
»Weißt du noch,« sprach er unterwegs, »wie du die Erde
so schön fandest und gar nicht begreifen mochtest, daß man sie
gern verlassen könnte?«
Die Seele dachte nach.
»Das muß wohl gewesen sein, ehe Gertrud starb.«
»Freilich,« meinte der Abendfriede; »ich habe sie dir eben
genommen, damit du anderen Sinnes würdest; denn ich wußte,
alsdann würdest du dich bekehren. Und soll ich dir sagen,
warum ich das wünschte?«
»Nun?«
»Die da widerwillig sterben, mäht der Tod, und sie kommen
an einen anderen Ort als die, welche den ewigen Frieden ersehnten.
Ich aber wollte euch beide gern zusammen und bei
mir haben: das war’s.«
Wie das Antlitz des Abendfriedens leuchtete! Hast du
schon eines Menschen Gesicht glänzen gesehen, der eben eine
gute Tat getan? So ungefähr, aber viel verklärter.
Victor Blüthgen
[32]
Abendsegen
I.
Das ist des Abends Segen
Und seine stille Tat,
Daß Sturm und Kampf sich legen,
Wenn seine feuchten Schwingen
Hinschatten übern Pfad.
Das hat er vor dem Tage,
Daß er des Herzens Drang,
Daß Sorgen er und Plage
Besänftigt still mit mildem,
Mit süßem Schlafgesang, –
[33]
Daß er mit dichtem Schleier
Des Landmanns Pflug umhüllt,
Mit stiller Dankesfeier
Die Hütten und die Herzen
Allüberall erfüllt …
Hans Benzmann
II.
Die Abendglocken ferne
Läuten den Tag zur Ruh,
Die Augen tun auf die Sterne,
Die Blumen die Augen zu.
Die Vöglein in den Bäumen,
Sie schweigen alle still:
Ein jedes heimlich träumen
Vom goldnen Morgen will.
Die Schiffe ruhn im Hafen,
Keine Welle regt sich mehr,
So geh auch du nun schlafen
Und bange nicht so sehr.
Und laß den Vater sorgen,
Der über den Sternen wacht:
Er segnet mit Freuden den Morgen,
Er segnet mit Frieden die Nacht.
Friedrich Güll
Heimgang
Der Mond steigt überm Hügel her,
Mein Weg erglänzt in seinem Licht,
Der Wind hebt kaum die Flügel mehr,
Legt sich ins Korn und rührt sich nicht.
Vom Tal herauf rauscht leis ein Gruß,
Ist es durch Wiesen hin der Bach?
Was zögerst du und sinnst, mein Fuß
Geh nur der lieben Stimme nach.
[34]
Da drängt sich Hütt an Hütte traut
Ums Kirchlein hin. Ein Glöcklein geht,
Und friedeselig übertaut
Spricht still mein Herz sein Nachtgebet.
Gustav Falke
Abendwolke
So stille ruht im Hafen
Das tiefe Wasser dort.
Die Ruder sind entschlafen,
Die Schifflein sind im Port.
Nur oben in dem Äther
Der lauen Maiennacht,
Dort segelt noch ein später,
Friedfert’ger Ferge sacht.
Die Barke still und dunkel
Fährt hin in Dämmerschein
Und leisem Sterngefunkel
Am Himmel und hinein.
C. F. Meyer
[35]
Ruhetal
Wann im letzten Abendstrahl
Goldne Wolkenberge steigen
Und wie Alpen sich erzeigen,
Frag ich oft mit Tränen:
»Liegt wohl zwischen jenen
Mein ersehntes Ruhetal?«
Ludwig Uhland
Der Abendfriede
Von Disteldolden tropft der Tau,
Die Wiese schwimmt in Nebelgrau,
Und zitternd über die Blumenflur
Wellt schrill der Schlag der Klosteruhr …
Schwül weht des Abends feuchter Hauch,
Schwer überm Moore liegts wie Hauch
So fahl und grau, – und her und hin
Glimmt’s wie ein Lämplein goldig drin …
Und über Moor und Wiesenrain
Zieht stumm ein Mann im Heiligenschein:
Ein Klostermännlein, grau und krumm,
Ein Heiliger geht im Felde herum …
Sein Lämplein schwingt er dann und wann,
Summt übers Korn den Friedensbann –
Dünn klingt und schrill die Klosteruhr …
Ein Leuchtwurm zieht die goldne Spur …
Hans Benzmann
Abend
Wir stehn und schaun und sprechen kein Wort –
Der Abend zerflattert auf dunklen Wiesen.
Strenge Schatten kommen vom Torf,
Steigen als stumme Riesen
Über die Schollen behutsam fort
Ins Dorf. –
Wilhelm von Scholz
[36]
Meeresabend
Sie hat den ganzen Tag getobt
Als wie in Zorn und Pein,
Nun bettet sich, nun glättet sich
Die See und schlummert ein.
Und drüber zittert der Abendwind,
Ein mildes, heiliges Wehn,
Das ist der Atem Gottes,
Der schwebet ob den Seen.
Es küßt der Herr aufs Lockenhaupt
Die schlummernde See gelind
Und spricht mit säuselndem Segen:
»Schlaf ruhig, liebes Kind!«
Moritz von Strachwitz
Ein Tageslauf
Sitz ich sinnend, Haupt in Hand gestützt;
Schöner Tag, hab ich dich recht genützt?
[37]
Einen Kuß auf meines Weibes Mund,
Liebesgruß in früher Morgenstund.
Sorg ums Brot in treuer Tätigkeit,
Offnes Wort in scharfem Männerstreit.
Einen guten Becher froh geleert,
Kräftig einem argen Wunsch gewehrt.
Leuchtend kommt aus ewigem Sternenraum
Noch zuletzt ein seliger Dichtertraum.
Sinnend sitz ich, Haupt in Hand gestützt:
Schöner Tag, ich hab dich ausgenützt.
Gustav Falke
Am Abend
Sinkt der Tag in Abendgluten,
Schwimmt das Tal in Nebelfluten.
Heimlich aus der Himmelsferne
Blinken schon die goldnen Sterne.
Flieg zu Nest und schwimm zum Hafen!
Gute Nacht! Die Welt will schlafen!
Heinrich Seidel
Abendlandschaft
Der Hirt bläst seine Weise,
Von fern ein Schuß noch fällt,
Die Wälder rauschen leise
Und Ströme tief im Feld.
Nur hinter jenem Hügel
Noch spielt der Abendschein –
O hätt ich, hätt ich Flügel,
Zu fliegen da hinein!
Joseph von Eichendorff
[38]
Abendstille
Abendstille, weich und warm,
Kaum ein Hauch zu spüren,
Stehn die Mädchen Arm in Arm
Plaudernd vor den Türen.
Fliegt das Mäulchen noch so spät
Sonder Rast und Maßen,
Horchen, wie der Wagen geht
Durch die stillen Straßen.
Kläfft der Spitz den Rädern zu,
Die gemach entschwinden,
Süße, sanfte Sommerruh
Sinkt ins Laub der Linden.
Nur ein ferner Burschensang
Tönt noch hin und wieder,
Alles lauscht dem Heimatklang
Der gewohnten Lieder.
[39]
Lauscht und sieht im Strahlenkleid
Erste Sterne glänzen,
Und die Seele wandert weit
Ohne Ziel und Grenzen.
Carl Busse
Abendlieder
I.
Die Sonne, die breite behäbige Frau,
Schon rüstet sie sich zur Nacht.
Die Goldsträhnen läßt durch den Himmel sie wehn,
Hat’s Purpurkleid aufgemacht.
Doch unten im Abend ein grauliches Tier,
Ein Drache rührt sich und ruckt.
Den zackigen Rücken drängt er empor –
Frau Sonne, o weh, ist verschluckt.
Der Lurch, was grummelt und grollt er denn?
Er krümmt sich, er bäumt sich, er klafft:
Frau Sonne durchstach ihn von innen her,
Strahlt wieder in glühender Kraft.
Hans Böhm
II.
Der Wächter tutet in sein Horn,
Und stille sind die Straßen;
Vor unserm Fenster nur der Born
Kann nicht vom Plaudern lassen.
Wir wollen schlafen gehn.
Die Lichter löschen langsam aus,
Schwarz hängt die Nacht hernieder;
Der Schlummer geht von Haus zu Haus
Und schließt die Augenlider.
Wir wollen schlafen gehn.
Die Uhr schlägt zehn, die Welt schlief ein.
Die Winde gehen müde.
Vom Himmel glänzt der Sterne Schein.
[40]
Kehr auch in unsre Herzen ein,
Du stiller Sternenfriede!
Wir wollen schlafen gehn.
Albert Sergel
III.
Augen, meine lieben Fensterlein,
Gebt mir schon so lange holden Schein,
Lasset freundlich Bild um Bild herein:
Einmal werdet ihr verdunkelt sein!
[41]
Fallen einst die müden Lider zu,
Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;
Tastend streift sie ab die Wanderschuh,
Legt sich auch in ihre finstre Truh.
Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn
Wie zwei Sternlein, innerlich zu sehn,
Bis sie schwanken und dann auch vergehn,
Wie von eines Falters Fügelwehn.
Doch noch wandl’ ich auf dem Abendfeld,
Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;
Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,
Von dem goldnen Überfluß der Welt!
Gottfried Keller
Abendlied
Die Nacht ist niedergegangen,
Die schwarzen Schleier hangen
Nun über Busch und Haus.
Leis rauscht es in den Buchen.
Die letzten Winde suchen
Die vollsten Wipfel sich zum Neste aus.
Noch einmal leis ein Wehen,
Dann bleibt der Atem stehen
Der müden, müden Welt.
Nur noch ein zages Beben
Fühl durch die Nacht ich schweben,
Auf die der Friede seine Hände hält.
Otto Julius Bierbaum
Ein geistlich Abendlied
Es ist so still geworden,
Verrauscht des Abends Wehn,
Nun hört man allerorten
Der Engel Füße gehn.
Rings in die Tale senket
Sich Finsternis mit Macht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht.
[42]
Es ruht die Welt im Schweigen,
Ihr Tosen ist vorbei,
Stumm ihrer Freude Reigen
Und stumm ihr Schmerzensschrei.
Hat Rosen sie geschenket,
Hat Dornen sie gebracht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
Und hast du heut gefehlet,
O schaue nicht zurück;
Empfinde dich beseelet
Von freier Gnade Glück.
Auch des Verirrten denket
Der Hirt auf hoher Wacht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
Nun stehn im Himmelskreise
Die Stern’ in Majestät;
In gleichem festem Gleise
Der goldne Wagen geht.
Und gleich den Sternen lenket
Er deinen Weg zur Nacht –
Wirf ab, Herz, was dich kränket
Und was dir bange macht!
Gottfried Kinkel
Wanderers Nachtlied
Der du von dem Himmel bist,
Alles Leid und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!
Wolfgang von Goethe
[43]
Manche Nacht
Wenn die Felder sich verdunkeln,
Fühl ich, wird mein Auge heller;
Schon versucht ein Stern zu funkeln,
Und die Grillen klingen schneller.
Jeder Laut wird bilderreicher,
Das Gewohnte sonderbarer,
Hinterm Wald der Himmel bleicher,
Jeder Wipfel hebt sich klarer.
Und du merkst es nicht im Schreiten,
Wie das Licht verhundertfältigt
Sich entringt den Dunkelheiten,
Plötzlich stehst du überwältigt.
Richard Dehmel
Die tröstende Nacht
O Nacht – du treue Trösterin!
Wenn ich auf meinem Lager zage,
So schwebst du vor das Fenster hin
Und hörst geduldig meine Klage.
Und wenn ins Kissen ich mit Stöhnen
Mein tränend Angesicht verhülle,
Hör ich auf einmal eine Fülle
Von Wohllaut mir zu Herzen tönen:
»Getrost, getrost! Ich bin ja hier!
Will dich nach jedem Tage heilen
Und werde kommen einst zu dir,
Um immerdar bei dir zu weilen.
Dann ruhst du, selig vom Vergessen
Durchschauert, fern von Tagesrauschen
Und magst dem sanften Liede lauschen,
Das Winde harfen in Zypressen.«
Bruno Wille
Nachtgefühl
O stille Nacht, o Nacht der Stille,
Zur Ruh gebracht der ganze Wille –
Zum Schlaf bereit das Herz voll Sorgen;
O schöne Zeit bis an den Morgen!
Martin Greif
[44]
Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall!
Komm, Trost der Nacht, o Nachtigall,
Laß deine Stimm’ mit Freudenschall
Aufs Lieblichste erklingen!
Komm, komm und lob den Schöpfer dein,
Weil andre Vöglein schlafen fein
Und nicht mehr mögen singen!
Laß dein Stimmlein
Laut erschallen,
Denn vor allen
Kannst du loben
Gott im Himmel hoch dort oben.
H. J. von Grimmelshausen
Trost der Nacht
Weiche Hände hat die Nacht,
Und sie reicht sie mir ins Bette;
Fürchtend, daß ich Tränen hätte,
Streicht sie meine Augen sacht.
Dann verläßt sie das Gemach;
Rauschen hör ich, sanft und seiden:
Und den Dornenzweig der Leiden
Zieht sie mit der Schleppe nach.
Ludwig Jacobowski
Nähterin Nacht
Nun naht die Nacht!
Eine alte, ergraute Nähterin,
Zieht sie die seidnen
Zwirnfäden der Dämmerung
Über die Dächer des Dorfes,
Räufelt sie hin und her
Und wickelt sie flink
Um Büsch und Bäume,
Buchen und Pappeln,
Daß sie starrn wie umsponnene Spulen …
Von der schwarzen Marmorkonsole
Der östlichen Berge
Hebt sie die weiße Milchglasglocke
Des Mondes empor
[47]
Und legt einen
Flimmernden Funken hinein:
Rötlich leuchtet zuerst
Der kohlende Docht,
Gelblich flackernd und unbestimmt,
Dann schimmert weiß und bläulich
Das matte, milde Lampenlicht
Der Nähterin Nacht …
Und sie steckt
Ins schwarze Sammetkissen des Himmels
Die silbernen Sternennadeln …
Nähend sitzt sie dann
An der leise summenden
Nähmaschine der Welt
Und zieht aus ihrem Gefüge,
Langsam breitend über die Lande
Von Osten nach Westen,
Die mit Goldzwirn gestickten,
Mit Silberseide besäumten
Purpurgewänder des Morgens …
Hans Benzmann
[48]
Lichter
Wo ist der Tag?
Rauschend versunken.
Nacht hat mit schwarzem Hammerschlag
Das Licht zersprengt zu stillen Funken,
Die lautlos glühn in Straßen, Prachtgemächern,
In Kammern und hoch über allen Dächern.
Wilhelm von Scholz
Der Nachtwächter
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat neun geschlagen!
Die Lämmer sind schon längst im Stall,
Im Nest die Vöglein allzumal;
Drum lasset euer Spielzeug stehn,
’s ist hohe Zeit, zu Bett zu gehn,
Und lobet Gott den Herrn!
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat zehn geschlagen!
Die Lämmer schliefen ruhig ein,
Sie können ohne Sorge sein;
Im Hofe wacht der treue Hund,
Der macht um ihren Stall die Rund’,
Läßt keinen Wolf hinein.
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen;
Die Glock’ hat elf geschlagen!
Gar lieblich ist der Vöglein Ruh;
Ihr Mütterlein, es deckt sie zu
Mit beiden Flügeln früh und spät,
Wenn kalt die Nacht ums Nestchen weht.
Das liebe Mütterlein!
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat zwölf geschlagen!
Auch eure Eltern ruhen beid’
Im Bette schon seit langer Zeit;
Doch schlafen sie nicht alsogleich;
Sie sorgen treulich noch für euch.
Ihr schlaft und hört es nicht.
[49]
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat eins geschlagen!
So viele Kinder auf der Welt,
So viele Stern’ am Himmelszelt,
So viele Engel im Himmelsraum,
Die bringen euch manch schönen Traum
Von oben mit herab.
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat zwei geschlagen!
Und mit dem blanken Sternenheer
Kam auch der liebe Mond daher
Und steckte sein Laternchen an;
Doch schlich sich wo ein Dieb heran,
Den jagt er schnell davon.
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat drei geschlagen!
Und bleibt der Mond einmal zu Haus
Und sagt: »Nun schlaf ich auch mal aus.«
Da bin ich hier, der euch bewacht;
Laut blas ich durch die stille Nacht
Und lobe Gott den Herrn.
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat vier geschlagen!
Was hilft doch aller Menschen Macht,
Wenn Gott der Herr sie nicht bewacht?
Vor Krankheit und viel andrer Pein
Bewahrt nur einzig er allein;
Drum lobet Gott den Herrn!
Hört, ihr Kinder, und laßt euch sagen:
Die Glock’ hat fünf geschlagen!
Horcht auf, es krähet schon der Hahn
Und ruft: »Erwacht, der Tag bricht an!«
Die Lerch’ ist längst zum Nest heraus;
Der Wächter aber geht nach Haus,
Und alles lobt den Herrn.
Robert Reinick
[50]
Die beiden Wächter
Zween Wächter, die schon manche Nacht
Die liebe Stadt getreu bewacht,
Verfolgten sich aus aller Macht
Auf allen Bier- und Branntweinbänken
Und ruhten nicht, mit pöbelhaften Ränken
Einander bis aufs Blut zu kränken;
Denn keiner brannte von dem Span,
Woran der andre sich den Tabak angezündet,
Aus Haß den seinen jemals an.
Kurz, jeden Schimpf, den nur die Rach’ erfindet,
Den Feinde noch den Feinden angetan,
Den taten sie einander an,
Und jeder wollte bloß den andern überleben,
Um noch im Sarg ihm einen Stoß zu geben.
Man riet und wußte lange nicht,
Warum sie solche Feinde waren;
Doch endlich kam die Sache vor Gericht,
Da mußte sichs denn offenbaren,
Warum sie seit so vielen Jahren
So heidnisch unversöhnlich waren.
Was war der Grund? Der Brotneid? War er’s nicht?
Nein. Dieser sang: »Verwahrt das Feuer und das Licht!«
Allein so sang der andre nicht;
Er sang: »Bewahrt das Feuer und das Licht!«
Aus dieser so verschiednen Art,
An die sich beid’ im Singen zänkisch banden,
Aus dem verwahrt und dem bewahrt
War Spott, Verachtung, Haß und Rach’ und Wut entstanden.
»Die Wächter,« hör ich viele schrein,
»Verfolgten sich um Kleinigkeiten?
Das mußten große Narren sein.«
Ihr Herren! Stellt die Reden ein,
Ihr könntet sonst unglücklich sein;
Wißt ihr denn nichts von so viel großen Leuten,
Die in gelehrten Streitigkeiten
Um Silben, die gleichviel bedeuten,
Sich mit der größten Wut entzweiten?
Fürchtegott Gellert
[51]
Sturmnacht
Im Hinterhaus im Fliesensaal
Über Urgroßmutters Tisch’ und Bänke,
Über die alten Schatullen und Schränke
Wandelt der zitternde Mondenstrahl.
Vom Wald kommt der Wind
Und fährt an die Scheiben;
Und geschwind, geschwind
Schwatzt er ein Wort,
Und dann wieder fort
Zum Wald über Föhren und Eiben.
Da wird auch das alte verzauberte Holz
Da drinnen lebendig;
Wie sonst im Walde will es stolz
Die Kronen schütteln unbändig,
Mit den Ästen greifen hinaus in die Nacht,
Mit dem Sturm sich schaukeln in brausender Jagd,
Mit den Blättern in Übermut rauschen,
Beim Tanz im Flug
Durch Wolkenzug
Mit dem Mondlicht silberne Blicke tauschen.
Da müht sich der Lehnstuhl, die Arme zu recken,
Den Rokokofuß will das Kanapee strecken,
In der Kommode die Schubfächer drängen
Und wollen die rostigen Schlösser sprengen;
Der Eichschrank unter dem kleinen Troß
Steht da, ein finsterer Koloß.
Traumhaft regt er die Klauen an,
Ihm zuckt’s in der verlornen Krone;
Doch bricht er nicht den schweren Bann.
Und draußen pfeift ihm der Wind zum Hohne,
Und fährt an die Läden und rüttelt mit Macht,
Bläst durch die Ritzen, grunzt und lacht,
Schmeißt die Fledermäuse, die kleinen Gespenster,
Klitschend gegen die rasselnden Fenster.
Die glupen dumm neugierig hinein –
Da drinn steht voll der Mondenschein.
Aber droben im Haus
Im behaglichen Zimmer
[52]
Beim Sturmgebraus
Saßen und schwatzten die Alten noch immer,
Nicht hörend, wie drunten die Saaltür sprang,
Wie ein Klang war erwacht
Aus der einsamen Nacht,
Der schollernd drang
Über Trepp’ und Gang,
Daß dran in der Kammer die Kinder mit Schrecken
Auffuhren und schlüpften unter die Decken.
Theodor Storm
Was bei den Sternen war
Selbst der Naturforscher gibt es diesmal zu, was der Poet
behauptet, daß nämlich im Waldlande die Sterne heller leuchten
als sonstwo. Das macht die reine feuchte Luft, sagt der eine;
der andere hingegen meint, der kindliche Glaube der Einschichtbewohner
sei Ursache, daß der Sternenhimmel so hell und hold
niederfunkle auf den weiten, stillen Wald.
Hat doch mein Vater zu mir gesagt, als wir noch beisammen
auf dem Holzbänklein unter der Tanne gesessen:
»Du bist mein liebes Kind. Und jetzt schau zum Himmel
hinauf, die Augen Gottes blicken auf uns herab.«
Ei freilich, ich konnte mir’s wohl denken, einer, der auf
des Menschen Haupt die Haare zählt, muß hunderttausend Augen
haben. Nun war es aber schön zu sehen, wie mir der liebe Gott
mit seinen Augen zublinzelte, als wollte er mir was zu verstehen
geben; – ja, und ich konnte es doch um alles nicht erraten,
was er meinte. – Ich nahm mir wohl vor, recht brav und folgsam
zu sein, besonders bei Nacht, wenn Gott da oben seine hunderttausend
Augen auftut und die guten Kinder zählt und die bösen
sucht und recht scharf anschaut, auf daß er sie kennt am Jüngsten
Tage …
Ein andermal saß ich auf demselben Holzbänkchen unter
der Tanne, an Seite meiner Mutter. Es war bereits späte Abendstunde,
und die Mutter sagte zu mir:
»Du bist ein kleiner Mensch, und die kleinen Leute müssen
jetzt schon ins Bett gehen, schau, es ist ja die finstere Nacht,
und die Engel zünden schon die Lichter an, oben in unseres Herrgotts
Haus.«
[53]
Mit solchen Worten ein Kind zur Ruhe bringen? Das
war übel geplant.
»In unseres Herrgotts Haus die Lichter?« fragte ich, sofort
durchaus für den Gegenstand eingenommen.
»Freilich,« entgegnete die Mutter, »jetzt gehen alle Heiligen
von der Kirche heim, und im Hause ist eine große Tafel, und
da setzen sie sich zusammen und essen und trinken was, und die
Englein fliegen geschwind herum und zünden alle Lichter an
und den großen Kronleuchter auch, der mitten hängt, und
nachher laufen sie zu den Pfeifen und Geigen und machen
Musik.«
»Musik?« entgegnete ich, in die Anschauung des Bildes versunken.
»Und der Wollzupfer-Michel, ist der auch dabei?«
Der Wollzupfer-Michel war ein alter, blinder Mann gewesen,
der bei uns Waldbauern das Gnadenbrot genossen und
dafür zuweilen Schafwolle gezupft und gekraut hatte. Wenige
Wochen vor diesem Abendgespräche war er gestorben.
»Ja du,« versetzte die Mutter auf meine Frage, »der Wollzupfer-Michel,
der sitzt ganz vorn bei unserem lieben Herrgott
selber, und er ist hoch in Ehren gehalten von allen Heiligen,
weil er auf der Welt so arm gewesen ist und so verachtet und im
Elend hat leben müssen, und weil er doch alles so geduldig ertragen
hat.«
»Wer gibt ihm denn beim Essen auf den Teller hinaus?«
war meine weitere Frage.
»Nu wer denn?« meinte die Mutter, »das wird schon sein
heiliger Schutzengel tun.« Sogleich aber setzte sie bei: »Du Närrisch,
der Michel braucht jetzt gar keine Behelfer mehr, im Himmel
ist er ja nimmer blind; im Himmel sieht er seinen Vater und
seine Mutter, die er auf der Welt niemalen hat gesehen. Und
er sieht den lieben Herrgott selber und unsere liebe Frauen und
alle, und zu uns sieht er auch herab. Ja freilich, mit dem Michel
hat’s gar eine glückselige Wendung genommen, und hell singen
und tanzen wird er bei der himmlischen Musik, weil der heilige
David Harfen spielen tut.«
»Tanzen?« wiederholte ich und suchte mit meinen Augen
das Firmament ab.
»Und jetzt, Bübel, geh schlafen!« mahnte die Mutter. Wohl
machte ich die Einwendung, daß sie im Himmel erst die Lichter
angezündet hätten und also gewißlich auch noch nicht schlafen[54]
gingen; aber die Mutter versetzte mit entschiedenem Tone, im
Himmel könnten sie machen, was sie wollten, und wenn ich fein
brav wäre und einmal in den Himmel käme, so könnte ich auch
machen, was ich wollte.
Ging zu Bette und hörte in selbiger Nacht die lieben
Englein singen. –
Wieder ein andermal saß ich mit der Ahne auf der hölzernen
Bank unter den Tannen.
»Guck, mein Bübel,« sagte sie, gegen das funkelnde Firmament
weisend, »dort über das Hausdach hin, das ist dein Stern.«
Ein helles, flimmerndes Sternchen stand oft und auch heute
wieder über dem Giebel des Hauses; aber daß selbes mein Eigentum
wäre, hörte ich nun von der Ahne das erstemal.
»Freilich,« belehrte sie weiter, »jeder Mensch hat am Himmel
seinen Stern, das ist sein Glücksstern oder sein Unglücksstern.
Und wenn ein Mensch stirbt, so fällt sein Stern vom Himmel.«
Todeserschrocken war ich, als gerade in diesem Augenblicke
vor unseren Augen eine Sternschnuppe sank.
»Wer ist jetzt gestorben?« fragte ich, während ich sogleich
schaute, ob mein Sternchen wohl noch über dem Dachgiebel stehe.
»Kind,« sagte die alte Ahne, »die Welt ist weit, und hätten
wir nur Ohren dazu, wir täten Tag und Nacht nichts hören als
Totenglockenklingen.«
Focht mich dieweilen nicht an.
»Ahndl,« fragte ich; denn Kinder, die in ihrem Haupte so
viel Raum für Vorstellungen und Eindrücke haben, sind unermüdlich
im Fragen. »Ahndl, wo hast denn du deinen Stern?«
»Mein Kind,« antwortete sie, »der ist schon völlig im Auslöschen,
den sieht man nimmer.«
»Und ist das ein Glücksstern gewesen?«
Da schloß sie mich an ihre Brust und hauchte: »Wird
wohl so sein, du herzlieber Enkel, wird wohl so sein!«
Ein alter Schuhmacher kam zuweilen in unser Haus, der
redete wie ein Heide. Wir Menschen, meinte der alte Schuhmacher,
kämen nach dem Tode weder in den Himmel, noch in die
Hölle, sondern auf einen Stern, wo wir so wie auf dieser Welt
wiedergeboren würden und je nach Umständen weiterlebten.
Das Närrischste aber sagte schon der Schulmeistersohn aus
Grabenbach, der als Student einmal zu uns kam. Der schwätzte
von Bären und Hunden und Wasserschlangen, die da oben am[57]
Himmel herumliefen, und ein Widder und ein Walfisch sei auch
dabei; und gar eine Jungfrau wollte er durch seine Augengläser
gesehen haben. Dieser Schulmeistersohn war schuld daran, daß
mich mein Vater nicht studieren lassen wollte.
»Wenn sie solche Narrheiten lernen in der Stadt,« sagte
mein Vater, »daß sie auf unseres Herrgotts goldnem Firmament
lauter wilde Tiere sehen, nachher hab ich genug. Mein Bub,
der bleibt daheim.«
Eine junge Magd hatten wir im Hause; die war gescheit,
die hat einmal was gesagt, was mir heute das Herz noch warm
macht. Sie hatte es sicherlich von ihrem alten Ziehvater, der
so ein Waldgrübler gewesen war. Der Mann hat etwas Wundersames
in seinem Kopfe gehabt; er wäre gern Priester geworden;
aber blutarm, wie er war, sind ihm alle Wege dazu verlegt
gewesen. Da wurde er Kohlenbrenner. Ich habe den Alten
oft heimlich belauscht, wenn er auf seinem Kohlenmeiler stand
und Messe las oder wenn er den Vögeln des Waldes vorbetete,
wie voreinst der heilige Franziskus in der Wüste. Von diesem
Manne mag unsere junge Magd das seltsame Wort gehört haben.
»Der Sternenhimmel da oben,« sagte sie einmal, »das ist
ein großmächtiger Liebesbrief mit goldenen und silbernen Buchstaben.
Fürs erste hat ihn der liebe Herrgott den Menschen
geschrieben, daß sie doch nicht ganz auf ihn vergessen sollten.
Fürs zweite schreiben ihn die Menschen für einander. Das ist so:
wenn zwei Leut, die sich rechtschaffen liebhaben, weit auseinander
müssen, so merken sie sich vorher einen hellen Stern, den sie beide
von aller Fremde aus sehen können und auf dem ihre Augen
zusammenkommen. – Dasselbig funkelnde Ding dort,« setzte die
Magd leise und ein wenig zögernd bei, indem sie auf ein glühend
Sternlein deutete, das hoch über dem Waldlande lag, »dasselbe
Ding, das schaut zu dieser jetzigen Stund auch der Hans an, der
weit drin in Welschland ist bei den Soldaten. Ich weiß wohl, er
wird nicht darauf vergessen, es glänzt wie der kein Stern so hell
am ganzen Firmament.«
Eines Tages mußte ich am Waldrande spät abends noch
die Rinder weiden, die tagsüber im Joche gegangen waren. Sonst
war in solchen Stunden lieb Ahne bei mir, aber die war nun
schon seit länger unwohl und mußte zu Hause bleiben. Jedoch[58]
hatte sie mir versprochen, oftmals vor das Haus herauszutreten
und den Hühnerpfiff zu tun, damit mir in der einschichtigen
stillen Nacht nicht zu grauen beginne.
Ich stand zagend neben meinen zwei Rindern, die auf der
taunassen Wiese eifrig grasten, aber ich hörte heute keinen jener
lustigen Pfiffe, welche meine Ahne mittelst zweier Finger, die
sie in den Mund legte, so vortrefflich zu machen verstand, gewöhnlich
zu dem Zwecke, um die Hühner damit zusammenzulocken.
Das Haus lag still und traurig oben auf dem Berge. Von
der tiefen Schlucht herauf hörte ich das Rieseln des Wässerleins,
das ich sonst hier noch nie vernommen hatte. Hingegen schwiegen
heute die Grillen ganz und gar. Ein Uhu krähte im Walde und
erschreckte mich dermaßen, daß ich die Hörner des Rindes erhaschte
und dieselben gar nicht mehr loslassen wollte.
Der Sternenhimmel hatte heute einen so heiligen Ernst;
mir war, als hörte ich durch die große Stille das Saitenspiel
des heiligen Sängers David klingen. – Siehe, da löste sich plötzlich
ein Stern und fiel in einem scharfen Silberfaden, der gerade
über unser Haus niederging, vom Himmel herab. – –
Mir zuckte es heiß durchs Herz, mir blieb der Atem stehen.
»Jetzt ist die Ahne gestorben!« sagte ich endlich laut, »das ist ihr
Stern gewesen.« Ich hub an zu schluchzen. Da hörte ich vom
Hause her bereits des Vaters Stimme, ich sollte eilends heimzutreiben.
Bald jagte ich in den Hof ein. Das Haus war in allen
Fenstern beleuchtet; ein Geräusch und Gepolter war, und Leute
eilten hin und her nach allen Ecken und Winkeln.
»Geschwind, Peterle, geh her!« rief es mir von der Tür
aus zu, und das war die Stimme der Ahne. Ich lief in das
Haus – was hab ich gehört? Klein Kindesgeschrei.
»Ein Brüderlein hast kriegt,« rief die Ahne, »das hat ein
Engel vom Himmel gebracht!«
So war es. Mutter lag schon im Bette, und sie hielt das
winzige Büblein an der Brust.
Ein Engel vom Himmel! Ja, ich habe ihn fliegen gesehen.
»Ahndl,« sagte ich, »es ist nicht wahr, daß Sterne fallen, lauter
Engel sind es, die mit kleinen Kindlein niederfliegen vom Himmel!«
Ich verharre bei diesem Glauben noch heute, da ich vor
einer Wiege stehe, in die mir selbst ein liebes himmlisches Wunder
gegeben ist.
Peter Rosegger
[59]
Um Mitternacht
Gelassen stieg die Nacht ans Land,
Lehnt träumend an der Berge Wand,
Ihr Auge sieht die goldne Wage nun
Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;
Und kecker rauschen die Quellen hervor;
Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied,
Sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
Der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
Es singen die Wasser im Schlafe noch fort
Vom Tage,
Vom heute gewesenen Tage.
Eduard Mörike
Sternentrost
Es gäb noch mehr der Zähren
In dieser trüben Welt,
Wenn nicht die Sterne wären
Dort an dem Himmelszelt;
Wenn sie nicht niederschauten
In jeder klaren Nacht
Und uns dabei vertrauten,
Daß Einer droben wacht.
Martin Greif
Der Sternseher
Die Jahre gehn vorüber,
Auch ich geh bald zur Ruh,
Da schau ich immer lieber
Dem Lauf der Sterne zu.
Ich kann mich oft noch freuen
Recht wie ein großes Kind,
Wenn abends die Getreuen
Auf ihren Wegen sind.
[60]
Mich dünkt, sie stehn so stille,
Sie schaun und ruhn zumeist,
Da doch ein ew’ger Wille
Sie zur Vollendung reißt.
So staun ich wohl in Fernen
Und sinn und blick empor.
Da spricht mir aus den Sternen
Mein Herz ein Gleichnis vor:
Du füllst den Tag mit Hasten,
Und bleibt doch leeres Spiel.
Hier glaubst du still zu rasten
Und näherst dich dem Ziel.
Carl Busse
In Harmesnächten
Die Rechte streckt’ ich schmerzlich oft
In Harmesnächten
Und fühlt’ gedrückt sie unverhofft
Von einer Rechten –
Was Gott ist, wird in Ewigkeit
Kein Mensch ergründen;
Doch will er treu sich allezeit
Mit uns verbünden.
C. F. Meyer
Ansage
Ein Käuzlein rief vergangne Nacht
Vom Berg ins Dorf hinein: »Komm mit!«
Lang horcht ich hin, als ich erwacht,
Und immer rief es noch: »Komm mit!«
Wie dann vom Turm die Zwölfe schlug,
Ins Läuten kam die Glock’: »Komm mit!«
Als käm’s zum letzten Atemzug
Von einem bald, so rief’s: »Komm mit!«
Martin Greif
[61]
Mondspuk
Der Vollmond leuchtet hoch am bläulichen Himmel; sein
Glanz hat das letzte, weiße Wölkchen verzehrt; sogar die Sterne
sind in seiner Lichtflut ertrunken, und nur die großen Himmelsbilder
glänzen noch neben ihm. Von unten herauf funkelt die
Wintererde festlich im Schnee; Berge recken dort ihre Silberköpfe
empor, und mitten in den Bergen drin, am Fuß eines
Hügels, liegt das Dorf lautlos im Mondschein.
Leer und hell sind alle Gassen des Dorfs. Riesig ragt die
Kirche aus den niedrigen Häuschen hervor, ein mächtiges, steinernes
Ungetüm; wie ein hoher Zaubererhut glitzert der spitze
Kirchturm darüber. Zwei Lukenaugen schauen finster aufgerissen
unter dem Hut. Auf einmal fängts an, im Innern des steinernen
Tiers zu rumoren; es rasselt, es stöhnt, es zieht schwerfällig
Atem: ’s will Mitternacht schlagen. Aber seltsam: es stöhnt
und rasselt, es wird wieder still, und kein Glockenschlag hat
geschallt. Statt dessen in den dunklen Lukenaugen droben glüht’s
auf, und eine schnarrende Stimme schreit hinaus ins Land:
»Eins, zwei, drei … zwölf!«
Da tut’s einen Rumpler unten im Dorf. Das ist im Haus
vom Wegmacher-Jackl gewesen. Der selber ist aus dem Bett hart
auf die Füße gefahren und wandelt quer durch die Stube. Aber
ganz abwesend schaut er drein. Er geht ans Fenster; ’s ist dicht
mit Efeu zugewachsen; und sitzt nieder. Der Mond scheint durch
den Efeu, malt helle Flecke aufs wetterbraune Runzelgesicht
und blickt grad hinein in die Augen …
Ganz stad ist’s draußen, und grausam hell, und alle Haustüren
stehn weit offen.
»Was ist denn des?« denkt der Jackl: »is doch nachtschlafende
Zeit!«
Aber die Haustüren stehen offen, und jetzt sieht er’s:
eine ganz leise, leuchtende Schafherde wimmelt die Gasse hinab;
schneeweiß, wollig, flockig wimmelt’s, wuselt’s durcheinander. Ein
mondheller Wolfshund rennt an ihr hin, umkreist sie; Funken
tanzen aus seinem Borstenfell, flüssiges Silber trieft ihm aus
dem Maul. Und hinter der Herde drein wankt der Hirt, in
blauem Mantel, ein alter Mann. Tief sitzt ihm der große Glanzhut
im Gesicht, daß nur der welke Mund und das bleiche Kinn
hervorschauen; an langem Stecken wankt er hin und bewegt
die Lippen. Er singt.
[62]
»In Gottes Namen
Die Mondschaf treib ich. Amen!«
klingt’s kaum hörbar in die Stube, während er vorbeischwankt.
Und Hirt und Hund und Herde sind verschwunden.
Lange Eiszapfen funkeln an den Dachrinnen. Der Schnee
strahlt von tausend feurigen Sternlein. Mit schlafschwerem Blick
schaut der Jackl hinaus in die weiße Pracht, die so stumm ist
und so kalt.
»Wie einsam, daß is, ha, wie einsam!«
Auf einmal träppelt’s daher durch die Mondnacht – ein
Hündlein träppelt über den glitzernden Schnee. Ganz allein.
Graufarben ist’s, ein Krummbein, ein Dackeltier ist’s. Kerzengerade
hat’s seinen Schwanz aufgestellt und wedelt leis mit
der Spitze, und seine langen Ohrwatscheln zittern, wie es dahinläuft. –
»Ah, Narr! Is denn das nit der Woidl! Ja bist denn
nit tot? Was bist denn so grau, Woidl?«
Aber Jackl’s Stimme hat gar keine Kraft. Der Waldl hört
ihn nicht, schon ist er weg – und die Gasse hinab kommt eine
junge Dirn gezogen, wie im Schlaf, mit geschlossnen Augen.
Sie hat ein volles Gesicht; doch ist es so weiß wie das Licht,
das draufscheint. Einen Augenblick bleibt sie stehen und wendet
den Kopf mit den geschlossenen Augen in der Luft, als suchte sie
etwas. Dann geht sie grad aufs Haus vom Maurer Franz zu. Die
Eckenlisl ist’s, die so schnell hat sterben müssen, ein Jahr ist’s
her! Sie tritt ans Fenster. Mit den Fingerspitzen der rechten
Hand schlägt sie leicht ans Glas, daß es klingt. Dann setzt sie
sich aufs Bänklein darunter, legt die Hände in den Schoß und
lächelt still vor sich hin.
Aber da rauscht es auf in der Ferne; rauscht wie ein Menschenflüstern,
zieht näher; die Lisl verblaßt, zergeht; jetzt schwillt’s
ins Dorf und schau! durch die Gasse stäubt’s heran, eine blasse
Schar, Männer und Weiber. Eben grad sichtbar blinken sie im
Mondlicht durcheinander. Bekannte, Unbekannte wechseln, wogen
hin, verdrängen einander, und alle steigen sie dort hinten bei
der Kirche ins Mondlicht hinein und verschwinden einer um den
andern. Der Jackl will sie anrufen, den, jenen, zurückhalten
will er sie – zu rasch treibt alles dahin. Wie er sich aber
noch anstrengt, sie zu erkennen, da knarrt’s ihm zu Häupten,
knarrt und rasselt, als täte sich die Decke auseinander, als[63]
schütte der Kalk herab, und die schnarrende Stimme schreit durch
die offene Decke: »Eins!«
Der Jackl steht auf – sein Bewußtsein ist ausgelöscht,
die Augen haben sich geschlossen – und marschiert zurück in
sein Bett.
Reingefegt ist die Gasse von allem Spuk, nirgends regt es
sich mehr. Die Haustüren sind zu. In den Lukenaugen des
Kirchturms ist das heimliche Glühen ausgegangen. Der Mond
scheint aufs weiße Zifferblatt, und unten biegt der bärtige
Nachtwächter ums Eck beim Krämer und singt in die Gasse hinein:
»Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen:
Die Glocke hat eins geschlagen.
B’hüt euch Gott und Maria!«
Leopold Weber
Alter Spruch
So dunkel ist doch keine Nacht,
Daß Gottes Aug nicht drüber wacht.
Volksmund
[64]
Stimme im Dunkeln
Es klagt im Dunkeln irgendwo.
Ich möchte wissen, was es ist.
Der Wind klagt wohl die Nacht an.
Der Wind klagt aber nicht so nah.
Der Wind klagt immer in der Nacht.
In meinen Ohren klagt mein Blut,
Mein Blut wohl.
Mein Blut klagt aber nicht so fremd.
Mein Blut ist ruhig wie die Nacht.
Ich glaub, ein Herz klagt irgendwo.
Richard Dehmel
Alp
Ich stellte den Stuhl nicht an die Wand
Und wandte die Schuh am Bett nur halb
Und nahm den Daumen nicht in die Hand,
Da kam des Nachts der böse Alp.
Er bohrte durch ein Wandloch sacht;
Ich dacht und nahm es genau in acht:
»Sollst dich auf mir nicht wiegen,
Wart, wart, ich will dich kriegen!«
Und als er zur Wand hereingeschlüpft
Und auf den Zehen leise ging,
Da war ich zum Loch an der Wand gehüpft
Und stopft es zu, da schrie das Ding
Mit feiner Stimm’: »O Pein, o Pein,
Nun muß ich hier gefangen sein!
O weh, wie werden weinen
Zu Hause meine Kleinen!«
»O Menschlein,« wimmert er bitterlich,
»Hab sieben Kinderchen zu Haus,
Die müssen verhungern fürchterlich,
O Menschenkind, laß mich hinaus!«
Da sprach ich: »Komm nicht wieder herein.«
Da sprach er: »Nein, gewiß nicht, nein.«
[65]
Kaum, daß ich mich aufmachte …
Husch, war er hinaus und lachte. –
Und wie er so lachte, ging ich nach,
Und als ich vor die Haustür kam,
War er schon unten an dem Bach;
Ich sah, wie er ein Ruder nahm,
Und lief hinab und hielt den Kahn:
Da winselt er von neuem dort
Und sah zuletzt mich drohend an.
Ich ließ den Kahn – da glitt er fort! –
Mich überkam ein Grauen
Vor seinen Augenbrauen!
August Kopisch
Närrische Träume
Heute Nacht träumte mir, ich hielt
Den Mond in der Hand,
Wie eine große, gelbe Kegelkugel,
Und schob ihn ins Land,
Als gält es alle neune.
Er warf einen Wald um, eine alte Scheune,
Zwei Kirchen mitsamt den Küstern, o weh,
Und rollte in die See.
Heute Nacht träumte mir, ich warf
Den Mond ins Meer.
Die Fische all erschraken, und die Wellen
Spritzten umher
Und löschten alle Sterne.
Und eine Stimme, ganz aus der Ferne,
Schalt: »Wer pustet mir mein Licht aus?
Jetzt ist’s dunkel im Haus.«
Heute Nacht träumte mir, es war
Rabenfinster rings.
Da kam was leise auf mich zugegangen,
Wie auf Zehen ging’s.
Da wollt ich mich verstecken,
Stolperte über den Wald, über die Scheune vor Schrecken.
[66]
Über die Kirchen, mitsamt den Küstern, o weh,
Und fiel in die See.
Heute Nacht träumte mir, ich sei
Der Mond im Meer.
Die Fische alle glotzten und standen
Im Kreis umher.
So lag ich seit Jahren,
Sah über mir hoch die Schiffe fahren,
Und dacht, wenn jetzt wer über Bord sich biegt,
Und sieht, wer hier liegt,
Zwischen Schollen und Flundern,
Wie wird der sich wundern!
Gustav Falke
Der Traum
Es war ein niedlich Zeiselein,
Das träumte nachts im Mondenschein:
Es säh am Himmel Stern bei Stern,
Davon wär jeder ein Hirsekern,
Und als es geflogen himmelauf,
Da pickte das Zeislein die Sterne auf.
Piep –
Wie war das im Traume so lieb!
[67]
Und als die Sonne beschien den Baum,
Erwachte das Zeislein von seinem Traum.
Es wetzte das Schnäbelchen her und hin
Und sprach verwundert in seinem Sinn:
»Nun hab ich gepickt die ganze Nacht,
Und bin doch so hungrig aufgewacht!
Ping –
Das ist mir ein närrisches Ding!«
Victor Blüthgen
Ein Traum
Heut Nacht hatt ich ’nen tollen Traum,
Der hat mich zum Kamel gemacht,
Im Maule fühlt ich scharfen Zaum
Und auf dem Buckel schwere Fracht.
Und Wüste hier und Wüste dort,
Rückwärts und vorwärts, links und rechts,
Und durch die Glut ging’s langsam fort,
Im Sand tief watend mit Geächz.
Zum Knuspern fand sich da kein Strauch,
Kein Wind zur Kühlung fern und nah,
Zum Saufen war gefüllt kein Schlauch,
Kein Platz zum Niederstrecken da.
Da plötzlich – fern am Himmelssaum
Sieh! Palmen nicken, Quellenglanz!
Dorthin! – Da schwindet’s wie ein Traum,
Es war ein leerer Dünstetanz.
Und immerfort sich aufgerafft,
Und immer fort mit Ach und Uff!
Der Treiber braucht die letzte Kraft,
Mich anzufeuern durch ’nen Knuff.
Geäfft, gebrochen im Genick,
Schon war ich dem Verschmachten nah,
Als ich ganz nah der Quelle Blick
Durch grüne Schatten prachten sah.
[68]
Da hat das Glück mich so erschreckt,
Daß ich mit eins zusammenfuhr,
Da hat der Schreck mich aufgeweckt,
Und ach! ein Traum war alles nur.
O hätt’ ich ewig fortgeträumt!
Dann läg’ ich an der Quelle jetzt,
Weich hingestreckt und abgezäumt,
Vom frischen Schattentrunk geletzt.
So aber zieh ich fort und fort,
Auch wachend, als Kamel einher.
Dicht vor mir winkt der kühle Ort,
Doch ich erreich ihn nimmermehr.
Friedrich von Sallet
Traumland
Wo gibt’s diese Welt wie im Traume?
So seltsame Luft, so milchig-kalt,
Solch Haus von Holze so silbrig-alt,
Solch seltsame Blätter am Baume –
Und Menschen gehen und kommen
Mit fremden Gesichtern, doch seltsam bekannt,
Die reden – ich weiß nicht, warum ich verstand,
Was ich von ihnen vernommen …
Drauf hab ich das Städtlein verlassen:
Da schwamm ein seltsam bleierner Fluß,
Der wälzte tiefab mit schweigendem Schuß
Die ungeheuren Massen …
Ich stieg auf den Berg, den vertrauten:
Da sah ich ein Land, das ich nie gesehn,
Erdfremde beleuchtet, so selig-schön! –
Meine Augen vor Wonne tauten …
Nun, wo ich am Tag so gehe,
Verfolgt mich die Sehnsucht überall
Nach dem seltsamen Fluß mit dem Wasserfall
Und dem Lande hinter der Höhe.
Victor Blüthgen
[69]
Der kleine Häwelmann
Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann.
Des Nachts schlief er in einem Rollbett und auch des Nachmittags,
wenn er müde war. Wenn er aber nicht müde war, so mußte
seine Mutter ihn darin in der Stube hin und her fahren, und
davon konnte er nie genug bekommen.
Nun lag der kleine Häwelmann eines Nachts in seinem Rollbett
und konnte nicht einschlafen. Die Mutter aber schlief schon
lange neben ihm in ihrem großen Himmelbett. »Mutter!« rief
der kleine Häwelmann, »ich will fahren!« Und die Mutter langte
im Schlaf mit dem Arm aus dem Bett und rollte die kleine Bettstelle
hin und her, immer hin und her. Und wenn ihr der Arm
müde werden wollte, so rief der kleine Häwelmann: »Mehr, mehr!«
Und dann ging das Rollen wieder von vorne an. Endlich aber
schlief die Mutter fest ein, und so viel Häwelmann auch schreien
mochte, sie hörte es nicht.
Da dauerte es nicht lange, so sah der Mond in die Fensterscheiben,
der gute alte Mond. Und was er da sah, war so possierlich,
daß er sich erst mit seinem Pelzärmel über das Gesicht
fuhr, um sich die Augen auszuwischen. So etwas hatte der alte
Mond all sein Lebtag nicht gesehen. Da lag der kleine Häwelmann
mit offenen Augen in seinem Rollbett und hielt das eine Beinchen
hoch in die Höhe. Sein kleines Hemd hatte er ausgezogen und
hing es wie ein Segel an seiner kleinen Zehe auf. Dann nahm
er ein Hemdzipfelchen in jede Hand und fing mit beiden Backen
an zu blasen. Und allmählich leise, leise fing es an zu rollen,
über den Fußboden, dann die Wand hinauf, dann kopfüber die
Decke entlang und dann die andere Wand wieder hinunter. »Mehr,
mehr!« schrie Häwelmann, als er wieder auf dem Boden war,
und dann blies er wieder seine Backen auf, und dann ging es
wieder kopfüber und kopfunter.
Als er dreimal die Reise gemacht hatte, guckte der Mond
ihm plötzlich ins Gesicht. »Junge,« sagte er, »hast du noch
nicht genug?« »Nein,« schrie Häwelmann, »mehr, mehr! Mach
die Tür auf! Ich will durch die Stadt fahren. Alle Menschen
sollen mich fahren sehen.« »Das kann ich nicht,« sagte der gute
Mond. Aber er ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch
fallen, und darauf fuhr der kleine Häwelmann zum Hause hinaus.
Auf der Straße war es ganz still und einsam. Es rasselte recht,
als der kleine Häwelmann in seinem Rollbette über das Straßenpflaster[70]
fuhr, und der gute Mond ging immer neben ihm und
leuchtete. So fuhren sie straßenaus, straßenein. Aber die Menschen
waren nirgends zu sehen.
Als sie bei der Kirche vorbeikamen, da krähte auf einmal
der goldene Hahn auf dem Glockenturme. Sie hielten still. »Was
machst du da?« rief der kleine Häwelmann hinauf. »Ich krähe
zum erstenmal,« rief der goldene Hahn herunter. »Wo sind die
Menschen?« rief der kleine Häwelmann hinauf. »Die schlafen,«
rief der goldene Hahn herunter. »Wenn ich zum drittenmal krähe,
dann wacht der erste Mensch auf.« »Das dauert mir zu lange,«
sagte Häwelmann; »ich will in den Wald fahren. Alle Tiere sollen
mich fahren sehen.« »Junge,« sagte der gute alte Mond, »hast du
noch nicht genug?« »Nein,« schrie Häwelmann, »mehr, mehr!
Leuchte, alter Mond, leuchte!« Und dann blies er die Backen
auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zur
Stadt hinaus und übers Feld und in den dunkeln Wald hinein.
Der gute Mond hatte alle Mühe, zwischen den vielen Bäumen
durchzukommen. Mitunter war er ein ganzes Stück zurück. Aber
er holte den kleinen Häwelmann doch immer wieder ein.
Im Walde war es still und einsam. Die Tiere waren nicht
zu sehen, weder die Hirsche, noch die Hasen, auch nicht die kleinen
Mäuse. So fuhren sie immer weiter, durch Tannen und Buchenwälder,
bergauf und bergab. Der gute Mond ging nebenher und
leuchtete in alle Büsche. Aber die Tiere waren nicht zu sehen.
Nur eine kleine Katze saß oben in einem Eichbaum und funkelte
mit den Augen. Da hielten sie still. »Das ist der kleine Hinze,«
sagte Häwelmann, »ich kenne ihn wohl. Er will die Sterne
nachmachen.« Und als sie weiterfuhren, sprang die kleine Katze
mit, von Baum zu Baum. »Was machst du da?« rief der kleine
Häwelmann hinauf. »Ich lasse meine Augen funkeln,« rief die
kleine Katze herunter. »Wo sind denn die anderen Tiere?« rief
der kleine Häwelmann hinauf. »Die schlafen,« rief die kleine
Katze herunter und sprang wieder einen Baum weiter. »Horch
nur, wie sie schnarchen! Wenn ich mein letztes Auge zumache,
so wacht der erste Hase auf.« »Das dauert mir zu lange,« sagte
Häwelmann, »ich will in den Himmel fahren. Alle Sterne
sollen mich fahren sehen.« »Junge,« sagte der gute alte Mond,
»hast du noch nicht genug?« »Nein,« schrie Häwelmann, »mehr,
mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!« Und so fuhren sie zum
Walde hinaus und dann über die Heide bis ans Ende der
Welt und dann gerade in den Himmel hinein.
[71]
Hier war es lustig. Alle Sterne waren wach und hatten
die Augen offen und funkelten, daß der ganze Himmel blitzte.
»Platz da!« schrie Häwelmann und fuhr in den hellen Haufen
hinein, daß die Sterne links und rechts vor Angst vom Himmel
fielen. »Junge,« sagte der gute alte Mond, »hast du noch nicht
genug?« »Nein,« schrie der kleine Häwelmann, »mehr, mehr!«
Und – hast du nicht gesehen! fuhr er dem alten guten Mond
quer über die Nase, daß er ganz dunkelbraun im Gesicht wurde.
»Pfui!« sagte der Mond und nieste dreimal, »das ist nicht hübsch
von dir,« und damit pustete er seine Laterne aus, und alle
Sterne machten die Augen zu. Da wurde es im ganzen Himmel
auf einmal so dunkel, daß man es ordentlich mit Händen greifen
konnte. »Leuchte, alter Mond, leuchte!« schrie der kleine Häwelmann.
Aber der Mond war nirgends zu sehen und auch die
Sterne nicht. Sie waren schon alle zu Bett gegangen. Da
fürchtete der kleine Häwelmann sich sehr, weil er so allein im
Himmel war. Er nahm seine Hemdzipfelchen in die Hände und
blies die Backen auf. Aber er wußte weder aus noch ein. Er
fuhr hin und her, kreuz und quer, und niemand sah ihn fahren,
weder die Menschen, noch die Tiere, noch die Sterne.
Da guckte endlich unten, ganz unten am Himmelsrande, ein
rotes, rundes Gesicht zu ihm herauf, und der kleine Häwelmann
meinte, der Mond sei wieder aufgegangen. »Leuchte, alter
Mond, leuchte!« rief er, und dann blies er wieder die Backen
auf und fuhr quer durch den ganzen Himmel und gerade darauf
los. Es war aber die Sonne, die eben aus dem Meere herauskam.
»Junge,« rief sie und sah ihm mit ihren glühenden Augen
ins Gesicht, »was machst du hier in meinem Himmel?« Und eins,
zwei, drei! nahm sie den kleinen Häwelmann und warf ihn
mitten in das große Wasser. Da konnte er schwimmen lernen.
Und dann? Ja, und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn
ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann
in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken
können.