The Project Gutenberg eBook of Der Sagenkreis der Niebelungen, by Georg Holz
Title: Der Sagenkreis der Niebelungen
Author: Georg Holz
Release Date: July 23, 2022 [eBook #68594]
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription
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Wissenschaft und Bildung
Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens
6
Von
Georg Holz
Professor an der Universität Leipzig
2. Auflage
1914
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig
Alle Rechte vorbehalten
Frau Susanne
zugeeignet
Vorliegendes Werkchen ist erwachsen aus einer Reihe im Spätjahre 1906 gehaltener Vorträge und mag wohl gelegentlich den Stempel dieses seines Ursprungs deutlicher tragen, als mir lieb sein kann. Gemäß der Absicht, den alten Stoff der Nibelungensage und die Fragen, die sich an ihren Ursprung, ihre Entwicklung und spätere Überlieferung knüpfen, einer breitern Öffentlichkeit zugänglich und verständlich zu machen, ist das wissenschaftliche Beiwerk auf ein geringstes Maß beschränkt; insbesondere ist im allgemeinen unterlassen, die anerkannten und aufgenommenen Gedanken auf ihre Urheber zurückzuführen. Selbstverständlich ist damit keinerlei Schmälerung von irgend jemandes Verdienst beabsichtigt; dies kann um so weniger der Fall sein, als ich auch mancherlei Eigenes zur Lösung der verschiedenen Fragen vorzubringen glaube, dessen Abgrenzung von Fremdem nun nicht ohne weiteres möglich ist. Es bleibt den Fachgenossen überlassen, diese Grenze zu ziehen und das vorgebrachte Neue anzuerkennen oder zu verwerfen.
Leipzig, im April 1907.
G. Holz.
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Seite
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I.
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Einleitung, Übersicht der Quellen
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II.
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Form, Inhalt und Kritik der nordischen Überlieferung
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III.
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Form, Inhalt und Kritik der deutschen Überlieferung
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a) Der Nibelunge Lied
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b) Zweikampfsage und
Thidrikssaga
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c) Hürnen Seifrid
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IV.
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Die Grundlagen der Sage
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a) Burgunden und Hunnen
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b) Sage und Mythus
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c) Die Merowinge
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d) Einzelheiten
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V.
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Die Entwicklung der Sage
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a) Älteste und nordische
Form
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b) Deutsche Form
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VI.
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Überlieferung und Textgeschichte des Liedes der
Nibelunge
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VII.
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Wirkung des Liedes in der alten Literatur.
Allmähliches Erlöschen des Interesses
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VIII.
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Erneuerung der Kenntnis des alten Stoffes seit dem
18. Jahrhundert
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IX.
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Die wichtigsten modernen Bearbeitungen der Sage
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Anhang. Literatur
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Register
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[S. 1]
Das in wirtschaftlicher wie in geistiger Beziehung so reiche Leben des alten Deutschlands erstarb in den Greueln des Dreißigjährigen Krieges. Was unserm Volke bis zu jener Zeit an alten Sagenschätzen lieb und wert gewesen war, geriet damit in Vergessenheit, und ein volles Jahrhundert verging, bis Gelehrte in alten Büchereien die ersten Spuren des alten Reichtums neu entdeckten. Die großen Männer des 18. Jahrhunderts, deren Geschmack anfangs in französischem und später in klassischem Sinne gebildet und geläutert war, blieben allerdings zunächst kalt gegenüber den Denkmälern einer Vergangenheit, deren Empfinden von dem ihren durchaus verschieden war. Erst der völlige Zusammenbruch, den die deutsche Politik und damalige Geisteskultur vor nunmehr (1906) genau hundert Jahren erlebte, bewirkte im Zusammenhange mit dem Erwachen unsers nationalen Fühlens auch eine höhere Wertschätzung der Denkmäler aus alter großer Zeit. Es ist bezeichnend, daß die erste volkstümliche Ausgabe des Nibelungenliedes 1815 in dem Augenblicke erschien, da man sich rüstete, den von Elba zurückgekommenen Napoleon abzuwehren. Der Herausgeber, August Zeune, nannte sie eine „Feld- und Zeltausgabe“ und erwähnte ausdrücklich, daß er sie besorgt habe, „da viele Jünglinge dies Lied als ein Palladium in den bevorstehenden Feldzug mitzunehmen wünschten“. Von jener Zeit an ist nun das Interesse an unserer alten Geschichte und Dichtung ständig gewachsen. Die germanistische Wissenschaft erblühte, gestützt auf die romantische Geschmacksrichtung, die die klassische in der Poesie abgelöst hatte, und erschloß immer neue Quellen für die Kunde der Vorzeit; die moderne Dichtung bemächtigte sich der alten Stoffe und goß sie in neue, der Gegenwart angemessene Formen. Vor allen[S. 2] andern hat Richard Wagner das Verdienst, durch sein gewaltiges Tonwerk, den „Ring des Nibelungen“, die alten Sagen volkstümlich gemacht zu haben, ein Verdienst, das dadurch nicht verringert wird, daß er mit seinem Stoffe recht willkürlich umgesprungen ist. Denn ohne ihn würde das Interesse für die Nibelungensage heute wohl nicht so weit verbreitet sein, wie es tatsächlich der Fall ist.
Welches sind nun die Quellen, aus denen man geschöpft und die alten Stoffe zu neuem Leben erweckt hat? Was bringen sie, und vor allem: worauf beruhen sie?
Im allgemeinen darf behauptet werden, daß alle erzählende Dichtung ihren letzten Ausgangspunkt in wirklich geschichtlichen Ereignissen hat, auch dann, wenn die beglaubigte Geschichte nicht in der Lage ist, solche namhaft zu machen; die ursprüngliche Tatsache ist dann von der Dichtung mit dichtem Beiwerk umsponnen worden, das wie Schlingpflanzen den alten Kern überwuchert und vielleicht erstickt.
Was in der Nibelungensage sicher als geschichtlich erwiesen ist, beruht auf Ereignissen des fünften nachchristlichen Jahrhunderts, also Ereignissen aus der Zeit der Völkerwanderung, die für die germanische Welt des Mittelalters in ganz gleicher Weise das Heldenzeitalter gewesen ist, wie es der trojanische Krieg für die Griechen des Altertums war. Diese Ereignisse sind in ununterbrochener Überlieferung im Gedächtnis bewahrt worden, bis ihr eben der Dreißigjährige Krieg das Grab gegraben hat. Die Überlieferung aber ist in folgender Weise zustande gekommen.
In einer Zeit ganz unentwickelter Verkehrsmittel und so gut wie völlig mangelnder Schrift (die höchstens Besitztum einiger weniger auserlesener Personen war) bildete sich ein Stand fahrender, d. h. herumziehender Leute, die ein Gewerbe daraus machten, das jederzeit lebhaft entwickelte Neuigkeitsbedürfnis ihrer Mitmenschen zu befriedigen. Sie zogen von Ort zu Ort, sammelten und verbreiteten Neuigkeiten jeder Art und fanden auf diese Weise ihren Unterhalt. Solange die Schriftkunde beschränkt war, blieben sie ersehnt und hochangesehen. Mit der fortschreitenden Volksbildung und den gebesserten Verkehrsverhältnissen sank natürlich ihre Bedeutung und damit auch die Achtung.
Naturgemäß sind es in erster Linie die großen politischen, also historischen Ereignisse, die sie wiedererzählen und betrachten.[S. 3] Um diese möglichst treu im Gedächtnis behalten zu können, gießen sie dieselben in eine feste Form, indem sie sie in Verse bringen. Die poetische Form ist also zunächst etwas Äußerliches; sie macht aber durch ihre Geschlossenheit sogleich ihren Einfluß auf den innern Stoff geltend, indem sie den Erzähler zwingt, zu ergänzen, was er nicht weiß, also die Beweggründe der handelnden Personen zu erraten. Damit ist aber der Erfindung Tür und Tor geöffnet. Je weiter man sich nun von dem Zeitpunkt der Geschehnisse entfernt, um so schwerer wird natürlich eine richtige Ergänzung, aber auch um so unwichtiger, da schließlich niemand mehr existiert, der den Erzähler Lügen strafen kann. So ist zweierlei möglich geworden: 1. daß der Bericht von den historischen Ereignissen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, also zur reinen Sage wird, und 2. daß die Überlieferung jahrhundertelang von der eigentlichen Literatur so gut wie unbemerkt sich hat fortpflanzen können, um dann plötzlich als Stoff größerer Werke in ihr aufzutauchen.
Es sind nun die am Niederrhein wohnenden Franken, die die vorhin angedeuteten Ereignisse des 5. Jahrhunderts fürs erste bewahrt haben. Von ihnen aus, die geographisch etwa den Mittelpunkt der damaligen germanischen Welt darstellen, hat sich dann die Kunde über diese ausgebreitet, am wenigsten nach England, dessen älteste Literatur nur spärliche Zeugnisse für die Nibelungensage aufweist, desto ausgiebiger nach Skandinavien und nach Süddeutschland. Der Gang der Ausbreitung war etwa folgender:
Im 9. Jahrhundert zogen von Skandinavien, insbesondere von Norwegen aus, zahlreiche Scharen von Seeräubern, die sog. Wikinger, gen Süden und plünderten die Küsten Englands und des fränkischen Reiches. An den Küsten der heutigen Niederlande, in der Gegend der Rheinmündungen, wohnten die Franken, die die Überlieferung von den Ereignissen des 5. Jahrhunderts bewahrten. Dort haben sich die nordischen Räuber zeitweise sogar fest angesiedelt und ungefähr zwei Menschenalter hindurch die Küstenländer beherrscht, bis sie im Jahre 891 in der Schlacht an der Dyle von König Arnulf vertrieben wurden. In dieser Zeit müssen die Nordgermanen die Kunde von der deutschen Überlieferung sich angeeignet und nach dem Norden verpflanzt haben. Sie zeigen dabei einen ganz eigenartigen Charakterzug: sie vereinigen nämlich in sich zwei scheinbar entgegengesetzte Züge des germanischen[S. 4] Charakters, auf der einen Seite kriegerisches Wesen in höchster Potenz, blutdürstige Wildheit und Grausamkeit, auf der andern Seite ein Streben nach Gelehrsamkeit, wie es bei diesen wilden Seeräuberhorden kaum verständlich scheint. Es ist das aber vollauf begründet in den Eigentümlichkeiten der alten verkehrslosen Zeit. Die Leute sitzen den Winter über in abgelegenen Tälern und hören und sehen von der Welt nichts. Bei ihrem regen Geistesleben haben sie nun ein ganz besonders starkes Bedürfnis nach Neuigkeiten. Die norwegischen Wikinger haben keine Gelegenheit vorübergehen lassen, südländische Kunde nach dem Norden zu bringen. So haben sie auch die fränkische Nibelungensage nach dem Norden gebracht, wahrscheinlich in der Form einer einheitlichen Dichtung, denn das, was im Norden uns von der Nibelungensage erzählt wird, weicht in vielen Punkten von der deutschen Sage ab, und zwar so, daß die Abweichungen nicht die ursprüngliche Gestalt, sondern eine Änderung darstellen, die auf einen Akt der Willkür zurückgeht. Es weist das darauf hin, daß irgendein nordischer Dichter den am Niederrhein erkundeten Stoff in feste Form gegossen und so nach dem Norden gebracht hat, wo er dann in dieser Gestalt aufgenommen worden ist.
Im Norden ist er nun in zahlreichen Liedern von zahlreichen uns gänzlich unbekannten Dichtern behandelt worden. Zunächst geht die Tradition dieser Lieder in der vorhin geschilderten Weise vor sich, d. h. sie werden mündlich übertragen und nicht aufgezeichnet. Erst in einer wesentlich spätern Zeit, im 13. Jahrhundert, entschloß man sich im Norden auf einem eigenartigen Umwege zur Aufzeichnung dieser Lieder.
Bis zum 13. Jahrhundert hatte sich die nordische poetische und prosaische Literatur hoch entwickelt, so hoch, daß man das Bedürfnis empfand, ein Lehrbuch gewisser Eigentümlichkeiten des nordischen Stils anzufertigen. Dies Lehrbuch schrieb um das Jahr 1220 der isländische Skalde Snorri Sturluson; es führt den Titel „Edda“. Dies Wort wird heute gedeutet als Bezeichnung der Herkunft des Buches: aus Oddi, einem Gehöfte im südwestlichen Island, wo Snorri erzogen worden war; andere fassen es als Ausdruck für „Poetik“. Eine Poetik war allerdings nötig, um dem angehenden Skalden eine besondere Eigentümlichkeit der nordischen Dichtweise zu erklären. Man bezeichnete einen einfachen konkreten Alltagsgegenstand nicht gern mit seinem schlichten[S. 5] Namen, sondern bediente sich statt dessen eines Bildes, das aus der Sage entnommen und nicht verständlich war, wenn man nicht die zugehörige Sage kannte. So heißt z. B. das Gold „Otterbuße“, und zwar in Zusammenhängen, in denen weder von „Buße“ noch von „Otter“ irgendwelche Rede ist. Um Ausdrücke dieser Art (die sog. „Kenningar“) zu erklären, ist ein Hauptteil der Edda geschrieben; die Erklärung besteht in der Erzählung der zugehörigen Geschichte.
So erzählt denn Snorri in der Edda eine große Anzahl der verschiedensten Sagen, von denen die überwältigende Mehrzahl uns ohne ihn gar nicht bekannt wäre, u. a. auch die Nibelungensage in nordischer Form. Vielfach werden dabei Dichtungen zitiert, Verse aus Liedern, bruchstückweise natürlich nur, und zwar als Belege. Das hat dazu geführt, daß man diese Lieder im Anschluß an die Snorrische Poetik gesammelt hat. Wer das getan hat, bleibt unbekannt. Die Sammlung ist jedenfalls entstanden um die Mitte des 13. Jahrhunderts und uns im wesentlichen erhalten in einer einzigen, aus Island stammenden, jetzt in Kopenhagen befindlichen Handschrift, die nach dem Aufbewahrungsort in der Königlichen Bibliothek der Codex regius genannt wird. Diese Handschrift stellt sich dar als eine Sammlung von Einzelgedichten in lyrisch-epischer Form, gewissermaßen Balladen, aus der Götter- und der Heldensage. Der größere, zweite Teil der ganzen Sammlung umfaßt nur Lieder aus unserer Nibelungensage. Leider ist uns der Kodex nicht vollständig erhalten, sondern es fehlt gerade aus dem wichtigsten Teile der Nibelungensage eine vollständige Lage, d. h. ein Heft von acht Blättern, das frühzeitig verloren gegangen und nicht ersetzbar ist. Diesen Codex regius bezeichnet man vielfach, aber fälschlich mit dem Namen Edda; ja wenn kurzweg von „Edda“ geredet wird, meint man gewöhnlich diese Liedersammlung. Derjenige, der sie im 17. Jahrhundert entdeckte, der isländische Bischof Brynjolf Sveinsson, nahm an, daß er die Quelle von Snorris Edda vor sich habe, und da er den Namen „Edda“ für Snorris Werk nicht verstand, übertrug er ihn auch auf die Quelle und bezeichnete die Liedersammlung als die ältere Edda. Er wußte auch gleich einen Sammler oder Verfasser anzugeben, den weisen Sämund, von dem uns allerdings nicht viel mehr bekannt ist, als daß er etwa hundert Jahre vor Snorri gelebt und in der Tat mit der Liedersammlung nicht die Spur zu tun hat. Immerhin hat sich der Titel „Edda“[S. 6] für die Liedersammlung festgesetzt; man unterscheidet sie am besten als „poetische“ von Snorris „prosaischer“ Edda, muß sich aber stets gegenwärtig halten, daß der Name „Edda“ für die Liedersammlung nicht authentisch ist.
In der Sammlung stehen nun zunächst Götterlieder, dann Lieder aus verschiedenen Heldensagen, zuletzt, wie gesagt, eine Sammlung von Liedern aus der Nibelungensage, die so angeordnet sind, daß sie wenigstens äußerlich eine geschlossene Darstellung der Sage geben. An der Spitze der Sammlung, soweit sie die Nibelungensage angeht, steht ein Gedicht, das sich betitelt: Die Weissagung des Gripir. Sigurd (derselbe Held, der in Deutschland den Namen Siegfried führt) kommt hier als junger Mann zu einem Oheim, namens Gripir, der eigens zu diesem Zwecke von dem Sammler erfunden scheint, und erkundigt sich nach seinem künftigen Schicksal; Gripir ist ein Seher und vermag ihn ohne weiteres über alles, was ihm bevorsteht bis über seinen Tod hinaus, zu orientieren. Es ist das eine Entgleisung der nordischen Dichtweise, wie sie ziemlich häufig vorkommt, daß lebenden Leuten ihr künftiges Schicksal bis in alle Einzelheiten prophezeit wird, ohne daß sie dann auch nur den geringsten Versuch machen, dem Schicksal, das ihnen droht, die Stirn zu bieten; in Wirklichkeit ist denn die Weissagung Gripirs weiter nichts als eine Übersicht über das, was nun in der Sammlung kommt.
Es folgt zunächst eine ganze Reihe von Fragmenten, zu der der Sammler eine Rahmenerzählung geliefert hat; die Strophen sind lose in die Erzählung eingestreut. Man teilt in unsern Eddaausgaben diese Fragmentsammlung in drei Abschnitte ein: die Sprüche von Regin (Reginsmál), die Sprüche von Fafnir (Fáfnismál) und die Sprüche von Sigrdrifa (Sigrdrifumál). Mitten in diesem letzten Teile bricht die Sammlung für uns vorläufig ab, weil die Lücke einsetzt. Nach der Lücke stoßen wir auf den Schlußteil eines einst vollständigen Liedes, also nicht eines von dem Sammler als Bruchstück aufgenommenen Stückes, das nur durch die Ungunst der Verhältnisse für uns ein Bruchstück geworden ist. Hier wird nun, während in dem vorausgehenden Stücke die Erzählung bis dahin geführt war, wo Sigurd die Brynhild kennen lernt, gleich erzählt von den Umständen, die sich um Sigurds Ermordung gruppieren; es fehlt uns also der ganze eigentliche Kern der Sage. Es folgt ein sehr langes Gedicht, das augenscheinlich vollständig erhalten ist, und das den Titel führt:[S. 7] das kurze Sigurdslied. Er erklärt sich daraus, daß jedenfalls das Lied, von dem wir nach der Lücke noch den Ausgang haben, noch länger gewesen ist. Das kurze Sigurdslied erzählt zusammenhängend, aber nicht immer sagenecht, was Sigurd im Reiche der Niflunge[1] erlebt hat, von dem Augenblicke an, wo er es betreten, bis an seinen Tod, und über ihn hinaus, wie Brynhild ihm im Tode folgt.
Den Fortgang der Erzählung bringt ein umfangreiches und ziemlich altes Gedicht, gewöhnlich das zweite Lied von Gudrun genannt (Gudrun ist im Norden der Name derselben Figur, die in Deutschland Kriemhilt heißt, also Sigurds Witwe). Gudrun erzählt selbst ihre Schicksale: wie sie Sigurds Weib und Witwe geworden, wie sie den Atli (den deutschen Etzel) geheiratet, und wie dieser ihre Brüder gemordet hat; für diese Tat plant sie die Rache; die Begründung dieser Rachegefühle gibt uns hier ein zweifellos hochbegabter Dichter. Die Darstellung der Ermordung der Niflunge fehlt in diesem Liede leider; wahrscheinlich hat sie der Sammler gestrichen, weil er in den beiden Atliliedern (vgl. nachher) noch zweimal dieselbe Sache vorgetragen fand.
Mehrere Einzellieder, wirkliche Balladen, die lediglich einen einzelnen Moment, ein Stimmungsbild aus der Sage herausgreifen und poetisch behandeln, sind ebenfalls in der Sammlung erhalten: das erste Lied von Gudrun (es schildert die Haltung von Sigurds Witwe an dessen Bahre), dann das Lied von Brynhilds Fahrt zur Unterwelt, ferner ein drittes Gudrunlied und das „Oddruns Klage“ betitelte Einzelgedicht; sie behandeln sämtlich Nebendinge.
Das Hauptereignis, der Untergang der Niflunge durch Atli samt Gudruns Rache, wird erzählt in den beiden Liedern von Atli, die parallel nebeneinander herlaufen, einem ältern (Atlakvida) und einem jüngern (Atlamál); sie geben beide dieselbe Darstellung, denselben Inhalt, dieselbe Szenerie wieder.
Damit ist die Sage, soweit sie der deutschen Überlieferung im Norden parallel geht, zu Ende. Seltsamerweise ist im Norden die Erzählung noch um eine Stufe weiter geführt: Gudrun verheiratet sich (was uns sehr seltsam anmutet) zum drittenmal, und um ihre Schicksale in dieser dritten Ehe drehen sich die beiden letzten Gedichte der Sammlung: Gudruns Aufreizung (Gudrunarhvot) und[S. 8] die Sprüche von Hamdir (Hamdismál); Hamdir ist einer ihrer Söhne aus dritter Ehe.
Es fehlt nun noch eine Brücke über die Lücke; diese bietet uns eine Prosaerzählung, die auch noch im 13. Jahrhundert entstanden ist, und die unsere Liedersammlung (nicht in der uns erhaltenen Handschrift) in vollständiger Gestalt benutzt hat. Die Erzählung führt den Titel: Volsungasaga, die Erzählung von den Wolsungen[2]. Sie ist kein selbständiges Buch, sondern nur der erste Teil und die Einleitung zu einem weiter folgenden Hauptteil, der Ragnars Saga Lodbrokar (Erzählung von Ragnar Lodbrok, einem Wikingerkönig des 9. Jahrhunderts). Die Absicht des ganzen Werkes ist, den im 13. Jahrhundert regierenden norwegischen Königen, die sich als Nachkommen des Ragnar Lodbrok ansahen, dadurch, daß dieser zu einem Schwiegersohne Sigurds gemacht[3], Sigurd seinerseits aber bis auf die alten Heidengötter zurückgeführt wird, göttlichen Ursprung beizulegen. So setzt die Volsungasaga damit ein, daß sie erzählt, wie ein Sohn des Gottes Odin, namens Sigi, eine Herrschaft auf Erden gewinnt. Von ihm springt die Erzählung auf seinen Sohn Rerir und von Rerir auf dessen Sohn Volsung, denjenigen, der den Geschlechtsnamen zuerst führt und damit bekundet, daß mit ihm die alte Sage überhaupt erst anhebt. Was vorausgeht, ist erst, um die Verbindung mit dem Gotte herzustellen, hinzugedichtet. Von Volsung und seinen Söhnen, deren bedeutendster Sigmund heißt, erzählt nun die Volsungasaga eine höchst altertümliche und grausige Geschichte, die, obgleich sie mit der von Sigurd nur äußerlich in Beziehung steht, von Wagner für seine Darstellung der Nibelungensage stark ausgenutzt ist. An sie schließt sich die Erzählung von Sigurd, dem Sohne Sigmunds, und es folgt die gesamte Sage im Anschluß an die vorhin besprochene Liedersammlung, so zwar, daß die Lücke, die in jener vorliegt, hier vollständig für uns ausgefüllt ist. Der Sagaschreiber verfährt so naiv, daß er die Lieder einfach in Prosa umschreibt. Er denkt nicht daran, die notwendigerweise existierenden Widersprüche zwischen den einzelnen Liedern auszugleichen. Wenn zwei Lieder hintereinander stehen, die dieselbe Geschichte behandeln, die einander also in der[S. 9] Prosaerzählung eigentlich ausschließen, erzählt er dieselbe Sache ruhig zweimal. — Das ist die eigentliche nordische Überlieferung, die im wesentlichen schriftlich niedergelegt worden ist im 13. Jahrhundert, obgleich sie natürlich auf wesentlich ältern Quellen beruht. Außerdem ist in die nordische Olafs Saga Tryggvasonar (die Erzählung von Olaf, Sohn des Tryggvi, einem norwegischen Könige, der im Jahre 1000 fiel) auch ein Stück unserer Liedersammlung aufgenommen und kann uns infolgedessen als Kontrolle dienen.
In Deutschland haben eigentümlicherweise diejenigen, die sicherlich die Kunde von den Ereignissen der Nachwelt übermittelt haben, die Franken, nichts Direktes für die poetische oder schriftliche Darstellung der Sage getan. Wir finden im 10. Jahrhundert, also etwa hundert Jahre nach der Wikingerzeit, eine Spur, daß die Sage vom Niederrhein nach Bayern gelangt ist, nicht auf dem Wege der volkstümlichen Erzählung, sondern, wie es scheint, einheitlich, indem ein fahrender Mann, der die Kenntnis der Geschichte besaß, sie dahin gebracht und dem Bischof Pilgrim von Passau, der damals in Bayern eine große Rolle spielte (er war Bischof von Passau 971–991), vorgetragen hat; der Bischof soll sie dann in lateinischer Sprache durch seinen Schreiber Konrad haben aufzeichnen lassen. Diese Nachricht ist uns überliefert durch eine spätere hochdeutsche Dichtung, die Klage, die zwar nicht ohne weiteres glaubwürdig ist, von der man aber nicht einsieht, wie sie zur Erfindung der Notiz hätte kommen können. So ist denn die Nibelungensage spätestens im 10. Jahrhundert vom Niederrhein nach Oberdeutschland verpflanzt worden und hier in ein Gebiet geraten, in dem eine andere Sage bereits die Alleinherrschaft hat und den Volksgeist und die Volksphantasie vollständig beherrscht und erfüllt; es ist dies die gotische Dietrichsage, die in Bayern zu Hause ist, und die auch durch die Nibelungensage dort nicht hat verdunkelt werden können. Zwischen der gotischen Dietrichsage und der Nibelungensage, wie sie von den Franken herüberkommt, besteht nun ein eigenartiges äußeres Band. In beiden spielt von Haus aus auf Grund der Geschichte der Hunnenkönig Attila eine wesentliche Rolle. Damit ist natürlich für die Menschen des 10.-12. Jahrhunderts erwiesen, daß die beiden Erzählungen gleichzeitig sind und in einem gewissen Zusammenhange stehen; so tritt denn in Oberdeutschland die Nibelungensage als Episode in die Dietrichsage ein. Das hat nicht[S. 10] verhindert, daß gerade die Nibelungensage im 12. Jahrhundert als Stoff eines großen Gedichtes, des einzigen, das wenigstens den Versuch macht, die ganze Erzählung abschließend zu behandeln, verwendet worden ist; das ist unser Nibelungenlied oder, wie sein ursprünglicher Titel heißt, „der Nibelunge Not“. Sein Verfasser ist ein ritterlicher Sänger, ein Angehöriger der obern Stände; nachdem im 12. Jahrhundert die Kulturverhältnisse sich soweit gehoben haben, daß der Ritterstand selbst literarisch tätig ist, arbeiten im Westen und besonders im Nordwesten Deutschlands die ritterlichen Dichter auf Grund modischer, fremder, gewöhnlich französischer Vorlagen; den Angehörigen des Südostens waren solche weniger zugänglich; so griff der Dichter der Nibelunge Not in die Tiefe der Volksüberlieferung und nahm aus ihr einen einheimischen Stoff heraus und herauf. Das ist die Stellung des Nibelungenliedes in der Geschichte der deutschen Literatur.
So wie das Lied uns überliefert ist, ist es nicht ohne weiteres als Werk jenes Mannes zu betrachten. Die Beurteilung dieser Überlieferung ist ganz besonders schwierig; das Originalgedicht besitzen wir ganz bestimmt nicht mehr. Doch war das Lied, wie es uns noch vorliegt, zu Anfang des 13. Jahrhunderts vorhanden, denn Wolfram von Eschenbach zitiert es in seinem Parzival.
„Der Nibelunge Not“ ist ein literarischer Erfolg allerersten Ranges gewesen. Denn von dem Augenblick an, wo das Gedicht existiert, schießen Gedichte der gleichen Stoffklasse in gleicher Form wie Pilze aus dem Boden; bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts beherrschte die deutsche Heldensage (wie man dieses Stoffgebiet als Ganzes nennt) einen großen Teil des literarischen Interesses Süddeutschlands. Im Laufe dieser Zeit tritt allerdings dieser Stoff allmählich mehr und mehr in die zweite Linie zurück, eine natürliche Folge der ständigen Schwankungen und Wellen des literarischen Geschmacks. Andere, weniger urwüchsige Stoffe wurden jetzt bevorzugt; das Lied war für die vornehmen Stände nicht vornehm genug, für die untern Stände wiederum aber noch zu fein. So geriet es allmählich in Vergessenheit und wurde ungefähr ums Jahr 1500 abgelöst durch eine eigenartige, wenig künstlerische Dichtung, das „Lied vom Hürnen Seifrid“. Es geht nicht einfach auf das Nibelungenlied zurück, sondern hat manche Besonderheiten, und darin besteht seine Bedeutung für die Sagenforschung. Aber sein dichterischer Wert ist gleich Null. Daß Seifrid[S. 11] hier „hürnen“ heißt, will besagen: er hat eine durch Drachenblut wie Horn gehärtete Haut. Der Hürnen Seifrid ist uns nun schon gar nicht mehr handschriftlich erhalten. Er tritt erst in die Literaturgeschichte ein, nachdem der Buchdruck schon vorhanden ist: um 1500 tritt er auf, etwa ein Jahrhundert lang (bis 1611) wird er wiederholt aufgelegt; schließlich liefert das Gedicht den Stoff zu dem in eigenartiger Weise modernisierten und eigentlich verballhornten Volksbuche vom „gehörnten Siegfried“, das mit modischen, halb lateinischen, halb französischen Floskeln verbrämt ist[4]. Aus dem „Hürnen Seifried“ ist ein „gehörnter“ Siegfried geworden. Es ist in der Tat gemeint, daß er Hörner auf dem Kopfe trägt; ein vollständiges Mißverstehen des alten Beinamens. Das Volksbuch ist im wesentlichen während des 18. Jahrhunderts lebendig, doch nur in den untersten Kreisen des Volkes. Es ist in bezug auf seinen Sagengehalt nichts weiter als eine Ausgestaltung des Hürnen Seifried, also für eine Untersuchung der älteren Sagenform ohne Belang.
Der deutsche Zweig der Entwicklung unserer Sage ist im 13. Jahrhundert auf literarischem Wege in Skandinavien eingeführt worden, und zwar durch einen Norweger, der zum nördlichen Deutschland innige Beziehungen hatte. Er nennt als seine Gewährsmänner Leute aus Bremen, Münster und Soest, also aus Städten, in denen damals der Handel besonders mit Skandinavien blühte. Sein Werk umfaßt das ganze Gebiet der deutschen Heldensage, in erster Linie also die Dietrichsage, von den Ahnen Dietrichs beginnend bis auf seine Entführung durch ein schwarzes Höllenroß. Innerhalb dieses Rahmens ist auch die Nibelungensage erzählt, und zwar in deutscher Form, in einer Form, die zu unserm Nibelungenliede in nächster Beziehung steht, so zwar, daß wir nicht etwa nur anzunehmen brauchen, sie beruhe auf denselben Erzählungen, sondern es muß, wenigstens stellenweise, ein und dieselbe Dichtung beiden zugrunde liegen. Ob etwa das Nibelungenlied selbst vom Verfasser dieses Buches benutzt worden ist, mag vorläufig dahingestellt bleiben. Der Titel des Werkes ist „Thidrikssaga Konungs af Bern“, die Erzählung von König Dietrich[S. 12] von Bern. Dieser, der ja der Hauptheld der süddeutschen Sage ist, ist hier der Mittelpunkt des deutschen Heldenzeitalters. Um ihn gruppiert sich alles, an ihn schließt sich auch die Nibelungensage an; denn er ist in dem großen Nibelungenkampfe derjenige, der den Ausschlag gibt, der allein in der Lage ist, die Nibelunge zu überwinden. Wie uns die Thidrikssaga erhalten ist, ist sie nicht einheitlich, sondern es haben mehrere Hände ihre jetzige Gestalt bewirkt. Immerhin ist sie eine wundervolle Quelle, die vollständigste Quelle unserer deutschen Heldensage überhaupt. Sie hat begreiflicherweise manche Nachdichtung auf nordischem Boden hervorgerufen; solche sind für die Erkenntnis der ältern Sagenform ebenso belanglos wie das deutsche Volksbuch.
[S. 13]
Die nordische Gestalt der Nibelungensage hat viel Altertümliches bewahrt; in vielen Dingen ist sie sicher wesentlich altertümlicher als die deutsche. Eine einheitliche Darstellung im strengen Sinne ist im Norden nicht zustande gekommen. Wir besitzen nur Lieder und Bruchstücke, notdürftige Zusammenstoppelungen der letztern und die scheinbare Gesamterzählung der Volsungasaga, die sich aber Schritt für Schritt an die Liedersammlung anklammert.
Die Dichtungen selbst sind, soweit sie uns erhalten sind, noch in der Weise altgermanischer Poesie abgefaßt, d. h. sie weisen den stabreimenden Vers auf. Dieser tritt in den nordischen Liedern in der Hauptsache in drei Formen auf. Die gewöhnlichste Art ist die „fornyrdislag“ (Gesetz der alten Rede) genannte. Sie besteht darin, daß die gewöhnlichen alten, vier Haupthebungen aufweisenden Langverse zu in der Regel vierversigen Strophen verbunden werden; oft sind die Strophen verschieden lang, so daß die Verse durch die betreffende Dichtung im Grunde genommen glatt durchlaufen. Der Vers selbst besteht immer aus zwei Teilen, die durch einen Einschnitt getrennt sind. Innerhalb jedes Teiles stehen zwei haupttonige Silben (Hebungen). Die erste Hebung des zweiten Teiles ist die wichtigste; sie gibt den Stabreim an. Mit ihr muß eine oder dürfen beide des ersten Teiles durch Stabreim gebunden sein, z. B. Kurzes Sigurdslied, Strophe 1:
[S. 14]
Die zweite verhältnismäßig selten vorkommende Form ist der sogenannte Málaháttr (Spruchweise); ihre Besonderheit besteht darin, daß die einzelnen Halbverse etwas länger sind als beim Fornyrdislag, im allgemeinen um eine Silbe. In der deutschen Übersetzung hat Gering dies dadurch wiedergegeben, daß er die Halbzeilen dreihebig macht, z. B. Atlakvida, Strophe 28:
Das dritte Metrum, Ljódaháttr (Liedweise) genannt, ist ein lyrisches, offenbar zum Gesang bestimmtes. Es besteht darin, daß auf einen Langvers, der dem im Fornyrdislag üblichen im wesentlichen gleich ist, ein einschnittloser Vers von drei Hebungen folgt und mit ihm ein Ganzes bildet; in der Regel sind zwei solcher Verspaare zu einer Strophe vereinigt, z. B. Reginsmál, Strophe 1:
Der Stabreim besteht darin, daß der Anlaut der höchstbetonten Silben gleich ist; es ist nur nötig, daß der erste Laut alliteriert, mit folgenden Ausnahmen: 1. alle vokalisch anlautenden Silben können miteinander reimen, weil der Germane keinen Vokal anders als mit einem festen Ansatz ausspricht, den wir auch in der heutigen deutschen Sprache noch hören können: also Worte wie „alt“ und „ewig“ klingen reimend an für den Stabreim; 2. die mit folgenden p, t und ch eng verbundenen s können nur mit ebenso verbundenen gereimt werden, z. B. „sprechen“ mit „Sper“, aber nicht mit „schießen“, dies mit „schreien“, aber nicht mit „sitzen“ usw. Im übrigen ist jeder einzelne Laut allein ausreichend.
Soviel über die poetische Form; die Mehrzahl der nordischen Denkmäler ist allerdings in Prosa abgefaßt, Verse bilden immerhin die Ausnahme.
Den Inhalt der nordischen Sagenform kennen wir am vollständigsten aus der Volsungasaga. Sie hat die Erzählung bis auf den alten Hauptgott der Germanen selbst zurückgeführt; Odin[S. 15] steht an der Spitze des Geschlechtes der Wolsunge[6]. Im Norden ist, da das Heidentum sehr viel länger lebendig blieb als in Deutschland, die Götterlehre sehr viel weiter ausgebildet, und sind die Götter sehr viel persönlicher geworden; in Deutschland wissen wir von ihnen so gut wie nichts; sie sind hier wesenlose Schemen. Odin ist der Vater des Sigi, der als ein König auf Erden herrscht, von seinem Vater eingesetzt. Sein Enkel Wolsung ist der eigentliche Ahnherr des Geschlechtes der Wolsunge; daß er selbst den Geschlechtsnamen führt, ist im Grunde ein Versehen der nordischen Überlieferung, das uns ein altenglisches Zeugnis beseitigen hilft: im Gedichte Beowulf, dem ältesten Epos in germanischer Sprache, heißt derselbe Mann nicht Wolsung, sondern bloß Wæls. Diese Form ist zweifellos die richtige; sie gibt den eigentlichen Personennamen. Wolsung, mit der Endung -ung abgeleitet, ist der Geschlechtsname, zu vergleichen mit Amelungen, Merowingern, Karolingern, Nibelungen usw.; ein Wolsung ist ein Nachkomme des Wals; diese Bildungsweise der Geschlechtsnamen ist gut germanisch.
Wolsung hat zehn Söhne und eine Tochter, namens Signy. Um diese wirbt ein König Siggeir (er herrscht über die Gauten, die in Südschweden sitzen) und erhält sie auch zur Frau. Auf der Hochzeit der beiden erscheint ein Mann in blauem Mantel, den Hut ins Gesicht hereingezogen, so daß man nur ein Auge sieht, stößt in den Baumstamm, der mitten in der Königshalle steht, ein Schwert und bestimmt es demjenigen, der imstande ist, es wieder herauszuziehen. Der Mann ist seiner Schilderung nach natürlich Odin, der höchste Gott, der in dieser Gestalt auf der Erde wandernd gedacht wurde. Die Hochzeitsgäste, vor allen Siggeir, der junge Gemahl, versuchen das Schwert herauszuziehen. Keinem gelingt es; erst als Sigmund, der älteste Sohn Wolsungs, zugreift, liegt das Schwert vor ihm, als ob es gar nicht festgesteckt hätte. Siggeir bietet ihm Gold für das Schwert, er aber behält es für sich.
Siggeir scheidet in Ärger von der Familie seiner Frau und denkt auf Rache. Nach einiger Zeit ladet er den Schwiegervater und seine Söhne zu sich ein. Sie kommen trotz der Warnung der Signy und werden unmittelbar, nachdem sie im Gautenlande[S. 16] angekommen sind, überfallen, der alte König Wolsung getötet, seine Söhne gefangen; in der Gefangenschaft kommen sie nach und nach alle um, mit Ausnahme Sigmunds, der durch eine List der Signy am Leben erhalten wird und entflieht. Er lebt in der Wildnis und sinnt auf Rache, vermag sie aber noch nicht durchzuführen.
Signy ist in einer eigenartigen Lage: sie ist die Schwester des Rächers und die Gattin desjenigen, gegen den die Rache geplant ist, gerät also in einen Konflikt der Pflichten. Als die Signy-Sigmund-Geschichte gedichtet wurde, galt durchaus noch die alte Anschauung, daß Blutsverwandtschaft dem Gattenverhältnis unbedingt vorgeht, daß also Signy ebenso zur Rache für Wolsung und ihre Brüder verpflichtet ist, wie Sigmund. Signy versucht sogar ihre eigenen, dem Siggeir gebotenen Söhne, die doch auch Wolsungs Enkel sind, zur Rache zu verwenden und schickt sie zu Sigmund in den Wald hinaus, damit dieser sie auf ihre Heldenhaftigkeit prüfe. Sie erweisen sich aber als Memmen, weil sie zur Hälfte vom Stamme Siggeirs sind und keine vollbürtigen Wolsunge. Sigmund tötet sie im Einverständnis mit Signy ohne weiteres, diese aber entschließt sich zu einem ganz eigenartigen Schritt: sie tauscht mit einem andern Weibe die Gestalt (ein in der nordischen Dichtung gar nicht selten auftretender Zug) und lebt dann eine Zeitlang unerkannt bei ihrem Bruder, um nach eingetretener Empfängnis wieder zurückzukehren[7]. Der Sohn, den sie gebiert, der den Namen Sinfjotli trägt, ist infolgedessen ein Wolsung von Vater- und von Mutterseite und vollwertig zur Rache. Auch er wird hinaus zu Sigmund geschickt, von ihm geprüft und sofort als Held erfunden. Darauf schleichen sich Sigmund und Sinfjotli in die Halle Siggeirs ein, werden jedoch entdeckt und festgesetzt. In der Gefangenschaft aber reicht ihnen Signy das Wunderschwert zu, um das der Streit entbrannt war. Mit dem Schwerte sägen sich Sigmund und Sinfjotli aus den Mauern ihres Kerkers, töten den Siggeir und brennen die Halle nieder. Die Rache ist vollendet. Signy verbrennt sich in den Flammen des brennenden Hauses zur Sühne für ihre Teilnahme an derselben.
Sigmund aber kehrt in seine Heimat zurück, vermählt sich[S. 17] mit einer dänischen Fürstin, namens Borghild, und wird dadurch dänischer König. Diese Borghild hat in der Sage recht wenig Bedeutung; sie bedeutet für die Komposition unserer Erzählung nur, daß Sinfjotli, der in ihren späteren Teilen keine Stelle mehr hat, herausgebracht wird. Sie haßt den Stiefsohn und vergiftet ihn schließlich. Sinfjotli ist damit aus der Erzählung ausgeschieden, und Borghild entbehrlich: Sigmund verstößt sie.
An die Sigmund-Borghild-Episode anknüpfend hat ein nordischer Dichter eine in Deutschland ganz unbekannte Sage dänischen Ursprungs angeschlossen: die Geschichte von Helgi dem Hundingstöter. Dieser gilt für einen Sohn des Sigmund und der Borghild. Seine Taten und Schicksale stehen nur in ganz loser Beziehung zu unserer Sage. Der von Helgi getötete Hunding[8] gilt als Vater des Königs Lyngvi, gegen den Sigmund gefallen ist — eine chronologisch fast unmögliche Auffassung.
Sigmund geht an eine zweite Ehe. Obgleich nunmehr schon bejahrt, wirbt er doch um eine junge Fürstin, die den Namen Hjordis führt (ein Name, der in Deutschland nicht vorkommt; er bedeutet etwa „Schwertmädchen“). Gleichzeitig wirbt um diese Hjordis ein König Lyngvi. Obgleich er jünger ist wie Sigmund, wählt sie doch den Alten, weil er der berühmtere ist, und folgt ihm als Gattin. Lyngvi zieht zur Rache gegen ihn zu Felde. Es kommt zu einer Schlacht, in der Sigmund wie immer das unüberwindliche Gottesschwert schwingt; im entscheidenden Moment aber tritt ihm Odin selbst entgegen und hält seinen Speer gegen das Schwert: es zerspringt, und Lyngvi kann Sigmund tödlich verwunden. Er kommt aber nicht zu seinem Ziele, denn er findet die versteckte Hjordis nicht und zieht ohne sie ab. Hjordis sucht ihrerseits auf dem Schlachtfelde den todwunden Gatten auf und erhält von ihm, bevor er stirbt, die Bruchstücke des Schwertes, um sie dem zu erwartenden Sohne aufzubewahren.
Irgendwie motiviert ist in der Erzählung das Auftreten des Gottes Odin nicht: er schenkt das Schwert, ebenso wie er es später zum Springen bringt, ohne Grund. Irgendwelche tiefern religiösen Ideen darf man nicht darin suchen, auch nicht das, was man gemeinhin einen Mythus nennt. Es ist nichts weiter darin zu finden als ein Bild: Odin ist der Gott des Sieges;[S. 18] Sigmund ist im wichtigsten Teile seines Lebens als unüberwindlicher, siegreicher Held gedacht, er genießt also die Gunst des Sieggottes, er hat ein von diesem ihm geschenktes Schwert. Schließlich fällt er doch in der Schlacht; also muß ihm der Gott selbst den Sieg entzogen haben; warum er dies getan hat, danach hat man bei einem Gotte nicht zu fragen.
Hjordis wurde mit ihrer Begleitung kurz nach dem Tode ihres Gatten von Seeräubern entführt. An ihrer Spitze stand Alf, der Sohn des Königs Hjalprik von Dänemark. Alf fand Gefallen an der Witwe und vermählte sich mit ihr, nachdem sie den Sigurd, den Sohn Sigmunds, geboren hatte; so wurde Sigurd (unser deutscher Siegfried) erzogen am Hofe des Königs von Dänemark — nach der Auffassung einer spätern nordischen Dichtung. Damit aber hören die Beziehungen Sigurds zum dänischen Königshofe so gut wie ganz auf. Außer seinem Stiefvater hat Sigurd noch einen Pflegevater, den Regin, einen Mann verhältnismäßig niederer Herkunft. Die Doppelheit des Stiefvaters und Pflegevaters zu gleicher Zeit und scheinbar auch am gleichen Orte wäre zur Not zu verstehen. Nicht zu verstehen aber ist, daß der Stiefvater in Dänemark lebt, der Pflegevater dagegen, wie sich gleich aus dem folgenden ergibt, in Deutschland am Rheine lebend gedacht wird. Wir sehen hier, daß die Darstellung Sprünge hat, daß ältere und jüngere Schichten übereinander liegen; der ältern gehört hier der Pflegevater Regin am Rheine an. Der Umstand, daß Sigurd, der später ein großer Held wird, unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen sein soll, hat die spätern, verfeinerten Geschlechter gestört; man hat ihm deshalb einen Stiefvater aus königlichem Blute gegeben, so daß eine dementsprechende königliche Erziehung möglich war.
Regin ist, wie gesagt, ein Mann vergleichsweise niederer Herkunft. Er versucht den Sigurd, nachdem er herangewachsen ist, in seinem eigenen Interesse auszunutzen; zu diesem Zwecke erzählt er ihm seine Schicksale und damit verbunden die Herkunft des großen Schatzes, den er beansprucht, den aber ein Drache hütet.
Nach dieser Erzählung war der Vater des Regin und noch zweier Brüder, die die Namen Fafnir und Otr führen, ein Bauer namens Hreidmar. Die Söhne hatten die Fähigkeit, beliebig Tiergestalt anzunehmen. Es ist das eine Erscheinung ähnlich dem Gestaltentausch der Signy.
[S. 19]
Eines Tages ziehen nun drei Götter, Odin, Hönir und Loki (eine Dreiheit, die oft zusammen genannt wird) auf Erden umher in menschlicher Gestalt. An einem Wasserfall sehen sie einen Fischotter einen Fisch schmausen. Loki tötet durch einen Steinwurf den Fischotter und zieht ihm den Balg ab. Mit dieser Beute kehren sie dann bei dem Bauern Hreidmar ein; dieser erkennt an dem Otterfell, daß sein Sohn Otr hat das Leben lassen müssen. Er setzt infolgedessen die drei Götter gefangen und legt ihnen die Mordbuße für den Sohn auf: der Otterbalg soll mit Gold ausgefüllt werden, bis er auf seinen vier Beinen wieder stehen kann, und dann auch mit Gold überzogen werden, bis das letzte Härchen verschwunden ist. Darauf wird einer der Götter, Loki, beurlaubt, um das nötige Lösegeld herbeizuschaffen. Er kommt wieder an den Wasserfall, wo, wie er weiß, ein Zwerg, namens Andvari, lebt, der große Schätze hat und sich oft in Hechtgestalt im Wasser aufhält. Loki fängt diesen Hecht, und nun muß sich Andvari durch Herausgabe seines Reichtums lösen. Er gibt verhältnismäßig rasch alles heraus bis auf einen Ring, der in der Folge unter dem Namen Andvaranaut (Andvari’s Kleinod) eine wichtige Rolle spielt; da Loki auch diesen nimmt, das letzte, was Andvari hat, belegt der Zwerg den Ring mit einem furchtbaren Fluche, der darauf hinzielt, daß alle die, die ihn später besitzen werden, vom Fluche betroffen zugrunde gehen. Mit der gewonnenen Beute wandert Loki zu Hreidmar und übergibt das Gold Odin. Dieser füllt den Balg aus und überkleidet seine Außenseite, behält aber den Ring vorläufig zurück. Hreidmar sieht sich die Mordbuße an und erklärt schließlich, daß noch ein Schnurrbarthaar des Otters durchscheine; das müsse noch bedeckt werden, dann sei die Sache in Ordnung. Darauf erst gibt Odin den unheilbringenden Ring noch hinzu, und die Götter sind gelöst. Sofort aber beginnt der Fluch zu wirken: die beiden andern Söhne Hreidmars fordern Anteil an der Buße; da er das verweigert, erschlagen ihn seine Söhne und geraten nun untereinander in Zwist. Fafnir verjagt Regin, behält den ganzen Schatz für sich und hütet ihn nun in einer Höhle auf der Gnitaheide[9]. Hier liegt er von nun an in Drachengestalt auf dem Schatze.
Regins Bestreben ist nun, Fafnir zu töten und damit den[S. 20] Schatz zu gewinnen; zu diesem Zwecke will er sich Sigurds bedienen. Sigurd verlangt dazu zunächst ein Schwert. Die Schwerter, die Regin selbst schmiedet, sind ihm alle nicht gut genug; sie versagen bei der Probe. Daraufhin begibt sich Sigurd zu seiner Mutter und erhält von ihr die Stücke des Gottesschwertes, das der Vater geführt hat. Regin schweißt sie wieder zusammen[10]. Dies Schwert besteht jede Probe. Es wird im Rhein erprobt, indem im langsam fließenden Wasser gegen die Schärfe des Schwertes eine Wollflocke entgegentreibt; sie wird glatt durchschnitten. Das Schwert wird für gut erklärt, und nun verlangt Regin die Tötung des Drachens. Sigurd aber denkt zunächst an etwas anderes, was in der nordischen Sagengestalt unvermeidlich ist, aber zweifellos nicht ursprünglich zu unserer Darstellung gehört: er denkt an Vaterrache. Er muß seinen gefallenen Vater Sigmund an Lyngvi rächen. So zieht er denn zunächst mit Heeresmacht, die er natürlich von seinem Stiefvater Alf erhalten hat, gegen Lyngvi und fängt und tötet ihn. Dann erst, nachdem die Vaterrache gelungen ist, macht sich Sigurd an die Tötung Fafnirs. Er kundschaftet seine Höhle aus, gräbt eine Grube, setzt sich hinein und ersticht ihn von unten, während jener über ihn hinwegschreitet. Die nordische Dichtung bringt nunmehr ein langes Zwiegespräch zwischen dem sterbenden Drachen und Sigurd; gerade in solche Momente lange, meist auf die Zukunft hinausdeutende Erzählungen einzulegen, ist im Norden nicht unbeliebt, erscheint uns freilich ungeschickt und unbegreiflich.
Dann stirbt der Drache, Regin begrüßt den Sigurd, bittet ihn, ihm das Herz des Drachens zu braten und legt sich einstweilen zur Ruhe. Sigurd geht an diese kleine Arbeit und versucht nach einiger Zeit, ob das Herz wohl gar ist, indem er es mit den Fingern anfaßt; dabei verbrennt er sich und steckt die Finger rasch in den Mund. Darüber kommt etwas Drachenblut an seine Zunge, und er versteht plötzlich, was die Vögel in den Bäumen über ihm reden. So erfährt er denn von ihnen, daß Regin darauf denkt, wie er Sigurd beseitigen kann, teils um seine Rachegelüste zu befriedigen, — denn er hat gewissermaßen die Verpflichtung, seinen Bruder Fafnir zu rächen, — teils um[S. 21] den Hort für sich zu gewinnen. Daraufhin tötet Sigurd den Regin. Durch die Vögel erfährt er weiter von dem Dasein des Schatzes und wird hingewiesen auf eine Jungfrau, zu der ihn zunächst sein Weg führen soll. Mit dem Schatze beladen zieht er ab und kommt nach einiger Zeit an eine Höhe, die den Namen Hindarfjall (der Hindenberg) führt. Die Erzählung (hier die Prosa des Sammlers der Lieder-Edda) fährt wörtlich fort (Gering S. 210): „Sigurd ritt hinauf nach Hindarfjall, und seine Absicht war es, gen Süden nach dem Frankenlande zu ziehen. Auf dem Berge sah er ein helles Licht, als ob Feuer darauf brannte, und der Schein leuchtete zum Himmel empor. Als er aber näher kam, stand dort eine Schildburg, und über ihr wehte ein Banner. Sigurd ging in die Schildburg und erblickte darin einen Mann, der in voller Rüstung da lag und schlief.“ Es brennt also kein Feuer, sondern die glänzenden Schilde, die zu einer Art von Zaun zusammengestellt sind — das ist die Schildburg —, leuchten in der Sonne, so daß es von weitem aussieht, als brännte ein Feuer. Ein wirkliches Feuer aber ist hier in der Überlieferung nicht gemeint. Es ist das wesentlich für die Auffassung eines bestimmten Zugs unserer Sage. Der schlafende Mann wird von Sigurd erweckt; er schneidet ihm den Panzer auf und erkennt nun, daß er ein Weib vor sich hat. Das Weib erwacht und erzählt ihm ihre Schicksale. Sie heißt Brynhild und war früher eine Walküre des Gottes Odin (also ursprünglich ein dämonisches, kein menschliches Wesen). Als einmal ein Kampf zwischen zwei Königen ausbrach, Hjalmgunnar und Agnar, da stand Odin auf Seite des erstern, des ältern und berühmtern. Niemand aber wollte dem Agnar helfen. Das unternahm nun gegen den Willen des Gottes die Walküre Brynhild. Dafür ist sie von Odin aus der Schar der Walküren ausgestoßen, in Schlaf versenkt und zur Vermählung bestimmt worden. Sie aber hat vorher noch das Gelübde getan, nur dem sich zu vermählen, der das Fürchten nicht kenne. Erweckt, gibt sie zunächst dem Sigurd weise Lehren. Alsdann verloben sie sich miteinander. Sigurd aber nimmt Abschied, ohne daß die Ehe sofort vollzogen wird[11].[S. 22] Diese Unterlassung wird nicht begründet, wie überhaupt die ganze Erzählung viel Seltsames hat und uns noch seltsamer anmutet, wenn wir unmittelbar hinterher von einer zweiten Begegnung Sigurds mit Brynhild erfahren, die so erzählt wird, als ob die erste gar nicht stattgefunden hätte. Wir stehen allerdings jetzt in der Lücke des Codex regius und können nur die Volsungasaga benutzen, die für uns die Lücke ausfüllt. Nach ihr kommt Sigurd, nachdem er vom Hindenberge weggeritten ist, zu einem Helden, namens Heimir, der in Hlymdalir wohnt. Dieser Heimir hat einen Sohn Alsvinn, mit dem sich Sigurd befreundet. Sie jagen zusammen. Auf einer Jagd gelangt Sigurd im Walde auf einen einsamen Turm. Hier findet er Brynhild, wird mit ihr bekannt, wirbt um sie und wird nicht abgewiesen, obgleich sie Bedenken gegen die Werbung hat, denn sie sagt, sie wäre eine Schildmaid und trüge im Dienste von Königen die Waffen. Sie ist hier also kein übermenschliches, sondern ein rein menschliches Mädchen. Schildmädchen, d. h. Frauen, die sich dem Kriegerberufe gewidmet haben, sind in der nordischen Tradition gar nichts seltenes, sind sogar auch in der altgermanischen Welt überhaupt nichts seltenes gewesen. Man erinnere sich ferner daran, daß schon die Griechen im Norden Europas die Amazonenvölker, also kriegerische Frauen, kennen. — Sigurd und Brynhild schwören einander Eide, und zwar, wie die Volsungasaga ganz naiv sagt, von neuem; die Verlobung wird also zweimal geschlossen. Selbstverständlich haben wir hier zwei parallele Dichtungen, die nebeneinander stehen, die aber der Sagaschreiber einfach hintereinander erzählt. Die eine schließt die andere aus. Welches die altertümlichere ist, kann meines Erachtens nicht zweifelhaft sein: die zweite ist die ältere.
Das menschliche Schildmädchen ist aus den altgermanischen Verhältnissen heraus ohne weiteres verständlich; die zur Strafe unter die Menschen versetzte, ursprünglich rein dämonische Walküre setzt die ganze Entwicklung der speziell nordischen Form des germanischen Götterglaubens notwendig voraus; die Walküren als Botinnen Odins und Gefährtinnen der seligen Helden können nicht ohne diese (die Einherjar) gedacht werden, letztere wieder nicht ohne die nordische Eschatologie, die ihrerseits bestimmt[S. 23] erst unter südeuropäischen (römisch-klassischen und römisch-christlichen) Einflüssen zustande gekommen ist.
Nachdem Sigurd die Brynhild zum zweiten Male und ebenfalls ohne Angabe eines rechten Grundes verlassen hat, zieht er weiter und kommt an den Hof des Königs Gjuki. Gjuki ist die nordische Namensform des deutschen Gibich (mhd. Gibeche, ursprünglich Gibica). König Gjukis Volk wird im Norden entweder nicht oder als „Goten“ benannt, eine Auffassung, die wohl damit zusammenhängt, daß man sich im Norden die eng mit den Goten verbundenen Hunnen in Norddeutschland wohnend dachte und Sigurd zu den Hunnen rechnete. Im allgemeinen wird Gjukis Geschlecht und dann auch sein Volk mit dem Namen der Nibelunge bezeichnet (die nordische Form ist Niflungar). Der Name Nibelunge ist im Norden ziemlich selten. Wo er vorkommt, bezeichnet er stets den König Gjuki und seine Angehörigen. König Gjuki hat eine Gattin Grimhild und mehrere Kinder, vor allen die Söhne Gunnar (deutsch Günther) und Hogni (deutsch Hagen, der also im Norden ein Bruder Günthers ist) und die Tochter Gudrun. Außerdem erscheinen noch gelegentlich andere Kinder Gjukis, darunter ein Sohn Gudorm, der in der nordischen Sage zu besondern Zwecken verwandt wird und nicht auf gleicher Stufe mit seinen Geschwistern steht.
Am Hofe des Königs Gjuki erregt Sigurd großes Aufsehen, so daß man beschließt, ihn an sich zu fesseln. Als treibend tritt hierbei Grimhild, die Gattin Gjukis, auf (nicht zu verwechseln mit unserer deutschen Kriemhilt die vielmehr der nordischen Gudrun entspricht). Sie gibt dem Sigurd einen Vergessenheitstrank, worauf er nicht mehr an Brynhild denkt, und rät dann ihrem Manne, dem Sigurd die Tochter Gudrun zum Weibe anzubieten. Gjuki antwortet darauf, es sei nicht üblich, daß man seine Tochter jemandem zum Weibe anbiete, aber doch noch ruhmvoller, sie Sigurd anzubieten, als wenn ein anderer käme, um sie zu werben. Also die Wertschätzung Sigurds ist sehr groß. Sigurd vermählt sich darauf mit Gudrun und wird in die Familie aufgenommen durch die Formel des Blutsbundes. Gunnar, Hogni und Sigurd fügen sich eine leichte Wunde zu, lassen das Blut in ihre gemeinsame Fußspur rinnen, vermischen es auf diese Weise und gelten nunmehr als Blutsverwandte, als wirkliche Brüder. Ein solcher Blutsbund ist heilig und hat alle rechtlichen Folgen echter Verwandtschaft.
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Nach einiger Zeit beschließt Gunnar, Gjukis Sohn und Sigurds Schwager, sich um Brynhild zu bewerben. Zu dieser Werbung ziehen aus Gunnar, Hogni und Sigurd. Sie holen sich zunächst an den zuständigen Stellen die Einwilligung, erst bei König Atli, dem Bruder der Brynhild, dann bei ihrem Pflegevater Heimir, bei dem Sigurd sie kennen gelernt hatte, und begeben sich dann zu ihr. Sie sitzt jetzt in einem Schlosse, das von wogendem Feuer umgeben ist. Gunnar versucht hindurchzureiten; sein Roß scheut zurück. Er bittet daraufhin zunächst Sigurd um sein Pferd Grani und erhält es; aber unter Gunnar geht auch Grani nicht durchs Feuer. So tauscht denn schließlich Sigurd mit Gunnar die Gestalt (wieder ein solcher Gestaltentausch, der ohne Schwierigkeit gelingt) und reitet auf Grani in Gunnars Gestalt durch die Flammen. Drinnen sitzt Brynhild und ist gewärtig (was eigentlich nicht erklärt wird), daß nur Sigurd es wagen werde, durch die Flammen zu reiten. Sie sieht aber, daß ein anderer kommt, der sich Gunnar nennt, und da er durch die Flammen geritten ist, also die erforderliche Bedingung erfüllt hat, so ergibt sie sich ruhig in ihr Schicksal. Sigurd in Gunnars Gestalt bleibt drei Nächte lang bei ihr, ohne sie jedoch zu berühren; vielmehr trennt ein blankes Schwert ihrer beider Lager. Dann folgt Brynhild dem Gunnar als Ehefrau, und eine Zeitlang leben die beiden jungen Paare neben Hogni und den übrigen Familienmitgliedern zusammen in allem Frieden an demselben Hofe.
Da erhebt sich ein Streit zwischen den beiden Königinnen Brynhild und Gudrun, und zwar um den Rang. Es sind außerordentlich einfache Verhältnisse, die hier geschildert werden: obgleich königliche Frauen, gehen sie doch in ganz volkstümlicher Weise zusammen im Flusse baden. Während des Badens ändert plötzlich Brynhild ihren Platz, indem sie ihre bisherige Stellung unterhalb der Gudrun mit einer oberhalb derselben vertauscht. Gudrun fällt das auf; sie fragt, warum sie das täte, worauf Brynhild erwidert, sie möge nicht mit dem Wasser baden, das von der Gudrun abgelaufen ist, weil sie (Brynhild) die vornehmere sei. Gudrun sei die Gattin eines Knechtes[12], während Gunnar den Ritt durch die Flammen vollbracht habe. Gudrun,[S. 25] über diese Vorwürfe sehr erzürnt, enthüllt das Geheimnis: nicht Gunnar, sondern Sigurd ist durch die Flammen geritten; der Mann, der dabei den Ring Andvaranaut gegeben hat (oder genommen — das ist nach den Darstellungen verschieden), kann nur Sigurd gewesen sein. Brynhild ist über diese Enthüllung sehr unglücklich, geht nach Hause und brütet Rache.
Die Rolle, die der Ring als Beweisstück in dem Zanke der Königinnen spielt, ist je nach der Einzelquelle verschieden gefaßt, doch bleibt es sich tatsächlich gleich, ob im Augenblicke des Zankes Brynhild den Ring trägt, und Gudrun ihr sagt, „dieser Ring stammt doch aus Fafnirs Schatze, den kann dir nur Sigurd gegeben haben“, oder ob Gudrun den Ring trägt und sagt „den Ring, den ich hier habe, den hat Sigurd dir damals abgenommen“. Die Wirkung bleibt die gleiche.
Die Tatsache des dreitägigen, wenn auch keuschen Beilagers von Sigurd und Brynhild wird natürlich in dem Königinnenstreite verdreht und dazu benutzt, die Katastrophe herbeizuführen: Gudrun wirft der Brynhild vor, daß nicht Gunnar, sondern Sigurd ihr erster Mann gewesen sei. Über die Wirkung dieser Behauptung im einzelnen sind die nordischen Quellen nicht recht einig, vermutlich, weil wieder mehrere Parallelerzählungen, die sich gelegentlich widersprechen, nicht voll miteinander ausgeglichen sind. Das Ursprüngliche scheint zu sein, daß Brynhild die falsche Behauptung aufnimmt und bewußt verlogen zugibt, daß Sigurd dem Gunnar in jenen kritischen Nächten die Treue nicht gewahrt habe. Dadurch gewinnt sie letztern für die Rache, die Ermordung Sigurds. Freilich sind Gunnar sowohl wie Hogni vermöge des Blutbundes nicht in der Lage, die Rache persönlich auszuführen. Zu diesem Zwecke taucht nun jener dritte Sohn Gjukis, Gudorm, auf. Er wird als geeignetes Werkzeug zur Rache verwendet. Die Art, wie Sigurd von Gudorm getötet wird, wird wieder in der verschiedensten Weise erzählt. Die nordischen Texte kennen drei Darstellungen von Sigurds Tode: nach der einen (sie scheint im Norden die altertümlichste zu sein) wird er ermordet während des Rittes zur Volksversammlung; nach der zweiten, ausdrücklich als deutsch bezeichneten Darstellung wird er im Walde auf der Jagd ermordet, und nach der dritten Darstellung, die im kurzen Sigurdsliede vorliegt und von der Volsungasaga aufgenommen ist, wird er nachts im Bette schlafend ermordet, an der Seite seiner Gattin. Diese Darstellungen gehen[S. 26] zum Teil auf verschiedene Grundlagen zurück, zum Teil sind sie willkürliche Änderungen derselben.
Nach Sigurds Ermordung gibt Brynhild zu, daß er stets die Treue gehalten hat und unschuldig ermordet worden ist; sie läßt sich mit ihm auf demselben Scheiterhaufen verbrennen. Gudrun aber nimmt nach einiger Zeit von ihren Angehörigen die Mordbuße für den erschlagenen Gatten an, und es führt im Grunde von diesem Teile der Erzählung zu dem folgenden keine innere Brücke. Dieser ist mit dem bisher betrachteten lediglich dadurch verbunden, daß dieselben Personen auftreten, nicht aber dadurch, daß die Handlung des zweiten Teiles mit der des ersten innerlich in Zusammenhang steht. Einen schwachen Versuch hat der Norden gemacht, einen Zusammenhang herzustellen, indem er Brynhild zu einer Schwester des Königs Atli, des demnächst auftretenden zweiten Gatten Gudruns, gemacht und diesem damit die Pflicht auferlegt hat, diese Schwester zu rächen.
Nachdem Gudrun eine Zeitlang bei ihren Verwandten gelebt hat, kommt der neue Werber, König Atli[13], und Gudrun reicht ihm ihre Hand. Nachdem sie eine Zeitlang verheiratet sind, beschließt Atli, ohne daß Gudrun dazu irgend etwas tut, die Niflunge zu vernichten, um einerseits — das ist die nordische Zugabe — seine Schwester Brynhild zu rächen und andererseits — das ist die eigentliche Hauptsache — den großen Hort zu gewinnen, der nach Sigurds Ermordung natürlich in den Besitz der Niflunge übergegangen ist. Er ladet die Niflunge freundlich, aber verräterisch zu sich ein. Gudrun versucht sie zu warnen, aber ohne Erfolg. Gunnar und Hogni kommen mit mäßigem Gefolge an den Hof des Atli. Den Hort haben sie, wie sich aus der folgenden Darstellung ergibt, vorher versteckt: sie haben ihn in den Rhein versenkt. Auch hier tritt der deutsche Strom, der Rhein, auf und zeigt, wo die Sage zunächst heimisch war.
In Atlis Lande angekommen, werden Gunnar und Hogni von den Feinden überwältigt und gefangen. Atli richtet an Gunnar die Frage, ob er sein Leben durch Auslieferung des Hortes lösen wolle. Er erklärt, erst müsse er Hognis Herz als Beweis von dessen Tode sehen. Daraufhin wird Hogni getötet und sein Herz dem Gunnar gebracht; nun ruft dieser aus, daß der reißende[S. 27] Rhein viel besser geeignet sei, den Schatz zu hüten, als Atli und seine Leute. Gunnar wird in die Schlangengrube geworfen, erwehrt sich aber der Schlangen noch eine Zeitlang durch ein seltsames Mittel: da ihm die Hände gefesselt sind, schlägt er mit den Füßen eine Harfe, die ihm seine Schwester Gudrun noch zugereicht hat, und schläfert dadurch alle Schlangen ein bis auf eine, die ihn schließlich ins Herz sticht.
Damit sind die Niflunge vom Schauplatz abgetreten, und der Gudrun, ihrer Schwester, als der letzten des Geschlechtes, fällt die Pflicht der Rache zu; sie rächt ihre Brüder an ihrem Gatten. Immer geht in der nordischen Anschauung die Blutsverwandtschaft der Ehegemeinschaft vor, ein besonders altertümlicher Zug, der dieser Gestalt anhaftet. Die Rache setzt Gudrun ins Werk, indem sie ihre beiden, dem Atli geborenen Söhne schlachtet und ihm beim Festmahle vorsetzt; nachdem er vom Fleische seiner Söhne gegessen und ihre Hirnschalen als Becher benutzt hat, enthüllt sie ihm, was sie getan, und tötet ihn selbst.
Der zweite Teil der Sage hat damit sein Ende erreicht; von den handelnden Personen ist Gudrun allein übrig. Ein innerer Zusammenhang zwischen diesem zweiten Teile und dem ersten besteht, wie gesagt, nicht, denn der zweite Teil kann an sich allein vollkommen verstanden werden. Er ist keine innere Folge des ersten. In der nordischen Überlieferung kommt aber noch ein dritter Teil hinzu, dessen Anknüpfung uns höchst seltsam anmuten muß: Gudrun versucht, sich das Leben zu nehmen, indem sie sich ins Meer stürzt; allein die Wogen tragen sie und bringen sie an einen fremden Strand, wo sie aufgenommen wird und sich zum dritten Male vermählt. Der König des Landes, Jonakr (ein Name, der uns sonst nicht weiter bekannt ist), nimmt sie zur Gattin, und sie hat bei ihm noch zwei oder drei Söhne (darin ist die Überlieferung nicht ganz klar). Diese heißen Hamdir, Sorli und Erp; nach der einen Tradition sind sie alle drei die Söhne Gudruns, nach der andern ist Erp ein Sohn Jonakrs von einer andern Mutter. Außerdem wird am Hofe Jonakrs die nachgelassene Tochter des Sigurd und der Gudrun erzogen. Wie sie dahin gekommen ist, wird gar nicht erklärt. Sie führt den Namen Svanhild[14].
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Um sie wirbt ein schon bejahrter, aber mächtiger und gewaltiger König, Jormunrek, wie er im Norden heißt. Er ist der historische Gotenkönig des 4. Jahrhunderts Ermanarich. Er sendet seinen Ratgeber Bikki und den bereits erwachsenen Sohn erster Ehe Randver die junge Braut einholen. Svanhild wird ihnen übergeben. Unterwegs fängt Bikki an, seine Ränke zu spinnen; er raunt dem jungen Paare, der Stiefmutter und dem Stiefsohne, zu, daß sie zueinander viel besser paßten, als der alte König zu der jungen Svanhild, und versucht auf diese Weise ein Verhältnis zwischen den beiden herbeizuführen, aber ohne Erfolg. Als die Braut am Hofe Jormunreks eingetroffen ist, berichtet Bikki dem Könige das Verhältnis als Tatsache, und dieser rächt sich, indem er seinen Sohn erhängen und Svanhild von wilden Pferden zertreten läßt.
So erwächst der Gudrun wiederum die Pflicht der Rache für ihre nächste Verwandtschaft. Sie reizt ihre Söhne dritter Ehe auf, die Rache zu vollziehen; diese lassen sich auch dazu bereit finden und machen sich auf den Weg. Unterwegs geraten sie miteinander in Streit, und Erp wird von den beiden andern erschlagen. Als sie dann am Hofe Jormunreks erscheinen, greifen sie den König an und verwunden ihn, indem der eine ihm die Hände, der andere die Füße abschlägt. Dem Erp aber war nach der etwas merkwürdigen Auffassung dieser Dichtung zugedacht, das Haupt des Königs abzuschlagen; da Erp nun fehlt, wird Jormunrek also nur verwundet, aber nicht getötet. Er hat noch die nötigen Kräfte, sich zu rächen, indem er seine Mannen aufruft: „Tötet die Fremden mit Steinwürfen.“ So fallen Hamdir[S. 29] und Sorli durch die Goten; damit hat die nordische Form der Nibelungensage ihr letztes Ende erreicht.
Gudrun, die Hauptfigur, die durch alle drei Teile der eigentlichen Nibelungensage, ungerechnet die Vorgeschichte, hindurchgeht, ist noch am Leben. Wo sie hingekommen, was aus ihr geworden, wird nicht erzählt; nur das Gedicht von „Gudruns Aufreizung“ deutet an, daß sie schließlich (wie Signy) freiwillig den Flammentod suchen wird.
Die nordische Form der Nibelungensage hat noch eine Erweiterung erfahren durch die Geschichte der Aslaug, der bei Heimir aufwachsenden Tochter Sigurds und der Brynhild; die Annahme, daß dies Paar eine Tochter gezeugt habe, ist zwar dem Geiste der alten Sage zweifellos zuwider, doch nicht so sehr, wie es uns auf den ersten Blick scheint: Aslaug ist eine Frucht der frühern Bekanntschaft ihrer Eltern, hat also nichts zu tun mit der Pflicht der Treue, die Sigurd dem Gunnar bei Gewinnung der Brynhild schuldig ist. Heimir befürchtet für Aslaug nach dem Tode ihrer Eltern Nachstellungen und entflieht mit dem Kinde in Verkleidung; unterwegs wird er von einem Bauernehepaare, bei dem er eingekehrt ist, ermordet, und Aslaug wächst nun in niedriger Umgebung auf. Als Jungfrau erregt sie die Liebe des Königs Ragnar Lodbrok, der auf einer seiner Wikingsfahrten in die Gegend, wo sie lebt, gelangt ist, wird seine Gemahlin und gebiert ihm eine stattliche Reihe Söhne, unter ihnen den Sigurd ormr í auga (Schlange im Auge), der zum Beweise seiner Herkunft vom Drachentöter das Bild des Fafnir auf der Hornhaut seines Auges trägt; seine Tochter heißt wiederum Aslaug und ist die Urgroßmutter des Harald Harfagri, ersten Alleinherrschers in Norwegen (gestorben um 930). Die ganze Erzählung zielt, wie vorhin schon bemerkt wurde, darauf ab, die norwegischen Könige als Nachkommen der Volsunge zu erweisen; der Name Aslaug ist offenbar von der gleichnamigen jüngern (die historisch zu sein scheint) auf Brynhilds Tochter übertragen.
Schon aus der einfachen Erzählung der nordischen Sagenform dürfte sich ergeben haben, wie wenig klar die ganze Darstellung ist. Wir dürfen diese Unklarheit aber nicht etwa einem einzelnen Manne, einem Dichter der ganzen Sage, in die Schuhe schieben, sondern wir müssen uns gegenwärtig halten, daß wir hier keine geschlossene Überlieferung vor uns haben, sondern uns lediglich eine Reihe von Einzelgedichten überliefert ist, von[S. 30] denen jedes für sich seine besondere Selbständigkeit hat und seine eigene Würdigung erfordert. Die einzelnen Dichter in sich sind in der Regel geschickt und geschlossen; aber der eine hat die Erzählung so, der andere so aufgefaßt und durchgeführt.
Eine älteste Gestalt der Sage aus diesen ziemlich stark auseinanderklaffenden Stücken herauszufinden, würde wohl kaum möglich sein, wenn wir nicht neben der nordischen Überlieferung noch die ganz selbständige deutsche Überlieferung hätten, die sich von der nordischen getrennt hat im 9. Jahrhundert, als die Wikinger den deutschen Stoff vom untern Rheine nach dem Norden verpflanzten.
[S. 31]
In Deutschland ist uns nun die Sage in allererster Linie erhalten in unserm Nibelungenliede. Das Nibelungenlied ist ein ritterliches Epos, in der ältesten Form entstanden im 12. Jahrhundert. Es steht also dem Zeitpunkte, da sich der deutsche Überlieferungszweig vom nordischen trennte, dem 9. Jahrhundert, schon ziemlich fern und hat bereits stofflich eine weitere Entwickelung durchgemacht. Der Stoff war, ehe der Nibelungendichter daran ging, sein Werk zu gestalten, bereits sehr stark verändert. Selbstverständlich hat nun auch unser Dichter noch alles mögliche Neue hinzugefügt und den alten Stoff nach vielen Seiten hin ergänzt oder auch verkürzt.
Das Lied, das uns in mehreren Handschriften erhalten ist, und von dessen weiter Verbreitung außerdem eine große Anzahl Bruchstücke anderer Handschriften zeugen, ist in eine eigenartige Form gegossen. Obgleich ein großes Epos, ein langes erzählendes Gedicht, benutzt es doch keinen glatt durchlaufenden epischen Vers, sondern es liegt uns vor in einer der Ballade nahekommenden Form. Es ist nämlich abgefaßt in Strophen, die, verhältnismäßig wenig umfangreich, dem Dichter häufig beschränkende Fesseln anlegen. Bald ist die Strophe zu kurz, den gegebenen Stoff in sich aufzunehmen, bald zu lang, einen einfachen Gedanken kurz darzustellen. Oft bleibt dann in ihr noch Platz für etwas anderes, etwa für den Anfang eines neuen Gedankens. Der Dichter ist bei dieser formalen Schwierigkeit vor die Frage gestellt: soll er den noch freien Raum der vorliegenden Strophe dazu benutzen, einen neuen Gedanken anzufangen, der[S. 32] dann in der Strophe nicht aufgeht, sondern in die nächste übergreift und damit die strophische Gliederung zerstört, oder soll er den Rest mit leeren Redensarten ausfüllen? Beides kommt ziemlich häufig vor. Das hat die Gelehrten, die sich mit dem Nibelungenliede beschäftigt haben, lange Zeit sehr gestört; daß der Grund der vielen vorkommenden leeren vierten Zeilen lediglich der ist, daß die Strophenform eben entweder zu kurz oder zu lang für die geschlossene Darstellung eines Gedankens ist, hat man erst verhältnismäßig spät erkannt.
Die Nibelungenstrophe besteht aus vier paarig gereimten Langversen, so daß also der erste mit dem zweiten, der dritte mit dem vierten durch Reim gebunden ist. Die drei ersten Verse sind einander gleich, und zwar haben sie vor dem Abschnitt, der in die Mitte des Verses fällt, vier Hebungen, nach dem Abschnitt drei Hebungen; die vierte Zeile aber hat vor und nach dem Abschnitt je vier Hebungen. Die vierten Hebungen vor dem Abschnitte (gelegentlich auch die dritten Hebungen der zweiten Hälften des ersten und zweiten Verses) dürfen durch klingende Ausgänge vertreten werden. Als Beispiel setze ich Strophe 924 des Textes C (nach Holtzmanns Bezifferung) hierher und bezeichne die Hebungen:
Spätere Dichter haben die vierte Zeile den drei übrigen meist gleich behandelt. Diese Neuerung, die in moderner Zeit Uhland aufgenommen hat (z. B. in seinem Balladenzyklus von Eberhard dem Greiner), ist nicht glücklich, denn sie löst die Strophe in Reimpaare auf; dann ist ja durch nichts mehr markiert, daß die Strophe aus vier Versen bestehen soll, sondern die beiden Reimpaare stehen in der Form ganz gleich nebeneinander, und ob wir dann zwei derselben oder drei oder auch nur eins als Ganzes fassen, ist für unser Empfinden ganz gleichgültig. Die vier Zeilen der zwei Reimpaare müssen erst durch eine Besonderheit am Schlusse der ganzen Reihe zusammengeschlossen werden, wie es im alten Liede der Fall ist.
Das Lied setzt (abgesehen davon, daß es mit einer Art[S. 33] Theaterzettel[15] beginnt, der aufzählt, was in Worms, am Sitze des Königs Günther, des Bruders der Kriemhilt, alles vorhanden ist an Helden) gleich an einer vorgerückten Stelle des Stoffes ein, fängt also nicht mit dem eigentlichen Anfang der Sage an. Infolgedessen hat der Dichter an spätern Stellen das eine oder andere berichtweise nachholen müssen.
An den Theaterzettel (wie man die einleitenden Strophen genannt hat, da sie poetisch ohne Wert sind) schließt sich zunächst die Erzählung vom Traume der Kriemhilt an. Kriemhilt ist dieselbe Person, die in der nordischen Sage Gudrun heißt, also die Schwester des burgundischen Königs Günther aus dem Geschlecht der Nibelunge[16]. Sie erzählt ihrer Mutter Ute folgenden Traum: sie hat sich einen Falken erzogen, der ihr lieb ist, und den ihr zwei Adler töten; das ist ihr größter Kummer. Die Mutter deutet den Traum auf den künftigen Gatten Kriemhilts und darauf, daß sie ihn vorzeitig verlieren werde. Daraufhin verschwört die junge Kriemhilt das Heiraten, die Mutter meint aber, sie solle die Rede lassen, denn allein durch die Liebe werde sie auf der Welt froh werden.
Diese kurze Geschichte geht der eigentlichen Erzählung voraus. Sie findet in der nordischen Version gelegentlich ihr Gegenstück, ohne daß dies irgendwie die Darstellung und den Gang der Erzählung beeinflußt. Ehe Sigurd in der nordischen Erzählung an den Hof Gjukis kommt, hat Gudrun einen ähnlichen Traum wie Kriemhilt in der deutschen Sagenfassung. Die nordische Gudrun fährt zu Brynhild[17] und läßt sich von ihr den Traum deuten. Brynhild weiß denn auch gleich (ein Motiv, das im Norden oft verwendet wird, so ungeschickt es ist) alles, was sich aus dem Traume ergibt, und erzählt ihre beiderseitigen Schicksale bis ans Ende mit klaren Worten, ohne daß dies Wissen auf das spätere Verhalten der Personen auch nur den geringsten Einfluß ausübte; eine Seltsamkeit, die wir ähnlich schon S. 6 beobachten konnten.
[S. 34]
Das Lied setzt dann an einer ganz andern Stelle ein. Über Niederland[18] regiert der König Sigemund, vermählt mit einer Gemahlin namens Sigelind. Beider Kind ist Siegfried (mittelhochdeutsch Sîfrit), der als junger Fürst am Hofe seiner Eltern erzogen und mit aller Vornehmheit, aller zeitgemäßen Bildung ausgestattet wird. Er wird waffenfähig erklärt, wie es sich für einen Ritter des 12. Jahrhunderts geziemt, und beschließt, einmal soweit gekommen, zu heiraten. Diesen Wunsch trägt er seinem Vater vor, und zwar will er sich um Kriemhilt, die Schwester des Königs Günther in Worms, bewerben. Der Vater warnt ihn: am Hofe Günthers sei eine Reihe trotziger Helden, die Gefahr, dorthin zu gehen, also ziemlich groß. Siegfried läßt sich dadurch nicht abschrecken, im Gegenteil, er wird eher angereizt, und begibt sich mit geringem Gefolge nach Worms. Dort erscheint er, sofort erkannt von Hagen, der hier der vornehmste Vasall des Königs Günther ist und nicht sein Bruder, aber immerhin ein Verwandter; er führt den Beinamen „von Tronje“ (vgl. S. 83).
Hagen beobachtet den ankommenden Siegfried mit seinen Leuten und sagt: „Ich habe ihn zwar nie gesehen, aber nach dem Auftreten kann der Ankömmling niemand weiter sein als Siegfried.“ Nun berichtet uns der Dichter durch Hagens Mund nachträglich alles, was Siegfried bisher getan hat.
Als Siegfried einst allein unterwegs war, stieß er auf zwei Könige, die miteinander stritten. Es waren die Brüder Nibelung und Schilbung, Söhne eines alten Königs Nibelung, der eben verstorben war; sie stritten um die Teilung des Erbes. Als Siegfried hinzukam, ward er von ihnen sofort als Unparteiischer berufen und beauftragt, ihnen den Hort, den der Vater hinterlassen, zu teilen; als Lohn gaben sie ihm zuvor das Schwert, das ihr Vater früher geführt hatte, und das Balmung hieß. Siegfried konnte ihnen indes die Teilung nicht zu Danke machen und geriet darüber mit ihnen beiden in Kampf; er besiegte und tötete sie, dann überwand er noch ihren Diener Alberich und ward dadurch Herr der Nibelunge und ihres unermeßlichen Hortes, dessen Bewachung er Alberich anvertraute. Nibelunge[S. 35] heißen also in diesem Teile der Erzählung die ursprünglichen Besitzer des Schatzes.
Weiter berichtet Hagen noch, daß Siegfried einen Drachen getötet hat; doch steht hier die Drachentötung nicht in Zusammenhang mit der Gewinnung des Hortes, sondern ist ein Ereignis für sich. Dagegen wird an sie die Behauptung angeknüpft, daß Siegfried sich im Blute des erschlagenen Drachen gebadet und dadurch eine Hornhaut bekommen habe, die kein Schwert zerschneiden könne. Nur an einer Stelle, auf dem Rücken, wo ihm ein Lindenblatt auf den nackten Körper gefallen wäre, sei das Drachenblut nicht direkt mit der Haut in Berührung gekommen, und habe diese daher ihre natürliche Weichheit behalten.
Die Trennung des Drachenkampfes vom Hortgewinn kann unmöglich alt sein. Schon der Umstand, daß es sich um einen Drachen handelt, den er tötet, weist darauf hin, daß die beiden Ereignisse, Drachentötung und Hortgewinn, zusammenfallen. Denn ein Drache ist an sich ein Schatzhüter. Als solcher ist dies mythische Wesen von vornherein gedacht. Man hat das in Deutschland offenbar vergessen, wie man überhaupt auf die jugendlichen Heldentaten Siegfrieds hier wenig Wert legt; hat man doch auch die Jugendgeschichte schon dadurch, daß er am Hofe des Königs, seines Vaters, als vollgültiger Prinz erzogen wird, gänzlich umgestaltet.
Inzwischen hat Hagen seine Erzählung beendet. Siegfried tritt herein und wird von Günther feierlich empfangen. Wir erinnern uns, daß er ausgezogen war, um Kriemhilt zu werben. Hier in Worms sagt er davon kein Wort, sondern fordert plötzlich ohne jeden Grund Günther zum Kampf um Land und Leute heraus; das dürfte doch wohl so ziemlich das ungeeignetste Mittel für ihn sein, den angegebenen Zweck zu erreichen. Es entwickelt sich eine heftige Szene, die ebenso unbegründet, wie sie entstanden ist, durch ein freundliches Wort Giselhers, des jüngsten Bruders des Königs, beigelegt wird. Siegfried wird wieder ganz friedlich und liebenswürdig, und die ganze Sache ist vergessen. Aber ebenso vergessen ist im Augenblick auch, weshalb er überhaupt nach Worms gekommen ist.
Die Szene hat gar keine Wirkung, vielmehr bringt die liebenswürdige Rede des jungen Giselher alles ins gleiche. Damit ist Siegfried als Gast am Hofe des Königs Günther aufgenommen.[S. 36] Er scheint ganz und gar vergessen zu haben, weshalb er nach Worms gekommen ist, und hält sich hier ein volles Jahr auf, ohne auch nur eine Spur seiner Absicht laut werden zu lassen. Der Dichter bedarf erst eines neuen treibenden Momentes, um die Erzählung ins Rollen zu bringen. Er hat sich dabei nicht ohne Geschick einer Sage bedient, die sonst selbständig vorkommt: er verwendet die Geschichte vom Kampfe der Sachsen und Dänen gegen die Franken oder Burgunden[19]. Die Franken haben in der Zeit Karls des Großen mit den Sachsen und auch mit den hinter den Sachsen wohnenden Dänen, die jene unterstützten, mannigfache Kämpfe ausgefochten. Von diesen Kämpfen ist die Erinnerung jahrhundertelang lebendig geblieben; sie werden nun hier verwendet, um Siegfried zu einem Entschluß zu bringen, sonst würde er zeitlebens der schüchterne Liebhaber bleiben.
Es kommen Boten von Liudeger von Sachsen und Liudegast von Dänemark, um den Burgunden Fehde anzusagen. Günther hat große Sorge, aber Siegfried erlöst ihn, indem er ihm seine Hilfe zusagt. Es wird nun der Feldzug geschildert, der im Handumdrehen durch Siegfrieds Tüchtigkeit den Burgunden die beiden feindlichen Herrscher in die Hände liefert. Damit ist Gelegenheit gegeben zu einem Siegesfeste[20]. Siegfried hat für seine entscheidende Teilnahme am Kampfe eine besondere Belohnung verdient. Sie besteht darin, daß man ihn bei dem Feste zum ersten Male den Frauen des Hofes vorstellt und ihm Kriemhilt zu führen gestattet. So sehen sich Siegfried und Kriemhilt zum ersten Male, ohne sein direktes Zutun (abgesehen davon, daß er mit der Absicht, zu werben, nach Worms gegangen ist), und ohne daß er[S. 37] hier seine Pläne irgendwie weiter verfolgt. Dazu bedarf der Dichter noch eines weitern treibenden Momentes.
Plötzlich kommt eine ganz neue Botschaft nach Worms: es sitzt eine Königin jenseits des Meeres von so großer Schönheit, daß man ihresgleichen nicht kennt, dazu von einer solchen Kraft, daß sie denjenigen, die ihre Hand begehren, auferlegen kann, sie im Speerschießen, Steinwerfen und Weitspringen zu übertreffen; eine Aufgabe, die bisher noch niemand gelöst hat. So führt uns die Erzählung mit einem Sprunge hinüber zu Brünhilt, die uns in der deutschen Überlieferung bisher noch nicht begegnet ist. Sie ist eine heldenhafte Königin, und zwar nach der Anschauung des Dichters in Island gesessen. Wie er dazu kommt, sie nach Island zu versetzen, ist unklar und führt zu Unstimmigkeiten. Aber sie muß jenseits des Meeres sitzen und möglichst weit entfernt, sonst hätten die Zuhörer möglicherweise kontrollieren und dem Dichter falsche Angaben vorwerfen können.
Die Erzählung fährt ganz nach der Art der so häufigen Brautfahrtgedichte fort: Günther überlegt sich, daß er als regierender König verpflichtet ist zu heiraten. Man rät ihm, sich um Brünhilt zu bewerben, die in Island als Königin und als schönste Frau der Gegenwart lebt. Siegfried aber spricht dagegen. Er kennt alles, was sich auf Island bezieht, ohne daß irgendwie erklärt wird, woher. Gewisse Beziehungen zwischen Siegfried und Brünhilt werden durch die eigentümliche Art der Darstellung in unserm Liede zweifellos vorausgesetzt. Aber kein Wort deutet darauf hin, daß der Dichter von einem Verlöbnis zwischen Siegfried und Brünhilt irgendwelche Ahnung hätte. Siegfried weiß nur, daß die Werbung um Brünhilt eine große Gefahr bedeutet. Da sagt nun Hagen: „Wenn du so genau weißt, wie es um die Königin steht, so hilf uns doch dazu, daß wir sie gewinnen“, und Siegfried sagt diese Hilfe zu, wenn Günther ihm seine Schwester zur Frau geben will. Nun ist er endlich so weit, daß er seine Werbung anbringt, um deretwillen er vor mehr als Jahresfrist nach Worms gekommen ist. Günther sagt ihm die Hand der Kriemhilt zu, und nun fahren Günther, Hagen, Siegfried und (verhältnismäßig nebensächlich) Dankwart, Hagens jüngerer Bruder, ohne weitere Begleitung von Worms den Rhein hinab nach Island, nachdem sie sich vorher durch die fleißigen Hände der Frauen in ritterlichem Geschmack haben ausstaffieren lassen. Daran, daß sie unterwegs Siegfrieds Heimat passieren[S. 38] müssen, denkt der Dichter nicht. Als sie sich nach zwölftägiger Fahrt dem Lande der Brünhilt nähern, und allmählich ihr Schloß in Sicht kommt, spricht Siegfried sich darüber aus, wie man die Sache angreifen soll. Dabei sagt er: „Wenn wir dahin kommen, will ich euch leiten, dann werden wir am besten zu unserm Ziele kommen. Nur müssen alle ein und dasselbe behaupten, nämlich Günther sei mein Herr und ich sein leibeigener Mann, dann kommen wir am besten durch.“ Warum er das sagt, ist hier nicht abzusehen. Später allerdings wird seiner Gattin vorgeworfen, daß er ein leibeigener Mann sei. Da nun der Dichter Siegfried als Königssohn schildert, so würde diese in der alten Sage begründete Schmähung hinfällig sein, wenn hier nicht eine neue Unterlage geschaffen würde. Das ist ziemlich ungeschickt angefangen, denn es führt zu nichts; ob er als Freund Günthers oder als sein Vasall nach Island kommt, bleibt gleichgültig.
Inzwischen haben die Frauen die Fremden kommen sehen. Eine von ihnen schildert der Königin, wie die Fremden aussehen, und daß einer in seinem Aussehen dem Siegfried entspräche, ganz als ob Siegfried schon einmal dagewesen wäre. Darauf sagt Brünhilt: „Wenn er hierher gekommen ist, um meine Liebe zu erwerben, so wird es ihm gehen wie jedem andern.“ Dann aber begrüßt sie ihn vor allen andern wie einen alten Bekannten. Er sagt darauf: „Ich danke Euch sehr, Frau Königin, daß Ihr mich zu grüßen geruht. Aber erst müßt Ihr den begrüßen, des Untertan ich bin; Günther ist mein Herr, ihm kommt der Gruß zuerst zu. Er wirbt um Eure Liebe.“ „Gut,“ sagt sie, „wenn dein Herr um meine Liebe wirbt, so muß er wie jeder andere die Kampfspiele bestehen.“ Diese bestehen darin, daß zunächst mit dem Speer geworfen, und der Wurf pariert wird; an zweiter Stelle, daß ein Stein von ungewöhnlicher Schwere möglichst weit geworfen wird, und endlich drittens, daß ein weiter Sprung ausgeführt wird. Günther würde diese Bedingungen nicht erfüllen können, Siegfried kann sie erfüllen. Er kann nun nicht für Günther eintreten, denn dieser muß öffentlich in Gegenwart von Brünhilts Leuten kämpfen. So greift denn der Dichter zu folgendem Auswege: Siegfried bekleidet sich mit der Tarnkappe, dem unsichtbar machenden Mantel, den er seinerzeit dem Zwerg Alberich abgenommen hat, und unterstützt Günther bei den Spielen: beim Speerwerfen mit dem Erfolge, daß Brünhilt ins Straucheln kommt und fällt; beim Steinwerfen wirft er für[S. 39] Günther und übertrifft Brünhilts außerordentlich weiten Wurf. Beim Springen aber wird die Sache recht bedenklich; dem Dichter selbst fällt auf, daß er seinen Zuhörern reichlich viel zu glauben zumutet; er sagt: „Das war ein großes Wunder, nicht bloß weiter zu springen als Brünhilt, sondern im Sprunge auch noch den König Günther zu tragen.“ Diese Ungeschicklichkeit ist eine Folge der Komposition des Ganzen: nach der nordischen Darstellung ward der Preis erworben im Durchreiten des Feuers; das tat Sigurd an Stelle und in Gestalt Gunnars; wenn aber Günther vor allem Volke den Beweis seiner Überlegenheit erbringen muß, wird die Aufgabe des Dichters allerdings arg erschwert.
Siegfried begibt sich nun zum Schiffe zurück, legt dort, ungesehen von den übrigen, die Tarnkappe ab und stellt sich bei der Rückkehr, als ob er keine Ahnung davon hätte, daß die Wettkämpfe schon vorüber sind. Brünhilt, von Günthers überlegener Tüchtigkeit überzeugt, sagt diesem ohne Zögern ihre Hand zu.
Es folgt nun eine eigentümliche Szene, die für den Fortgang der Erzählung nichts bedeutet: um nämlich dem neuen Herrn zu huldigen, werden die Mannen der Brünhilt nach der Burg der Königin zusammengerufen. Jetzt sehen die Gäste, was für eine Menge Recken sich versammeln, und fürchten Verrat. Deshalb entschließt sich Siegfried, heimlich nach dem Nibelungenlande (das etwa in Norwegen gedacht wird) zu fahren und seine Recken zu holen. Er stellt sich dort als Fremder, bezwingt den riesenhaften Burghüter, kämpft mit seinem Kämmerer, dem Zwerge Alberich, und besiegt ihn, erprobt auf diese Weise die Treue seiner Mannen und führt dann tausend der besten Nibelunge zu Schiffe hinüber nach Island. — Die ganze Erzählung ist nur eingeflochten, um darzustellen, wie Siegfried mit Alberich kämpft; der Dichter hat ja die ganze Vorgeschichte weggelassen und bemüht sich, einzelne Szenen derselben gelegentlich nachzuholen; dabei hat er für sein ritterliches Empfinden noch den Vorteil, dem König Günther ein größeres Gefolge zu verschaffen, als die drei Männer, die ihm nach der alten einfachen Darstellung folgten.
Nachdem nun Brünhilt gewonnen ist, fährt man nach der Heimat zurück. Siegfried wird als Bote vorausgeschickt und verkündet den Frauen das Nahen der Braut. Nach der Ankunft[S. 40] wird er mit Kriemhilt verlobt, indem Günther sie bittet, sein Wort einzulösen. Kriemhilt gibt gern ihr Jawort, und die Hochzeit der beiden jungen Paare wird gleichzeitig gefeiert. Als aber an der Hochzeitstafel Brünhilt unerwartet sieht, daß ihres Gatten Schwester mit Siegfried vermählt wird, bricht sie in Tränen aus und erklärt es für eine Schmach, daß Kriemhilt einen Leibeigenen ihres Bruders heiraten soll. Dadurch kommt Günther natürlich in große Verlegenheit; er vermag Brünhilt über die eigentlichen Gründe dieser Heirat nicht aufzuklären, kann aber auch das Vasallentum Siegfrieds nicht ableugnen, da dieser seinerzeit selbst den Rat gegeben hat, ihn als Eigenen hinzustellen.
An dieser Stelle wird Siegfrieds Leibeigenschaft, seine minderwertige Herkunft notwendig gebraucht, und da man ihn zu Anfang des Gedichtes zu einem Prinzen gemacht hatte, mußte man etwas finden, was es der Brünhilt ermöglicht, ihn für einen Leibeigenen zu halten. Daher der seltsame Rat, den Siegfried auf der Reise zu Brünhilt gibt.
In der Brautnacht widersetzt sich Brünhilt ihrem Gatten, weil sie von ihm durchaus den Grund erfahren will, weshalb seine Schwester mit einem Leibeigenen verheiratet wird. Als Günther sein Gattenrecht geltend machen will, fesselt sie ihn sogar; seine Kräfte reichen eben nicht aus, sie zu besiegen. Am andern Tage klagt Günther dem Siegfried, der mit Kriemhilt glücklicher gewesen ist, sein Leid, und dieser muß nochmals helfend mittels der Tarnkappe eingreifen. In der folgenden Nacht überwindet er abermals an Günthers Statt die gewaltigen Körperkräfte der Brünhilt, bis sie selbst sagt, sie habe erkannt, daß er ihr Meister sein könne; dann tritt er zurück, ohne ihre Jungfräulichkeit berührt zu haben, und Günther wird nun ihr Mann.
Diese eigenartige und nicht durchweg glückliche Fassung der Erzählung ist nötig, weil Siegfried später doch wegen unlautern Verkehrs mit Brünhilt ermordet werden muß. Hat er nichts weiter getan, als Günther bei den Kampfspielen unterstützt, so war zu solchem Verkehr keine Gelegenheit. Es ist aber notwendig, daß Siegfried und Brünhilt so vereinigt werden, daß üble Nachrede möglich ist; sonst ist die weitere Entwicklung nicht verständlich. In der nordischen Darstellung ritt Sigurd durch[S. 41] die Lohe und blieb drei Nächte bei der Braut; damit war die Möglichkeit übler Nachrede ohne weiteres gegeben. In der deutschen Darstellung muß sie erst geschaffen werden; die Gewinnung der Brünhilt ist damit in zwei Akte zerlegt.
Nachher zieht Siegfried mit seiner jungen Frau von Worms in seine Heimat am Niederrhein zurück. Die Erzählung ist also vorläufig bei einem Ruhepunkte angekommen. Jahrelang leben beide Paare in glücklicher Ehe an getrennten Orten, Günther mit Brünhilt in Worms, Siegfried mit Kriemhilt in Niederland. Die Erzählung würde zu Ende sein, wenn man die Hauptpersonen nicht wieder zusammenbrächte. Deshalb wird behauptet, daß Brünhilt sich noch immer nicht über Siegfrieds Leibeigenschaft beruhigt habe. Er ist nun zwar, nachdem sein Vater abgedankt hat, König in Niederland, muß aber doch, wenn er Günthers Eigenmann ist, diesem Tribut zahlen; davon bemerkt Brünhilt natürlich nicht das geringste. Sie wendet sich daher an ihren Gatten mit der Bitte, Siegfried und Kriemhilt nach Worms einzuladen. Das geschieht, und sie leisten ohne Hintergedanken Folge, ja sogar der alte Sigemund begleitet sie. In Worms findet glänzender Empfang statt, und es werden die vom Dichter unseres Liedes so gern geschilderten ritterlichen Feste gefeiert. Bei einem Turnier, dem die Damen zuschauen, freut sich jede ihres Gatten und preist seine Vorzüge. Dabei geraten Kriemhilt und Brünhilt in Zwist, denn letztere sagt: „Mag dein Siegfried noch so tapfer sein, er hat doch einen großen Fehler, da er ein Leibeigener ist.“ Darauf erwidert Kriemhilt: „So hätten meine Brüder nie an mir gehandelt, daß sie mich an einen Leibeigenen verheirateten.“ Sie ist also genau derselben Ansicht wie Brünhilt, daß die Ehe mit einem Leibeigenen eine große Schmach wäre. Daraus entwickelt sich das heftige Zerwürfnis der beiden Frauen. Kriemhilt sagt: „Ich werde dir zeigen, daß ich dir nicht nachstehe, indem ich beim Kirchgang den Vortritt vor dir behaupten werde.“ Am Portal des Münsters geraten dann beide Königinnen feindselig aneinander, da Brünhilt natürlich nicht zurücktreten will; Kriemhilt aber überwindet die Gegnerin, indem sie ihr vorwirft, Siegfrieds Kebse gewesen zu sein, und als Beweis den Gürtel vorweist, den Siegfried ungeschickterweise seinerzeit, als er Brünhilt an Günthers Stelle bezwang, mitgenommen und Kriemhilt gegeben hat. Die völlig zerschlagene Brünhilt bricht in Tränen aus; Kriemhilt geht stolz an ihr vorüber und vor ihr ins Münster.[S. 42] Brünhilt klagt ihrem Gatten die ihr widerfahrene Schmach. Siegfried wird von Günther vorgefordert und verteidigt sich, indem er sich mit einem Eide von dem Verdachte reinigt; die Sache erweist sich als das, was sie ist, als bloßer Klatsch, und gilt damit für erledigt. Kriemhilt erhält von Siegfried ihre Strafe für ihre boshaften Reden.
Die ganze Szene ist unglücklich, ungeschickt komponiert. Unser Dichter arbeitet häufig so, daß die Erzählung eigentlich zu Ende gekommen ist und erst durch Einfügung eines neuen Momentes wieder in Fluß gebracht werden kann. Dies neue ist die Gier nach Siegfrieds großem Horte, die in der nordischen Überlieferung nur dem Atli zugeschrieben, hier aber von den Burgunden behauptet wird. Hagen ist der Vertreter des Gedankens, daß durch Siegfrieds Ermordung sein Hort gewonnen werden kann. Dadurch wird die Grundlage der ganzen Dichtung verschoben; führte bisher Brünhilt das Gegenspiel gegenüber Kriemhilt, so geht diese Rolle jetzt völlig an Hagen über. Seinen Herrn gewinnt dieser durch abermaligen Hinweis auf Siegfrieds mögliche Untreue: „Sollen wir Bastarde aufziehen? das wäre geringe Ehre für so gute Helden!“ So wird denn der schwarze Plan geschmiedet, Siegfried zu ermorden, und etwas umständlich ins Werk gesetzt. Man weiß, daß Siegfried eine Hornhaut hat und, außer an einer Stelle zwischen den Schultern, nicht verwundbar ist. Diese Stelle muß herausgebracht werden; mit teuflischer Verschlagenheit holt sich Hagen die Kunde bei Kriemhilt. Er läßt zuerst falsche Boten angeblich von Liudegast und Liudeger nach Worms kommen, die eine erneute Herausforderung zum Kriege überbringen; Siegfried wird um Beistand gebeten und sagt ihn ohne weiteres zu. Nun begibt sich Hagen zu Kriemhilt, kündigt ihr den bevorstehenden Kriegszug an und verspricht ihr, Siegfried an der verwundbaren Stelle besonders zu schützen, da dieser bei seiner großen Tapferkeit und das durch die Hornhaut erzeugte Sicherheitsgefühl gerade leicht verwundet werden könnte; so bringt er sie dazu, die verwundbare Stelle durch ein dem Rocke aufgenähtes Kreuzchen zu bezeichnen, das ihm einen bequemen Zielpunkt für seinen Speer bieten soll. Dann wird der angebliche Kriegszug gegen die Sachsen angetreten. Als Hagen das Kreuzchen auf Siegfrieds Rücken gesehen hat, läßt er andere Boten kommen, die wieder Frieden anbieten, und der Feldzug ist zu Ende. An seiner Stelle wird eine große Jagd angesagt, die in den nächsten[S. 43] Tagen im Odenwald stattfindet[21]. Auf dieser Jagd nun wird Siegfried ermordet, und zwar unter Anwendung einer neuen Hinterlist: das Getränk fehlt beim Jägermahle; Hagen hat es absichtlich nach einem anderen Orte gelenkt, damit der große Jägerdurst nur an einem Waldbrunnen zu stillen sei. Während Siegfried niedergebeugt aus diesem seinen Durst löscht, stößt ihm Hagen von hinten durch das aufgenähte Kreuzchen den Speer ins Herz[22].
Nach Einbruch der Nacht wird der tote Siegfried über den Rhein nach Worms gebracht und der Kriemhilt vor die Kammertür gelegt, so daß sie am andern Morgen, als sie zur Mette gehen will, sofort die Leiche des Gatten findet. Sie erkennt ohne weiteres, daß dieser Mord in Zusammenhang steht mit dem Streite, den sie mit Brünhilt gehabt hat, sowie mit dem, was Hagen aus ihr herausgebracht hat, und erkennt somit zunächst ohne Beweis den Mörder. Der Beweis selbst wird ihr bei der Beisetzung geliefert, indem Siegfrieds Wunde, als Günther und Hagen an seine Bahre herantreten, von neuem zu bluten anfängt. Das ist das Bahrrecht, ein merkwürdiger Aberglaube des Mittelalters, nach dem die Wunde eines Gemordeten wieder zu bluten anfängt, wenn der Mörder in seine Nähe tritt. Trotzdem wird die Übeltat von Günther und Hagen geleugnet: nach ihrer Aussage haben ihn Räuber erschlagen.
Der alte Sigemund, der mit Siegfrieds Mannen doch auch in Worms zugegen ist, denkt nicht daran, sofort Rache für seines Sohnes Tod zu nehmen, sondern zieht klagend in seine Heimat am Niederrhein ab, läßt aber seltsamerweise seine Schwiegertochter in Worms zurück; sie will nicht mitgehen, sondern bei ihren Brüdern bleiben. Dieser ihr Entschluß ist innerlich nicht begründet und um so auffallender, als sie damit ihr Kind verläßt, das sie von Siegfried geboren hat; er ist nur dadurch bedingt, daß die weitere Erzählung ihren ferneren Aufenthalt in Worms erfordert. Diese Seltsamkeiten sind wieder Folgeerscheinungen[S. 44] jener Änderung unseres Dichters, die Siegfried den niedrig erzogenen in einen nach jeder Seite vollwertigen Königssohn umgeschaffen hat; ursprünglich hat offenbar Siegfried als Ehemann keine andere Heimat als Worms, wo denn natürlich seine Witwe zurückbleibt. Von Sigemund hat unser Dichter gewiß nichts weiter gewußt als den Namen, sonst verstünde man nicht die Umwandlung des alten gewaltigen Helden in einen schwächlichen Greis.
Eine weitere Folge des veränderten Standes Siegfrieds ist auch die nun folgende Erzählung, daß der Hort der Nibelunge jetzt erst, indem er als Kriemhilts Eigentum angesprochen wird, aus fernem Lande nach Worms geholt wird. Über das weitere Schicksal des Schatzes ist das Gedicht im Unklaren: an unserer Stelle (Holtzmann 1144 ff.) nimmt ihn Hagen auf eigene Verantwortung ihr weg und versenkt ihn bei „Loche“ (unbekannter Lage) in den Rhein; als Kriemhilt später Etzels Werbung folgt, wird er ihr abermals weggenommen, damit sie die große Macht, die er ihr verleiht, nicht zur Rache benutzen kann; die letztere Auffassung ist gewiß die ältere.
Der erste Teil der Erzählung ist damit zu Ende. Obgleich er in der deutschen Fassung äußerlich recht reichlich ausgestaltet erscheint, ist er innerlich doch viel dürftiger als in der nordischen. Die wichtigen Geschichten von Siegfrieds Jugend und seinem ursprünglichen Verhältnis zu Brünhilt sind kaum erwähnt. Was aus letzterer schließlich wird, hat der Dichter uns zu sagen ganz und gar vergessen. Sie hört für ihn auf interessant zu sein, nachdem sie den Anlaß zur Ermordung Siegfrieds gegeben hat; später wird ihrer kaum noch gedacht; ihre Aufgabe in der Dichtung, Kriemhilts Gegenspieler zu sein, ist eben auf Hagen übergegangen.
So dürftig im Grunde der erste Teil unseres Liedes ist, um so wuchtiger schreitet die Erzählung im zweiten Teile vorwärts. Dieser ist in der nordischen Fassung dürftiger, wenn auch altertümlicher; in der deutschen ist er an Inhalt viel reicher geworden. Charakteristisch ist für ihn das Auftreten vieler neuer Personen, die nur mit ihrem Namen ohne jede erklärende Bemerkung eingeführt werden; so gleich im Anfang (Strophe 1166 des Textes C):
[S. 45]
Wer Helche und Etzel sind, wird mit keinem Worte angedeutet, sondern es wird einfach vorausgesetzt, daß das Publikum sie kennt. Wir treten hier in die Dietrichsage ein, die in Süddeutschland heimisch und jedermann bekannt war; alle diejenigen Figuren, die der Dietrichsage entstammen, werden vom Nibelungendichter einfach als bekannt vorausgesetzt. Für Günther und seine Brüder, für Kriemhilt, Siegfried usw. hat er eine erklärende Einführung gegeben; für die Helden der Dietrichsage hatte er das nicht nötig.
Etzel der Hunnenkönig überlegt mit seinen Leuten, wer geeignet ist, seine verstorbene Gattin, die Königin Helche, zu ersetzen. Man rät ihm zu Kriemhilt, der Witwe Siegfrieds, und Etzel schickt seinen ersten Vasallen, den Markgrafen Rüdeger von Bechelaren, nach Worms, daß er für ihn um sie werbe. Rüdeger reist nach Worms und bringt die Werbung vor. Die Könige, ihre Brüder, wissen die große Ehre, die ihnen damit erwiesen wird, wohl zu würdigen; um so bedenklicher äußert sich Hagen. Kriemhilt lehnt indes die Werbung kurzerhand ab, denn sie lebt nur noch dem Andenken ihres gemordeten Gatten. Erst allmählich, als ihr zugeredet wird, kommt ihr der Gedanke, daß sie durch die angebotene Heirat in die Lage versetzt wird, Rache an den Mördern zu nehmen, und auf diese Aussicht hin nimmt sie schließlich Etzels Werbung an. Markgraf Rüdeger muß ihr freilich mit allen seinen Mannen schwören, ihr immer treu zu dienen, angetanes Leid zu rächen und nichts zu versagen. Er denkt dabei nicht an Rache für Siegfried, sondern will ihr die Furcht vor den ihr fremden Verhältnissen, in die sie gehen soll, benehmen. Er hat sich damit für später die Hände gebunden. Hier hat der Dichter die künftige Entwickelung der Dinge sehr geschickt vorbereitet.
Rüdeger geleitet nunmehr Kriemhilt von Worms nach Etzelnburg[23]; König Etzel zieht seiner Braut mit glänzendem Gefolge entgegen und empfängt sie bei Tuln (an der Donau, oberhalb Wiens). Innerhalb Österreichs (im engern Sinne) zeigt sich der Dichter mit den örtlichen Verhältnissen auf das genaueste bekannt; Schritt für Schritt begleitet er Kriemhilt und weiß jeden[S. 46] Ort der Wirklichkeit entsprechend zu benennen, in dem sie über Nacht Herberge genommen hat. In Wien findet das Beilager statt unter großen Festlichkeiten, an denen sich all die ungezählten Scharen des Ostens beteiligen, die sich der Dichter unter König Etzels Hoheit stehend denkt.
Als Gattin des Hunnenkönigs lebt sie zwölf Jahre friedlich; während dieser Zeit gebiert sie Etzel einen Sohn und Erben, den jungen Ortlieb. Dann aber denkt sie an ihre Rache und bewegt ihren Gatten, ihre Brüder einzuladen. Er tut es in guter Meinung. Als Boten werden zwei einfache Spielleute verwendet[24]. Die burgundischen Könige sind trotz übler Vorzeichen bereit, die Schwester aufzusuchen, nur Hagen äußert Bedenken, läßt sie aber fallen, als man ihm vorwirft, er habe wohl Furcht; dann natürlich ist er der erste, der sich dem Zuge nach dem Hunnenlande anschließt. Tausend Ritter und neuntausend Knechte werden mitgenommen.
In dem Augenblicke, da die Burgunden von Worms aufbrechen, tritt uns auf einmal der Name „Nibelunge“ für „Burgunden“ entgegen; im Anfange des Liedes bezeichnete dieser Name nur das Volk, das den Hort ursprünglich besaß, jetzt geht er unvermittelt auf die Burgunden über. Eine Erklärung ist frühzeitig versucht worden (wie es scheint, nicht vom Dichter des Liedes); nach ihr wäre der Name an das Land der früher erwähnten Nibelunge geknüpft und mit diesem nach Siegfrieds Tode auf die Burgunden übergegangen; das ist nach Lehnsrecht ganz korrekt gedacht; doch widerspricht dieser Auffassung, daß Siegfried selbst niemals zu den Nibelungen gerechnet wird. In Wirklichkeit treten wir in diesem Augenblicke in eine vom Dichter benutzte neue Quelle ein. Von hier an beginnt die Erzählung den großartigsten Schwung zu nehmen, von hier an beginnt auch die genauere Übereinstimmung mit der noch zu besprechenden Thidrikssaga. Die Quellen, die unser Dichter bisher benutzt hatte, hatten ihm die jetzt auftretende Bedeutung des Namens Nibelunge nicht geboten.
Die Erzählung, wie die Burgunden an den hunnischen Hof gelangen, berichtet mannigfache Abenteuer. Zunächst erreichen sie die Donau und haben Schwierigkeit, hinüber zu gelangen:[S. 47] das Wasser ist ausgetreten, eine Brücke ist nicht da, auch keine Fähre. Da geht Hagen selbst nach einer Gelegenheit suchen. In einem dem Flusse nahegelegenen Brunnen hört er ein Plätschern und entdeckt zwei badende Wasserweiber (übernatürliche Wesen); ihre Gewänder liegen am Ufer. Er bemächtigt sich derselben und bringt die Nixen dadurch in seine Gewalt. Für Herausgabe der Gewänder versprechen sie ihm zu sagen, was aus der Reise ins Hunnenland wird. Darauf geht er ein, und die eine sagt ihm: „Ihr kommt alle gesund wieder nach Hause.“ Sehr erfreut gibt er ihnen die Gewänder zurück, da aber ruft die andere: „Meine Muhme hat gelogen; in Wirklichkeit kommt niemand von euch zurück als des Königs Kaplan; alle andern bleiben tot im Hunnenlande.“ Außerdem gibt sie ihm noch einen Hinweis, wo eine Fähre zu finden ist, und wie er den Fährmann gewinnen kann. Dieser gilt für einen Dienstmann und Grenzwächter der Bayernfürsten Else und Gelfrat. Hagen sucht ihn auf und ruft in grimmiger Laune hinüber: „Hol’ mich über, ich bin Amelrich, der wegen Feindschaft aus diesem Lande hat fliehen müssen.“ Daraufhin fährt der Fährmann zu ihm hinüber. Hagen bietet ihm außerdem noch einen goldenen Ring von großem Werte an (ein Anerbieten, das sich mit den übrigen Verhältnissen nicht recht verträgt, denn entweder fährt der Fährmann um Lohn oder im Dienste seiner Herren; eins schließt das andere aus; es liegt wieder eine Unstimmigkeit vor, entstanden durch ein Übereinander zweier Schichten der Erzählung). Der Fährmann sagt: „Ihr mögt wohl Amelrich heißen, aber der, den ich zu sehen erwartete, seid Ihr nicht. Das war mein Bruder.“ Indes, das Schiff ist einmal an Hagens Ufer, er springt einfach hinein. Der Fährmann widersetzt sich und schlägt mit seinem Ruder auf den Helden ein; aber Hagen tötet ihn kurzerhand und bringt die Fähre zu seinen Herren; er hat nun lange zu tun, bis er mit dem einen kleinen Schiffchen das ganze Heer von zehntausend Mann übergesetzt hat. Auch hier eine Unstimmigkeit, die durch Überarbeitung hervorgerufen ist: in der ältern Erzählung haben die Könige offenbar eine an Zahl nur geringe Begleitung mitgehabt; der Ferge war ursprünglich ein einfacher Mann, der durch das Angebot eines größern Lohnes sich bereit finden ließ, zu fahren. Das blickt alles noch durch, ist aber übertüncht. Als Hagen die letzten übersetzt, packt er den Kaplan, der mit auf dem Schiffe ist, wirft ihn in die Flut und[S. 48] verhindert ihn sogar, sich aufs Schiff zu retten; trotzdem er nicht schwimmen kann, ertrinkt er indes nicht, sondern gelangt an das eben verlassene Ufer zurück und geht wieder nach Worms. Daran erkennt Hagen, daß ihm das zweite Wasserweib die Wahrheit vorausgesagt hat, und zertrümmert das Fahrzeug, damit kein Feigling entrinnen könne.
Nun ziehen die Nibelunge weiter durch Bayern und bilden eine Nachhut, weil sie erwarten, daß wegen des erschlagenen Fährmannes Rache versucht werden wird. In der Tat werden sie von den Bayern nachts eingeholt und angefallen. Es kommt zu einem Gefecht, in dem sich Dankwart besonders auszeichnet[25]. Nachdem sich die Nibelunge der verfolgenden Bayern entledigt haben, erreichen sie die Grenze des Nachbarlandes und finden den Grenzwächter schlafend. Hagen nimmt ihm sein Schwert ab und weckt ihn; er beklagt sich, daß er die Grenze so schlecht gehütet hat; dabei stellt sich heraus, daß es Eckewart ist, der einzige Burgunde, der Kriemhilt ins Hunnenland gefolgt ist. Eckewart warnt die Burgunden vor Kriemhilt; dann aber weist er sie nicht nach Etzelnburg, wie man doch erwarten sollte, da er im persönlichen Dienste der Kriemhilt steht, sondern nach Bechelaren. Die Eckewart-Episode ist nur verständlich als Überbleibsel einer ältern Fassung, der der Aufenthalt in Bechelaren ganz unbekannt war. In Bechelaren finden sie eine außerordentlich liebenswürdige Aufnahme. Im einzelnen ist die Schilderung derselben ganz besonders wohl gelungen. Der Dichter hat eine neue Verwickelung hineingebracht, indem er den jungen Giselher sich mit des Markgrafen Tochter verloben läßt; das Beilager soll erst bei der doch bald zu erwartenden Rückkehr von Etzelnburg stattfinden. Wie jung diese Einlage ist, zeigt auch der Umstand, daß man im Liede nicht einmal den Namen dieser Tochter Rüdegers erfährt (erst in der Klage wird er genannt: sie heißt Dietlind).
Nun ziehen sie nach Ungarn, dem eigentlichen Hunnenlande, und schicken Boten voraus; daraufhin macht sich Dietrich auf, um mit seinen Amelungen den Nibelungen entgegenzureiten und sie zu warnen. Wer dieser Dietrich ist, und wie er an Etzels[S. 49] Hof kommt, wird als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt. Dietrich ist der König (der Ostgoten), der früher in Italien geherrscht hat (in Bern, d. i. Verona), damals aber aus seiner Heimat vertrieben ist und im Exil bei Etzel lebt, bis er schließlich mit hunnischer Hilfe in sein Reich zurückgeführt wird. Die Warnung, die Dietrich den Nibelungen angedeihen läßt, hat keinen Erfolg; sie ziehen weiter und werden zunächst von Kriemhilt allein empfangen: sie begrüßt Giselher, allenfalls auch die andern Brüder, nicht aber den Hagen. Es kommt daher sofort zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen ihnen beiden, die im Grunde die folgende Erzählung teilweise unmöglich macht: klipp und klar tritt hervor, daß die Burgunden sich auf die allergrößte Hinterlist gefaßt machen müssen, daß sie verraten und überfallen werden sollen. Kriemhilt stellt gleich die Frage an Hagen, wo der Nibelungenhort stecke, den er ihr doch hätte mitbringen müssen, und das Ende ist, daß Kriemhilt im Bösen die Burgunden stehen läßt, nachdem ihr Dietrichs Warnung bekannt geworden ist. Während dieser Zeit wird Etzel im Schlosse sitzend und die Gäste erwartend gedacht; er schaut vom Fenster herab, ohne ihnen entgegenzugehen, und macht seine Bemerkungen über die einzelnen Helden, die er sieht. Auch dann erfolgt der eigentliche Empfang noch nicht, sondern es wird erzählt, daß zwei Helden, nämlich Hagen und Volker, der Spielmann von Alzei, sich von den übrigen trennen und den Saal aufsuchen, in dem sich Kriemhilt im Augenblicke aufhält. Sie setzen sich ihren Fenstern gegenüber auf eine Bank, und Hagen legt in offenem Hohne das Schwert Siegfrieds, den Balmung, über seine Knie, damit Kriemhilt an Siegfrieds Tod erinnert werde. Sie erscheint denn auch haßerfüllt vor ihrem Saale, sammelt eine Anzahl Hunnen und fordert sie auf, die beiden festzunehmen. Aber an deren trotziger Haltung scheitert das; die Hunnen haben viel zu große Angst, als daß sie es wagten, sich an ihnen zu vergreifen. Damit muß Kriemhilt den Versuch, Hagen und Volker in ihre Gewalt zu bringen, aufgeben. Sie kehrt in ihren Palast zurück, die Helden aber begeben sich zu ihren Königen, die immer noch auf Etzels Hofe zwecklos herumstehen.
Man sieht, wie ungeschickt der Dichter in der Verbindung der einzelnen Szenen verfährt. Jede ist nur für sich betrachtet künstlerisch zu genießen. Aber es ist alles in die alte Grunderzählung hineingestopft — eine Folge des Stoffhungers jener[S. 50] verkehrsarmen Zeit; kein Dichter mochte, weil er etwas Neues zu sagen wußte, deswegen das Alte weglassen, wenn es sich auch mit jenem nicht vertrug.
Jetzt endlich begeben sich die burgundischen Gäste, geleitet von Rüdeger, in den Saal zu König Etzel um ihn zu begrüßen, werden von ihm in feierlicher Weise empfangen und treten ihm nicht minder höflich entgegen — was nach den beiden scharfen Szenen, die sich bereits zwischen Kriemhilt und ihren Feinden abgespielt haben, ganz unbegreiflich erscheint. Es findet ein Abendessen statt, dann werden die Gäste in einem großen Saale untergebracht, der für die Menge der Erschienenen Platz hat. Nicht alle werden hier einquartiert, nur die Könige und die Ritter, während die Knechte eine Herberge für sich erhalten; an ihrer Spitze steht als Marschall, dessen Amt es ja ist, für das Gefolge zu sorgen, Dankwart, Hagens Bruder. In der Nacht haben die Nibelunge große Sorge vor einem Überfall. Hagen und Volker halten die Nachtwache; letzterer spielt die Fiedel und schläfert damit die übrigen reisemüden, sorgenden Helden ein. Diese Wachsamkeit erweist sich als begründet: bewaffnete Hunnen, von Kriemhilt abgeschickt, schleichen heran. Die beiden Wächter erkennen aber rechtzeitig den geplanten Überfall und rufen die Feinde an; ohne Antwort drückt sich der Gegner, sobald er merkt, daß er seine Absicht nicht erreichen kann, verfolgt von Volkers Hohnreden.
Die Luft wird kühler, der Morgen bricht an. Sie kleiden sich nicht in Festgewänder, sondern in Panzerringe. So gehen sie zur Kirche[26]. Nach dem Kirchgang folgt ein Turnier, bei welchem Volker böswillig einen edlen Hunnen, der recht fein geputzt erscheint, niederstößt, und dadurch große Aufregung bewirkt; Kampf droht auszubrechen, wird aber unterbrochen durch persönliches Eingreifen Etzels, der (wie es scheint, mit bewußter Unwahrheit) sagt: „Volker kann nichts dafür, sein Pferd ist gestrauchelt, so hat sein Speer aus Versehen den Mann getroffen.“ Dann begibt man sich zu Tisch in den Saal, in dem die Helden nachts untergebracht waren.
Bevor man zu Tische geht, sucht Kriemhilt nochmals ihren Willen durchzusetzen. Sie wendet sich aber an ungeeignete Leute,[S. 51] sogar auch an Dietrich, von dem sie doch weiß, daß er zuerst die Nibelunge gewarnt hat. Alle lehnen es ab, bis endlich Etzels Bruder Blödel es unternimmt, gegen das Versprechen hoher Belohnung Kriemhilts Willen zu tun: er soll die Knechte in der Herberge überfallen und damit den Kampf zum Ausbruch bringen. Unmittelbar nachdem Blödel sich bereit erklärt hat, den Verrat zu beginnen, fährt das Gedicht (in der Fassung B, Bartsch Strophe 1912) fort:
Also: da es auf keine andere Weise möglich ist, den Streit ins Werk zu setzen, so beabsichtigt Kriemhilt ihren und Etzels Sohn der Rache zu opfern. Die Strophe setzt voraus, daß Kriemhilt mit dem Versuche, einige Helden für sich zu gewinnen, nichts erzielt hat; im vorausgehenden ist das gerade Gegenteil berichtet (der Text C hat deshalb auch geändert). Die Erzählung vom Opfer des Kindes wird durch die Thidrikssaga und einen vereinzelten deutschen Bericht des 15. Jahrhunderts[27] bestätigt, auch durch die nordische Darstellung (in der ja Gudrun ihre Söhne schlachtet) unterstützt; auch in unserm Liede war sie offenbar ursprünglich, ist aber durch mehrfache Bearbeitung gemildert worden.
Bei Tisch erscheint nun der junge Ortlieb und wird den Verwandten vorgestellt. Etzel gedenkt der Verwandtschaft mit außerordentlich freundlichen Worten: er hofft, daß sein Sohn das werden soll, was die Oheime sind; allein Hagen meint, der junge Königssohn sähe aus, als ob er nicht lange leben würde.
In diesem Augenblicke erscheint an der Tür des Saales Dankwart, über und über blutbespritzt, und bringt die Botschaft, daß Blödel mit hunnischen Scharen die Knechte der Burgunden überfallen habe, und alle erschlagen seien, auch Blödel selbst. Als einziger ist Dankwart aus dem Gemetzel entkommen. Als Hagen dies hört, springt er sofort auf und schlägt dem Sohne Etzels kurzerhand das Haupt ab, so daß es der Mutter in den[S. 52] Schoß springt[28]. Damit ist Etzel zum Feinde seiner Gäste geworden; er ruft seine Mannen zur Rache auf. Allein da die Burgunden auf den Kampf vorbereitet sind und sogar bei Tische im Harnisch sitzen, die übrigen aber im Festgewande, so haben sie jetzt die Hunnen völlig in der Hand. Volker und Dankwart versperren den Ausgang, und die Burgunden machen zur Rache für ihre erschlagenen Knechte alles nieder, was in der Halle ist, bis Dietrich mit lauter Stimme für sich und die Seinen freien Abzug verlangt. Ihm und Rüdeger wird daraufhin von Günther gestattet, mit den Ihren den Saal zu verlassen; Günthers Feinde, die Hunnen, sollen jedoch drinnen bleiben. Es folgt nun eine höchst seltsame Szene: Dietrich nimmt, als ihm der Ausgang gewährt wird, den König Etzel an einen Arm, die Königin an den andern, und geht mit ihnen ungehindert hinaus. Die Burgunden lassen das zu. Als aber ein Hunne versucht, hinter seinem Könige auch hinauszukommen, schlägt ihm Volker das Haupt ab, so daß es Etzel vor die Füße rollt. Immerhin sind nun Etzel und Kriemhilt, die ärgsten Feinde der Burgunden, aus dem Saale entlassen (was noch drinnen ist, wird von den Burgunden erschlagen), und wir haben eine neue Lage: die Hunnen befinden sich vor dem Saale, die Burgunden in demselben und richten sich zu hartnäckiger Verteidigung ein. Unverständlich aber am Verhalten der Burgunden bleibt, daß sie Etzel und Kriemhilt ungehindert hinauslassen; wenn sie jetzt, da sie wissen, wie die Verhältnisse liegen, sich dieser beiden Hauptpersonen bemächtigen — sie brauchen sie nicht einmal zu töten — so ist der Sieg auf ihrer Seite, aber auch — die Erzählung zu Ende. Offenbar ist hier ein neuer Lappen auf das alte Tuch der überlieferten Erzählung genäht: das Gastmahl, der Kampf des viel zu zahlreichen Gefolges in der Herberge, in dem Dankwart sich besonders auszeichnet, der Kampf der Helden im Saale, all das sind neue Zutaten, im einzelnen zwar gut ausgeführt, mit dem Alten aber ungeschickt verbunden, so daß, wie gesagt, die Erzählung von Rechts wegen in diesem Augenblicke zu Ende gelangt, und zwar zu einem der Überlieferung widersprechenden Ende. Die Torheit, die der Dichter die Burgunden mit der Entlassung der ärgsten Feinde begehen läßt, muß ihm die Möglichkeit geben, in den[S. 53] ursprünglichen Gang der Sage wieder einzulenken. Die Lage wird wieder hergestellt, die sich schon an einer frühern Stelle des Gedichtes vorfindet: die Burgunden in dem Saale, in dem sie während der Nacht untergebracht waren, an der Tür wachend die Haupthelden, in erster Linie Hagen und Volker, und von außen herannahend die feindlichen Hunnen.
Mit Hohnreden begrüßen sich die Gegner, und Kriemhilt bietet großen Lohn demjenigen, der ihr Hagen in die Hände liefert. Hier treten einige Helden auf, die ursprünglich einem andern Sagenkreise angehören, aber, da man sie sich im Hunnenlande lebend denkt, in unsere Sage eingeführt werden. Es sind Irnfrid, Landgraf von Thüringen, Hawart der Däne und sein Mann Iring. Sie versuchen zuerst den Ansturm auf die im Saale verschanzten Burgunden, finden aber nach kleinen Erfolgen ihren Tod, ohne daß die Gesamtlage sich ändert; die Szene ist also überflüssig und dadurch als junger Zusatz gekennzeichnet[29].
Die Nacht bricht herein. Während derselben versucht Kriemhilt ihre Feinde zu vernichten, indem sie den Saal in Brand stecken läßt. Allein trotz der großen Not, die dadurch über die Burgunden hereinbricht, entgehen sie doch dem sichern Tode, hauptsächlich durch Hagens Ratschläge. Sie trinken das Blut der Gefallenen und sind am andern Morgen noch alle am Leben. Es bedarf also noch stärkerer Mittel, die Vernichtung der Burgunden durchzuführen. Von den eigentlichen Hunnen ist niemand geeignet, mit ihnen fertig zu werden; es muß ein besonderer Held gewonnen werden, und das ist derjenige, der auf der einen Seite als erster der Vasallen dem Etzel, auf der andern als Vater der Dietlind den Burgunden in gleicher Weise verpflichtet ist, Rüdeger von Bechelaren. Durch fußfällige Bitten erreichen der König und Kriemhilt, daß er sich zum Angriff auf die Burgunden entschließt, trotz seiner verwandtschaftlichen Beziehungen. Damit wird die vom Dichter an seine Person geknüpfte Frage entschieden, welche Treue heiliger ist, die Treue gegen den Herrn oder die gegen Anverwandte. Rüdeger entschließt[S. 54] sich als Urbild eines getreuen Mannes, die Treue gegen seinen Herrn zu wahren, und greift mit seinen Leuten die Burgunden an. Der Kampf endet damit, daß Rüdeger und Gernot einander im Zweikampf töten. Rüdegers Mannen kommen ebenfalls um, und Kriemhilts Ziel ist noch nicht erreicht. Großes Klagen erhebt sich um den vornehmsten der hunnischen Helden, den Freund aller hilfesuchenden Landfremden. Es schallt bis zum Hause König Dietrichs, und er sendet seine Mannen aus, zu erkunden, was denn geschehen sei. Hiltebrand, Dietrichs alter Waffenmeister und Führer seiner Mannen, Wolfhart, der übermütigste von ihnen, und die übrigen Amelunge[30], alle machen sich nach dem Kampfplatze auf; als sie erfahren, daß Rüdeger gefallen ist, erbitten sie sich von den Burgunden seine Leiche. Es wird ihnen aber die höhnische Antwort zuteil: „Holt sie euch selbst, wenn ihr keine Furcht habt.“ So greifen denn die Amelunge grimmerfüllt, aber wider ihres Herrn Dietrichs Willen, die Nibelunge an. In diesem Kampfe kommen alle zu Tode mit Ausnahme von Günther und Hagen auf burgundischer und Hiltebrand, der sich schließlich zur Flucht wenden muß, auf gotischer Seite.
Hiltebrand begibt sich zu Dietrich zurück und berichtet ihm, daß Rüdeger erschlagen ist; als das Dietrich erfährt, rüstet er sich selbst und befiehlt Hiltebrand, die Mannen zu sammeln, da er nun selbst eingreifen will. Hiltebrand erwidert: „Wen soll ich Euch rufen? Alle, die Ihr habt, seht Ihr vor Euch stehen“, und dadurch erfährt Dietrich erst, daß inzwischen seine Leute auch umgekommen sind. Der Angriff erfolgt nun durch Dietrich selbst, der durch seine Stärke die Entscheidung bringt. Immer noch ist er trotz des großen Schadens, der ihm geschehen, geneigt, die letzten burgundischen Helden zu retten. Es gelingt ihm, sie gefangen zu nehmen, und er übergibt sie Kriemhilt mit dem ausdrücklichen Wunsche, daß ihnen nichts am Leben geschehen möge. Kriemhilt verlangt nun von Hagen die Auslieferung des Nibelungenhortes und erhält die Antwort, daß er durch einen schweren Eid gebunden sei, den Ort, wo der[S. 55] Schatz liegt, niemandem zu verraten, solange einer seiner Herren lebe. Darauf läßt Kriemhilt dem Günther das Haupt abschlagen und bringt es Hagen als Beweis des Todes seines Herrn. Hagen aber erwidert (Strophe 2371 Bartsch):
Sie erfährt also den Aufbewahrungsort des Schatzes nicht, tröstet sich aber damit, daß sie den Balmung, den einst ihr Siegfried geführt hat, durch Hagens Gefangennahme in die Hände bekommen hat. Mit ihm rächt sie ihren Jammer, indem sie Hagen eigenhändig tötet. Aber Hiltebrand erträgt nicht, daß Helden von der Art Hagens von einem Weibe fallen; er springt hinzu und tötet Kriemhilt selbst. Der Vernichtungskampf hat nun ein Ende; von namhaften Personen sind ihm nur entgangen Etzel (auf dessen Tod doch gerade die nordische Darstellung hinausgeht), Dietrich und Hiltebrand. Damit schließt unser Lied.
Ein etwas späterer Dichter hat ihm eine Fortsetzung in abweichender Versform (sogenannten kurzen Reimpaaren) unter dem Titel „Klage“ angehängt, ein matt nachklappendes Gedicht, das erzählt, wie die Toten beerdigt werden, und was aus den wenigen Überlebenden noch geworden ist. Für uns ist nur von Interesse die merkwürdige Stelle, die sich am Schlusse der einen Bearbeitung der Klage (C) findet; hier heißt es: was aus Etzel geworden ist, das weiß kein Mensch; es ist unbekannt, was er für ein Ende genommen hat. Für die Entwickelung der Sage aus der Geschichte ist diese Bemerkung von größter Wichtigkeit.
Im Nibelungenliede hat sich das Interesse der Dichter und ihrer Zuhörer andern Teilen zugewendet als in der Lieder-Edda. Während im Norden der erste Teil der Sage ausführlich und breit, teilweise auch in verschiedenen Variationen erzählt wird, ist der zweite Teil einfach und kurz; zwischen den beiden Hauptteilen besteht ein eigentlicher Zusammenhang nicht; ganz äußerlich ist ferner noch ein dritter Teil angehängt, die Geschichte von Svanhild, die zwar in Deutschland wohl bekannt, aber nicht an die Nibelungen-, sondern an die Dietrichsage angeschlossen ist. In Deutschland aber sind die beiden Hauptteile der Sage dadurch innerlich in Verbindung gebracht, daß der Untergang der Burgunden[S. 56] aufgefaßt wird nicht als von Etzel, sondern von Kriemhilt ausgehend, und daß diese nicht, wie im Norden, an ihrem zweiten Gatten den Tod ihrer Brüder rächt, sondern an ihren Brüdern den Tod ihres ersten Gatten; damit ist ein innerer Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Teile hergestellt: der erste Teil ist die Ursache des zweiten geworden. Daraus ist weiter die Notwendigkeit erwachsen, daß Etzel nicht ermordet wird, sondern übrig bleibt, und die Erzähler zunächst nicht wissen, was aus ihm geworden sein mag. Seine und Kriemhilts Interessen fallen in der deutschen Darstellung eben zusammen, und es mangelt der Kriemhilt jeder Grund, ihn zu töten.
Welche Darstellung der Sage, die nordische oder die deutsche, die ältere ist, das ist nicht schwer zu entscheiden: selbstverständlich diejenige, in der die beiden Teile auseinanderklaffen. Denn das Auseinanderreißen zusammengehöriger Stücke würde niemand unternommen haben; wohl aber kann man jemandem zutrauen, daß er zwei Erzählungen, wie die Geschichte von Siegfried und die Geschichte von dem Untergang der Burgunden und Attilas Tod, die durch beiden gemeinsame handelnde Personen zusammengehalten werden, auch innerlich in ursächlichen Zusammenhang bringt.
Im deutschen Liede spielt eine Figur, die in der Lieder-Edda uns nur ganz beiläufig entgegentritt[31], eine Hauptrolle: Dietrich von Bern. Er ist im Grunde die Hauptperson, denn er bringt in dem großen Kampfe die Entscheidung.
Dietrich von Bern ist der Held einer selbständigen weitverzweigten Sage; er ist der sagenhafte Niederschlag der gewaltigen historischen Persönlichkeit des Ostgotenkönigs Theodorichs des Großen. Bei den Bayern, die gewissermaßen die unmittelbaren Nachfolger der alten Goten sind[32], hat sich die Erinnerung an[S. 57] seine große Zeit stets lebendig erhalten: er ist ihr Nationalheld. Während der Zeit seiner Verbannung aus der Heimat lebt er (in der Sage) am Hofe Etzels[33]. Da nun die Burgunder nach der niederrheinischen Sage am Hofe Etzels zugrunde gehen, so müssen die beiden Erzählungen, sobald sie sich lokal und im Gehirn eines und desselben Dichters vereinigen, in Zusammenhang miteinander kommen, denn sie sind ja durch Etzel als gleichzeitig, Dietrich und Siegfried also als Zeitgenossen erwiesen. Dadurch entsteht aber sofort eine eigenartige Schwierigkeit. In der alten niederfränkischen Siegfriedsage ist Siegfried als erster Held seiner Zeit geschildert. Genau dasselbe behauptet die bayrische Sage von ihrem Dietrich. Durch die Verbindung der beiden Sagen vermittelst der Person Etzels stehen nun zwei einander ausschließende Superlative, Dietrich und Siegfried, nebeneinander als Zeitgenossen. Beide erheben ja den Anspruch, die ersten Helden ihrer Zeit zu sein. Es ergibt sich also die Frage, welcher von beiden wirklich der erste ist; für die Dichtung liegt es nahe, sie zu lösen, indem sie die beiden einander in einem Zweikampfe gegenüberstellt; die Lösung wird verschieden ausfallen je nach der Heimat dessen, der sie gibt. Eine Dichtung vom Zweikampfe der beiden Helden ist nun spätestens im 12. Jahrhundert entstanden. Wenn sie dem Norden Deutschlands, dem Lande am Niederrhein, entstammte, würde sie Siegfried haben siegen lassen; da sie zugunsten Dietrichs entscheidet, muß sie wohl in Süddeutschland (Bayern) entstanden sein. Etwas anderes darf man natürlich aus dem für Siegfried ungünstigen Ausfall des Kampfes nicht schließen.
Diese Dichtung liegt im 13. Jahrhundert bereits in drei verschiedenen Zweigen vor; die vergleichsweise einfachste Darstellung findet sich in dem hochdeutschen Gedichte „Biterolf“, einer Bearbeitung der Dietrichsage in ritterlichem Geschmack: durch eine feindselige Handlung der Wormser, bei denen sich Siegfried aufhält, werden die östlichen Helden, unter ihnen Dietrich, bewogen, gegen Worms zu ziehen. Dietrich wagt es zunächst nicht[S. 58] recht, den Kampf gegen Siegfried aufzunehmen, wird aber schließlich durch die Hohnreden seiner Mannen dazu genötigt und besiegt ihn.
Die zweite, ebenfalls hochdeutsche Version liegt in dem Gedichte vom Rosengarten zu Worms vor, das uns in fünf verschiedenen, aber auf dieselbe Grunddichtung zurückgehenden Bearbeitungen erhalten ist; sie behandeln als Kern genau dieselbe Erzählung wie der „Biterolf“, nur daß sie das Lokal noch näher bestimmen: sie nehmen an, daß in Worms ein Rosengarten liegt, der Kriemhilts Eigentum ist. Der Dichter versetzt mit einem kühnen Griff die Kriemhilt der spätern Zeit der Rache, ihrem Charakter nach, in ihre Mädchenzeit zurück: die jugendliche Kriemhilt, die im Begriff ist, Siegfried zu heiraten, veranlaßt den Kampf, um zu sehen, ob Siegfried der erste aller Männer ist; sie fordert dazu den Dietrich heraus. Die Entscheidung fällt gegen Siegfried; im einzelnen ist die Darstellung der im „Biterolf“ sehr ähnlich.
Der dritte Zweig der Zweikampfsage liegt in der Thidrikssaga vor, jener großen nordischen Sagensammlung, die auch die in Deutschland umgebildete Nibelungensage nach dem Norden übertragen hat.
So wie die Thidrikssaga uns überliefert ist, ist sie nicht einmal äußerlich ganz einheitlich, sondern wir können der ältesten Handschrift noch ansehen, daß Einlagen hinzugekommen sind; da diese Handschrift nicht ganz vollständig ist, können wir nicht von jedem einzelnen Abschnitt mit Sicherheit sagen, wie alt und wie ursprünglich er ist. Doch darf man behaupten, daß im Urtexte der Saga die Nibelungengeschichte erst von Siegfrieds Dienst bei Isung (vgl. nachher) an vorhanden war, während die Darstellung seiner Jugendzeit erst später eingelegt worden ist. Im folgenden werden nur diejenigen Teile inhaltlich wiedergegeben, welche die Nibelungensage enthalten.
Es wird erzählt, daß ein König Sigmund über Karlungaland (Frankreich) herrscht. Er verheiratet sich mit Sisibe. Bald nach der Hochzeit muß er eine Kriegsfahrt unternehmen und die junge Frau der Hut zweier Edlen überlassen. Diese Pfleger beginnen bald die Königin mit Liebesanträgen zu verfolgen; als sie abgewiesen werden, drohen sie mit Verleumdung. Bei der Rückkehr des Königs führen sie ihre Drohung auch aus. Daraufhin wird Sisibe verstoßen und von den Verrätern in einen Wald[S. 59] verschleppt; während diese über ihr Schicksal in Zwist geraten, gebiert die Königin plötzlich und stirbt an der Geburt. Das Kind, ein Knabe, wird in ein Gefäß gelegt, das dann in den vorüberfließenden Strom gerät und von seinen Wellen weggetragen wird.
Weiter unterhalb strandet das Gefäß und zerbricht. Des weinenden Kindes erbarmt sich eine Hirschkuh, nährt es und zieht es auf. Ein Schmied, der in der Nähe im Walde haust, namens Mimir, entdeckt den Knaben bei der Hirschkuh, nimmt ihn auf und gibt ihm den Namen Siegfried.
Jung Siegfried entwickelt sich zu einem ganz ungewöhnlich kräftigen, aber dabei doch zu nichts verwendbaren Jüngling. Mimir wird von ihm arg belästigt und beginnt sich vor ihm zu fürchten. Infolgedessen beschließt er, den Knaben zu beseitigen. Im Walde lebt ein Drache, den die Saga seltsamerweise Regin nennt[34]. Durch diesen Drachen hofft Mimir den Siegfried loszuwerden; er schickt ihn in den Wald, Kohlen zu brennen, und stattet ihn für mehrere Tage mit Proviant aus. Im Walde angelangt, erledigt Siegfried rasch seine Arbeit, ist aber dann gleich so verhungert, daß er seinen ganzen Vorrat, der für mehrere Tage ausreichen soll, auf einmal aufzehrt. Da erscheint der Drache, wird aber bald von Siegfried getötet. Das scheint ihm kaum eine gefahrvolle Sache; er braucht dazu nur seinen Mut. Nun hat er Gelegenheit, seinen Hunger weiter zu stillen: er schneidet sich ein Stück Fleisch aus dem Drachen und siedet es. Um zu versuchen, ob es gar ist, faßt er es an, verbrennt sich die Finger und steckt sie zur Kühlung in den Mund. Dadurch gelangt etwas Drachenblut auf seine Zunge, und er versteht auf einmal die Sprache der Vögel. Von ihnen erfährt er, daß Mimir ihn böswillig hinausgeschickt hat, und kehrt wütend nach Hause zurück. Als Mimir ihn kommen sieht, erkennt er, daß sein Plan fehlgeschlagen ist, und versucht ihn zu besänftigen, indem er ihm eine wundervolle Rüstung und ein Schwert gibt, ihm auch ein geeignetes Roß aus Brynhilds Gestüt nachweist[35]. Siegfried[S. 60] nimmt alles an; der erste, den er mit dem Schwerte tötet, ist Mimir. Dann sucht er die Burg der Brynhild auf. Wer Brynhild ist, wird gar nicht erklärt. Sie ist jedenfalls eine rein menschliche Fürstin, die unter anderm ein großes Gestüt besitzt; die edlen Heldenrosse, die in der Saga erwähnt werden, stammen alle aus diesem Gestüt. Siegfried dringt gewaltsam in ihre Burg ein; als sie den Lärm hört, sagt sie sofort: „Da wird Siegfried, Sigmunds Sohn, gekommen sein, und er soll mir immer willkommen sein.“ Beim Empfang fragt sie ihn, wer er sei; das weiß Siegfried nicht. Da eröffnet sie ihm, daß er König Sigmunds Sohn ist (woher sie das weiß, wird nicht erörtert), und überläßt ihm auf seinen Wunsch aus ihrem Gestüt den Hengst Grani. Von Liebschaft oder Verlobung aber ist mit keinem Worte die Rede. Siegfried zieht weiter und tritt in den Dienst eines Königs, der Isung heißt und in Bertangaland (Bretagne) herrscht. Dieser König Isung gehört nur unserer Thidrikssaga an und ist für die Komposition derselben wesentlich.
Inzwischen hat der junge König Dietrich, der eigentliche Held der Saga, der zu dieser Zeit noch nicht in der Verbannung lebt, sondern sein Volk in Italien beherrscht, eine Reihe gewaltiger Helden um sich gesammelt; er stellt die Behauptung auf, daß es niemand gäbe, der ihm und seinen Mannen entgegentreten könnte. Einer der Helden erwidert ihm, daß Isung mit seinen elf Söhnen und seinem Bannerträger — als solcher dient ihm der junge Siegfried — ihm mindestens gewachsen sei. Daraufhin zieht Dietrich mit seinen Mannen, unter denen sich diesmal auch, auf freundliche Einladung hin, Günther und Hagen[36] befinden, zum Kampfe gegen Isung und seine Söhne aus. In Zweikämpfen mit verschiedenem Erfolge wird die Angelegenheit ausgefochten (ähnlich wie im Biterolf und im Rosengarten); Siegfried und Dietrich messen ihre Kräfte als letzte miteinander, und auch in dieser Sagenform siegt Dietrich. Das hat, wie gesagt, seinen Grund in dem oberdeutschen Ursprung der Zweikampfsage; allein der nordische Sagaschreiber (vielleicht schon seine niederdeutsche Quelle) vermochte es nicht über sich, seinen unüberwindlichen Siegfried so ohne weiteres besiegen zu lassen: er erklärt die Niederlage durch unlautere Mittel, die[S. 61] Dietrich angewendet habe. Dietrich kann den Siegfried nur mit einem bestimmten Schwerte, dem Mimung, das dem Witig gehört, besiegen. Das weiß Siegfried auch und verlangt deshalb von Dietrich den Eid, daß er den Mimung nicht habe. Darauf steckt Dietrich das Schwert hinter sich mit der Spitze in die Erde und lehnt sich gegen den Griff, dann schwört er, daß er Mimungs Spitze nicht oberhalb der Erde wisse, noch seinen Griff in eines Mannes Hand; mit Mimung besiegt er Siegfried, also unter Anwendung von Hinterlist.
Siegfried tritt nun in den Dienst Dietrichs und zieht mit ihm zusammen an den Hof Günthers; dort wird ohne besondere Bedingungen die Heirat gestiftet, daß Siegfried die Grimhild, Günthers Schwester, zur Gattin erhält. Bei der Hochzeit erwähnt Siegfried dann die Brynhild und schlägt sie seinem neuen Schwager Günther als geeignete Gemahlin vor. Günther, Hagen, Siegfried und Dietrich[37] ziehen sofort aus, die Werbung anzubringen; Brynhild ist ärgerlich, daß Siegfried bereits eine Frau hat, und wirft ihm vor, daß er sich doch mit ihr verlobt habe[38]. Schließlich nimmt sie ohne besondere Prüfung Günthers Werbung an; in der Brautnacht aber widersetzt sie sich ihm, ohne daß die Erzählung auch nur den Versuch machte, ihr Verhalten zu erklären, Günther kann sie nicht gewinnen und bittet nach einigen Tagen Siegfried um Hilfe. Dieser gewährt sie ihm auch, aber nicht in der keuschen Weise, die der alten Sage gemäß ist, sondern er überwältigt Brynhild (übrigens ohne Schwierigkeit) völlig und wird wirklich schuldig.
Nach einiger Zeit geraten Brynhild und Grimhild in den unvermeidlichen Zank, der ja für die weitere Entwicklung der Sage notwendig und der eigentliche Kern der Erzählung ist. Hier dreht es sich nicht ums Baden, auch nicht um den Vortritt an der Kirche, sondern um den Hochsitz, den früher die Mutter Grimhilds innegehabt hat, und der jetzt natürlich der Gattin Günthers gebührt. Grimhild beansprucht ihn vergeblich für sich[S. 62] und enthüllt in ihrem Zorn das Geheimnis, daß Siegfried der Brynhild Liebe genossen hat. So wird denn der Mord beschlossen und im wesentlichen so ausgeführt, wie es in unserm Liede erzählt wird, bei Gelegenheit einer Jagd.
Auch im zweiten Teile der Nibelungensage schließt sich die Saga sehr eng an die deutsche Fassung an, stellenweise so eng, daß man den Eindruck hat, der Sagaschreiber hat unser Lied vor sich oder wenigstens im Ohre gehabt und danach seine Erzählung zusammengestellt. Doch sind einige tiefgehende Abweichungen vorhanden. Eine der auffälligsten ist die, daß Dankwart ganz unbekannt ist, während Volker eine Rolle wie im Liede spielt; eine ganze Reihe von Szenen, die wir vorhin bei der Betrachtung des Liedes als jung erkannten, fehlen der Saga. Aber auch sonst weicht manches ab, denn der Sagaschreiber ist ein überlegender Mann; er bringt nicht gern Unmöglichkeiten vor, sondern hat seinen Text, so gut es geht, auf den festen Boden der Wirklichkeit gestellt. Das ist ihm freilich nicht immer geglückt. Einige Stellen verdienen besondere Betrachtung. Die Geschichte mit dem Fährmann wird in der einfachen Weise, die auch im Liede noch durchklingt, vorgetragen: er läßt sich durch einen dargebotenen Goldring geneigt machen, da er ihn seiner jungen Frau mitbringen will. Der Ausbruch des Kampfes am hunnischen Hofe wird deutlich dadurch herbeigeführt, daß Grimhild bewußt ihren Sohn opfert, was im Liede nur noch angedeutet ist. Wir haben hier zweifellos in der Quelle der Saga eine Darstellung, die etwas altertümlicher ist als die unseres Liedes; die Vermutung drängt sich auf, daß Nibelungendichter und Sagaschreiber auf Grund derselben Vorlage gearbeitet haben. Gegen den Schluß hin ist eine wesentliche Abweichung die, daß Günther frühzeitig gefangen und in den Schlangenturm geworfen wird, so daß er also nicht neben Hagen der letzte sein kann, wie sonst überall berichtet wird. Dafür bleibt neben Hagen Giselher bis zuletzt übrig. Das ist ein Zugeständnis, das der Sagaschreiber der nordischen Sagenform machen muß; im Norden steht fest, daß Gunnar im Schlangenturme zugrunde geht. Eigentümlich ist ferner, daß Hagen hier nicht von Grimhild getötet[39], sondern, wenn auch todwund, von Dietrich gefangen und gerettet wird,[S. 63] so daß er sogar die Freunde noch einige Zeit überlebt. Diese Neuerung zielt auf eine uns hier zum ersten Male begegnende Nachdichtung hin: von Dietrich läßt sich Hagen ein edles Mädchen beschaffen, mit der er in den letzten Tagen seines Lebens seinen Rächer erzeugt; bevor er stirbt, gibt er ihr noch die Schlüssel zum Nibelungenhorte (der in einem Berge liegend gedacht wird) und die nötigen Anweisungen. Nach seinem Tode gebiert das Mädchen einen Sohn und nennt ihn Aldrian, nach Hagens Vater. Dieser Aldrian wird an Attilas Hofe erzogen und, herangewachsen, von seiner Mutter über seine Bestimmung unterrichtet. Er kommt ihr nach, indem er Attila fragt, ob er den Nibelungenhort haben will, und als dieser — wie natürlich — darauf eingeht, führt er ihn zum Horte und schließt ihn bei demselben ein; seitdem ist Attila verschwunden. Aldrian kehrt aber nach dem Nibelungenlande zurück und wird dort König. Das ist der letzte Abschnitt der Saga, der uns hier angeht.
Die Erzählung ist hier weiter geführt als im Liede und zwar in ganz neuer Art; die Nachbildung von Aldrian (die natürlich nicht vom Sagaschreiber herrührt) erfüllt mit Geschick einen doppelten Zweck: sie befriedigt das Bedürfnis der Rache für die ausgemordeten Burgunden, und sie schafft Etzel aus der Geschichte.
Im eddischen Liede Atlamál erscheint neben Gudrun ein Niflung als Rächer der verratenen Burgunden; sein Auftreten beruht wohl auf Beeinflussung durch die eben besprochene Aldriansage, die demnach schon etwa im 11. Jahrhundert entstanden sein dürfte.
Der Verfasser der Saga hat augenscheinlich, neben andern Quellen, für die Nibelungensage in der Hauptsache zwei Dichtungen benutzt: eine, die vom Auftreten Siegfrieds in Worms an bis zum großen Kampfe reichte und mit dem Nibelungenliede ganz nahe verwandt war, und die Grundlage der Zweikampfdichtung. Da die letztere innerhalb der ersteren keine Stelle hat, so verfuhr der Sagaschreiber so, daß er sie dieser voranstellte; Siegfried steht daher bei ihm zur Zeit des Zweikampfes noch nicht in Günthers Umgebung (wie die angeführten hochdeutschen Gedichte behaupten, und wie es natürlich ist), sondern wird in diese erst durch Dietrichs Sieg eingeführt. Der König Isung von Bertangaland ist nach meiner Empfindung nichts als eine Schöpfung des Sagaschreibers, notwendig geworden dadurch, daß Siegfried erst später in Günthers Kreis tritt, also[S. 64] zur Zeit des Zweikampfes einen andern Herrn haben muß. Jung ist die Figur auf jeden Fall, denn die Verwendung von Bertangaland (der Bretagne) in unserm Literaturkreise kann nicht wohl vor dem Bekanntwerden der Artussage (frühestens Ende des 12. Jahrhunderts) möglich gewesen sein. Eine dritte norddeutsche Quelle benutzte der Sagaschreiber in der Geschichte von Etzels Tod; nach einer vierten, von der das gleich nachher zu besprechende Gedicht vom Hürnen Seifrid teilweise abhängt, legte ein jüngerer Bearbeiter der Saga die Geschichte von Siegfrieds Jugend ein.
Anhangsweise mag an dieser Stelle angeführt werden, was über das Fortleben unserer Sage in Skandinavien besonders wissenswert ist.
Durch die im 13. Jahrhundert entstandene Thidrikssaga gelangte die deutsche Sagenform den Nordleuten zur Kenntnis und schließlich, wenigstens in Dänemark, zur Herrschaft. Die im Jahre 1591 zum ersten Male veröffentlichten dänischen Heldenlieder (Kämpeviser) bieten, soweit sie die Nibelungensage behandeln, durchaus die Stoffgestalt der Thidrikssaga dar. Charakteristisch ist, daß schließlich die Figuren des Hagen und des Volker alle andern Nibelunge derartig überwuchern, daß diese der Vergessenheit anheimfallen; die Sympathie des Publikums hat sich dem Hagen und Volker ausschließlich zugewandt, so daß zuletzt sogar Siegfried zu unwürdiger Rolle verdammt wird. Am drastischsten tritt das zutage in der 1603 dänisch abgefaßten „Chronik der Insel Hven“, die aus dem Lateinischen übersetzt zu sein vorgibt. Als Lokal der Ereignisse ist hier die im Sunde gelegene Insel Hven an die Stelle von Etzelnburg getreten.
[S. 65]
Auf den im nördlichen Teile des Atlantischen Ozeans gelegenen Färöer, die von Norwegen aus besiedelt sind, entdeckte 1817 Lyngbye volkstümliche Lieder, die alte Stoffe behandeln; drei von ihnen geben einander anschließend die ganze Nibelungensage wieder: Regin smidur, Brinhild und Högni; während die beiden erstgenannten noch die spezifisch nordische Sagenform aufweisen, gibt das Lied von Högni die Erzählung in der jüngern Gestalt wieder. Bis auf die Färöer also hat die Thidrikssaga die deutsche Sagenform verbreitet.
In der Erzählung vom jungen Siegfried, wie sie in der Saga uns entgegentritt, kommen nicht wenig Züge vor, die, im Nibelungenliede fehlend, doch altertümlich sind und, wenn auch verwischt, in dem späten deutschen Liede vom Hürnen Seifrid wieder auftauchen. Dies Gedicht besteht aus zwei ganz lose verbundenen Teilen, deren erster ein kurzer Auszug aus einem verlorenen längern Gedicht ist. Der zweite, größere hebt vollständig von neuem an, als ob nichts vorausginge, und sein Inhalt widerspricht in wesentlichen Dingen dem des ersten. Im ersten Teil ist Siegfried als Sohn des Königs Sigmund aufgewachsen und so ungebärdig, daß man ihn gern ziehen läßt, als er nicht zu Hause bleiben will. Er tritt dann bei einem Schmiede in die Lehre, treibt aber nichts als Unfug; der Schmied schickt ihn deshalb in den Wald, damit ihn ein Drache töte, allein Siegfried überwindet den Drachen und badet sich in seinem Blute, wodurch er eine Hornhaut erwirbt. Die Erzählung ist der in der Thidrikssaga nahe verwandt. Angeschlossen sind (ziemlich zusammenhanglos) Bemerkungen über Herkunft und Bedeutung des Nibelungenhortes. Der zweite Teil erzählt, daß Kriemhilt, die Tochter des in Worms regierenden Königs Gibich, von einem Drachen entführt wird; Siegfried stößt jagend auf die Spur des Drachen, tötet ihn nach hartem Kampfe und erlöst die Jungfrau, die seine Gattin wird. Die Erzählung wird kurz bis auf seinen Tod fortgeführt. Der zweite Teil ist offenbare Neudichtung nach bekannten Motiven; für uns wichtig ist nur, daß (in offenbarem Widerspruche zum ersten Teile) erzählt wird, Siegfried sei ohne Kenntnis seiner Eltern aufgewachsen; in diesem Punkte ist der „Hürnen Seifrid“ altertümlich. — Auffälligerweise gilt Hagen im „Hürnen Seifrid“ als dritter Sohn Gibichs (neben Günther und Gernot); diese Übereinstimmung mit der nordischen Sagenform ist wohl zufällig; man wußte, daß Gibich drei Söhne gehabt hatte, und ersetzte den vergessenen Giselher durch den berühmten Helden.
[S. 66]
Die bisher besprochenen Formen unserer Sage müssen sich nun, soweit sie auch im Laufe der Entwickelung auseinander gegangen sein mögen, notwendig auf eine einheitliche Grundlage zurückführen lassen. Wollen wir diese Grundlage finden und den langen Weg, den die Stoffe bis zur Aufzeichnung zurückgelegt haben, mit einiger Sicherheit aufhellen, so tun wir gut, fürs erste diejenigen geschichtlichen Ereignisse ins Auge zu fassen, die unzweifelhaft zu den Ausgangspunkten der ganzen Stoffmasse gehören; wir haben dann einen feststehenden Anfang und dürfen hoffen, die Linie zu finden, die von ihm bis zu den Denkmälern der Sage in der Literatur hinführt.
Im 4. nachchristlichen Jahrhundert saß das germanische Volk der Burgunden im Stromgebiete des Mains; am Rheine war die römische Grenzwehr noch ungebrochen. Da kam, etwa im Jahre 405, vermutlich infolge eines erneuten hunnischen Ansturms, Bewegung in die östlich von den Burgunden sitzenden Germanenvölker: Sueben und Vandalen, mit ihnen die nichtgermanischen Alanen, drangen westwärts vor, durchbrachen 406 die römische Rheingrenze und ergossen sich über Gallien. Daß die Burgunden von diesen Ereignissen nicht unberührt bleiben konnten, ist klar; wir finden sie nunmehr auch links des Rheins gegenüber ihren bisherigen Sitzen. Im Jahre 411 stellten der Alanenhäuptling Goar und der Burgundenkönig Gundicarius in Gallien den Jovinus als römischen Kaiser auf; 413 aber ließen sie ihn fallen und vertrugen sich mit der rechtmäßigen Regierung des Kaisers Honorius; dabei erhielt Gundicarius für sich und sein Volk die römische Provinz Germania superior (sie umfaßte die Bezirke der[S. 67] Städte Mainz, Worms, Speier und Straßburg) angewiesen, und zwar sollten die Burgunden hier eine Grenzwacht im römischen Sinne bilden. Sie sitzen jetzt also in derjenigen Gegend, in der unsere Sage sie annimmt; ihr Herrscher führt den Namen Gundicarius, das ist derselbe wie hochdeutsch Günther, nordisch Gunnar.
Jeden Zweifel an der Identität des historischen und des sagenhaften Königs und Volkes müssen uns die nun folgenden Ereignisse nehmen. Das Bündnis zwischen Burgunden und Römern fand sein Ende durch den Tod des Kaisers Honorius 423. Es ist eine Eigentümlichkeit aller dieser Barbarenbündnisse der Völkerwanderungszeit, daß sie als erloschen gelten, sobald der eine der beiden Kontrahenten stirbt. Daß der römische Staat weiter existiert, kümmert die Burgunden nicht; sie haben nur mit Honorius persönlich abgeschlossen. Jetzt ist der Kriegszustand wieder da; sie greifen wieder um sich. Nach einigen Jahren ist die römische Macht wieder so weit gefestigt, daß sie in Gallien Ordnung zu schaffen unternehmen kann. Der Feldherr Aetius tut es unter heftigen Kämpfen; im Jahre 435 wird er auch mit den Burgunden fertig. Über diese Kämpfe berichten uns zwei Zeitgenossen, die sich gegenseitig ergänzen; der eine ist Prosper Aquitanus, der andere der Spanier Idacius. In ganz kurzer chronistischer Art und Weise haben sie uns die Kenntnis der Zeit übermittelt. Zum Jahre 435 sagt Prosper: „Um diese Zeit besiegte Aetius den Burgundenkönig Gundicarius, der sich in Gallien herumtrieb, im Kriege und gab ihm auf seine Bitten Frieden;“ d. h. das Bündnis ward wieder hergestellt. Prosper fährt aber fort: „Den genoß er nicht lange; denn ihn, seine ganze Familie und sein ganzes Volk haben die Hunnen vernichtet.“ Zum Jahre 437, also zwei Jahre später, gibt Idacius die kurze Notiz: „20000 Burgunden wurden geschlagen.“ Wir haben diese Notizen so zu verbinden, daß im Jahre 435 das alte Verhältnis zwischen Römern und Burgunden wieder hergestellt wurde, daß aber zwei Jahre darauf die Burgunden am Rheine durch die Hunnen zugrunde gingen. Über diese Hunnen hat man viel gestritten: waren es römische Söldner, die etwa im Dienste des Aetius den Angriff unternahmen? oder war es das Hunnenvolk selbst, sei es das ganze oder ein Teil? führte sie der König Attila, der ja seit 433 über einen Teil dieses Volkes herrschte? Meiner Meinung nach kann es nur das Hunnenvolk sein, nicht etwa ein hunnisches Söldnerheer im römischen Dienst. Denn mit den Römern hatte[S. 68] Gundicarius das Bündnis eben erneut; zum Bruch lag keine Veranlassung vor. Wohl aber konnte er nun im römischen Dienst seine Front ostwärts gegen die andringenden Hunnen genommen haben. Bei dieser Gelegenheit ist nun das Burgundenvolk mit seinem Königshaus und dem König Gundicarius an der Spitze im wesentlichen vernichtet worden; 20000 Mann sollen umgekommen sein. Näheres wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß Aetius sechs Jahre später, 443, die Burgunden vom Oberrhein weggenommen und nach Savoyen an das Südufer des Genfersees versetzt hat, offenbar weil sie durch jenen unglücklichen Kampf so geschwächt waren, daß sie als Grenzwacht nicht mehr ausreichten. Von Savoyen aus haben sie sich in etwas späterer Zeit wieder ausgebreitet und ein größeres Reich gewonnen, an dessen Dasein noch die Landschaft Bourgogne in Frankreich erinnert. Von 413 bis 443 haben also die Burgunden am Oberrhein gesessen und sind hier einmal durch einen Angriff der Hunnen schwer geschädigt worden. Die näheren Umstände bei diesem Angriff kennen wir, wie gesagt, nicht; daß Attila die Hunnen geführt hat, ist möglich, aber nicht notwendig anzunehmen; die Sage hätte ihm als berühmtestem Hunnenkönig die Tat auf jeden Fall zugeschrieben. Die von der Sage berichteten näheren Umstände gehen vermutlich auf historische Einzelheiten zurück; so ist es z. B. gar nicht unwahrscheinlich, daß Attila (oder wer sonst die Hunnen geführt hat) die burgundischen Fürsten scheinbar wegen Verhandlungen zu sich geladen und dabei verräterisch niedergemacht hat; man sieht sonst wenigstens nicht ein, wie die Sage auf das Motiv von der verräterischen Einladung gekommen wäre.
In der neuen Heimat der Burgunden ließ um das Jahr 500 ihr König Gundebad das burgundische Recht aufzeichnen; im Eingange zu diesem Gesetzbuche nennt er seine Vorgänger als burgundische Könige. Als erster tritt uns entgegen Gibica; dann folgen Gundomar, Gislaharius, Gundaharius und endlich Gundebads unmittelbare Vorgänger. Hier treten uns mehrere aus der Sage wohlbekannte Namen entgegen: Gundaharius (von Gundicarius nur in der Schreibung verschieden, also der 437 gefallene) ist Günther, Gislaharius ist Giselher, Gibica ist Gibich (mhd. Gibeche), der nordische Gjuki. Letzterer ist also der älteste historisch bekannte Burgundenkönig, den auch die Sage festgehalten hat. In welchem Verwandtschaftsverhältnis seine drei Nachfolger zu ihm stehen, sagt das Gesetzbuch nicht; wir dürfen[S. 69] auch hier der Sage trauen, die ihm drei Söhne gibt, von denen zwei die gleichen Namen wie die entsprechenden im Gesetzbuche führen, und annehmen, daß sie seine Söhne waren; dann begreift man wenigstens am leichtesten, wie der doch ganz unbedeutende Giselher bis in späteste Zeiten unvergessen geblieben ist. Gibicas drei Söhne hätten dann im wesentlichen neben- und miteinander regiert; in Deutschland wäre später Gundomar dem Namen nach vergessen und für ihn Gernot eingesetzt worden. Auch im Norden werden ja drei Brüder genannt: Gunnar, Hogni und der etwas beiseite stehende Gudorm; letzterer könnte dem Namen nach auf Gundomar zurückführen, dann wäre Hogni (ursprünglich, wie in Deutschland, nur der erste Vasall des Königs) für Giselher in die Familie eingerückt.
Daß von diesem Untergange des Burgundenstaates am Oberrhein durch die Hunnen ein Teil unserer Sage ausgegangen ist, darf bei der Übereinstimmung einer ganzen Reihe von Umständen und Namen wohl als sicher gelten.
Attila, seit 433 König eines Teiles der Hunnen, wurde 444 durch Ermordung seines Bruders Bleda Alleinherrscher, brachte sich durch seinen großen Kriegszug nach Gallien 451 den westlichen Germanen erneut in furchtbare Erinnerung, kam aber 453 unter auffälligen Umständen plötzlich zu Tode. Er war als echter Nomadenfürst Besitzer eines großen Harems, den er fortgesetzt vermehrte; 453 feierte er sein Beilager mit einem Mädchen namens Hildiko. Am Morgen nach der Brautnacht fand man den König tot; die junge Frau allein war bei ihm. Zeitgenossen behaupten, daß Attila durch einen Blutsturz zu Tode gekommen sei. Aber auch schon zeitgenössisch tritt die Behauptung auf, Hildiko habe ihn getötet. Was richtig ist, läßt sich nach Lage der Dinge nicht entscheiden, denn die einzige Zeugin des wirklichen Herganges war ja eben nur Hildiko, und diese war, falls sie ihn wirklich getötet hat, Partei. Daß manche sie für seine Mörderin gehalten haben, ist begreiflich. Für die Sage ist es natürlich gleichgültig, ob sie das war; ihr genügt es, daß man sie dafür hielt.
Von großer Bedeutung ist ihr Name, der gut germanisch (speziell gotisch) ist: er ist eine Koseform von einem mit hild zusammengesetzten Frauennamen, „Hildchen“; Hildiko kann also mit ihrem vollen Namen (die Koseform setzt immer einen vollen Namen voraus) gut und gern „Grimhild“ geheißen haben. Jedenfalls[S. 70] nimmt die Sage an, daß dies ihr rechter Name war. In irgendwelcher Beziehung zu den historischen Burgunden steht diese historische Grimhild nicht. Wohl aber ist erklärlich, wie man darauf gekommen ist, anzunehmen, daß sie den Attila getötet habe: sie hatte Angehörige an ihm zu rächen. Man braucht sich nur in jene wilden Zeiten zurück zu versetzen. Attila war der Herrscher eines wilden, kriegerischen Volkes, das dort, wo es als Feind auftrat, niemanden schonte, die Männer ausrottete und die Weiber der Niedrigsten so gut wie die der Edlen bis zum König hinauf in Besitz nahm. Daß also manche Weiber am Hunnenhofe Ursache haben mochten, Angehörige an den Hunnen zu rächen, darf man glauben. Die Vorstellung ist denn auch sehr alt, daß die Mörderin (wie wir sie mit der Sage nennen wollen) an Attila Angehörige gerächt hat. Nach einigen alten Angaben (des sog. Poeta Saxo im 9. und der Quedlinburger Chronik im 11. Jahrhundert), die aber ebensowenig beglaubigt sind wie die unserer Sage, hat sie ihren Vater gerächt, in unserer Sage aber (nach der nordischen Darstellung) ihre Brüder, und diese letztere Anschauung muß bereits im 9. Jahrhundert am Niederrhein fest gegolten haben, sonst könnte nicht Kriemhilt in Deutschland wie Gudrun im Norden als Schwester der burgundischen Könige angesehen werden.
Die beiden großen Ereignisse, die Vernichtung des Burgundenstaates am Mittelrhein durch die Hunnen im Jahre 437 und die Ermordung des Königs Attila durch sein Weib im Jahre 453, erscheinen nun im zweiten Teile unserer Sage verbunden und in ursächlichen Zusammenhang gebracht. Unsere Erzählung nimmt an, daß Hildiko oder Grimhild, wie wir sie gleich nennen können, die Schwester der untergegangenen Burgundenkönige ist und diese an ihrem Gatten Attila rächt. Der Vergleich mit der Geschichte bestätigt, was vorhin aus der innern Gestalt der beiden Hauptfassungen unserer Sage geschlossen wurde: die nordische ist die altertümlichere, denn sie deckt sich im wesentlichen mit den historischen Vorgängen; die deutsche ist durch die hergestellte innere Verbindung mit dem ersten Teile wesentlich verändert. Sicher aber haben wir für den zweiten Teil unserer Sage an den historischen Tatsachen eine gute und einwandfreie Grundlage.
Die Erzählung ist allerdings nicht ohne weiteres mit der Geschichte identisch, sondern die Sage ist dadurch geschaffen, daß jemand bereits in alter Zeit (gewiß nicht allzu lange nach den[S. 71] Geschehnissen) die beiden historischen Tatsachen: Untergang der Burgunden, und: Attilas Tod, in Zusammenhang gebracht hat. Dieser Jemand muß wohl einer von jenen Berufsdichtern gewesen sein, wie sie eingangs erwähnt worden sind; genauer dürfen wir nach seiner Person selbstverständlich nicht fragen, wohl aber nach dem Volke, dem er angehört hat. Das ist wahrscheinlich eben das fränkische gewesen. Die Burgunden selbst können es nicht gewesen sein, denn sie sind aus jenen Gegenden durch die Ereignisse weggeschwemmt worden; auch finden wir bei ihnen später keine Kunde von unserer Dichtung. Die Franken waren aber in der Zeit, da die Ereignisse sich zutrugen, der Burgunden nördliche Nachbarn; sie erlebten staunend diese Katastrophen mit, sie waren auch vielfach selbst in die Kämpfe verwickelt und haben im Jahre 451 teils für, teils gegen Attila gefochten. Daß also die Franken jene Vorgänge im Gedächtnis festhielten und die Kunde von ihnen der Nachwelt übermittelten, ist demnach wohl verständlich.
Besitzen wir so für den zweiten Teil der Sage eine einwandfreie geschichtliche Grundlage, so ist es leider bis jetzt noch nicht möglich gewesen, eine solche mit einiger Sicherheit für den ersten Teil (d. i. die Geschichte, die mit Siegfrieds wunderbarer Jugend beginnt und mit seiner Ermordung schließt) zu finden. Man hat deshalb für diesen Teil ganz besonders lange, ja bis heute noch, an der Behauptung festgehalten, er beruhe auf mythischen Grundlagen, d. h. es seien vermenschlichte Götter, die uns hier vorgeführt würden, die Dichtung behandle also im Grunde nicht Schicksale von Menschen, sondern Ereignisse der Natur.
Bevor wir zu dieser Anschauung Stellung nehmen, dürfte es sich empfehlen, die Begriffe „Sage“ und „Mythus“ möglichst genau festzulegen. Was „Sage“ ist, läßt sich aus der eben behandelten Herkunft des Stoffes der Attila-Burgunden-Erzählung am besten erkennen: „Sage“ ist eine Form der Überlieferung historischer Ereignisse, die sich von andern Formen (der annalistischen oder der pragmatischen Geschichtschreibung) in erster Linie dadurch unterscheidet, daß sie im wesentlichen auf mündlichem Wege weitergegeben wird; die Möglichkeit, alle Angaben auf ihre Richtigkeit zu prüfen, ist außerordentlich gering; um so größer ist die Einwirkung derjenigen Männer, in deren Händen[S. 72] ihre Pflege liegt; so wird sie denn bald von dichterischem Beiwerk dicht umrankt, ist aber doch ihrem Ausgangspunkt nach Geschichte und beansprucht das so lange zu sein, solange nicht eine urkundliche Kontrolle sie unrichtiger Angaben überführt.
Den Ausdruck „Mythus“ dagegen beschränken wir am richtigsten auf diejenigen Erzählungen, die der naive Mensch als Erklärung von Naturerscheinungen vorgebracht hat; sie verdanken ihre Entstehung dem menschlichen Bedürfnis, für die zur Empfindung gelangenden Wirkungen der Naturkräfte die hinter ihnen liegenden Ursachen zu finden. Wie also „Sage“ das Resultat einer naiven Weltgeschichte ist, so darf man „Mythus“ als das Resultat einer naiven Naturgeschichte bezeichnen. Der Mythus erklärt die großen Naturkräfte, besonders diejenigen, die das Klima beeinflussen, als das Wirken großer Götter, das geheimnisvolle Treiben in der scheinbar unbelebten Natur als Lebensäußerungen mehr oder minder mächtiger dämonischer Wesen, die eigenartigen Tatsachen des Traumes und des Todes als Folge des möglichen körperlosen Daseins der menschlichen Seele. So ist denn der Mythus in erster Linie Grundlage der Religion; solange er rein existiert (und das tut er in vieler Beziehung noch heute, sei es im Glauben, sei es im Aberglauben), ist er wirklich, und kann also jeder Erzähler seine Helden mit mythischen Wesen in Zusammenhang darstellen, da seine Zuhörer die Möglichkeit eines solchen Zusammenhanges für ihre eigenen Personen ohne weiteres zugeben; ich verweise zur Erläuterung auf die Wirkung von Gespenstergeschichten, wenn sie im Kreise abergläubischer Menschen vorgebracht werden.
Damit ist nun die Möglichkeit mythischen Beiwerks in der Sage ohne weiteres zugegeben, dagegen die Möglichkeit mythischen Ursprungs einer Sage noch keineswegs erwiesen. Ich will nun eine solche nicht allgemein leugnen, muß aber behaupten, daß ein Mythus einen sehr langen Weg zu durchlaufen hat, ehe er als Sage in die Erscheinung treten kann. Ein solcher Weg dürfte etwa der folgende sein: die naive Erklärung einer Naturerscheinung verdichtet sich zur Erzählung von den Taten einer Gottheit; diese Gottheit, erst hochverehrt, sinkt allmählich in der Achtung infolge fortgesetzt wachsender menschlicher Erkenntnis; hauptsächlich ist es naturgemäß die menschliche äußere Form der Götterhandlung, die einst der naive Mensch mangels einer bessern zur Darstellung der Naturerscheinung gewählt hat, die aber[S. 73] nunmehr, unverstanden, den Spott des fortgeschrittenen herausfordert. Schließlich kommt ein Erklärer mit der Behauptung heraus, der angebliche Gott sei überhaupt nur ein göttlich verehrter Mensch der Vorzeit; soweit hat eben das menschliche Beiwerk bereits den alten Grundgedanken überwuchert. Nun erst ist der Punkt erreicht, an dem der Mythus zur Sage werden kann. Die altgriechischen Göttergeschichten haben im allgemeinen den eben geschilderten Weg durchlaufen; wie selten aber ist ihre Entwicklung so weit gediehen, daß der Held des ursprünglichen Mythus überhaupt nur noch als Mensch empfunden worden ist!
Die germanische Götterwelt war, als das römische Christentum ihre Herrschaft beendete (vom vierten nachchristlichen Jahrhundert an), in ihrer Entwickelung überhaupt noch nicht weit gediehen; es scheint vielmehr, als ob die schemenhaften Gestalten, in denen die alten Götter noch bis in die neueste Zeit umgehen, gerade das wären, was die Germanen in vorchristlicher Zeit an religiösen Vorstellungen besessen hätten. Daraus erklärt sich denn die rasche und kampflose Annahme des Christentums bei allen südlichen Germanen; der alte Volksglaube wurde dabei kaum angetastet, sondern rückte nur in die zweite Linie. Erst bei denjenigen Germanen, die sich längere Zeit feindlich an ihren christlichen Stammverwandten gerieben haben, erscheint der alte Götterglaube zur wirklichen Religion erhoben, ja zur Göttersage ausgebildet; so bei den Sachsen und den nordischen Völkern.
Daß also der Kern des ersten Teiles unserer Nibelungensage mythischen Ursprungs sei, also Siegfried etwa als vermenschlichter Sonnengott gedacht werden könne, der in der Jugend strahlend die Mächte der Finsternis überwunden hat, um ihnen am Ende seiner Laufbahn wieder zu verfallen, vermag ich unter diesen Umständen nicht zu glauben. Mythisches Beiwerk wird selbstverständlich nicht geleugnet, doch beweist dies, wie wir gesehen haben, nichts für mythischen Ursprung. Wir müssen uns nach andern Erklärungsmöglichkeiten der Siegfriedsage umsehen.
Es wäre denkbar, daß die Siegfriedgeschichte nicht einheimischen Ursprungs, sondern im wesentlichen aus dem Auslande übernommen wäre (man hat z. B. an eine Umdichtung der Argonautensage gedacht: goldenes Vließ = Nibelungenhort, Jason = Siegfried, Medea = Brünhilt); dann müßte die eigentliche Erklärung sich mit der ausländischen Grundlage beschäftigen. Allein die Versuche dieser Art sind ebenso als gescheitert anzusehen[S. 74] wie die eben abgelehnten, weil sie ebensowenig vom eigentlichen Kernpunkt der Erzählung ausgehen; dieser Kernpunkt aber ist der Zank der Königinnen. Es bleibt nur die Möglichkeit der historischen Ableitung, und zwar nach zwei Seiten hin: 1. entweder ist die ganze Geschichte in allen wesentlichen Punkten historisch, und nur die Dürftigkeit der beglaubigten Geschichte gestattet uns nicht, sie in dieser wiederzufinden, oder 2. der (uns wohlbekannte) historische Ausgangspunkt ist von der Dichtung derart überwuchert, daß er eben deshalb schwer zu erkennen ist. Im ersten Falle müssen wir uns bescheiden; im zweiten Falle dürfen wir noch eine Erklärung erhoffen.
Es gibt eine Periode der Geschichte, in der alle wesentlichen Motive der Siegfriedsage sowie mehrere Personen mit Namen, die denen dieser Sage gleich oder ähnlich sind, beisammen gefunden werden: das ist die Zeit der Enkel des Frankenkönigs Chlodowech. Sein Sohn Chlothachari I., der das ganze fränkische Reich in seiner Gewalt vereinigt hatte, starb 561 und hinterließ vier Söhne; einer von ihnen, Charibert, starb bereits 567 sohnlos, und es blieben seine drei Brüder übrig, deren gleichzeitige Herrschaft die lange geltende Dreiteilung des Frankenreiches begründete: Sigebert herrschte in Austrasien (Ostfranken), Chilperich in Neustrien (Westfranken), Gunthchramn im südlichen Teile des Reiches, der nach dem dazu gehörigen Hauptlande Burgund genannt wurde. Von der damals geltenden Sitte, einheimische, also nicht ebenbürtige Frauen zu heiraten, wich zuerst im Jahre 567 Sigebert ab, indem er sich mit Brunichild, der Tochter des in Spanien herrschenden Westgotenkönigs Athanagild, vermählte. Ihr feierlicher Einzug in Frankreich machte auf die Zeitgenossen großen Eindruck, der aus den Berichten des Hofdichters Fortunatus und des Historikers Gregor von Tours noch hervorleuchtet. Besonders aber stach den Herrschern die reiche Mitgift, die die königliche Braut einbrachte, der „Hort“, in die Augen; ist doch in jener Zeit die Größe des Schatzes, den ein König besitzt, bestimmend für die Größe seines Einflusses und damit seiner Macht. So verstieß denn auch Chilperich seine bisherigen Weiber (er hatte deren mehrere), unter denen Fredegund hervorragt, und bewarb sich um Brunichilds Schwester Gailswinth; sie ward ihm mit reicher Mitgift vermählt. Allein[S. 75] als Chilperich diese einmal in der Hand hatte, geriet er bald wieder unter den Einfluß der Fredegund und ließ Gailswinth erdrosseln. Dieser Mord war die Ursache der immer wieder ausbrechenden Fehden zwischen Sigebert und Chilperich, bzw. ihren Nachkommen, bis zum Erlöschen der einen Linie im Jahre 613.
König Athanagild war kurz vorher gestorben, und, da Spanien damals ein Wahlreich war, hier ein anderes Geschlecht auf den Thron gekommen; so fiel der Brunichild die Pflicht der Rache für den Tod ihrer Schwester zu. Die einzelnen Phasen des Kampfes brauchen wir hier nicht zu betrachten; kurz, im Jahre 575 gewann Sigebert vollen Sieg über Chilperich und ward sogar von den Neustriern als ihr König auf den Schild erhoben. Kurz darauf aber erlag er bei einer Heerschau in Vitry den Streichen der von Fredegund ausgesandten Mörder.
Von den in der Geschichte noch folgenden Ereignissen ist für uns nur von Wichtigkeit, daß Brunichild erst für ihren jungen Sohn Childebert († 595), dann für dessen Söhne, ihre Enkel, schließlich (613) sogar für ihre Urenkel die Regierung zu führen und ein mächtiges Königtum gegenüber dem trotzigen Adel zu behaupten sucht, zuletzt aber doch unterliegt: der Adel liefert sie 613 dem Sohne ihrer Feindin Fredegund, Chlothachari II., aus, und sie wird getötet. Nicht selten hat sie, gewaffnet zu Rosse sitzend, die Vasallen persönlich im Zaum gehalten.
Die Erinnerung an die große Regentin Ostfrankens ist jedenfalls lange nicht erloschen; so führt z. B. eine alte Römerstraße im südlichen Belgien noch heute volkstümlich den Namen chaussée Brunehaut (Brünhildenstraße), man hat also Kulturanlagen an den Namen der berühmten Königin angeknüpft; und am nördlichen Abhange des Feldbergs im Taunus heißt ein vereinzelter, vier Meter hoher Fels schon seit dem frühen Mittelalter der „Brunhildenstein“; wenn eine alte Urkunde für diesen die Bezeichnung lectulus Brunnihildae gebraucht, so dürfte dies nicht als „Bett“, sondern als „Königssitz“ der Brünhilt zu deuten sein; der gepolsterte Hochsitz des Herrn ist lectum (man vergleiche das altfranzösische lit de justice). Auf jeden Fall meinen diese örtlichen Benennungen zunächst die geschichtliche Königin und erst in zweiter Linie die aus ihr erwachsene Sagenfigur. Wohl aber kann die alte Lokalisierung der Gnitaheide (S. 19 Anm.) in der Nähe des Feldbergs durch den überlieferten Namen jenes Felsens veranlaßt sein.
[S. 76]
In der Geschichte der Merowinger im 6. Jahrhundert finden wir, meine ich, alle wesentlichen Punkte der Siegfriedsage, wenn auch in anderer Gruppierung, beisammen, vor allem den Zank der Königinnen und als seine Folge die von Verwandten herbeigeführte Ermordung des Königs Sigebert, der seinen Zeitgenossen als der herrlichste Held unter seinen Brüdern erschien. Der Name Sigebert ist zwar nicht identisch mit Siegfried, allein dieser Name steht in unserer Sage ja auch nicht fest, da er nordisch Sigurd (das wäre deutsch Siegwart) heißt; wir finden also drei Formen nebeneinander, die althochdeutsch Sigiberht, Sigifrid, Sigiwart heißen würden; der zweite Teil ist verschieden, überall aber beginnt er mit Labial, schließt mit Dental und enthält r; die Vertauschung der Formen ist also leicht begreiflich. Der Charakter des Königs ist in dem des sagenhaften Siegfried leicht wiederzuerkennen; der Ort seines Todes ist in der nordischen Version (gelegentlich einer Volksversammlung) leidlich festgehalten. Die ausländische, reiche und waffengewaltige Brunichild deckt sich nach Namen und Charakter völlig mit der Brynhild der Sage; ihre Schicksale allerdings sind wesentlich verschoben. Die verhältnismäßig unbedeutende Gailswinth ist in der Sage vergessen; ihre Schwester vertritt sie mit: an Stelle der Ermordung ist das Herausdrängen aus der ihr rechtmäßig gebührenden Ehe durch ihre Rivalin getreten. Damit fallen zugleich Chilperich und Sigebert in eine Person zusammen. Nicht unwesentlich ist noch Gunthchramn von Burgund, der gelegentlich in den gewaltigen Frauenkrieg eingreifende dritte Bruder; er erinnert in Namen und Stellung so sehr an den alten Burgundenkönig Gundicari, daß man wohl annehmen darf, durch die Gleichsetzung beider sei die Attila-Burgunden-Geschichte mit der vom Kriege der beiden Königinnen und Sigeberts Ende vereinigt worden.
Die Vereinigung beider Erzählungen kann nicht vor der Mitte des 7. Jahrhunderts stattgefunden haben, weil doch mindestens etwa ein Menschenalter seit Brunichilds Tode vergangen sein muß, ehe die Erinnerung an sie und ihre Zeit so wirr werden konnte, wie sie bei unserer Annahme geworden ist. Infolge der Vereinigung ist dann Grimhild, die Hauptheldin des 2. Teiles, mit Fredegund identifiziert worden oder vielmehr dem Namen nach an ihre Stelle getreten. Das hat ohne weiteres eine wichtige Änderung zur Folge: ist Grimhild-Fredegund eine Schwester des Gundicari-Gunthchramn (wie die Attila-Burgundensage[S. 77] annimmt), so kann ihr Gatte Sigebert nicht ein Bruder des letztern sein; Sigebert scheidet deshalb in der Sage aus der Familie, der er historisch angehört, aus und wird zu einem Manne unbekannten Ursprungs oder, wie die Sage es ausdrückt, zu einem Findling. Damit ist ihr weiter Gelegenheit gegeben, an dieser Stelle noch andern Stoff anzuknüpfen.
Nach unserer Auffassung wäre also der erste Teil der Sage in Wirklichkeit um mehr als hundert Jahre später entstanden als die zweite; das darf uns nicht irre machen, denn es ist eine Eigenart menschlichen Erinnerns, daß alles Vergangene sich gewissermaßen auf eine Fläche projiziert und zeitlich unbestimmt nebeneinander liegt; verknüpft ein Späterer zwei in der Vergangenheit liegende Erzählungen miteinander, so hat er volle Freiheit für die Bestimmung der Zeitfolge. In unserer Sage hat der zweite, ältere Teil den ersten, jüngern bei der Vereinigung stark beeinflußt; der letztere ist eben deshalb schwer als Fortsetzung der ihm zugrundeliegenden historischen Ereignisse zu erkennen.
Siegfrieds Ermordung wird, wie wir gesehen haben, in Skandinavien und Deutschland verschieden berichtet: dort geschieht sie auf dem Ritt zur Volksversammlung (entsprechend dem Tode König Sigeberts 575), hier auf der Jagd im Odenwalde. Auch für die letztere Darstellung läßt sich unschwer eine historische Grundlage finden: der letzte König der ripuarischen Franken, Sigebert, wurde um 510 auf Befehl seines Sohnes Chloderich, den König Chlodowech dazu aufgereizt hatte, im Walde Buchonia ermordet; der Name Buchonia umfaßt die östlich des Mittelrheins gelegenen Waldgebirge, also auch den Odenwald mit. Die Übereinstimmung dieser historischen Angabe mit der deutschen Darstellung von Siegfrieds Ermordung ist so groß, als sie bei der Knappheit jener Überlieferung nur sein kann; wir dürfen also wohl annehmen, daß die Erzählung vom Tode dieses ältern Sigebert gelegentlich an die Stelle derjenigen, die den Mord des Jahres 575 berichtete, getreten ist; beide Sigebert wurden infolge Namensgleichheit zusammengeworfen, die Ermordung infolge Hinterlist der Verwandten von den Sängern bald nach der ältern, bald nach der jüngern Version dargestellt.
Aus der Geschichte der Merowinge stammt auch der Ansatz, daß die Burgundenkönige als in Worms regierend gedacht werden; der historische Gundicari kann nicht wohl an anderer Stelle[S. 78] als in der römischen Metropolis Obergermaniens, das war Mainz, seinen Amtssitz gehabt haben; in etwas späterer Zeit aber führen nur zwei Städte des fränkischen Reiches in Königsurkunden den auszeichnenden Titel civitas publica, weil sie königliche Pfalzen enthielten, nämlich in Westfranken Poitiers und in Ostfranken Worms (Rietschel, Die Civitas, 1898, S. 75); es springt in die Augen, daß der besondere Rang dieser Stadt die Ursache gewesen ist, die berühmten Könige der Sage in ihr hausen zu lassen.
Nachdem durch die Verknüpfung der Attila-Burgundensage mit der vom Streite der Königinnen und Siegfrieds Ermordung deren Hauptheld aus der ihm historisch zukommenden Familienstellung herausgedrängt und zum Findling geworden war, gab das Rätsel seiner Herkunft die Möglichkeit an die Hand, eine bereits vorhandene Sage ältern Ursprungs vorzuschieben und anzuknüpfen. Im altenglischen Gedichte Beowulf wird gelegentlich Bezug genommen auf die Taten des Sigemund, des Sohnes des Wæls, und seines Neffen Fitela; gemeinsam, heißt es hier, haben sie alle Gefahren bestanden, nur die Tötung des Drachen hat Sigemund allein vollbracht und dadurch den großen Hort gewonnen. Die Geschichte von Sigmund und Sinfjotli (dessen Name ohne das vorgeschobene Sin- sich mit „Fitela“ völlig deckt) ist in der Volsungasaga ausführlich erzählt und nach ihr vorhin im Auszuge wiedergegeben worden; sie ist so, wie sie vorliegt, gewiß erst in späterer Zeit ausgestaltet worden, denn sie berührt sich in ihrem Verlaufe aufs nächste mit der nordischen Form der Attila-Burgundensage: Siggeir entspricht dem Atli, der die Verwandten seiner Frau in böser Absicht einladet, Signy der Gudrun, auch darin, daß sie die mit ihrem Gatten erzeugten Kinder der Rache am Gatten opfert. Also Beeinflussung durch den zweiten Hauptteil unserer Sage ist wohl anzunehmen, die alte Gestalt der Sigmundsage demnach schwerlich erhalten; daß Fitela im Beowulf Sigemunds Neffe heißt, ist natürlich kein Widerspruch, denn auch Sinfjotli wächst als Sohn der Signy von Siggeir auf, ist also zunächst nur Sigmunds Neffe.
Das Gedicht Beowulf schreibt dem Sigemund Drachentötung und Hortgewinn zu, also die Haupttaten, die sonst vom jungen Siegfried berichtet werden; da dies Gedicht überhaupt das älteste[S. 79] Zeugnis für unsere Sage ist, wäre es unmethodisch, einfach eine ihm untergelaufene Verwechselung mit Siegfried anzunehmen. Bei der vorgetragenen Meinung vom Ursprung der Siegfriedsage muß uns der Bericht des Beowulf vielmehr willkommen sein: Drachentötung und Hortgewinn wurden ursprünglich von Sigmund erzählt und erst nach Verbindung beider Sagen auf Siegfried übertragen. Sonst sind noch aus der Sigmundsage entnommen eben der Name Sigmund (in Deutschland ihr letzter Rest) und der (in Deutschland nicht geläufige) Geschlechtsname der Wolsunge. Den Ursprung der Sigmundsage aber aufzuhellen, gibt es kein Mittel, weil wir überhaupt keine unbeeinflußte Darstellung derselben mehr besitzen.
Aus den bisher vorgeführten historischen Ereignissen lassen sich wohl die Grundzüge der Nibelungensage ableiten, allein noch sind eine Reihe wichtiger Einzelheiten übrig, die vorläufig ganz unerklärt geblieben sind. Zuerst der Name „Nibelunge“ selbst. Er erscheint in Deutschland in zwei verschiedenen Bedeutungen, im Norden (wo er Niflungar heißt) nur in einer, die mit einer der in Deutschland üblichen zusammentrifft; methodisch folgerichtig kann man nur diese als die ursprüngliche ansehen: sie versteht unter Nibelungen das Königshaus und dann auch das Volk der Burgunden. Woher stammt der Name? Die einfachste Annahme wäre die, das burgundische Königshaus habe wirklich den Geschlechtsnamen „Nibelunge“ geführt (wie das ostgotische den Namen „Amelunge“ u. dgl.); allein die beglaubigte Geschichte gibt dafür gar keinen Anhalt. Als Personenname ist „Nibulung“ häufig in einem Zweige der fränkischen Arnulfinge: Majordomus Pipin der Mittlere († 714) hatte neben ehelichen Kindern mehrere unebenbürtige Söhne, von denen Karl der Hammer das Haus der Karlinge begründet, Childebrand aber der Vater des ersten bekannten Nibulung ist; der Name erscheint dann bis zum Schlusse des 9. Jahrhunderts noch häufig, und zwar immer so, daß man seine Träger als Angehörige jener Familie betrachten kann. Das sind aber alles Rheinfranken, also Angehörige jenes Volkes, das lokal der Nachfolger von Günthers Burgunden ist. Es liegt also nahe, anzunehmen, daß der Name eines im 8. Jahrhundert dort mächtigen edeln Geschlechtes auf die Familie der alten Burgundenkönige übertragen worden ist[40].
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Die nur in Deutschland vorkommende zweite Bedeutung des Namens „Nibelunge“ versteht sie als die ursprünglichen Besitzer des „Hortes der Nibelunge“. Dieser Hort trägt seinen Namen sicher von seinen letzten Besitzern; nachdem man sich aber einmal gewöhnt hatte, ihn „der Nibelunge Hort“ zu nennen, übertrug man diese Bezeichnung auch in die Zeit, da er den Nibelungen noch gar nicht gehörte, und gab so Veranlassung zu der Annahme früherer Nibelunge, als der ursprünglichen Besitzer desselben.
Der Hort selbst versteht sich aus der Zeit der historischen Ereignisse und ihrer ältesten Umdichtungen unseres Stoffes ohne weiteres: er ist in jener Epoche zugleich materielle Grundlage und Symbol aller Königsgewalt. Man erinnere sich, welche Rolle die Mitgift der westgotischen Fürstinnen spielt. So war er geeignet, den roten Faden darzustellen, der durch die gesamte Erzählung sich hinzieht. Für seine Herkunft bot die angeknüpfte Sigmundsage eine geeignete Geschichte dar: er ist einem schatzhütenden Drachen abgenommen; das ist ein uraltes Motiv, das uns schon in den ältesten Sagen des klassischen Altertums entgegentritt. Über den Drachen hinaus brauchte man zunächst die Geschichte des Schatzes nicht zu wissen; spätere Wißbegier hat aber auch hier weitergehende Fragen gestellt und beantwortet. So entstand im Norden die Erzählung von Hreidmar, Andvari und dem Eingreifen der Götter; sinnig ist dabei die Habgier, die der Reichtum erregt, als Wirkung eines Fluches des ersten Beraubten hingestellt. In Deutschland, wo man die Zusammengehörigkeit von Drachen und Schatz früh vergessen hatte, entstand auf gleichem Wege, wie vorhin angegeben, das unhistorische Volk der Nibelunge.
Daß man sich den Hort schließlich im Rheine versenkt dachte,[S. 81] ist sicher eine Folge des Umstandes, daß man aus ihm Gold gewann: man betrachtete dieses Gold als Spuren eines (unseres) versenkten Schatzes.
Noch mangelt uns die Herleitung mehrerer einzelner Heldenfiguren, die gerade, je länger der alte Stoff lebt und besungen wird, um so mehr in den Vordergrund treten; von ihnen ist in erster Linie Hagen zu nennen; er war, wie die Übereinstimmung der nordischen und deutschen Version zeigt, schon in der ältesten erreichbaren Form der Nibelungensage als bedeutende Person vorhanden, hat aber in den historischen Vorgängen seine Erklärung nicht gefunden. In Deutschland gilt er als vornehmster Vasall Günthers und eigentlicher Mörder Siegfrieds; im Norden heißt er (als Hogni) Gunnars Bruder, direkte Tätigkeit bei der Ermordung Sigurds wird ihm nicht zugeschrieben. Welche Fassung in diesem Falle altertümlicher ist, kann nicht zweifelhaft sein: die deutsche; denn aus der Familie des Königs fällt er seines Namens wegen heraus: alle nahen Verwandten Günthers haben mit G beginnende Namen, in der Geschichte sowohl wie der Sage, eine Erscheinung, die in der altgermanischen Sitte und Sprache begründet ist; Hagen also gehört ursprünglich nicht zu ihnen. Siegfrieds Ermordung ist ihm aber sicher erst im Norden abgenommen worden, weil er, einmal zu Gunnars Bruder geworden, durch den eingegangenen Blutsbund an solcher Tat verhindert war; sie wäre zu schändlich und von solchem Helden nicht begreiflich gewesen. So müssen wir von seiner Stellung in der deutschen Sagenform ausgehen. Historisch könnte er höchstens die Fortsetzung des persönlich unbedeutenden Mörders des Sigebert, sei es des ripuarischen oder des Gatten der Brunichild, sein, also einer untergeordneten Person, die nur Werkzeug war; von diesem Ausgangspunkte aus begreift man den Hagen der Dichtung schwer.
Nun erscheint derselbe Hagen in einer andern, nahe verwandten Sage an bedeutsamer Stelle, die so beschaffen ist, daß ohne diesen Helden die Erzählung ohne Spitze wäre; hier ist er also im Grunde wichtiger als in der eigentlichen Nibelungensage, hier dürfte die Figur demnach ursprünglich erwachsen sein. Ich meine Walthersage. Sie ist uns frühzeitig berichtet und zwar 1. vollständig durch das um 930 entstandene lateinische Gedicht des St. Galler Mönches Eckehard I., und 2. in Bruchstücken eines altenglischen Epos aus dem 8. oder 9. Jahrhundert;[S. 82] beide stimmen so genau überein, daß sie eine deutsche Dichtung dieses Inhalts mindestens aus dem 8. Jahrhundert bezeugen. Der Inhalt ist kurz der folgende: Attila der Hunnenkönig überzieht die westlichen Länder mit Krieg; alle aber ziehen Unterwerfung vor, zahlen Tribut und stellen Geiseln: der König der Burgunden (die der Mönch Eckehard, an die zeitgenössischen Verhältnisse sich anschließend, Franken nennt) Gibich den jungen Edelmann Hagen, zwei andere, in Gallien regierende Herrscher, der eine die Tochter Hiltegund, der andere den Sohn Walther. Die Geiseln werden am hunnischen Hofe standesgemäß erzogen, und Hagen und Walther entwickeln sich zu gewaltigen Kriegshelden, die miteinander innige Freundschaft (den heidnischen Blutsbund) schließen; Hiltegund aber erhält die Aufsicht der königlichen Schatzkammer. Nun stirbt König Gibich; sein Sohn und Nachfolger Günther sagt den Hunnen sofort den Gehorsam auf und bringt dadurch seinen Geisel Hagen in eine gefährliche Lage, der sich dieser durch Flucht entzieht. Der nun allein zurückgebliebene Walther erficht bald darauf in Attilas Dienst einen großen Sieg; das zu seiner Feier veranstaltete Fest benutzt er, um ebenfalls der Knechtschaft zu entgehen: er verabredet mit Hiltegund, die er sich verlobt, den Plan zur Flucht, macht die Hunnen bei dem Feste trunken und entkommt mit ihr; den ihr anvertrauten Schatz nimmt Hiltegund mit. Als die Hunnen ihren Rausch ausgeschlafen haben, wagt keiner, den berühmten Kriegshelden zu verfolgen. So können sie ungefährdet den Rhein erreichen, den sie in Worms überschreiten. Durch den Fährmann, der sie übergesetzt hat, gelangt die Kunde an Günthers Hof; Hagen erkennt an der Beschreibung, wer die Fremden gewesen sind, veranlaßt aber dadurch wider seinen Willen den Günther, sie zu verfolgen. Im Wasgenwalde werden die Flüchtlinge gestellt und gegen Hagens Rat angegriffen; Walther aber erwehrt sich der Feinde. Hagen beteiligt sich zunächst, seiner Freundschaft mit Walther wegen, nicht; erst als dieser, obgleich gezwungen, den Patafrid, Hagens Schwestersohn, getötet hat, läßt er sich von Günther bestimmen, einzugreifen. Der Schlußkampf endet damit, daß die drei namhaften Helden, nachdem sie schwer verletzt sind, sich vertragen; Walther gelangt mit Hiltegund in seine Heimat.
In dieser Sage haben wir eine verhältnismäßig einfache Erzählung auf klar historischem Hintergrund. Die Rahmenerzählung[S. 83] benutzt die Tatsache von Attilas Feldzug nach Gallien im Jahre 451 und macht den Eindruck, als ob sie zunächst als Vorgeschichte der Attila-Burgundensage (des 2. Teiles unserer Nibelungensage) gedacht gewesen wäre, als sie noch ohne Siegfriedsage bestand; jene erzählt von der Vernichtung der Burgunden durch Attila, die Walthersage berichtet, wie die Burgunden den Hunnen zinspflichtig werden und wieder abfallen, gibt also eine Begründung für jene. Auf diesen Hintergrund ist nun die Erzählung von Hagens und Walthers Freundesbund und Kampf in einer Weise gebracht, die den Eindruck erweckt, als ob ein Dichter des 7. oder 8. Jahrhunderts das Problem aufgeworfen und zu lösen versucht hätte: wie hat sich der Krieger zu entscheiden, wenn er vor die Frage gestellt wird, entweder die Freundes- oder die Mannentreue zu brechen? Sie ist in der Walthersage zugunsten der Mannentreue beantwortet; die Verletzung der Freundestreue wird allerdings durch die vorhergehende Tötung des Patafrid erleichtert[41]. Jedenfalls aber hat der alte Dichter in Hagen den Typus der alle andern Rücksichten hintenansetzenden Mannentreue geschaffen; als solcher eignet sich Hagen, nachdem einmal die Siegfriedgeschichte hinzugekommen ist, vorzüglich zum Mörder des von allen sonst zu sehr verehrten Helden. Hagen ist somit keine historische, sondern eine durch die Dichtung geschaffene Figur.
Als Hagens Heimat gilt in der deutschen Sage ein geographisch ganz unbekanntes Tronje; schon die mittelhochdeutschen Dichter wissen mit diesem Ortsnamen nichts Rechtes anzufangen und identifizieren ihn gelegentlich mit bekannten, z. B. mit Troyes in der Champagne, oft aber erscheint statt Tronje direkt Troye, Troja (so in der Thidrikssaga); ja, schon die älteste Quelle, eben Eckehards Waltherdichtung, nennt Hagen venientem de germine Trojae. Nun ist „Tronje“ eine ganz undeutsche Bildung; wäre sie alt, so würde der Ort „Trünne“ oder ähnlich lauten[S. 84] müssen[42]. Da nun die Franken seit der Besitznahme Galliens sich nach dem Vorbilde der Römer trojanischer Abkunft rühmten, so ist mir immer noch das wahrscheinlichste, daß in Tronje eine verdunkelte Erinnerung an Troja steckt. Die fränkische Trojanersage spielt übrigens vielleicht noch an einer andern Stelle in unsern Stoff herein: darin, daß aus Siegfrieds Reiche im Nibelungenliede gerade nur das Städtchen Xanten genannt wird. Denn dies ist die Fortsetzung der alten Römerstadt Colonia Trajana, die man, nachdem Kaiser Trajans Gedächtnis erloschen war, als Colonia Trojana verstand; Xanten heißt daher auch Klein-Troja (lützel Troye). Doch höchstens in der Wahl gerade dieses Ortes für den Sitz Sigemunds hat die Trojanersage bestimmend gewirkt, sonst ist sie ohne Bedeutung für Siegfrieds Geschichte geblieben.
Neben Hagen tritt später in der deutschen Version sein treuer Kampfgenosse Volker der Spielmann; er ist dem Nibelungenliede und der Thidrikssaga gemeinsam geläufig. Seine Figur verdankt ihre Entstehung wohl den fahrenden Spielleuten, die nicht leicht unterließen, in den von ihnen behandelten Stoffen ihresgleichen möglichst in den Vordergrund zu rücken; in unserer Sage haben sie es, im Anschluß an damals geübte Sitte, dadurch getan, daß sie im Gefolge der namhaften Könige Spielleute auftreten ließen: bei Etzel den Werbel und den Swemmel, bei Günther den Volker. Während jene im Nibelungenliede einfache Leute geblieben sind, erscheint Volker aus der alten niedern Sphäre herausgehoben; den Grund erkennt man aus folgender Strophe (Text B 1477 Bartsch):
Dem Dichter des Nibelungenliedes ist offenbar der einfache Spielmann nicht gut genug gewesen (ebensowenig wie der Findling Siegfried); er erhebt ihn deshalb zum edeln Herrn und erklärt die Bezeichnung „Spielmann“ aus seiner Kunstfertigkeit. Seit der Mitte des 12. Jahrhunderts hat ja auch die Annahme dichtender und musizierender Edelleute nichts seltsames mehr.
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Schließlich tritt noch, aber nur im Nibelungenliede, Hagens Bruder Dankwart über das Durchschnittsmaß hervor; er ist des Königs Marschall und hat als solcher Führung und Pflege der großen Schar von Knechten, die mit nach dem Hunnenlande ziehen. Mit diesem Heere steht und fällt Dankwart: seine Figur ist von demselben Autor geschaffen, dem die verhältnismäßig einfache Grundlage der Erzählung nicht mehr zeitgemäß erschien, eben dem eigentlichen Dichter unseres Liedes. Wir haben bei der Analyse desselben vorhin gesehen, daß alle Szenen, in denen Dankwart auftritt, jüngern Ursprungs sind. Auffällig bleibt aber eins: im 1. Teile des Liedes tritt Dankwart nur einmal deutlich hervor, bei der Fahrt zur Brünhilt, die er als vierter neben den drei sagenechten Gesellen Günther, Hagen und Siegfried mitmacht; er ist also damals bereits erwachsen. Trotzdem sagt er später zu Blödel (B 1924 Bartsch):
könnte also danach zur Zeit jener Fahrt überhaupt noch nicht gelebt haben. Wir kommen hier um die Annahme einer Entgleisung unseres Dichters nicht herum, da ihm alles, was Dankwart betrifft, zugeschrieben werden muß. Ein solcher Fehler wiegt in einer Zeit, da Bücher nicht gelesen, sondern vorgelesen werden, nicht so schwer: der Leser kann, wenn ihm dergleichen auffällt, zurückblättern und nachprüfen, der Zuhörer aber wird durch den Strom der Vorlesung zu rasch weiter gerissen, als daß er sich lange bei Anstößen aufhalten könnte.
Soviel vorläufig über die Ausgangspunkte unserer Sage. Wir müssen nun zunächst versuchen, zwischen diesen Ausgangspunkten und dem Zustande, in dem sie uns in den literarischen Denkmälern überliefert ist, eine Brücke zu schlagen, mit andern Worten, die Entwickelung der Sage aus der historischen Grundlage zu begreifen.
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Zuerst, noch im 5. Jahrhundert, hat man die beiden Ereignisse, den Untergang der Burgunden und den Tod Attilas, in ursächlichen Zusammenhang gebracht, indem man letztern als Folge jenes Untergangs hingestellt hat: Hildiko wurde zur nachgelassenen Schwester des Gundicarius gemacht, die ihren Bruder an Attila rächt. Eine Vorgeschichte, die Attilas Zug gegen die Burgunden erklären sollte, dürfte bald hinzugekommen sein: sie schilderte in Anlehnung an die Ereignisse des Jahres 451 die Unterwerfung der westlichen Völker durch die Hunnen. In diesem Rahmen wurde an den Figuren Walthers und Hagens das vorhin erörterte Problem gelöst. Alsdann ist wesentlich später, mindestens ein Menschenalter nach dem Tode der historischen Königin Brunichild 613, also keinesfalls vor der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, eine poetische Darstellung der fränkischen Geschichtsereignisse des 6. Jahrhunderts angeknüpft worden. Als Vorgeschichte zu den nun verbundenen Sagen von Siegfried und von Attila und den Burgunden hat man dann die, wie es scheint, längst vorhandene Sigmundsage benutzt. Im großen und ganzen dürfte damals die Sage folgenden Gang gehabt haben:
Siegfried, der Hauptheld des ersten Teiles, ist ein Findling, zwar von edler Herkunft — der Sohn des vor seiner Geburt gefallenen Sigmund — aber in niedern Verhältnissen aufgewachsen und erzogen. Sein angeborenes Heldentum befähigt ihn dazu, einen gewaltigen Drachen zu töten und dadurch den großen Hort zu gewinnen, den dieser bewacht hat. So zu unermeßlichem Reichtum gelangt, bewirbt er sich um die Hand der Fürstin Brünhilt (Brunichild in älterer Sprachform), zu der er auf seinen Zügen gelangt. Ihr ist der reiche Held, der so große Taten vollbracht[S. 87] hat, auch recht, aber in ihrem hochmütigen Stolze mag sie sich einem Findling nicht vermählen; so verspricht sie ihm nur, sich ihm so lange aufzubewahren, bis er ein Königtum gewonnen habe (daß ihm das gelingen wird, bezweifelt sie nicht). Inzwischen erlegt sie allen um sie freienden Helden Bedingungen zu erfüllen auf, von denen sie weiß, daß eben nur Siegfried sie erfüllen kann. Siegfried zieht aus, dem Wunsche der Braut nachzukommen; als er an den Hof der Burgunden gelangt, fordert er deren König Günther zum Kampfe um Land und Leute heraus; so erzählt es allein unser Nibelungenlied außerhalb seines eigenen Zusammenhanges, also im Grunde unverständlich; für den Aufbau der alten Sage aber ist jener Zug notwendig und richtig, denn in ihrem Zusammenhange sieht man den Grund der Herausforderung ein[43]. Die Herrscher der Burgunden aber ersehen ihren Vorteil: sie erkennen, was für einen reichen und gewaltigen, aber auch unerfahrenen Helden sie vor sich haben, und beschließen, ihn für ihr Interesse zu gewinnen. Zu diesem Zwecke bieten sie ihm ihre Schwester, die Grimhild, zur Gattin an, nehmen ihn als Schwager, Blutsbruder und Mitbeherrscher in Familie und Reich auf und lösen ihn dadurch von Brünhilt. Siegfried erreicht also das Ziel, das Brünhilt ihm gestellt hatte, indem er sie aufgibt.
Als Günther nun ebenfalls heiraten will, wird ihm Brünhilt als geeignete Gattin genannt, und er wirbt um sie. Allein die Bedingungen, die jedem Freier auferlegt werden, kann er nicht erfüllen; Siegfried, der das Geheimnis ja kennt, löst die Aufgabe an seiner Stelle. Aufgabe und Lösung sind von den verschiedenen Sagenversionen im einzelnen verschieden dargestellt, aber der Sinn ist immer der gleiche: nur Siegfried, auf dessen Heldentum die Bedingungen zugeschnitten sind, kann sie erfüllen. Unmittelbar anschließen muß sich eine Szene, in der Siegfried Günthers Stelle in einer Weise vertritt, die später die üble Nachrede ermöglicht, Brünhilt habe ihre Jungfräulichkeit nicht durch[S. 88] Günther, sondern durch Siegfried verloren; eine Szene, die in der nordischen Darstellung gewiß besser erhalten ist als in der deutschen, weil letztere ihren innern Zusammenhang zerrissen hat. Dann aber fügt sich Brünhilt, da sie doch eines Königs Gattin geworden ist, der (scheinbar wenigstens) ihre Bedingungen erfüllt hat, in ihr Schicksal. Nur fühlt sie es als eine Herabsetzung der Familie, daß ihre Schwägerin, ihres Gatten Schwester, mit einem Findling und landlosen Menschen verheiratet ist, und läßt sie es fühlen. Grimhild aber gibt ihr diesen Vorwurf gesteigert zurück, indem sie ihr vorhält: „Bin ich die Gattin eines Findlings, so bist du in all deinem Hochmut nur seine Kebse, denn er war’s, der dir deine Jungfräulichkeit raubte.“ Hier ist die alte Dichtung auf ihrem Höhepunkte angekommen: Brünhilts Hochmut ist bitter gestraft; wollte sie des landlosen Findlings Weib nicht werden, so muß sie sich dafür seine Kebse schelten lassen. Natürlich kann sie diese Nachrede nicht auf sich sitzen lassen. Sie erweckt absichtlich zunächst den Anschein, als ob die Beschuldigung begründet wäre, und gewinnt dadurch ihren Gatten für Siegfrieds Ermordung. Nachdem der Mord geschehen ist (er wird durch Hagen, Günthers treuesten Mann, ausgeführt), gesteht Brünhilt die wirklichen Geschehnisse, also die Unschuld Siegfrieds, ein und folgt ihm in den Tod. Die Erzählung ist damit zu Ende, denn Grimhild, die Witwe, nimmt von ihren Verwandten die Buße für den Mord ihres Gatten an.
Nach einiger Zeit wirbt um sie Attila, der Hunnenkönig, und sie folgt ihm als Gattin. Bald darauf aber vernichtet Attila Grimhilds Geschlecht und Volk durch Hinterlist. Er ist gierig nach der Macht oder, wie die Sage das ausdrückt, nach dem Schatze der Burgunden. Dieser Schatz wird nun als derselbe betrachtet, den Siegfried einst dem Drachen abgenommen hat; durch seine Ermordung ist er in die Hände der Burgunden gekommen; so ist denn in der Geschichte des Schatzes eine gewisse Verbindung der beiden Sagenteile erreicht. Attila ladet die Schwäger unter dem Scheine der Freundschaft verräterisch ein und läßt sie dann niedermachen. Grimhild aber übernimmt die Rache, indem sie ihren Gatten tötet. Die Rache ist dadurch verstärkt, daß sie das mit Attila gezeugte Kind (oder die Kinder) als Werkzeug benutzt, eine Darstellung, die in der Geschichte keine Grundlage hat, aber schon in der in Rede stehenden ältesten Form der Dichtung vorhanden gewesen sein muß, da nordische und deutsche Version[S. 89] sie kennen. Vermutlich hat der alte Dichter ein anderswo verwendetes Motiv herübergenommen; wäre die nordische Version sicher alt, so dürfte man an Entlehnung aus der altklassischen Atridensage denken. Mit der Tötung Attilas durch Weibeshand schließt die alte Sage.
Da die historische Brunichild erst im Jahre 613 gestorben ist, andererseits aber unsere Sage spätestens im 9. Jahrhundert nach dem Norden gewandert sein muß, so haben wir nur einen verhältnismäßig eng begrenzten Zeitraum zur Verfügung, innerhalb dessen die eben dargestellte Dichtung (so müssen wir sie doch wohl nennen) entstanden sein muß. Sie kann nicht viel früher entstanden sein als um das Jahr 700, aber auch nicht wesentlich später. Da sie, besonders in ihrem ersten Teile, eine wohl durchdachte, wohl durchgeführte, wirklich dichterisch aufgefaßte Erzählung ist, muß ein einzelner und zwar ein geistig recht hochstehender Sänger der Autor der Erzählung in dieser Form sein. Natürlich versagt uns das Schicksal den Namen dieses Mannes. Die Namen der Sänger jener Zeit sind sämtlich in ewiger Nacht begraben.
Mit der Übertragung der Sage vom Niederrhein aus nach dem Norden im 9. Jahrhundert sind nun einige bestimmte, für die nordische Sagenform charakteristische Veränderungen eingetreten. Die Erzählung muß auch hier wieder zunächst von einem einzelnen Manne, der sie ganz in sich aufgenommen hat, reproduziert und in geschlossener Darstellung hinübergebracht worden sein. Sonst würde man nicht verstehen, daß bestimmte Einzelheiten, die in Deutschland anders berichtet werden, und deren deutsche Wiedergabe zu den historischen Ausgangspunkten besser stimmt als die nordische, so daß sie also historisch richtiger ist als diese, im Norden eine ganz bestimmte feste Form angenommen haben. Es sind im wesentlichen folgende Punkte:
1. Hagen ist nicht bloß der untergeordnete Vasall des Königs Günther, der dessen Befehle unbedingt vollführt und freudig mit ihm in den Tod geht, sondern er ist sein Bruder. Siegfrieds Ermordung ist ihm abgenommen und auf den weniger bedeutenden Gudorm übertragen.
2. Der Name Grimhild, der nach Ausweis der historischen Hildiko zuerst an der Person haftet, die ihn in Deutschland führt, ist merkwürdigerweise zum Namen der Mutter des Königs geworden, die echte Grimhild aber führt durchweg den Namen[S. 90] Gudrun. Dieser Name (der mit dem der Heldin des mittelhochdeutschen Gedichtes Kudrun nicht das geringste zu tun hat) ist einfach dem Namen ihres Bruders Günther nachgebildet. Das erste Glied des zusammengesetzten Namens ist das gleiche wie bei „Günther“, das zweite ist eins der am häufigsten vorkommenden Elemente zur Bildung von Frauennamen. Die Neubildung Gudrun ist also gewissermaßen ein Feminin zu Gunnar.
3. Brynhild ist zur Schwester des Atli geworden. Damit hat man wenigstens den Versuch gemacht, eine engere Verbindung der beiden Hauptteile herzustellen, denn Atli hat nun an den Burgunden den Tod seiner Schwester zu rächen.
4. Endlich ist — wohl auch schon seit der Übertragung[44] — die Ermanarichsage als dritter Teil an die Erzählung angeknüpft. Diese Sage, die in Deutschland aufs engste mit der Dietrichsage verbunden erscheint, muß, da von letzterer im Norden keine Spur sich findet, sehr frühzeitig und selbständig dorthin gewandert sein.
Die Weiterentwickelung der Sage im Norden brauchen wir hier im einzelnen nicht zu verfolgen. Sie hat sich, wie wir gesehen haben, in lauter Einzeldarstellungen aufgelöst und eine wirkliche Zusammenstellung nicht mehr erfahren. Ein Dichter behandelt diesen Teil, ein anderer einen andern; der eine gibt das dazu, der andere jenes; so kommt eine wüste Verwirrung zustande, in der sich zurechtzufinden schwer ist. Neue Zusätze sind im Norden vor allen Dingen diejenigen, welche die Götterwelt mit hineinziehen; sie ist ganz sekundär in die Sage hineingetragen und hat ursprünglich in ihr keinen Platz. Auch die Idee, daß Brynhild eine vermenschlichte Walküre sei, also ein ursprünglich übermenschliches Wesen, das durch den Gott strafweise in die Menschheit versetzt worden sei, ist spezifisch nordisch und nicht einmal einheitlich durchgedrungen, sondern nur von einem einzelnen Dichter hineingebracht.
Wichtiger ist die Weiterentwickelung des Stoffes in Deutschland. Hier tritt uns die Sage in ausführlichem Berichte erst[S. 91] im 12. Jahrhundert, also ziemlich spät, entgegen. Wie sie sich bis dahin entwickelt hat, das läßt sich zwar natürlich an den verschiedenen Veränderungen, die eingetreten sind, wohl erkennen, aber die zeitliche und örtliche Bestimmung der Neuerungen ist nicht leicht. Einigermaßen unterstützt werden wir durch einen Bericht, der Ereignisse des Jahres 1131 zum Gegenstande hat. Damals wollte der dänische Königssohn Magnus seinen Vetter Knut Laward, den König der Wenden und Herzog von Schleswig, auf verräterische Weise ermorden. Er sandte einen sächsischen Spielmann, namens Siward, also einen fahrenden Sänger, der nach der Überlieferung für einen in seiner Kunst wohlerfahrenen Mann galt, zu Knut Laward und ließ ihn freundlich zu sich einladen. Knut leistete ohne jeden Argwohn Folge. Dem Sänger war bekannt, was Knut bevorstand, aber er war durch einen heiligen Eid gebunden, den Plan nicht zu verraten. Da Knut ihn dauerte, so versuchte er, ihn auf Umwegen auf das drohende Unheil aufmerksam zu machen: er trug ihm das Lied von der allgemein bekannten Treulosigkeit der Grimilda gegen ihre Brüder dreimal vor, also eine Geschichte, die dem im Augenblicke des Vortrags sich entwickelnden Schicksal ganz parallel verläuft. Auf diesem Wege versuchte also Siward den König Knut zu retten, aber ohne Erfolg: der Mord gelang am 7. Januar 1131. Für uns ist interessant, daß hier die Geschichte von Grimildas Treulosigkeit gegen ihre Brüder erwähnt und als allgemein bekannt hingestellt wird. Das paßt nicht mehr zur alten Form der Sage, sondern nur zu der neuen, wie sie uns demnächst in süddeutscher Darstellung entgegentritt. Wir lernen hier die Existenz dieser jüngern Sagenform in Norddeutschland kennen, denn es ist ein sächsischer Spielmann, der den dänischen Fürsten zu retten versucht.
Daraus folgt, daß die Umbildung der Sage, die darin besteht, daß nicht mehr Attila, sondern Grimhild die Treulosigkeit gegen die burgundischen Brüder begeht, um ihren ersten Gatten Siegfried an ihnen zu rächen, noch vor der Übertragung der Sage nach Süddeutschland, also wohl noch am Niederrhein vor sich gegangen sein muß. Sie ist natürlich hauptsächlich durch innere Gründe verursacht: man wollte die beiden Teile, die ursprünglich so lose nur zusammenhingen, innerlich aneinanderschließen. Die Neuerung dürfte nach oberflächlicher Schätzung um das Jahr 900 oder bald nachher durchgeführt worden sein, weil die Überführung[S. 92] des Stoffes nach Bayern wohl noch ins 10. Jahrhundert fällt. Die neue Fassung trägt zugleich modernerer Gesittung Rechnung: bisher stand die Erzählung auf dem altgermanischen, etwas urzeitlich anmutenden Standpunkte, daß Blutrache die erste Pflicht sei, daß also die Pflicht der Schwester, ihre Brüder zu rächen, größer sei, als die Pflicht ihrer Treue gegen den Gatten; nunmehr, in modernerer Zeit, stellte man die Gattenpflicht an die erste Stelle und ließ die Blutrache in alter Form fallen.
Mit dieser Änderung ist nun eine Tatsache, die in der Geschichte feststeht und als Ausgangspunkt für die Sage anzusehen ist, aus dieser selbst verschwunden. Von dem Augenblicke an nämlich, wo Grimhild ihren ersten Gatten an ihren Brüdern rächt, fallen ja ihre Interessen mit denen ihres zweiten Gatten Attila zusammen; Grimhild und Attila sind jetzt einig und führen gemeinsam den Untergang der Burgunden herbei. Dann liegt aber für Grimhild keine Veranlassung mehr vor, den Attila zu töten. Die Folge davon ist, daß dieser übrig bleibt.
An dieser Entwickelung erkennt man recht, wie die Sage arbeitet: sie geht teilweise vom Tode Attilas aus, hat sich aber nach mehreren hundert Jahren so verschoben, daß sie von diesem ihrem Ausgangspunkte nichts mehr zu erzählen weiß. Hier, an einem Beispiel, das wir doch leidlich genau verfolgen können, ist ganz deutlich zu sehen, wie der Ausgangspunkt der Sage infolge ihrer Entwickelung schließlich wieder aus ihr hinausgebracht wird. Wenn das möglich ist, so wird noch vieles andere möglich sein, so wird es vor allen Dingen auch möglich sein, den ersten Teil unserer Nibelungensage aus der fränkischen Königsgeschichte abzuleiten, von der man nur Einzelheiten, besonders Namen und Motive, zur Vergleichung heranziehen kann, nicht aber den ganzen innern Zusammenhang.
Die Folge davon, daß Attilas Tod nun auf einmal nicht mehr erzählt wird, ist eine Neudichtung, die in Süddeutschland unbekannt geblieben ist, also wahrscheinlich in Norddeutschland erst entstanden ist, nachdem die Nibelungensage bereits nach Süddeutschland gewandert war: ich meine die allein in der Thidrikssaga berichtete Geschichte von Hagens nachgeborenem Sohne Aldrian, der durch Attilas Ermordung der Gesamterzählung wieder einen vollen Schluß verschafft. Ihre Entstehung war natürlich erst möglich, nachdem Attilas Tod aus der[S. 93] Erzählung durch die moderne Entwickelung derselben ausgeschaltet worden war.
Nach Süddeutschland ist unsere Sage wahrscheinlich im 10. Jahrhundert gewandert. Darauf weist die merkwürdige Einmischung einer historischen Person jener Zeit hin, die an der Oberfläche klebt: Bischof Pilgrim von Passau (er war im Amte 971–991) gilt im Nibelungenliede für einen Zeitgenossen der Nibelunge und Mutterbruder der burgundischen Könige; nach der „Klage“, dem mehrerwähnten Anhang zum Liede, hat er den ganzen Verlauf der großen Begebenheiten durch seinen Schreiber Konrad in lateinischer Sprache aufzeichnen lassen. Diese letztere Nachricht wird wahrscheinlich richtig sein; sie ist an sich historisch ganz einwandfrei; ist sie richtig, so versteht man, wie Pilgrim in die Sage gelangte: der Klagedichter, dem Konrads Werk bekannt war, machte den Bischof und seinen Schreiber zu Zeitgenossen der Ereignisse, um die Glaubwürdigkeit des Berichtes zu erhöhen. Wenn aber ein Passauer Bischof um das Jahr 980 die Nibelungensage aufzeichnen lassen kann, so bedeutet dies, daß sie damals in Bayern zwar bereits bekannt, aber noch nicht geläufig war; sonst hätte man nicht Wert darauf gelegt, daß sie aufgeschrieben würde. Man bedenke, wie die eigentlich süddeutsche Sage, die von Dietrich und seinen Helden, jederzeit einfach als dem Publikum bekannt vorausgesetzt wird; dann wird man zu dem Wahrscheinlichkeitsschlusse kommen, daß zu Pilgrims Zeiten die niederdeutsche Nibelungensage eben erst in Bayern bekannt geworden und eben deshalb als der Aufzeichnung durch Pilgrims Schreiber Konrad wert befunden worden war.
Eine Folge dieser Verpflanzung der Sage auf einen ihr ursprünglich fremden Boden ist die in dem Namen der einen Hauptheldin eingetretene Veränderung: sie hieß ursprünglich zweifellos Grîmhild, in welcher Form der Name etymologisch durchsichtig ist; grîma bedeutet Larve, Maske, Helm. Den Süddeutschen waren Wort und Name nicht geläufig; sie verstümmelten letztern infolgedessen, wie man so häufig ein nur mit dem Ohre aufgenommenes Fremdwort verstümmelt, zu Krîmhilt oder Kriemhilt. Der unrichtige Anlaut und das Schwanken des Vokals im ersten Teile der Zusammensetzung geben somit ebenfalls davon Zeugnis, daß die Sage in Süddeutschland ursprünglich fremd und erst verhältnismäßig spät eingeführt ist.
Noch ein zweiter Name ist vermutlich bei dieser Überführung[S. 94] in gewissem Sinne verstümmelt worden: Gernot; hochdeutsch könnte er schwerlich etwas anderes als ein Frauenname sein, weil „nôt“ ein Feminin ist; versteht man ihn aber niederdeutsch, so gibt er den Sinn „Schwertgenoß“ und müßte hochdeutsch Gernoz heißen; er dürfte also bei der Überführung der Sage nach Süddeutschland seine niederdeutsche Form beibehalten haben.
In Oberdeutschland hat sich die Sage nun begreiflicherweise selbständig weiter entwickelt. Augenscheinlich ist sie gar nicht vollständig dahin gelangt, wenigstens fehlt jede Kunde von Siegfrieds Vorfahren, sowie von seinem ursprünglichen Verhältnis zu Brünhilt, während die von seiner Jugendzeit äußerst dürftig ist. Die Erzählung beginnt damit, daß Siegfried um Kriemhilt freit und dann Brünhilt für seinen Schwager gewinnt. So reich ausgestattet ursprünglich und noch in nordischer Fassung der erste Teil des Stoffes war, so gering ist sein Kern in der deutschen; ritterliche Füllung hat ihn im Liede freilich wieder verbreitert. Dafür hat sich der zweite Teil reich entfaltet und zwar hauptsächlich dadurch, daß er als Episode in die Dietrichsage eingetreten ist; da die Burgunden infolge verräterischer Einladung am hunnischen Hofe zugrunde gehen, muß Dietrich, der nach süddeutscher Auffassung damals dort als Verbannter lebt, mit den Ereignissen zu tun haben; ihm wird die Entscheidung in dem großen Kampfe gegen die Burgunden zugewiesen.
Wenn es auch zu weit führen würde, Ursprung und Entwicklung der Dietrichsage an dieser Stelle in allen Einzelheiten zu besprechen, so erscheint doch eine Darstellung in großen Zügen geboten.
Im vierten Jahrhundert saßen die Goten in Dacien (etwa Rumänien und Siebenbürgen) und längs der Nordküste des Schwarzen Meeres bis zum Don. In diesen Gegenden begründete der Amaler Ermanarich (deutsch Ermenrich) ein großes gotisches Reich, das seine Macht weit über das heutige innere Rußland erstreckte. Um das Jahr 370 erlag diese Macht dem plötzlichen Ansturm der Hunnen, eines Volkes türkischen Stammes aus dem innern Asien; König Ermanarich, schon hochbejahrt, kam dabei zu Tode. Der gotische Geschichtschreiber Jordanes weiß um 550 von seinem Tode Einzelheiten zu erzählen, die zwar schlecht beglaubigt, aber an sich nicht unwahrscheinlich sind und sich inhaltlich mit dem vorhin S. 27 f. dargestellten dritten Teile der Nibelungensage nordischer Form nahezu decken: das[S. 95] treulose Volk der (sonst unbekannten) Rosomonen versucht den Einbruch der Hunnen zur eigenen Befreiung zu benutzen; Ermanarich läßt Suanihilda, eine Frau aus diesem Volke, für den heimtückischen Abfall ihres Mannes[45] von wilden Pferden zerreißen, wird aber dafür von ihren Brüdern Sarus und Ammius (Sorli und Hamdir in der Lieder-Edda) tödlich verwundet. Die Erzählung dürfte auf Tatsachen beruhen; sie ist geraume Zeit vor der Entstehung der übrigen gotischen Sagen, also etwa um 500, nach dem Norden gelangt[46] und hier schon im 9. Jahrhundert (vgl. S. 90) dadurch an die Nibelungensage angeschlossen worden, daß man Suanihilda und ihre Brüder zu Kindern der Gudrun gemacht hat. Vermutlich spielte die Mutter der untergegangenen Geschwister schon vor dieser Vereinigung in der Erzählung eine Rolle, die es nahelegte, sie mit Gudrun gleichzusetzen; darauf weist wenigstens die Art hin, wie der dänische Geschichtschreiber Saxo Grammaticus um 1200 die Ermanarich-Sage (ohne ihre Verbindung mit der Nibelungensage zu berücksichtigen) in seine dänische Geschichte aufgenommen hat.
Der Einbruch der Hunnen trennte die Goten in westliche, die auf römisches Gebiet übertraten und uns hier nichts mehr angehen, und östliche, die unter hunnischer Hoheit zurückblieben und nach wie vor Könige aus dem Amalerhause hatten. Diese Ostgoten bildeten mit andern Germanenvölkern zusammen den eigentlichen Kern der hunnischen Macht; ihre Führer waren die ersten Helden des Großkönigs. Als solcher herrschte 444–453 Attila, nachdem er seinen Bruder und Mitherrscher Bleda beseitigt hatte. Dieser Attila hat bei den westlichen Germanen das Andenken eines wilden Eroberers hinterlassen; ganz anders bei den östlichen: sie erinnern sich seiner als eines mächtigen, aber gnädigen Herrschers. Unter seinen vielen Frauen ragt in der Geschichte die Kerka oder Rheka (richtig vermutlich Cherka) hervor, die in der Sage als Herche oder Helche lebendig geblieben[S. 96] ist. — An der Spitze der Ostgoten standen zu Attilas Zeit drei amalische Brüder, deren einer Theodemer (deutsch Dietmar) hieß.
Nach Attilas plötzlichem Tode (vgl. S. 69) zerfiel sein Reich; die Ostgoten traten auf das rechte Donauufer in oströmischen Bereich über. Theodemer war schließlich ihr alleiniger König und vererbte diese Stellung 481 auf seinen Sohn Theodorich (deutsch Dietrich), der sich den Beinamen des Großen verdiente.
Inzwischen hatte sich 476 in Italien ein germanischer Fürst namens Odoaker (deutsch Otacker) der Herrschaft bemächtigt. Ihn zu beseitigen und zugleich die Sorge vor den Ostgoten, die fortgesetzt die Sicherheit Konstantinopels bedrohten, loszuwerden, übertrug Kaiser Zeno 489 dem Theodorich und seinem Volke die Aufgabe, Italien dem Reiche zurückzuerobern, um es dann als römische Bundesgenossen zu bewohnen und zu beherrschen. Theodorich schlug Odoaker in mehreren Schlachten und belagerte ihn schließlich drei Jahre lang in dem festen Ravenna, wo damals (seit Honorius) der Regierungssitz Italiens sich befand; 493 gelangte die Stadt in Theodorichs Gewalt, Odoaker wurde getötet. Als Beherrscher Italiens hat nun Theodorich lange Zeit die führende Rolle unter den westeuropäischen Germanenkönigen gespielt, ja, dieselben durch Heiraten zu einer großen Familie zu vereinigen gesucht, deren Haupt er selbst sein wollte. Dabei war sein Bestreben, Kriege zu vermeiden und Streitigkeiten auf friedlichem Wege zu schlichten — ein Charakterzug, der dem Dietrich der Sage insofern noch anhaftet, als auch dieser nur, wenn es ganz unvermeidlich ist, zum Schwerte zu greifen pflegt.
526 ist Theodorich gestorben; damit brach sein System zusammen. Auch der Ostgotenstaat war nicht von Dauer: bereits 540 geriet Ravenna wieder in römische Gewalt, und 553 vernichtete Narses den letzten Gotenschwarm, der noch zusammenhielt, am Vesuv. Nur nördlich der Alpen blieben gotische Reste übrig und gingen in den Bayern auf (vgl. S. 56), die nun die Erinnerung an die ruhmreiche Geschichte der Amaler bewahrt und gepflegt haben.
Die deutsche Sage kennt, wie begreiflich, die Goten (die sie ausschließlich Amelunge nennt) nur in Italien und Bayern; auch Ermenrich ist aus Südrußland dahin versetzt. Sie betrachtet ferner die Amelunge als legitime, eingeborne Herrscher ihres[S. 97] Reiches; Dietrichs Sieg bedeutet ihr also nicht eine einfache Eroberung, sondern eine Wiedereroberung nach vorausgegangener Vertreibung. Zu dieser Anschauung mußte die Sage dadurch geführt werden, daß Theodorich in der Tat durch den Auftrag des Kaisers Zeno das formale Recht auf seiner Seite hatte, während Odoaker nur infolge Usurpation in Italien herrschte. Den oströmischen Kaiser ferner hat die Sage, wie sie es fast immer getan hat, durch den Hunnenkönig ersetzt; indem sie Dietrich während seiner Abwesenheit aus Italien an dessen Hofe lebend dachte, übertrug sie auf ihn das, was von den Verhältnissen seines Vaters Dietmar bekannt geblieben war. Endlich brachte sie die beiden Amelunge Ermenrich und Dietrich dadurch aufs nächste zusammen, daß sie sie als Oheim und Neffe betrachtete. So hat denn die Dietrichsage im wesentlichen folgende Gestalt erlangt:
Die Brüder Ermenrich und Dietmar aus dem Hause der Amelunge teilen sich derart in das Reich, daß Ermenrich als der älteste den Hauptteil mit Ravenna, Dietmar den Norden erhält; als Sitz des letztern und seines Sohnes wird Verona (Bern) betrachtet, nachdem Theodorichs historische Residenz Ravenna zunächst Ermenrichs Eigentum geworden ist. Nach Dietmars Tode wird sein Sohn Dietrich von Ermenrich vertrieben; dies behauptet die Sage im Anschluß an die historische Eroberertätigkeit, die Ermanarich entfaltet hat. Der vertriebene Dietrich begibt sich an den Hof des Hunnenkönigs Etzel, um von ihm Hilfe gegen Ermenrich zu erbitten; als Vermittler zwischen Dietrich und Etzel spielt dabei der Markgraf Rüdeger von Bechelaren, des erstern Freund, des letztern vornehmster Vasall, eine hervorragende Rolle. Über Ursprung und Bedeutung der Figur Rüdegers hat man mannigfache Vermutungen aufgestellt, ja, man hat sogar diesen reinmenschlichen Helden zu einem mythischen Wesen machen wollen; und doch ist, wie mir scheint, Rüdegers Bedeutung so leicht zu fassen: da die naiven Pfleger der Sage dieser jederzeit zeitgenössische Färbung geben, so müssen sie sich Dietrich als Bayern, Etzel als Ungarn denken; daraus ergibt sich, daß Rüdeger der Repräsentant des vermittelnden Zwischengebietes, der bayerischen Ostmark (Österreichs) ist. Im Nibelungenliede gilt als Rüdegers Bereich das Land zwischen Enns und Wienerwald; das ist genau das Gebiet der bayerischen Ostmark von Otto dem Großen bis auf Heinrich III., dessen Eroberung das Land bis zur Leita hinzufügte. Daraus ergibt sich, daß die Dichtung[S. 98] die Figur Rüdegers um das Jahr 1000 geschaffen hat[47]. — Die Sage kennt nun zunächst einen ersten, mißlungenen Versuch Dietrichs, mit hunnischer Hilfe zurückzukehren; er führt zu Kämpfen bei Ravenna und gibt den Stoff zu dem Gedicht von der „Ravennaschlacht“ ab; selbstverständlich beruht er auf dem Walten der Dichtung: die deutschen Spielleute des zwölften Jahrhunderts lieben es ja auch, denselben Stoff in zwei Variationen nacheinander vorzutragen. Der Inhalt der Ravennaschlacht ist eine Variation von Dietrichs Rückkehr. — Nunmehr findet Ermenrich sein Ende ungefähr so, wie es schon Jordanes erzählt; als einer der Mörder gilt um das Jahr 1000 Otacker, der Ermenrichs Nachfolger wird und also schließlich bei der endgültigen Eroberung Italiens Dietrichs Gegner ist, wie es die Geschichte dargeboten hat. In Süddeutschland ist allerdings im 12. Jahrhundert Ermenrichs Ermordung und die Person Otackers augenscheinlich ganz vergessen; den Thron der Amelunge nimmt bei Dietrichs Rückkehr Ermenrichs treuloser Ratgeber Sibich ein. Jedenfalls aber gelangt Dietrich schließlich durch Etzels Hilfe wieder in den Besitz seines angestammten Reiches[48].
In Gesellschaft Dietrichs und der zu ihm in Beziehung tretenden Leute befinden sich nun natürlich zahlreiche Personen minderer Bedeutung, die teils selbständige Sagenexistenz gehabt haben, aber durch die gewaltige Anziehungskraft der Hauptsage an sie herangezogen und ihr angegliedert worden sind (so z. B. Wielands Sohn Witig, ursprünglich ein Mann Ermenrichs), teils aber als mehr oder minder nötige Ausfüllung erdichtet worden sind; zu letzteren gehören vor allen Hiltebrand, der als Dietrichs Erzieher und erfahrener erster Ratgeber eine fast selbstverständliche[S. 99] typische Figur ist, und sein Neffe Wolfhart, in allem Hiltebrands Gegenbild (besonders in der Art seines Auftretens) und gewiß des Kontrastes wegen als solches geschaffen.
Von Personen aus der Umgebung des historischen Attila hat die Sage noch bewahrt seine Gattin Cherka als Helche (im Rosengarten Herche, in der Thidrikssaga Erka genannt) und seinen Bruder Bleda als Blödel; dieser Name ist offenbar volksetymologisch an „blöde“ angelehnt. An Bledas wirkliche Schicksale besteht keine Erinnerung, er wird in ziemlich willkürlicher Weise verwertet.
In diese in Süddeutschland ganz lebendige Dietrichsage ist nun die Nibelungensage nach ihrer Überführung dahin derart eingefügt, daß Kriemhilt als zweite Gattin Etzels gilt, die er nach dem Tode der Helche geehelicht hat, und daß der große Todeskampf der Nibelunge eintritt, während Dietrich noch an Etzels Hofe lebt; der Versuch der Rückkehr, der zur Ravennaschlacht führt, muß natürlich, da bei ihm die Königin Helche noch eine wichtige Rolle spielt, schon vorüber sein.
Mit Dietrich sind natürlich die meisten seiner Sage angehörigen Figuren in die Nibelungengeschichte übergetreten, vor allen auch Rüdeger, der nach dem, was vorhin ausgeführt wurde, außerhalb der Dietrichsage undenkbar ist. Da nun aber die Nibelungensage zunächst ohne Dietrich und Rüdeger existiert hat, so muß es möglich sein, nach Ausscheidung oder Abtrennung der diese Helden betreffenden Abschnitte ein Bild von dem Zustande zu bekommen, den sie zur Zeit der Überführung nach Süddeutschland aufwies. Dabei ergibt sich nun das merkwürdige Resultat, daß alle nach dem Saalbrande sich noch abspielenden Szenen wesentlich durch die Dietrichsage bedingt sind, mit andern Worten: es wird höchst wahrscheinlich, daß der Saalbrand in der ältern Sagenfassung den Schluß bildete, und die Nibelunge in ihm umgekommen sind.
Bedenken gegen diese Annahme werden allerdings dadurch erweckt, daß der Schluß des Nibelungenliedes mit den eddischen Atli-Liedern insofern übereinstimmt, als Günther und Hagen schließlich lebendig gefangen und erst nach ihrer Weigerung, den Hort auszuliefern, getötet werden; daß im Nibelungenliede erst Günther und dann Hagen getötet wird, während die Lieder-Edda beider Rollen vertauscht, macht keinen wesentlichen Unterschied. Nun sind aber die Atli-Lieder augenscheinlich keine reinen Repräsentanten[S. 100] der nordischen Sagenform, sondern weisen mehrfach erneute deutsche Beeinflussung auf; sonach wäre möglich, daß auch die nahe Übereinstimmung in der Schlußerzählung erst unter dem Einflusse deutscher Neudichtung zustande gekommen ist.
Wenn wir Rüdeger aus einer Grundform unserer Sage zu streichen haben, so fällt natürlich auch der Abschnitt vom Aufenthalte der Nibelunge zu Bechelaren weg; dann steht die kleine Szene von der Begegnung mit dem Grenzwächter Eckewart unmittelbar vor dem Eintreffen bei Kriemhilt, und es verschwindet die Sonderbarkeit, an der wir vorhin (S. 48) Anstoß nehmen mußten.
Wir haben im wesentlichen den Zustand der Sage erreicht, der in unserm Liede die Grundlage der Erzählung bildet. Manches freilich hat der Dichter des Liedes, manches haben wohl noch andere Hände geändert, ehe die Textgestalt erreicht wurde, die uns heute noch vorliegt. Ehe wir diese letzten, dem Liede eigenen Neuerungen betrachten und untersuchen, müssen wir uns erst den Fragen zuwenden, die uns die Überlieferung und Geschichte seines Textes stellen.
[S. 101]
Das Nibelungenlied ist uns erhalten in zehn vollständigen[49] Handschriften, außerdem in Bruchstücken von siebzehn verschiedenen Handschriften. Die Pergamenthandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts haben wir uns gewöhnt (seit Lachmann) mit großen, die Papierhandschriften des 14./15. Jahrhunderts und die einzige jüngere Pergamenthandschrift (d aus dem 16. Jahrhundert) mit kleinen lateinischen Buchstaben zu bezeichnen und zu benennen. Die vollständigen Handschriften sind A B C D I a b d h k, die Fragmente E F H K L M N O Q R S U Y Z g i l. In allen vollständigen Handschriften mit Ausnahme von k, die überhaupt eine Sonderstellung einnimmt, schließt sich die „Klage“ dem Liede unmittelbar an; von den Fragmenten bietet nur N auch ein Bruchstück der Klage; dafür sind uns Stücke dieses Gedichtes in Resten von drei andern Handschriften (G, W und X) noch erhalten, in denen natürlich auch das Nibelungenlied vorhanden gewesen sein muß[50].
[S. 102]
Die Handschrift k (im Besitze des Piaristen-Kollegiums zu Wien) ist eine völlige Neubearbeitung des alten Textes in Stil und Sprache des 15. Jahrhunderts, steht also im Grunde auf keiner andern Linie als z. B. Simrocks Übertragung ins Neuhochdeutsche; jedoch der Umstand, daß sie Vorlagen benutzt hat, die uns nicht mehr zugänglich sind, verleiht ihr auch für die Kritik des alten Textes einigen Wert.
Die übrigen 26 Handschriften ordnen sich nach dem Titel, den das Epos am Schlusse sich selbst gibt, leicht in zwei große Gruppen: der Nibelunge nôt heißt es in A B D H I K L M N O Q S Z b d g h i l (dazu W), der Nibelunge liet in C E F R U Y a (dazu G X). Noch eingehendere Gruppierung läßt sich durch genauere Betrachtung der vollständigen Handschriften gewinnen. Diese sind:
A aus dem 13./14. Jahrhundert, ursprünglich auf Schloß Hohenems, jetzt in München;
B aus dem 13. Jahrhundert, in St. Gallen;
C aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts, ursprünglich auf Schloß Hohenems, dann im Besitze des Freiherrn v. Laßberg, jetzt auf der fürstenbergischen Bibliothek in Donaueschingen;
D aus dem 13./14. Jahrhundert, in München;
I aus dem 14. Jahrhundert, stammt aus Tirol, jetzt in Berlin;
a, früher in Wallerstein, jetzt in Maihingen (bayr. Regierungsbezirk Schwaben);
b, Hundeshagens Handschrift, jetzt in Berlin;
d, die im Auftrage Kaisers Maximilians I. 1502–17 hergestellte große Sammelhandschrift, früher auf Schloß Ambras, jetzt in Wien;
h, Meusebachs Handschrift, jetzt in Berlin; sie ist eine Abschrift von I und kommt deshalb für die Textkritik nicht in Betracht.
Während die Handschriften der Liet-Gruppe nur in unwesentlichen Dingen voneinander abweichen (so daß die junge a nur zur Ausfüllung der Lücken in der guten alten C herangezogen[S. 103] zu werden braucht), gehen die der Not-Gruppe vielfach stark auseinander: Db gehören zusammen und folgen in den ersten 270 Strophen des Liedes, ebenso im Anfange der Klage seltsamerweise dem Liet-Texte; Id sind einerseits im Eingange des Liedes nicht unwesentlich kürzer als alle übrigen Texte, haben aber andererseits im Verlaufe des Gedichtes im ganzen zwanzig Strophen, die sonst nur dem Liet-Texte eigen sind, in den zugrunde liegenden Not-Text aufgenommen; B gibt, von Kleinigkeiten abgesehen, den Not-Text am reinsten wieder; A hat ihn um volle 61 Strophen, die im Laufe des Gedichtes, hauptsächlich innerhalb der Strophen 340–720 (der Zählung von Bartsch) gestrichen sind, verkürzt.
Da A infolge dieser Streichungen den kürzesten Text bietet, hielt man sie lange Zeit für den Vertreter des ältesten vorhandenen Textes; seit es aber W. Braune (Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes, 1900) gelungen ist, nachzuweisen, daß A mit dem Hauptteile von Db, der dem Not-Texte folgt, manche jüngere Änderungen und Fehler gemein hat, kann davon keine Rede mehr sein, vielmehr ist A der Not-Vorlage von Db auf das nächste verwandt und innerhalb der 270 Strophen, in denen Db einer Liet-Vorlage folgen, der alleinige Vertreter dieser Handschriftengruppe.
Die größte Schwierigkeit macht noch heute die richtige Einordnung der Gruppe Id; im Anfange ist sie kürzer, als alle übrigen Texte und in dieser Beziehung, wie ebenfalls Braune nachgewiesen hat, altertümlicher als alle diese. Wie aber soll man die zwanzig zum Liet-Texte stimmenden Strophen beurteilen? Sie sind im allgemeinen ganz lose in den Not-Text eingefügt; von den vierzehn Stellen, auf die sie sich verteilen, stimmen elf genau zur Strophenfolge des Liet-Textes; an den drei andern Stellen ist eine kleine Verschiebung eingetreten, die dem Zusammenhange nicht günstig ist: die Strophen stehen (nach der Zählung von Bartsch)
hinter
|
969
|
statt
|
hinter
|
964
|
(
|
um
|
5
|
Strophen
|
zu
|
spät
|
),
|
|
„
|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
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|
|
Eine Mittelstellung zwischen den beiden Hauptgruppen nimmt also Id auf jeden Fall ein, es fragt sich nur, ob eine durch Entwicklung der Texte bedingte oder eine äußerliche. Braune entscheidet sich für das erstere und erblickt in Id eine Vorstufe[S. 104] zu dem Liet-Texte; ich neige mich der andern Auffassung zu, hauptsächlich weil die Ordnung der Strophen an den drei erwähnten Stellen um ein weniges ohne ersichtlichen Grund abweicht; das scheint sich am besten aus äußerlicher Entlehnung zu erklären: der Besitzer der Grundhandschrift der Gruppe Id kannte den Liet-Text und vermißte in ihr einige diesem allein eigene Strophen; er trug sie auf den Blatträndern nach; beim Abschreiben wurden sie in den Text eingerückt, und dabei kamen nun jene kleinen Irrtümer vor, die sich jedenfalls innerhalb des Raumes einer Blattseite halten.
Einfacher ist die eigentümliche Textmischung der Gruppe Db zu erklären: in ihrer Grundhandschrift war der Anfang des Liedes (ebenso der Anfang der Klage) verloren gegangen und durch Abschrift aus einer andern Handschrift, die dem Liet-Texte angehörte, ersetzt worden. Das war möglich, da die beiden Haupttexte doch nicht so stark voneinander abweichen, daß man die Verschiedenheit auf den ersten Blick erkennen müßte; auch in neuerer Zeit ist solche Textmischung vorgekommen, vgl. S. 124. Das aus dem Liet-Texte entnommene Anfangsstück des Liedes umfaßt ungefähr doppelt soviel Raum wie das eben daher entnommene Anfangsstück der Klage; der den Not-Text bietende Hauptteil des Liedes ist annähernd achtmal so lang wie der Eingang; daraus darf man vermuten, daß von der Grundhandschrift die 1., 2. und 19. Lage verloren gegangen und ungenau ersetzt waren.
Die sechs Haupthandschriften des Not-Textes ordnen sich sonach in zwei Gruppen: auf der einen Seite Id mit altertümlich kurzem Eingang, aber zwanzig zugesetzten Strophen; auf der andern Seite ABDb mit längerm Eingang (wie ihn auch der Liet-Text bietet); Db, deren alter Eingang ja verloren ist, werden durch die nahe Verwandtschaft mit A bei dieser Gruppe festgehalten.
Wie verhalten sich nun aber die beiden Hauptgruppen „Liet“ und „Not“ zueinander? Geht die eine auf die andere zurück, oder weisen beide auf ein verlorenes Original? Von den drei möglichen Antworten, die alle drei ihre Vertreter gefunden haben, können wir eine von vornherein ablehnen: die „Not“ geht keinesfalls auf das „Liet“ zurück, denn sie ist altertümlicher als dies; vor allem aber steht im Not-Texte die „Klage“ noch ziemlich selbständig hinter dem Liede, während[S. 105] das „Liet“ die beiden Gedichte möglichst untereinander auszugleichen strebt; so gehen denn zahlreiche Mehrstrophen von Ca auf Anregungen der „Klage“ zurück. So bleiben zwei Möglichkeiten: entweder das „Liet“ beruhte auf der „Not“, oder beide nebeneinander auf einem verlorenen Original; der ersteren neigt sich Braune zu, während ich der zweiten den Vorzug gebe auf Grund folgender Überlegung: der Liet-Text muß spätestens zu Anfang des 13. Jahrhunderts abgeschlossen sein, denn er hat die alte einfache Angabe der Klage, daß Ute, die Mutter der burgundischen Könige, ihre alten Tage im Kloster Lorsch verbrachte, breit ausgesponnen und stellt die Behauptung auf, sie habe es ausgestattet (Holtzmann 1158)
nun ist aber dies altberühmte Kloster durch seinen letzten Abt Konrad, der 1216 zuerst genannt wird, derartig heruntergebracht worden, daß er 1229 abgesetzt, und das Stift an Mainz übergeben wurde; ein so lautes Rühmen, wie wir es in C finden, war also in und nach dieser Zeit nicht wohl möglich[51]. Dagegen kann die Grundhandschrift des Not-Textes nicht älter als höchstens 1240 sein, denn sie hat 1331 und 1336 den richtigen Ortsnamen Treisenmûre durch den falschen Zeizenmûre ersetzt. Die Stellen fallen in die Partie, die Kriemhilts Reise zu Etzel schildert und dabei innerhalb Österreichs die Tag für Tag berührten Stationen in genauer Folge nennt: Everdingen, Ense, Bechelâren, Medelîche, Mûtâren, Treisenmûre, Tulne, Wiene, Heimburc, Miesenburc. Setzt man Zeizenmûre für Treisenmûre ein, so erhält man eine widersinnige Folge, denn Zeizenmûre liegt bereits östlich von Wien. Derjenige, der es eingeführt hat, kann von Österreichs Geographie keine persönliche Anschauung gehabt haben; nun ist aber Zeizenmûre ein unbedeutendes Dorf, das einem Nicht-Österreicher schwerlich bekannt ist, wenn es nicht einen besondern Ruf hat; einen solchen hat es dadurch erlangt, daß Nithart von Riuwental[S. 106] einen großen Teil seiner österreichischen Dorfgedichte dort spielen läßt; Nithart, dessen Dichten schätzungsweise in die Zeit von 1210–1240 fällt, lebte ursprünglich in Bayern und vertauschte es erst etwa 1230 mit Österreich; vor diesem Zeitpunkte können Nitharts österreichische Dorfgedichte nicht entstanden sein. Vorher dürfte also jener fälschlich in den Not-Text eingeführte Ort außerhalb Österreichs schwerlich bekannt gewesen sein[52].
Ist somit die Grundhandschrift des Not-Textes rund ein Menschenalter jünger als die Existenz des Liet-Textes, so kann dieser nicht auf jenen zurückgehen, und bleibt nunmehr nur die dritte Möglichkeit übrig: beide weisen nebeneinander auf ein verlorenes Original zurück. Dies Original kann nach Ausweis der nahen Übereinstimmung beider Texte vom Not-Texte nicht allzu verschieden gewesen sein; um 1200 erfuhr es zunächst eine Überarbeitung, die im Liet-Texte noch vorliegt. Sie hat den ohnehin schon stark vorherrschenden rittermäßigen Geist noch verstärkt, außerdem aber den Anhang, die Klage, mit dem Liede in größere Übereinstimmung versetzt; den nur auf den letzten Teil passenden Titel „der Nibelunge Nôt“ hat sie durch den richtigern „der Nibelunge Liet“ ersetzt. — Nicht vor 1240, zu einer Zeit, da der ritterliche Geschmack schon im Sinken war,[S. 107] hat ein Jüngerer eine Neubearbeitung des Gedichtes für angezeigt gehalten und dabei über den im allgemeinen Umlauf befindlichen Liet-Text weg auf das Original zurückgegriffen[53]; sein Werk liegt uns im Not-Texte vor. Er folgt dem Original im ganzen recht treu; nur einzelne in spielmannsmäßigem Geschmack gehaltene kleine Szenen dürften vielleicht auf ihn zurückzuführen sein (Dankwart als Verschwender bei der geizigen Brünhilt; Hagens grobes Verhalten gegenüber der jungvermählten Kriemhilt u. dgl.).
Charakteristisch für den spätern Ursprung des Not-Textes ist der Umstand, daß er in keiner seiner zahlreichen Handschriften rein erhalten, sondern überall mehr oder weniger durch den Liet-Text beeinflußt ist: die Gruppe Id bewahrt den alten Anfang, setzt aber die besprochenen zwanzig Strophen zu; die Gruppe ABDb hat umgekehrt (wenn auch nicht in allen Handschriften in gleichem Maße) den erweiterten Anfang von Ca aufgenommen; die Grundhandschrift von Db ist aus dem Liet-Texte ergänzt: die Handschrift B hat einmal zwei Strophen (102. 103 Bartsch) sowie am Schlusse der Klage den Abschnitt über Etzels Verbleib aus dem Liet-Texte aufgenommen u. s. f. Letzterer lag eben allen Schreibern und Hörern fortgesetzt im Ohre; es ist begreiflich, daß Berufsschreiber, die den Liet-Text bereits ein- oder mehrere Male abgeschrieben hatten, bei der Arbeit an einer Not-Handschrift unwillkürlich Lesarten jenes Textes anbrachten: so dürften sich auch die zahlreichen Kreuzungen in den Varianten erklären, die aus keinem organisch entwickelten Handschriftenstammbaum verständlich sind.
Unter Berücksichtigung aller zugehörigen Bruchstücke dürfte sich die spätere Geschichte des Not-Textes etwa in folgender Weise abgespielt haben: zunächst trennte sich vom Hauptzweige der Entwicklung die Stammhandschrift der Gruppe Id; in ältester reinster Form liegt uns diese Textgestalt annähernd vollständig nur in der späten Handschrift d vor; ihr zur Seite stehen das alte Fragment H und das dürftige Fragment O, das der direkten Vorlage von d angehört. Die Handschrift I und die[S. 108] nahe stehenden Fragmente K und Q ändern den alten Text der Gruppe Id in vielen Punkten selbständig; ihnen ist vielleicht noch das Fragment l beizuzählen, das ebenfalls zahlreiche Textänderungen aufweist. — Von der andern Hauptgruppe des Not-Textes stellt B eine vollständige, sehr alte Form dar; ihr zunächst verwandt ist die Grundhandschrift aller übrigen Nothandschriften, auf die zunächst die lückenhafte A und die Fragmente L (daraus abgeschrieben g) und M, sowie die Grundlage der Db-Gruppe zurückgehen; diese wird gebildet durch die recht nahe verwandten Handschriften D und b und Fragmente S, N und Z (wohl auch W der Klage). — Das unbedeutende Fragment i ist nicht sicher einzuordnen.
Die vorgetragene Meinung vom Verhältnis der beiden Nibelungentexte und ihrer Handschriften erhält eine wesentliche Stütze durch das relative Alter der zugehörigen Pergamentcodices. Dies läßt sich bestimmen durch die Art der Einrichtung derselben: die älteste Weise ist, den Text (des Liedes und der Klage) ohne Absetzen von Vers oder Strophe einspaltig über die ganze Seite zu schreiben; so sind C und E (vom Liet-Text) sowie H (von der Id-Gruppe) verfahren. Etwas mehr Übersicht bei größter Ausnutzung des Pergamentes gestattet zweispaltige Einrichtung, bei welcher im Liede die Strophen abgesetzt werden, aber nicht die Verse; sie liegt vor in FRY, B, DNSZ, sowie in auffallend kleinem Format in Q; innerhalb der Klage verfahren diese Codices, entsprechend der andern Versart, verschieden: zweispaltig ohne Absetzen schreibt B (ältere Weise), zweispaltig mit abgesetzten Versen G, DNW (jüngere Weise). Schließlich setzt man auch im Liede die Verse ab; zweispaltig verfahren so AMI, einspaltig LU (kleines Format); innerhalb der Klage schreibt A zweispaltig mit abgesetzten Doppelversen, I dreispaltig mit abgesetzten Versen, beides sichtlich aus räumlichen Gründen; das in kleinem Format gehaltene X schreibt einspaltig mit abgesetzten Versen. Ganz großes Format, dreispaltig eingerichtet, haben O und K; jenes setzt gar nicht ab und bringt hundert, dies setzt nur Strophen ab und bringt sechzig Strophen auf einem Blatte unter; K bringt also das ganze Nibelungenlied auf fünf Quaternionen, O gar nur auf drei Quaternionen unter; das weist darauf hin, daß sie beide (wie das aus O abgeschriebene d) Sammelhandschriften waren; ihre Einrichtung hat mit derjenigen der übrigen Handschriften nichts gemein, und sie sind gewiß nicht so alt, wie ihr Einrichtungsprinzip anzudeuten scheint.
[S. 109]
Der in der Handschrift k vorliegende, im 15. Jahrhundert modernisierte Text beruht in der Hauptsache auf einem Exemplare des Liet-Textes, das im Anfange zwei größere Lücken aufwies; diese sind ersetzt aus einer Handschrift des Not-Textes, die in nächster Verwandtschaft zu A stand, wie der gleiche Strophenbestand des Einganges zeigt.
Das den beiden um 1200 und 1240 entstandenen Bearbeitungen zu Grunde liegende Original hat, wie wir gesehen haben, die angehängte Klagedichtung bereits besessen; auch war es in bezug auf die Technik der Metrik und des Reimes schon ziemlich hoch entwickelt, denn die überwältigende Mehrzahl aller Verse der beiden Bearbeitungen hat ihm bereits angehört. Es kann also seine Gestalt nicht allzulange vor der ersten Bearbeitung und keinesfalls vor dem Jahre 1170 gewonnen haben; die um 1200 vorgenommene Bearbeitung ist nicht durch formale, sondern durch inhaltliche Bedenken, in erster Linie durch das Streben, Lied und Klage miteinander auszugleichen, veranlaßt worden.
Derjenige, der das durch Vergleichung der beiden Bearbeitungen uns noch im wesentlichen erreichbare Original geschaffen hat, ist nun noch nicht derjenige, den wir als den eigentlichen Nibelungendichter zu betrachten haben, sondern es ist vermutlich derselbe, der die Klage angehängt hat; dieser „Klagedichter“ hat gewiß auch seine Tätigkeit auf das Lied selbst ausgedehnt; sicher hat er ihm die vierzehn[54] Strophen eingefügt, die den Bischof Pilgrim erwähnen (1295–99. 1312. 1330. 1427. 1428. 1495. 1627–30 Bartsch); sie lassen sich ohne jede Schwierigkeit herausheben.
Ein Nibelungenlied mit Anhang (Klage) setzt notwendig ein Nibelungenlied ohne einen solchen voraus; wir kommen also ohne Schwierigkeit noch um eine Stufe weiter zurück und erreichen damit endlich die Tätigkeit des Mannes, den wir als den eigentlichen Nibelungendichter ansprechen dürfen. Von ihm dürfen wir behaupten, daß er ein Mann ritterlichen Standes und ein Österreicher war, da auf ihn doch wohl die genaue und sachkundige Beschreibung der Reise Kriemhilts zurückgeht; auch die oft durchblickende Abneigung gegen die Bayern macht das wahrscheinlich. Wien ist ihm eine wichtige und bedeutende Stadt, in ihr läßt er Kriemhilts zweite Hochzeit gefeiert werden; es ist aber, wenn auch alt, doch erst durch den ersten Herzog Österreichs,[S. 110] Heinrich († 1177), wieder aus jahrhundertelangem Verfall erhoben worden; Heinrichs Sohn und Nachfolger war der bekannte Leopold I. († 1194), der Gönner Reinmars des Alten, des Lyrikers; unter ihm erlangte der Wiener Hof jene Bedeutung als Pflegstätte edler Kunst, als welche er in der deutschen Literaturgeschichte bekannt ist. So werden wir schwerlich weit neben das Ziel treffen, wenn wir annehmen, daß der eigentliche Nibelungendichter unter Leopold I. und dem Einflusse seines Hofes gewirkt hat, also etwa 1180–1190. An seinem Werke ist manches auffällig, was schon bei der Besprechung des Inhalts erörtert worden ist; sein Anteil an der Stoffmasse ist bedeutend: der ganze erste Teil des Liedes und der Anfang des zweiten bis gegen Str. 1526 (vgl. nachher) ist formal ganz von ihm gestaltet und auch inhaltlich von ihm mit Ausnahme der Grundzüge im wesentlichen erst geschaffen; auf ihn gehen u. a. das Prinzentum Siegfrieds und die durch dasselbe bedingten Szenen, auf ihn die Umschaffung des Spielmanns Volker in einen ritterlichen Sänger zurück. In der Schlußpartie des Epos benutzte er offenbar eine im wesentlichen bereits fertig vorliegende Darstellung (die älteste „Nibelunge Not“), die auch dem Verfasser der Thidrikssaga bekannt gewesen ist; er hat sie stark überarbeitet und durch Einfügung neuer Szenen und Personen (besonders des Dankwart) beträchtlich erweitert. Sein Anteil läßt sich mit Hilfe der Thidrikssaga ziemlich genau bestimmen: den Fährmann hat er aus einem einfachen, um Lohn arbeitenden Manne in einen Grenzwächter der Bayernfürsten umgeschaffen; die Verfolgung durch die Bayern und der daraus sich ergebende Kampf ist sein Werk, ebenso die Angabe, daß die Burgunden mit einem Heere von zehntausend Mann nach dem Hunnenlande gezogen seien; endlich gehört ihm im wesentlichen die Reihe von Szenen, die im einzelnen so prächtig ausgeführt sind, jedoch mit dem Geiste der ganzen Geschichte vielfach im Widerspruch stehen: sie setzen ein unmittelbar nach dem feindseligen Empfang durch Kriemhilt mit der Erzählung, daß Hagen und Volker sich dem Palaste der Königin gegenüber herausfordernd hingesetzt hätten, und schließen mit der unbegreiflichen Entlassung der Hauptgegner aus dem Saale; innerhalb dieser Partie blickt nur selten die alte Grundlage durch, deren Gang etwa der folgende gewesen sein muß: die Nibelunge richten sich, nachdem man sie nächtlicherweile zu überfallen versucht hat, in dem ihnen angewiesenen Hause zur[S. 111] Verteidigung ein; um Etzel zum Angriff fortzureißen, opfert Kriemhilt ihr Söhnchen, indem sie Hagen zu seiner Tötung reizt, und nun folgt unter Hohnreden der Nibelunge der Angriff der hunnischen Scharen. Der Rest der Dichtung, im wesentlichen aus den vier Abschnitten: Irings Kampf, Saalbrand, Rüdegers Kampf, Dietrichs Kampf bestehend, muß im großen und ganzen der Vorlage entnommen sein.
Dieser eigentliche Nibelungendichter ist nun natürlich eben derjenige, der die auffällige lyrische Form für das Epos gewählt hat, eine Form, die nicht sein Eigen ist, sondern in den nicht lange vorher entstandenen Liedchen des sogenannten Kürnbergers bereits vorliegt. Pfeiffer hat aus dieser Übereinstimmung der Formen geschlossen, eben dieser Kürnberger sei der Dichter unseres Liedes; wäre dies richtig, so wäre uns damit nicht weiter geholfen, denn wir wissen vom Kürnberger nur, daß er ein Österreicher war, und kennen nicht einmal seinen Personennamen. Der Schluß ist aber nicht zwingend, denn seine Voraussetzung, daß eine bestimmte Strophenform Eigentum ihres Schöpfers sei, hat nie in dem angenommenen Umfang gegolten, vor allem nicht in so alter Zeit; endlich aber erklärt er ja die Sonderbarkeit, daß ein Epos lyrische Form aufweist, überhaupt nicht. Die einzige plausible Erklärung ist vielmehr die, daß der Nibelungendichter die benutzte Form in seinen Quellen, denen er mehr oder weniger wörtlich folgt, bereits vorgefunden hat, und daß die Quellen volkstümliche Balladen gewesen sind.
Daß das Nibelungenlied auf derartige Volksgesänge zurückgehe, hat bereits der erste Gelehrte, der sich ernsthaft mit dieser Frage beschäftigte, Karl Lachmann, 1816 in seiner Schrift „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ behauptet. In der Durchführung des Gedankens ist er dann freilich weit über das Erreichbare und sogar über das Wahrscheinliche hinausgegangen: das Gedicht sollte entstanden sein aus einer Sammlung von zwanzig ursprünglich selbständigen Liedern, alle von ein und derselben Form, die inhaltlich aufeinander folgten[55] und durch Verbindungsstücke zu einem Ganzen zusammengeschlossen worden seien. Die Verteidiger und Ausgestalter dieser Liedertheorie (Müllenhoff, Rieger, Busch, Henning) haben die großen Unwahrscheinlichkeiten, die darin liegen, daß die[S. 112] Lieder alle die gleiche Form haben, alle im wesentlichen unverändert im Epos stecken sollen, und zum Teil Erzählungsabschnitte ohne selbständigen Wert behandeln, nicht zu beheben vermocht; in der Form, wie Lachmann seine Theorie durchzuführen versucht hat, muß sie heute als überwunden gelten. Anerkannt aber darf heute noch werden, mit welch sicherem Gefühl Lachmann die einzelnen Unebenheiten des großen Gedichtes erkannt und benutzt hat.
Eine Quelle, und zwar die wichtigste, die der Nibelungendichter benutzt hat, ist mit unsern Mitteln noch leidlich zu erkennen; ihr Anfang wird markiert durch das plötzliche Auftreten des Namens „Nibelunge“ im Sinne von Burgunden Str. 1526 (Bartsch); sie umfaßt den ganzen letzten Teil vom Auszuge der Burgunden auf ihre letzte Fahrt bis zu ihrem Untergange; auf sie allein paßt der alte, in der letzten Strophe gegebene Titel „der Nibelunge nôt“.
Diese älteste „Nibelunge nôt“ muß als ein Werk volkstümlichen Ursprunges von geringem Umfange aus der Zeit von 1150–1180 gelten; ihr muß die Strophenform bereits eigen gewesen sein. Sie scheint dasselbe Werk zu sein, dem der Verfasser des Grundstocks der Thidrikssaga seine Kenntnis unserer Sage verdankt; denn wie der erste alte Bestandteil des Liedes Siegfrieds Erscheinen in Worms ist, so schließt in der Saga sich an die Isungsgeschichte Siegfrieds Bekanntwerden mit den Nibelungen an, und von diesem Augenblicke an geben beide Quellen trotz aller beiderseitigen Überarbeitungen und Zusätze bis zum großen Schlußkampfe durchaus parallel laufende Darstellungen. Bis zum Auszuge der Nibelunge nach dem Hunnenlande kann diese alte „Nibelunge nôt“ allerdings kaum mehr als eine notdürftig orientierende Einleitung gegeben haben. Der Nibelungendichter hat sie, überarbeitet und erweitert, seinem Epos zugrunde gelegt; neben ihr hat er vielleicht auch noch andere Quellen gehabt, deren Form und Umfang aber unbestimmt bleibt. Jedenfalls hat er den bei weitem größten Teil des übrigen Gedichtes selbst geschaffen, wie die zahlreichen rein höfischen Szenen ohne echten Sagengehalt beweisen.
Noch eine Frage wäre zu beantworten: wie verhält sich die alte Ballade zu der lateinischen Aufzeichnung unseres Stoffes im 10. Jahrhundert, von der wir durch die „Klage“ Kunde haben? G. Roethe hat die Annahme aufgestellt, daß das Werk des Schreibers Konrad ein Gedicht gewesen sei wie Eckehards Waltharius[S. 113] (eine „Nibelungias“), und daß das Nibelungenlied in seiner Grundlage eine deutsche Nachdichtung jenes Werkes sei; die Möglichkeit ist zuzugeben, aber groß ist sie nicht, denn 1. spricht der Klagedichter nur von einer lateinischen Niederschrift und seitdem entstandenen deutschen Gedichten, was darauf führt, Konrads Arbeit für Prosa zu halten, und 2. ist die Klage ja ein verhältnismäßig junges Anhängsel zum Liede und dürfte eine Verbindung zwischen diesem und Konrads Niederschrift überhaupt erst herstellen (Einfügung des Bischofs Pilgrim).
Die Schicksale unseres großen Epos lassen sich nun im Schema folgendermaßen darstellen:
älteste Nibelunge nôt,
volkstümliche, balladenartige Dichtungen aus dem dritten Viertel des 12. Jahrhunderts. |
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Ritterliches Epos gleichen Titels, in Österreich entstanden etwa
1180–1190.
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Dasselbe um die „Klage“ erweitert und vielleicht etwas
überarbeitet, ungefähr 1190–1200.
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Vollkommenste Überarbeitung in rein höfischem Sinne,
etwa 1200–1210 (der Nibelunge liet), uns
durch die Handschriftengruppe Ca erhalten.
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Jüngere, treuere und volkstümlichere Überarbeitung,
etwa 1240–1250 entstanden, löst das „liet“
in seiner Geltung ab (daher Vulgata), bleibt aber fortgesetzt
von ihm beeinflußt.
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Handschriftengruppe Id.
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Unveränderter Zweig derselben, hauptsächlich durch
d repräsentiert.
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Handschrift B.
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Zweig mit selbständigen Änderungen, hauptsächlich durch
I repräsentiert.
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Die Mehrzahl der Vulgata-Handschriften (vollständig,
aber verkürzt, nur A.
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Handschriftengruppe Db.
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[S. 114]
Kurze Erwähnung verdient noch eine formale Eigentümlichkeit, die für die Beurteilung des Verhältnisses der beiden Hauptzweige nicht ohne Bedeutung ist: nicht selten sind die Cäsuren eines Verspaares durch Reim miteinander verbunden (Cäsurreim); solange innerhalb einer zwei Verspaare umfassenden Strophe nur eins Cäsurreim aufweist, kann er zufällig sein; sobald aber beide Verspaare ein und derselben Strophe gereimte Cäsuren haben, muß das auf Absicht des Verfassers beruhen. Nun sind im Nibelungenliede vereinzelte Cäsurreime zwar nicht gerade häufig, kommen aber doch ab und an vor, und zwar auch so, daß sie für die Vorlage beider Bearbeitungen gesichert sind. Durchgereimte Strophen aber finden sich, vergleichsweise häufig, nur in den Zusatzstrophen des Liet-Textes. Nun sind solche Strophen eigentlich keine Vierzeiler mehr, sondern Achtzeiler mit überschlagenden Reimen, also eine andre Kunstform; mischt sie der Liet-Bearbeiter dem alten Texte unbedenklich ein, so zeigt er damit, daß ihm das Verständnis für ihre Besonderheit noch nicht aufgegangen ist. Dies Verständnis fand sich erst gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts ein; der Not-Bearbeiter bedient sich daher nie der durchgereimten Strophen, und der Interpolator der Gruppe Id hat es vermieden, solche aus dem Liet-Texte herüberzunehmen; dagegen hat derjenige, der den erweiterten Anfang des Liet-Textes in den Not-Text übertrug, nicht dieselbe Zurückhaltung bewahrt: von den beiden durchgereimten Strophen dieses Stückes findet sich 17 in B und A, 1 nur in A.
[S. 115]
Das Erscheinen des Nibelungenliedes ist ein großes literarisches Ereignis gewesen; man erkennt dies nicht nur aus der Tatsache der wiederholten Überarbeitungen und der großen Zahl der Handschriften, sondern vor allem auch daraus, daß vom 13. Jahrhundert an zahlreiche Epen in der Nibelungenstrophe oder einer nahe verwandten Form auftauchen. Das älteste derartige Gedicht, von dem wir allerdings nur dürftige Bruchstücke besitzen, ist die mittelhochdeutsche Bearbeitung der (vorhin besprochenen) Walthersage. Hier ist die Nibelungenstrophe dadurch variiert, daß die vorletzte Halbzeile um zwei Hebungen verlängert ist, z. B.
Inhaltlich ist die alte Walthersage dadurch verändert, daß Hagen zur Zeit von Walthers Flucht noch an Etzels Hofe lebt, daß es die Hunnen sind, die Walther verfolgen und angreifen, und daß Hagen in hunnischen Diensten die Rolle des Hauptgegners spielt. Das Nibelungenlied, das mehrmals auf die Walthersage anspielt, kennt sie nur in der alten Gestalt; auch aus diesem Grunde ist die fragmentarisch erhaltene Waltherdichtung jünger, doch kann sie nicht allzu spät entstanden sein, denn sie mischt noch zahlreiche Cäsurreime ohne bestimmtes Prinzip ein; sie dürfte dem Liet-Texte zeitlich an die Seite zu stellen sein.
Formell, nicht inhaltlich, ist ein Schößling des Nibelungenliedes auch das Gedicht von Kudrun; es behandelt einen aus[S. 116] dem Auslande (ursprünglich vermutlich aus England) eingeführten Stoff, den sein Dichter nicht in jeder Beziehung begriffen hat, und setzt in seinem Kolorit die Zeit des Kreuzzuges Friedrichs II. voraus, ist also wohl zwischen 1230–50 entstanden[56]. Die Nibelungenstrophe ist hier dadurch variiert, daß sie in der zweiten Hälfte klingenden Ausgang erhalten hat; auch erscheint die Schlußzeile (aber nicht durchgängig) um eine Hebung verlängert. Sehr erschwert wird uns die Beurteilung der Geschichte dieses Gedichtes dadurch, daß es nur in einer ganz jungen Sammelhandschrift (derselben, die im Handschriftenschema der Nibelungen d heißt) erhalten ist; ihre Vorlage O (vgl. S. 107 u. 120) gehört, da sie doch wohl wesentlich dieselben Stücke wie d enthalten hat, erst der Anfangszeit des 14. Jahrhunderts an, steht also vom Ursprungstermin der Kudrun noch erheblich ab. Viele Hände dürfen wir uns an diesem Gedichte nicht tätig gewesen denken, da seine Bezeugung und Bekanntschaft in der gleichzeitigen Literatur sehr gering ist; doch ist wahrscheinlich, daß einmal ein Bearbeiter versucht hat, es durchweg mit Cäsurreimen zu schmücken; er ist indes mit seiner Arbeit nicht zum Ziele gelangt.
Etwa gleichaltrig der Kudrun ist ein Gedicht, das Ausgangspunkt für eine ganze Sippe von Epen geworden ist: die Geschichte von König Ortnid. In ihm wird die Nibelungenstrophe unverändert verwendet, doch ist meist die letzte Zeile um eine Hebung verkürzt, also den drei übrigen gleich gemacht; diese Erscheinung hat ihren Grund wohl darin, daß spätere Aussprache auch im Nibelungenliede manche vierhebige Schlußzeile bereits nur dreihebig wiederzugeben verstand, z. B.
Der Stoff des Ortnid ist der Sage von Ortnid und Wolfdietrich entnommen und ohne Wolfdietrichs Geschichte unvollständig; auch der Ortnid-Dichter hat die Absicht gehabt, einen Wolfdietrich folgen zu lassen, wie er im letzten Verse andeutet,[S. 117] aber er hat seine Absicht nicht ausgeführt, vermutlich weil er vorher starb. Zwei andre Männer haben, unabhängig voneinander, dem Ortnid einen Wolfdietrich angehängt; den einen bezeichnen wir als A, den andern als C. Außerdem existiert noch eine dritte, leider nur in schlechten Handschriften erhaltene Bearbeitung der Ortnid-Wolfdietrich-Sage: hier ist die Ortnid-Geschichte im Zusammenhange des Wolfdietrich erledigt und statt ihrer eine selbständige Vorgeschichte, die Erzählung von Wolfdietrichs Vater Hugdietrich, vorgeschoben; wir bezeichnen diese Textgestalt als B. Alle diese Dichtungen entstanden in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Zu Anfang des 14. hat ein Kompilator, der sich für Wolfram von Eschenbach ausgibt, die Texte B und C dergestalt zu einem großen Epos vereinigt, daß er mit Ortnids Brautfahrt beginnt, Hugdietrich folgen läßt und mit dem zu einem ungeheuerlichen Stoffsammler angewachsenen Wolfdietrich schließt; das ist der große Wolfdietrich (D), der bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, mehrfach modernisiert, sein Publikum gefunden und ergötzt hat. Für die Geschichte des Cäsurreims ist der Wolfdietrich D besonders lehrreich: der ursprüngliche Text verwendet sie planmäßig in schildernden Abschnitten, besonders wenn Kämpfe dargestellt werden; zwei neue Bearbeitungen aus dem 15. Jahrhundert aber verfahren anders: die eine, in derselben Handschrift bewahrt, die im Schema der Nibelungen k heißt, tilgt die Cäsurreime durchaus, die andre, im gedruckten Heldenbuch (vgl. nachher S. 118) vorliegende führt sie im Gegenteil durch das ganze Gedicht durch.
Eine nicht nur formell, sondern auch inhaltlich dem Nibelungenliede sehr nahestehende Dichtung ist die (in der gleichen modernisierten Strophenform abgefaßte) vom Rosengarten zu Worms, deren Stoff wir schon früher berührt haben. Sie ist in der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden und in fünf verschiedenen Fassungen auf uns gekommen: die inhaltlich altertümlichste, aber nicht mit dem Original identische bezeichnen wir mit A; die vier andern sind Erscheinungsformen ein und derselben Entwicklungsreihe, aus der nacheinander die Texte F, P und C sich abzweigen, und die in dem Anfang des 14. Jahrhunderts in der Straßburger Gegend abgeschlossenen Texte D gipfelt. Außerdem existieren mehrere jüngere Bearbeitungen.
Das (in kurzen Reimpaaren abgefaßte) Gedicht von König Laurin und seinem Rosengarten hat mit der Nibelungensage und[S. 118] ihrem Literaturkreise ursprünglich nichts zu tun; da es aber in seinen Motiven Verwandtschaft mit dem „Rosengarten zu Worms“ zeigt, ist es frühzeitig äußerlich mit diesem vereinigt worden: schon die Handschrift des Rosengartens P enthält auch den Laurin; in den Stufen C und D sind die beiden Gedichte im Titel zu einander in Beziehung gesetzt als der „große“ und der „kleine“ Rosengarten (letzterer ist der Laurin). Der Bearbeiter D schreibt das Werk dem nur aus dem sogenannten Wartburgkriege bekannten Heinrich von Ofterdingen zu[57].
Im 15. Jahrhundert entstand aus der Vereinigung des Großen Wolfdietrich mit den beiden Rosengärten (in der Fassung D) das sogenannte „Heldenbuch“; ihm wurde eine prosaische Vorrede beigegeben, die sich als der erste deutsche Versuch einer Übersicht der gesamten Heldensage darstellt, allerdings in äußerst ungeschickter Form. Der Verfasser dieser Vorrede läßt, vermutlich infolge Mißverständnisses, Siegfried im Rosengarten von Dietrich erschlagen werden und stellt den zweiten Teil der Nibelungensage als Folge dieses Geschehnisses hin: Kriemhilts Haß ist gegen Dietrich gewendet; trotzdem tötet sie schließlich eigenhändig ihre Brüder; es ist dem Sagensammler also nicht gelungen, seine Erzählung innerlich auszugleichen. Für uns aber ist besonders interessant, daß Kriemhilt in dieser Vorrede den Kampf ganz in derselben Weise, wie es in der Thidrikssaga geschieht, durch bewußte Opferung ihres Sohnes in Gang bringt. — Das Heldenbuch wurde von der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts an bis 1590 immer wieder gedruckt; als in mehreren Exemplaren gedruckt vorliegendes Werk hat es nicht wenig dazu beigetragen, daß im 18. Jahrhundert die Aufmerksamkeit der Gelehrten wieder auf unsere alten Sagenstoffe gelenkt wurde.
Der Strophenform des Nibelungenliedes bedient sich ferner noch das Epos von Alpharts Tod, uns nur in einer einzigen späten und lückenhaften Handschrift erhalten; es entstammt etwa der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts und behandelt einen Abschnitt der Dietrichsage.
[S. 119]
Formal abhängig vom Nibelungenliede dürfte auch das Gedicht von der Ravennaschlacht sein; es ist in einer eigentümlichen Strophe verfaßt, deren erste Hälfte annähernd eine halbe, auf den Cäsuren gereimte Nibelungenstrophe darstellt, während die zweite aus zwei mittellangen, cäsurlosen, klingend gereimten Versen besteht; ganz klar ist die ursprüngliche Form wegen starker Überarbeitung nicht erkennbar. Wie uns nämlich die Ravennaschlacht überliefert ist, entstammt sie erst dem Anfang des 14. Jahrhunderts und bildet den zweiten Teil zu dem in kurzen Reimpaaren verfaßten Gedichte von Dietrichs Ahnen und Flucht. Der Verfasser des ganzen Werkes nennt sich Heinrich der Vogler und ist ein Spielmann. Schon der Umstand, daß er im Verlaufe seiner Dichtung von der einfachen epischen Weise zu einer Strophenform übergeht, zeigt, daß er hier eine alte Grundlage überarbeitet. Für diese Grundlage besitzen wir noch zwei selbständige Zeugnisse: die betreffende Partie der Thidrikssaga, die sie inhaltlich wiedergibt, und einen deutlichen Hinweis in dem Gedichte „Meier Helmbrecht“ von Wernher dem Gärtner, das etwa um die Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden ist. Die Grundlage der Ravennaschlacht wird damit in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts festgehalten.
Das von uns früher (S. 65) besprochene Gedicht vom „Hürnen Seifried“, das uns nur in Drucken des 16. Jahrhunderts erhalten ist, gehört natürlich nach Inhalt und Form ebenfalls zu den durch das Nibelungenlied befruchteten Werken. Es geht auf eine verlorene ältere Dichtung zurück, aus der es augenscheinlich nur ausgezogen ist. Wir besitzen nämlich in dem Bruchstück m einer Nibelungenhandschrift einen Beweis für des „Hürnen Seifrid“ früheres und umfangreicheres Dasein: das Bruchstück ist nur ein Teil eines Verzeichnisses von Überschriften der Gesänge nebst Blattweiser, es genügt aber, um zu erkennen, daß der verlorene Text den „Hürnen Seifrid“ in das Lied hineingearbeitet hatte, und zwar sowohl die Jugendgeschichte wie den Drachenkampf; Kriemhilt wird in dem Augenblicke, da man sich zur Fahrt nach Island rüstet, vom Drachen entführt und demnächst von Siegfried befreit. Das Bruchstück ist um 1400 geschrieben und hält damit den ältern „Hürnen Seifrid“ im 14. Jahrhundert fest.
In den beiden nächsten Jahrhunderten ist die Verwendung der Nibelungenstrophe in jüngerer Form so häufig, daß ihr Auftreten[S. 120] nur noch einen ganz äußerlichen Zusammenhang mit dem Nibelungenliede bedeutet; es genügt für uns, die Entwicklung der Strophenform selbst kurz darzulegen: durchweg ist die vierte Zeile den drei ersten gleichgemacht; nach meistersingerischer Weise wird feste Silbenzahl beabsichtigt (vor der Cäsur sieben Silben klingend ausgehend, nach derselben sechs stumpf ausgehend); die Cäsuren sind konsequent entweder reimlos oder durchgereimt: in ersterem Falle heißt die Form „Hiltebrandston“ (ihn verwenden das modernisierte Nibelungenlied der Handschrift k und der Hürnen Seifrid), in letzterem Falle „Heunenweise“. Das Bewußtsein von der Besonderheit der Form, die durch gereimte Cäsuren bedingt wird, ist also völlig durchgedrungen.
Bis in das 15. Jahrhundert hinein bleibt das Interesse am Nibelungenliede lebhaft und wach; der Stoff wird sogar gelegentlich dem Zeitgeschmack angepaßt. So wird um 1400 in der Handschrift b an der Stelle, wo Dietrich die ankommenden Burgunden vor Kriemhilt warnt, eine Interpolation eingelegt, die erzählt, Kriemhilt habe Röhren, gefüllt mit Schwefel und Kohle (also Pulverminen), legen lassen, um die Burgunden im Nachtlager in die Luft zu sprengen. Im 15. Jahrhundert ist dann die ganze Dichtung neu überarbeitet und nach den Regeln der Meistersinger sprachlich behandelt worden; es ist dies der Text, der uns in der Handschrift k erhalten ist. Das Gedicht wird hier in seinen beiden Abschnitten betitelt „die erste Hochzeit Kriemhilts mit Siegfried“ und „die zweite Hochzeit Kriemhilts mit Etzel“.
Dann aber fängt das Interesse an zu erlöschen. Der letzte namhafte Mann, der zu unserm Liede in Beziehung steht, ist Kaiser Maximilian I., der letzte Ritter. Er hat das sog. Heldenbuch an der Etsch (offenbar eine ältere Sammelhandschrift, von der vermutlich O ein Rest ist) abschreiben lassen und dadurch in den Jahren 1502–1517 die noch erhaltene große Ambraser Sammelhandschrift geschaffen, die auch unser Lied enthält (d). Es ist die letzte Handschrift unseres Gedichtes. Gedruckt worden ist das Lied in alter Zeit nicht. Mit dem Augenblicke, da der Buchdruck durchgedrungen war, ist das Interesse an ihm erlahmt; warum, ist schwer zu ersehen; wahrscheinlich, weil der Geschmack des Liedes für die damalige Zeit auf der einen Seite zu ritterlich-vornehm, auf der andern aber wieder zu volkstümlich-einfach war; die einfachern Kreise mochten es seiner Vornehmheit wegen[S. 121] nicht, und die vornehmern hatten ihre Neigung bereits den neu auftretenden humanistischen Stoffen zugewendet. Wir finden nun an Stelle des Liedes im 16. Jahrhundert nur das gedruckte, wenig wertvolle Gedicht vom „Hürnen Seifrid“, das bis 1611 immer wieder aufgelegt wurde, das sich aber nur an ein untergeordnetes Publikum wendet. Bezeichnend ist die ebengenannte Jahreszahl 1611: sieben Jahre vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges! Von da an sind die älteren Dichtungen nicht mehr beachtet, also auch nicht mehr aufgelegt worden, sondern in Vergessenheit geraten. Ja, sogar die Erinnerung an die alte Sage, die doch in Oberdeutschland, wenigstens was die Dietrichsage angeht, ganz lebendig im Volke haftete, ist im Dreißigjährigen Kriege völlig erloschen. Nur in einer ganz verzerrten Form hat die Nibelungensage diese Zeit überdauert: im sog. Volksbuch vom gehörnten Siegfried. Der erste erhaltene Druck dieses Buches stammt aus dem Jahre 1726; der Text selbst ist vielleicht noch etwas älter. Er ist in ganz rohem Geschmack hergestellt: auf der einen Seite ist er äußerlich in die Höhe geschraubt durch Einführung fremdklingender Namen, lateinischer Endungen u. dgl. (so heißt Gibich jetzt Gibaldus, Kriemhilt Florigunda); auf der andern Seite wieder sind komische Szenen eingelegt, Narrenstreiche und ähnliche höchst unbedeutende kleine Episoden. Im großen und ganzen ist das Volksbuch weiter nichts als eine Umarbeitung des „Hürnen Seifrid“. Es ist dann immer wieder aufgelegt worden bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts hinein, ohne daß die bessern Kreise sich um dasselbe irgendwie gekümmert hätten. Auf dem Titel steht zu lesen: „Gedruckt in diesem Jahr“; so wird dem ungebildeten Leser weisgemacht, daß er das Neueste vom Jahre in der Hand habe. Die Behörden haben nicht nur den Gehörnten Siegfried, sondern auch alle andern Volksbücher öfter verboten. Man begreift ihr Vorgehen, wenn man auf den ungeläuterten Geschmack achtet, der in diesen Büchern waltet: sie stehen ungefähr auf der Stufe der modernen Hintertreppenromane. Aber die „albernen Dinge“ (wie die einschreitenden Behörden die Volksbücher nannten) waren manchen Leuten noch nicht albern genug; so konnte es geschehen, daß das Volksbuch vom gehörnten Siegfried zweimal noch weiter heruntergezogen wurde: 1783 verbreiterte es ein Dr. Kindleben zu einem zweibändigen Volksroman von mehr als 550 Seiten, und noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts erschien eine Neubearbeitung unter folgendem bezeichnenden[S. 122] Titel: „Siegfried und Florigunde. Oder: durch Gefahren wird die Tugend gestärkt, und die Ausdauer in derselben belohnt. Eine mährchenhafte Historie von den Abenteuern, welche Siegfried der Ungehörnte wegen der schönen Florigunde bestanden hat. Erster Teil. Ganz umgearbeitet, neu aufgelegt und in ein heilsames Lesebuch verwandelt.“ Sapienti sat. Vor dem angekündigten zweiten Teile scheint das Publikum bewahrt geblieben zu sein. Das Buch blieb der letzte direkte Ausläufer des alten Stoffes; mit dem inzwischen bereits eingeleiteten Wiedererwecken desselben hat es keinen Zusammenhang.
[S. 123]
Der erste, der dafür tätig gewesen ist, daß wir wieder Geschmack und Interesse für unsere ältere Literatur bekommen haben, und der deshalb nicht vergessen werden darf, obgleich ihn seine jüngern Zeitgenossen (im allgemeinen unverdienter Weise) viel geschmäht und dadurch fast der Vergessenheit überliefert haben, ist Gottsched. Er hat 1752 dem Heldenbuch und dem Hürnen Seifrid gelehrte Beachtung geschenkt; vom Nibelungenliede weiß er noch nichts. Das lag damals noch für Gelehrte und Ungelehrte im Staube der alten Bibliotheken vergraben. Erst drei Jahre nach dieser ersten Betätigung Gottscheds auf dem Gebiete unserer alten Literatur entdeckte ein junger Mediziner, Namens Obereit, bei einem Besuche des Schlosses Hohenems in Vorarlberg 1755 am 29. Juni die von uns jetzt mit C bezeichnete Handschrift des Nibelungenliedes, und von diesem Augenblicke an ist das Gedicht neu belebt, denn durch Obereit ward Bodmer, der Führer der Schweizer im Streite wider Gottsched, bekannt mit der Handschrift und gab einen Teil von ihr heraus: 1757 ließ er den zweiten Teil des Liedes samt der Klage von einem zufälligen Punkte an, nämlich vom Wiedereinsetzen des Textes nach der letzten Lücke von C (Str. 1682 Holtzmann) an, abdrucken. Den fehlenden Eingang hat er durch eine eigene mittelhochdeutsche Reimerei ersetzt, die ihm natürlich mißglückt ist. Die Ausgabe trägt den Titel: „Chriemhilden Rache, und die Klage; zwey Heldengedichte aus dem schwäbischen Zeitpuncte“. Viel Erfolg hat sie freilich nicht gehabt, obgleich Bodmer selbst noch für die erste neuhochdeutsche Bearbeitung gesorgt hat: im Jahre 1767, also zehn Jahre später, veröffentlichte er unter dem Titel „Die Rache[S. 124] der Schwester“ eine Übertragung des mittelhochdeutschen Textes seiner Ausgabe in deutsche, wenig glücklich gebaute Hexameter. Wenn auch damit nicht allzuviel für das Lied geschehen war, so war doch ein Schritt getan, auf dem weiter gebaut werden konnte; das Interesse war geweckt. Nach kaum einem Menschenalter ist ein jüngerer Gelehrter, ein Schüler Bodmers, Myller, in der Lage, nicht bloß das Nibelungenlied, und zwar vollständig, sondern eine größere Anzahl von Gedichten aus dem deutschen Mittelalter in einer Sammlung herausgeben zu können, auf die bereits hervorragende Personen subskribieren, und die sich sogar an die höchsten Stellen wendet: Myller erbat und erhielt noch 1780 von König Friedrich II. von Preußen die Erlaubnis, ihm das Sammelwerk zueignen zu dürfen. Im Jahre 1782 erschien daher als erstes Stück der Myllerschen Sammlung die erste vollständige Ausgabe: „Der Nibelungen Liet, ein Rittergedicht aus dem XIII. oder XIV. Jahrhundert. Zum ersten Male aus der Handschrift ganz abgedruckt“. Myller legte Bodmers Ausgabe zugrunde und fügte den ersten Teil aus einer Bodmer gehörigen Abschrift hinzu; als Bodmer sich seinerzeit diese Ergänzung zu seinem Texte aus Hohenems verschaffte, war aber ein Irrtum untergelaufen: in Hohenems lagen ja zwei Handschriften, nämlich außer C, auf der Bodmers Ausgabe beruht, noch A; letztere wurde zufälligerweise zur Ergänzung benutzt, und so stellt sich die erste vollständige Nibelungen-Ausgabe in ähnlicher Art als Mischtext dar, wie es um 1300 mit der Gruppe Db und um 1450 mit der Bearbeitung k der Fall war. Daß die Handschriften C und A im Texte ziemlich weit voneinander abstehen, konnte man um 1780 noch nicht beurteilen. Das Werk war, wie gesagt, keinem Geringern gewidmet als Friedrich dem Großen, und ihm natürlich auch ein Exemplar übersandt worden. Dafür hat sich der König in einem höchst charakteristischen und eigentümlichen Briefe bedankt, aus dem hervorgeht, daß damals die Zeit des Verständnisses für unsere ältere Literatur noch nicht gekommen war, am allerwenigsten Friedrich dem Großen, der ja nicht einmal an der eben neuerblühten deutschen Literatur irgendwelchen Anteil nahm. Der Brief lautet:
Hochgelahrter, lieber getreuer.
Ihr urtheilt, viel zu vortheilhafft, von denen Gedichten, aus dem 12., 13. und 14. Seculo, deren Druck Ihr befördert[S. 125] habet, und zur Bereicherung der Teutschen Sprache so brauchbar haltet. Meiner Einsicht nach, sind solche, nicht einen Schuß Pulver, werth; und verdienten nicht aus dem Staube der Vergessenheit, gezogen zu werden. In meiner Bücher-Sammlung wenigstens, würde Ich, dergleichen elendes Zeug, nicht dulten; sondern herausschmeißen. Das Mir davon eingesandte Exemplar mag dahero sein Schicksal, in der dortigen großen Bibliothec, abwarten. Viele Nachfrage verspricht aber solchem nicht, Euer sonst gnädiger König
Potsdam, d. 22. Februar 1784. Frch.
Der Brief wird auf der Züricher Bibliothek unter Glas und Rahmen aufbewahrt. Er ist geschrieben nach Vollendung des ersten Bandes der Sammlung, der außer den Nibelungen noch die Eneit, den Parzival und den Armen Heinrich enthält, bezieht sich also nicht ausschließlich auf unser großes Epos (der König spricht ja auch von „denen Gedichten“); man hat deshalb neuerdings geglaubt, die Nibelungen von des Königs hartem Urteil entlasten zu dürfen. Allein das ist vergebliches Bemühen: sie gehören eben gleich als erstes mit zu „denen Gedichten“, und es wäre sehr merkwürdig, wenn Friedrich bei seiner, wenn auch einseitigen, doch offenbar ehrlichen Kenntnisnahme gerade am ersten Stücke vorübergegangen wäre. Vom Standpunkte des Königs Friedrich ist diese Mißachtung unsers Gedichts wohl zu verstehen, denn wir müssen erst von seinen Anschauungen hinweg über Goethe bis in die Romantik hinein, ehe wir wirklich Interesse und Geschmack für unsere alte Vergangenheit erwarten dürfen.
Wichtig für die weitere Entwicklung unserer Kenntnis des alten Liedes sind die Vorlesungen, die August Wilhelm Schlegel in den Jahren 1802 und 1803 in Berlin gehalten hat. Diese Vorlesungen sind zwar nicht gedruckt worden, allein es wohnte ihnen ein Mann bei, der dann sein ganzes Leben der Germanistik und in erster Linie dem Nibelungenliede gewidmet hat, Friedrich Heinrich von der Hagen. Er hat zuerst im Jahre 1807 den Versuch gemacht, eine Erneuung des Liedes zu schaffen, d. h. die alte Sprachform der neuhochdeutschen im äußern Gewande, der Orthographie, vielleicht auch in der Wortwahl, so weit anzunähern, daß man den alten Text zur Not mit Verständnis lesen[S. 126] konnte. Diese Erneuung ist nun freilich noch keine Übersetzung; ohne Wörterbuch kommt Hagen noch nicht aus; sie bedeutet aber einen gewaltigen Schritt vorwärts, auch insofern, als hier zum ersten Male die strophische Form der alten Dichtung erkannt war. 1810 ließ Hagen seine erste Ausgabe des alten Textes erscheinen; freilich bot sie (und ebenso die bald darauf geschaffene, eingangs erwähnte Zeunesche) noch die Myllersche Handschriftenmischung. Doch bald darauf erkannte Hagen den bisher obwaltenden Irrtum, und in der zweiten, 1816 erschienen Auflage seiner Ausgabe hat er die St. Galler Handschrift (B) zugrunde gelegt und so zum ersten Male einen authentischen Text dargeboten. In seinem langen, bis 1856 währenden Leben hat er am Liede immer weiter gearbeitet.
Die erste kritische Ausgabe unseres Gedichtes lieferte 1826 Karl Lachmann; er legte den von der Hohenems-Münchner Handschrift A gebotenen Text zugrunde, weil er ihn, als den kürzesten, auch für den ältesten hielt; alle übrigen Handschriften enthielten nach seiner Meinung nur Überarbeitungen, also B sollte auf Grund von A, C auf Grund von B entstanden sein usw. Mit seiner Anschauung vom Werte der überlieferten Texte verband Lachmann seine Theorie vom Ursprunge des Gedichtes, die er bereits 1816 in seiner Schrift „Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth“ dargelegt hatte und 1836 unter dem Titel „Zu den Nibelungen und zur Klage: Anmerkungen“ im einzelnen ausführte. Er nahm an, daß der Text nichts weiter sei, als die Überarbeitung einer Sammlung von zwanzig an sich selbständigen Liedern, die im allgemeinen inhaltlich eins auf das andere folgten und, wenn nötig, durch eingelegte Zwischenstücke verbunden worden wären; auch glaubte er, diese Lieder noch in allen Einzelheiten wiederherstellen zu können. Er stützte sich bei seiner Arbeit auf das häufige Wechseln des Tones, das er allerdings, wie man zugestehen muß, mit großer Sicherheit herausempfunden hat, sowie auf das Vorhandensein mehrerer Widersprüche. Von letzteren sind zwei (der bei der Verwechslung von Treisenmûre und Zeizenmûre obwaltende und derjenige, der Dankwarts Lebensalter betrifft) bereits vorhin (S. 105 und 85) erörtert worden; ein dritter besteht darin, daß Günther in Str. 911 (Bartsch) die Jagd, auf der Siegfried ermordet werden soll, im Wasgenwalde ansetzt, während sie doch dann, von Worms aus gerechnet, jenseits des Rheines stattfindet; er erledigt sich[S. 127] nach unserer vorhin vorgetragenen Anschauung als einfacher Schreibfehler der Grundhandschrift der Not-Gruppe. — Ferner war Lachmann, als er sich dem Nibelungenliede zuwandte, beeinflußt von der Homerkritik Friedrich August Wolfs; er glaubte dessen für das griechische Altertum gültige Anschauungen auf das deutsche Mittelalter übertragen zu dürfen; daß dies nicht angängig ist, bedarf heute wohl kaum einer Widerlegung. Immerhin gewährt die Liedertheorie stellenweise die einzige Möglichkeit, Fragen, die der überlieferte Text dem gelehrten Kritiker stellt, zu lösen, und wir haben sie selbst, wenn auch in bescheidenem Umfange, bei der Untersuchung des Stoffes angewendet; es ist nur keineswegs angängig, eine Lösung auf dem Wege anzustreben, daß man nebeneinander liegende Stücke einfach wie mit einem Scherenschnitte voneinander trennt; übereinander liegen die Schichten, die die lange Entwicklung des Stoffes abgesetzt hat, nicht nebeneinander.
Bei der Abgrenzung der echten und unechten Teile im einzelnen hat sich Lachmann von der Vorstellung leiten lassen, daß jedes „echte“ Lied aus einer Anzahl von Strophen bestehe, die durch sieben teilbar sein müsse. Er hat sich darüber nicht geäußert; erst kurz nach seinem 1851 erfolgten Tode erkannte Jakob Grimm dies merkwürdige Verhältnis. Lachmanns unbedingte Anhänger versuchten auch die Geltung der Siebenzahl zu erhärten, doch ohne irgendwelche schlagenden Gründe.
Nachdem die Meinung, daß der echte Nibelungentext allein in der Handschrift A vorliege, ein Menschenalter hindurch unbedingt geherrscht hatte, traten im Jahre 1854 kurz nacheinander zwei Gelehrte mit der Ansicht hervor, daß der echte Text vielmehr durch die Hohenems-Laßbergische Handschrift C, als die vollständigste und inhaltlich am besten abgerundete von allen, repräsentiert werde, B aber und gar erst A verkürzende Bearbeitungen des in C vorliegenden Originales seien; es waren Adolf Holtzmann („Untersuchungen über das Nibelungenlied“) und Friedrich Zarncke („Zur Nibelungenfrage“); sie verwarfen natürlich auch die Liedertheorie und behaupteten einheitliche Konzeption des Gedichtes. Ihr Auftreten war das Zeichen zum Ausbruche eines heftigen, mit großer Hitze geführten Gelehrtenstreites; er ist begreiflich, denn während Lachmann von dem kürzesten und schlechtesten Texte ausgegangen war, verfielen Holtzmann und Zarncke in das entgegengesetzte Extrem, indem sie den längsten, zweifellos[S. 128] interpolierten Text zugrunde legten (auch in ihren, zuerst 1857, bez. 1856 erschienenen Ausgaben).
Einen vermittelnden Standpunkt nahm zuerst Karl Bartsch ein; nachdem er ihn bereits 1862 auf einer Philologenversammlung geltend gemacht hatte, legte er ihn im einzelnen dar in seinen 1865 erschienenen „Untersuchungen über das Nibelungenlied“. Nach seiner Meinung ist der Originaltext verloren; wir besitzen nur zwei zu Ende des 12. Jahrhunderts entstandene und im wesentlichen durch die Handschriften B und C repräsentierte Überarbeitungen desselben; diese Überarbeitungen sollen durch den Umstand veranlaßt sein, daß das Original in seiner Reimtechnik noch ziemlich unvollkommen gewesen sei; die fortgeschrittenere Kunst des ausgehenden 12. Jahrhunderts habe reinere Reime verlangt und dadurch zwei Männer, die voneinander nichts wußten, bewogen, das Original im wesentlichen reimbessernd zu überarbeiten.
Bartschs Theorie hat sich viel Anhänger erworben, besonders in der Anschauung, daß die Handschrift B zwar nicht das Original, wohl aber einen diesem sehr nahestehenden Text biete; dagegen hat die Meinung, daß Reimungenauigkeit die Ursache der doppelten Überarbeitung sei, fortgesetzt an Boden verloren, weil 1) die große Mehrzahl aller Reime beiden Bearbeitungen eigen ist, also aus dem Original stammt, aber auch ohne Tadel ist, und 2) Bartsch so verfährt, als ob jede Abweichung der beiden Texte voneinander lediglich durch ungenauen Reim des Originals veranlaßt sein könnte. In dieser Beziehung ist Bartschs Theorie durch Hermann Paul („Zur Nibelungenfrage“, 1876) wesentlich modifiziert worden; er gibt zwar zu, daß B und C Paralleltexte sind, die auf ein verlorenes Original zurückweisen, lehnt aber die Begründung der Abweichungen auf Reimungenauigkeiten des Originals ab.
Wesentlich gefördert, besonders in bezug auf die Bestimmung aller einzelnen Handschriften, ist neuerdings unsere Kenntnis worden durch die schon erwähnte Schrift von Wilhelm Braune „Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes“ (1900); auch ihm sind B und C im wesentlichen Paralleltexte, doch steht nach seiner Meinung B dem Original so nahe, daß es für dasselbe gelten kann; C dagegen ist für Braune eine allmählich entstehende planmäßige Überarbeitung: ihr Autor soll längere Zeit an ihr tätig gewesen sein, die erste Stufe seiner Arbeit in d und ihren nächsten Verwandten, die zweite desgleichen in I und die vollendete erst in[S. 129] C uns vorliegen; es ist die vorhin eingehend erörterte, schwierig zu beurteilende Handschriftengruppe Id, die Braune zu dieser immerhin seltsamen Anschauung veranlaßt hat. Wie diese Gruppe auch einzuordnen sein mag, jedenfalls steht heutzutage fest, daß B dem Originale des Gedichtes am nächsten steht, daß C stark überarbeitet ist, und daß A auf irgendwelchen selbständigen Wert keinerlei Anspruch machen kann; alles übrige mag immer noch nach subjektivem Empfinden beurteilt werden.
Es konnte an dieser Stelle nicht meine Aufgabe sein, alle Arbeiten zu erwähnen, die unsere Kenntnis von Nibelungenlied und Nibelungensage gefördert haben; nur die Marksteine der Entwicklung unserer Kenntnis sollten hervorgehoben werden, und das ist geschehen, soweit die wissenschaftliche Seite in Frage kommt; nicht geringer aber ist das Verdienst derjenigen, die in erster Linie dahin gewirkt haben, die alte Dichtung unserm Volke wieder näher zu bringen, der Übersetzer und der modernen Bearbeiter. Von jenen erwähne ich nur Karl Simrock, der seine Übersetzung bereits 1827 erscheinen ließ; heute (1906) liegt sie in 58. Auflage vor; sie ist diejenige, die sich am treuesten von allen dem Original anschmiegt, und deshalb besonders geeignet zur ersten Einführung in das Verständnis des alten Gedichtes. Daher habe ich sie 1909 für Meyers Klassiker-Ausgaben neu herausgegeben, sowie mit einer Einleitung und den Text Schritt für Schritt begleitenden Anmerkungen versehen.
[S. 130]
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat eine ganze Reihe von Dichtern ihre Stoffe aus dem alten Liede und aus den verwandten Gebieten entnommen; in moderner, freier Weise sind sie unter Bewahrung ihrer dichterischen Selbständigkeit auf Grund der alten Sage dichterisch wirksam gewesen; sie alle hier aufzuzählen und durchzusprechen, wäre ganz unmöglich; nur die drei bedeutendsten, Richard Wagner, Friedrich Hebbel und Wilhelm Jordan, sollen erwähnt und gewürdigt werden. In der Reihenfolge wie sie eben genannt sind, haben sie ihre Texte verfaßt, aber ihre Wirkung hat sich in ganz anderer Folge geltend gemacht. Wagner war unter ihnen der erste, der sich als moderner Dichter des alten Stoffes bemächtigte. Er hat sein dramatisches Gedicht „der Ring des Nibelungen“ im Jahre 1853 vollendet, in der Zeit seines Aufenthaltes in Zürich, als er infolge seiner Beteiligung an der Dresdener Revolution in der Verbannung lebte. In Zürich stand er in Beziehung zu den Gelehrten der Universität, besonders dem Germanisten Ludwig Ettmüller; man erkennt aus der Art, wie Wagner den Stoff angreift, sehr deutlich den damaligen Stand der Wissenschaft, insbesondere der Sagenforschung. Wagner ist durchaus von ihm abhängig, ein Umstand, aus dem man Wagner natürlich keinen Vorwurf machen kann. Eher kann man ihm vorwerfen, daß er (obgleich er als Dichter das Recht dazu hat) gar so willkürlich mit dem Stoffe umspringt. Er hat die Erzählung auf der einen Seite nur bis Siegfrieds Tod durchgeführt, so daß der ganze grandiose zweite Teil vollständig wegfällt; auf der andern Seite hat er die Geschichte der Siegfriedsage, verführt durch die damalige Anschauung der Mythenforscher, in die Göttersage hinaufgehoben.
[S. 131]
Sein Werk besteht aus vier Teilen: Dem Vorspiel „Rheingold“ und den drei Teilen der Trilogie „Walküre“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. — Im „Rheingold“ schildert Wagner im Anschluß an die Darstellung der Edda, aber unter ganz freier Umgestaltung dieser Geschichte, die Herkunft des Ringes. Dieser Ring ist das wesentlichste Stück des Hortes, denn er kann den Hort immer neu gebären; solange der Ring existiert, wird der Hort nicht kleiner. „Der Ring des Nibelungen“ heißt Wagners Gedicht. Der Nibelunge, den der Titel meint, ist der ursprüngliche Besitzer des Rings. Im „Rheingold“ also wird erzählt, wie diesem ursprünglichen Besitzer, der ein Abbild des Zwerges Andvari der Edda ist, der Hort entrissen wird.
In der „Walküre“ wird entwickelt, wie die Walküre Brynhild dazu kommt, sich Wodans Willen zu widersetzen, so daß sie vom Gotte bestraft und in Schlaf versenkt wird; diese von uns als jüngste Fassung charakterisierte Form der Brynhild-Geschichte hat Wagner als Grundlage gewählt, weil der Gott hier tätig eingreift; Wagner geht von der Voraussetzung aus, daß die Beziehungen der Nibelungensage zu den Göttern alt seien; ja, er hat die Entwicklung der Nibelungengeschichte direkt als einen Teil der Entwicklung der Göttergeschichte hingestellt.
Im zweiten Hauptteile „Siegfried“ wird dann geschildert, wie der junge Siegfried aufwächst, den Drachen tötet und die Walküre befreit.
Im dritten Teile sehen wir ihn zunächst die Walküre verlassen und dann plötzlich in die Gewalt der Gegner verfallen, die dargestellt werden als echte Nibelungen, als Angehörige des ursprünglichen Besitzers des Ringes. „Götterdämmerung“ heißt dieser letzte Teil, weil mit dem Untergange Siegfrieds der Untergang der alten Götterwelt nach Wagners Auffassung besiegelt ist; unter „Götterdämmerung“ versteht man infolge eines seltsamen Irrtums die Eschatologie der Nordgermanen. Ursprünglich lautet das Wort, das man sich mit „Götterdämmerung“ wiederzugeben gewöhnt hat, ragna rok, d. i. Götterschicksal, also ein ganz passender Ausdruck für das, was man sich in der spätnordischen Zeit kurz vor Einführung des Christentums als Entwicklung der Götterwelt dachte; später mißverstand man ihn, weil man nicht mehr ragna rok las, sondern ragna rökkr, d. i. Götterverfinsterung; diesen an sich kaum verständlichen Ausdruck hat man im Deutschen mit „Götterdämmerung“ wiedergegeben;[S. 132] so hat dies Wort den Sinn von „Weltuntergang“ erlangt.
Was das Formale bei Wagner angeht, so hat er seine Dichtung in stabreimenden Versen abgefaßt, und zwar wechselt er nach Belieben, aber geleitet von einem bestimmten rhythmischen Gefühl zwischen zwei- und dreihebigen stabreimenden Versen ab. Daß er in der Behandlung der einmal gewählten Form glücklich gewesen ist, kann man nicht behaupten. Gewiß würde Wagners Dichtung schwerlich irgendwelchen Einfluß erlangt haben, wenn Wagner nur Dichter, nicht auch der große Komponist gewesen wäre. Aber die Komposition des Ringes ist erst mehr als 20 Jahre später bekannt geworden: zum ersten Male wurde sie in Baireuth im August 1876 vorgeführt. Mit dieser seiner so wirkungsvollen Komposition hat Wagner allerdings für die Wiederbelebung des Interesses an der alten Sage das Höchste beigetragen, durch sein großes Tonwerk hat er für sie wohl am allertiefsten und mächtigsten gewirkt. Um so mehr darf man bedauern, daß er, unbeschadet wundervoller Einzeldarstellung (besonders im Siegfried), dem Geiste der alten Sage so wenig gerecht geworden ist.
Der nächste, der sich an den alten Stoff gewagt hat, ist Hebbel. Er ließ im Jahre 1862 die große Dichtung „Die Nibelungen“ erscheinen, abermals ein Drama; es umfaßt ein Vorspiel „Der gehörnte Siegfried“ und zwei fünfaktige Trauerspiele „Siegfrieds Tod“ und „Kriemhilds Rache“. „Siegfrieds Tod“ entspricht im wesentlichen dem ersten, „Kriemhilds Rache“ im wesentlichen dem zweiten Teile unseres Nibelungenliedes. Im Vorspiel „Der gehörnte Siegfried“ wird nur geschildert, durchaus im Anschluß an unser Lied, wie Siegfried in Worms erscheint und aufgenommen wird. Der Titel „Der gehörnte Siegfried“ ist von Hebbel natürlich unter dem Einfluß des Volksbuches gewählt. Hebbels Form ist die seit den Zeiten unserer Klassiker im Drama übliche, der fünfhebige Blankvers. Inhaltlich schließt sich Hebbel so genau wie nur irgend möglich an unser Nibelungenlied an, und man kann nicht genug die Kunst bewundern, mit der er es versteht, diesen doch manchmal recht spröden Stoff aus dem Epischen ins Dramatische umzusetzen und damit notwendigerweise die vielen Anstöße, die sich bei der Betrachtung des Liedes aufdrängen, zu umgehen oder zu beseitigen. Mit virtuoser Kunst hat Hebbel das durchgeführt, und seine Arbeit[S. 133] dürfte unter den hier zu besprechenden bei weitem am besten gelungen sein. Vor allen Dingen ist er möglichst treu, nimmt den Stoff, wie er gegeben ist, und tut nicht allzuviel Eigenes hinzu. Das Hinzufügen neuer Gedanken soll damit natürlich nicht allgemein verurteilt werden, allein es bringt bei der Behandlung alter Stoffe doch die Gefahr mit sich, daß es von der Grundlage fühlbar absteht und den Eindruck von grellen Mißtönen hervorruft. Mit feiner Empfindung ist Hebbel daher im Hineinbringen neuer, eigener Gedanken sehr sparsam verfahren; eigentlich hat er nur zwei selbständige Zutaten gebracht: die eine besteht in der Art, wie er Brünhilt zur Zeit, da sie als Mädchen in Island lebt, auffaßt; ihr wird eine alte Magd, namens Fricka, an die Seite gestellt, die sie erzogen hat und gewissermaßen die alte Zeit, das alte Heidentum, repräsentiert; Brünhilts Person wird hauptsächlich durch das Hinzufügen dieser Fricka in eine übernatürliche, göttliche Sphäre hinaufgehoben. Die andre Zutat liegt in der am Schlusse der ganzen Dichtung erst deutlicher hervortretenden Auffassung Dietrichs von Bern. Auf welche Weise Dietrich an den Hof des Hunnenkönigs gekommen ist, läßt Hebbel einigermaßen im unklaren; er behauptet, Dietrich sei freiwillig, ohne durch irgendwelche äußern Umstände genötigt zu sein, an den Hof Etzels gekommen unter dem Einfluß gewisser übernatürlicher, mythischer Gewalten. Dietrich selbst erzählt einmal, wie er in einem Brunnen die Stimmen der Unterirdischen belauscht habe; damit wird sein Entschluß begründet, freiwillig in die Dienste eines andern Königs zu treten, obgleich er selbst ein König und dem erwählten Herrn mindestens ebenbürtig ist. Dietrich vertritt bei Hebbel die neue Zeit. Er verwaltet in der großen Tragödie ein göttliches Richteramt und spricht das Schlußwort:
Dietrich ist also bei Hebbel der Vertreter des Christentums, wie andrerseits Brünhilt die Vertreterin des germanischen Heidentums ist. Diese beiden Pole stellt der Dichter einander gegenüber, und als Übergang und Verbindung beider denkt er sich die Ereignisse unseres Liedes.
Das ist im wesentlichen alles, was Hebbel aus Eigenem zu dem sonst treu bewahrten Inhalt des Liedes hinzugetan hat; man empfindet leicht, daß dies Wenige schon über das eigentliche[S. 134] innere Wesen der alten Sage hinausgeht; auch Hebbel ist in seinen Zutaten nicht glücklich gewesen, wenn er auch nicht so weit, wie vor ihm Wagner und nach ihm Jordan, von der alten Sage abgewichen ist. Hebbels Werk wird erst neuerdings anerkannt, doch noch lange nicht genug gewürdigt; sicher ist er derjenige, der einerseits den alten Stoff sich am innigsten zu eigen gemacht und andrerseits mit der größten dramatischen Kunst zur Darstellung gebracht hat. In der Zeit, da die „Nibelungen“ erschienen, stießen sie auf Unverstand und Übelwollen; es erschien eine (übrigens gar nicht so üble) Parodie des Hebbelschen Werkes unter dem Titel „Die Niegelungnen“, wenn ich nicht irre, aus der Feder des Humoristen Glasbrenner, der sich Brennglas nannte.[58] Immerhin — auch in der Verspottung liegt ein Maß von Anerkennung; Wertloses lohnt die Mühe des Parodierens nicht; und in diesem Sinne der (vielleicht unbeabsichtigten) Anerkennung können wir Glasbrenners Scherze wohl gelten lassen.
Der dritte namhafte moderne Bearbeiter unserer alten Sage ist Wilhelm Jordan. Er hat im Anschluß an Homer und unter dem bewußten Bestreben, ein deutscher Homer zu werden, die alte Sage behandelt; schon in der äußern Form seiner Dichtung „Die Nibelunge“ erkennt man dies Streben. Während Wagner und Hebbel Dramatiker sind, ist Jordan Epiker. Er gliedert seinen Stoff in zwei umfangreiche Epen, „Sigfridsage“ und „Hildebrands Heimkehr“ betitelt. Jedes dieser Epen umfaßt 24 Gesänge, genau nach dem Vorbilde der Einteilung Homers. Die gewählte Form ist ein freifließender Vers, stichisch wie der Hexameter des griechischen Vorbildes; mit großem Geschick hat Jordan nicht den für das deutsche Epos doch so fremdartig anmutenden, wenig geeigneten Hexameter gewählt, sondern den altgermanischen stabreimenden Vers nachzubilden gesucht.
Die Anlehnung an Homer ist, wie gesagt, bei Jordan bewußt; ist er doch sogar als Rhapsode, als wandernder Sänger in Deutschland und Amerika herumgezogen und hat seine eigenen Dichtungen vorgetragen. Und gerade sprachlich sind sie von wunderbarer Schönheit; wenig eignet sich so zum Vorlesen, wie Jordans „Nibelunge“ wegen der reinen Musik ihrer Sprache.
[S. 135]
Was den Inhalt angeht, so hat sich Jordan in der Sigfridsage im wesentlichen an den alten Stoff gehalten, und zwar in ziemlich menschlicher Auffassung der alten Erzählung. Insofern ist er also der alten Sage wohl gerecht geworden. Selbstverständlich behandelt er in dem Gedichte „Sigfridsage“ nur ihren ersten Teil. Den zweiten hat er als Episode in sein zweites Epos, „Hildebrands Heimkehr“, verwiesen; in diesem hat er sich freilich hinreißen lassen, sehr viel aus Eigenem hinzuzutun; der ganze Rahmen von „Hildebrands Heimkehr“ ist Jordansches Eigentum, die alte Sage ist ganz frei behandelt, sogar mit Ausblicken auf modernste Geschichte, und so geht denn „Hildebrands Heimkehr“ weit über den Inhalt unserer Nibelungensage hinaus. — Die Dichtungen Jordans sind erschienen: „Sigfridsage“ 1867 und 68, „Hildebrands Heimkehr“ 1874.
In der Art, wie Jordan den altgermanischen Vers auf die heutige Sprachform anwendet, beweist er großes formales Geschick: jeder Vers hat bei ihm vier Hebungen, die durch ein- bis zweisilbige Senkungen getrennt sind, und ist in der Mitte durch einen Einschnitt gegliedert. Der Stabreim verbindet (in der Regel) mindestens je eine Hebung vor und nach dem Einschnitt miteinander; doch weicht Jordan vom Gesetz des altgermanischen Verses insofern ab, als er nicht mehr die dritte Hebung (d. i. die erste der zweiten Vershälfte) unter allen Umständen mit Stabreim versieht, für den Schmuck des Verses also nicht mehr maßgebend sein läßt; zu dieser Abweichung berechtigt Jordan die Entwicklung unserer Sprache: altgermanische Syntax stellt bei Verbindung zweier Nomina das höher betonte unbedingt voran; eben dies aber mußte und muß den Stabreim tragen, soll er hörbar sein; wir ordnen heute die Wortfolge in der Regel umgekehrt, stellen also z. B. auch ein wenig wichtiges Adjektiv vor das zugehörige Substantiv; davon ist die notwendige Folge, daß bei ungezwungenem Bau stabreimender Verse viel eher die vierte Hebung wichtig wird als die dritte. Um einen Begriff von Jordans Weise zu geben, setze ich den Eingang des ersten Gesanges der „Sigfridsage“ hierher:
Von diesen neun Versen sind drei (3., 6., 7.) dreistäbig mit nach alter Weise herrschender dritter Hebung, drei (1., 2., 4.) dreistäbig mit herrschender vierter Hebung. Zwei (8., 9.) haben doppelten Stabreim, insofern als in ihnen die erste Hebung mit der dritten (bzw. vierten), die zweite mit der vierten (bzw. dritten) gebunden ist; solch doppelter Stabreim kommt auch in der alten Zeit vor, doch immer so, daß gleichhochbetonte Silben gleichen Anlaut aufweisen; der Stabreim der minder betonten erscheint als etwas Nebensächliches und Zufälliges; nach diesem Gesichtspunkte müßte Jordan zunächst in Vers 8 die zweite Hebung mit der dritten, in Vers 9 die erste Hebung mit der dritten gebunden haben; die Verse sind also falsch gebaut, ihr Reim würde bei richtigem Vortrage ohne jede Wirkung sein. Falsch gebaut ist zweifellos auch Vers 5, dessen beide Hälften nur in sich reimen, also auseinander klaffen.
Wagner, Hebbel und Jordan sind die bedeutendsten modernen Bearbeiter der Nibelungensage; von ihnen steht, was die glücklichste Auffassung der alten Sage, das tiefste Eindringen in ihren Geist angeht, zweifellos Hebbel an erster, Wagner an letzter Stelle. Allein gerade Wagner ist es natürlich, der am meisten dazu beigetragen hat, das Interesse am heimischen Altertum in weitesten Kreisen zu erwecken: durch die wunderbare musikalische Komposition seines „Ringes“, die er zum ersten Male im August 1876 dem deutschen Volke und der ganzen Kulturwelt darbot, hat er so gewaltig für die Kenntnis der alten Sage gewirkt, daß jeder Freund derselben ihm größten Dank schuldig ist.
[S. 137]
Außer den im Verlaufe der Darstellung herangezogenen Werken sollen hier noch diejenigen Schriften Erwähnung finden, welche am besten geeignet sind, als Hilfsmittel zum Selbststudium zu dienen.
Die umfassendste Ausgabe des Nibelungenliedes ist die von Karl Bartsch: Der Nibelunge Not mit den Abweichungen von der Nibelunge Liet, den Lesarten sämtlicher Handschriften und einem Wörterbuche. I. Teil: Text, 1870. II. Teil, erste Hälfte: Lesarten, 1876. II. Teil, zweite Hälfte: Wörterbuch, 1880. Wegen ihrer reichen Einleitung besonders empfehlenswert ist die Ausgabe von Friedrich Zarncke: Das Nibelungenlied, 6. Auflage 1887; sie gibt freilich nur den Text C, kann aber zusammen mit Karl Lachmanns Ausgabe (Der Nibelunge Noth und die Klage nach der ältesten Überlieferung mit Bezeichnung des Unechten und mit den Abweichungen der gemeinen Lesart, fünfte Ausgabe 1878) fürs erste die Ausgabe von Bartsch vertreten. Bloße Textabdrücke nach Lachmann oder Zarncke sind wertlos. — Bartsch hat auch die beste Ausgabe der Klage geliefert (1875, mit den Lesarten sämtlicher Handschriften).
Für die sog. Edda ist zu empfehlen Karl Hildebrands Ausgabe: Die Lieder der älteren Edda, 2. Auflage 1904, besorgt von Hugo Gering, und des ebengenannten mustergültige Übersetzung (in Meyers Klassiker-Ausgaben).
Die nordischen Sagatexte sind am leichtesten zugänglich durch die „Altdeutschen und altnordischen Helden-Sagen“, übersetzt von Friedrich Heinrich v. d. Hagen, 1. und 2. Band: Wilkina- und Niflungasaga[59] (3. Ausgabe 1872), 3. Band: Wolsunga- und[S. 138] Ragnarssaga (2. Auflage, besorgt von Anton Edzardi, 1880). Sie alle sind in deutscher Wiedergabe auch enthalten in dem umfassenden Werke von August Raßmann, „Die deutsche Heldensage“ (2. Ausgabe 1863); seiner Reichhaltigkeit wegen ist dies Buch sehr zu empfehlen, doch kann man es nur mit größter Vorsicht benutzen, da Raßmann den Stoff nach vorgefaßten haltlosen Meinungen willkürlich geordnet hat.
Von Schriften über Lied und Sage seien außer den gelegentlich zitierten erwähnt: Karl Müllenhoff, Zur Geschichte der Nibelungensage (Zeitschrift für deutsches Altertum, Band X, 1855); Wilhelm Wilmanns, Beiträge zur Erklärung und Geschichte des Nibelungenliedes, 1877; Emil Kettner, Die österreichische Nibelungendichtung, 1897, und besonders Wilmanns’ eingehende, an feinen Bemerkungen reiche Besprechung des Lichtenbergerschen Buches Le poème et la légende des Nibelungen (im Anzeiger für deutsches Altertum, Band XVIII, 1892); endlich Boer, Untersuchungen über den Ursprung und die Entwicklung der Nibelungensage, 3 Bände, 1906–9. Eine gute Übersicht über die Bibliographie gibt jetzt Theodor Abeling, Das Nibelungenlied und seine Literatur, 1907, dazu ein Supplement 1909; eine glänzende Einführung in die Geschichte des Auferstehens des alten Epos bietet Josef Körner, Nibelungenforschungen der deutschen Romantik, 1911.
[S. 139]
Die Zahlen bedeuten die Seiten.
Druck von Hallberg & Büchting
(Inh.: Alfred Klepzig) in Leipzig.
Wissenschaft und Bildung
Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens
Im Umfange von 130–180 Seiten
Geh. 1 M. Originalleinenbd. 1.25 M.
Die Sammlung bringt aus der Feder unserer berufensten Gelehrten in anregender Darstellung und systematischer Vollständigkeit die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung aus allen Wissensgebieten. :: :: :: ::
Sie will den Leser schnell und mühelos, ohne Fachkenntnisse vorauszusetzen, in das Verständnis aktueller wissenschaftlicher Fragen einführen, ihn in ständiger Fühlung mit den Fortschritten der Wissenschaft halten und ihm so ermöglichen, seinen Bildungskreis zu erweitern, vorhandene Kenntnisse zu vertiefen, sowie neue Anregungen für die berufliche Tätigkeit zu gewinnen. Die Sammlung „Wissenschaft und Bildung“ will nicht nur dem Laien eine belehrende und unterhaltende Lektüre, dem Fachmann eine bequeme Zusammenfassung, sondern auch dem Gelehrten ein geeignetes Orientierungsmittel sein, der gern zu einer gemeinverständlichen Darstellung greift, um sich in Kürze über ein seiner Forschung ferner liegendes Gebiet zu unterrichten. Der weitere Ausbau der Sammlung wird planmäßig durchgeführt. Abbildungen werden den in sich abgeschlossenen und einzeln käuflichen Bändchen nach Bedarf in sorgfältiger Auswahl beigegeben.
Über die bisher erschienenen Bändchen vergleiche den Anhang
Naturwissenschaftliche Bibliothek
Geb. M. 1.80 für Jugend und Volk Geb. M. 1.80
Herausgegeben von Konrad Höller und Georg Ulmer.
Reich illustrierte Bändchen im Umfange von 140 bis 200 Seiten.
In die Liste der von den Vereinigten Jugendschriften-Ausschüssen empfohlenen Bücher aufgenommen.
Aus Deutschlands Urgeschichte. Von G. Schwantes.
„Eine klare und gemeinverständliche Arbeit, erfreulich durch die weise Beschränkung auf die gesicherten Ergebnisse der Wissenschaft; erfreulich auch durch den lebenswarmen Ton.“
Frankfurter Zeitung.
Der deutsche Wald. Von Prof. Dr. M. Buesgen.
„Unter den zahlreichen, für ein größeres Publikum berechneten botanischen Werken, die in jüngster Zeit erschienen sind, beansprucht das vorliegende ganz besondere Beachtung. Es ist ebenso interessant wie belehrend.“
Naturwissenschaftliche Rundschau.
Die Heide. Von W. Wagner.
„Alles in allem — ein liebenswürdiges Büchlein, daß wir in die Schülerbibliotheken eingestellt wünschen möchten; denn es gehört zu jenen, welche darnach angetan sind, unserer Jugend in anregendster Weise Belehrung zu schaffen.“
Land- u. Forstwirtschaftl. Unterrichtszeitung.
Im Hochgebirge. Von Prof. C. Keller.
„Auf 141 Seiten entrollt der Verfasser ein so intimes, anschauliches Bild des Tierlebens in den Hochalpen, daß man schier mehr Belehrung als aus dicken Wälzern geschöpft zu haben glaubt. Ein treffliches Buch, das keiner ungelesen lassen sollte.“
Deutsche Tageszeitung.
Die Tiere des Waldes. Von Forstmeister K. Sellheim.
„Die Sehnsucht nach dem Walde ist dem Deutschen eingeboren... Aber wie wenig wird er dabei das Tierleben gewahr, das ihn da umgibt. Da wird dieses Buch ein willkommener Führer und Anleiter sein.“
Deutsche Lehrerzeitung.
Unsere Singvögel. Von Prof. Dr. A. Voigt.
„Mit nicht geringen Erwartungen gingen wir an Professor Voigts neuestes Buch. Aber als wir nur wenige Abschnitte gelesen, da konnten wir mit Freude feststellen, daß diesmal der Meister sich selbst übertroffen. ...“
Nationalzeitung.
Fortsetzung auf Seite 3 des Umschlags.
Altgermanische
Religionsgeschichte
Von Dr. Richard M. Meyer
a. o. Professor an der Universität Berlin
665 S. Brosch. M. 16.— In Originalleinenband M. 17.—
Das Werk gibt zunächst eine vollständige Darstellung der altgermanischen Religion oder besser gesagt, der altgermanischen Religionen und versucht auf dieser Grundlage eine Entwickelungsgeschichte der germanischen Mythologie von den frühesten Spuren bis zum Uebergang in das Christentum. Durchweg ist dabei der Standpunkt der vergleichenden Mythologie (im neueren Sinne des Wortes) eingehalten, der in zwei einleitenden Kapiteln über typische Entwicklung der Mythologie und über mythologische Formenlehre eingehend begründet wird. Daneben wird der Einwirkung der Heldensage auf die Mythologie besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Durch die Vereinigung dieser verschiedenen Gesichtspunkte ergeben sich eine Fülle neuer Probleme und neuer Erkenntnis, wodurch das Werk einen höchst wertvollen Beitrag zur Wissenschaft vom deutschen Geist und seiner Geschichte bildet, um so mehr, als Verfasser allen auftauchenden, historischen, kulturgeschichtlichen, allgemein-religionsgeschichtlichen und literarhistorischen Fragen besondere Beachtung geschenkt hat.
In der Darstellung ist größte Gemeinverständlichkeit angestrebt. Alle speziellen wissenschaftlichen Erörterungen sind in Anmerkungen verwiesen. Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis, eine chronologische Tabelle und mehrere Register erhöhen die Benutzbarkeit des Buches.
Das Süßwasser-Aquarium. Von C. Heller.
„Dieses Buch ist nicht nur ein unentbehrlicher Ratgeber für jeden Aquarienfreund, sondern es macht vor allen Dingen seinen Leser mit den interessanten Vorgängen aus dem Leben im Wasser bekannt ...“
Bayersche Lehrerzeitung.
Reptilien- und Amphibienpflege. Von Dr. P. Krefft.
„Die einheimischen, für den Anfänger zunächst in Betracht kommenden Arten sind vorzüglich geschildert in bezug auf Lebensgewohnheiten und Pflegebedürfnisse, — die fremdländischen Terrarientiere nehmen einen sehr breiten Raum ein.“
O. Kr. Pädagogische Reform.
Die Ameisen. Von H. Viehmeyer.
„Viehmeyer ist allen Ameisenfreunden als bester Kenner bekannt. Von seinen Bildern kann man sagen, daß sie vom ersten bis zum letzten Wort der Natur geradezu abgeschrieben sind.“
Thüringer Schulblatt.
Die Schmarotzer der Menschen und Tiere. Von Dr. v. Linstow.
„Es ist eine unappetitliche Gesellschaft, die hier in Wort und Bild vor dem Leser aufmarschiert. Aber gerade jene Parasiten, die unserer Existenz abträglich sind, gerade sie verdienen, von ihm nach Form und Wesen gekannt zu sein, weil damit der erste wirksame Schritt zu ihrer Bekämpfung eingeleitet ist.“
K. Süddeutsche Apotheker-Zeitung.
Unsere Wasserinsekten. Von Georg Ulmer.
Für Freunde des Wassers, für Liebhaber von Aquarien ist dies Buch geschrieben. Es bietet eine Fülle von Anregungen und wird den Leser veranlassen, selbst hinauszuziehen in die Natur, sie mit eigenen Augen zu betrachten.
Die mikroskopische Kleinwelt unserer Gewässer. Eine Einführung in die Naturgeschichte der einfachsten Lebensformen nebst kurzer Anleitung zu deren Studium. Von E. Reukauf.
„Nur wenige haben eine Ahnung von dem ungeheuren Formenreichtum und eine auch nur annähernd richtige Vorstellung von dem Wesen jener Mikroorganismen, die unsere Gewässer bevölkern. Als ein Schlüssel hierzu wird das vorliegende Bändchen vorzüglich geeignet sein....“
Deutsche Zeitung.
Aus der Vorgeschichte der Pflanzenwelt. Von Dr. W. Gothan.
An einer solchen allgemeinverständlichen Einführung in die Geschichte der Pflanzenwelt fehlte es bisher. Der Verfasser bespricht zunächst die geologischen Grundbegriffe, geht dann auf die Art der Erhaltung der fossilen Pflanzenreihe ein und schildert die Vorgeschichte der großen wichtigsten Gruppen des Pflanzenreiches der Jetzt- und Vorzeit.
Niedere Pflanzen. Von Prof. Dr. R. Timm.
„In dieser Weise führt das kleine Büchlein den Leser in die gesamte Welt der so mannigfachen Kryptogamen ein und lehrt ihn, sie verständnisvoll zu beobachten.“
Naturwissenschaftliche Rundschau.
Häusliche Blumenpflege. Von Paul F. F. Schulz.
„Der Stoff ist mit großer Übersichtlichkeit gruppiert, und der Text ist so faßlich und klar gehalten, außerdem durch eine Fülle von Illustrationen unterstützt, daß auch der Laie sich mühelos zurechtfinden kann. ... Dem Verfasser gebührt für seine reiche, anmutige Gabe Dank.“
Pädagogische Studien.
Chemisches Experimentierbuch. Von O. Hahn.
Das Buch will jedem, der Lust zum chemischen Experimentieren hat, mit einfachen Apparaten und geringen Mitteln eine Anleitung sein, für sich selbst im Hause die richtigsten Experimente auszuführen.
Die Photographie. Von W. Zimmermann.
„Das Buch behandelt die theoretischen und praktischen Grundlagen der Photographie und bildet ein Lehrbuch bester Art. Durch die populäre Fassung eignet es sich ganz besonders für den Anfänger.“
„Apollo“, Zentralorgan f. Amateur- u. Fachphotogr.
Beleuchtung und Heizung. Von J. F. Herding.
„Ich möchte gerade diesem Buche, seiner praktischen, ökonomischen Bedeutung wegen, eine weite Verbreitung wünschen. Hier liegt, vor allem im Kleinbetrieb, noch vieles sehr im argen.“
Frankfurter Zeitung.
Kraftmaschinen. Von Ingenieur Charles Schütze.
„Schützes Kraftmaschinen sollten deshalb in keiner Schülerbibliothek, weder an höheren noch an Volksschulen, fehlen. Das Büchlein gibt aber auch dem Lehrer Gelegenheit, seine technischen Kenntnisse schnell und leicht zu erweitern.“
Monatsschrift für höhere Schulen.
Signale in Krieg und Frieden. Von Dr. Fritz Ulmer.
„Ein interessantes Büchlein, welches vor uns liegt. Es behandelt das Signalwesen von den ersten Anfängen im Altertume und den Naturvölkern bis zur jetzigen Vollkommenheit im Land- und Seeverkehr.“
Deutsche Lehrerzeitung.
Seelotsen-, Leucht- und Rettungswesen. Ein Beitrag zur Charakteristik der Nordsee u. Niederelbe. Von Dr. F. Dannmeyer.
„Mit über 100 guten Bildern interessantester Art, mit Zeichnungen und zwei Karten versehen, führt das Buch uns das Schiffahrtsleben in anschaulicher, fesselnder Form vor Augen, wie es sich täglich an unseren Flußmündungen abspielt.“
Allgemeine Schiffahrts-Zeitung.
Schönste Festgeschenke
aus dem Verlage von Quelle & Meyer, Leipzig
Der Sinn und Wert des Lebens
für den Menschen der Gegenwart. Von Geheimrat R. Eucken. 3. völlig umgearbeitete Auflage. 13. und 14. Tausend. 192 Seiten.
In Originalleinenband M. 3.60
Die bildende Kunst der Gegenwart
Von Hofrat Dr. J. Strzygowski. 235 S. mit zahlreichen Abbildungen.
In Originalleinenband M. 4.80
Geschichte der Römischen Kaiser
Von Geheimrat Professor Dr. A. v. Domaszewski. 2 Bände zu je 332 S. mit 12 Porträts auf Tafeln in künstlerischer Ausführung u. 8 Karten.
In Originalleinenband je M. 9.—, in Halbfranzband je M. 11.—
Unsere religiösen Erzieher
Eine Geschichte des Christentums in Lebensbildern, herausgegeben von Professor Lic. B. Beß. 2 Bände zu je 280 S.
In Origbd. je M. 4.40
Preußens Geschichte
von Rudolf Herzog. 384 S. mit 22 farb. und schwarzen Bildern von Professor Kampf. Buchschmuck und Einbandzeichnung von Professor G. Belwe.
In Origb. M. 3.40. Vorzugsausgabe auf Bütten M. 10.—
Männer und Zeiten
Essays zur neueren Geschichte. Von Geheimrat Prof. Dr. E. Marcks. 2 Bände 640 S. 5. und 6. Tausend.
In Originalleinenband M. 12.—, in Halbfranzband M. 16.—
Große Denker
Eine Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen. Herausgegeben von Privatdozent Dr. E. v. Aster. 2 Bände zu je 320 S. mit 8 Porträts.
In Originallbd. M. 16.—, in Halbfrzbd. M. 20.—
Ausführliche Prospekte unentgeltlich und postfrei.
Fußnoten:
[1] Nordische Form des deutschen Namens Nibelunge.
[2] Volsungar ist der im Norden gebräuchliche Geschlechtsname des Sigurd und seiner Angehörigen.
[3] Ragnar wird verheiratet gedacht mit Aslaug, einer hinterlassenen Tochter des Sigurd und der Brynhild.
[4] Da sein Verfasser im Grunde nur den gedruckt vorliegenden „Hürnen Seifrid“ umschreibt, widerspricht das Auftauchen des Volksbuches im 18. Jahrhundert nicht der S. 1 aufgestellten Behauptung, daß die direkte volkstümliche Überlieferung im Dreißigjährigen Kriege erloschen ist.
[5] Die Beispiele sind entnommen aus „Die Edda“, übersetzt und erläutert von Hugo Gering.
[6] Odin ist die nordische Form des Namens für denselben Gott, der in Deutschland Wodan hieß.
[7] Wagner hat diesen Zug der Sage in der „Walküre“ benutzt, ihn aber verschoben; bei ihm ist Siegfrieds Mutter an die Stelle der Signy getreten.
[8] Wagner überträgt den Namen auf die Person seiner Dichtung, die eigentlich die Figur des Siggeir fortsetzt.
[9] Man dachte sich die Gnitaheide auf dem halben Wege von Paderborn nach Mainz gelegen, wo sie im 12. Jahrhundert ein wandernder Norweger, Abt Nikolaus, wiedergefunden zu haben glaubte.
[10] Daß Sigurds Schwert dasselbe ist, das sein Vater geführt hat, behauptet erst die Volsungasaga; die Lieder-Edda weiß noch nichts davon.
[11] Nach späterer nordischer Sage ist allerdings die Aslaug, die Gattin des Ragnar Lodbrok, eine Frucht dieser frühern Bekanntschaft Sigurds mit Brynhild. Übrigens nennt der Liedersammler die Brynhild bei ihrer ersten Begegnung mit Sigurd „Sigrdrifa“, indem er einen Beinamen (Spenderin des Sieges) als Namen auffaßt; vielleicht hat er dadurch für die beiden Verlobungsgeschichten (vgl. S. 22) zwei verschiedene Heldinnen schaffen wollen.
[12] Die ursprüngliche Fassung der Sage, daß Sigurd in untergeordneten Verhältnissen aufgewachsen ist, blickt deutlich hindurch.
[13] Im Norden wird sein Volk nicht das hunnische genannt, wenigstens nicht in den älteren Quellen; nach vereinzelten Andeutungen herrscht er in Walland (Italien).
[14] Ihr Alter dürfen wir freilich nicht nachrechnen. Svanhild ist beim Eintritt in die Erzählung ein junges Mädchen. Inzwischen sind aber ihre Brüder aus der dritten Ehe ihrer Mutter bereits zu waffenfähigen Männern herangewachsen. Gudruns zweite Ehe mit Atli, sowie die Zeit ihrer Witwenschaft sind inzwischen vergangen, auch die Zeit der Ehe mit Sigurd, die doch immerhin einige Jahre gewährt hat, ist vorüber. Wir kommen also für Svanhild, wenn wir nachrechnen, auf ein ziemlich hohes Alter, das zur Erzählung nicht stimmt. Wir dürfen in dieser Beziehung nicht zu streng sein. Denn gerade diese Dinge, wie überhaupt jede Chronologie, sind die schwächsten Punkte aller sagenmäßigen Tradition. Alles dies verschwimmt in der Erinnerung der Menschen zu allererst; sie werfen alles auf eine Fläche, sie sehen in der Erinnerung alles nebeneinander, kein Vor- und kein Hintereinander mehr; Personen, die in Wirklichkeit durch hundert Jahre getrennt waren, können leicht als Zeitgenossen erscheinen. Es war für die einfachen Leute, welche die Überlieferung gepflegt haben, eben nicht möglich, solche Dinge zu kontrollieren.
[16] Den Namen des Vaters (Gibich, der in andern deutschen Dichtungen wohlbekannt ist) hat das Nibelungenlied vergessen; erst der Text C nennt ihn im Anschluß an die „Klage“ mit einem offenbar willkürlich herausgegriffenen Namen Dankrat.
[17] Woher sie mit ihr bekannt ist (die Geschichte spielt ja in der Mädchenzeit der beiden), wird nicht erklärt.
[18] Etwa dem alten Herzogtum Nieder-Lothringen entsprechend. Eine Residenz Santen (heute Xanten) hat erst der Text C aus der einmaligen Erwähnung dieses Städtchens Str. 715 (Holtzmann) herausgesponnen, vgl. Braune, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes, S. 178.
[19] Die Burgunden sitzen nach der Sage in einer Gegend, die zur Zeit der vollendeten Dichtung den Franken gehört; sie fallen infolgedessen in der Auffassung des Dichters und seiner Zuhörer mit diesen zusammen.
[20] Solche Feste werden in unserm Liede stets mit besonderer Liebe behandelt. Unserm heutigen Geschmack sagen die Schilderungen von Festen und dem dabei entwickelten Prunke, besonders was Kleidung anbetrifft, wenig zu, und man hat deshalb die betreffenden Abschnitte gar für unecht erklären wollen; sie sind jedoch nur leer an Sagengehalt. Wir müssen uns in die damalige Zeit hineinversetzen, um diese Schneiderszenen, wie man sie genannt hat, zu würdigen. Man erwartete im Mittelalter von der erzählenden Dichtung nicht nur Anregungen innerlichen, sondern auch solche äußerlichen Charakters, als da sind Berichte über neue oder absonderliche Moden oder Gebräuche.
[21] Die Schilderung dieser Jagd im 16. Gesange unseres Liedes ist in gewisser dichterischer Beziehung vielleicht sein Höhepunkt. Der Verfasser weiß auf das genaueste Bescheid von allem, was bei einer Jagd jener Zeit vorkommt, und versetzt sich und seine Zuhörer so lebhaft in die richtige Wald- und Jagdstimmung, daß man diesen Gesang nur mit großem Genusse lesen kann.
[22] Seltsamerweise wird vorausgesetzt, daß Siegfried für den Scheinfeldzug vor einigen Tagen und für die Jagd ein und denselben Rock trägt.
[23] Unter diesem Namen verstehen die Deutschen späterhin immer Ofen (Budapest); ob das Nibelungenlied schon diese Stadt meint, bleibt zweifelhaft: Ungarns alte Hauptstadt ist Gran (noch heute Sitz des Primas); erst nach seiner Zerstörung durch die Mongolen 1241 trat Ofen an seine Stelle.
[24] Diese einfachen Boten sind sicher eine aus einer ältern Erzählungsschicht stehengebliebene Altertümlichkeit; der ritterliche Dichter würde vornehmere Herren zu diesem Zwecke bemüht haben.
[25] Dieser Held, der keiner andern Quelle unserer Sage bekannt ist, spielt von jetzt an eine Schritt für Schritt wachsende Rolle, und zwar tritt er immer an Stellen hervor, die eine Neuerung in der Sage bedeuten.
[26] Die Dichter des Mittelalters vermögen ihren Werken kein andres Kolorit als das ihrer eigenen Zeit zu geben.
[28] Der Kampf im Saale beginnt also auch hier mit Ortliebs Tode, doch ist der Umstand, daß Kriemhilt diesen mit Absicht herbeiführt, um Etzel zur Rache zu entflammen, als zu grauenerregend abgeschwächt.
[29] Irnfrid von Thüringen ist der historische letzte König der Thüringe Ermanfrid, der um 530 von den Franken besiegt und vertrieben (später auch getötet) wurde; die letzten seiner Familie flohen zum oströmischen Kaiser, den unsere deutsche Sage in älterer Zeit immer durch den ihr geläufigen Hunnenkönig Attila ersetzt.
[30] Amelunge (Amaler) ist ursprünglich der Name des Königshauses der Ostgoten; er wird (was auch anderwärts nicht selten vorkommt, z. B. Kärlinge = Franken) so häufig für „Goten“, den Namen des beherrschten Volkes, gebraucht, daß die hochdeutsche Überlieferung diesen ganz vergessen hat.
[31] Im dritten Gudrunliede, das einen Einzelzug behandelt, der nicht einmal sagenecht ist, wird er erwähnt.
[32] Das Volk der Bayern begegnet uns zuerst um die Mitte des 6. Jahrhunderts unter einheimischen, von den fränkischen Königen abhängigen Fürsten; das ihnen gehörige Land war kurz vorher noch ein Teil des Gotenreiches. Als die Oströmer dies eroberten, drangen sie nicht bis über die Alpen vor; es scheint daher, daß sich die zwischen Donau und Alpen übrig gebliebenen Goten mit Resten anderer Germanenstämme zu einem neuen Volke unter dem Namen „Bayern“ (Baiuuarii) zusammengeschlossen haben. Wenigstens betrachten die Bayern noch später sich als identisch mit den Amelungen (Goten) und also den Dietrich als ihres Stammes.
[33] Auch hier ist Etzel sagenhafter Vertreter des oströmischen Kaisers (Zeno, der den Theodorich 489 gegen Odoaker schickte).
[34] Eine Namenverschiebung: da derjenige, der in der Lieder-Edda Regin heißt, hier bereits (auf Grund deutscher Sage) Mimir benannt ist, überträgt der Sagaschreiber jenen Namen auf den Drachen (der in nordischer Sage Fafnir heißt und Regins Bruder ist).
[35] Schwert und Roß führen hier die aus der Lieder-Edda bekannten Namen Gram und Grani; jenes entspricht dem deutschen Balmung, dies wird in Deutschland nicht mit Namen genannt.
[36] Dieser gilt in der Saga als Bruder der Burgundenkönige; ein Zugeständnis an die nordische Sagenform der Lieder-Edda.
[37] Der also hier als vierter die Stelle Dankwarts im Nibelungenliede einnimmt; Dietrichs Mitgehen ist halbwegs begründet, das Dankwarts aber nicht; liegt hier vielleicht eine dunkle Beziehung zwischen den beiden Überlieferungen vor?
[38] Davon war bisher nichts erzählt; die Saga ist hier mit sich selbst nicht einig. Ihre einzelnen Teile stammen aus verschiedenen Quellen und sind nicht durchweg ineinander gearbeitet und miteinander ausgeglichen.
[39] Als persönliches Opfer ihrer Rache fällt hier Giselher; einer muß durch ihre Hand umkommen, damit begründet ist, daß Dietrich (statt Hiltebrands im Liede) sie tötet.
[40] Ich will nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß der Personenname „Nibulung“ im Geschlechte der Arnulfinge einen ganz besonderen Sinn gehabt haben kann: die Stifterin des Klosters Nivelles (belgische Stadt südlich von Brüssel) ist die Heilige Gertrud († 659), Tochter Pipins des Ältern; dies Nivelles ist also ein jenem Geschlechte ganz besonders wertes Heiligtum; ist es danach nicht denkbar, daß Söhne dieser Familie gelegentlich „Mann von Nivelles“, in altfränkischer Sprachform „Nibulung“, benannt worden sind? Ist diese Annahme richtig, so müssen natürlich die Nibelunge der Sage unbedingt von diesen historischen Nibelungen hergeleitet werden. Ich wage nun freilich für die Richtigkeit nicht einzustehen, muß aber behaupten, daß diese Herleitung plausibler ist als die alte, die in den Nibelungen „Nebelsöhne“, „Mächte der Finsternis“ erkennen wollte; sie ist ja schon dadurch widerlegt, daß es mythische Nibelunge in der Sage ursprünglich gar nicht gegeben hat.
[41] Daß dieser als Schwestersohn dem Oheim den Grund für sein Verhalten gibt, ist ein höchst altertümlicher Zug, der die ältesten germanischen (mutterrechtlichen) Verhältnisse widerspiegelt, vgl. Tac. Germ. c. 20: sororum filiis idem apud avunculum qui apud patrem honor. quidam sanctiorem artioremque hunc nexum sanguinis arbitrantur (Schwestersöhne stehen beim Oheim in derselben Geltung wie beim Vater; einige halten dies Blutsband sogar für heiliger und enger).
[42] Deshalb vermag ich, wenn ein elsässisches Kirchheim urkundlich gelegentlich auch Tronia genannt wird, darin nichts altes zu sehen, sondern höchstens den Versuch einer Lokalisierung des sagenhaften Tronje.
[43] Wilhelm Jordan hat in seiner „Sigfridsage“ als Grund für Siegfrieds Verhalten gegenüber Brünhilt angenommen, sie habe an Siegfried das im Text angeführte Verlangen gestellt; damit hat Jordan gewiß das sagenechte getroffen; eine Nachdichtung der durch die Ungunst der Überlieferung zerpflückten alten Dichtung (und um eine solche handelt es sich doch, unbeschadet aller Grundlagen) führt am sichersten zu den alten Zusammenhängen.
[44] Wenigstens setzt der Skalde Bragi der Alte, der um das Jahr 900 gestorben ist, in seiner Ragnarsdrapa diese Verbindung bereits voraus.
[45] Pro mariti fraudulento discessu; das hat man auch übersetzen wollen: dafür, daß sie ihren Mann (nämlich Ermanarich) trügerisch verlassen hatte; dann wäre die Übereinstimmung mit den Eddaliedern nahezu vollkommen; allein der Zusammenhang bei Jordanes unterstützt diese Übersetzung nicht.
[46] Man hat mit Recht daran erinnert, daß die an der mittlern Donau sitzenden Heruler (nach Procopius von Caesarea) noch im Anfang des 6. Jahrhunderts mit ihren Stammesgenossen im südlichen Schweden in lebhaftem Verkehr stehen.
[47] Pöchlarn (Bechelaren) wird in dieser Zeit tatsächlich der Sitz des bayrischen Ostmarkgrafen gewesen sein.
[48] Da das Nibelungenlied gelegentlich den Tod Nudungs erwähnt, der von Witig in der Ravennaschlacht getötet wurde, so muß es letztere als vergangen annehmen; da nun ursprünglich gewiß diese Schlacht zur Rückführung Dietrichs geführt hat, war nicht recht begreiflich, warum er nach ihr noch an Etzels Hof lebt; das hat zur Annahme zweier Feldzüge gegen Ermenrich (und seinen Nachfolger) geführt, deren erster dann unglücklich verlaufen sein muß. Die „Klage“ läßt übrigens am Schlusse Dietrich mit seiner Gattin und Hiltebrand in friedlicher Reise nach Bern zurückkehren, nimmt also an, daß er seit der Ravennaschlacht im Besitze seines Reiches ist. Daß der Verräter Sibich nach Ermenrich in Italien geherrscht habe, behauptet nur die Thidrikssaga.
[49] D. h. als Buch erhaltenen; lückenhaft infolge Verlustes einzelner Blätter kann eine solche vollständige Handschrift immerhin sein.
[50] Seit dem ersten Erscheinen dieses Buches hat sich das handschriftliche Material, außer um Blätter bereits bekannter Handschriften, noch um Reste von drei bisher unbekannten vermehrt: X, ein Blatt aus der Klage, gefunden in Sterzing; Y, ein Wiener Blatt; Z, ein in Dülmen gefundenes Blatt. Ich will nicht unerwähnt lassen, daß mir scheint, als gehöre W zur Nibelungenhandschrift S, X zur Nibelungenhandschrift U. — Die in der alphabetischen Folge fehlenden Buchstaben sind verwendet wie folgt: P bezeichnete früher ein Fragment, das sich als der gleichen Handschrift wie N entstammend erwiesen hat; T ist die Signatur der fragmentarisch erhaltenen niederländischen Übersetzung aus dem 14. Jahrhundert; V ist (wegen Ähnlichkeit mit U) nicht verwendet; c gilt für die Zitate, die Lazius, ein Gelehrter des 16. Jahrhunderts, in seiner Schrift De gentium aliquot migrationibus aus einer alten Handschrift angebracht hat; e und f hatte man anfangs irrtümlich die jetzt mit L bezeichneten Fragmente benannt; m ist Inhaltsverzeichnis einer verlorenen Handschrift.
[51] Vielleicht hat Wolfram von Eschenbach, der Parzival 420 f. sich auf das Nibelungenlied bezieht, schon den Liet-Text gekannt; doch ist sein Zitat auch verständlich, wenn er nur die beiden Texten gemeinsame Strophe 1496 (Holtzmann) vor sich gehabt hat; die folgende, dem Liet-Texte eigentümliche Strophe, in der, wie bei Wolfram, „Schnitten“ als eine gute Speise erwähnt werden, dürfte eher in Anlehnung an die etwas spöttisch gehaltene Ausführung im Parzival verfaßt sein.
[52] In einer Besprechung der 1. Auflage dieses Buches (Literarische Rundschau vom 1. Juni 1909) hat Fr. Panzer die hier entwickelte Gedankenreihe beanstandet und darauf hingewiesen, daß Zeizenmure in der ungarischen Sage als Ort einer Schlacht eine große Rolle spielt und infolgedessen in die Grundhandschrift des Not-Textes gelangt sei. Das könnte möglich sein, hilft uns aber nicht weiter, denn 1) ist die Darstellung der ungarischen Sage, wie sie bei Simon Kézai vorliegt, trotz Bleyers Ausführungen (im 31. Bande der Beiträge) eine halbgelehrte Kompilation aus der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, 2) ist nicht abzusehen, wie ein Nicht-Österreicher (denn ein Österreicher konnte den Fehler nicht begehen) zur Kenntnis ungarischer Sage gelangt sein sollte, und 3) bleibt die Sache beim alten, weil die Grundhandschrift des Not-Textes den Fehler, mag seine Ursache sein, welche sie will, eben begangen hat und daher notwendigerweise nur eine nebengeordnete, nicht eine übergeordnete Stelle neben den Liet-Handschriften einnehmen kann. Auf Zarncke’s feinen Gedanken, Nithart zur Erklärung heranzuziehen, könnte man schließlich verzichten; den in der „Not“ vorliegenden Text aber weit über 1230 hinaufzuschieben, ist trotzdem unmöglich wegen gewisser unbestreitbarer Zusätze, wegen Spuren beginnenden Verfalles in der Verstechnik und besonders wegen des Zustandes aller hierher gehörigen Handschriften (s. S. 107).
[53] Das ist nicht ohne Beispiel; so wurde das um 1170 entstandene Gedicht vom Herzog Ernst bereits um 1200 (hauptsächlich reimtechnisch) überarbeitet; als aber in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ein neuer Bearbeiter den Text vornahm, griff er auf das Original zurück und ignorierte die um 1200 entstandene Überarbeitung.
[54] Nach Lachmann nur dreizehn; er behielt 1627 bei und änderte sie durch Konjektur; wir haben dazu heute keine Veranlassung mehr.
[55] Mit einer Ausnahme: Lachmanns 17. Lied schließt an das 15. an; das 16. ist eine Parallelerzählung.
[56] Vgl. Schönbach, Das Christentum in der altdeutschen Heldendichtung, S. 203.
[57] Heinrich von Ofterdingen, den manche beim Wiedererwachen unserer Kenntnis der mittelalterlichen Literatur als Dichter des Nibelungenliedes in Anspruch genommen haben, ist keine historische Person, sondern vom Dichter des Wartburgkrieges erfunden; dieser Mann brauchte eine Figur, die als Gegenstück und Widerpart der historisch bekannten Sänger am Hofe zu Eisenach hingestellt werden konnte.
[58] Es ist mir leider nicht gelungen, das Werkchen, das ich vor mehr als dreißig Jahren selbst gelesen habe, irgendwo wieder aufzutreiben.
[59] Wilkina- (richtiger Wilcina-) und Niflungasaga sind Teile und Untertitel der Thidrikssaga.
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