*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 67303 *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist _so ausgezeichnet_. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. Herr, mach’ uns frei! [Illustration] Roman von Gustav Hildebrand. [Illustration] Leipzig. Bruno Volger, Verlagsbuchhandlung. 1908. 1. Kapitel. Der zur Rüste gehende Julitag hatte alle vorangegangenen Tage, so heiß sie auch gewesen waren, übertroffen. Vom frühen Morgen ab hatte die Sonne von dem wolkenlosen Himmel auf die Erde herabgeschienen. Nun ging aber ihre Herrschaft zu Ende, denn der glühende Ball näherte sich dem Himmelsrand und seine Strahlen glitten in schräger Richtung über die Landschaft. Auf der alten Poststraße, die von Borna nach Leipzig führte, schritt ein junger Mann fürbaß, dessen müder Gang verriet, daß er heute schon einen weiten Weg zurückgelegt hatte. Er hatte den leichten Strohhut in den Nacken geschoben und lüftete ab und zu das kleine Ränzel, das ihn nach so langen Stunden wohl arg drücken mochte. Ein schmaler Weg kreuzte die Straße, und an dem Schnittpunkt stand ein alter Meilenstein. Der Wanderer ging zu ihm hin, stützte sich hintenübergelehnt mit beiden Armen auf seinen derben Knotenstock und versuchte, die kaum noch leserlichen Buchstaben auf dem verwitterten Stein zu entziffern. Nach einigem Bemühen las er mit lauter Stimme: »Rehefeld ¼ Meile.« Eine muntere Melodie pfeifend, hieb der Fremde mit dem Stock ein paarmal vergnügt ins Blaue und schlug dann den schmalen Weg ein. Die Aussicht auf das nahe Ziel belebte seine Kräfte sichtlich aufs neue. Obwohl der Weg nicht bequem zu gehen war, denn hüben und drüben hatten schwerbeladene Wagen tiefe Radspuren hinterlassen, und aus dem schmalen Grasstreifen in der Mitte ragten zahlreiche, spitze Steine hervor, eilte der Wanderer dennoch mit schnellen Schritten vorwärts. Ein schwacher Wind hatte sich erhoben, der ihm wohltuende Kühlung spendete, und vor dem die mannshohen Halme ihre schweren Häupter leicht hin- und herwiegten. Zu seiner Linken verlor sich das Land in eine unabsehbare Ebene, während vorwärts und nach rechts hin ein dichtes Waldstück die Fernsicht versperrte. Nach wenigen Minuten befand er sich inmitten der Fichten, durch die der Weg jetzt leicht anstieg. In kurzer Zeit aber wurde der Wald wieder lichter und die Bäume hochstämmig, und nach einigen Schritten verdoppelter Eile, und nachdem der Weg eine letzte, scharfe Biegung nach rechts gemacht hatte, trat der Fremde wieder ins Freie. Ein herrliches Bild bot sich den entzückten Augen des Wanderers. Zu seinen Füßen schlängelte sich in seinem tiefeingeschnittenen Bette gleich einem silbernen Streifen der Göselbach dahin, zu dessen beiden Seiten zahlreiche, hochstämmige Lindenbäume und Ulmen standen, aus deren saftigem Grün die Häuser des Dorfes hervorlugten. Die dunkeln Balken in den Giebelwänden hoben sich von dem weißgetünchten Mauerwerk scharf ab, und hier und da schlängelte sich aus einem Schornstein schon eine dünne Säule blauen Rauches, dessen Ringe sich sanft kräuselten, bis sie endlich in der Luft verschwanden. Einige der Häuser waren mit Ziegeln gedeckt, bei den meisten aber bestand das Dach aus einer dicken Lage Stroh. Der Hügel, auf dem der Wanderer sich befand, ging nach rechts in die weite Ebene über. Das linke Ufer des Flüßchens dagegen erhob sich zu einer sanften Lehne, auf deren höchstem Punkt, vielleicht zweihundert Fuß über dem schlanken Turme des Kirchleins, ein altes Schloß thronte. Es war eine festungsartige Burg mit einem weit hervortretenden Mittelbau und zwei dicken, vom Erdboden ab aufgeführten Türmen, von denen der westliche, wahrscheinlich infolge Altersschwäche, zur Hälfte eingestürzt war. Jahrhunderte mochten ins Land gezogen sein, seitdem der Grundstein dieser Feste gelegt worden war. Wohl hatte das Schloß den Zeiten und Wettern seinen Tribut zollen müssen, aber noch immer behauptete es, den wildesten Stürmen zum Trotz, seinen Platz, wuchtig und herausfordernd zugleich, und die großen, weißen Quader leuchteten noch wie ehedem weit in das Land hinein. Wie ein ehrfurchtgebietendes Denkmal alter Zeiten, ein stummer Zeuge der Geschehnisse eines halben Jahrtausends grüßte es zu dem Wanderer herüber. Dieser hatte sich an eine der hohen Fichten gelehnt und überließ sich ganz dem Zauber des Anblicks, der sich ihm bot. Seine Blicke glitten hinüber zu dem mächtigen Bauwerk, das als ein stolzes Erzeugnis menschlicher Kunst und menschlichen Fleißes, nunmehr dem Zerfall entgegenging, wie es den Menschenwerken endlich beschieden ist. Die Phantasie gaukelte dem Fremden die Geschichte des Schlosses in lebhaften Bildern vor die Seele. Er sah, wie die mächtigen Bausteine von starken Pferden den Berg hinangeschleift wurden, wie die Mauern erstanden, und wie endlich der Bischof segnend die Hände über den Bau ausbreitete, den die Bewohner des Dorfes mit frischen Blumengewinden bräutlich geschmückt hatten. Dann sah er, wie die Tore sich öffneten und aus ihnen eine lärmende Schar herauszog, den Schloßherrn mit seinen Gästen an der Spitze, und an ihrer Seite ritten Edelfrauen mit den Jagdfalken auf den Schultern. Aber weiter eilte sein Geist. Er sah wieder ein Häuflein den Abhang herabziehen, diesmal aber nicht zur Jagd, oder um die feurigen Rosse im Turnier zu tummeln: von den Schildern der Gewappneten glänzte das Kreuzeszeichen, und die Ritter schauten mit ernsten Mienen hinauf, wo vom Söller die Frauen feuchten Auges die letzten Grüße herabwinkten. Und jeder der Beherzten fragte sich leise: »Wer wird wiederkehren?« Doch im nächsten Augenblick warfen sie unwillig den Kopf in den Nacken und reckten die gepanzerten Glieder, daß die eherne Rüstung klirrte, und die wallenden Federn der blanken Helme durcheinander wogten, und sie beeilten sich, die sie überkommene Weichheit zurückzudrängen. Seit wann war es denn auch Sitte, daß der zum Kampfe ausziehende deutsche Krieger der Weibertränen achtete? Galt es doch diesmal, dem heidnischen Sarazen die Herrschaft über das heilige Grab mit dem Schwert wieder zu entreißen und an der Stelle des Halbmonds die Kreuzesfahne aufzupflanzen. Jahrhunderte durchmaß des Wanderers Phantasie. Die sonst so friedliche Umgebung des Schlosses war niedergestampft, niedergebrannt, verwüstet. Rundum breitete sich das Heerlager des Belagerers aus, der sich eben anschickte, die Feste zu berennen. Sturmleitern wurden in Eile herangeschoben, und Rammbock und Mauerbrecher waren in Tätigkeit. Von oben aber wurde siedendes Oel hinabgegossen, und Steinblöcke wurden mit wildem Getöse auf die Stürmenden herabgeworfen, während des Angreifers Feldkartaune aus ihrem ehernen Leibe schwere Geschosse gegen die stellenweise schon wankenden Mauern schleuderte. Da schien mit einem Male der Widerstand der Eingeschlossenen gebrochen; die Abwehr läßt nach, die Mannen auf dem Mauerrand ziehen sich zurück. Da, -- Stimmengewirr, Schnauben und Stampfen nicht mehr zu zügelnder Rosse. Gedämpfter Kommandoruf wird vernehmbar, und -- nieder rasselt klirrend die Zugbrücke. Wie Sturmwind fegt es darüber hinweg: die Belagerten machen einen Ausfall. Wenn der Untergang im Buche des Schicksals einmal besiegelt, dann wenigstens nicht ruhmlos untergehen, Hörnerruf, der erzene Klang der ihren Scheiden entfliehenden Schwerter, und dann mit vielstimmigem, drohendem Schlachtruf hinein in die schnell gebildeten Haufen der Feinde. Wie Löwen kämpfen die Ritter, und manch einem entsinkt das Schwert der Faust; edles Blut färbt den Rasen. Aber Söldlinge können solchem Ansturm nicht lange widerstehen: hier und dort beginnt der Feind schon zu weichen, und endlich wirft der bleiche Mond sein mildes Licht auf den Kampfplatz, den sich die Tapfern, wenn auch mit schweren Opfern, ruhmvoll erkämpft, und die Geister der Gefallenen setzen auch dann noch erbittert den Strauß fort, wenn die Überlebenden längst schon die müden Glieder auf das Lager streckten. Die feinen Züge des Fremden hatten sich belebt und seine Augen glänzten begeistert. Dann wandte er sich ab und sah hinein in das weite Land. Die Felder waren überreich bestanden, ihre Grenzen hoben sich von einander scharf ab. Hier und dort bemerkte er eine Windmühle, deren lange Flügel sich rastlos drehten, -- fast vermeinte er, ihr Klappern töne herüber; dort wieder stand ein einsames Haus, dort lag ein Dorf in weiter Ferne, als wenn ein Riesenkind seine Spielwaren aufgebaut habe, und weit hinten am Horizont grüßten die Türme von Leipzig, -- der alten Lindenstadt. Über dem ganzen herrlichen Bilde aber lag ein Hauch von Frieden und segensreicher Arbeit. Der einsame Beschauer ließ seine trunkenen Blicke von einem zum andern gleiten, über all die blühenden Gefilde, die gesegneten Fluren; und er seufzte. Denn noch immer befürchtete man die Wiederkehr der Scharen Napoleons. Die Wunden, die des verhaßten Korsen blutige Geisel geschlagen, waren noch lange nicht verheilt, und die Schrecken der Tage von Jena und Friedland zitterten noch sattsam nach in den Seelen der Menschen. Wie lange war es dem Landmann noch beschieden, friedlich seine Felder zu bebauen und den reichen Gottessegen einzuernten? Konnte es nicht dem Ruhelosen noch einmal gelüsten, sein Schlachtenglück zu erproben und Verwüstung und Greuel hineinzutragen in die deutschen Lande, in denen eine große Anzahl von Eltern und Kindern an den noch frischen Gräbern ihrer Teuern stand, die der Ruhmsucht dieses Weltenstürmers zum Opfer gefallen waren! Sind nicht alle Menschen Brüder untereinander, und warum läßt ein gerechter Gott Tausende von blühenden Jünglingen dahinsinken nach dem Willen eines Einzigen? Dem Wanderer schauerte, wenn er daran dachte, daß diese Fluren verödet, zertreten werden könnten, und er wandte sich langsam zum Gehen. Noch immer diesen Gedanken nachhängend, stieg er den Hügel hinab und befand sich bald zwischen den ersten Häusern von Rehefeld. Kurz nach dem Betreten des Dorfes fiel sein Blick auf ein kleines, altes Haus, das von einem sorgfältig gepflegten, kleinen Garten umgeben war. Vor ihm saßen auf der steinernen Bank neben der Tür drei Menschen: ein junger Bauernbursche, der den Arm um die Hüften des neben ihm sitzenden Mädchens gelegt hatte und eine kleine, gebückte Frau, deren hohes Alter mit dem des Hauses wohl fast übereinstimmen mochte. Auf ihren Knien hielt sie eine Schüssel, in die sie Kartoffeln hineinschälte. Einer plötzlichen Eingebung folgend, trat der Wanderer an den niedrigen Zaun und fragte hinüber, ob er wohl eine kleine Zehrung erhalten könne. Die drei hatten den Fremden schon beim Näherkommen mit neugierigen Blicken betrachtet, seine unerwartete Anrede aber machte sie verlegen. Am ehesten fand die Alte Worte. »Wenn der Herr mit einem Trunke frischgemolkener Milch fürlieb nehmen würde --« »Das ist es ja gerade was ich wünsche,« antwortete der Fremde und trat durch die Tür in den Garten. Der Bursche war aufgestanden und bot dem Ankömmling seinen Sitz auf der Bank an, den dieser aber mit einem lächelnden Blick auf das errötende Mädchen dankend ausschlug. Unterdessen hatte die Greisin den Napf zu Boden gesetzt und war dann mit überraschender Beweglichkeit in das Haus geeilt, um bald darauf mit einem Glase Milch und einer Brotschnitte zurückzukehren. Der Fremde, der sich auf einem Grasstreifen des kleinen Gartens niedergestreckt hatte, griff verlangend nach dem dargebotenen Trunk und tat einen tiefen Zug davon. Dann brach er das Brot auseinander, tauchte es in die Milch und verzehrte das einfache Mahl mit sichtlichem Behagen. Die Alte und der Bursche hatten sich wieder zu dem Mädchen gesetzt, und nun ruhten aller Augen auf dem Fremden, der sich so zwanglos vor ihnen niedergelassen hatte, und jeder von ihnen versuchte nach seiner Art zu erraten, welch Standes er wohl sei. Ein Bauer war er nicht, das sah der Bauer auf den ersten Blick. Er war von schlanker Gestalt, noch nicht dreißig Jahre alt und hatte ein von der Sonne stark gebräuntes Gesicht. Seine Züge waren vornehm, seine Haltung und Art edel. Die Kleider hatten einen Schnitt, wie man ihn hier im Dorfe selten sah und waren von feinem Tuche gefertigt. Es war schade, daß man die Farbe des Stoffes nicht recht erkennen konnte, eine so dicke Staubschicht lag darauf. Der Fremde mochte heute früh weit von Rehefeld entfernt aufgebrochen sein. Er war ein Stadtherr, das stand fest. Aber was mochte ihn hierher führen? Vielleicht war er auf der Reise nach Leipzig, denn das kleine Dörfchen bot für einen Mann wie seinesgleichen keine Anziehung. Mit all diesen Fragen beschäftigten sich die drei Rehefelder eifrig, und wenn auch jeder von ihnen viel darum gegeben hätte, zu erfahren, was er zu wissen wünschte, so soll doch nicht verhehlt werden, daß sich besonders das junge Mädchen im geheimen diese Fragen immer wieder auf das eindringlichste stellte, die befriedigenden Antworten darauf ihr aber nicht gelingen wollten. Der junge Bursche rückte wieder an Antonie heran; als er sich aber anschickte, sie wie vorhin zu umfangen, deutete das Mädchen ihm durch stumme Zeichen an, daß dies in Gegenwart des Fremden wohl nicht schicklich sei. Hermann schien jedoch für die verstohlene Äußerung jungfräulichen Taktes nicht das genügende Verständnis zu besitzen, denn sie sah sich veranlaßt, ihm heimlich einen genügend hörbaren Klaps auf die Hand zu geben und dem verdutzt Dreinschauenden obendrein verweisende Worte zuzuwispern. Daß Hermann sie gerade in der Betrachtung des kleinen Medaillons gestört hatte, das verstohlen von dem goldenen Armband des Fremden aus dem Ärmel hervorlugte, und in dem sie mit echt weiblichem Scharfsinn ein schönes Frauenbild vermutete, zu dem wohl zwei schwere Zöpfe gehörten, vielleicht von einem solch lieblichen Blond wie die krausen Locken, die sich unter dem Hute des Fremden hervorgedrängt hatten und nun über der Stirn im leichten Windhauch zitterten, daß Hermann sie aus diesen wichtigen Betrachtungen gerissen hatte, sagte sie ihm freilich nicht. Der Fremde hatte den Rest der Milch ausgetrunken, und Antonie beeilte sich, ihm das leere Glas abzunehmen. Wenn die Alte bisher nur einige Male zu dem im Grase Liegenden heimlich hinübergeschaut hatte, so schien ihr aber jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Verhör gekommen. Eben hatte sie eine große Kartoffel geschält und wie sie diese zerschnitt, fielen beide Hälften klatschend in die Schüssel, daß das Wasser über den Rand spritzte. Und mit diesem Laut war der Bann ihrer Zunge gebrochen. »Der Herr ist heute wohl lange gewandert?« fragte sie. Der Angesprochene hatte sich im Grase lang ausgestreckt und den Kopf in die Hand gestützt; er schien diese Frage schon längst erwartet zu haben. »Ja,« sagte er, »so reichlich zehn Stunden bin ich heute unterwegs, und die Sonne hat mich von allen Seiten gehörig beschienen.« »Ei, ei, das ist lange,« versetzte die Greisin, die ihre Kartoffeln ganz vergaß, »das kann nicht jedermann tun. Nun dafür hat aber der Herr gestern gewiß weidlich geruht.« »Gestern? Ach nein, gestern war’s so wie heute, fast war der Weg noch länger.« Wieder entstand eine tiefe Pause, und jeder der drei Rehefelder spann von neuem seine Gedanken. Hermann sagte sich, daß dieser Fremde doch ein recht närrischer Kauz sein müsse. Man stand im Zeichen der Hundstage, und die liebe Sonne meinte es über alle Maßen gut. Darüber durfte man freilich im allgemeinen nicht böse sein, denn der Hafer und die Kirschen konnten noch ein paar Tage heißen Sonnenscheins gebrauchen. Aber man läuft, wenn man’s anders haben kann, bei dieser Hitze doch nicht durch das ganze Land. Ja, diese Stadtleute! Anders dachte Antonie. Das Mädchen, dessen Bild in der goldenen Kapsel steckte, würde weit entfernt weilen, und nun ließ die Sehnsucht nach der Geliebten ihm keine Ruhe. Er hatte sich also aufgemacht, um sein Mädchen zu überraschen. Allerdings, dachte sie weiter, bequemer hätte es der Verliebte doch gehabt, wenn er die Reise zu Wagen gemacht haben würde. Über das welke, runzlige Gesicht des alten Mütterchens aber huschte das Aufleuchten des Verständnisses. »Zwei Tage so zu marschieren, ist sehr viel,« sprach sie, »besonders in dieser Zeit. Wenn es der junge Herr nun aber einmal getan hat, so ist es gewiß das erste Mal, daß er diesen Weg zurücklegt, und er wähnt mit Recht, daß der Mensch die Schönheit Gottes herrlicher Natur wandernd viel besser genießt, als wenn er in der dumpfigen Postkutsche sitzt und nur durch ein kleines Fenster schauen darf. Und obendrein ist es doch nicht selten, daß die liebe Reisegesellschaft selbst das bißchen Erbauung zerstört, das einem an dem kleinen Fenster vielleicht noch überkommt.« »O, o,« dachten Hermann und Antonie gleichzeitig, »jetzt wird der Herr die Mutter aber auslachen.« Ohne seine bequeme Lage aufzugeben, hatte der Fremde zugehört. Jetzt antwortete er, belustigt durch die geschickt verkleidete Neugier der Alten: »Es geht nichts über Lebensweisheit. Freilich habt ihr Recht! Manch Schönes habe ich gesehen, was mir im Wagen entgangen wäre; und wenn ich, vom vielen Gehen müde, mich am Abend auf das Lager strecke, so bin ich früh doch wieder frisch und zu neuer Wanderung gekräftigt. Freilich bin ich das Marschieren gewöhnt, schon so manches Jahr wandere ich ja in der Welt herum. Aber nach einer Tagesfahrt in solch einem Rumpelkasten ist es mir immer gewesen, als wenn ich für ein schlimmes Vergehen hätte büßen müssen.« Antonie fühlte sich sehr enttäuscht, und ihre bisher unerschütterliche Zuversicht in ihre Menschenkenntnis geriet arg ins Wanken. Die Alte hingegen war befriedigt und schmunzelte vor sich hin. »Da kommt der Herr wohl schon sehr weit her?« hub sie wieder an. »Vielleicht aus dem Thüringischen?« »Gott bewahre,« sagte dieser, »ich komme aus Dresden.« »Ach, aus dem lieben Dresden,« erwiderte die Greisin. »Ich habe sie auch einmal gesehen, die herrlichen Ufer der Elbe. Freilich ist dies schon sehr lange her,« setzte sie mit tiefem Aufseufzen hinzu, »damals lebte ja noch der selige Herr Oskar von Tiefenbach.« Mit einem Ruck fuhr der Fremde herum und schaute der Alten scharf ins Gesicht. Dann sagte er kurz: »Ihr seid die Mutter Lehnhardt, nicht wahr?« Und wie er sich wieder zur Seite wandte, murmelte er: »Aber wie konnte ich das denn nicht gleich wissen!« »Zu dienen, gnädiger Herr,« antwortete die Greisin, »doch woher kennt Ihr meinen Namen?« »Mutter Lehnhardt,« erwiderte der Fremde, »wen der liebe Gott an Jahren so gesegnet hat wie Euch, der wird weithin bekannt, ohne daß er davon weiß. Aber sagt, wie alt seid Ihr denn eigentlich?« »Siebenundachtzig sind es nunmehr gewesen, Herr. Eine lange Zeit ist’s,« fuhr sie redselig fort, »und wie viel die Augen schauen mußten, wie vieles dem Menschen da zustößt, Glück und Leid. Aber der da droben weiß es doch immer so einzurichten, daß den trüben Tagen wieder Sonnenschein folgt. Und wenn ich nun auf mein Leben zurückschaue, auf all die guten und bösen Tage, und ich sollte sagen, welche von ihnen die andern überwogen haben, nun, so muß ich gestehen, daß die trüben Bilder der Vergangenheit verblichen, verschwunden sind, daß mir aber vieles des Fröhlichen, das mir beschieden war, unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben ist. Nun gebe mir Gott nur noch ein sanftes Ende.« Die heitere Zufriedenheit, die in den einfachen Worten lag, drang dem Fremden zum Herzen. Sie klangen von den Lippen der Greisin wie ein Gebet. Und als sie geendet und nun mit ineinander gelegten Händen, den Blick in die Weite gerichtet, eine Weile unbeweglich verharrte, da überkam ihn wieder dieselbe gehobene Stimmung, die er vorhin beim Betrachten der Natur empfunden hatte. Dort hatte er die Ruhe geschaut, die nach beendetem Tagewerk in der weiten Werkstatt des ewigen Schöpfers eingetreten war. Hier sah er einen alten Menschen der ein reiches Leben voll Arbeit hinter sich hatte, und der sich nunmehr mit müden Schritten dem Ende seiner Pilgerfahrt näherte. Um das welke, schmale Gesicht der Alten aber woben die letzten Strahlen der scheidenden Sonne einen lichten Schein. »So kann in der zwölften Stunde seines Lebens nur ein glücklicher Mensch aussehen,« dachte der Fremde. »Ach Mutter Lehnhardt,« sagte er, »vorhin hat dort oben auf der Höhe der Anblick des Schlosses lange meine Aufmerksamkeit gefesselt. Wollet Ihr mir nicht etwas von dem ehrwürdigen Bau erzählen? Ich bitt’ Euch drum.« »Warum nicht, gnädiger Herr,« versetzte die Alte, »wenn Ihr mit meinem Geplauder fürlieb nehmet. Ich tu es gern, denn die Erinnerungen an die seligen Tage meiner Kindheit steigen dabei wieder in mir herauf.« Sie setzte den Napf zu Boden; in dem gleichen Augenblick aber sprang vom Fensterbrett eine gelbe Katze auf ihren Schoß, die schon ein altes Anrecht auf diesen Platz haben mochte. Und während die zitternden Hände der Greisin das glänzende Tier liebkosten, erzählte sie die folgende Geschichte: »Meine Vorfahren haben von Alters her zusammen mit den Tiefenbachs auf dem Weißen Schlosse gelebt, sie die Herren, wir als Diener. Das Amt des Pförtners war es, das meine Väter getreu wahrgenommen und das sich immer vom Vater auf den Sohn vererbte. Die Chronik des Schlosses spricht zum ersten Mal von einem Lehnhardt, der den Obristen Gustav von Tiefenbach während des dreißigjährigen Krieges als Diener begleitete und der, nachdem sie heimgekehrt waren und er seiner vielen Verwundungen wegen nicht mehr kämpfen und das Roß nicht mehr besteigen konnte, Pförtner ward. Hans hat er geheißen und so jeder Sohn bis auf meinen seligen Vater herab. Dieser war der letzte Torwart des Weißen Schlosses. Die Zeiten waren andere geworden; man schaffte das Amt ab. Niemand war damit froher als er, denn Gott hatte ihm keinen Sohn beschert und er gönnte keinem Fremden die Würde. Hanno von Tiefenbach ist der Urahn der Familie, und er war es auch, der unter Kaiser Heinrich dem Vierten das Schloß im Anfang des zwölften Jahrhunderts erbaute. Die bösen Hussiten spielten der Burg später aber sehr übel mit, daß nur noch die Grundmauern stehen blieben, auf denen Herr Arnulf gegen 1450 das Schloß in seiner heutigen Gestalt aufrichtete. Viel Leid wurde dem Bau im dreißigjährigen Krieg durch die Schweden zuteil, die sich aber an seinen unzerstörbaren Mauern tüchtig die Köpfe einstießen. Freilich hat seine Festigkeit durch die langen Beschießungen, denen er zu dieser Zeit ausgesetzt war, stark gelitten. Heute ist das Schloß zwar noch immer bewohnbar, aber wer weiß auf wie lange noch. Diese früheste Vergangenheit, gnädiger Herr, habe ich in den alten Aufzeichnungen des Schlosses gelesen, zum Teil hat sie mir auch mein Vater erzählt. Meine Mutter habe ich nicht kennengelernt, Gott nahm ihre Seele für die meine. Alle süßen Erinnerungen an meine Jugendzeit sind von dem Schlosse unzertrennlich. Mein Vater war, wie man sagte, ein wortkarger, in sich gekehrter Mann, dem der Dienst viel Zeit übrig ließ. Aber nur die Leute nannten ihn wortkarg, daheim war er gesprächig. Mit wehmütiger Freude gedenke ich besonders der langen Winterabende. Während der Vater um neun Uhr das letzte Abendläuten besorgt und dann den letzten Rundgang gemacht hatte, saß ich schon, ungeduldig seiner harrend, in der großen Stube. Kein Laut war zu vernehmen, nur die Wanduhr, deren Gehäuse bis zur Decke reichte, tickte einförmig, und im Kamin knackten und knisterten die schweren Buchenscheite. Ich spitzte die Ohren. Draußen ging der Vater, schon hörte ich seine Tritte. Er prüfte noch einmal den Torriegel und die Verankerung der Zugbrücke, die er schon mit dem Anbrechen der Dunkelheit in die Höhe gewunden hatte. Bevor er sich aber zur Ruhe begeben durfte, hatte er von der Mauer nach dem Dorfe hinab drei Mal ins Horn zu stoßen. Es war dies das Zeichen für die drunten, daß Licht und Feuer gelöscht werden mußten. Und dann kam er! Dicht neben dem Tor war unsere Wohnung, die der Vater selbst besorgte. Die Speisen erhielten wir aus dem Schlosse. Ich war ein rechter Wildfang, immer zu tollen Streichen aufgelegt, furchtlos und ohne Ruhe. Aber wenn es Abend wurde, und der Vater sich zum Erzählen anschickte, dann konnte ich stundenlang sitzen ohne mich zu rühren, und meine Augen hingen an den Lippen meines Vaters. Und wie konnte er erzählen! Alle Sagen, die sich mit der Geschichte des Schlosses verwoben, und die ihm sein Vater berichtet, bekam ich zu hören. Die Begebnisse von Jahrhunderten entrollten sich vor mir, und ich lernte zuletzt alle verstorbenen Tiefenbachs so gut kennen, daß sie mir vertrauter waren, als die Leute im Dorfe. Die Leiber der edeln Herren und Frauen ruhten drunten in dem in den Felsen eingehauenen, hohen Saal. Dort stand die lange Reihe großer und kleiner metallner Särge, über die hinweg es manchmal in wilder Jagd ging, wenn ich mit den beiden Burgkatzen dort spielte. Aber die Seelen der Verstorbenen hatten mich lieb. Mit Hilfe meiner Einbildung waren sie mir treue Spielgefährten, saßen mit mir am Tische, sprachen zu mir und hörten auf meine Worte. Und selbst des Nachts in meinen Träumen erschienen sie mir noch. Das war der Winter. Im Sommer saß ich meist droben in einem der Türme und blickte sinnend hinauf zu dem blauen Himmel, oder hinunter auf die bunten Felder und blumigen Wiesen. Dann schaute ich um mich, soweit mein Auge reichte, und ich dachte, wie schön und wie groß ist doch die Welt! Die flinken Schwalben, die den Turm unaufhörlich umkreisten, und deren leichtbeschwingtem Fluge ich so gern zuschaute, kamen zu mir. Zutraulich setzten sie sich zu meinen Füßen nieder und pickten die Krümchen auf, die von meinem Brote auf den Sims herabfielen. Und wenn ich sie fragte: wie hoch ist der Himmel? Da schauten sie mich mit ihren blanken Augen erstaunt an, zwitscherten so laut, daß es mir schien, als belustige sie mein Fragen, zogen von neuem ihre anmutigen Kreise, stiegen höher und immer höher und verschwanden endlich in den lichtblauen Wellen.« Ein Hustenanfall hieß die Greisin ihre Worte unterbrechen. Ehe sie aber in der Erzählung fortfuhr, sagte sie: »Zürnen Sie mir nicht, Herr, wenn ich auch von mir selbst berichte, aber es würde mir nicht gelingen, vom Schlosse zu sprechen, ohne meine eigenen Erlebnisse dabei zu berühren.« Der Fremde machte eine Handbewegung, die andeutete, daß ihn die Erzählung gut unterhalte, und Mutter Lehnhardt fuhr fort: »So verlebte ich die Jahre meiner Kindheit. Selten kam ich vom Schloß in das Dorf hinunter. Dies geschah nur, wenn mein Vater zu mir sagte: komm, Kind, heute ist Sonntag, da dürfen wir den Gottesdienst nicht versäumen. Dann gingen wir nebeneinander den Weg hinunter. Im Dorfe sah ich viele Menschen im Feiertagsgewand, die ebenfalls zum Gotteshause wanderten, und Kinder, die mit einander spielten. Wenn ich an ihnen vorüberging, unterbrachen sie ihr Spiel und schauten das fremde Gesicht verwundert an. Ihr Zusammensein schien ihnen viel Freude zu machen, aber ich beneidete sie nicht. Droben in meiner stillen Einsamkeit, im luftigen Erker, tief unter mir die Welt und über meinem Haupte das hohe, geheimnisvolle Himmelszelt, dazu das große Schweigen der lebendigen Natur, -- dort war es doch viel schöner! Der Vater hatte mich das Lesen gelehrt, und ich nahm zuweilen ein Buch mit hinauf auf den Turm, da das Zimmer mir zu eng wurde. Aber bald entsank es meiner Hand. Die schwarzen, eckigen Buchstaben erschienen mir steif und tot. Deshalb wollte auch das Lesen an der Stelle, wo Alles Leben ausatmete, nicht recht gehen. Das was die Bücher von den Menschen sagten, erzählte mir der Vater weit besser, und schwach geradezu erschien mir, was ich von Gottes Wunderwerken las. Wie armselig waren die Worte in ihnen, obwohl der Vater mir gesagt hatte, daß sie ein sehr gelehrter Herr niedergeschrieben habe. Das kleine Grashälmchen, das vor mir in der Mauerritze wuchs, die vorbeiziehenden Vögel, die bunten Felder, der glitzernde Bach, die dunkeln Wälder und über mir die Wolken, die majestätisch ihre Bahnen dahinzogen, sie alle führten eine lebendigere Sprache und verkündeten mir mit nicht zu übertreffenden Worten das geheimnisvolle Walten des Höchsten. Aber man muß diese Sprache auch verstehen! Ein jäher Schlag sollte meinen Freuden ein rasches Ende bereiten. Ich war sechzehn Jahre alt. Mein Vater wurde krank und starb nach wenigen Tagen. Mich nahm man ins Schloß, wo ich der alten Beschließerin zur Hand gehen mußte. Aber das Arbeiten machte mir Freude. Es ließ mir freilich nicht mehr so viel Zeit zum Träumen, half mir aber den schmerzlichen Verlust des innig geliebten Vaters leichter ertragen. Der Herr des Schlosses war zu jener Zeit der greise Herr Leopold von Tiefenbach. Er hatte in Polen zur Seite König Augusts des Starken wiederholt gekämpft und war von ihm zum Lohne für seine Tapferkeit in den Freiherrnstand erhoben worden, mit der Bestimmung, daß dieser Titel sich auf den ältesten Sohn in der Familie vererben solle. Die edle Gattin des Schloßherrn, die schon lange gestorben war, hatte ihm drei Söhne hinterlassen. Dem ältesten, Udo, wurde einmal das Schloß. Damit aber auch seine Brüder Oskar und Egbert einen eigenen Besitz haben sollten, ließ der Vater unten im Dorfe ein Anwesen errichten, für das er von den Bauern die besten Felder kaufte, und das von der Zahlung der Abgaben an das Schloß befreit wurde. Schöne steinerne Gebäude wurden aufgeführt, und mit allem wurde das Gut reichlich versehen. Dann übergab er es einem alten Bauern aus dem Dorfe zum Verwalten. Erst nach des Vaters Tode sollten die beiden Brüder den Freihof beziehen. Der Erbe des Majorats hatte sich mittlerweile die junge Gräfin von Eckartsberg zur Gattin erkoren. Sie war eine blendend schöne Frau, aber so stolz! Hu, es schauerte einem, in ihrer Nähe zu weilen, ein solcher Eishauch ging von ihr aus. Sie hatte für uns Leute keinen Blick. Der Freiherr sah stillschweigend auf die Schwiegertochter, als wenn er im Innern die Wahl seines Sohnes nicht recht billigen könne. Aber Herr Udo war von ihrer Schönheit ganz geblendet und gab sich ihrem Einflusse willig hin. Schon immer war er ja selbst unfreundlich mit den Schloßbediensteten gewesen, jetzt achtete er unser gar nicht mehr. Sein um zwei Jahre jüngerer Bruder Oskar bildete den schroffsten Gegensatz zu ihm. Schon äußerlich ähnelten die Brüder sich nicht. Während Udo klein und zierlich war, war Oskar von hohem Wuchs und hatte einen kraftvollen Körper. Er war unser aller Liebling und stets auf unser Wohl bedacht. Aber zuweilen konnte er doch sehr zornig werden! Vor allem duldete er nie den leisesten Widerspruch. Der jüngste der Brüder, Egbert, war wieder zart und hing mit inniger Liebe an Oskar. Just um dieselbe Zeit, zu der Udo fast täglich nach Eckartsberg hinüberritt, um die schöne Gräfin Sophie zu besuchen, faßte Oskar eine tiefe Zuneigung zu der Tochter eines der angesehensten Bauern des Nachbardorfes Zehmen. Einen glücklichen Ausgang dieses Verhältnisses zu finden, war aber sehr schwierig, da sich bisher noch kein Tiefenbach ein Mädchen niederer Geburt zur Gattin erwählt hatte. Aber Herr Oskar war nicht der Mann, sich von der Ausführung eines Vorhabens durch Hindernisse zurückhalten zu lassen. Und er sann darüber nach, wie er des Vaters Einwilligung zu diesem Schritt erhalten könne. So oft er den Vorsatz aber faßte, ihm seine Neigung anzuvertrauen, ebenso oft verschob er das Geständnis auf eine günstigere Gelegenheit. Da kam ihm das Schicksal entgegen. Das was ich jetzt erzähle, gnädiger Herr, habe ich später wiederholt von Herrn Oskar selbst gehört, als er es seiner Tochter, der jetzigen Freihoferin mitteilte. Der Freiherr ließ Oskar eines Tages rufen und forderte von ihm Rechenschaft. Der Vater der Geliebten war auf das Schloß gekommen und hatte dem Freiherrn mitgeteilt, daß er die Besuche seines Sohnes Oskar, so hoch er ihn auch schätze, nicht mehr gestatten dürfe, da andernfalls seine Tochter zum Gespött der Leute werden würde. Er brauche es wohl kaum auszusprechen, hatte er weiter erklärt, daß die Neigung des Herrn von Tiefenbach ihn und seine Familie hoch ehre, aber er müsse es als Vater verhindern, daß auf den Namen seiner Tochter auch nur der Schein eines Makels falle. Der Herr Baron möge sich nur in seine Lage versetzen. Oskar war der Lieblingssohn des alten Freiherrn, der seinen geraden und vornehmen Sinn hoch achtete. Aufmerksam hörte er das Geständnis seines Sohnes an, das in der Bitte ausklang, ihm kein Hindernis zu bereiten, sondern die viele Liebe und Güte, die er ihm bis jetzt zugewendet, durch seine Einwilligung zu dem Herzensbund von neuem zu bezeigen. Dabei verfehlten die einfachen Worte, mit denen Oskar den trefflichen Charakter der Geliebten schilderte, wie auch die männliche Festigkeit gepaart mit kindlicher Unterwerfung, mit der er seine Bitte vorbrachte, nicht, einen tiefen Eindruck auf den Freiherrn zu machen. Er kannte seinen Sohn und wußte, daß er ein echter Tiefenbach war. Der Vater versammelte darauf seine drei Söhne um sich und sprach über Oskars Neigung und Bitte. Er sei weit davon entfernt, seinem Kinde dafür zu zürnen, daß es das zu tun begehre, was ihm sein Herz gebiete. Denn nicht bloß in Schlössern, sondern auch in Hütten werde der Adel der Gesinnung geboren, und er sei davon überzeugt, daß jeder von ihnen wisse, was er dem fleckenlosen Wappenschilde des Geschlechtes schulde. Wenn er aber nicht ohne weiteres sein Jawort erteilen könne, so wäre es deshalb, weil dieser Schritt in der Familie noch nie getan worden sei, und er ihm die höchste Bedeutung beimesse. Er müsse erst Rat mit sich halten, bevor er einen Entschluß fassen könne. Bis dahin möge Oskar sich gedulden und der Liebe seines Vaters vertrauen. Mit diesen Worten küßte der Freiherr den Sohn auf die Stirn, dem, überwältigt von der tiefen Bewegung, die die gütigen Worte bei ihm hervorgerufen hatten, die Tränen in die Augen getreten waren. Wenige Tage darauf standen die Brüder erschüttert an der Leiche ihres Vaters. Er hatte einen Ritt über die Felder unternommen. Beim überraschenden Auffliegen eines Rebhühnervolkes hatte das Pferd gescheut und den alten Herrn abgeworfen. Unglücklicherweise war er mit dem linken Fuße im Steigbügel hängen geblieben und von dem galoppierenden Pferde eine große Strecke geschleift worden. Und als es dann gelang, das Tier aufzuhalten, fand man den Freiherrn entseelt vor. Ja, Herr,« begann die Greisin nach einer Pause von neuem, »wir fühlten uns alle verwaist; es war, als wenn uns der Vater genommen wäre. Eine düstere Ahnung sagte den Dienstleuten, daß die gute Zeit für sie vorüber sei. Seitdem die junge Frau an Herrn Udos Seite in das Schloß eingezogen war, hatte ich bei ihr den Dienst als Zofe verrichtet. Es war dies eine schlimme Zeit für mich! So viele Mühe und Sorgfalt ich auch auf meine Arbeiten verwendete, wurde mir von meiner Herrin doch niemals ein Wort der Anerkennung zuteil. Zürnende Blicke und Scheltworte empfing ich täglich und wenn ich glaubte, daß ich alles getan, um meine Arbeit zur Zufriedenheit verrichtet zu haben, erntete ich Tadel. Wie schmerzlich trafen mich die kränkenden Worte! Als sich der Tag des Begräbnisses seinem Ende zuneigte, und die letzten Leidtragenden von der Tafel aufgestanden waren und das Schloß verlassen hatten, forderte der neue Schloßherr seine Brüder auf, ihn in das Zimmer des Vaters zu begleiten. Schon immer hatte ich gefürchtet, daß Udo und Oskar einmal hart an einander geraten würden. Aber zu Lebzeiten des alten Freiherrn vermied es Udo, den Bruder zu reizen. Udos Verhalten aber war, seitdem er den Einflüsterungen seiner Gemahlin das Ohr lieh, immer herrischer und finsterer geworden und das Verhältnis der beiden Brüder zu einander immer gespannter. Heute sollte das von mir längst Vorausgesehene eintreten. Der Vorfall dieses Abends ist mir, da ich wider Willen Zeuge sein mußte, unvergeßlich geblieben. Nachdem ich der gnädigen Frau Baronin beim Auskleiden behilflich gewesen war, war ich dabei, die starken Zöpfe aufzumachen, um das Haar zu kämmen und für die Nacht von neuem einzuflechten. Ich hatte gerade die letzte Flechte geöffnet und breitete nun das seidenartige Haar aus, das ihre blendendweißen Schultern wie ein goldener Mantel umfloß. Da hörte ich, wie die Brüder in das anstoßende Zimmer traten. Einen Augenblick verharrte die Frau Baronin unbeweglich, sie schien um einen Entschluß zu kämpfen. Dann stieß sie mir die Hände zurück und sprang zu der hohen Flügeltür, die sie, während die Herren sich Stühle heranzogen, leise öffnete. Mit einer weiteren, unerhörbaren Bewegung glitt sie sodann zu der Lampe vor dem hohen Spiegel auf dem Putztisch und schraubte die Flamme tief herab, damit kein verräterischer Lichtschimmer in das Nebenzimmer falle. Darauf näherte sie sich mir, beugte sich zu meinem Ohre nieder und raunte mir zu, daß ich mich nicht von der Stelle rühren solle. Sie selbst trat an den Türspalt. Ich stand dicht hinter ihr und sah die Herren sitzen. Mir war so unsagbar bang zu Mute, kaum wagte ich, zu atmen, aus Furcht, daß die Atemzüge meine Gegenwart verraten könnten. Der Freiherr saß am Schreibtisch des Verstorbenen und entnahm diesem eine dicke Ledermappe, die er öffnete und deren einzelne Blätter er aufmerksam prüfte. Die beiden Brüder schauten ihm zu. Nach einer Weile sagte Herr Udo: »Das Testament des Vaters ist so geblieben, wie er es uns früher schon einmal vorgelesen hat. Überzeugt Euch davon, hier ist es.« Mit diesen Worten reichte er es Herrn Oskar. Dieser öffnete das Blatt, sah flüchtig darauf und gab es sodann Egbert, der das Papier zusammenfaltete und es, ohne einen Blick hineingeworfen zu haben, zurück auf den Schreibtisch legte. »Ihr erkennt also das Testament für richtig an?« fuhr der Freiherr fort. Die Brüder bejahten. Eine Pause trat ein, keiner rührte sich. Nur die hastigen Atemzüge der Frau Baronin vernahm ich. Herr Udo hielt seine Augen auf die lederne Mappe gerichtet, als er langsam begann: »Oskar, hast Du Dich schon entschlossen, wann Du die Bewirtschaftung des Freihofes übernehmen willst?« »Ja,« klang es zurück, »noch heute.« Das Gesicht des Freiherrn blieb bei diesen Worten unbeweglich. Er wandte sich an den jungen, mädchenhaften Herrn Egbert und sagte: »Ich brauche es wohl nicht erst auszusprechen, daß Dir, solange Du es wünschest, alles in bisheriger Weise zur Verfügung steht.« Der Angesprochene schien verwirrt durch dieses Anerbieten. Er sah einen Augenblick vor sich nieder, dann sagte er: »Du bist sehr gütig, Bruder. Aber ich gehöre ebenfalls auf den Freihof.« Der Freiherr blieb regungslos. »Wie Ihr wollt. Trefft Eure Anordnungen für die Überführung Euers Eigentums nach Euerm neuen Heim. -- Noch eine Frage: Glaubt Ihr, noch einen Anspruch an mich zu besitzen, oder ist Euch das geworden, was nach des Vaters Willen und den Gesetzen Euch geziemt?« Die Brüder erklärten sich für abgefunden. Während dieser Worte waren die Herren aufgestanden. Der Freiherr und Herr Oskar standen einander gegenüber, hinter diesem stand Herr Egbert. Sekunden vergingen, ohne daß einer von ihnen das Schweigen brach. Das Abschiednehmen schien allen schwer zu fallen. Ich beobachtete Herrn Oskar; der volle Schein der Lampe fiel auf sein Gesicht. Er dachte wohl an den teuern Toten, der an diesem Tische so oft gesessen hatte und dessen Wunsch es immer gewesen war, die Brüder einträchtig zu sehen. Seine Blicke schweiften im Zimmer umher und hafteten bisweilen längere Zeit auf einem Gegenstand, ehe sie weiter glitten. Das alte Schreibzeug, gefertigt aus dem wunderlich gewachsenen Gehörn eines Rehbocks, das dunkle Eckbrett, auf dem die vielen Pfeifen mit tönernen und hölzernen Köpfen sorgfältig gehütet neben einander standen, der kunstvoll geschnitzte Tisch, die schweren Stühle und die vielen Gegenstände aus Hirschhorn, -- alle schienen ihn vertraulich zu grüßen wie einen alten, lieben Bekannten. Sein bisher düsteres Auge hellte sich auf, als wenn er der Tage gedächte, in denen er es als eine Gunst betrachtete, wenn er spielend in des Vaters Arbeitszimmer verweilen durfte, während dieser am Schreibtische saß. Da fiel Herrn Oskars Blick hinauf auf das Bild, das dort über dem Tische in schlichtem Rahmen hing: das Bild des teuern Vaters, das ihn bereits gebeugt unter der Last der Jahre wiedergab. Er sah die Augen des Verblichenen auf sich gerichtet, als ob er ihn ermahnen wolle, seine Handlungen nicht von Verdruß und Eigensinn beherrschen zu lassen. Den jungen Mann überkam eine tiefe Wehmut. Hier standen sie nun, die Brüder, die Söhne des Mannes, der stets bestrebt gewesen, wohlzutun, und der den geringsten der Menschen nicht von sich gehen lassen mochte, ohne freundlich zu ihm gewesen zu sein. Sie standen hier am Scheidewege. Und nach der Stimmung, die sie beherrschte, genährt durch ihre ungleichen Naturen, bedeutete ihr Auseinandergehen eine Trennung fürs Leben. So wollten sie seine Lehren in den Wind schlagen! Und dabei war er gewiß mit einem Gebet für sie aus dem Leben gegangen. Hingerissen von der tiefen Bewegung, die ihn erfüllte, trat Oskar mit raschen Schritten auf den Bruder zu, der zwischen Stuhl und Schreibtisch stand, und streckte ihm die Hand entgegen. Der Freiherr richtete sich bei dem plötzlichen Näherkommen des Bruders auf und sah ihm unverwandt in die Augen. Ein heftiges Zittern überfiel mich, denn ich bemerkte, wie das Gesicht des Herrn Oskar unter diesem Blicke starr wurde. Langsam sank ihm die Hand herab. Da begann der Freiherr, seine Stimme klang kalt: »Ich muß mit Dir noch ein Wort sprechen, Oskar, bevor wir scheiden. Ich stehe vor Dir, als der Vertreter der Familie, als das Oberhaupt eines, wie Du weißt, der ältesten Geschlechter des Landes, dessen Wurzeln selbst bis in die Zeit des Werdens der Wettiner hineinragen. Die höchsten Ziele, die unsern Vorfahren vor Augen standen, waren allzeit die Gunst ihrer gnädigen Landesherren, die Hochhaltung ihres fleckenlosen Namens und ein seliges Ende. Und um diese edeln Güter kämpften und starben sie. Die Jahrhunderte haben unter den Tiefenbachs die verschiedensten Naturen gesehen, aber es hat keinen unter ihnen gegeben, bei dessen Erwähnung die Nachkommen erröten müßten. Die Ehre stand ihnen über allem. Aus all’ diesem aber ergibt sich von selbst, daß die Glieder eines so uralten und stolzen Geschlechts heilige Pflichten haben, und daß das Ansehen des Namens sie selbst zu Opfern bereit finden muß. Und deshalb, Oskar, halte ich es für meine Pflicht, Dich zu ermahnen, daß Du niemals die uns heiligen Traditionen vergessen mögest, damit auch die kommenden Geschlechter das Andenken ihrer Väter so rein finden, wie wir es vorgefunden haben!« Der Freiherr hatte die Worte langsam und mit zuweilen scharfer Betonung gesprochen. Am Schluß seiner Rede hatte er die Stimme erhoben. Oskar stand wie eine Bildsäule und starrte dem Bruder ins Gesicht. Er hatte die Herrschaft über sich vollkommen verloren, seine breite Brust bewegte sich in tiefem Heben und Senken, wie von einer übermächtigen Leidenschaft bemeistert. Wiederholt versuchte Oskar zu sprechen, aber die Sprache versagte ihm den Dienst. Endlich drangen zwischen den bebenden Lippen die abgerissenen Worte hervor: »Warum das, warum diese seltsamen Ermahnungen, mit denen Du mich, wie Du empfinden mußt, tief verletzest? Aber ich will selbst den Kern aus seiner Hülle schälen: ein falscher Stolz verbietet Dir, Dich damit abzufinden, daß Dein Bruder um sein Weib anderswo freit, als dort, wo es bisher für einen Edelmann der Brauch wollte. Ich gebe es zu, daß der von mir beabsichtigte Schritt, als erster dieser Art, dem Zuschauenden ungewöhnlich erscheinen muß. Aber das zu tun, was man in früheren Zeiten zu unterlassen für richtig fand, wird einstmals gute Sitte, sofern es nicht mit den göttlichen Gesetzen in Widerspruch steht. So will es der Wandel der Zeiten und der Wille der Menschen, der ihren Tagen die Prägung gibt, und es wäre töricht, wollte man es versuchen, den Lauf des rastlos vorwärts tosenden Weltenstroms aufzuhalten. Mit Dir aber von dem zu sprechen, was mir ein Heiligtum ist, hieße, dies Heiligtum verunglimpfen. Ich werde meinen Vorsatz ausführen und niemand soll es wagen, mich daran zu hindern. Spätere Tiefenbachs mögen meine Richter sein!« Herr Oskar war, während er sprach, ruhiger geworden. »Und ich verbiete Dir, daß Du den Namen unserer Familie in den Schmutz ziehst!« schrie der Freiherr, mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Hüte Dich, mich noch einmal zu reizen,« klang es zurück, »schon viel zu weit hast Du dieses frevelnde Spiel getrieben. Ich trage in meinem Innern die unumstößliche Überzeugung, daß der Vater meinen Schritt noch gebilligt haben würde, und nur der überraschende Tod ihn verhinderte, mir seinen Segen zu geben. Ich habe Dir bereits erklärt, daß ich meinen Vorsatz ausführen will, und ich werde ihn ausführen!« »Und wenn es nicht in meiner Macht steht, diesen Schritt zu verhindern, so vermag ich doch, mich der Mittäterschaft zu entziehen, indem ich alle Bande, die uns bisher fesselten, von diesem Augenblick ab für gelöst erachte. Du trittst mit dem Verlassen des Schlosses gleichzeitig aus der Familie der Tiefenbachs aus. Du bist nunmehr frei, wirf Dich in die Arme einer Dir ...« »Halt ein, kein Wort weiter!« donnerte Herr Oskar, den die Wut sinnlos machte, indem er auf den Bruder eindrang. »Wenn Du weiter sprichst, so stehe ich für meine Handlungen nicht mehr ein! So mißbrauchst Du also den Platz, den Dir unser edler Vater soeben abgetreten hat. Wehe Dir, Du Vermessener, der Du noch nicht weißt, ob Dir mit Deinem hochmütigen Sproß aus vornehmem Geschlecht so glückliche Tage beschieden sein werden, wie mir mit dem Weib aus dem Dorfe. Aber,« fuhr er fort, und seine mächtige Stimme dröhnte von den hohen Wänden des Gemaches wider, »ich gebe Dir Dein Wort zurück. Aufgehoben sei alle Gemeinschaft zwischen uns und unsern Nachkommen, und ein Gottesgericht treffe den, der es wagen sollte, diesem Spruche zu trotzen!« Während dieser letzten Worte war die Frau Baronin unbemerkt durch die Tür in das Zimmer getreten, das Haar offen und den Nachtmantel von den Schultern herabgesunken. Ihr Gesicht war marmorbleich, und ihre Augen funkelten vor Zorn. »Udo!« schrie sie den Freiherrn an, »laß diesen Menschen mit Hunden vom Schlosse hetzen! Rühr Dich doch, handle! Hörst Du nicht, wie sie in ihren Ställen hungrig kläffen, sie wittern Aas. Mich verlangt es danach, sein Schmerzensgeschrei zu hören! So handle doch, -- Memme!« Und sie brach in ein entsetzliches Lachen aus. Herr Oskar hatte sich schon zur Tür gewandt um das Zimmer zu verlassen. Egbert folgte ihm. Noch einen Augenblick hielt Oskar inne und sagte zu dem Bruder: »Sieh doch, Egbert, dieses Weib ist wahrhaftig eine Teufelin!« Dann schlug die Tür hinter ihnen krachend zu. Meine Glieder waren wie gelähmt. Jetzt kam Bewegung in mich. Von einer wahnsinnigen Angst erfaßt, stürzte ich den Brüdern nach. Auf der Treppe erreichte ich sie und alle Rücksichten, die mir meine Stellung gebot, vergessend, hing ich mich an Herrn Oskars Arm und flehte mit bebender Stimme: »Gnädiger Herr, nehmen Sie mich mit fort von hier, und lassen Sie mich Ihre niedrigste Magd sein!« Er blieb stehen und schaute sich nach mir um. Ich fühlte, wie seine Hand über meine brennende Stirn strich. Eine dunkle Binde schien sich auf meine Augen zu legen. Ich merkte noch, daß er die Arme um mich schlang, mich aufhob und mit mir die Treppe hinabstieg; dann verlor ich das Bewußtsein. In derselben Nacht jagte ein heftiger Donnerschlag die Bewohner des Dorfes aus den Betten; -- der westliche Turm des Schlosses war eingestürzt. Drei Monate später fand auf dem Freihofe Hochzeit statt. Die Wunde, die der Tod des Freiherrn geschlagen, war noch zu frisch, daß man laut gejubelt hätte. Aber es war doch ein Ereignis, zu dem die Gäste und viele Neugierige von weit und breit zusammenströmten. Und als der festliche Spruch verklungen war, den Herr Egbert auf eine fröhliche und glückliche Zukunft des Brautpaares ausgebracht hatte, erhob sich der Bräutigam von seinem Platze. Unter lautlosem Schweigen sprach er mit schlichten Worten aus, wie er der Stimme seines Herzens hätte folgen müssen und er fortan nicht bloß unter den Bauern sein Leben zubringen wolle, sondern daß er stolz sein würde, als ein rechter Bauer genannt zu werden. Der Schritt, den er unternommen, hätte eine tiefe Kluft zwischen ihm und denen auf dem Schlosse aufgetan. In seiner Brust aber wohne kein Zwiespalt, denn er trage die Überzeugung von der Makellosigkeit seines Tuns. Und die Liebe seines Weibes und das Vertrauen und die Zuneigung seiner Nächsten würden ihn reich entschädigen. -- Nun, Herr Oskar von Tiefenbach fand in seiner Ehe das was er erhofft hatte in reichem Maße, denn mit dem jungen Weibe war das Glück auf dem Freihof eingezogen. Sie war eine tüchtige Bäuerin und eine zartsinnige Lehrmeisterin für ihren Gatten. In wenigen Jahren schien es, als wenn Oskar von Tiefenbach nie anderswo als auf einem Bauernhof gewohnt habe; er war ein Landmann geworden, der seinen Beruf erkannt hatte und reiche Befriedigung in ihm fand. Des Freihofers sicheres und treffendes Urteil, seine vielseitige Bildung und nicht zuletzt sein biederer, freimütiger Charakter zog alle zu ihm hin, und bald betrachteten ihn die Dorfbewohner als einen der ihrigen. Von dem Freiherrn sprach er nie, aber ein glühender Haß gegen den Bruder erfüllte seine Seele. Herr Egbert hatte kurze Zeit nach der Vermählung den Freihof verlassen und war zum Hof des Kurfürsten nach Dresden gegangen. Dieser nahm ihn als Junker auf, und schon ein Jahr später bat er seinen Bruder und die Schwägerin, seiner Hochzeit mit der Tochter des Generals von Zeschau beizuwohnen. Mit Jubel wurde diese Botschaft auf dem Freihofe begrüßt, und Herr Oskar und Frau Martha trafen ihre Vorbereitungen zur Reise, auf der ich sie begleiten sollte. Bei dieser Gelegenheit sah ich das liebe Dresden, und die Erinnerungen an jene Tage sind mir bis in mein hohes Alter getreulich gefolgt. Bald darauf verließ ich den Freihof, um meinem Ferdinand die Hand fürs Leben zu reichen. Im darauffolgenden Jahre bescherte mir Gott ein wonniges Glück: ich genas eines Knaben, während mein Mann unter Sachsens Fahnen gegen den großen Preußenkönig focht. Wenige Wochen später drang die Kunde der Niederlage der Sachsen bei Kesselsdorf durch das Land. Alles war bestürzt. Ich aber weinte und hielt mein Kind fest umschlungen, denn ich hatte meinen Mann verloren und war eine Witwe von einundzwanzig Jahren. Ich ging wieder zu den Tiefenbachs. Die Freihoferin war eben vom Wochenbett aufgestanden. Kurz darauf warf eine hitzige Krankheit sie hart darnieder. Und während die Arme mit dem Tode rang, gab ich dem Neugeborenen und meinem eigenen Kinde die Brust. Da die Krankheit nur langsam wich, stillte ich ihr Mädchen auch weiterhin. Das ist nun freilich schon lange her! Das Mädchen wuchs heran, und heute ist Konstanze von Tiefenbach Freihoferin. Sie war schon über die Vierzig hinaus, als sie sich vermählte. Des Herrn Egberts Sohn war gekommen, um die traurige Botschaft zu bringen, daß er kurz nacheinander Vater und Mutter hätte begraben müssen. Das Leben auf dem Freihof, mehr aber noch die Liebe zu seiner Base, bewogen ihn zum bleiben für immer. Ein Knabe und ein Mädchen entsprossen ihrer Ehe. Nun ist auch die Freihoferin alt geworden und hat ihrem Sohne Max die Sorge um den Hof überlassen. Mein Sohn hielt es in Rehefeld nicht lange aus. Als junger Bursche schnürte er das Ränzel und zog viele Jahre in der Welt umher. Endlich war er müde geworden. Er kehrte heim zu seiner Mutter und brachte sein Weib mit, ein junges Ding aus dem Norden Italiens, mit großen, schwarzen Augen und einem Mund voll blendendweißer Zähne. Sie hatte viel Gemüt, aber leidenschaftlich heftig konnte sie sein. Nun ruhen auch er und sein Weib schon längst unter dem Rasen. Aber zurückgelassen haben sie mir doch etwas Liebes. Gelt, Hermann,« sagte die Greisin, sich zu dem jungen Mann neben ihr wendend, der bei ihren Worten errötete, »Du bist die Freude meines Alters! Treu habe ich den Tiefenbachs während vieler Jahre gedient und gute und böse Zeiten mit ihnen durchlebt. Jetzt esse ich seit Jahren das Gnadenbrot, das mir die mildtätige Freihoferin gewährt. Meine Kräfte taugen nichts mehr, sie sind dahin. Ich kann den Tiefenbachs nicht mehr nützlich sein. Dafür ist Hermann aber an meine Stelle getreten. Er waltet auf dem Freihofe als rechte Hand des Herrn Max.« Die Greisin hatte ihre Erzählung beendet; nun schwieg sie erschöpft. Die beiden Liebenden saßen eng umschlungen neben einander. So ausführlich wie heute, hatte die Mutter lange nicht erzählt. In Gedanken versunken, schaute der Fremde hinüber zu dem Schlosse, in dessen Fenstern sich das letzte Abendrot spiegelte. »Was ist aus Udo von Tiefenbach und seiner schönen Frau geworden?« fragte er. »Das Verhältnis der beiden Ehegatten zu einander wurde von Jahr zu Jahr schlechter. Auch die Geburt eines Sohnes konnte keine Besserung herbeiführen. Die Baronin Sophie liebte rauschende Feste, deshalb erfüllte sie das stille Schloß mit Lärm. Später ging Herr Udo mit seiner Gemahlin während des größten Teils des Jahres auf Reisen. Eines Tages kehrte er allein zurück. Man sagte, die Baronin sei mit einem österreichischen Edelmann auf und davon gegangen. Verbittert und weltscheu ist er im hohen Alter gestorben.« »Und ist der Haß zwischen den beiden Familien nunmehr geschwunden?« Die Greisin seufzte tief auf. Dann sagte sie: »Der heutige Freiherr und seine Tochter Maria sind tief betrübt über die zerrissenen Bande der Tiefenbachs; in den Leuten auf dem Freihofe aber lodert noch der Haß, wie ehedem in Herrn Oskars Brust!« Schweigend sah der Fremde wieder nach dem Schloß hinüber, auf das nunmehr die Dämmerung leichte Schatten warf. Niemand sprach ein Wort. Die gelbe Katze in Mutter Lehnhardts Schoß schnurrte nur emsig. Plötzlich richtete sich das Tier auf, machte einen hohen Buckel und sprang auf die Erde. Die nassen Stellen auf den Steinen sorgfältig vermeidend, lief es nach der Tür und verschwand dann im Hause. Der bisher leichte Wind hatte sich verstärkt. Seine Kühle war während des Erzählens unbemerkt geblieben, jetzt aber begann den Fremden zu frösteln. Langsam stand er auf, und mit ihm erhob sich der kleine Kreis. Er zog seine Börse, ein Gespinst von feinen Silberfäden, und entnahm ihr ein Geldstück. »Mutter Lehnhardt,« sagte er, »ich bin Euch vielen Dank dafür schuldig, daß Ihr meinen Wissensdrang nach der Geschichte des Schlosses und der Familie Tiefenbach so erschöpfend befriedigt habt. Nehmt diese Gabe und herzlichen Dank obendrein.« Die Greisin wollte ihm wehren, aber er drückte ihr das Geld in die Hand. Betroffen sah es die Alte an: »Herr,« sagte sie, »Ihr habt Euch vergriffen, -- einen Silbertaler ...!« »Nehmt ihn nur,« entgegnete der Fremde, »und betrachtet ihn aufmerksam, denn er trägt das Bildnis unseres allergnädigsten Königs Friedrich August.« Die Greisin verneigte sich tief vor dem Fremden und würde ihm die Hand geküßt haben, wenn er sich nicht so schnell zur Tür gewandt hätte. »Lebt wohl, Mutter Lehnhardt,« sagte er, »wir sehen uns heute nicht zum letzten Mal.« »Ach,« fragte diese erstaunt, »dann führt den Herrn wohl der Weg hinauf auf das Schloß?« Der Fremde war mittlerweile, zum Abschied grüßend, auf die Straße getreten und hatte sich zum Weiterschreiten gewandt, als er die Frage der Greisin vernahm. Lächelnd wandte er sich noch einmal um und rief zurück: »Auf das Schloß nicht, -- auf den Freihof!« 2. Kapitel. Max von Tiefenbach war von einem scharfen Ausritt heimgekehrt, den er in der Richtung auf Zehmen zur Besichtigung des Saatenstandes unternommen hatte. Nun stand er auf dem Hofe neben dem warm gewordenen Pferde und strich ihm über die Fesseln der Vorderfüße, nachdem er die braunen Wickelbänder von ihnen gelöst hatte. Das Tier schlug mit dem langen Schweife kräftig seine Weichen, um sich der Mücken zu erwehren, die es umschwärmten. Sein Herr verfolgte aufmerksam diese Anstrengungen und kam ihnen dadurch zu Hilfe, daß er selbst hier und da einen dieser Blutsauger abschlug. Drüben am Stalle stand ein Knecht, der einen Strohwisch drehte, um den Braunen damit abzureiben. Herr von Tiefenbach versetzte dem Pferde einen leichten Schlag auf den Schenkel, worauf das Tier hinüber nach dem Stall trabte. Hell klang der Hufschlag von dem Pflaster des weiten Hofes wider, dessen Einzelheiten in der hereinbrechenden Dunkelheit dem Auge bald verschwanden. Hierauf ging der Herr des Freihofs noch einmal durch die Rinderställe und trat dann wieder auf den Hof, um sich nach dem Familienhaus zu begeben, als er vom Tore her Schritte vernahm, die sich rasch näherten. Er wandte sich um. Wer konnte das sein? Von den Leuten war vielleicht noch ein Verspäteter mit einer letzten Verrichtung des Tages beschäftigt, die meisten von ihnen aber saßen schon geraume Zeit drinnen in der Stube beim Abendessen. Das Abendläuten hatte eben begonnen. Es war neun Uhr. Der Unbekannte hatte den Mann auf dem Hofe entdeckt und ging auf ihn zu. Als er näher an ihn herankam, verlangsamte er die Schritte, bis er dicht vor ihm stehen blieb. »Grüß Dich Gott, Max!« sagte er, indem er dem Angesprochenen die Hand darbot. Dieser trat erstaunt an den Sprecher heran. Die Stimme klang ihm bekannt, ohne daß er es vermocht hätte, ihren Besitzer zu erkennen. Obwohl die Körpergröße des Fremden noch über das Mittelmaß hinausragte, erschien er doch klein neben dem mächtigen Wuchs des Herrn von Tiefenbach, der sich deshalb auch herabbeugen mußte, um dem Fremden scharf ins Gesicht zu schauen. »Bernhard! Ist es möglich, Du hier!« rief er erfreut aus, den Angekommenen herzlich umarmend. »Willkommen, willkommen auf dem Freihofe! Jahrelang habe ich vergebens auf Deinen Besuch gewartet, und nun kommst Du so überraschend. Das hast Du recht gemacht, alter Junge!« »Du hättest eigentlich Ursache, mir zu zürnen, Max,« antwortete der Fremde, »nachdem ich Dir für vorigen Sommer meinen Besuch bestimmt versprochen hatte. Aber Du weißt, der Soldat ist eben selten in der Lage, über seine Zeit zu verfügen; er harrt immer der Oberen Befehle.« Herr von Tiefenbach hatte seinen Arm schon unter den des Freundes geschoben und führte diesen nach der offenen Tür des Hauses. Bevor sie eintraten, blieb Max plötzlich stehen und fragte: »Wirst Du uns aber auch nicht gleich wieder verlassen? Wie lange hast Du denn Urlaub?« »Beruhige Dich, mein Lieber,« antwortete der Angekommene. »Da ich nun einmal hier bin, wirst Du mich nicht so bald wieder los.« Sie waren bei diesen Worten in den dunkeln Hausflur getreten. Max ging schnell voraus und öffnete eine Tür, durch die heller Lampenschein herausdrang. »Mutter,« rief er, »einen Gast bringe ich Dir. -- Rate einmal wer es ist!« Der Blick des Fremden fiel in das Zimmer, ein geräumiges Gemach mit schweren, altväterischen Möbeln, das von einer Hängelampe erleuchtet wurde. In der Mitte des Raumes stand ein großer, runder Tisch, auf dessen weißem Tuche das Abendbrot aufgetragen war. In einem hochlehnigen, mit Leder bezogenem Stuhle saß eine Frau, die in einem Buche las, von der Form der auf dem Lande damals im Gebrauche befindlichen Andachtbücher. Bei den hastig ausgestoßenen Worten ihres Sohnes nahm Frau von Tiefenbach langsam die Brille mit den runden Gläsern von der Nase, klappte das Buch zu, erhob sich vom Stuhle und schaute auf die Eintretenden. Sie hatte, wie ihr Sohn, die hohe Gestalt der Tiefenbachs und schien sich den Siebzigern zu nähern. Die leichtgebeugte Haltung des mit tiefschwarzem, glattgestrichenem Haar bedeckten Kopfes deutete auf starkes Selbstbewußtsein. Aus dem hagern Gesicht ragte die starke Nase scharf hervor, und die leichtgeschlossenen Lippen umspielte ein Zug, der eisernen Willen gepaart mit Stolz verriet. Beherrscht wurde der Ausdruck dieses Gesichts aber durch die tief in ihre Höhlen zurückgesunkenen, grauen Augen, die sie auf jeden, mit dem sie sprach, fest zu richten pflegte. Der freudige Ton, der aus Maxens Worten geklungen hatte, war Frau von Tiefenbach nicht entgangen. Sie sah voll Erwartung auf den Fremden, dessen Fuß bei ihrem Anblick einen Augenblick gestockt hatte. Dann trat der Ankommende auf sie zu und ergriff mit einer tiefen Verbeugung die zum Gruße dargebotene Hand. »Bernhard von Friesen ist es, Mutter, mein alter Freund, von dem ich Dir so manches liebe Mal erzählt habe.« Die Freihoferin ließ einen langen Blick über den jungen Mann gleiten, der noch immer in achtungsvoller Haltung vor ihr stand. »Seien Sie willkommen, Herr von Friesen,« sagte sie. »Sie haben recht getan, Ihre Schritte nach Rehefeld zu lenken. Freilich werden Sie manches von dem entbehren müssen, was die königliche Residenzstadt Ihnen bietet. Aber was der Freihof besitzt, wird er Ihnen geben. Ich bin erfreut, meines Sohnes Freund kennen zu lernen!« Während dieser Begrüßung war es dem Angekommenen noch nicht gelungen, sich von dem Bann zu befreien, den die Erscheinung dieser Frau auf ihn ausübte. Jetzt aber hörte er aus dem ihm anfangs hart erschienenen Klange der Stimme Wärme und Herzlichkeit heraus und er bekam seine verlorene Sicherheit schnell wieder. Mit dem Anstand eines Jünglings von guter Erziehung, dankte er der Hausherrin für den herzlichen Willkomm und sprach die Bitte aus, ihm wegen seines Eintritts zu dieser ungewohnten Stunde und ohne vorausgegangene Anmeldung seines Erscheinens nicht zu zürnen. Dann setzten sie sich zum Abendessen an den mächtigen Tisch, das in angeregter Unterhaltung verlief. Die beiden jungen Männer tauschten Erinnerungen an die Jahre aus, die sie zusammen auf der Fürstenschule des nahegelegenen Grimma in treuer Freundschaft verlebt hatten. Seitdem hatten sie sich nicht wieder gesehen und nur wenige Briefe gewechselt. Friesen war nach dem Verlassen der Schule nach Dresden gegangen und Offizier geworden. Er hatte bei Jena mitgefochten und dann an allen kriegerischen Ereignissen teilgenommen, zu denen Napoleon den ihm ergebenen Sachsenkönig drängte. Er sprach von den Feldzügen, und Frau von Tiefenbach zeigte großes Interesse an seiner Erzählung. Sie fragte nach der Stimmung in der Hauptstadt und wollte wissen, welche Meinung die Offiziere von der politischen Lage hätten, und welcher Geist unter den Truppen herrsche. Denn die Unzufriedenheit mit Napoleons Regiment wuchs und breitete sich allmählich über das ganze Land aus. Zuletzt schilderte Friesen die Stimmung, die ihn heute überkommen, als er von der Anhöhe herab den segensreichen Frieden betrachtet hatte. Da unterbrach Max mit einem Male die Unterhaltung, indem er sich mit der Frage an seine Mutter wandte: »Ist Elisabeth denn noch nicht zurück?« Die Blicke der Freihoferin streiften die Uhr. Dann fuhr sie, ohne auf Maxens Frage geantwortet zu haben, in der Unterhaltung fort. Max schien dem Schweigen der Mutter eine Antwort entnommen zu haben, denn er wiederholte seine Frage nicht und beteiligte sich von neuem lebhaft am Gespräch. Da verkündete die Uhr mit langsamen Schlägen die zehnte Stunde. Die Freihoferin brach die Unterhaltung kurz ab und beauftragte Max, den Gast in sein Zimmer zu begleiten. Die Anstrengung, die Friesen während der beiden letzten Tage überwunden hatte, machten sich nunmehr geltend. Eine große Müdigkeit hatte sich bei ihm eingestellt, die er nur mit Mühe bekämpfte. Beim Scheine der Kerze führte Max den Freund nach dem für ihn im Oberstock hergerichteten Zimmer und ließ ihn alsbald nach Gutenachtgruß und dem Wunsche allein, daß der erste Schlaf unter dem Dache des Freihofes für ihn recht erquickend sein möge. Gähnend und mit schon halbgeschlossenen Augen sah sich Friesen in dem Raume um. Aber seine Betrachtungen währten nicht lange. Er entkleidete sich und streckte den müden Körper auf das breite, behagliche Bett. Ein wohliges Gefühl überkam ihn. Da trat noch einmal rasch die Geschichte des Weißen Schlosses an seine Seele heran. Bald aber drängte sich in die Wirklichkeit die Phantasie. Die Urahnen des Tiefenbachschen Geschlechts standen in Reih und Glied salutierend im Schloßhofe, während die Mutter Lehnhardt in Holzpantoffeln und mit einer kürbisähnlichen Kartoffel unter dem Arm auf einer ungeheuern Katze an den alten Haudegen freundlich grüßend vorbeiritt. Dann aber verblich auch dieses letzte freundliche Bild, und der traumlose Schlaf der Jugend senkte sich auf den Müden herab. * * * * * Als Friesen am andern Morgen erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Schnell beendete er seine Morgentoilette und schaute zum Fenster hinaus. Das Zimmer lag an der Giebelseite des Wohnhauses. Edle Weinreben umrankten das Fenster, und ein paar mächtige Birnenbäume verwehrten den Sonnenstrahlen den ungehinderten Zutritt. In kurzer Entfernung vom Gute rieselte zwischen dunkelgrünen Wiesen der Göselbach vorüber, an dessen beiden Ufern dichte Weidengebüsche standen, die, vom Winde bewegt, sich tief über das Wasser neigten, als ob die langen Ruten darnach trachteten, ihre Spitzen zu benetzen. Darüber hinweg sah das Auge weit hinein in die tiefe Ebene. Friesen ging hinab und trat in das Wohnzimmer, wo er aber niemand vorfand. Eine Magd, die ihn bemerkt hatte, deckte alsbald den Tisch und trug das Frühstück auf. Dann verließ sie mit einer schüchternen Einladung zum zulangen wieder die Stube. Der würzig duftende Kaffee, die goldgelbe Butter und das frische Brot lockten unwiderstehlich, und Friesen hatte genug Appetit, um sich nicht vergeblich einladen zu lassen. Er wollte sich mit dem Essen beeilen, um dann nach Max zu sehen, der gewiß schon längst bei der Arbeit war und über den Langschläfer lächeln würde. Das Frühstück mundete vortrefflich, als Friesen mit einem Male ein leises Geräusch vernahm, und als er sich rasch umschaute, sah er auf der Schwelle der weitgeöffneten Tür ein weibliches Wesen stehen, das ihm wahrscheinlich schon eine Weile zugesehen hatte. Er fühlte sich überrascht und wußte nicht, welche Bezeichnung er der plötzlichen Erscheinung geben sollte. War es eine Jungfrau, die da vor ihm stand, oder ein hochaufgeschossenes Kind? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. So ließ er den Blick unverwandt auf dem etwas bleichen, allerliebsten Gesichtchen ruhen, das sich in tiefe Sorgenfalten gelegt hatte und sich sichtlich alle erdenkliche Mühe gab, seinen bekümmerten Ausdruck festzuhalten. »Also, so behandelt man Gäste,« scholl es von der Tür her, die im nächsten Augenblick zuflog. »Nein, nein, bitte setzen Sie sich wieder und lassen Sie sich’s weiter schmecken! Sie müssen schon entschuldigen, Herr von Friesen, die arge Vernachlässigung findet ihren Grund aber nur darin, daß man auf dem Freihof nicht gewöhnt ist, Gäste zu empfangen. Nun ich denke, wir werden an Ihnen darin lernen, um wenigstens allmählich so weit zu kommen, daß wir in Zukunft unsere Gäste nicht mehr allein sitzen lassen.« Das Mädchen war, indem es diese Worte hervorgesprudelt hatte, langsam näher getreten, während Friesen auf wiederholtes Drängen hin das unterbrochene Frühstück fortsetzte. Nun stand sie ihm gegenüber am Tische. Die beiden Hände aufgestützt und den Oberkörper leicht vornübergeneigt, schaute sie ihm mit unverhohlener Neugierde in das Gesicht. Friesen gestand sich, daß ihm gestern Abend, Maxens Mutter gegenüber, seine kühle Besonnenheit eine kleine Weile im Stich gelassen hatte; unter den Augen dieses Kindes aber, schien sich seine Verlegenheit wiederholen zu wollen. Die Ähnlichkeit, besonders aber die blauen Augen des Mädchens, konnten ihm keinen Zweifel lassen, daß sie die Schwester des Freundes war, von der ja auch Mutter Lehnhardt gesprochen hatte. So viel frischer Natürlichkeit und holdem Liebreiz gegenüber, konnte er sich nur langsam aus seiner Überraschung erholen, zumal ihn das Mädchen noch immer unverwandt musterte. Ihre Augen leuchteten wie die eines Kindes, dem eine große Freude geworden ist, aber in den Winkeln des in komischer Entrüstung zusammengekniffenen Mundes lauerte der Schalk. Jetzt endlich verschwand der gutgespielte Ernst von dem Gesichtchen, und das Mädchen brach in ein fröhliches Lachen aus. Friesen begrüßte diesen Heiterkeitsausbruch als willkommene Erleichterung, doch kam ihm der plötzliche Umschlag der Situation immerhin ein wenig unvermittelt, und seine Ratlosigkeit wurde infolgedessen nicht geringer. Dieses Gefühl mußte sich wahrscheinlich auf seinem Gesicht widerspiegeln, denn die Heiterkeit wurde lauter und zuletzt so befreiend, daß Friesens Verlegenheit mit einem Schlage wich, und er von der Fröhlichkeit angesteckt und mit fortgerissen wurde. Und damit war er wieder Herr seiner selbst. Endlich verklang das fröhliche Lachen, und das Mädchen zog sich einen Stuhl heran, um ebenfalls zu frühstücken. Aber obgleich die kleinen, weißen Zähne tapfer in die Semmeln bissen, konnte sie nicht schweigen. Hundert Fragen zugleich schwebten ihr auf der Zunge, die sämtlich verrieten, daß das Kind von alledem, was sich jenseits eines Umkreises von drei Meilen von Rehefeld auf der Erde abspielte, herzlich wenig kannte. Ihr Wissensdurst war unbegrenzt und die Einfalt ihrer Fragen so erfrischend, daß Friesen immer wieder in dieses Kindergesicht blicken mußte, um sich von neuem Gewißheit zu verschaffen, daß mit ihm nicht ein loses Spiel getrieben wurde. Die Augen voll Erwartung auf ihn gerichtet, lauschte das Mädchen seinen Antworten, sie zuweilen mit verständnisvollem Nicken oder mit unwilligem Schütteln des Kopfes begleitend, das so arg werden konnte, daß der blonde Zopf, der bis zum Schürzenband hinabreichte, hin- und herflog. Friesen mußte unwillkürlich dieses kleine Dorffräulein in seiner rührenden Unschuld mit denen ihres Geschlechtes vergleichen, die in kunstvoller Perrücke und mit gemalten Gesichtern alle pikanten und skandalösen Ereignisse der Residenz vor dem allzu schnellen Hinabtauchen in die Vergessenheit glücklich bewahrten und nicht müde wurden, solche Vorgänge mit liebevoller Mühe und Beharrlichkeit in die kleinsten Einzelheiten zu zerlegen. Unter diesen wäre kein Boden für solch ein Pflänzlein, dachte er, es würde bald traurig das Köpfchen hängen, und der Seelenfrieden eines so lieblichen Menschenkindes würde in kurzer Zeit gestört sein. Aber Friesen fand nicht viel Zeit zu längeren Betrachtungen, denn die Kleine war unermüdlich im Fragen. Plötzlich brach sie ab, es schien ihr etwas einzufallen. Dann sagte sie sehr ernst: »Aber, Herr von Friesen, wissen Sie denn eigentlich wer ich bin?« Diese Frage kam wieder so unerwartet und berührte Friesen so komisch, daß er nur mit Mühe ein Lächeln zurückhalten konnte. Er zwang sich dazu, ebenfalls ernst zu sein und sagte, mit schelmischem Anklang in der Stimme, vorwurfsvoll: »Nein, wie kann ich denn wissen wer Sie sind, wenn Sie mir es nicht sagen!« Das niedliche Geschöpfchen sah seinem Gegenüber noch eine kleine Weile in die Augen, dann erfolgte ein neuer Heiterkeitsausbruch der alle vorangegangenen übertraf, und in den Friesen wieder mit einstimmte. Das Mädchen lachte so herzlich, daß ihm Tränen in die Augen traten. »Nein,« rief sie jubelnd, »so ein Stadtherr. Ist mit mir eine halbe Stunde zusammen, spricht fortwährend zu mir und weiß nicht einmal wie ich heiße!« Da überflog ihr Gesichtchen mit einem Male wieder der altkluge, ernste Zug, als sie vorwurfsvoll fragte: »Ja, Herr von Friesen, warum fragen Sie mich denn eigentlich garnicht wie ich heiße?« Jetzt kam ihr Friesen mit der Heiterkeit aber zuvor. Aber diesmal lachte nur er. Seine Nachbarin schien nicht zu verstehen, was seine Fröhlichkeit herausforderte. Sie wurde noch um einen Grad ernster und sagte: »Ich bin nämlich die Elisabeth.« Und als Friesen mit ihrem zunehmenden Ernst noch ausgelassener wurde, wiederholte sie beinahe feierlich: »Ja gewiß, Herr von Friesen, ich bin Elisabeth von Tiefenbach!« Der aber, dem diese Beteuerung galt, verlor auch noch den letzten Rest von Beherrschung. Er lachte, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung, als ob er es verhindern wolle, daß das Mädchen weiter spreche. Schließlich stimmte auch Elisabeth wieder in die Fröhlichkeit ein, als sich plötzlich die Tür öffnete und Max ins Zimmer trat. Als er die ausgelassene Heiterkeit der beiden sah, blieb er einen Augenblick verdutzt stehen. »Hallo!« rief er »Ihr habt ja recht schnell Freundschaft geschlossen. Das gefällt mir!« Dann schritt er zu dem Freunde. »Guten Morgen Bernhard. Nun, wie war die erste Nacht auf dem Freihof?« Aber noch bevor der Angesprochene antworten konnte, rief Elisabeth dem Bruder zu: »Wenn Du es durchaus willst, daß Herr von Friesen seinen Kaffee früh allein trinken soll, so gewöhne ihn doch wenigstens nur nach und nach daran. Das muß ich gestehen, Max, Du verwöhnst Deinen Freund gleich vom ersten Tage ab nicht.« Max trat zu seiner Schwester, hob sie samt ihrem Stuhle zu sich empor und drückte ihr trotz Sträubens einen Kuß auf den Mund. Dann setzte er behutsam das Mädchen wieder nieder. Friesen war Maxens Bewegungen mit den Augen gefolgt und er hatte die Gruppe sehr hübsch gefunden: der blonde Riese, dessen Arme dazu geschaffen schienen, einen rasenden Stier vor sich niederzuzwingen, im Kampf mit dem zierlichen, sich heftig wehrenden Mädchen, dessen Gesichtsausdruck trotz ihres Sträubens nur allzudeutlich verriet, wie gerne sie die Zärtlichkeit des Bruders ertrug. »So, Du hast deinen Lohn für die Schelte am frühen Morgen,« sagte Max. »Wenn Du aufmerksam gewesen wärst, hätte Bernhard gleich Gesellschaft gehabt.« Die letzten Worte mußte er ihr nachrufen, da das Mädchen schmollend aus dem Zimmer schlüpfte. Max wandte sich an Friesen und fuhr fort: »Ich hätte schon lange wieder zurück sein können, wenn der Braune nicht etwas lahmte. Deshalb mußte ich langsam reiten.« Dann lud Max den Freund zu einem Spaziergang ein, um ihn mit der Umgebung vertraut zu machen. Sie betraten den Hof, um zuerst das Gut in allen Einzelheiten kennen zu lernen. Hier fand Friesen die Freihoferin vor, die den Hühnern Futter gestreut hatte. Nach etwa einer Stunde schlenderten die Freunde dem Ufer des Baches entlang, bis sie sich endlich unter einem großen Apfelbaum in das weiche Gras streckten. »Du hast mir früher so manches von Deiner Familie erzählt,« begann Friesen, »das bei mir unvergessen geblieben ist. Aber ich muß Dir beichten,« fügte er lächelnd hinzu, »daß ich seit gestern viel mehr von den Tiefenbachs weiß als bisher.« Und mit kurzen Worten erzählte er seine Begegnung mit Mutter Lehnhardt. »Da bist Du ja gleich vor die richtige Schmiede gegangen,« scherzte Max, »sie ist allerdings der beste Kenner unserer Familiengeschichte. Bernhard,« fuhr er nachdenklich fort, »laß mich der Erzählung der Alten noch ein paar Worte hinzufügen, Du dürftest ohne sie sonst manches unverständlich finden. Meine Mutter ist eine jener äußerlich rauhen Frauennaturen, denen man im Leben nicht allzuoft begegnet. Die Jahre sind ohne große Ereignisse an ihr vorüber gegangen. Mit nimmermüden Händen hat sie geschafft, um unsern Besitzstand zu mehren, aber als die höchste ihrer Pflichten hat ihr die Erziehung ihrer Kinder gegolten. Sie besitzt einen ungemein scharfen Verstand und viel praktischen Sinn. Sentimentale Lebensanschauung ist ihr fremd. Sie liebt das Edle aus voller Seele und verabscheut alles Niedrige. Die Mittel, der Freude und dem Schmerz auch äußerlich Ausdruck zu geben, die die gütige Natur dem Menschen verliehen hat, sind ihr versagt geblieben. Nur selten tritt ein flüchtiges Lächeln auf ihre Lippen, um alsbald wieder dem ernsten Ausdruck Raum zu geben, der immer auf ihrem Gesichte lagert. Tränen sind ihr versagt. Möge sie diesen Verlust niemals bitter empfinden.« Friesen war des Freundes Worten aufmerksam gefolgt. Nun fand er auch die Erklärung für Maxens ernsten Charakter, denn der mütterliche Einfluß war unverkennbar. »Und doch,« fuhr Max fort, »besitzt meine Mutter mehr Gemüt als der Fremde bei ihr vermutet. In ihrem tiefsten Herzen liegen Saiten, die zuweilen mit Macht tönen und dann so gebieterisch die Mitteilung ihres Klanges an die Außenwelt fordern, daß solche Augenblicke für sie qualvoll sein müssen. Ihren gefaßten Grundsätzen bleibt sie treu, und was meine Mutter einmal beschlossen hat, führt sie mit einem Willen durch, der vielleicht an Starrsinn grenzt. Ihr Liebling ist meine Schwester. Du wirst bei Eurer heutigen Begegnung sofort empfunden haben, was für ein Kind dieses achtzehnjährige Mädchen noch ist. Das Schicksal hat mit ihr wunderlich geschaltet. Die Tiefenbachs sind immer Naturen gewesen, denen eine heitere Lebensauffassung fern lag. Elisabeth aber sieht alles in rosigem Licht. Sie weiß von der Welt so wenig, daß sie auch ihre Gefahren nicht kennt. Eine glückliche Veranlagung läßt sie von jeder Sache nur die lichte Seite betrachten. Sie ist eben ein Kind und der Sonnenschein unseres Hauses. Das Schloß und seine Bewohner übten auf Elisabeth schon in frühester Jugend eine unerklärliche Anziehung aus. Sie wendete alles auf, der Überwachung zu entwischen, um hinauf zu eilen und mit ihrer, nur um wenige Jahre älteren Cousine zusammen zu sein. Bitten, Ermahnungen und Strafen waren umsonst. Das Kind konnte sich, so sehr es zuweilen auch kämpfte, gegen den unwiderstehlichen Drang nicht auflehnen. Die Mutter ließ nichts unversucht, um dieser Neigung des Kindes zu begegnen. Zuletzt war ihre mütterliche Geduld aber erschöpft, und eines Tages war sie so zornig, daß sie die zehnjährige Elisabeth hart schlug. Es war ergreifend, die Wirkung dieser Strafe an dem Kinde zu beobachten. Während es bisher schon bei einem zurechtweisenden Blicke der Mutter Tränen hatte, ließ sie die Züchtigung lautlos über sich ergehen. Und, welch Wunder, -- sie lief nicht mehr hinauf, sprach auch nicht einmal den Wunsch darnach aus. Aber welche Veränderung war mit ihr vorgegangen! Ihr munteres Plaudern, ihr heiteres Lachen waren verstummt. Ohne daß man eine Absicht merkte, unterblieben die stürmischen Beweise der Zärtlichkeit, die Elisabeth sonst immer für die Mutter gehabt hatte, und die diese jetzt schmerzlich vermißte. Stundenlang konnte das Kind ohne zu ermüden im Grase sitzen und mit seinen großen, matten Augen hinaufschauen zu dem alten Gemäuer. Ihr ohnehin sehr schwächlicher Körper zehrte immer mehr ab, und ihr bleiches Gesicht ward immer schmaler. Meine Mutter litt fürchterlich. Stumm betrachtete sie Elisabeth, und ich konnte in ihren Augen die tiefe Rührung lesen, die sie beherrschte. So ging es wohl zwei Monate lang. Elisabeth wurde von Tag zu Tag bleicher, und ihre Augen wurden glanzvoller. Ihre Bewegungen waren müde, ihre Sprache leise. Dabei war sie aber stets freundlich zur Mutter, die alles daran setzte, das Kind aufzuheitern, und die durch ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht hochbeglückt war. Aber man sah, wie der Gram das Kind zu verzehren drohte. Meine Mutter kämpfte im Innern einen gewaltigen Kampf. Und sie unterlag ... Eines Tages saß Elisabeth, wie so oft, im Obstgarten hinter dem Hause. Es war ein prächtiger Frühlingstag. Aber das Kind hatte keinen Blick für den goldenen Sonnenschein und die schneeweißen Blüten auf den Bäumen. Es starrte traumverloren dorthin, wohin es sein unschuldiges Herz zog. Die Mutter war leise zum offenen Fenster getreten und sah hinter der Gardine verstohlen hinaus. Mit unendlicher Wehmut hafteten ihre Blicke auf Elisabeth. Sie schien darüber nachzudenken, wie jetzt alles in der Natur seine Wiederauferstehung feiere und sich zu frischem, blühendem Leben entwickele, während ihr heißgeliebtes Kind mit sicheren Schritten dem Grabe zueilte. Da wandte sie sich plötzlich mit einem Ruck nach der Tür, -- fast schien ihr Fuß sie nicht dahin tragen zu wollen, -- und stockend überschritt sie die Schwelle. Dann stand sie bei dem Kinde, das, aus seinen süßen Träumen aufgeschreckt, die Mutter verwundert ansah. Sie ergriff Elisabeths Hand, führte sie schweigend durch den Garten, öffnete das Türchen, das den Austritt nach den Feldern gestattet und stellte das erstaunte Mädchen auf die schmale Brücke, die über den Bach führt und auf den Weg ausmündet, der nach dem Schlosse läuft. Wie ein Blitz kam dem Kinde die Erklärung für das Gebaren der Mutter. Und während diese sich wieder umwandte, eilte Elisabeth, so schnell die Füße sie tragen wollten, den Weg hinauf, als wenn sie fürchtete, wieder zurückgerufen zu werden. Mit schleppenden Schritten betrat die Mutter wieder das Zimmer und sank in den Stuhl. Am Abend jenes Tages, Bernhard, sah ich meine Mutter zum ersten Male in tiefer Bewegung erzittern, als sich die dünnen Arme des jubelnden Kindes ihr liebkosend um den Hals legten ... Und so ist Elisabeths Verhältnis zu den Leuten da droben bis auf den heutigen Tag geblieben. Sie würde das Verbot nicht verstehen, sondern es als eine grausame Härte empfinden. Du weißt, Bernhard, daß sich die Großväter der beiden Familien Tiefenbach entzweit haben, nachdem der ältere Bruder die Braut des Jüngeren beschimpft hatte. Aus diesem Grunde haben auch die Tiefenbachs auf dem Freihofe mit denen auf dem Schlosse, außer ihrem Namen, nichts mit einander gemein. Die tiefe Kluft kann niemals überbrückt werden! Neben der Liebe zu ihren Kindern, ist die stärkste Empfindung, von der meine Mutter beherrscht wird, glühender Haß gegen die droben. Der Vater hat ihn dem Kinde mit dem Blute vererbt, und seine letzten Worte auf dem Sterbebette waren eine Aufforderung, auch auf ihre Kinder in diesem Geiste einzuwirken. Meiner Mutter zittern die Worte der Beschimpfung noch heute in der Seele nach, und ihr Einfluß auf meine Anschauungen hat das seinige getan. Die jetzt auf dem Schlosse Wohnenden sind freilich unschuldig an der Sünde ihres Vorfahren, dennoch kann ich meine Abneigung gegen sie nicht unterdrücken. Sie sind die Nachkommen des Mannes, der meine Großeltern tödlich beleidigte, und dessen Worte einen bleibenden Schatten auf ihren Lebensweg geworfen haben. Mag Elisabeth immerhin zu ihnen freundlich sein, Kinder sind nicht dazu berufen, die Sorgen der Erwachsenen zu teilen. Sie selbst empfindet schon längst, daß die Wiederaussöhnung der beiden Familien unmöglich ist, aber ihr ausgeprägtes Zartgefühl läßt sie über ihre Besuche auf dem Schlosse schweigen.« Eine Pause entstand. Dann sagte Max: »Bernhard, nun erzähle _Du_ mir etwas, ich bin begierig, mehr davon zu hören, wie es Dir in den letztverflossenen Jahren gegangen ist.« »Mein Leben ist,« begann Friesen, »seitdem wir auseinandergegangen sind, recht wechselvoll gewesen. Nach Jena folgte Friedland, wo ein russischer Kamerad so unliebenswürdig war, mir seinen Degen in den Leib zu rennen, was dem Feldscher Anlaß gab, mein alsbaldiges, sicheres Abtreten von dem irdischen Kriegsschauplatz vorauszusagen. Wie sehr er sich zu meinem Heile aber geirrt hat, siehst Du, lieber Freund, denn so, wie ich in diesem Augenblick neben dir liege, bin ich doch ein nicht zu bestreitender Beweis für die Unrichtigkeit seiner voreiligen Ansicht. Ich war entschieden noch nicht reif genug für den Eintritt in eine bessere Welt und mußte hier noch einmal anfangen. Freilich verurteilte mich die Blessur zu einer unfreiwilligen Ruhezeit von mehreren Monaten. Dann kam eine Periode, die uns allen unendlich öde erschien, da sie nur durch den Garnisondienst ausgefüllt wurde. Selbst der Geduldigste von uns fand diese Zeit erdrückend langweilig und sehnte Veränderung herbei. Da schaffte Napoleon Rat. Der politische Horizont umdüsterte sich wieder, und alles deutete auf einen neuen, herzerfrischenden Krieg. Diesmal sollten wir unter Bernadotte gegen die Österreicher kämpfen. Bei Linz schwankte das Zünglein der Wage lange, bis sich das Glück endlich für uns entschied. Viel heißer aber sollte Wagram werden. Das Bataillon Metzsch, bei dem ich damals stand, kämpfte im ersten Treffen. Wie verzweifelt schlugen wir uns den ganzen Tag herum, um am Abend doch zurückgehen zu müssen. Am nächsten Vormittag standen wir ruhig hinter unserer Artillerie. Wahrscheinlich um unser Interesse an der Schlacht rege zu halten, schlugen die österreichischen Geschosse unaufhörlich in die dichten Reihen. Es fehlte nicht mehr viel, und der brave Erzherzog drüben hätte können Viktoria blasen lassen; man sah auf unserm Flügel nur noch zurückflutende Truppen. Da erschien der Kaiser bei uns, und bald darauf entschied sich das Schicksal des Tages: der Österreicher wurde zurückgeworfen. Dann kam eine Anzahl kleiner Scharmützel, die sich immer niedlicher gestalteten, so daß die letzten von ihnen gegen die vorangegangenen großen Tage sich nur noch wie Friedensübungen ausnahmen.« Max hatte, während der Freund sprach, zuweilen ein Lächeln nicht unterdrücken können. Er war noch immer der alte: keck bis zur Kühnheit, lustig bis zum Leichtsinn, aber gutmütig und ritterlich dabei. Daß Bernhard den Krieg liebte, fand Max ganz natürlich, denn alle die unter dem Kaiser kämpften waren ja so. »Nun, und jetzt ist Dir der Gamaschendienst so langweilig geworden, daß Du ihm selbst das Landleben vorziehst?« scherzte Max. Friesens Gesicht überzog ein lebhaftes Rot. Einen Augenblick schien er verlegen, dann sagte er: »Du irrst, Max, Scherz beiseite. Wie ich vorhin erzählte, sprach ich das aus, was mich noch bis vor zwei Jahren bewegte. Früher konnte ich nicht genug des Lebens im Feldlager kosten. Allmählich hat sich in mir, wie in manchem meiner Kameraden, aber ein Umschwung vollzogen. So wie bisher, kann es mit den endlosen Kriegen nicht fortgehen. Ich tue meine Pflicht als treuer Soldat meines Königs, dies verhindert mich aber nicht, das Gebaren derer zu verurteilen, die nicht aufhören, unsagbares Weh über unser Land heraufzubeschwören. Und ich denke, daß ein gedeihlicher Frieden auf Jahrzehnte hinaus nunmehr der Wunsch jedes ehrlichen Mannes sein muß.« »Du sprichst mir aus der Seele, Bernhard,« rief Max lebhaft und reichte ihm die Hand hin, in die Friesen ohne Besinnen kräftig einschlug. »Das sind auch meine Gedanken. Jetzt sollten sie endlich einmal Ruhe halten, und jeder sollte sich mit dem bescheiden, was er besitzt. Freilich taugt die ganze Franzosenwirtschaft nichts, aber so schnell, wie sie über uns gekommen ist, werden wir sie nicht wieder los. Und zuletzt hat jedes Ding sein Aber. Wir Sachsen haben dem Kaiser für so manches zu danken. Aber, Bernhard,« fuhr Max nach einer kleinen Weile fort, »wenn es der gleichförmige Dienst nicht war, der Dich aus der Hauptstadt forttrieb, dann kann es ja nichts Anderes gewesen sein, als der Wunsch, Dein altes Versprechen nun endlich einzulösen. Ist es so?« Wieder bedeckte wie vorhin eine tiefe Röte Friesens Gesicht. »Max,« begann er langsam, »ich muß Dir leider gestehen, daß mich die Gefühle, die Du voraussetzest, allerdings nicht bewogen haben, die Residenz zu verlassen, da ich meinen Besuch eigentlich bis zum kommenden Jahr aufgeschoben hatte. Aber laß Dir alles erzählen. Das Kriegsleben hatte uns, trotz seiner Entbehrungen und Strapazen, und obgleich man nie wußte, ob der nächste Tag einen noch gesund sah, wegen seiner vielen Abwechslungen, die es mit sich brachte, gefallen. Wir waren gewöhnt, Zerstreuungen zu finden. Als aber die Waffen ruhten, und das Einerlei des Garnisondienstes begann, blieben die Zerstreuungen aus. Deshalb waren wir im vergangenen Winter darauf bedacht, uns allerhand Kurzweil zu verschaffen. Die Kriegszeiten haben die Unternehmungslust der Dresdener Bürger aber erklärlicherweise stark herabgedrückt, so daß der Mangel an Einladungen zu den üblichen Bällen und sonstigen Unterhaltungen besonders uns jüngeren Offizieren sehr empfindlich wurde. Was half es, daß wir versuchten jeder in seinem Bekanntenkreise, Stimmung zu machen. Hier und da machte man wohl Anstrengungen, um wieder in das Fahrwasser der alten Geselligkeit zu gleiten; aber die Versuche fielen schwach aus. Ein rechter Frohsinn wollte nicht aufkommen. Da kam einem von uns eine Idee. Der liebe Sichart, der trotz seiner dreiundzwanzig Jahre, und zwar mit einer reizenden, jungen Frau, schon verheiratet war, schlug die Gründung eines Klubs vor, dessen Mitglieder selbst kleine Festlichkeiten veranstalten sollten. Eine ganze Anzahl von uns, meistens Leutnants, traten dem Finkenkasten, wie wir unsern Bund tauften, bei. Hauptmann von Einsiedel war der Vorstand. Wir Bündler hatten nun nichts Ernsteres zu tun, als zu werben, besonders unter verheirateten Kameraden. Mit erstaunlicher Schnelligkeit nahm die Mitgliederzahl des Finkenkastens zu; auch einige Bürgerfamilien traten bei. Jeder war willkommen. Der Grad der Freude unter den Bündlern beim Eintritt eines Mitgliedes richtete sich nach der Anzahl der Angehörigen, die der Hinzutretende anmeldete. Geheimrat Vogel brachte es auf fünf. Darüber besondere Freude! Und als Oberstleutnant von Carlowitz sich mit vier Töchtern und drei weiteren, verwandten Damen anmeldete, war der Jubel groß. Nach ihrem Alter fragten wir nicht. Der Finkenkasten aber zählte nunmehr sechsunddreißig Herren und nahezu noch einmal so viel Damen. Als wir bei der Gründung des Klubs unsere Meinungen zum besten gaben, wieviel Mitglieder er wohl nach einem Monat zählen würde, riet der immer zur Tollkühnheit geneigte Sichart auf sechzig. Wir hätten uns auch schon mit vierzig zufrieden erklärt, deshalb lachten wir ihn aus und meinten, er könne nie genug bekommen. Als nun aber fast das Hundert voll geworden war, lachten wir wieder über ihn, weil er so schlecht geraten hatte. Von meiner Tätigkeit schien man sich viel zu versprechen, deshalb wurde ich in das Vergnügungskomitee gewählt. Diese Wahl ehrte mich in hohem Maße, und ich gab mir das ernstliche Versprechen, mich dem Vertrauen der Bündler würdig zu zeigen. Wir mieteten auf der Meißnerstraße einen gemütlichen Saal und trafen Vorbereitungen für das erste Fest, das den Reigen beginnen und deshalb besonders glanzvoll veranstaltet werden sollte. Eine Bühne wurde errichtet, ein Stück gewählt, die Rollen verteilt und geprobt. Als es sich darum handelte, einen von uns als Regisseur zu dingen, kam man allgemein auf mich. Außerdem lag mir noch die Darstellung des Helden der sehr rührseligen Komödie ob. Ich hatte herzlich viel Not, den einzelnen Darstellern ihre Rollen einzupauken. Mit der ersten Probe war ich nicht sonderlich zufrieden und glaubte, meinem überquellenden Herzen damit Luft machen zu müssen, daß ich den Eifer der Mitwirkenden rühmte, den sie auf das Studium der Rollen verwendet hätten. Die Wahrheit war freilich gerade das Gegenteil, denn sie hatten ihre Rollen fast ohne Ausnahme abgelesen. Aber niemand schien den Hohn zu fühlen. Sie waren stolz auf ihre Leistungen, und jeder drückte mir zum Abschied wohlwollend die Hand. Nach mancher mühevollen Probe, nach der fast jeder heiser und ich obendrein völlig durchnäßt war, schien das Zusammenspiel endlich erträglich zu sein. Ich hatte mich vieler Mühe unterzogen, war einige Male ins Theater gegangen, lediglich um die Haltung und die Bewegungen der Schauspieler zu studieren und empfand plötzlich ein Interesse an mancherlei Dingen, an die ich bisher noch nie gedacht hatte, die aber für einen rechtschaffenen Regisseur zu wissen unentbehrlich sind. Nun wurde es aber hohe Zeit, daß das Fest stattfand, denn mich überfiel eine noch nie gekannte Unruhe. Die Glieder zitterten mir wie einem Hundertjährigen, und die sämtlichen sechszehn Rollen des Stückes zogen allnächtlich an meinem Geist vorüber. Mich überkam, offen gesagt, ein gelindes Grausen vor meiner Würde. Die letzte Probe war endlich gekommen. Alles ging wie am Schnürchen. Ich teilte noch einige kritische Ratschläge aus, wie den, die Stimme nicht allzu heftig zu erheben, da mancher der Kameraden im Feuereifer seine Rolle vergaß und glaubte, daß er noch auf dem Schlachtfeld stände. Zu diesen gehörte besonders der junge Sichart, der im gewöhnlichen Leben im Regiment mein elfter Hintermann, auf der Bühne aber mein Großvater war. Dann prägte ich allen nochmals ein, die mannigfachen Liebesscenen recht natürlich darzustellen, da dies ihre Wirksamkeit besonders erhöhen würde. Und um es nicht bloß bei Ratschlägen zu belassen und den für solche Leistungen weniger gut Begabten ein Beispiel zu geben, postierte ich sämtliche Darsteller vor die Bühne und spielte ihnen die Stelle meiner Rolle vor, in der ich der Geliebten meine Erklärung abgeben und, da sie mich nicht erhören durfte, rasen mußte. Alle ohne Ausnahme waren von meinen Leistungen entzückt, und Sichart meinte, das Toben brächte ich besonders wirkungsvoll zur Darstellung. Es sähe aus, als ob es nicht mehr Spiel wäre. Und da ich mich andernfalls über dieses bedenkliche Lob hätte ärgern müssen, freute ich mich darüber. Meine Partnerin war ein allerliebstes Kind von kaum zwanzig Jahren und die Schwester der Frau von Sichart. Mir erschien es immer, als ob sie ihre Rolle mit hinreißender Natürlichkeit spiele. Wenn ich meine Liebesschwüre sprach, machte sie ein beinah feierliches Gesicht, und es mochte ihr aufrichtig leid tun, daß sie mir kein Gehör schenken durfte. Der Abend kam. Das Stück wurde flott gespielt und -- gefiel. Alle Zuschauer waren entzückt; meine Partnerin und ich sowie Sichart, mein Großvater, waren die Löwen des Tages. Mit dem letzten Fallen des Vorhangs rutschte eine Riesenlast von meiner Brust. Länger hätte ich aber die Aufregung auch nicht mehr ausgehalten. Ich zitterte wie Espenlaub, denn ein Gefühl unsagbarer Angst hatte hinter mir gestanden, das ich selbst auf den Schlachtfeldern von Friedland und Wagram nicht gekannt hatte. Aber nun war alles vorbei, und es war über alle Erwartungen gut ausgefallen. Von allen Seiten umdrängte man mich, um mich zu beglückwünschen, und mit gehobener Stimmung nahm ich die Gratulationen entgegen. Schließlich wurde mir es zu viel. Ich suchte Sichart und zog ihn in einem anstoßenden Zimmer an einen Tisch nieder, um mit einem labenden Trunk das eigene Ich zu belohnen. Wie lange wir dort saßen, weiß ich nicht mehr. Ab und zu kamen welche, tranken mit uns und gingen wieder. Wir blieben sitzen. Vom Tanzen konnte bald füglich keine Rede mehr sein. Sicharts Frau und ihre reizende Schwester, meine holde Braut in der Komödie, saßen eine Zeitlang bei uns, und das Plaudern mit ihnen bot viel Stoff zu herzlichem Lachen. Dann waren sie mit einem Male verschwunden. Ich vermißte sie eigentlich nicht, und von unserer ganzen Unterhaltung wußte ich am andern Morgen kein Sterbenswörtchen mehr. Während mehrerer Stunden hatten unaufhörlich die Pfropfen geknallt, als ich endlich aufstand und mit Sichart durch die Zimmer wandelte. Dann war ich plötzlich von ihm getrennt und lief, ohne noch zu wissen wohin, hierhin und dahin. Später entsann ich mich dunkel, mit vielen der Festgäste ein paar Worte gewechselt zu haben, auch mit Sicharts Schwägerin. Ich stand dicht vor ihr, hatte wohl auch etwas gesagt, das die Heiterkeit der Anwesenden erregt haben mochte. Mit einem Male aber lachte niemand mehr, und das Mädchen lief rasch fort. Kurz darauf kam ich wieder zu mir, nachdem ich eine Zeitlang frische Luft geschöpft hatte. Ich traf auch Sichart wieder, der allerdings in einem nicht beneidenswerten Zustande war. Vergebens suchte ich nach seinen Damen, bis ich die mich befremdende Mitteilung vernahm, daß sie bereits nach Hause gefahren seien. Ich führte den widerstrebenden Freund hinaus und bestieg mit ihm einen Wagen. Für den Armen war es wirklich das beste, daß ich ihn nach seinem Heim beförderte. Auf dem Nachhausewege grübelte ich über diejenigen Stunden des heutigen Abends nach, deren Verlauf mir dunkel war. Aber keine Erleuchtung wollte mir kommen, und ich tröstete mich mit dem armen Sichart, der noch viel schlimmer daran war als ich. -- Nun, dieser Abend sollte jedenfalls den Grund für meinen Urlaub hergeben.« Friesen machte eine Pause und sah Max an. Diesen hatte des Freundes Erzählung belustigt, zuweilen hatte er bei seinen Worten laut aufgelacht. »Ich kann aber,« warf Max ein, »den Grund für den Urlaub beim besten Willen nicht erraten ...« »Du wirst ihn gleich haben,« versetzte Friesen. »Findest Du nicht, daß dieser Abend ganz unterhaltsam gewesen ist?« »Aber freilich,« lachte Max, »recht lustig ist er gewesen.« »Ja, recht lustig,« wiederholte Friesen langsam, »Du hast schon recht, Max!« »Am übernächsten Tage gingen viel teilnehmende Menschen in Sicharts Haus, um der Witwe ihr Beileid auszusprechen, denn Sichart war sehr beliebt gewesen; nun war er tot.« Max machte eine Gebärde des Erschreckens. »Das war doch schmerzlich, nicht wahr?« fragte Friesen. »Das Schicksal des jungen Mannes fordert noch heute meine ganze Teilnahme heraus,« antwortete Max. »Aber wie ist denn der Arme so schnell gestorben?« Friesen war bleich geworden. Er tat einen tiefen Atemzug, dann sagte er: »Er fiel von meiner Hand!« Max konnte seine Bewegung nicht bemeistern, während Friesen fortfuhr: »Am späten Morgen nach jenem Feste erschienen zwei Kameraden bei mir. Ich lag noch im Bett und wunderte mich, sie schon munter zu sehen. Sie waren tiefernst, ihr Kommen mochte ihnen ziemlich schwer fallen. Mit kurzen Worten verständigten sie mich davon, daß ich Sicharts Schwägerin gestern abend in hohem Grade bloßgestellt hätte, und daß Sichart der einzige Mann sei, der ihr zur Seite stände. Ich will mir das Weitere ersparen, Max; jener vergnügte Abend hat jedenfalls meinem Herzen eine Wunde geschlagen, die niemals ganz verheilen wird. Nach dem Duell machte man mir den Prozeß. Ich wurde für zwei Jahre auf den Königstein geschickt. Als ich die Hälfte meiner Strafe verbüßt hatte, begnadigte mich der König, »in Ansehung seiner mehrfachen Auszeichnungen vor dem Feind«. Und als ich mich dann beim Regiment zurückmeldete, schickte mich der Oberst mit unbeschränktem Urlaub von Dresden fort. Ein paar Wochen habe ich jetzt bei meinem Onkel zugebracht, der, wie Du weißt, in Tharandt Oberförster ist. Dann aber trieb es mich zu Dir.« Auf Maxens männlich-schönes Gesicht hatte sich ein Zug tiefsten Ernstes gelagert, während sein Auge teilnahmsvoll auf Friesen ruhte. Aber er fand keine Worte, seinen Gefühlen Ausdruck zu geben und drückte deshalb dem Freunde nur stumm die Hand. 3. Kapitel. Seit Friesens Ankunft auf dem Freihofe waren nun schon einige Wochen vergangen, und die Ernte war im vollen Gange. Von frühesten Morgen ab war Max draußen auf den Feldern, wohin ihn zuweilen Friesen begleitete. Die Freihoferin leitete trotz ihres Alters noch alle weiblichen Arbeiten auf dem Gute, und ihre Tätigkeit wurde in den Erntetagen stark beansprucht. Am Frühstückstische trafen sich deshalb immer nur Elisabeth und Friesen, während die Mittagsmahlzeit alle vereinigte. Nach dem Abendessen blieb der kleine Kreis noch ein Stündchen plaudernd sitzen, und Friesen hatte oft Gelegenheit, der Freihoferin knappes und treffendes Urteil zu bewundern. Ihr scharfer Verstand fand immer das Richtige, und ein Phrasenmacher hätte ihr gegenüber schweren Stand gehabt, da sie seine Rede augenblicklich und schonungslos zerpflückt hätte. Im Vordergrund des öffentlichen Interesses stand zur damaligen Zeit erklärlicherweise die politische Lage Europas. Die vorangegangenen Jahrzehnte hatten ja genug Stoff geliefert. Von den Eltern waren die glänzenden Waffentaten Preußens unter seinem großen König den Kindern überliefert worden, und das jetzige Geschlecht hatte die schrecklichen Tage der Pariser Revolution gesehen, nach denen die ganze gebildete Welt das Wachsen des jungen Korsen betrachtete. Anfangs konnte man wohl ein Lächeln nicht unterdrücken, wenn man von dem Jüngling vernahm, der in der französischen Hauptstadt die oberste Gewalt besaß. Wie viele waren ihm in den letzten Jahren in dieser Stellung nicht vorangegangen, und wie lange würde es dauern, bis auch ihn das Schicksal herunterwarf und er klanglos jenen nachfolgte. Dann wieder horchte man auf, wie es hieß, daß er, zur Unterdrückung des Pariser Aufstandes der Königstreuen berufen, keine Beschwichtigungsreden an die Aufständischen gehalten, sondern sie ohne Wimpernzucken hätte niederkartätschen lassen. Mit wachsendem Interesse sah man auf den siebenundzwanzigjährigen, kühnen Obergeneral, der trotz der trostlosen Verhältnisse, die die Revolution in seinem Lande zurückgelassen hatte, ein Heer zusammenraffte und diese völlig mutlosen Truppen in kurzer Zeit sich derartig ergeben machen und für den Krieg so zu entflammen wußte, daß sie jeder Gefahr spotteten. Der Soldat wuchs unter solcher Leitung und vertraute blind auf seinen Führer. Dieser fiel nunmehr in Italien ein und schlug in rascher Aufeinanderfolge mehrere auf den Schlachtfeldern ergraute Feldherren, die sich an der Spitze ihrer kampfgeübten Truppen ihm entgegenstellten. Infolgedessen wurde der Einfluß, den dieser Bonaparte als erster Konsul in Paris ausübte, immer größer. Und als dann nach wenigen Jahren der Sieger von Marengo und Hohenlinden sich selbst krönte und als Napoleon der Erste zum Kaiser der Franzosen ausgerufen wurde, da empfanden es die Völker Europas, daß der Zwerg, der noch vor einem Jahrzehnt ihre Spottlust erregt hatte, zu einem gewaltigen Riesen herangewachsen war. Man traute seiner Friedfertigkeit nicht, und im nördlichen Deutschland sah man mit gemischten Gefühlen und untätig zu, wie der unfehlbare Eroberer, über Russen und Oesterreicher zugleich, bei Austerlitz einen seiner glänzendsten Siege erfocht, und Schmach und Schmerz beschlich die deutsche Mannesbrust, wie das alte deutsche Reich, dessen gewaltiger Bau den wildesten Stürmen eines Jahrtausends getrotzt hatte, in Trümmer ging. Eine Bangigkeit überfiel die vom Kriege noch nicht heimgesuchten deutschen Staaten, -- die verhängnisvolle Ruhe vor einem Gewittersturm. Und dann kam jener unselige Oktobertag, an dem die Nation Friedrichs des Großen, das starke, das stolze Preußen tief gedemütigt wurde. Die darauffolgenden Jahre hatten dann nichts als Tod und Verwüstung gebracht. Jetzt schrieb man das Jahr 1811. Was würde wohl noch kommen? Wieviel Schmerzliches, wie viel Erniedrigung barg die Zukunft noch in ihrem Schoße? Max vertrat die Meinung, daß Sachsen mit den bestehenden Verhältnissen, obwohl sie auch vieles zu wünschen übrig ließen, immerhin noch zufrieden sein könne, denn das Land hätte Napoleon doch für manches zu danken. Er hatte sein Bündnis nicht zurückgewiesen und es zum Königreich gemacht. Und dann: durfte der König den Kaiser nicht seinen Freund nennen? Die Freihoferin hingegen verwarf diese Ansicht. Das am Boden liegend Preußen war ein Bruderstaat, war deutsch. Von Napoleon konnte Sachsen nicht dauernd Gutes erhoffen, er war und blieb ein Franzose, ein Feind. Was halfen Versprechen, wohl auch Geschenke, wie dieses Herzogtum Warschau, das, richtig besehen, nur das Unglück des Landes vergrößerte. Alle seine Beteuerungen freundschaftlicher Gefühle seien eitel Dunst, drüben aber winke eine Hand, die man nicht verschmähen dürfe, die Hand des blutverwandten Stammes. Freilich, _wie_ eine Änderung zum guten herbeigeführt werden könne, wußte sie nicht. Wie konnte man beim Anblick dieses mit schweren Gewitterwolken behangenen politischen Himmels auch hoffen; kein freundlicher Stern drang durch das dunkle Gewölk. Aber des Krieges war es für lange Zeit genug, darin waren alle einig. * * * * * Friesen schlenderte am Bache entlang, der infolge der andauernden Sommerhitze fast versiecht war. Nur ein schmaler Streifen Wassers, in einer Rinne in der Mitte des Bettes, hatte sich noch erhalten, und kein Fremder hätte vermutet, daß dieses unschuldige Wässerchen zuzeiten ein wildschäumender Bach werden konnte, der alles mit fortriß, was sich ihm in den Weg stellte und selbst schon Menschenleben gefordert hatte. Friesen war wieder einmal allein; Max konnte ihm in der jetzigen Zeit unmöglich Gesellschaft leisten. Oftmals vertrieb er sich die Stunden mit Elisabeth im Spiel, -- anders konnte er die Unterhaltung mit ihr nicht nennen. Sie liefen mit einander um die Wette, sprangen im hohen Grase herum, oder zogen ihre Schuhe von den Füßen und liefen in das seichte Wasser. Jeden Tag hatte Elisabeth neue Fragen an ihn zu stellen; ihre Wißbegierde nach dem Leben in der Stadt war unerschöpflich. Zuweilen traf es sich, daß sie etwas von dem, was Friesen ihr am Tage vorher erzählt, trotz emsigen Grübelns nicht richtig verstanden hatte und deshalb eine neue Erklärung erbat. Aber bald trug es sich zu, daß Friesen öfters fragte als sie. Das Fehlen einer tieferen Kenntnis der Natur in ihrem mannigfachen Kleide wurde ihm erst jetzt so richtig klar. Elisabeth hatte diese schwache Seite an ihm mit lebhafter Befriedigung entdeckt und war sehr stolz, daß sie klüger war als der kluge Stadtherr. Und wie gut sie ihm das geheimnisvolle Weben anschaulich machen konnte! Denn dieses Kind hatte in dem großen Buche der Natur mit vielem Erfolg gelesen. Ihre Kenntnis der Pflanzen, der Insekten, war verblüffend. Mit erstaunlicher Sicherheit beschrieb und suchte sie selten vorkommende Gräser und machte ihn auf kaum bemerkbare Unterschiede in dem Bau einzelner Blüten aufmerksam. Wenn Friesen manchmal einen leisen Zweifel über die Richtigkeit ihrer Belehrung aussprach, so war ihr erstes Wort »die Mutter«, die sie das alles gelehrt hatte, und von deren Unfehlbarkeit sie überzeugt war. Aber seitdem Friesen eines Tages errötend gestehen mußte, daß er die Nadeln der Kiefer von denen der Fichte nicht unterscheiden könne, wagte er es nicht mehr, ihr zu widersprechen. Sie war durch diese Unkenntnis derart überrascht gewesen, daß sie nicht einmal ein Lächeln fand, sondern ihm einen Blick tiefsten Bedauerns zuwarf, als sei ihr bange um sein gesundes geistiges Vermögen. Eine Entschuldigung dieser bewiesenen Schwäche ließ sie nicht gelten. Selbst die schüchterne Einwendung sprach nicht für ihn, daß ihm keine Zeit zur Betrachtung geblieben sei, wenn er mit eigenen Händen so manche junge Kiefer in das auflodernde Lagerfeuer geschoben, oder wenn ihm eine starke Fichte Schutz vor den heranfliegenden feindlichen Kugeln gewährt habe. Elisabeth wies seine Rechtfertigungen schonungslos zurück und meinte, daß sie es nie begreifen würde, wie man ein Stück Holz ins Feuer werfen könne, ohne dabei zu wissen, welcher Art es sei, oder daß man sich hinter einen Baum stelle und nicht einmal dessen Namen kenne. Diese und ähnliche Vorhaltungen leuchteten Friesen zwar nicht recht ein, aber er wagte auch keinen Einspruch mehr. Mit heißen Wangen, die der Eifer erröten ließ, lehrte sie ihm das Schauen und Beobachten. Sie verfolgten mit einander das Wachsen des Halmes, das Werden und Aufbrechen der Knospe und das Schwellen und Treiben der Frucht. Dann wieder führte sie ihn mit blitzenden Augen, an der Hand hinter sich her ziehend, durch das Gebüsch zu Vogelnestern, in denen niedliche, gefleckte Eier lagen, oder die junge Brut piepsend ihre nackten Hälse reckte und die hungrigen Schnäbel weit aufsperrte. Jeden Vogelruf sollte er kennen; unermüdlich nannte sie ihm den Namen des Vogels, dessen Gesang sie eben gehört hatten. Zuweilen ahmte sie das Gezwitscher nach, und er mußte raten. Dann wieder rief sie den Namen eines der gefiederten Sänger des Waldes, und Friesen hatte, so gut es gehen wollte, mit dessen Gesange zu antworten. Bei allen diesen Unterweisungen lag auf des Mädchens lieblichem Gesicht der altkluge Ausdruck, der ihr so vortrefflich stand, und von dem es bis zum Lachen doch nur einer ganz kleinen Bewegung der Gesichtsmuskeln bedurfte. Lange konnte sie sich auch nicht beherrschen, dann begann sie selbst wieder zu fragen, oder neckte ihn. Und, -- hui, flogen beide um die Wette unter den Bäumen dahin. Aber heute war Friesen wieder einmal allein. Elisabeth war, wie so manch liebes Mal, verschwunden, und er wußte sie oben auf dem Schlosse. Langsam war Friesen bis zu dem kunstlosen Stege geschritten, der über den Bach führte und aus einem langen Brett bestand, das mit seinen Enden hüben und drüben auf dem steinigen Uferrand auflag. Er ging langsam und vorsichtig hinüber, denn die Brücke bog sich unter der Last und drohte jeden Unvorsichtigen hinab in den Bach zu werfen. Auf dieser Seite des Baches war er noch nicht gewesen. Er ging weiter und betrat einen kleinen Buchenwald, der sich in der Flußniederung hinzog. Es waren lauter alte, herrliche Bäume, die hier standen. Friesen lief unter dem Laubdach hin, zuweilen an einem dichten Brombeergebüsch stehen bleibend und nach frühreifen Früchten suchend. Dann warf er sich in das schwellende Moos, das wie ein dunkelbraunes Sammetpolster unter den Bäumen ausgebreitet war. Eine lange Weile blieb er so liegen. Ueber ihm wiegten die Bäume ihre Kronen, durch die an einigen Stellen der blaue Himmel hindurchsah. Dann kam ein leichter Windstoß, und die Äste rauschten stärker durcheinander. So gefiel es ihm, -- diese wohltuende Einsamkeit war Balsam, der die Wunde in seinem Herzen kühlte. Endlich sprang er wieder auf und ging nach dem Stege zurück. In Gedanken versunken und die Augen gesenkt, schritt er dahin. Da war es ihm, als wenn er Rascheln von Laub wie unter menschlichen Tritten gehört habe, und fast gleichzeitig klang ein unterdrücktes Kichern. Friesen sah sich erstaunt um und bemerkte in kurzer Entfernung seitwärts des Weges, am Fuße einer mächtigen Buche, zwei Frauengestalten, die ebenfalls geruht haben mochten und die sein Näherkommen aufgescheucht hatte. In der kleineren von beiden erkannte er Elisabeth. Von ihr war auch zweifellos das unterdrückte Lachen ausgegangen, denn ihr Gesicht verriet noch zu deutlich die Freude, die sie empfand, ihn überrascht zu haben. Friesen fand kaum Zeit, ihr zuzunicken. Sein Blick war zu dem anderen Mädchen geglitten, dessen Arm Elisabeth umschlungen hielt. Es war eine hohe, herrlich gebildete Frauengestalt. Aus dem feingeschnittenen Gesicht blickte ein sinnendes Augenpaar herüber, über dem dunkle Brauen ihre hochgewölbten Bogen gezeichnet hatten. Auf dem Kopfe trug sie einen dichten Kranz brauner Zöpfe. Die Erscheinung dieses Mädchens bot ein Bild von Anmut und entzückender Frauenschönheit. Friesen zögerte einen Augenblick mit dem Weiterschreiten, und er schwankte, ob er sich den Mädchen nähern solle. Dann aber kam ihm blitzschnell das Verständnis für die Lage, und die Rücksicht auf seine Gastgeber bewog ihn, weiterzugehen. Er grüßte tief hinüber und bemerkte, daß das schöne Mädchen errötete und seinen Gruß durch leises Neigen des Kopfes erwiderte. Nach wenigen Minuten befand er sich wieder auf dem jenseitigen Ufer. Da hörte er hinter sich eilende Tritte und wie er sich umsah, erkannte er Elisabeth, die gerade den Steg überschritt. »Herr von Friesen?« rief sie von weitem, »laufen Sie doch nicht so schnell. Ich will mit Ihnen nach Hause gehen.« Er blieb stehen und sah ihr lächelnd entgegen. Jetzt kam sie angesprungen. Ihre stark geröteten Wangen traten aus dem bleichen Gesicht scharf hervor. Als sie ihn erreicht hatte, legte Elisabeth vertraulich ihren Arm in den seinen, wie sie es oft tat, wenn sie im Walde nebeneinander gingen. Ihre Brust arbeitete infolge des schnellen Laufes heftig, und sie mußte lange nach Atem ringen, bevor sie sprechen konnte. »Das war meine Freundin Maria,« sagte sie stolz, »Maria von Tiefenbach.« »Ach, Ihre Cousine,« entgegnete Friesen achtlos, »die oben im Schlosse wohnt?« Ueberrascht hob Elisabeth den Kopf und sah ihm in das Gesicht. »Aber, Herr von Friesen, woher kennen Sie denn Maria?« »Ich habe sie noch nie gesehen, aber schon vor ihr gehört,« antwortete er. »Max hat mir erzählt, daß es ein Schloßfräulein gäbe, mit dem unser kleiner Wildfang vom Freihofe gute Freundschaft halte.« Das Mädchen hörte seine Neckerei nicht. Ihr Gesicht zeigte einen gespannten Ausdruck, als sie rasch fortfuhr: »Das hat Ihnen mein Bruder erzählt? Ach bitte, Herr von Friesen, sprechen Sie mehr davon. Was hat er alles von Maria gesagt?« Eine Blutwelle war dem Mädchen ins Gesicht getreten, aus dem Friesen zwei bittende Augen entgegenleuchteten. Der junge Mann war betroffen. Er bereute seine Worte, die die Erregung des Mädchens hervorgerufen hatten. Von dem, was Max ihm erzählt hatte, durfte er natürlich nicht plaudern, da wäre er ja auf das im Freihofe sorgfältig gemiedene Thema gekommen. Da hatte ihm sein Scherzen einen argen Streich gespielt, den er sofort wieder gut machen mußte. So harmlos wie es ihm nur gelingen wollte, antwortete er: »Max hat mir beiläufig erzählt, daß seine Familie mit den Tiefenbachs vom Schlosse verwandt sei, und daß der alte Herr dort oben nur ein einziges Töchterchen habe. Das waren ungefähr seine Worte. So, und nun habe ich gesagt, was ich weiß, und ich hoffe, daß eine gewisse neugierige Fragerin befriedigt sein wird.« Verstohlen blickte er zur Seite und sah einen Zug tiefer Enttäuschung auf Elisabeths Gesicht lagern, während die Augen, die soeben noch voll Erwartung auf ihm geruht hatten, gedankenvoll in die Weite schweiften. Es schien ihm, als wenn das Mädchen seinen Worten nicht recht glaube, und nur ihr hohes Zartgefühl sie davon zurückhalte, weiter in ihn zu dringen. Eine Zeitlang gingen sie schweigsam nebeneinander. Dann aber wünschte Friesen das Mädchen auf andere Gedanken zu bringen, und er ahmte mit großer Sorgfalt den Ruf des Kuckucks nach. Dieser Versuch mußte jedoch nicht besonders glücklich ausgefallen sein, denn er bemerkte, wie sich die regungslosen Züge des schmalen Gesichtes wieder belebten, wie es dann in den Mundwinkeln zu zucken begann, und wie zuletzt seine Nachbarin in herzliches Lachen ausbrach. Friesen aber war froh, das Mädchen wieder heiter zu sehen, denn Ernst stand ihrem Gesicht wirklich nicht. Im nächsten Augenblick hatte sie wieder vergessen, was ihr Herz noch soeben schwer bedrückte. Und fröhlich plaudernd trafen sie als Letzte zum Mittagessen ein. * * * * * An den folgenden Tagen war Friesen in Maxens Begleitung wiederholt ausgeritten. Max hatte im Frühjahr ein paar schöne Wagenpferde gekauft, die er auch zugeritten hatte, sodaß sie, obgleich es zwei schwere Gäule waren, recht gut unter dem Sattel gingen. Da der Braune noch immer etwas lahmte, und die beiden Pferde in diesen Tagen selten vor die Kutsche kamen, benutzte er sie abwechselnd auf seinen Ausritten. Zuweilen begleitete auch Elisabeth die Herren zu Pferde. Sie besaß einen prachtvollen Apfelschimmel, ein hochgewachsenes, junges Tier, mit langer, weißer Mähne und wallendem Schweife. Vor zwei Jahren hatte Max das Tier aus Holstein mitgebracht, und in kurzer Zeit war das Mädchen mit der Reitkunst so vertraut, daß ihre Leistungen alle überraschten. Friesen gewahrte mit Erstaunen die Sicherheit, mit der Elisabeth den Schimmel ritt. Das kluge Tier schien stolz zu sein unter seiner jungen Reiterin; es spitzte verständnisvoll die Ohren und selbst der leichteste Zungenschlag entging ihm nicht. Wenn aber seine Herrin, sich herabbeugend, freundlich zu ihm sprach und ihm den glänzenden Hals klopfte, da warf es schäumend den Kopf auf und nieder und stampfte lebhaft den Boden. Auf einem dieser Spazierritte lernte Friesen einen jungen Bauern aus dem Dorfe kennen, namens Konrad Hartmann, den starke Freundschaftsbande an Max fesselten, und der, wie Friesen schnell bemerkte, sich einer besonderen Wertschätzung durch die Freihoferin rühmen durfte. Konrad Hartmann besaß einen kleinen Hof, der am Ende des Dorfes lag, und in dessen Nähe, der mündlichen Überlieferung nach, auf einem Hügel in früheren Zeiten ein Galgen gestanden haben sollte. Jetzt war davon freilich nichts mehr zu sehen, aber der Name war geblieben, denn das Hartmannsche Anwesen hieß allgemein der Hof am Rabenstein und sein Besitzer kurzweg der Rabensteiner. Konrad ritt einen struppigen Fuchshengst, ein feuriges Tier edelster Rasse, das ihm vor einigen Jahren ein französischer Offizier halb geschenkt hatte, dem es darauf ankam, daß das kranke Pferd recht gute Pflege erhielt. Unter Konrads sorgfältiger Wartung hatte sich das Tier langsam wieder erholt, und nun hing der junge Mann, der weithin den Ruf eines ausgezeichneten Reiters genoß, an dem Hengst mit geradezu brüderlicher Liebe. Konrad Hartmann war ein Feuerkopf und so etwa gerade das Gegenteil des in seinen Entschließungen schwerfälligen Max. Mit Staunen hörte Friesen den einfachen Bauernsohn über die politischen Verhältnisse treffende Worte sprechen. Sein Urteil über die zweideutige Rolle, die Sachsen seit der Katastrophe von Jena spielte, war vielleicht zu hart und für die Leiter der Geschicke des Volkes schonungslos. Aber von seinen Plänen über die Befreiung von den unwürdigen Fesseln, die das Land mit dem Kaiser verbanden, ging ein Hauch glühender Begeisterung aus und alle Gefahr nicht achtender Liebe zu seinem Vaterland. Leider litten diese Pläne, wie sich Friesen gestand, an dem großen Fehler, daß sie niemals verwirklicht werden konnten, denn Alldeutschland lag gedemütigt am Boden, und der Stern des gewaltigen Eroberers hatte noch nie so glänzend gestrahlt als in diesen Tagen. Dennoch lauschte Friesen gern und mit Aufmerksamkeit Konrads Worten, und es stieg in ihm dunkel die Meinung herauf, daß es solcher Männer, wie diesen, leider nicht genug gäbe unter dem sächsischen Volk. * * * * * Der Sommer war vorüber, der Winter stellte sich ein, -- und Friesen weilte noch immer auf dem Freihof und half den ihm so rasch liebgewordenen Menschen in dem einsamen, verschneiten Dorfe die langen Winterabende kürzen. Nun war auch Weihnachten vorüber. Das alte Jahr tauchte hinab in die Ewigkeit und ungewiß, was es bringen würde, schaute man dem neuen entgegen. Da wurde plötzlich die Harmonie der ruhig dahinfließenden Tage auf dem Freihofe rauh unterbrochen: Friesen erhielt die schriftliche Ordre, sich unverzüglich bei seinem Regimente zu melden. Von den besten Wünschen und Hoffnungen auf frohes Wiedersehen in nicht allzuferner Zeit begleitet, nahm er schweren Herzens von der trauten Stätte und ihren lieben Bewohnern Abschied. Noch ahnte niemand die schreckenvolle Zeit, der man entgegenging. Aber nur allzubald sollte sich der gnädig verhüllende Schleier der Zukunft lüften, denn von neuem und diesmal unheilvoller denn je, klangen die Kriegstrompeten durch die deutschen Gauen. Napoleons grenzenloser Hochmut geizte nach neuem Ruhm. Die Taten eines Alexanders, eines Karls des Großen standen ihm beständig vor der Seele und trieben seinen empfindlichen Ehrgeiz bis ins Maßlose. Die Völker zwischen dem Rhein und der Oder lagen zu seinen Füßen, und ihre Herrscher buhlten um seine Gunst. Nur Rußland stand noch aufrecht und spottete der Eroberungsgelüste des Kaisers. Das Verhältnis zwischen ihm und dem Kaiser Alexander war seit dem Wiener Frieden immer kälter, zuletzt feindselig geworden, bis endlich Rußlands Forderungen, Napoleon solle die französischen Besatzungen aus Pommern und Preußen zurückziehen, die Kriegserklärung folgte. Ganz Europa hallte wider von den ungeheuern Rüstungen der beiden mächtigen Gegner. Der Kaiser hatte schon seit länger als einem Jahre mit den Vorbereitungen für diesen Krieg im Geheimen begonnen. Wie er nie aufgehört hatte, Preußen zu mißtrauen, sah er dem Zusammenstoße mit Rußland wie etwas Unvermeidlichem entgegen. Sein erster Schritt war gewesen, die Besserung der sächsischen Heeresverhältnisse bei dem Könige von Sachsen auf das eifrigste zu betreiben. Und eine gründliche Umgestaltung war hier nach den Erfahrungen der letzten Feldzüge allerdings ein unabweisbares Bedürfnis. Vor allem galt es, eine Menge veralteter Einrichtungen zu beseitigen und das Heer von der ihm anhaftenden Greisenhaftigkeit zu befreien. Eine Anzahl alter, unfähiger Generale wurde verabschiedet, und mehrere jüngere, befähigte Stabsoffiziere, die die napoleonische Schule gebildet hatte, rückten mit einer für die damaligen Verhältnisse unerhörten Schnelligkeit auf. Das weitere Verlangen des Kaisers ging dahin, in Sachsen einen großen befestigten Platz anzulegen, wozu Torgau ausersehen wurde. Der leitende Minister der auswärtigen Politik Sachsens war zu jener Zeit Senfft von Pilsach, der keineswegs wie sein Vorgänger zu den knechtischen Bewunderern Napoleons gehörte. Ja, er haßte ihn und trug sich mit Gedanken an eine Abschüttelung des französischen Jochs. Mit welch segensreichem Erfolge seine Tätigkeit hätte gekrönt sein können, wie viel Kummer und Verlust an Menschen, Land und Eigentum Sachsen erspart geblieben wäre, wenn die Pläne dieses Mannes nicht von einer Niederwerfung Preußens ausgegangen wären, auf dessen Trümmern er die Aufrichtung einer sächsisch-polnischen Macht im Herzen Europas erträumte. In einer unbegreiflichen Verblendung wähnte er Preußen auf alle Zeiten verloren, und aus diesem Grunde liefen seine Gedanken, anstatt mit Preußen Verbindung zu suchen, darauf hinaus, seinen Niedergang zu beschleunigen. Um den Osten zu stärken, hatte Napoleon ungeheure Waffenvorräte in dem Großherzogtum Warschau angehäuft und die polnischen Reiterregimenter umgewandelt und verstärkt, um im Falle des Krieges die lästigen Kosakenschwärme von dem französischen Heere fernzuhalten. Weiter war die Bildung von Nationalgarden, die Verstärkung von Festungen und deren Armierung an der russischen Grenze sowie die Bereithaltung großer Mundvorräte in den Magazinen anbefohlen. Schon in der Mitte des Jahres 1810 war in Dresden ein französischer Stabsoffizier erschienen, um zu horchen, ob der Kaiser in jedem Falle auf die sächsische Armee rechnen könne. Die Stimmung in Sachsen war beim Ausbruche des Krieges nicht überall dieselbe. Das verjüngte, trefflich geschulte Heer freilich war von kriegerischem Geiste beseelt und vertraute blind dem Genius des Kaisers. Der Erfolg des Feldzuges erschien im voraus gesichert, und der glückliche Ausgang versprach hohen Gewinn für das Land. Die Bevölkerung teilte jedoch diese hoffnungsvolle Meinung nicht. Der Bauer war des unaufhörlichen Kriegführens müde und sehnte sich nach bleibender Ruhe. Die vorangegangenen Feldzüge hatten zuviel Blut gefordert und das Land ausgesogen und bis an den Rand des Ruins gebracht. Aber das sächsische Volk war gewöhnt, seinem Fürsten zu folgen und ihm sein ganzes Vertrauen zu schenken. Deshalb legte man auch diesmal wieder das Geschick des Landes zuversichtlich in die Hände des geliebten Königs. Und so folgte Sachsen dem mächtigen Strom, der es in einen der schrecklichsten Kriege, den die Weltgeschichte kennt, hineinriß, und dessen Folgen für das unglückliche Land so verhängnisvoll werden sollten. 4. Kapitel. In den ersten Tagen des Monats Mai 1812 benachrichtigte Napoleon König Friedrich August durch einen Ordonnanzoffizier von seiner baldigen Ankunft in Dresden. Am 13. Mai überschritt der Kaiser in Begleitung seiner Gemahlin und umgeben von einem glänzenden Hofstaat in der Nähe von Plauen die sächsische Grenze, wo ihm der vom König entsandte Oberkammerherr von Friesen und General von Gersdorff namens ihres Monarchen ehrfurchtsvoll empfingen. Der König und die Königin selbst erwarteten den hohen Gast in Freiberg. Infolge der zahlreichen Huldigungen, die dem Kaiser auf der Fahrt von den Behörden dargebracht wurden, verzögerte sich seine Ankunft, und die Folge war, daß der König sich am Abend kaum zur Ruhe begeben mochte und nur mit vieler Mühe bewogen werden konnte, sich einige Stunden Schlafes zu gönnen. Gegen Morgen traf das Kaiserpaar in dem Städtchen ein, dessen Bewohner während der ganzen Nacht auf den Beinen geblieben waren. Die ersten Schimmer des anbrechenden Frührots mischten sich mit der festlichen Beleuchtung der Stadt. Am Abend dieses Tages hielt der Kaiser unter dem Geläute der Glocken seinen Einzug in Dresden. Die märchenhafte Beleuchtung dieser schönen Stadt und des lieblichen Elbtales während der Kaisertage übertraf selbst alle derartigen Schauspiele, womit der verschwenderische, prunkliebende Kurfürst August der Starke seine Residenz einst verwöhnt hatte. Außer dem Kaiser und der Kaiserin von Österreich hatten sich zahlreiche Fürstlichkeiten, hohe Offiziere und Staatsmänner in der sächsischen Landeshauptstadt eingefunden. Glänzende Feste wurden veranstaltet, von denen jedes eine rauschende Huldigung des Allgewaltigen zum Mittelpunkt hatte. Es waren Tage der verschwenderischsten Prachtentfaltung, des höchsten Glanzes. Die deutschen Fürsten übertrafen sich gegenseitig in der Begierde, einen Gunstbeweis von dem Kaiser zu erhalten, und wenn er einen von ihnen ausgezeichnet hatte, sah dieser stolz auf die, die sich noch immer um einen gnädigen Blick des Gefürchteten bemühten. Napoleon hatte den Gipfel seiner Macht erklommen. Nur ein einziger von Deutschlands Fürsten ließ sich von dem Strahlen des Kaiserlichen Gestirns nicht blenden; es war der König von Preußen, der gebeugt und düster durch die Versammlung schritt. König Friedrich August von Sachsen wich seinem Blick aus, und mit Ängstlichkeit mied ihn der Kreis der Fürsten. Der Kaiser bemerkte dies mit freudiger Genugtuung, die aber bald großem Verdrusse Raum gab, als er hörte, welch teilnehmende Hochachtung die Dresdner Bevölkerung dem preußischem König entgegenbrachte, während ihn, den Kaiser, überall nur Neugierde und das dumpfe Schweigen des Grolls empfing. Am 29. Mai verließ Napoleon Sachsens Hauptstadt, um das Kommando der Armee zu übernehmen. König Friedrich August war, um den Abschied von dem erhabenen Gast nicht zu versäumen, so besorgt, daß er nicht wagte, zu Bett zu gehen, sondern die Nacht im Stuhle verbrachte. Zuletzt hätte er den richtigen Augenblick beinah noch versäumt, doch gelang es ihm, dem Kaiser noch bei seinem Hinabschreiten auf der Treppe mit flüchtigen Worten Lebewohl zu sagen. Eine verzehrende Unruhe lastete wie ein schwerer Druck auf dem sächsischen Volke. Der Sommer verging, der Herbst nahte und entschwand, und bald brauste der Winter mit fürchterlicher Strenge ins Land, und man gedachte mit banger Besorgnis derjenigen, die weit entfernt von der Heimat in den unendlichen Schneefeldern Rußlands ihr Leben für die Laune des verhaßten Despoten wagen mußten. Anfänglich hatte man genügend Nachrichten von der Armee erhalten: die Kunden der Schlacht bei Smolensk und bald darauf des fürchterlichen Gemetzels von Borodino bewiesen, daß die Russen sich ihrer Angreifer wie Rasende erwehrten. Dann verstummten alle Nachrichten lange Zeit, und ihr Ausbleiben verschärfte die Qualen, die die daheim erlitten. Plötzlich leuchtete es an dem dunkeln Himmel wieder auf. Ein blendender Blitzstrahl durchzuckte ganz Europa: die Kunde des Brandes von Moskau drang herüber. Aber die Sorge um den Einzelnen war kaum noch wach, in langen, kummervollen Nächten hatte man sich schon für den Verlust getröstet, mit der Hoffnung, daß dem teuern Sohn ein schmerzvoller Tod erspart geblieben sein möge. Nur schwach glimmte noch in mancher Menschenbrust der Funke der Hoffnung auf ein irdisches Wiedersehen. Nach dieser Nachricht war wieder Grabesstille. Die ungeheure Armee, deren lärmender Durchzug tagelang gedauert hatte, mit ihren tausend Kanonen und dem nicht endenwollenden Troß, war verschwunden, als wenn sie der Erdboden verschlungen hätte. Schmerzvolles Erwarten, atemloses Aufhorchen, banges Fragen, -- -- nichts, keine Nachricht. Alles still, als wenn tiefster Friede im Lande herrsche! Nur die östlichen Winde trugen etwas herüber wie Leichengeruch, als ob sie über einen unermeßlich großen Friedhof mit offenen Gräbern gestrichen wären, und aus ihrem Heulen und Brausen klang es wie erstickte Schmerzenslaute und gestammelte Gebete. So ging man dem Weihnachtsfeste des Jahres 1812, dem heiligen Feste der Liebe und des Friedens entgegen. Wie hatten doch immer zu dieser Zeit die Herzen höher geschlagen! Noch im vorigen Jahre hatte die Freude alle Gemüter bewegt. Wenn auch genug des Herzeleids die Welt erfüllte, und die dunkle Zukunft viel Schweres in sich bergen mochte, man war vereint, fühlte sich glücklich und war zufrieden mit dem Wenigen, was das gefräßige Kriegsungeheuer einem gelassen hatte. Aber in diesem Jahre wollte die Herzen kein wonniges Gefühl erwärmen, keine freudige Erwartung erhob die Gemüter. Alle schlichen scheu umher. Man vermied es, den Nachbar, den Freund zu trösten, in der Besorgnis, den eigenen Kummer zu wecken, zu vergrößern. Ja man wagte zuletzt nicht mehr, zu fragen, aus tötlicher Angst, daß das Entsetzliche sich offenbaren könne. Ein fürchterlicher Alp lastete auf jeder Menschenbrust, und die Seelen durchzitterte tiefster Schmerz. Da lief plötzlich ein Raunen durch die Gassen der sächsischen Lande. Zuerst ging das Gerücht wie ein Windhauch. Jeder lieh ihm das Ohr und verstummte jäh vor der entsetzlichen Kunde, unter der sich das Herz krümmte. Dann wurde das Gerücht lebhafter, laut, wuchs zum Lärm an und donnerte endlich wie eine Lawine vor dem Orkan über das hartgeprüfte Volk. Die schwache Hoffnung, die sich im Innern der Stärksten tief verborgen noch erhalten hatte, erlosch in einem einzigen Augenblick. Tötlicher Schrecken lähmte die Glieder und raubte dem Geist den letzten Rest seiner Spannkraft: die riesengroße, stolze Armee war vernichtet! Alles was das russische Blei verschont, der Säbel der Kosaken nicht niedergehauen, der Huftritt ihrer Rosse nicht zerstampft, bei dem Überschreiten des zugefrorenen und halb aufgetauten Dniepr nicht umgekommen, oder bei dem gräßlichen Übergang über die Beresina nicht zerdrückt, zertreten, zwischen den Eisschollen zerquetscht worden war, -- lag erstarrt auf den endlosen Eisgefilden. Wie durch ein Wunder, hieß es weiter, hätten sich wenige Tausend gerettet, deren Rückzug sich so gestaltete, daß er in der Geschichte der Kriegsleiden seinesgleichen nicht haben sollte. Wie ein Feuerstrom ging es von Herz zu Herz; die Unterschiede in den Rangstufen der Menschen schienen aufgehoben. Alle waren nur von dem einen Gedanken beseelt, den zurückkehrenden Unglücklichen die Hände zu reichen. Aber der Wunsch war stärker als die Tat. Große Vorbereitungen konnten nicht getroffen werden, die Hast ließ keiner Überlegung Zeit, und die Kopflosigkeit zerstörte oft wieder das schon bedacht Geschehene. Der Schrecken hatte die Gemüter verwirrt. Und dann kamen die Trümmer der Armee Napoleons! Der Hunger hatte die des Weges nur noch Wankenden fürchterlich abgemagert. Unter der schlaffen, farblosen Haut ragten die Backenknochen, das Bein der Nase aus dem hohlen Gesicht schauerlich hervor, und das Haar hing wirr von der Stirn herab. Die Lippen dieser Unglücklichen waren ausgetrocknet, und aus den eingefallenen, matten Augen drang gänzliche Teilnahmlosigkeit, grinste stiller Wahnsinn. Jeder Schein militärischen Ansehens war von ihnen geschwunden. Ihre Füße waren oft nur mit Lumpen oder Stroh umwickelt, die spärlichen Kleider in Fetzen, und um die Blöße des Körpers notdürftig zu bedecken, hatte mancher um die fleischlosen Schultern nur den Rest eines alten Mantels oder ein erbetteltes Tuch geschlungen. So kamen sie daher, ohne Waffen und kaum fähig sich weiter zu schleppen, das Zeichen furchtbarer Leiden auf der Stirn und dort, wo sie einkehrten, ansteckende Krankheiten verbreitend. Und doch waren es die, die kaum vor Jahresfrist in stolzer Siegeszuversicht ausgezogen waren. Die Garde du Corps bestand nur noch aus 7 Offizieren und 4 Mann, und von den frischen, kecken Zastrows kehrten 13 Offiziere und 3 Gemeine in das Vaterland zurück. Und er, der unter dem gewaltigen Schlage des Himmels hätte zusammenbrechen müssen, prahlte in Dresden Sachsens König gegenüber mit seinen unerschöpflichen Hilfsquellen und setzte nach kurzem Aufenthalt, einen Gassenhauer trällernd, in einem schnell auf Schlittenkufen gestellten Wagen der Königin am 17. Dezember seine Weiterreise über Leipzig nach Paris unerkannt fort. * * * * * Am 9. Januar 1813 trafen die ersten dieser Unglücklichen in Leipzig ein. Ein Teil von ihnen, der auf südlicheren Straßen marschiert war, berührte auch Rehefeld. Fast in jedem Dorfe, das diese Trupps passierten, mußten einige der Schwächsten zurückbleiben. Die Bevölkerung wetteiferte in der Aufnahme und Pflege der Soldaten, ohne darauf zu sehen, ob sie einen Deutschen oder einen Franzosen im Hause hatten. Alle waren sie Unglückliche! Mit dem Beginn des neuen Jahres hatte sich reicher Schneefall eingestellt, dem starke und anhaltende Kälte folgte. Die Jammergestalten konnten sich kaum noch weiterschleppen, denn ringsum waren die Straßen verschneit, und der scharfe Nord drang schneidend durch die dünnen, zerrissenen Kleider der Ärmsten. Auch die Mutigsten von ihnen wollten jetzt nicht mehr weiter und nahmen mit Freudentränen die Aufforderung zum Bleiben ohne Zögern an. Fast jedes Haus in Rehefeld hatte unter seinem Dache einen der Fremdlinge, und selbst die Ärmsten der Bewohner teilten mit ihrem Gaste freudig die kärgliche Nahrung. Aber es bedurfte nicht vielem, um die Soldaten zufrieden zu sehen. Die Ruhe tat den von langem Marschieren im Schnee wundgewordenen Füßen wohl, und es widerfuhr ihnen schon ein großes Glück, wenn sie nach langen Qualen und Entbehrungen die starren Glieder auf weichem Lager und in wohltuender Wärme ausstrecken konnten. Da brach, wenige Tage nach ihrem Eintreffen, unter den Angekommenen eine Krankheit aus, die sich rasch verbreitete und von der auch einige der Dorfbewohner ergriffen wurden. Die Krankheitserscheinungen waren ernst. Man riet deshalb nicht lange, sondern schickte einen Wagen nach Leipzig hinein, um ärztliche Hilfe zu holen. Noch an demselben Abend kamen zwei Militärärzte an, die sofort mit der Untersuchung der Kranken begannen. Unermüdlich gingen sie von Haus zu Haus; überall begegneten ihnen die gleichen Krankheitserscheinungen. Nach kurzer Beratung erklärten die Ärzte dem sie begleitenden Ortsvorstand, daß die fiebernden Soldaten an Typhus erkrankt seien und nicht länger in den Häusern bleiben dürften, sondern daß für sie ein paar große Räume als Spital herzurichten seien. In seiner Bestürzung eilte der alte Mann auf den Freihof, wo er am ehesten Rat und Beistand zu finden hoffte. Die Tiefenbachs waren noch wach. Sie beherbergten selbst drei Soldaten, die ebenfalls von der Krankheit befallen waren und in heftigem Fieber lagen. Max ließ sofort seine Leute wecken und sandte sie im Dorfe herum, um einige der Entschlossensten herbeizuholen. Nach Verlauf einer halben Stunde waren sieben oder acht Bauern versammelt. Die Ärzte, die die angebotene Unterkunft auf dem Freihofe angenommen hatten, beschrieben die Anforderungen, die an die Krankenzimmer gestellt werden müßten und gaben Unterweisungen für die Überführung der Kranken. In kurzer Zeit einigten sich die Männer dahin, daß der große Tanzsaal des Gasthofes und das dicht daneben stehende Schulhaus für die Kranken eingerichtet werden sollten. Der Lehrer und seine Familie mußten während dieser Zeit bei einem Bauern Unterkunft bekommen. Sollten diese Räume nicht ausreichen, so würde man den Freiherrn um Aufnahme einiger Kranken im Schloß bitten. Am andern Morgen, als die Sonne blutigrot am Himmel heraufzog, und ihre Strahlen die eisige Kälte noch fühlbarer machten, begann man damit, die zur Aufnahme der Kranken ausersehenen Räume herzurichten. Von allen Seiten brachten die Leute das im Hause Entbehrliche herangetragen; dieser die Bretter eines alten, wurmstichigen Bettes, die viele Jahre verstaubt und vergessen auf dem Dachboden gestanden hatten, jener einen Strohsack, der rasch mit weichem Haferstroh frisch gefüllt worden war. Ein Dritter gab zwei wollene Decken, wieder einer ein Deckbett, das noch warm war, da es in der verflossenen Nacht ihm selbst gedient hatte, und zwei Kissen dazu. Ein anderer erklärte, daß er und sein Weib unter Decken nicht frieren würden, und er gab alles, was sie an Betten besaßen. Die Hofbesitzer und die großen Häusler trugen fast jeder ein vollständiges Bett herbei, und vom Freihof kam ein zweispänniger hochaufgepackter Wagen, von dem man vier Bettstellen und ebensoviel Strohsäcke und Federbetten ablud. Keiner wollte zurückstehen von der Erfüllung des Liebeswerkes und wenn es der Ärmste war. Etwas hatte jeder, wars auch nur eine geringe Gabe. In wenigen Stunden waren die Räume soweit instand gesetzt, daß man daran denken konnte, die kranken Soldaten aus den einzelnen Häusern in ihr neues Heim zu schaffen. Man zählte: dreiundzwanzig Kranke sollten es sein, und neunundzwanzig Betten standen bereit. Gottlob! Soweit war alles geglückt, das Hospital war fertig. Der Tanzsaal allein konnte zwölf Kranke aufnehmen, und die übrigen fanden in den beiden Gastzimmern daneben und im Schulzimmer Unterkunft. Gegen Mittag brachte man die Kranken von allen Seiten heran. In Decken und Betten gehüllt, wurden sie vorsichtig bis zum Gasthof gefahren; aus den näher liegenden Häusern trugen sie die Einwohner dahin. Alles beteiligte sich daran. Die beiden Ärzte waren vorher emsig von einem Haus in das andere geeilt und hatten die letzten Anordnungen für den Transport gegeben. Nun standen sie inmitten der frischen Betten und überwachten das sorgsame Hineinlegen der Kranken. Ein Neugeborenes kann nicht zärtlicher und liebevoller von seiner Mutter in den Arm genommen werden, wie mit den Soldaten die Rehefelder verfuhren, und die Kinder trugen den mit ihrer Bürde behutsam Dahinschreitenden die wenigen und armseligen Kleidungsstücke nach. Das Mitleid mit den Unglücklichen hatte die ganze Einwohnerschaft ergriffen, und man suchte in der Betätigung für die Notleidenden einander zu übertreffen. Unter denen, die sich von den frühesten Morgenstunden ab um das gute Gelingen des Werks bemüht hatten war auch Max. Nachdem er mit seiner Mutter kurz besprochen hatte, was sie an Betten und Gerätschaften beisteuern konnten, war er hinüber nach Zehmen geritten. Die Militärärzte hatten erklärt, daß sie nicht länger bleiben könnten, da ihre Hilfe in dem mit Kranken überfüllten Leipzig nur allzu dringend gebraucht würde. Aus diesem Grunde war er zu dem in diesem Dorfe wohnenden Arzt geeilt, der freilich schon seit Jahren infolge hohen Alters seinen Beruf nicht mehr regelmäßig ausübte, um ihn um seinen Beistand für die jetzige Zeit der großen Not zu bitten. Er fand den Greis im Bette liegend und krank, so daß dieser ihm nur ein paar Ratschläge mit auf den Weg geben konnte und in Aussicht stellte, nach einigen Tagen selbst einmal nach den Kranken zu sehen. 5. Kapitel. Als Max gegen Mittag zurückgekehrt war, hörte er, daß die Kranken in dem schnell hergerichteten Spitale nunmehr glücklich untergebracht seien. Er konnte einen Ausdruck der Befriedigung darüber nicht unterdrücken, und ein Gefühl der Beklemmung wich von ihm bei dem Gedanken, daß die Einwohner Rehefelds der unmittelbaren Gefahr der Ansteckung nicht mehr ausgesetzt wären. Max ging nach dem Gasthof, da er wissen wollte wie es nun darin aussah, ob man für die Zubereitung der Speisen für die Kranken ausreichend gesorgt hatte und schließlich, ob genug Pflegerinnen bestellt wären Als er über den Platz vor dem Gasthof schritt, standen ein paar Geschirre vor dem Hause. Die Pferde hatten die Krippen vor sich und fraßen bedächtig, während die Besitzer in der Gaststube weilten. Im Hausflur angekommen, unterschied er drinnen einige bekannte Stimmen, unter denen er auch die des Gemeindevorstands erkannte, der froh sein mochte, der größten Sorge ledig zu sein. Max schritt auf die Tür zu, besann sich aber sofort eines anderen und wandte sich wieder um. Langsam stieg er die Treppe hinauf, um sich vorher die Unterbringung der Kranken anzusehen. In dem geräumigen Saale waren an den beiden Längsseiten die Betten mit geringen Abständen von einander aufgestellt, daß die Kranken mit den Füßen nach dem in der Mitte entstandenen, breiten Gang zu lagen. Die hölzernen Bettgestelle waren ungleich lang und breit und die Bezüge verschiedentlich bunt gestreift oder gewürfelt, wie sie die Bauern aus ihren Haushaltungen zusammengetragen hatten. Einige der Kranken schliefen, andere lagen wachend in den Kissen, und hier und da warf einer in starkem Fieber unruhig den Kopf hin und her. Drei Frauen gingen geräuschlos ab und zu oder bemühten sich um die Kranken. Die erste, die Max am nächsten stand, war eine alte Auszüglerin, die gewöhnlich im Dorfe die Kranken wartete, und in einer andern erkannte er die Frau des Schullehrers. Die dritte kehrte ihm den Rücken zu und beugte sich gerade tief auf das Bett eines Fiebernden nieder und hielt diesem ein Glas Wasser an die Lippen. Max wußte nicht, wer diese Pflegerin war, aber ihre Erscheinung fesselte sofort seinen Blick, so daß er die Augen auf der hochgewachsenen Gestalt ruhen ließ. Sie trug ein dunkelblaues, eng anschließendes und ganz einfach gearbeitetes Wollkleid, und ihr volles braunes Haar war mit einem weißen Leinenhäubchen bedeckt. Er sann nach, wer die Unbekannte sei, aber keines der Mädchen im Dorfe glich ihr. Sein Verlangen, ihr ins Gesicht zu sehen, wuchs, als er bemerkte, wie geschickt und zugleich schonend die Pflegerin den Kranken aufrichtete, das Kopfkissen aufschüttelte und dann den alten französische Soldaten wieder sorgfältig darauf bettete. Nun ging das Mädchen von dem Bett weg und wandte sich um, und gleichzeitig mit dieser Bewegung begegneten ihre Augen seinem Blicke. Max war derart betroffen, daß er schweigend und wie angewurzelt auf seinem Platze stand, und es wollte ihm selbst nicht gelingen, seinen Blick von ihr zu wenden. Diese hätte er hier nicht vermutet, und aus diesem Grunde konnte er seiner großen Verlegenheit nicht so leicht Meister werden. Denn das Mädchen, dem er gegenüberstand, und das unter seinem langen Blicke in leichte Verwirrung geriet, war Maria von Tiefenbach. Noch nie hatten sich die beiden so nahe gegenüber gestanden. Sie waren fast unbewußt jederzeit von dem gleichen Wunsche beseelt gewesen, eine nahe Begegnung zu vermeiden, und schon von weitem hatten sie bisher beim Sichtbarwerden des andern unverfänglich einen Seitenweg eingeschlagen. Und so war es gekommen, daß ihnen ein dichtes Aneinandervorübergehen trotz der engen Verhältnisse im Dorfe bis heute erspart geblieben war. Max hatte die Abneigung gegen die Leute vom Schlosse mit der Muttermilch eingesogen, und in späteren Jahren war es wieder die Freihoferin gewesen, die dieses unbewußte Gefühl zu einem bewußten und trotzigen Haß gegen die Verwandten vertieft hatte. Wie die Mutter, sah auch er in den Schloßbewohnern herrische und hochmütige Menschen, die den Zweig der Familie, der in das Dorf hinabgestiegen war, verachtete, und von denen einer die teuere Verstorbene beschimpft hatte. Deshalb war der junge Mann, als er sich dem Mädchen unvermutet und zum ersten Male so nahe gegenübersah, betroffen. Blitzschnell erwog er, wie er jetzt am richtigsten zu handeln habe, um die, beide beklemmende Situation zu beenden. Den Rücken wenden und hinausgehen, das konnte er nicht, denn er war ja gekommen, um sich zu erkundigen, ob es noch an etwas fehle, und diese Absicht mußten die beiden anderen Pflegerinnen schon bei seinem Eintreten erkannt haben. Dazu hatte er beim Verrichten des ganzen Samariterwerkes allzusehr in vorderster Linie gestanden, und vermutlich hatte der Gemeindevorstand die Frauen auch schon angewiesen, sich an ihn zu wenden, wenn an etwas Mangel einträte. Und dann müßte er alle Höflichkeit unbeachtet lassen, die man fremden Menschen und selbst denen schuldig ist, deren Gesellschaft man meidet. Sein rücksichtsloses Fortgehen würde die Jungfrau tief verletzen. Und was tat es denn überhaupt wenn er blieb? Standen sie beide in diesem Augenblick nicht in einem höhern Dienste, in dem der Nächstenliebe? Durfte er jetzt Zwist und Abneigung vorschützen, um mit dem Mädchen nicht nebeneinander arbeiten zu müssen? Steht die Pflicht zur Barmherzigkeit nicht so unendlich hoch, daß selbst Feinde zusammen an ihr arbeiten dürfen? Er würde sich engherzig und klein schelten und seiner Standpunkt als niedrig bezeichnen müssen, wenn er hier auswich. Deshalb mußte er bleiben. Sein innerer Mensch wurde nicht betroffen, der konnte der alte bleiben. Aber die Kraft dem leidenden Nächsten zu widmen, auch unter diesen unbequemen Umständen, forderte einfach seine Ehre. Diese Gedanken, die in schnellem Fluge durch Maxens Seele zogen, verrieten sich auf seinem Gesicht nur zu deutlich, daß das vor ihm stehende Mädchen sie nicht hätte erraten müssen. Aber auch sie kämpfte mit ihrer Verlegenheit. Da überkam den jungen Mann plötzlich die Eingebung, daß er den Anstand verletze, wenn er jetzt nicht das peinvolle Schweigen breche. Langsam schritt er deshalb auf das Mädchen zu und indem er sich bemühte, unbefangen zu bleiben, sagte er: »Es ist ein schwerer Beruf, den Sie gewählt haben, aber viel Dank wird Ihnen dafür werden.« Sie schwieg eine kurze Weile, dann richtete sie ihre großen, blauen Augen fest auf ihn und sagte mit wohllautender, tiefer Stimme: »Dem leidenden Nächsten zu helfen ist Menschenpflicht. Der beste Lohn dafür ist die Befriedigung, die tief im Herzen quillt und die froher macht als der Dank.« »Sie haben recht,« erwiderte Max, »diesen Beweggrund soll auch der Mensch für seine guten Taten haben, denn so hat es uns schon der große Nazarener gelehrt. Aber haben Sie die Aufgabe, der Sie sich freiwillig und gewiß mit vielem Eifer unterziehen wollen, auch nicht unterschätzt? Dieser Beruf wird Anstrengungen und Entbehrungen von Ihnen fordern, die Sie vielleicht nicht voraussahen, und die fast die Kraft eines Mannes erfordern.« »Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein, Herr von Tiefenbach,« fiel Maria ihm ins Wort, »ich bin von Jugend auf dazu angehalten, mein Tun nicht unüberlegt zu beginnen. Aber weshalb zweifeln Sie daran, daß ich nicht ebensogut wie andere Frauen imstande sein werde, diesen Unglücklichen Trost und Hilfe zu gewähren? Zu meinem Bedauern habe ich bis jetzt keine Gelegenheit gefunden, meine Kraft in Dienste des Vaterlands zu gebrauchen und dies zu einer Zeit, zu der es nicht genug hilfsbereite Hände geben kann. Jetzt ist mir die Gelegenheit geworden, und wenn ich auch tausendmal lieber diese Kranken gesund wüßte, so bin ich doch froh, daß sie sich gerade hier befinden und ich mich ihrer annehmen kann. Nach der Schwere der Bürde, die einem das Amt bringt, fragt man nicht lange, frisch zugreifen und unerschrocken den Schwierigkeiten, die sich in den Weg legen, entgegengehen, ist doch immer das Richtige. Mag der Mann draußen auf dem Felde der Ehre sein Alles einsetzen, uns Frauen soll er in Räumen wie diesen walten lassen, damit auch wir Gelegenheit haben, unser Teil beizutragen zu dem großen Werke. Wir sind dazu berufen, die geschlagenen Wunden zu heilen und die Schmerzen zu lindern, die der unerbittliche Krieg verursacht.« Das Mädchen hatte die Worte in edelm Feuer gesprochen, und die Begeisterung, die in ihr glühte, übergoß ihr schönes Gesicht mit einer feinen Röte. Jetzt, nachdem sie geendet, fühlte sie, daß sie vielleicht zu viel gesprochen hatte und fast in Erregung gekommen war. Sie bereute ihre Worte und verstand es nicht, wie die Begeisterung für ihr Vorhaben sie so mit sich fortgerissen hatte. Max konnte nichts antworten, was hätte er dem Mädchen nach diesen Worten auch sagen sollen. Überrascht stand er vor der Jungfrau, bei der sich Schönheit mit Anmut und Klugheit mit Gemüt vereinigten. Maria hatte sich nach ihren Worten wieder abgewandt und war zum Bett eines Kranken getreten, der mit heiserer Stimme zu trinken verlangt hatte. Behutsam setzte sie ihm das Glas an die Lippen, das er mit gierigen Zügen leerte. Max wechselte mit den anderen Frauen noch ein paar Worte und verließ dann den Saal. Nach den Worten des Fräuleins vom Schlosse zu urteilen und nach dem, wie er sie hatte walten sehen, würde sie eine vortreffliche Pflegerin sein. Wenn die beiden andern ihre Aufgabe ebensogut erfüllten, dann waren die Kranken in den besten Händen. Deshalb war es ein Gewinn für die Sache, daß sich das Fräulein der Pflege angenommen hatte. Und doch wünschte Max das Mädchen vom Krankensaale weit weg! Daß er denen vom Schloß nicht für immer so ausweichen konnte, wie es ihm bisher gelungen war, damit hatte er schon gerechnet, daß er aber so unerwartet mit einem von ihnen in Berührung treten sollte, und noch dazu, wie er voraussah, öfters, das behagte ihm nicht. Obendrein hatte dieses Mädchen etwas an sich, das ihn aus seiner gleichmäßigen Ruhe bringen konnte. Und von neuem stand ihm die Erscheinung vor Augen. Mit welchem Anstand sie ihr Haupt zum Gegengruß geneigt hatte, und in welch ruhigem Gleichmaß sie sprach. Noch jetzt, meinte er, hafte der Blick aus ihren großen Augen auf ihm. Ein paarmal während des Tages verfiel Max in tiefes Nachsinnen. Unwillkürlich schweiften seine Gedanken von der Arbeit weg, und er überraschte sich dabei, daß er die Hände müßig hielt und sich willig der Erinnerung an die Begegnung überließ. Des Mädchens hohe Gestalt, der lange Blick ihrer Augen die wohllautende Stimme und endlich die Sicherheit, die aus ihren Worten klang, hatte einen nachhaltigen Eindruck auf den jungen Mann ausgeübt. Er fühlte ein fast unbezähmbares Verlangen, einen tiefern Blick in die Seele dieses schönen Mädchens zu tun. Aber um dies zu erreichen, hätte er sich ihr mehr nähern müssen, als es ihm, der Pflegerin inmitten ihrer Kranken gegenüber, möglich war. Und das durfte er nicht! Maria von Tiefenbach war seine Anverwandte, denn sie waren ja Geschwisterkinder. Aber er durfte nicht vergessen, daß sich ein tiefer Abgrund zwischen ihnen hinzog, über den hinweg nimmermehr eine Brücke geschlagen werden konnte. So lange es die beiden Familien vom Freihofe und vom Schlosse geben würde, so lange würde auch die Kluft bestehen. Das war für alle Zeiten bestimmt, und niemand durfte sich vermessen, an diesem Spruch zu rütteln. So hatte es sein Großvater gewollt, nachdem der eigene, hochmütige Bruder die Auserwählte seines Herzens beschimpft hatte. Des jungen Freihofers empfindlicher Stolz bäumte sich hoch auf, wenn er an das schwere Unrecht dachte, das seiner Großmutter von denen droben einst zugefügt worden war. Und selbst dann, wenn es ihn mit unwiderstehlicher Macht zu dem Fräulein hinziehen würde, -- wie wäre es ihm möglich, vor seine Mutter zu treten und ihr zu sagen, daß er wieder Freundschaft schließen wolle mit den Leuten vom Schlosse? Würde er dergestalt seine alte Mutter nicht verraten? Sie, die er mit der zärtlichsten Liebe umgab, die ein Kind für seine Mutter nur empfinden kann! Freilich lagen seine Gefühle nicht auf der Zunge, denn beider Naturen waren hart und nicht für den offenen Austausch von Liebeszeichen geschaffen. Aber wie es Max jeden Tag von neuem fühlte, daß ihr rauhes Äußere nur die Glut ihrer mütterlichen Empfindungen für ihre beiden Kinder verbarg, wußte er, daß die bedingungslose Ehrfurcht und Unterwerfung vor ihr und die fast abgöttische Liebe zu seiner Mutter die stärksten seiner Gefühle waren, die ihn jemals bewegen konnten und die in seine Seele unlösbar hineingewoben waren. Deshalb konnte von einer Annäherung zu den Verwandten niemals die Rede sein, wenn nicht seine Mutter selbst den Wunsch dazu aussprechen würde. Aber dieser Umschwung würde in ihrer Seele nie eintreten. So glühender Haß erlischt nur mit dem Tode dessen, der ihn mit sich herumträgt. Und selbst wenn in seiner Mutter der Wunsch dazu rege würde, dürfte sie es dennoch nie tun! Als sie vor Jahren ihm, dem Knaben, die Feindschaft zu den Schloßleuten ins Herz gepflanzt, da hatte sie ihm zuletzt anvertraut, gleichsam als wolle sie ein blutigrotes, brennendes Siegel unter ihre Worte setzen, daß sie ihrem sterbenden Vater unversöhnliche Feindschaft denen im Schlosse gegenüber in die Rechte gelobt habe. Aus allen diesen Gründen unterdrückte Max seinen Wunsch das Fräulein näher kennen zu lernen. Vielleicht würde er, wenn es geschah, nur einen Widerstreit seiner Empfindungen heraufbeschwören, und es würde ihm dann gewiß schwerer werden als heute, das so schnell erwachte Interesse für dieses ungewöhnliche Mädchen wieder zu verlieren und den Eindruck zu verwischen, den es auf ihn ausgeübt hatte. Während der folgenden Tage betrat Max wiederholt die Krankenzimmer und mußte von neuem Gelegenheit nehmen, mit Maria von Tiefenbach zu reden. Sie sprach unbefangen, ihre Stimme dämpfend und begleitete ihre Worte mit ausdrucksvollen Bewegungen der Hand. Was sie ihm über den Zustand der Kranken zu berichten hatte, sagte sie in knappen Sätzen. Teilte sie ihm Erfreuliches mit, so blieb sie dennoch ernst, nur in dem aufleuchtenden Blick ihrer Augen konnte Max ihre Freude lesen. War hingegen Schmerzliches zu berichten, so erriet er dies schon, bevor sie begann, an ihren umflorten Augen. Sie vermied es ängstlich, sich ihm gegenüber weich oder erfreut zu zeigen und schien ihm im stillen dafür dankbar zu sein, daß er ihr weder tröstende, noch Worte der Anerkennung sagte. Selbst als sie ihm eines Morgens mitteilen mußte, daß ein junger bayerischer Dragoner, den sie, wie er wußte, Tag und Nacht in unermüdlicher Sorgfalt gepflegt, und der ihr durch die endlich herannahenden Zeichen seiner Genesung viel Freude bereitet hatte, infolge eines plötzlichen Rückfalls in der verflossenen Nacht gestorben war, fügte sie ihrer Meldung keine weiteren Worte hinzu. Max vermochte nicht sein Mitgefühl zu unterdrücken, das in ihm emporkam, als er in diesen Augenblicken das Mädchen betrachtete. Ihre Wangen waren von den ungewohnten Anstrengungen der letzten Tage, besonders aber von den vielen Nachtwachen bleich geworden, und ihre Haltung war die eines müden Menschen. Außer den Anzeichen großer Abspannung lag auf ihrem Gesicht tiefe Ergriffenheit. Er sah, wie sie sich fast Gewalt antun mußte, um bei ihren Worten nicht in Tränen auszubrechen. Mit wachsender Teilnahme stand Max dem Fräulein gegenüber, denn er erriet, was in ihrem Innern vorging. Zu gleicher Zeit wußte er aber auch, daß sein sehnliches Verlangen, einen Blick hinter das ernste Antlitz dieses Mädchens zu tun, sich schon erfüllt hatte. Da drang ihm plötzlich ein heißer Strom zum Herzen, den zurückzudämmen er sich anfangs bemühte, um sich im nächsten Augenblick aber dieser Weichheit in willenloser Freude hinzugeben. Denn was sich ihm hier offenbarte, war ein edles Frauengemüt! Rasch fand er die Erklärung für den großen Schmerz des Mädchens. Mit Hingabe hatte sie den Krieger nun fast zwei Wochen hindurch gepflegt, nicht der Anstrengungen achtend, die ihre Wangen hohl gemacht hatten. Unsägliche Freude hatte sie empfunden, als seine kräftige Natur in dem erbitterten Kampf mit der schweren Krankheit endlich die Oberhand gewann, und sie fühlte dadurch ihre heißen Bemühungen tausendfach belohnt. Schon sah sie, wie die Gesundheit in den erstarkenden Körper wieder einzog, -- da begannen gestern Abend die Pulse von neuem zu hämmern, die Temperatur stieg bedrohlich und ohne einen Grund dafür erkennen zu lassen, stand wieder auf derselben Höhe wie in den Tagen der qualvollsten Zweifel, stieg darüber hinaus, -- und dann mußte sie ohnmächtig zusehen, wie der eben wieder lebensfroh gewordene Kranke die Augen hilfesuchend auf sie richtete und mußte zulassen, daß der dem Tode kaum Entrissene dennoch sein Opfer wurde. In einer einzigen Nacht war ihre große Freude zu schwerem Kummer geworden. So, fühlte er, hatte es sich zugetragen, und ihre Seele, die warme Nächstenliebe, Aufopferung und tiefes Mitgefühl anfüllte, hatte großen Schmerz erlitten. Da konnte er seine Bewegung nicht mehr meistern: er trat zu der sich eben wieder von ihm wendenden Jungfrau, nahm ihre Hand in die seinige und sprach ihr mit teilnehmenden und tröstenden Worten sein Mitgefühl aus. Das Fräulein war bei der Berührung ihrer Hand unwillkürlich zusammengeschreckt, aber sie hatte sie ihm doch willig überlassen und mit Verwunderung seinen Worten zugehört. Eine starke Blutwelle trieb wieder nach ihrem Kopfe und färbte ihre blassen Wangen dunkelrot, bis hinauf unter die schweren, braunen Zöpfe auf ihrem Haupte. Langsam entzog sie ihm endlich ihre Hand und trat einen Schritt zur Seite. Dann sprach sie: »Herr von Tiefenbach, ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme. Ich hatte sie nicht erwartet und konnte nicht ahnen, daß Sie meinen Schmerz erkennen würden. Der Tod dieses mir noch vor wenigen Wochen Unbekannten hat mich, wie Sie richtig erraten haben, schwer getroffen und mein tiefstes Bedauern wachgerufen. Er liebte das Leben und klammerte sich mit bewunderungswürdiger Zähigkeit daran fest. Und wie beglückt und dem Schöpfer dankbar er dem neuen Leben entgegenging! -- Doch, Herr von Tiefenbach,« fuhr sie nach einer kurzen Pause der Sammlung in verändertem Tone fort, »eine Pflegerin darf nicht weich werden, sonst taugt sie nicht für ihr Amt. Voll Freude hatte ich dem Verstorbenen in seinen schweren Leidenstagen meine Kräfte gewidmet; er sollte nicht genesen. Jetzt gehört meine Kraft wieder den Lebenden!« Und mit dem stummen Gruße, mit dem sie sich sonst von ihm zu verabschieden pflegte, ging das Mädchen zu den Kranken. Auf Max hatte dieser Vorgang tief eingewirkt. Das, was er bis zu dieser Stunde nur empfunden hatte, war mit einem Schlage Überzeugung: in diesem schönen Mädchen wohnte eine herrliche Seele, auf deren tiefsten Grund er soeben geschaut hatte. Durch die wenigen Worte, die er mit dem Fräulein gewechselt, fühlte er sich ihr innerlich nähergerückt. Es war, als wenn eine hohe Schranke, die bis heute zwischen ihnen aufgetürmt war, von Zauberhand beseitigt worden sei. Wenn sich im Leben zwei Menschen dabei kennen lernen, daß ihnen ein Erlebnis von scheinbar geringer Bedeutung zustößt, das sie aber zwingt, sich gegenseitig einen vollen Einblick in das wie durch einen Blitzstrahl erhellte eigene Innere zu gewähren, und beide gleichzeitig erkennen, daß ihre Empfindungen und Anschauungen in der ihre Herzen berührenden Frage übereinstimmen, dann webt das Schicksal auch sogleich mit emsiger Hand geheimnisvolle Fäden von einem Herzen zum andern. Die Worte der Zurückhaltung und Förmlichkeit erscheinen ihnen nichtssagend und armselig, deshalb lassen sie den Zwang fallen und sprechen zueinander, als ob sie schon seit Jahren gute Nachbarn wären. Und doch waren sie sich noch vor einer Stunde fremd und hatten sich im Leben vielleicht noch niemals gesehen. Das kleine Ereignis aber hat beide menschlich so nahe gebracht, wie sonst nur Vertraute zueinander stehen. Jahrelang wandeln oft zwei Menschen nebeneinander dahin, ohne daß sie sich bis ins Innerste des Herzens hinein kennen lernen. Es bedeutet mitunter viel, einen Menschen so zu finden, denn die in solchen Stunden geschlossene Freundschaft dauert nicht selten bis über das Grab hinaus. Max fühlte, daß dieser Vorfall imstande sein konnte, von großer Bedeutung für sein künftiges Geschick zu werden. Wären sie nicht feindliche Geschwisterkinder gewesen, so hätten sie in dem angeschlagenen vertraulichen Tone länger zusammen gesprochen, und des Mädchens Worte hätten wohl herzlicher geklungen. Aber so hatte, während sie miteinander sprachen, neben ihr der Schatten des Familienzwists, an seiner Seite der alte Haß gestanden, unter deren Eishauch die Herzlichkeit nach dem ersten Aufschäumen frostig wurde und sich alsbald in eine kaum zu verbergende Verlegenheit verwandelte. Und dadurch ward das aus dem Herzen freudig hervordrängende Gefühl getötet, noch ehe es der Mund in Worte prägen konnte. Und während sich Max unaufhörlich mit dem Begebnis am Morgen dieses Tages beschäftigte, zog in seiner Brust, in der bisher im Leben die widerstreitenden Gefühle friedlich nebeneinander geschlummert hatten, in aller Stille ein Sturm herauf, der den starken Mann wie ein schutzloses Bäumchen auf einsamer Höhe schütteln sollte. Der Anblick, den das Fräulein heute geboten hatte, stand Max in plastischer Deutlichkeit vor der Seele. Er sah wieder ihr bleiches Gesicht mit den müden Augen und dem Zuge von verhaltenem Schmerz, der sich um ihren Mund gelagert hatte, und wenn sie sprach, kostete es sie sichtlich Mühe, ihre zuckenden Lippen zu beruhigen. Jedem anderen Menschen, dessen Seelenschmerz sich ihm so offenbart hätte, würde er in reicherem Maße Trost zugesprochen haben. Das gebot ihm die Christenpflicht. Und in welch raschem Flusse gleiten erst die Worte vom mitfühlenden Herzen, wenn es gilt, einen edeln Menschen zu trösten, den der Kummer durch selbstlose Hingabe an Unglückliche überkommen ist. Aber wenn immer er einem Leidenden das Herz erschließen durfte, hier durfte er es nicht! Diesem gemütvollen, erschütterten und doch willensstarken Mädchen gegenüber, zu dem ihn sein empfindsames Herz, ohne daß er widerstreben konnte, heute hingedrängt hatte, diesem Mädchen gegenüber mußte er seine Brust mit Eisen panzern. Denn sie war seine Feindin. Max fuhr mit der Hand über die Stirn, als wenn er damit alle Unruhe verscheuchen könne, die ihn überfallen hatte. Seine Feindin, sagte er eben? Ja, war sie denn wirklich seine Feindin? Konnte das blasse, schöne Mädchen mit dem reichen Gemüt, das seine Kraft so bereitwillig in den Dienst der Leidenden stellte, und das der Tod eines ihrer Kranken so mächtig ergriffen hatte, wirklich etwas getan haben, daß ein Mensch auf der ganzen weiten Welt sagen durfte: Seht, das ist meine Feindin? Und doch war er es, der sie Feindin nannte! Beging er damit nicht ein großes Unrecht? Hatte sie eine Mitschuld an dem ganzen unseligen Familienzwist? Warum vergalt man ihr, was ihr Großvater versündigt hatte? Mußte er als Christ diese Handlungsweise nicht als eine schwere Versündigung an einem unschuldigen Menschen bezeichnen, und warum lehnte sich nicht alles Gute in ihm auf gegen eine solche Tat? Alle diese Fragen drangen zu gleicher Zeit mit Ungestüm auf Max ein, und sein sonst so ruhiges Denken geriet in arge Verwirrung. Daran, daß die Feindschaft, die die Freihofer gegen die Schloßleute unterhielten, berechtigt sei, hatte er noch nicht gezweifelt. Jetzt schien es ihm, als wenn eine Binde von seinen Augen fiele. Von allen Seiten kamen ihm plötzlich Zweifel über die Richtigkeit seiner tiefen Abneigung. Sie drangen auf seine Seele ein und vereinten sich zu der ernsten Anklage: Du hast denen droben auf dem Weißen Schlosse schon seit Jahren schweres Unrecht getan. Max wußte nicht, wie ihm geschah. War es möglich, daß er in Zweifelsqualen darüber geraten konnte, ob seine Abneigung, sein feindseliges Gefühl gegen die Verwandten berechtigt sei? Während des ganzen Tags war der Freihofer wie ein Träumer umhergegangen. Nach dem Mittagessen hatte er sich hinter die Wirtschaftsbücher gesetzt, aber die Arbeit wollte nicht vorwärts gehen. Der Kopf war ihm zu voll. Wenn er die schwarzen Zahlen betrachtete, schien es ihm, als wenn sie lebendig geworden wären, wunderliche Formen annähmen und durcheinander tanzten. Schrieb er sie nieder, so mußte er genau achtgeben, daß er nicht eine falsche Summe eintrug. Da wurde er mit einem Male ärgerlich, denn er hatte in dem neuen Hauptbuch dem Händler Kornteuer die dreihundert Taler, die dieser noch vom Herbst her für Getreide schuldete, ins Haben anstatt ins Soll geschrieben. Ärgerlich warf Max die Feder beiseite, klappte das Tintenfaß heftig zu und verließ das Zimmer. Seine Mutter, die am großen runden Tisch stand und von einem dicken Ballen Leinwand Stücke abschnitt, um daraus Hemden für die kranken Soldaten anzufertigen, hielt die Schere still und sah erstaunt dem Sohne nach. Was war es mit ihm? Es war ihrem scharfen Blicke nicht entgangen, daß er bereits seit einigen Tagen in sich gekehrt und zerstreut war. Abends, wen sie sich um die Lampe versammelt hatten, war er einsilbig gewesen. Anfangs hatte er oft und mit lebhaften Worten von seinen Kranken gesprochen, jetzt berichtete er nur noch kurz von ihnen. War er nicht mehr zufrieden? Was konnte es sein, das seinen Blick so versonnen machte? Aber die Freihoferin war nicht gewöhnt, über kleine Veränderungen im Wesen ihres Sohnes lange zu grübeln. Seine Seele lag von Kindheit an wie ein offenes Buch vor ihr, in dem sie Tag für Tag las, und sie wußte genau, was auf jedem Blatte geschrieben stand. Deshalb ließ sie schnell diese Gedanken fallen und wendete die Aufmerksamkeit wieder ihrer Arbeit zu. Max war unterdessen über den Hof gegangen und in die große Scheune getreten, wo die Knechte in zwei Runden Weizen ausdroschen. Eine kurze Weile hielt er sich dort auf, dann ging er wieder zurück und schlenderte durch die Ställe. So lief er lange Zeit durch alle Wirtschaftsräume, Arbeit suchend und keine findend. Wenn er eine kleine Unregelmäßigkeit entdeckte, ward er ärgerlich und schalt die Mägde. Im hintersten Stand hatte sich eine Kuh losgemacht und bog gerade zu einem Spaziergang in die Stallgasse ein, und wie er den Pferdestall betrat, fiel sein Blick auf die tragende Stute, deren Kette so lang gesteckt war, daß das Tier mit dem Maule bis zu dem hohen Streustroh herunter konnte und dieses fraß. Jeden andern Tag hätte er selbst Hand angelegt, um dem Mangel abzuhelfen. Heute rief er mit schallender Stimme nach dem Gesinde. Überall fand er zu verbessern und zu tadeln. Alles sah er, nicht die kleinste Unregelmäßigkeit entging seinem Auge. Und doch waren seine Gedanken nicht bei ihm, immer standen vor seinem Geiste die umflorten Augen eines schönen Mädchens. * * * * * Der kurze Januartag neigte sich seinem Ende zu. Max stand in der Stube an einem der Fenster, die nach der Straße lagen und blickte hinaus auf die beschneite Landschaft. Überall, wohin das Auge reichte, nichts als Schnee. Auf der Dorfstraße war eben der mit sechs kräftigen Gäulen bespannte Schneepflug vorübergegangen und hatte eine breite Bahn hinterlassen. Hüben und drüben türmte sich der Schnee hoch auf, der auch heute bis zum Nachmittag wieder unaufhörlich gefallen war. Jetzt hatte sich ein scharfer Wind erhoben, die oberste feine Schicht des Neuschnees vor sich hertreibend. Es war bitterkalt draußen, und der Himmel hing voll grauer Wolken. Die schwarzen Äste der breiten Buchen waren mit der weißen Masse dicht bedeckt, und jede der Zaunlatten trug ein hohes Häubchen davon. Max beobachtete, wie sich ein einsamer Spatz dicht vor dem Fenster auf den Zaun niederließ. Das Tierchen guckte sich mit flinkem Drehen des Köpfchens nach allen Seiten ein paarmal um wie aber keiner von seinen, augenscheinlich schon zur Ruhe gegangenen Spießgesellen erschien, piepste es mit leiser Stimme einmal auf und flog dann davon. Ein winziges Häufchen Schnee fiel dabei vom Pfahl herunter. Weit und breit war nichts Lebendes zu sehen. Die Natur verharrte in tiefem Schweigen. Max sah nichts mehr von dem weißen Bilde. Er hatte den Kopf an die Scheiben gelegt und kühlte seine brennende Stirn. Warum, so fragte er sich heute wohl zum hundertsten Male, läßt man die Lebenden entgelten, was die Toten versündigt haben. Dann stürmten wieder bittere Vorwürfe auf ihn ein, und in seiner Seele stieg von neuem ein müdes Frauenantlitz herauf, das seine von langen Wimpern beschatteten Augen stumm auf ihn richtete. Da wurde der Träumende plötzlich abgelenkt. Vom Freihof ein Stück die Straße hinauf, drüben hinter dem schwarzen Dorfteich, stand ein kleines Häuschen, aus dessen Schornstein sich eine dünne Säule blauen Rauches wand. Dort wohnte eine arme, junge Frau, die kurz vor Weihnachten den Mann verloren hatte, mit ihren vier Kindern, von denen die ältesten zwei schwer am Keuchhusten litten. Aus diesem Hause trat soeben eine weibliche Gestalt heraus und lief mit eilenden Schritten durch den Schnee herüber nach der Straße. Der Wind spielte mit den Zipfeln des wollenen Tuches, das sie um Brust und Kopf geschlungen hatte und versuchte, es ihr zu entreißen. Aber sie bemerkte seine Anstrengungen und wickelte sich fester in das Tuch. Max bemühte sich, die Näherkommende in der sich niedersenkenden Dämmerung zu erkennen und trat von neuem dicht an das Fenster. Aber ihr Kopf war sorgsam eingehüllt, und das Tuch ließ das Gesicht nicht frei. Jetzt war sie am Fenster angekommen und wollte gerade vorübereilen, da riß ihr ein heftiger Windstoß das Tuch von der Stirn. Hastig griff sie danach, um das Gesicht wieder zu bedecken, -- aber es war zu spät. Max war mit einem schnellen Schritt vom Fenster verschwunden und zur Seite getreten. Aber er konnte die Augen nicht von der Gestalt losreißen, durch die Gardine hindurch schaute er dem rasch davon eilenden Weibe nach. Der kurze Augenblick, in dem ihr Gesicht unbedeckt gewesen war, hatte genügt, sie zu erkennen: es war Maria von Tiefenbach. Diese überraschende Entdeckung ließ die während des ganzen Tages in seiner Seele im Schlummer gelegene Erregung mit einem Schlage hoch auflodern. Das Mädchen, das seinen Geist in den letzten Wochen und besonders seit ihrer Begegnung am Morgen des heutigen Tages unaufhörlich beschäftigt hatte, befand sich jetzt plötzlich vor ihm, um freilich flüchtigen Fußes seinen Blicken alsbald wieder zu entschwinden. Da wurde dem jungen Mann seltsam zumute, und wie im März unter dem linden Hauche der Frühlingswinde die Eisdecke auf den Bächen schmilzt, so brach in diesem Augenblick sein ohnehin schwacher Widerstand jäh zusammen, und in seiner Seele stieg das heiße Verlangen herauf, dem Mädchen nachzueilen und es zu zwingen, vor ihm stehen zu bleiben. War es Freude, sie, deren Bild ihn nie verließ, so überraschend vor sich zu sehen, oder war es Angst um ihre Gesundheit, die auf dem Spiele stand, wenn das Mädchen, nachdem sie wahrscheinlich ein paar Stunden bei den Kindern der Tagelöhnerin geweilt hatte, ins Schulhaus hinuntereilte, um wieder eine Nacht bei ihren Kranken zu durchwachen? Max stand von neuem am Fenster und sah mit klopfendem Herzen dem Mädchen nach. Die Wange an das Holz des Rahmens gepreßt, bohrte er die Augen in die zunehmende Dämmerung hinein, um die Umrisse der Verschwindenden noch zu erkennen. Da machte er eine unwillkürliche Bewegung und stieß mit dem Arm an einen Menschen. Mit einem Ruck wandte er sich um, -- und sah sich seiner Mutter gegenüber. Hoch aufgerichtet, in steifer Haltung, die Züge wie in Stein gemeißelt, verharrte die Freihoferin. In tiefem Schweigen standen sich Mutter und Sohn gegenüber, jedes die Augen fest auf die des anderen gerichtet. Keines rührte sich, kein Wort klang, kein Versuch, auch nur die Lippen zu bewegen. Ein lähmendes Stillschweigen, das jetzt nach den Augenblicken hoher Erregung Max das Blut in den Adern fast stocken machte. Lange konnte der Sohn den Blick seiner Mutter aber nicht ertragen, und er senkte die Augen zu Boden. Die Aufwallung, die sich vor wenigen Sekunden seiner bemächtigt hatte, verflüchtete langsam. Es war ihm, als wenn der Schwindel, der ihn gepackt hatte, nun wieder von ihm wich. Seine Pulse flogen nicht mehr wie vorhin, merkwürdig rasch kam unter dem Blicke des stummen Weibes ihm gegenüber seine kühle Überlegung zurück. Was hatte sich zugetragen? Er konnte sich auf diese Frage nicht so rasch die Erklärung geben. Das Fräulein vom Schloß war draußen vorübergegangen, das sich wahrscheinlich zu den kranken Soldaten begab, und wohin es auch gehörte, nachdem es doch einmal den Beruf der Pflegerin bei ihnen erwählt hatte. Und er war hart an das Fenster getreten, um ihre Gestalt mit den Blicken zu erfassen -- --? Mit leisem Kopfschütteln beantwortete er sich diese Frage, eine andere Antwort wußte er nicht. Was hatte ihn aus seiner Ruhe so jäh aufgejagt? Ihn, Max von Tiefenbach, den jungen Freihofbauern, der von seiner Mutter so viel kühlen Verstand geerbt hatte, und den man so oft um sein inneres Gleichgewicht beneidete? Max suchte vergeblich nach einer Antwort hierauf. Sollte er nahe daran gewesen sein, durch zwei blaue Mädchenaugen zum törichten Jungen zu werden, der stundenlang schmachtend um das Haus seiner Herzenskönigin schleicht, um einen Blick von ihr zu erhaschen? Er riß den Gedanken unwillig ab, um ihn nicht weiter verfolgen zu können. Da merkte er, daß ihm die Röte in die Schläfen stieg, und das versetzte ihn in Zorn. Er machte eine heftige Bewegung zum Halse, der wie zugeschnürt war. Mit Anstrengung gelang es ihm, sich zu räuspern, aber den Blick vom Boden zu erheben vermochte er nicht. Warum hatten auch die hoffärtigen Leute droben seine Großeltern einstens tödlich beleidigt! Solch eine Schmach darf nie vergessen werden, und wer lebte, mußte entweder die Schuld der Eltern bezahlen oder die Schmach vergelten. Ja! Die Mutter war im Recht, wenn sie ihnen mit Feindschaft begegnete. Unversöhnlicher Haß mußte jederzeit im Herzen lodern, in allen Winkeln der Räume seines Besitztumes lauern, von den Dachbalken herabblinzeln, über den Firsten der Gebäude schweben, und durch alle Arbeit und alles Leben auf dem Freihofe mußte sein Klang zittern. Das hatte schon sein Großvater mit seiner Verwünschung besiegelt. Jetzt konnte Max den Blick wieder erheben und seine Mutter ansehen. Diese stand noch immer stumm vor ihm, die stahlgrauen Augen mit hartem Ausdruck auf den Sohn gerichtet. Da überlief die Greisin ein heftiges Zittern; umsonst versuchte sie ein paarmal, zu sprechen, bis sie endlich mit gepreßter Stimme, rauh hervorstieß: »Ich habe es ihm in der Sterbestunde geloben müssen, Max!« Nach diesen Worten wandte sie sich ab, raffte Brille und Gebetbuch vom Tische auf und verließ das Zimmer. Eine kurze Weile blieb Max auf seinem Platze stehen und sah nach der Tür, durch die die Freihoferin verschwunden war. Dann machte er eine kraftvolle Bewegung, gleichsam, als ob er eine drückende Fessel sprengen müsse und ging dröhnend im Zimmer auf und ab. 6. Kapitel. Die Bewohner Rehefelds waren eine fromme Gemeinde, die von ihrem geistlichen Herrn wohl behütet wurde. Pastor Reinerz war auf dem Dorfe alt geworden, und fast alle Einwohner, bis auf die Hinzugezogenen, hatte er dereinst aus der Taufe gehoben und ihnen bei der Konfirmation das heilige Abendmahl gereicht. Manchen Eltern hatte er ihr Liebstes mit in die Grube senken helfen, manch einem jungen Weibe durch seinen tröstlichen Zuspruch den herben Verlust des teuern Gatten erleichtert und, ach, im Laufe der vielen Jahre so vielen jungen Burschen und Mädchen die unvergänglichen Begriffe von Tugend und Sitte, Glauben und Ehrenhaftigkeit unausreißbar in die Seele gepflanzt. Er kannte alle wie sie im Dorf herumliefen bis ins Innerste ihres Herzens hinein. Und wenn sie auch heranwuchsen, seinem Einfluß entgingen sie doch nie. Wollte er einmal an einem von ihnen irre werden, so kehrte er im Vorübergehen bei ihm ein, senkte seine forschenden Augen unter den buschigen Brauen in die seines Gemeindekindes und wußte wieder, wie es um dieses stand. Wenn ab und zu einmal ein Schäflein vom rechten Wege abgekommen war und sich verirrt hatte in den anfangs so bequemen Schlingpfaden des Bösen, -- er führte es wieder zurück und kettete es von neuem an sich. Wie war es doch damals mit Andreas und dem Anger-Liesel gewesen? Das Liesel war ein blutjunges, tugendsames Weib, war die Frau des schönen Andreas und trällerte vom Morgen bis zum Abend wie eine Lerche umher und saß jauchzend am Lager eines lieblichen Töchterchens. Sie waren arme, aber sehr brave Menschen und arbeiteten fleißig. Da überfiel den Andreas mit einem Male ein böser Geist, und er wurde erst arbeitsscheu, dann leichtsinnig. Er ging oft in die Schenke, saß stundenlang darin und vertrank und verspielte all seinen Lohn. In die Kirche kam er nie mehr, und dem Pastor wußte er immer geschickt aus dem Wege zu gehen. Da tauchte das Gerücht auf, daß der Andreas es mit der rothaarigen Magd vom Obergut halte. Die halben Nächte blieb er von Hause fort, und wenn er dann endlich mürrisch heimkehrte, hatte er für das am Bettchen ihres Kindes weinende Liesel nur Scheltworte. An das Kind wendete er nicht einen Blick. Das junge Weib ließ aber in seiner treuen Liebe zu dem Manne nicht nach und arbeitete mit doppelten Kräften, um den Verlust, den sein Nichtstun mit sich brachte, so gut es ihr gelingen wollte wieder auszugleichen. Mit rührender Sorgfalt bemühte sie sich, über seine Lieblosigkeit zu ihr hinwegzusehen. Weit öfter als sonst richtete sie es behaglich für ihn ein, wie sie von früher her wußte, daß er’s gern mochte. Immer wieder bereitete sie ihm seine Lieblingsspeisen, derweilen sie sich Salz aufs Brot tat, um Geld für sein Mahl zu haben. Aber alles das half nichts. Ihr Mann wurde immer liebloser zu ihr. An einem schönen Frühlingstage, es war am Ostersonnabend, trat Andreas vor seine Frau hin und verlangte von ihr alles Geld, das sie besitze, um damit in die weite Welt zu gehen. Das junge Weib aber wurde bleich wie der Tod. Dann warf sie sich vor ihm nieder und beschwor ihn und flehte ihn an, wieder ihr guter Andreas zu sein. Mit krampfhaften Armen umklammerte sie seine Knie und sah mit einem Blick so voll Liebe und tödlicher Angst zu ihm auf, der jeden andern zur Umkehr gebracht haben würde. Dem Andreas aber drang das herzbrechende Schluchzen und das tiefe Weh seines Weibes nicht zum Herzen. Mit einer rohen Bewegung riß er sich von der Knieenden los, daß das junge Weib in schwerem Fall dumpf auf den Boden schlug. Dann ergriff er rasch das Beutelchen, in dem er ihre kleinen Ersparnisse wußte und eilte aus dem Hause. Wie er aber auf die Straße hinaustrat, erschrak er doch etwas, denn vor ihm stand Pastor Reinerz. Mit einem scheuen Gruße wollte er an dem Greise vorübergehen; der aber hielt ihn auf. »Ah, sieh da, der Andreas,« sagte der alte Herr freundlich. »Nun, das trifft sich ja sehr gut. Ich war gerade im Begriff, Dich und das Liesel einmal zu besuchen. Aber da fällt mir ja ein: heute ist doch Reinmachetag. Da wollen wir das Liesel nicht bei ihrem Geschäft stören. Du gehst aber auf ein Stündchen mit zu mir. Wenn sich so alte Freunde, wie wir beide es sind, so lange nicht gesehen haben, haben sie sich mancherlei zu erzählen.« Andreas wollte trotzig vorbei, doch ein Blick aus des Alten Augen zwang ihn an seine Seite. Ruhig, aber ohne hinzusehen, ließ er es geschehen, daß Reinerz ihm im Weiterschreiten all die Namen der Blumen und Gräser nannte, die in einem großen Strauße vereinigt waren, den er auf den Frühlingswiesen gepflückt hatte. Der schwere Sturz hatte das Liesel auf ein paar Sekunden ihrer Besinnung beraubt. Als sie wieder aus der Ohnmacht erwachte, schaute sie verstört um sich: ihr Mann war verschwunden. In namenloser Angst stürzte sie zum Fenster, um zu sehen, ob sie ihn entdecke. Da bemerkte sie zu ihrer großen Überraschung, daß er an der Seite des Pastors ging und mit diesem eben in das Pfarrhaus eintrat. Von wahnsinniger Angst getrieben, warf sie ein Tuch um die Schultern, streifte die Schuhe an und eilte, so schnell sie ihre Füße trugen, zum Pfarrhause. Und wie sie den Hausflur betrat, hörte sie drinnen im Zimmer den geistlichen Herrn in seiner gütigen Art auf ihren Mann einreden, der dabei ganz still blieb. Mit einem Male vernahm sie, wie der Andreas aufbrauste. Das Redenhören hätte er nun satt. Er gebe überhaupt auf die ganze Kirche nichts, und wo die Liebe zu seiner Frau hin sei, wisse er nicht; sie wäre verweht in alle Winde -- -- -- Da griff sich das junge Weib draußen im Hausflur mit beiden Händen jäh zum Herzen, und das rotglühende Gesicht in dem lauschend vorgebeugten Kopfe wurde in einem Augenblick fahl. Die Lippen wie im Traume bewegend, wandte sie sich nach der Tür und verließ mit leisen Schritten die Pfarre. Wie ein Gespenst schritt sie an den ihr entgegenkommenden, verwunderten Leuten vorüber, ihrem Häuschen zu. In der Stube angekommen, setzte sie sich müde auf die Bank am Ofen, die Füße, (übereinandergeschlagen) von denen die Lederschuhe herabglitten und auf die Diele fielen, und richtete den Blick dumpf vor sich nieder. Das in seinem Bettchen ruhig schlafende Kind sah sie nicht. So blieb sie unbeweglich. Von Zeit zu Zeit murmelte sie: »Er liebt dich nicht mehr. Alles ist nun aus! Andreas, -- dein Andreas liebt dich nicht mehr!« Wie lange sie so saß, wußte sie nicht; nur das eine wußte sie, daß der helle Glanz in ihrem Innern in dieser Stunde auf immer erloschen war. Sie wollte schreien, aber die Kehle war ihr zugeschnürt. Weinen wollte sie, aber ihre Augen blieben trocken. Sie hatte keine Tränen. Da hört sie mit einem Male schleichende Tritte im Hause, die Tür tut sich auf, -- ihr Mann steht auf der Schwelle. Das Liesel schaut voll Entsetzen hin, weil sie glaubt, sein Geist komme zu ihr. Dann tut sie einen heftigen Schrei: »Andreas -- -- --!« und bleibt wie gelähmt sitzen. Der Mann aber auf der Schwelle, wie er das totenblasse Weib erblickt hat, ist wie eingewurzelt. Er kann nicht loskommen von diesem Platze. Da endlich lösen sich die Füße vom Boden. Mit weit vorgeneigtem Körper und erhobenen Armen kommt er, tief gebückt, näher, die Augen mit einem Ausdruck unaussprechlicher Reue starr auf das Liesel gerichtet. Die aber streckt die Hände nach ihm aus, um ihn zu erfassen; -- da sinkt er vor seinem Weibe auf den Boden nieder und umfaßt ihre bloßen Füße, spricht aber kein Wort, sondern sie fühlt nur, wie er wieder und wieder seine heißen Lippen darauf drückt. »Um Gottes willen, Andreas, was tust Du da,« schreit das Liesel auf und will den Mann emporziehen. Der aber läßt sich nicht aufrichten, sondern verharrt in seiner Haltung, vor ihr liegend. Und zwischen seinen aufeinandergebissenen Zähnen drängt es sich hervor: »Nein, Liesel, wenn Du vorhin meine Knie umklammert hieltest, so bin ich nicht einmal wert, Dir jetzt die Füße zu küssen!« Dann saßen sie eng zusammengeschmiegt, Wange an Wange, lange beieinander, wie in den Tagen ihres höchsten Glücks. Vom Kirchlein schallte das Abendläuten herein, und ihre Tränen flossen jetzt reichlich. Seit diesem Tage schmückt das Liesel an jedem Ostersonnabend die Tür zur Stube des Pfarrherrn mit Blumen. 7. Kapitel. Die Kirche von Rehefeld war ein aus Sandsteinen errichteter, ziemlich großer Bau, durch dessen hohe, in spitze Bogen auslaufende Fenster das Licht ungehinderten Zutritt in das Innere fand. Hatte man die Schwelle einer der beiden Türen in der vordern und hintern Giebelwand überschritten, so führte, noch ehe man in das Innere der Kirche gelangte, auf der nördlichen Längsseite ein schmaler Gang um das Kirchenschiff herum bis zur andern Eingangstür. Von diesem Gang aus betraten die Tiefenbachs die für jede Familie getrennt eingerichtete Andachtsstube. In früherer Zeit war hier nur _ein_ Raum gewesen. Als aber der Freihof gebaut wurde, war das große Zimmer durch eine Wand in zwei Räume geteilt worden, und Herr Udo von Tiefenbach ließ später, nachdem seine Brüder ins Dorf hinabgezogen waren, den Gang durch eine Tür teilen, die zwischen den Eingängen der Andachtsstuben angebracht war, und die gleichsam eine sichtbare Scheidewand zwischen den Familien darstellte und verhinderte, daß die Schloßbewohner, die den Gang nur von der hintern Kirchentür aus betraten und die Freihofer, die durch die Vordertür gingen, sich sahen. In der Mitte des Dachfirstes ritt ein hoher, spitzer Turm, in dem die Glocke hing. Das schwärzliche Ziegeldach war fast ganz mit Moos überwuchert und bezeugte das hohe Alter des Gotteshauses. Rund um die Kirche dehnte sich der Friedhof aus. Kleine, niedrige Hügel deckten die irdischen Reste der teuern Entschlafenen. Die meisten Gräber wurden durch schlichte, zum Teil schon verwitterte Holzkreuze geschmückt, auf denen die Namen der Verstorbenen kurz vermerkt standen. Hier und da gab es auch Gräber, die sorgfältiger hergerichtet und mit steinernen Liebeszeichen versehen waren. Die Rehefelder versäumten nicht gern die sonntägliche Andacht. Auch an dem heutigen Sonntag war das Kirchlein wieder dicht angefüllt mit der Schar der Andächtigen. Draußen war es noch immer kalt, und am Himmel hingen dicke, graue Ballen, zwischen denen die Sonne zeitweilig auf kurze Minuten hindurchschien. Dann fielen die goldenen Strahlen auf das weite Schneefeld, daß die Krystalle wie Millionen ausgestreuter Diamanten glitzerten. Als Max und Elisabeth in der Kirche angekommen waren und den Gang betreten hatten, war Maria von Tiefenbach gerade in ihr Betstübchen eingetreten. Das Hauptlied war verklungen, als Pastor Reinerz auf der Kanzel erschien. Man konnte sich keine würdigere Erscheinung eines Seelenhirten denken, als ihn. Er hatte einen schweren Körper und breite Schultern, auf denen ein wahres Löwenhaupt saß. Der massige Kopf war mit einer üppigen Fülle silberner Locken bedeckt, die bis auf die Schultern herabhingen und bei raschen Bewegungen um den Kopf wallten. Von gleicher Farbe war der breite, prächtige Bart, der bis weit über die schneeigen Bäffchen hinabreichte, so daß sie nur dann sichtbar wurden, wenn Reinerz das Haupt zur Seite wandte. Seine Haltung war trotz des Alters aufrecht, sein Gang schwer. Die väterlich blickenden, lebendigen Augen leuchteten in hellem Glanze und mochten die Ursache sein, daß auf diesem Greisenantlitz neben dem Ausdruck von Milde und Herzensgüte jederzeit ein Schimmer jugendlichen Feuers strahlte. Pastor Reinerz knüpfte seine heutige Predigt an das Los jener Unglücklichen im Schulhause. Er hatte das Gleichnis vom barmherzigen Samariter gewählt, und mit Tönen, die den Zuhörern zum innersten Herzen drangen, sang er das ewige Hohelied der Liebe. Von der liebenden Mutter, dem unermüdlich treusorgenden Vater, seien die Armen einst durch alle Fährnisse der Kindheit geleitet worden. Neben den fröhlichen Tagen hätten die Eltern auch viele bange Stunden durchlebt, und manche Mutter habe in schweren Zeiten der Krankheit dem schon die Hand darnach ausstreckenden Unerbittlichen ihr Kind durch entsagungsvolle Pflege wieder abgerungen und ihm damit gleichsam zum zweitenmale das Leben geschenkt. Mit reicher Freude im Herzen hätten die Eltern die zarten Knaben zu Jünglingen heranwachsen sehen, bis dann mit einem Schlage die Freude jäh zu Leide ward, als der Kriegsruf erklang und den Sohn seinen Eltern, den Gatten seinem Weibe, den Vater seinen Kindern entriß und die Zurückbleibenden mit großer Sorge erfüllte. Nun säßen die Verlassenen daheim, manche von ihnen gewiß ohne tröstenden Zuspruch, einsam mit ihrem Schmerze. Sie wüßten nicht, ob der Teure noch am Leben wäre, oder ob sein von den Kriegsleiden geschwächter Körper nicht vielleicht mit schwerer Krankheit ringe. Unter heißen Tränen des Dankes würden sie die Hand küssen, die seiner in Liebe gepflegt, oder die ihm das brechende Auge zudrückte. Und die wahre Nächstenliebe frage nicht, ob Freund ob Feind. Sie alle seien leidende, unglückliche Menschen und bedürften in reichstem Maße der Hilfe. Seine Gemeinde solle nie müde werden, mit dem Unglücklichen ihr Brot zu teilen. Und wenn eines von ihnen argwöhne, daß es schwach und lau werde bei seinem Samariterwerk, so sollten sich die Väter, die Mütter und Gattinnen in das Los derer hineinversetzen, die von peinvoller Angst erfaßt mit dem aufsteigenden Morgen voll Sehnsucht auf ein Lebenszeichen warteten, und die am Abend immer wieder ihre Hoffnung getäuscht sähen. Pastor Reinerz hatte eine der empfindlichsten Stellen im Menschenherzen berührt: die Sorge und Angst um das Leben eines teuern Angehörigen. Das Mitgefühl der Zuhörer war geweckt, und in Vieler Augen hatten sich Tränen gestohlen. Mit den letzten Worten, mit denen der würdige Greis seine Predigt beendigte, richtete er noch den zündenden Ruf an seine Gemeinde, die christliche Liebe, die der mächtige Beweggrund dafür sei, den leidenden Fremdlingen Gutes zu tun, auch täglich untereinander zu üben. Und er legte ihnen ans Herz, vorhandenen Zwist zu begraben, sich auszusöhnen und einander in verzeihender Liebe zu begegnen. Dann genössen die Menschen schon hienieden das Vorgefühl der ihrer harrenden ewigen Freuden und erwiesen sich als getreue Nachfolger Christi und wert der einstigen Einkehr in sein himmlisches Reich. -- Das Schlußlied war verklungen, und die Besucher verließen das Gotteshaus. Als Max zusammen mit Elisabeth aus der Andachtsstube hinaustrat, fiel sein Blick auf die weit geöffnete Tür, die den Gang teilte, und die er noch nie anders als geschlossen gesehen hatte. Aber seine Überraschung wuchs, denn vor ihm stand Maria von Tiefenbach, die sie beide erwartet haben mußte. Ängstlich griff Elisabeth nach der Hand des Bruders, als ob sie ihn auf dieser Stelle festhalten wolle, während sie erstaunt auf ihre Freundin schaute. Max hatte einen Augenblick betroffen stillgestanden, jetzt aber machte er eine hastige Bewegung zum Gehen. Da vertrat ihm Maria gelassen den Weg, so daß sich beide dicht gegenüberstanden. Eine Sekunde tiefen Schweigens verstrich, dann begann Maria ohne Verwirrung und mit Festigkeit: »Unter dem tiefen Eindruck stehend, den die unmittelbar zum Herzen gehenden Worte unseres verehrten Herrn Pastors auf mich hervorgerufen haben, kann ich nicht anders, als annehmen, daß die Predigt auch auf Sie, Herr von Tiefenbach, eine große Wirkung ausgeübt hat. Noch nie in meinem Leben haben mich von der Kanzel herabgesprochene Worte so wundersam ergriffen, wie heute, Worte, die in meinem Innern das sehnliche Verlangen wachgerufen haben, meinen Teil dazu beitragen, daß der Wille dessen, der die Sünden der Welt trug, erfüllt werde. Deshalb will ich den Augenblick nutzen, bevor mit der hohen Stimmung auch mein Mut dahinschwindet. Ich bin ein schwaches Mädchen, das plötzlich die wunderbare Kraft in sich spürt, sich Ihnen hier gegenüber zu stellen. Aber Sie haben mir vor wenigen Tagen durch Ihren freundlichen Trostzuspruch verraten, daß Sie ein edles Herz besitzen. Dieses Bewußtsein und eine Stimme in meinem Innern, die mir so zu handeln gebietet, stärken meinen Mut. Etwas Unnatürliches ist es, daß Menschen in Feindschaft leben, die einander nie etwas zu Leide taten. Und deshalb frage ich Sie, Herr Vetter, sind Sie bereit, Ihre Bemühungen mit den meinigen zu vereinen, um unsere Eltern miteinander auszusöhnen?« Die dem Mädchen innewohnende, ruhige Sicherheit hatte sie während dieser Rede nicht verlassen, und ihre Stimme hatte nicht einen Augenblick gebebt. Jetzt schwieg sie und wartete auf Maxens Antwort, ihre Augen forschend auf seinem Gesichte ruhen lassend. Der junge Mann stand vor Überraschung unbeweglich und starrte sprachlos in das schöne Frauenantlitz, in dem kein sichtbares Merkmal die in Marias Innern langsam aufsteigende, große Erregung andeutete. Da erhob sie ihre Stimme von neuem, die gerade noch so wohl lautete wie vorhin, obwohl sie jetzt leise zitterte: »Von einem unserer Familie wurde damals das böse Wort gesprochen, deshalb muß auch von uns aus das erste versöhnliche Wort fallen. Mein Großvater hat dereinst in unbegreiflicher Verblendung die Seelen guter Menschen tief betrübt und erzürnt. Er kann uns hierüber keine Rechenschaft mehr ablegen, denn er steht schon längst vor einem höhern Richter. Kein Unrecht, das begangen wird, ist jedoch so groß, daß es nicht wieder gutgemacht werden könnte. Aber dem bittenden Munde darf auch das Wort, der heischenden Hand der Druck nicht versagt werden. Das Werk, das wir verrichten können, führt zu Herrlichem hinaus, denn es gilt, die Kluft zwischen den Herzen unserer Eltern zu überbrücken. Um das zu erreichen tut es aber not, daß zuerst wir beide allen Groll vergessen. Und so tue ich, als die Enkelin jenes Mannes, mit Freuden den ersten Schritt zur Versöhnung, indem ich Sie, Herr Vetter, bitte, das Unrecht meines Großvaters seiner Enkelin nicht mehr zu entgelten, sondern mir fürs Leben Ihre Freundschaft zu schenken.« Marias Stimme hatte sich mehr und mehr gesteigert. Eine liebliche Röte war in ihre Wangen getreten, und die Augen glänzten gleichsam als Widerschein der sie erfüllenden, feierlichen Stimmung. Und um die Freundschaft im Augenblick der Versöhnung zu besiegeln, streckte sie dem Vetter ihre Hand entgegen. Der aber rührte sich nicht, um die dargebotene Hand zu ergreifen. Er suchte nach Worten, mit denen er dem Mädchen sagen wollte, daß von einer Versöhnung zwischen ihnen niemals die Rede sein könne, aber sein Mund blieb stumm. Endlich, nach atemlosem Harren während einer tiefbangen Sekunde, erlosch der Glanz in Marias Augen, und die rosigen Wangen wurden blaß. Langsam, wie einst die Rechte des Herrn Oskar, als er seinem Bruder Udo zum letzten Male gegenüberstand, sank die ausgestreckte Hand herab. Jetzt drängten sich auch die Worte im Überschwall auf Maxens Zunge; aber noch bevor es ihm gelang, sie auszusprechen, geschah etwas Unerwartetes: Maria richtete sich hoch auf. Mit einem Ruck warf sie den Kopf in den Nacken und trat ungestüm auf Max zu, daß dieser unwillkürlich soweit zurückwich, bis seine Schultern die Mauer berührten. Ihr flammendes Gesicht befand sich dicht vor ihm, und ihre blitzenden Augen bohrten sich in die seinigen. In hoher Erregung stieß sie die Worte hervor: »So soll für alle Zeiten Feindschaft zwischen uns bestehen? Soll das herrliche Evangelium der Liebe, das Christus den Menschen hinterlassen hat, für uns nicht gepredigt sein?« Aber Maxens Mund blieb dem vor Leidenschaft bebenden Mädchen gegenüber stumm, nur auf seinem Gesicht lag eine Zurückweisung. Da trat Maria noch näher an ihn heran, ihr Busen hob und senkte sich in hastiger Aufeinanderfolge. Max sah auf ihrem Gesicht den heftigen Kampf, der in ihr tobte. Die feingeschnittenen Nasenflügel zitterten vor Zorn, und er fühlte ihren heißen Atem auf seiner Wange. Scheu schob er sich einen Schritt an der Mauer hin, um sich zu entfernen. Da schrie das Mädchen im Schmerz laut auf, und während es noch schien, als wenn sie die Worte auf den Lippen zurückhalten könne, brach es schon von dem bebenden Munde: »Und wenn ich nun mit der ganzen Kraft meiner Seele -- -- Dich liebte, Max!?« Einen Augenblick lang lehnte der junge Mann den Kopf an die Mauer und schloß, von heftigem Schwindel erfaßt, die Augen. Dann hob er die Lider ließ einen Blick eisiger Kälte auf das Mädchen niederfallen und sagte in rauhem Tone: »Unsere Familien haben für alle Zeiten nie wieder etwas mit einander gemein!« Darauf wandte er sich trotzig ab und schritt dem Ausgang zu, seine verstört blickende Schwester an der Hand mit sich ziehend. Die Zurückbleibende verfolgte die Geschwister mit den Augen, bis sie verschwunden waren. Langsam, und ohne daß sie wußte was sie tat, trat Maria wieder in ihr Betstübchen. Eine Weile blieb sie mit steifem Körper mitten darin stehen, dann brachen der Zitternden die Knie. Sie bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und legte es auf den Sitz eines der schwarzen Stühle. Und während das wilde Schluchzen hervorbrach, das ihr die Brust zu zersprengen drohte, schlangen sich zwei weiche Arme um ihren Hals, und die beiden Mädchen weinten lange zusammen. 8. Kapitel. Wenige Tage später wurden die Tiefenbachs durch einen Brief Friesens überrascht, in dem er schrieb, daß er, wenn auch ein wenig mitgenommen, so doch ohne Schaden an Seele und Körper aus Rußland zurückgekehrt sei. Gleichzeitig kündete er seinen Besuch an, und bald darauf traf er auch in Rehefeld ein und wurde auf dem Freihofe wie ein alter, lieber Freund begrüßt. Trotzdem er an allen größeren Schlachten, in denen die Sachsen gekämpft, teilgenommen hatte, war er unverwundet geblieben. Aber der entsetzlichen Kälte hatte er, wie so viele tausend Andere, doch seinen Tribut zollen müssen: beide Füße waren ihm erfroren. Deshalb konnte er nur mit Mühe kleine Fußwanderungen unternehmen. Was er von den überstandenen Leiden der Armee erzählte, war so fürchterlich, daß man glauben konnte, eine überhitzte Phantasie trage das Entsetzlichste von Elend und Jammer zusammen. Die Soldaten hatten vor dem Sterben jegliche Bangigkeit verloren. Täglich hofften sie, daß ein baldiger Tod sie von ihren nicht endenwollenden Leiden erlösen würde, und wenn die Unglücklichen am Abend vor Hunger und Mattigkeit zusammenbrachen, trösteten sie einander, daß der morgende Tag die ersehnte Erlösung bringen müsse. Eine große Anzahl suchte das Ende freiwillig und fand es nur zu leicht. Die noch in Reih und Glied sich Haltenden liefen willenlos vorwärts. Wer vor Müdigkeit oder Schwäche zusammensank, blieb liegen; keiner kümmerte sich um den andern. Zu beiden Seiten der Straße lagen die Zurückbleibenden. Mit dem Rücken an einen dicken Baumstamm gelehnt, saß auf einem Stein ein eisgrauer französischer Oberst. Er hatte in gänzlicher Umnachtung seiner Sinne die dürftigen Reste seiner Uniform abgelegt und saß nun in der schneidenden Kälte entkleidet und sang mit versagender Stimme religiöse Lieder. An einer andern Stelle lag, zur Seite eines gestürzten, von Zeit Zeit noch zuckenden Pferdes, ein toter preußischer Kürassier. Die Köpfe der beiden Kameraden waren eng aneindergeschmiegt. Ein Stück davon stand aufrecht an einem zerbrochenen Pulverkarren ein Trainsoldat, beide Arme auf den Munitionskasten gestützt und darauf den Kopf gelegt, als wenn er schliefe. Einige Soldaten traten hinzu, um das Holz für ihr Biwakfeuer zu holen. Da stieß einer von ihnen den Schlafenden an, daß dieser seinen Halt verlor und, ohne seine Stellung aufzugeben, mit den Armen unter dem Kopf der Länge nach hinschlug. Er war tot und so steif gefroren wie ein Pfahl. Um einen verbrannten Holzstoß, von dem nur noch die Aschereste übrig geblieben waren, lag und saß in wunderlichen Stellungen und in Gruppen vereinigt etwa ein Dutzend sächsischer Grenadiere. Mit dem verglommenen Wachtfeuer war auch ihr Lebensfunke erloschen. In der Asche eines andern Feuers lag ein Soldat, dessen beschmutzte und zerrissene Uniform, soweit sie noch vorhanden war, nicht mehr erkennen ließ, woher der Mann stammte. Er mußte sich am Abend vorher verzweiflungsvoll in die Flammen geworfen haben. Sein Kopf war schwarz wie Holzkohle und dort, wo ihn das Feuer erfaßt hatte, war das Fleisch bis auf die Knochen verbrannt. Wer aus dem Zuge der Marschierenden heraustrat, fand oft nicht mehr Willen und Kraft wieder vorwärts zu gehen. Wer sich auf den Grabenrand setzte, um nur wenige Minuten auszuruhen, wurde leicht von der unwiderstehlichen Müdigkeit überwältigt und verfiel in bleiernen Schlaf, aus dem er nicht wieder erwachte. Der Hunger war gräßlich. Zuerst wurden die gestürzten Pferde verzehrt, später tötete man die lebenden und aß sie auf. Ihr Blut wurde begierig aufgesogen, um den brennenden Durst zu stillen. Als es keine Pferde mehr gab, aß man die ekelerregendsten Dinge. Wasser war selten zu bekommen, deshalb verschluckte man Schnee, der den Durst nur noch steigerte. Der Kälte konnten sich die Unglücklichen kaum noch erwehren, da die Uniformen zu dünn waren und bald zerfetzten. Wer eine Decke, ein Tuch, selbst Frauenkleider bekommen konnte, schlang sie um die Blößen. Die Schuhe zerweichten in dem tiefen Schnee, durch den man täglich waten mußte. Dann wurden die mit brandigen Wunden bedeckten Füße mit Lumpen umhüllt und diese mit Stricken festgehalten. Während der Nacht steigerte sich die Kälte. Wer am Wachtfeuer lag, dem konnte es passieren, daß die Schuhe verbrannten, während ihm am anderen Morgen Ohren, Nase und Wangen erfroren waren. Gar mancher von denen, die sich am Abend niederlegten, stand nicht wieder auf. Auf den weiten Schneefeldern Rußlands lag die Blüte der Völker Europas im ewigen Schlaf! Lautlos deckte sie das flockige Leichentuch zu und begrub Freund und Feind unter sich. Viele tausend lebensfroher und kraftstrotzender Männer haben dort frühzeitig ihr Knie gebeugt vor der Majestät des Todes, und dem Zuge der Lebenden jagten Krankheit, Mutlosigkeit und Verzweiflung wie wilde Furien hinterdrein und peitschten die Unglücklichen so grausam, daß ihre Reihen immer lichter wurden. Friesen befand sich in großer Verstimmung gegen den Kaiser, dem er alle Schuld an dem fürchterlichen Elend zuschob. Er erzählte, wie sich in Dresden insgeheim unter den Offizieren eine Partei gebildet habe, die nichts anderes bezwecke, als den König vom Kaiser Napoleon loszureißen. Der Monarch solle, so wünschten diese Patrioten, die Fesseln brechen, die ihn an den Kaiser ketteten. Sie wollten ihm freie Wahl schaffen, ob er weiterhin dem Kaiser seine Unterstützung gewähren, oder ob er seine Truppen von den Franzosen zurückziehen wolle. Den Bemühungen dieser Partei wurde aber wenig Beachtung geschenkt. Der König selbst war weit davon entfernt, in dem Gottesgericht in Rußland eine Mahnung zu erkennen und sein Verhalten gegen den Kaiser ernstlich zu prüfen. Er war in großer Sorge, daß sein Schmerzenskind, das Herzogtum Warschau, in der hereinbrechenden Verwirrung ihm verloren gehen könne. Deshalb erließ er in Polen Aufrufe, die sich aber bald als nutzlos erwiesen, und die in dem Minister Senfft den nicht zur Ausführung gekommenen Gedanken reifen ließen, England für die Aufrechterhaltung des Herzogtums zu interessieren. Die Erkenntnis aber, daß König und Regierung seit Jahren eine falsche Politik getrieben hatten, deren verhängnisvolle Folgen sich in nicht zu ferner Zeit erweisen würden, schlug in dem sächsischen Volke immer tiefer Wurzel. Hier und da erhoben Männer, die mit seherischem Blick in die Zukunft schauten, warnend ihre Stimmen und verlangten, daß der König die Kriegsmüdigkeit des Landes Napoleon auf das entschiedenste darstellen solle. * * * * * Niemand im Dorfe beobachtete die politischen Vorgänge mit so großer Aufmerksamkeit, wie Konrad Hartmann. Jede Nachricht, die er über den Kaiser und die Ereignisse in Dresden bekam, erregte sein Interesse, und um Neuigkeiten zu erfahren, ritt er zuweilen weit über Land in die Nachbardörfer oder fuhr im leichten Schlitten nach Leipzig hinein. Es war ja Winter, und deshalb bot der Hof nur wenig Arbeit. In der Scheune waltete der alte Knecht, und die Sorge um die Wartung des Viehs ließ sich die Mutter einmal nicht nehmen. Besonders begierig war Konrad Hartmann darauf, Nachrichten aus Berlin zu erhalten. Dort gährte es gewaltig, denn man ahnte, daß der Jahreswechsel einen Wendepunkt von ungeheurer Wichtigkeit für die Geschicke der geknechteten Völker bedeute. Seitdem der preußische General York am 30. Dezember in Tauroggen den Neutralitätsvertrag mit den Russen abgeschlossen hatte, waren viele unerschrockene Männer im verborgenen an der Arbeit, Stimmung für eine Erhebung Preußens zu machen. Da faßte Konrad den Gedanken, nach Dresden zu gehen, um sich der nationalen Bewegung anzuschließen, die, wie er wußte, auch schon dort Wurzel geschlagen hatte. Freilich war die Begeisterung an der Elbe nur wie ein mattbrennendes Talglicht, im Vergleich zu den kaum noch niederzuhaltenden Flammen in Preußens Hauptstadt. Dem Sachsen der damaligen Zeit wird nicht mit Unrecht der Vorwurf gemacht, daß trotz fortwährender Vorstellungen aus Berlin, die Erkenntnis des günstigen Zeitpunkts einer Erhebung und eines Zusammenschlusses der deutschen Stämme nur mit dem Geschwindigkeitsmaß der Schnecke in ihm reifte. Und als das sächsische Volk endlich und viel zu spät von der Einsicht durchdrungen war, daß es nunmehr an der Zeit sei, das unwürdige Joch abzuschütteln und sich von den Sklavenketten zu befreien, da fanden die Rufe, die es an seine Führer richtete, kein Gehör. König und Regierung überboten sich darin, dem Kaiser ihre Ergebenheit zu versichern und sich in der Ausführung seiner nur schlecht in Wünsche gekleideten Befehle zu überstürzen. Konrad hatte in den letzten Tagen über die Stimmung in Dresden genaue Nachrichten erhalten. Er wußte auch, daß die sächsische Polizei, verstärkt durch eine große Anzahl französischer Geheimagenten, scharf aufpaßte und schon manchen Patrioten hinter feste Mauern gebracht hatte. Die Unsicherheit in der Hauptstadt bewog ihn zuletzt, vorläufig noch abzuwarten, wie sich die nationalen Kreise in Dresden der Berliner Bewegung gegenüber verhalten würden. Zudem bewahrte Konrad ein tiefes Geheimnis in seiner Brust, das er noch keinem Menschen offenbart hatte, und das ihn so im Bann hielt, daß, je länger er es mit sich herumtrug, sein Geist von den politischen Vorgängen immer mehr und mehr abgelenkt wurde. Durch das öftere Verweilen auf dem Freihofe während seiner Kindheit, war er mit allen seinen Bewohnern und insbesondere mit Elisabeth in enge Berührung getreten. Die liebliche Zartheit des Mädchens hatten ihn, den sonst nur für bäuerische Derbheit und strotzende Gesundheit bis an die Grenze des Ungeschlachten empfindsamen Sohn des Bauern von Rabenstein, wundersamerweise in Fesseln geschlagen. Er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, wie es kam, daß dieses zierliche Geschöpf mit der ausgelassenen Lustigkeit und dem Lachen eines übermütigen Kindes einen solchen Eindruck auf ihn machte, da er doch von Natur aus einer ernsten Lebensauffassung zuneigte. Seit länger als einem Jahre schon war er aber davon überzeugt, daß das Gefühl, das er für Elisabeth empfand, nichts anderes war, als eine tiefe, sein ganzes Herz ausfüllende Liebe. Den Gedanken, sie zu seinem Weibe zu machen, hatte er, so oft er sich auch in seine Seele gestohlen, immer wieder zurückgedrängt. Eine Bäuerin, wie sie auf dem Rabensteiner Hof schalten mußte, besonders wenn seine Mutter nicht mehr war, konnte aus dem Mädchen nie werden; das wußte er. Allein diese Einsicht war es nicht, die ihn hinderte, Elisabeth als Weib neben sich zu träumen und auch nicht der Umstand, daß es für den Besitzer eines kleinen Hofes eine Vermessenheit war, auf dem größten Gute weit und breit anzuklopfen und um die einzige Tochter zu bitten. Das, was ihn bisher seine Liebe als aussichtslos hatte erscheinen lassen, waren vielmehr die quälenden Zweifel, ob das zarte Pflänzchen im Schatten des knorrigen Eichbaums auch gedeihen werde, ob das kindliche Mädchen mit dem lebhaften, silberhellen Lachen an der Seite des in sich gekehrten Mannes glücklich werden könne. An ihm solle es ja gewiß nicht fehlen! Er war bereit, die Steine von ihrem Erdenpfade aufzulesen, daß ihr zarter Fuß sich nicht verletze, und seine Arme waren stark genug, sein Weib zu umfangen und so hoch empor zu heben, daß der Strom des Mühsals unter ihr hinwegflösse und kein irdisches Weh bis zu ihr heraufreiche. Aber der allzeit ohne Überschwang denkende Mann verhehlte sich dabei nicht, daß ihre Naturen doch recht verschieden waren. Um seinem gequälten Herzen Ruhe zu verschaffen, beschloß Konrad, sich seiner Mutter zu entdecken. Eines Abends saßen wieder Mutter und Sohn wie immer einander gegenüber. Sie drehte unermüdlich den blonden Flachs über die schnurrende Spindel und betrachtete mit scharfem Auge den sich hurtig abwickelnden Faden. Konrad hatte den Kopf in beide Hände gestützt und las in einem Buche mit vergilbten Blättern in starkem Schweinsledereinband, wie sich in grauer Vorzeit die Bewohner Athens der gleich Heuschreckenschwärmen gegen sie heranziehenden Scharen der Perser erwehrten. Schon an die fünfzig Male hatte der Jüngling wohl diese Schilderung gelesen und wie oft geseufzt, wenn er daran dachte, was vor mehr als zweitausend Jahren ein kleines Volk vollbracht hatte. Heute war alle Begeisterung tot. In dumpfem Brüten schritten starke Völker ihre Straße dahin, die Füße mit klirrenden Ketten gefesselt und auf dem Rücken die Peitsche des Eroberers fühlend. Hier und da nur sah man, wie einem in dem großen Zuge das Auge rollte, vernahm man ingrimmige Verwünschungen und ohnmächtiges Zähneknirschen. Unwillkürlich stieß Konrad das Buch von sich und versank in tiefes Sinnen. Aber nicht mehr im grauen Altertum weilten seine Gedanken. Er sah vielmehr eine lichte Mädchengestalt mit zwei langen, aschblonden Zöpfen, die durch die raschen Bewegungen lustig um die Schultern ihrer Herrin flogen, hörte nur zwei trippelnde Füßchen und ein glockenreines Lachen. Da atmete Konrad tief auf, daß seine Mutter den Blick von dem schnurrenden Rade erhob und forschend auf den Sohn richtete. Lange Minuten blieben ihre Augen auf ihm haften, unterdessen sie das Spinnrad vergaß, daß es nur noch langsam weiterlief, bis es endlich stillstand. Ihre Gedanken flogen vom Sohn zurück zu seinem verstorbenen Vater, dem er immer ähnlicher wurde. Derselbe starke Wille, den jener besessen, zeigte sich bei ihm immer deutlicher. Ein Hindernis in der Ausführung seiner Pläne hatte der Vater nicht gekannt. Starrköpfig war er durchs Leben gegangen mit seinem abstoßenden Wesen und dem doch so trefflichen Herzen. Die Leute mochten ihn nicht gern, weil er so arg mit Worten geizte; deshalb vermieden sie seine Begegnung. Immer mehr insichgekehrt wurde er, bis er zuletzt menschenscheu geworden war. Jetzt hob Konrad den Kopf von den beiden Fäusten, die ihn stützten, und seine Augen begegneten denen der Mutter. »Mutter,« sagte er, »warum siehst Du mich so starr an?« »Du hast schwer geseufzt, mein Junge,« antwortete sie, »was fehlt Dir?« Da sah Konrad von seiner Mutter weg und ließ den Blick wieder vor sich hinfallen. »So, also geseufzt habe ich? Das tun, wie man spricht, gern Verliebte -- -- --, nun, da sage ichs nur gleich frei heraus, Mutter, ja ich bin verliebt!« Und mit fliegendem Atem, gleichsam als dränge es ihn, nun, nachdem das Geheimnis offenbart war, seine Seele von allem, was sie bedrückte, zu entlasten, sprach er von seiner tiefen Liebe zu der Schwester seines Freundes. Ohne ein Zeichen der Überraschung zu geben, hatte die Mutter dem Sohne zugehört. Nun sagte sie leise: »Ich habe dies alles ja schon längst gewußt, Konrad. Denn an Deinem Vater habe ich es gelernt, in der Seele eines verschlossenen Menschen zu lesen. Hast Du dem Mädchen Deine Liebe gestanden?« »Sie ahnt nichts. Und hätte ich es tun können? Bedenke doch, welch ein Kind Elisabeth noch ist. Sie würde es kaum für Ernst genommen haben, wenn ich gesprochen hätte.« »Du hast recht,« versetzte die Mutter, »dem Kinde darfst Du vorerst nichts davon sagen. Aber mit Elisabeths Mutter mußt Du alsbald sprechen, das wird verständig sein. Die Freihoferin ist eine kluge Frau und schätzt Dich.« Hier schwieg Konrad eine Weile. Dann sprach er mit benommener Stimme: »Aber denkst Du, Mutter, daß ich es tun darf? Es ist ein gewagtes Ding, den Rabensteiner Hof mit dem Freihof zu versippen!« »Du Narr,« fuhr da die Alte auf und machte eine heftige Bewegung, daß sie die untätig im Schoß liegenden Hände auseinanderriß, und sie beinahe den Spinnrocken noch umgestoßen hätte. »Wohin ist denn Dein Stolz? Denkst Du, daß die Alte auf dem Freihofe ihr Kind dem verschachern wird, der ihm die meisten Hufe und das weiteste Ackerland bietet? Sie würde Dir’s danken, wenn sie wüßte, wie Du sie einschätzest. Freilich ist der Besitz am Rabenstein nicht groß und nicht zu vergleichen mit dem der Tiefenbachs. Doch wissen’s alle,« setzte sie mit Befriedigung hinzu, »daß es eine saubere Wirtschaft ist, und daß unser kleines Land zu den besten der Umgebung gehört. Aber, papperlapapp, was reden wir da für unnützes Zeug. Du wirst rasch handeln, wie Du es sonst tust. Geh alsbald hinab zur Mutter des Mädchens, das Du liebst, und schütte ihr Dein Herz aus.« Darauf blieben die beiden noch eine Weile beieinander sitzen. Die Mutter wandte sich von neuem zum Spinnrad, ordnete mit flinker Hand die leicht in Verwirrung gekommenen Fäden und legte die volle Strähne wieder fest auf das sich unruhig bewegende Rad. Bald darauf schnurrte dies wieder lustig, und die Alte sah wie vorhin aufmerksam auf den sich abwickelnden Faden. Konrad aber betrachtete mit zerstreuten Blicken die leicht vornübergebeugte Gestalt seiner Mutter und wollte bemerken, daß der Knoten, der von dem schlicht zurückgestrichenen, grauweißen Haar auf dem Hinterkopfe gewunden war, eigentlich recht klein geworden war, und daß die Linien des sich ihm von der Seite darbietenden Gesichts und des Halses doch sehr scharf hervortraten. Aber so recht zum Bewußtsein kam ihm dies nicht. Sein Blick richtete sich nach innen, und er vergaß seine Umgebung. Da stand er plötzlich vom Tische auf, klappte das Buch mit der Beschreibung der Freiheitskämpfe des Griechenvolks im Altertum nachdrücklich zu und stellte es auf das Wandbrett, wo auch die andern Bände seiner kleinen Hausbibliothek standen. Dann nahm er noch einmal die gequetschte und mit nasser Leinwand umwickelte Pfote des am Ofen schlafenden Spitzes in die Hand und war befriedigt, daß er sie nicht heiß fand. Sodann verließ er mit einem kurzen Gutenachtgruß das Zimmer. 9. Kapitel. Noch immer hielt die grimmige Kälte an, und der Schnee lag hoch aufgeweht auf der weiten Fläche. Ein Tag nach dem andern schlich trübe und grau dahin; kein freundlicher Sonnenstrahl schien auf die Erde herab. Die Leute kamen während des kurzen Tages kaum einmal aus ihren Häusern heraus. Das bißchen Arbeit, das in der Scheune verrichtet werden mußte, wurde am Vormittag getan. Im übrigen aber ließ man die sonst so arbeitsamen Hände ruhen, saß nebeneinander auf der geräumigen Bank, rund um den behagliche Wärme verbreitenden Ofen, und sah durch die leicht mit Eisblumen geschmückten Fensterscheiben hinaus in die winterliche Landschaft. Der Abend brachte endlich wieder eine Unterbrechung: man eilte in die Ställe und besorgte das Vieh. Dann aber saßen sie wieder beisammen und sprachen von der alten Ernte und von der neuen, vom Kriege und von Weihnachten, zählten zum hundertsten Male auf, wer im verflossenen Jahre im Dorfe und in der Umgebung, soweit man sie kannte, gestorben und wem ein kleines Kindlein beschert worden war. Zuletzt kamen sie bei der Politik an, die seit Menschendenken den Männern einen bequemen und ausgiebigen Gesprächsstoff geliefert hat. Wenn nur der Kaiser seine neue Armee erst wieder aus Paris würde heranführen, dann mochte man Untertan aller Herren Länder sein, bloß kein Russe, denn denen würde er die Leiden seiner Soldaten schon vergelten. Übrigens würde nicht eher dauernder Friede im Lande herrschen, ehe nicht der Kaiser die Preußen wieder einmal empfindlich gestraft haben würde. In Berlin sollte es ja recht schön zugehen. Auf jedem Schneehaufen lägen erschlagene Offiziere und Bürger, und der König Friedrich Wilhelm hätte einen italienischen Zigeuner überredet, daß er den Kaiser vergiften solle. Wie friedlich war’s dagegen doch in Dresden! Dort gab es kein Lärmen, aufhetzendes Gerede oder Fäusteballen. Und tat dies doch einmal einer, so verschwand er, wie es sich geziemte, ohne Geräusch und spurlos von der Bildfläche. Ja, in dem lieben, guten Dresden herrschte eben wie immer Ordnung! Die Minister waren so klug, sich Watte in die Ohren zu stopfen, wenn ihnen von geheimen Boten aus Berlin etwas zugeflüstert wurde, und der gute König ließ das im vergangenen Jahre vor Ankunft des Kaisers im Innern neu hergerichtete Schloß wieder sauber machen und zählte ungeduldig die Tage bis zu der vermeintlichen Wiederkunft des kaiserlichen Freundes. Also nach dieser Seite hin war im Lande der Ausblick erfreulich ... So erzählten sich die biedern Rehefelder Abend für Abend die haarsträubendsten Geschichten von den Dingen, die mit dem kommenden Lenze anheben sollten. Und wie es sich auf diesem abgelegenen Dörfchen zutrug, genau so geschah es allüberall unter den Untertanen des Königs, der die grüne Raute im Schilde führt. Die beginnenden Wehen der großen Zeit wurden allerwärts in den deutschen Landen verspürt, nur innerhalb der weißgrünen Grenzpfähle merkte man nichts von ihnen. Das am Himmel leise heraufkommende Morgenrot der deutschen Freiheit sahen sie nicht, erst mußte das ganze Firmament blutigrot leuchten, als Widerschein der urgewaltig auflodernden Flammen. Und dann war es zu spät. Die Schneewolken hingen tief herab und machten die kurzen, lichtarmen Wintertage traurig und düster. Weit finsterer war es aber in den Köpfen vieler Menschen. * * * * * Die Freihoferin saß, vor sich hinbrütend, auf ihrem gewohnten Platze am runden Tische, als es an der Tür klopfte, und gleich darauf Konrad ins Zimmer trat. Frau von Tiefenbach fuhr aus ihren Gedanken auf und sah zerstreut auf den Ankommenden. »Guten Tag, Bäuerin,« grüßte Konrad und zog mit umständlicher Bewegung die Tür hinter sich fest ins Schloß. »Willkommen, Konrad,« klang es zurück. »Es ist mir lieb, Gesellschaft zu bekommen, denn die Kinder sind mit dem Schlitten draußen. Kurz nach Mittag sind sie fortgefahren, und ich erwarte sie bald zurück. Wie geht es der Mutter?« »Ich danke für die gute Nachfrage, sie ist wohlauf und läßt Grüße bestellen.« Mit diesen Worten war der Rabensteiner, der alten Frau zunickend, zu dem mächtigen Ofen getreten und legte mit Behagen die erstarrten Hände daran. Dann blieb es eine kurze Weile still. Draußen begann sich allmählich die Dämmerung herabzusenken und erfüllte das Zimmer mit unsicherm Licht. Die Freihoferin sah nach dem Fenster, dann warf sie, als das Schweigen andauerte, einen raschen Blick zu dem Mann hinüber, der sich stumm am Ofen zu schaffen machte und nicht von den großen, braunen Kacheln aufschaute. Noch immer die Hände reibend, hob Konrad endlich an: »Wie lange wird’s noch so gehen? So lange ich denken kann, hatten wir noch keinen solchen anhaltenden Winter. Wenn es doch bald besser werden wollte. Ich wünschte, der viele Schnee verschwände mit einem Male.« »Ich fürchte mich vor einem plötzlichen Temperaturwechsel bei solch einem Schneereichtum,« versetzte Frau von Tiefenbach. »Schnelles Tauwetter bringt zuweilen Gefahren.« »Das ist freilich richtig,« antwortete Konrad einsilbig. Eine Pause entstand. »Was man von Berlin hört, ist recht erfreulich,« begann er wieder. »Gebt acht, wenn uns Heil widerfahren soll, kommt es von der Spree her. Bei uns sind doch alle nur Nachtmützen.« »Du hast Recht, Konrad. Hierzulande ist man schläfrig und denkfaul. Soviel Schnee draußen liegt, so viel müßiges Geschwätz ist in der Leute Mund. Aber vernünftig denken oder gar erst handeln tut keiner.« Der am Ofen gab keine Antwort, aber er rieb und knetete seine Hände, daß die Finger krachten. Wieder gab es eine Pause. Die Erwartung der Freihoferin stieg immer höher, aber sie verriet mit keinem Zeichen ihre Ungeduld. Nur mußte sie mehr als einmal verstohlen hinübersehen, nach dem jungen Mann, der ihr heute so seltsam erschien. Da wandte sich Konrad plötzlich um und trat zum Tische. Mit einer ungeduldigen Bewegung zog er einen der schweren Stühle vor sich hin, beugte sich weit über die hohe Lehne und sah der Freihoferin mit unsicherm Blick in das Gesicht. Langsam und mit belegter Stimme, gleichsam die Worte abzählend, sprach er dann: »Bäuerin, ich muß Euch um etwas fragen. Seit mehr als einem Jahr schon liegt es mir auf der Brust und preßt mir fast das Herz ab. Jetzt kann ich es aber nimmer ertragen. Sagt, Freihoferin, wollt Ihr mir Euer Liebstes, das Ihr habt, anvertrauen? Ich verspreche Euch -- --« Hier brach Konrad ab. Er wollte zwar mehr sprechen, aber die Worte erstarben ihm auf der Zunge, bei dem Anblick, den die Frau vor ihm bot. Das Gesicht starr wie aus Stein, die Lippen, aus denen jeder Blutstropfen gewichen war, fest aufeinandergepreßt, und den Blick auf den Boden geheftet, saß die Freihoferin unbeweglich im Stuhle, den einen Arm schwer auf den Tisch stützend. Zwei, drei Sekunden vergingen in diesem Schweigen. Dann schob Konrad den Oberkörper weit vornüber, daß sein Mund sich dicht vor dem Gesicht der Freihoferin befand. Er wußte die Veränderung der Greisin nicht zu deuten, deshalb begann er von neuem und stieß mit gepreßter Stimme die Worte hervor: »Ich besitze nicht viel, was ich Euerm Kinde bieten könnte. Ihr wißt, der Rabensteiner Hof ist eng und sein Ertrag klein. Aber wenn’s Euch gefällt zu hören, so verrate ichs Euch, der Mutter, daß ich Euer Kind liebe aus der tiefsten Stelle meines Herzens heraus und daß ich sein Leben und Glück behüten würde wie einen kostbaren Schatz, den mir die Engel vom Himmel herab in mein Heim getragen haben!« In überschäumender Leidenschaft hatte der Mann diese Worte ausgesprochen und seine ehrlichen Augen fest auf die Freihoferin gerichtet. Aber die Greisin rührte sich nicht, hob nicht einmal den Blick, um ihn dem Bittenden zu gönnen. Da schlug der junge Mann die Augen nieder und langsam, als ob es ihm Schmerzen bereite, richtete er sich aus seiner vornübergebeugten Haltung auf und trat einen Schritt zurück. Dann sprach er mit unsäglich bitterm Auflachen: »Da hätte mich die Mutter nicht zu schelten brauchen, als ich die Befürchtung aussprach, daß zum Brautwerber auf dem Freihofe der Rabensteiner zu gering sein würde!« Bei diesen Worten machte die Freihoferin eine matte Bewegung, als wenn sie Konrad am Weitersprechen hindern wollte. Doch der warf trotzig den Kopf in den Nacken, griff nach der Mütze und wandte sich zur Tür. Da drangen ihm in scharfem Tone die Worte ins Ohr: »Konrad, bleib und setze Dich zu mir!« Diese Aufforderung hatte so gebieterisch geklungen, daß der junge Mann nicht wagte, sich zu entfernen. Er trat wieder zum Tische und nahm der Greisin gegenüber Platz. Noch immer in tiefer Bewegung, aber äußerlich gefaßt, begann die Freihoferin: »Ich habe Deinen Vater gekannt, Konrad, er war ein Ehrenmann. Deine Mutter ist meine Freundin, und Dich habe ich schon liebgewonnen, wie Du als Knabe im Ziegenbockwägelchen durchs Dorf kutschiertest. Ich kenne Dich besser als Du meinst und wüßte für meine Tochter weit und breit keinen bessern Freier als Dich. Und doch kannst Du nicht mein Eidam sein, wie es überhaupt niemand werden kann.« Die Freihoferin lehnte sich in den Stuhl zurück, als wenn sie einer Schwächeanwandlung folgen müsse. Nach einigen Augenblicken aber raffte sie sich wieder auf und sprach mit leiser Stimme: »Höre zu, Konrad, was ich Dir sage. Du und kein anderer wärst mein Tochtermann geworden, wenn nicht eine höhere Macht, der wir uns demütig beugen müssen, es anders wollte. Was ich Dir jetzt anvertraue, weiß nur ich, und niemand ahnt das Entsetzliche. Ich allein wollte den Gram bewahren, bis es offenkundig werden muß. Dir gegenüber aber muß ich reden. Es kann Dir wie allen andern nicht verborgen geblieben sein, daß Elisabeth eine schwache Gesundheit besitzt und seit Jahren kränkelt. Sie ist aber leidender als sie und alle, die sie kennen, ahnen. Meinem Blick ist es nicht entgangen, daß ihre von allen Ärzten als unheilbar bezeichnete Krankheit in den letzten beiden Jahren rasche Fortschritte gemacht hat, und eine innere Stimme raunt mir schon zu, daß ich das Kind nicht mehr lange besitzen werde. O, -- mir bangt so unsagbar vor dem Herbste -- -- --« Die Freihoferin hielt inne, um ihre Bewegung niederzukämpfen. Dann wollte sie weiter sprechen, aber ihre Stimme versagte. Sie lehnte ihr Haupt wieder an die Stuhllehne zurück und bedeckte das Gesicht mit der Hand. Konrad hatte der Greisin lautlos zugehört; jedes ihrer Worte fühlte er wie einen Keulenschlag. Sein ganzer Himmel brach über ihm zusammen. In diesem Augenblick erst überkam ihn die Erkenntnis, mit welch inniger Liebe sein Herz schon an dem Mädchen gehangen hatte, jetzt, wo er das Kleinod verlor, noch ehe er es besessen hatte. Noch vor einer Stunde war sein Herz von seligen Hoffnungen erfüllt gewesen. Sein geistiges Auge hatte ihm eine blumige Wiese vorgezaubert, auf der er ruhte. Und wie sein Blick sich labte an den glänzenden Gaben des Himmels, da kam das Glück, ein betörend schönes Weib, lachend auf ihn zugeschritten und bot ihm schon von fern die Hand. -- So hatte es in seinem Innern ausgesehen, als er dieses Zimmer betrat. Und jetzt? Wie war doch mit einem Male alles in ihm ganz anders! Das Jauchzen war verstummt, der Sonnenglanz verblichen. Die grauen Schneewolken draußen hingen tief herab, daß sie seine Stirn zu berühren schienen. Blüten und Blumen waren verschwunden, und weit in der Ferne schritt flüchtigen Fußes das Glück, -- -- es war an ihm vorübergegangen! Da fiel sein Auge auf die in den Stuhl zurückgesunkene Greisin, und langsam schloß sich die frische Wunde seines Herzens, verstummte sein Weh vor dem gewaltigen Schmerz, der diese Mutter durchwühlte. Durfte er klagen angesichts dieses Weibes, das seit langen Monaten sein Kind dahinschwinden sah, und dem ein untrügliches Gefühl seinen nahen Tod grausam angekündigt hatte? Erschüttert sah Konrad auf die Freihoferin. Aber er wußte nicht, wie er sie trösten sollte, denn solch einen Schmerz können Worte nicht mildern. Und mühsam erhob sich der Jüngling und ging mit leisen Schritten zur Tür und verließ geräuschlos das Zimmer. * * * * * Wenige Stunden später waren die beiden Männer mit Elisabeth zurückgekehrt, und bald darauf vereinten sich alle zur Abendmahlzeit. Während des Essens herrschte die fröhlichste Stimmung. Elisabeth war ausgelassen wie selten. Sie sprühte vor Lustigkeit, und ihr fröhliches Lachen übte seine Wirkung auf die kleine Tischgesellschaft aus. Nur die Freihoferin blieb ernst und schaute mit besorgten Blicken auf das ihr gegenübersitzende Mädchen. Der Ausflug vom Nachmittag wurde besprochen, und Elisabeth erzählte der Mutter, daß sie auf der Bornaschen Straße ein gutes Stück hinausgefahren und dann über Göltzschen zurückgekehrt seien. Die Pferde hätten wacker ausgegriffen, und es sei eine Lust gewesen, so pfeilschnell durch die herrliche Winterlandschaft zu fliegen. »Auf der Rückfahrt,« plauderte sie mit Lebhaftigkeit, »mußte Max die Zügel natürlich meinen Händen überlassen, und während er mit Herrn von Friesen hinter mir wieder über die ganz langweilige Politik sprach, reifte mit einem Male in meiner Seele ein schwarzer Plan. Ich hatte es nämlich schon wiederholt versucht, die beiden von ihrem Gesprächsstoff abzulenken, denn sie sollten von etwas reden, das ich gern höre. Aber mein Drängen war immer vergeblich gewesen. Da riß mir endlich die Geduld und ich beschloß, mitten in ihre Unterhaltung hinein ganz überraschend einen dicken Punkt zu machen. Und wie wir den Tanzberg kaum im Rücken hatten, und die Gäule die abfallende Straße hinuntertrabten, da war ich mit mir im reinen über das Mittel, mit dem ich die ungalanten Herren an die Pflichten der Ritterlichkeit mahnen wollte. Du weißt, liebe Mutter, an der Stelle, wo im Sommer die großen Brombeersträucher blühen, macht die Straße einen scharfen Knick. Dort sollte der Schauplatz der Katastrophe sein. Leider war kein Publikum zu der Vorstellung erschienen. Links also sind die Sträucher, und rechts der Straße hat der Wind den Schnee hochaufgeweht. Ich halte die Zügel etwas straffer, um die scharfe Biegung nicht allzuschnell zu nehmen. Kaum sind wir aber bei ihr angekommen, und die Pferde wenden nach links, da reiße ich die Gäule scharf in die neue Richtung hinein, daß die Tiere fast umkehren und stehen bleiben. Natürlich ist diese Bewegung für den Schlitten viel zu hastig, er kann sie nicht mitmachen, sondern schleudert im Halbkreis herum und wirft sich, seinen Inhalt sorgfältig ausschüttend, blitzschnell auf die Seite. In demselben Augenblick aber, wo ich merke, daß der zuverlässige Kutscherbock unter meinen Füßen seine horizontale Lage aufgeben will, trenne ich mich von dem launischen Gefährt und springe wie eine Katze dem Handpferd auf den Rücken. Von diesem Platze aus beherrschte ich das Gesichtsfeld ganz prächtig und konnte jede Bewegung, die die bis zum letzten Augenblick politisierenden Herren in der nächsten Sekunde machten, auf’s eingehendste studieren.« Hier konnte die Erzählerin ihre Fröhlichkeit nicht mehr zurückhalten. Die Komik des Vorgangs stand ihr wieder mit so lebhafter Deutlichkeit vor Augen, daß sie mit ihrem bisher mühsam zurückgehaltenen Lachen laut herausbrach und ihre Heiterkeit die Männer mit fortriß, denn auch sie stimmten in das Gelächter fröhlich ein. Elisabeth aber hatte das Lachen so angestrengt, daß sie erst wieder eine kurze Weile Atem schöpfen mußte, ehe sie weiter sprechen konnte. Dann aber fuhr sie mit unverminderter Lebhaftigkeit fort: »Liebe Mutter, Du kannst Dir mit Zuhilfenahme Deiner ganzen Phantasie keinen rechten Begriff davon machen, wie die beiden Herren, jeder auf seine Art, sich der plötzlich veränderten Sachlage anpaßten. Das eine muß ich bei allen beiden anerkennen: sie beratschlagten nicht erst lange, was zu tun sei, sondern zogen vor, rasch zu handeln. Stumm schoß Herr von Friesen mit einem eleganten Wuppdich kopfüber auf den Punkt des Schneehaufens los, wo er am höchsten aufgeweht war und verschwand sofort darin. Leider sprang mein teurer Bruder nicht ebenso graziös wie sein Freund. Ich mußte, ohne daß ich es wollte, des Anblicks gedenken, den die sich sträubenden Kälber darbieten, wenn sie der Viehmakler mit dem Hermann auf den Wagen hebt. Mit gespreizten Armen und Beinen näherte sich Max in raschem Tempo der seiner geduldig harrenden Schneewehe und bohrte sich, den Kopf voran, in sie hinein. Während Herr von Friesen für längere Zeit bis auf einen Stiefel ganz unsichtbar war, fand sich auch Max erst nach gründlichem Suchen darin wieder heraus und krabbelte mit den Gliedmaßen so komisch, daß er aussah wie ein dicker, schwarzer Käfer in einer Schüssel steifer Sahne. Kurzum, meine beiden ritterlichen Gefährten taten in diesen Augenblicken viel, nur von der Politik sprachen sie nicht mehr.« Die beiden Freunde waren durch die in erzwungenem Ernste gemachte Schilderung des Erlebnisses wiederholt zu erneuter Lustigkeit angeregt worden. Auch Elisabeth mußte ihrer Heiterkeit wieder freien Lauf lassen; sie beugte den Kopf hintenüber und wollte sich vor Lachen ausschütten. Das bleiche Gesichtchen mit den schmalen Wangen und den großen, glänzenden Augen strahlte vor Lebensfreude und ungebundenem Frohsinn. Da dämpfte plötzlich Elisabeth ihr lautes Lachen. Sie beugte den Kopf auf die Brust, und gleichzeitig wurde ihr zarter Körper durch einen schweren Hustenanfall aufs heftigste erschüttert. Mit einem Schlage war die sprudelnde Heiterkeit von dem kleinen Kreise gewichen, und unwillkürlich richteten sich aller Blicke mit Bangigkeit auf das unter den unaufhörlichen Hustenstößen augenscheinlich schwer leidende Mädchen. Noch ein kurzer, heftigerer Anfall, dann bekam Elisabeth wieder Ruhe. Sie tastete mit der Hand zum Hals, als wenn sie dort etwas beenge und schluckte einige Male hinunter. Darauf lehnte sie sich erschöpft zurück. In den Mundwinkeln des Mädchens aber wurden ein paar große, rote Tropfen sichtbar, die langsam am Kinn und am Halse hinabrollten. Da stieß die Freihoferin heftig den Stuhl zurück und stand im nächsten Augenblick neben dem schwer atmenden Kinde. Wie eine Feder hob die Greisin das Mädchen auf, preßte es an ihre Brust und trug es hastig zur Stube hinaus. 10. Kapitel. In tiefem Blau prangte seit einigen Tagen der Himmel, und aus Südosten blies ein lauer Wind. Wie durch einen Zauberschlag war das Bild, das die Natur geboten, verändert: der Schnee war unter den warmen Sonnenstrahlen verschwunden. Anfangs ging es langsam, bis die obere Schicht zu schmelzen begann und die ersten Wasserläufe entstanden. Als aber die Luft wärmer wurde und der feurige Sonnenball seinen Kreislauf einige Male wiederholt hatte, ohne daß ihn neidische Wolken verbargen, da trat starkes Tauwetter ein. Das Wasser konnte nicht so rasch in die Erde einsickern. Die Straßen weichten auf und wurden grundlos, und auf den Äckern und Wiesen bildeten sich große Teiche, auf denen die Enten laut schnatternd umherschwammen und die liebe Dorfjugend jubelnd Papierschiffe treiben ließ. Der sonst zwischen seinen hochaufgeschütteten Ufern so friedlich dahingleitende Göselbach war stark angeschwollen. Seit diesem Morgen aber war er zum Strom geworden, dessen schäumende Wasser in raschem Laufe dahinschossen. Auf dem Freihofe war die schwere Beklemmung, die Elisabeths plötzliche Erkrankung hervorgerufen hatte, langsam wieder gewichen. Der schnell herbeigeholte Arzt hatte der Kranken Bettruhe verordnet, und wie ein folgsames Kind schluckte sie Eisstückchen, die die nicht von dem Bette weichende Freihoferin ihr reichte. Nach ein paar Tagen war das Mädchen wieder wohlauf und hatte das Bett verlassen. Sie versicherte, daß ihr nichts mehr fehle bis auf eine bleierne Mattigkeit, die in den Gliedern läge. Aber auch dies hielt nicht lange an, dann war sie wieder lustig und beweglich wie vorher. Sie tollte mit Friesen, als wenn nichts geschehen wäre, über die spärlichen Schneereste hinweg und war unermüdlich, ihn zu necken. Ihre Erfindungsgabe half ihr immer wieder, neue, harmlose Streiche ersinnen, die sie ihm spielte. Mit großer Besorgnis beobachtete die Freihoferin den Zustand ihres Kindes. Anfangs hatte sie wohl zuweilen ihre Stimme mahnend erhoben und dem Mädchen schnelle Bewegungen und Umherspringen untersagt, bald aber sah sie ein, daß ihre Mahnungen nicht fruchteten, da sie nur zu schnell vergessen wurden. Denn alle Bewegungen, die das Mädchen tat, waren rasch, und die große Lebhaftigkeit, die einen Teil ihres Wesens ausmachte, konnte sie unmöglich unterdrücken. * * * * * Max hatte mit Friesen für den Nachmittag einen Ausritt verabredet, dem auch Elisabeth sich anzuschließen wünschte. Der Widerstand der Mutter war bald besiegt, und so trabte denn die kleine Kavalkade fröhlich vom Hofe fort, hinein in den lachenden Sonnenschein. Friesen hatte eines der im vorigen Jahre gekauften Kutschpferde bestiegen, einen dicken Wallach, dem ab und zu einmal der Sattel aufgelegt wurde, während Max seinen Braunen ritt. Elisabeths hochbeiniger Schimmel konnte sich nicht lange dem ruhigen Schritt der beiden andern Pferde anpassen, er drängte unausgesetzt in die Zügel und tänzelte nebenher, den langen Schweif mutwillig hinüber und herüber schlagend. Aber Elisabeth war eine gute Reiterin, die die Launen des Tieres wohl kannte. Mit kurzem Zügelruck, den sie schnell wiederholte, verwies sie das Tier zur Ruhe, so daß der Schimmel alsbald die Zügel freigab, in ruhigen Gang fiel und den leisesten Hilfen der Reiterin wie ein Hündchen folgte. Als die kleine Schar außerhalb des Dorfes angekommen war und die Straße verlassen konnte, lenkte sie hinüber auf ein sich lang hinziehendes Rasenstück, auf dem nur noch vereinzelt kleine Pfützen stehen geblieben waren. Im leichten Trab sprengten sie weiter, die Wangen von mildem Windhauch umfächelt. In einiger Entfernung vor den Reitern wand sich ein ziemlich breiter Wassergraben über ihren Weg. Elisabeth hatte das Hindernis kaum erblickt, als sie auch schon vorschlug, darüber hinwegzusetzen. Im Nu hatten ihre Begleiter angenommen. Man ließ den Gäulen die Zügel, und in kurzem Galopp ging es dem Graben zu. Max hatte sofort bereut, sich zum Mittun bereit erklärt zu haben, denn er argwöhnte, daß sein schwerer Brauner ihn im Stich lassen würde. Aber nun konnte er sich nicht mehr ausschließen, denn Elisabeth hätte ihn grausam verspottet. Friesen blieb dicht neben Max, während der Platz zwischen beiden leer geworden war. Elisabeth hielt nämlich den Schimmel kräftig zurück, um zu verhindern, daß er über die Linie hinausschösse, denn sie wollte an dem Hindernis als Letzte ankommen. So gewannen die Herren einen geraumen Vorsprung. Jetzt waren die Reiter nur noch eine kurze Strecke von dem Graben entfernt und ließen die Tiere laufen. In der nächsten Sekunde waren sie am Wasser. Max sprang zuerst, fast in demselben Augenblick sprang auch Friesen und kam dicht hinter dem Graben nieder. Maxens Brauner sprang aber zu kurz und schlug mit den hinteren Hufen laut klatschend ins Wasser, daß die schmutzige Flüssigkeit hochaufspritzte und Pferd und Reiter reichlich übergoß. Aber schon ertönte von hinten her ein helles Auflachen und gleich darauf setzte Elisabeths Schimmel in leichtem Sprunge, behend wie eine Gemse über den Graben und kam weit vor Friesens Wallach sicher nieder. »So sieht ein richtiger Sprung aus, Ihr Herren,« rief das Mädchen mit lauter Stimme über die Schulter zurück, während der Schimmel mit großer Geschwindigkeit weiterstürmte. Max tat eine kräftige Verwünschung über die Schwerfälligkeit seines Pferdes und zwinkerte ärgerlich mit den Augen. Dann gab er dem Gaul wütend die Sporen, daß er einen wilden Satz machte, der ihn aus dem Wasser herausbrachte, um sich mit ein paar weiteren Sprüngen aus dem weichen Boden vollends herauszuarbeiten. Die Zügel auf den Hals des Tieres fallen lassend, trocknete er sich, das Taschentuch mit beiden Händen erfassend, das triefende Gesicht ab. Friesen hatte nur ein paar Tropfen auf die Wange bekommen, die er jetzt laut lachend mit dem Zeigefinger abwischte und fortschleuderte. »Ich werde mich hüten, mit dieser behäbigen Dame noch einmal einen solchen Graben zu nehmen,« knurrte Max, der nun endlich Gesicht und Hals wieder trocken hatte. »Hast Du gesehen, wie sie sprang? Ja? Gerade so wie ein Walroß, und ich kann noch von Glück reden, daß ich nicht heruntersegelte; bald wäre es freilich geschehen.« Während dieser Worte hatten sie ihre Pferde wieder langsam in Bewegung gesetzt und trabten nun in der eingeschlagenen Richtung weiter. Elisabeth war ein großes Stück vorausgeeilt. Dann war sie umgekehrt und nun ritt sie in weiten Kreisen um die Männer herum. In kecker Haltung saß sie auf dem Tiere, es zu immer größerer Eile antreibend. Während die beiden Reiter ihre Pferde ruhig laufen ließen, betrachteten sie mit Vergnügen das in Windeseile dahinfliegende Mädchen. Die Entdeckung, daß Elisabeth eine vortreffliche Reiterin war, hatte Friesen schon längst gemacht. Heute wurde ihm ein neuer Beweis hierfür. Elisabeth behielt auch in dieser scharfen Gangart das Tier vollständig in ihrer Gewalt, und die Reiter konnten deutlich wahrnehmen, wie der Schimmel dem Zügel augenblicklich folgte. Ohne die Schnelligkeit zu vermindern, umkreiste Elisabeth noch immer die beiden Freunde, alle Hindernisse nehmend, die im Wege lagen. Ihre Augen leuchteten vor Freude, und eine Locke des blonden Haares hatte sich gelöst und wehte der Reiterin um die jetzt von einer leichten Röte bedeckte Stirn. Soeben war sie wieder in kurzer Entfernung vor den Herren vorbeigejagt und hatte ihnen ein Scherzwort herüber gerufen, als Maxens Pferd plötzlich vor einer auffliegenden Krähe scheute. Noch immer gereizt durch die Unbeholfenheit des Tieres beim Sprunge, nahm es Max fest in die Zügel und zwang es mit eisernem Schenkeldruck zur Ruhe. In diesem Augenblick stieß Friesen, der Elisabeth nicht aus den Augen gelassen hatte, einen unterdrückten Schrei aus. Max fuhr auf und suchte seine Schwester mit dem Blick, die sich gerade in geraumer Entfernung rechtsseitwärts von ihnen befand. Aber er konnte nichts entdecken, was dem Freunde Grund zur Besorgnis geben mochte. Da sagte Friesen kurz: »Sie hat den Sitz verloren und bemüht sich, den Schimmel in Schritt zu bringen.« Die Reiter blieben stehen und schauten mit angestrengter Aufmerksamkeit dem sich ihnen von rückwärts her nähernden Mädchen entgegen. »Der Schimmel hat kleine Launen, ist aber im ganzen harmlos,« entgegnete Max, »und Elisabeth kennt sich mit ihm aus.« Da stürmte auch schon das Tier mit seiner Reiterin in kurzer Entfernung an ihnen vorüber. Elisabeths Fuß hatte zwar noch fest im Bügel geruht, aber es gab für die Beiden keinen Zweifel mehr, daß sie die Gewalt über das Tier vollständig verloren hatte. Mit seiner ganzen schwachen Kraft riß das Mädchen an den Zügeln, doch umsonst, die leichte Kandare klemmte zwischen den aufeinandergebissenen Zähnen des durchgehenden Pferdes. Plötzlich sprang der Schimmel aus der bisherigen Richtung heraus und jagte eine sanft ansteigende, weite Lehne hinauf, dicht an den letzten Häusern des Dorfes vorbei. Wie gelähmt blieben die Reiter stehen, dem davonstürmenden Pferde entsetzt nachschauend. Aber nur einen Augenblick dauerte ihre Bestürzung. Kein Wort wurde ausgetauscht, aber sie wußten beide, daß es eine Jagd auf Leben und Tod sein würde, um das Mädchen zu retten, denn der rasende Lauf des scheugewordenen Pferdes führte in gerader Richtung auf den hochangeschwollenen Bach zu. Da fuhr Max wild auf und hieb dem heftig erschreckenden Braunen die Sporen tief in die Seiten, daß das Tier von Schmerz gepeinigt sich auf den Hinterbeinen erhob und senkrecht aufstieg, um dann wie toll davonzurasen, hinterdrein Friesen. Die beiden Pferde schlugen sofort eine hohe Geschwindigkeit an, und so ging es in wilder Jagd dem in nicht zu großer Entfernung vor ihnen galoppierenden Schimmel nach. Stumm ritten die beiden Männer nebeneinander, keinen Blick von dem davoneilenden Pferde verlierend und mit allen Sinnen auf den Gang ihrer Tiere achtend. Maxens Brauner schien wieder gut machen zu wollen, was er vorhin versäumt hatte: mit mächtigen Sprüngen setzte er über den weichen Boden hinweg, so daß Friesen Mühe hatte, an seiner Seite zu bleiben. Aber Max achtete nicht darauf, daß der Braune sein Bestes bot, er verlangte noch mehr von ihm. Von neuem setzte er dem Tiere die Sporen in die Seiten, daß dieses in der Tat in eine erhöhtere Schnelligkeit fiel und nunmehr wie ein Pfeil dahinschoß. Mit Genugtuung bemerkte Max, daß sich die Entfernung zwischen ihm und Elisabeth langsam verringerte. Friesens Wallach konnte dieses Tempo nicht einhalten und blieb um einige Längen zurück. Max gewahrte Friesens Zurückbleiben, aber was kümmerte es ihn; seine weit aufgerissenen Augen hingen, ohne abzuirren, an der zarten Mädchengestalt auf dem vor ihm weiterstürmenden Pferde. Der Zwischenraum wurde merklich kürzer, denn der Braune hielt das scharfe Tempo gut inne und verkürzte nicht um eine Handbreite seine weitausgreifenden Sprünge. Aber immer mehr forderte der Reiter von seinem Tiere. Wieder gab er ihm die Sporen zu fühlen, bis er zuletzt das Eisen auf den Flanken ruhen ließ und durch unausgesetztes Drohen mit den scharfen Spitzen den Gaul zum Einhalten seiner hohen Schnelligkeit anstachelte. Alles was in dem Pferde war, forderte sein Reiter in diesen Augenblicken von ihm. Und wenn das Tier dabei zugrunde ging, was tats? Galt es doch ein Menschenleben zu retten, und dieser Mensch -- war seine Schwester! Zum Glück näherte er sich ihr bei diesem Tempo von Sekunde zu Sekunde, und noch in großer Entfernung vor dem reißenden Wasserlaufe mußte er sie eingeholt haben. Die ruhige Überlegung drohte den jungen Mann zu verlassen, wenn er blitzschnell die Möglichkeit erwog, daß sein Pferd diese Schnelligkeit nicht aushalten könnte. Seine Augen schätzten fortwährend forschend den Abstand, und mit großer Befriedigung stellte er fest, daß Elisabeths Vorsprung sich immer mehr verringerte und er sehr bald an ihrer Seite sein mußte. Er überlegte: von links wollte er anreiten, um die rechte Hand frei zu haben und wenn er erst einmal die Zügel des störrischen Schimmels in seiner Faust haben würde, dann -- -- -- -- -- --, was Max von Tiefenbach in der Faust hielt, das war ihm sicher, das gehörte ihm! Aber der Braune durfte nicht um einen Zentimeter nachlassen, er mußte ohne Unterlaß das Eisen kosten. Und von neuem jagte Max dem Tiere die Stacheln in das Fleisch, daß es in wildem Schmerze wie unsinnig weiterraste. Max spannte alle Sinne aufs äußerste an. Da, allmächtiger Gott, täuschte er sich, oder war es Wirklichkeit, -- der Braune verkürzte die Sprünge? Sein Auge durchmaß den Zwischenraum, und es war keine Täuschung, er war in den letzten Sekunden größer geworden. Ein wilder Fluch entfuhr ihm. Sollte er jetzt, wo er in wenigen Sekunden an seiner Schwester Seite sein konnte, zurückbleiben und zusehen müssen, wie diese dem unabwendbaren Tode entgegeneilte? Da zerriß wie ein greller Blitzstrahl ein banger Gedanke das Gespinst seiner sich stürmisch jagenden Betrachtungen. Wie unter einem heftigen körperlichen Schmerz zuckte Max zusammen und die angstvollen Worte entfuhren ihm: »Um des Himmels willen, die Mutter!« Wütend fuhr da der Mann auf: »Verwünschte Kanaille, willst Du mich im Stiche lassen? Warte ich will Dir Lust machen.« Und von neuem bohrte er die Sporen tief in die Flanken. Aber das Pferd bäumte nicht mehr angstvoll auf wie vorhin und machte seine Sprünge nicht größer. Pfeifend schossen ihm die Atemstöße aus den geblähten Nüstern und das kurzabgerissene Schnauben hätte zu jeder anderen Zeit Max zum Absteigen veranlaßt. In diesem Augenblick aber hörte und sah er nichts von der großen Erschöpfung des so schnelles Laufen ungewohnten, schweren Tieres, das schon viel mehr ausgegeben hatte, als von ihm gefordert werden durfte. Mit steigendem Entsetzen bemerkte er, wie der Schimmel immer größeren Vorsprung gewann. Alle Empfindungen, die bei dieser Wahrnehmung auf ihn einstürmten, verwandelten sich in Zorn, der sich gegen das jetzt wiederholt strauchelnde Pferd richtete. Von Wut gepackt trieb er ihm zwei-, dreimal die Eisen in die Seiten. Das gequälte Tier bäumte hoch auf, -- da riß des Reiters eiserne Faust es nieder und dann bohrten sich wieder und wieder die Sporen in sein Fleisch. Mit Schenkel und Eisen bearbeitete Max ohne Erbarmen das Tier, daß es von neuem ein schnelleres Tempo anschlug. Aber es entging ihm nicht, daß der Braune die Geschwindigkeit von vorhin nicht mehr erreichte und daß die Entfernung sich mit jedem Sprung vergrößerte. Da kam auch Friesens Wallach wieder heran, der in gleichbleibender Schnelligkeit weitergeritten und der trotz der vielen Versuche seines Reiters in keine schärfere Gangart gefallen war. Langsam rückte Friesen vor. Max bemühte sich, einen kleinen Vorsprung zu behalten, aber der Wallach kam näher. Schon standen die beiden Tiere Gurt an Gurt, dann glitt Friesen ein Stück vor und behielt ein Tempo, in dem der Braune nur schwer folgen konnte. Die Reiter sahen jetzt, wie der Schimmel die Anhöhe erreicht hatte. Elisabeths Gestalt war noch einen Augenblick sichtbar, und die beiden Freunde erkannten deutlich, daß ihr Oberkörper vornübergesunken war und daß das Mädchen beide Arme um den Hals des Pferdes geschlungen hatte. Dann entschwand sie ihren Blicken. Max war vor Schrecken seiner Sinne nicht mehr mächtig. Er nahm seinen Reitstock und schlug damit wiederholt den Braunen wuchtig zwischen die Ohren, womit er nur erreichte, daß das Pferd dicht hinter Friesens Wallach blieb. * * * * * Konrad Hartmann war auf seinem Hofe beschäftigt. Die nackten Füße in Lederpantoffeln steckend, kniete er gerade vor einem Wagen und legte um eine zersprungene Nabe ein Stück schmalen Eisenbandes. Drüben am Pferdestalle stand seine Mutter, die mit weitem Wurfe Maiskörner unter die stattliche Schar Hühner schleuderte. Am Abend jenes Tages, an dem Konrad die erschütterte Freihoferin leise verlassen hatte, war es in der Wohnstube auf dem Rabensteiner Hof noch viel stiller als sonst zugegangen. Der Sohn hatte eine Weile an dem hölzernen Pfeifenkopfe weitergeschnitzt. Lange hatte dies aber nicht gedauert, dann mochte ihm die Beschäftigung nicht mehr zugesagt haben. Er hatte auf das Bücherbrett gegriffen und die Helden des grauen Altertums wieder einmal vor seinem Geiste aufmarschieren lassen. Sonst vergaß er beim Lesen jener Zeiten alles, was sich um ihm herum zutrug. Mit leuchtenden Augen verfolgte er dann das gewaltige Ringen der Völker und die erbitterten Kämpfe mit dem überlegenen Gegner um die Freiheit des Stammes. An diesem Abend aber hatten seine Gedanken nicht mitten unter den Helden geweilt, und es begab sich zum ersten Mal, daß das Interesse an den Großtaten Jener verblich, und sich dafür etwas anderes in seine Seele schlich und allen Raum darin für sich beanspruchte. Zeitiger als andere Tage hatte Konrad das Bett aufgesucht. Die Mutter aber war geblieben und hatte mit Wehmut lange, lange auf die Stelle geschaut, wo ihr Sohn gesessen hatte. -- -- Wieder hatte sich Konrad gebückt und mit aufmerksamen Blicken und wiederholtem Betasten den geflickten Schaden geprüft. Da stieß die Rabensteinerin einen lauten Schrei des Entsetzens aus. Konrad fuhr erschreckt in die Höhe und blickte auf seine Mutter. Mit vorgeneigtem Oberkörper stand diese inmitten der die Körner geschäftig aufpickenden Hühner und sah in großer Erregung durch das weitgeöffnete hintere Hoftor, das unmittelbar auf die Wiesen hinausführte. Hastig folgte Konrad dem Auge seiner Mutter, und in demselben Augenblick war sein von der emsigen Arbeit stark gerötetes Gesicht bis in die Lippen hinein bleich geworden. Einen Herzschlag lang schauten Mutter und Sohn mit dem Ausdruck des Entsetzens nach den Wiesen, über die in wilden Sprüngen ein durchgehendes Reitpferd hinweg setzte, auf dessen Rücken die zusammengesunkene Gestalt eines jungen Mädchens zu erkennen war. Noch war der die kühle Besonnenheit sonst nie verlierende junge Mann wie gelähmt, da riß sich die Mutter von dem erschreckenden Anblick los und rief dem Sohne zu: »Konrad, was stehst Du wie ein Pfahl? Nicht einen Augenblick hast Du zu verlieren!« Der aber antwortete nicht, sondern starrte regungslos ins Weite. Da flammte in dem gutmütigen Gesicht des Weibes helle Zornesröte auf. Mit ein paar Sprüngen stand sie neben dem Sohn, riß an seiner Schulter und schrie ihm ins Ohr: »Deine gesunden Knochen sind Dir wohl zu lieb? Junge, weißt Du denn nicht, wessen Leben es gilt, he?« Der Gescholtene aber zuckte verzweifelnd die Achseln und sagte dumpf: »Sie ist schon zu nahe am Wasser, ich schaff’s nicht mehr, -- -- es ist zu spät!« Da lachte das Weib schrill auf und schrie: »Du Hasenfuß!« Im nächsten Augenblick sprang sie in den offenstehenden Stall, und Konrad hörte, wie die Kette am Stande des Fuchses niederrasselte. Dann dröhnte das Stampfen des Pferdes von dem steinernen Belag der Stallgasse wider, und mit lautem Wiehern trat das Tier ins Freie. Konrad, der sich noch immer nicht von dem Anblick losgerissen hatte, merkte das Pferd auf sich zukommen. Mechanisch und ohne hinzusehen hob er die Arme und griff mit beiden Händen in die dichte Mähne des immer weiterschreitenden Pferdes. »Vorwärts!« rief da die Rabensteinerin und führte einen derben Schlag auf den Schenkel des Fuchses, daß dieser einen schnellen Gang anschlug. Konrad hielt sich an dem krausen Mähnenhaar fest, die Augen nicht von der Gestalt auf dem galoppierenden Schimmel abwendend. Er mußte laufen, um mit dem sich rasch vorwärts bewegenden Gaule gleichen Schritt zu halten, bis der Gang zu schnell wurde. Da, ein gewaltiger Ruck und Schwung, -- und er saß auf dem Rücken des Tieres. Im nächsten Augenblick trabte der Hengst zu dem hintern Hoftor hinaus. Die Rabensteinerin aber eilte, so schnell ihre Füße sie tragen wollten, die Treppe des Hauses hinauf auf den Dachboden. Und dann stand das Weib an der Dachluke, hielt die schwielige Hand, um das Auge vor den Sonnenstrahlen zu schützen, an die Stirn und schaute hinaus auf die Wiesen. * * * * * Gleichzeitig mit dem Verschwinden des Schimmels hinter der Bodenwelle hatte sich in das Herz des noch immer auf Rettung hoffenden Max die grausame Ueberzeugung gestohlen, daß das Schicksal seiner Schwester nunmehr besiegelt sei. Dieser Gedanke drängte ihm das Blut zu Kopfe, daß die Schläfen zerspringen wollten. Er keuchte unter der Last, die sich auf seine Brust herabgesenkt hatte und fuhr fort, den ausgepumpten Braunen zum schnelleren Laufen zu zwingen. Aber er merkte mit untrüglicher Gewißheit, daß der Gaul nur noch wenige Minuten laufen würde, um dann niederzustürzen. Auch Friesen konnte trotz der heftigsten Bemühungen nichts mehr aus dem Wallach herausholen. So sprengten die beiden Männer in immer mehr nachlassender Geschwindigkeit nebeneinander dahin, wissend, daß das unglückliche Mädchen in kurzer Zeit am Wasser angekommen sein würde. Da erklang mit einem Male hinter ihnen das Schnauben und Stampfen eines weit ausgreifenden Pferdes. Jeder der beiden Freunde vernahm es und glaubte an Täuschung. Aber das Geräusch drang schnell näher und immer näher und ließ keinen Zweifel mehr zu, daß ein Reiter den Hufen ihrer Rosse folgte. Doch der sie beide in diesen bangen Sekunden nur allein bewegende Gedanke: Vorwärts! ließ sie nicht hinter sich schauen. Neuer Mut und neue Hoffnung erfüllte sie plötzlich bei dem Erkennen der ihnen werdenden Hilfe, und mit Anstrengung versuchten sie nochmals, ihre Tiere zum schärferem Laufen zu bringen. Jetzt befand sich der Herbeieilende unmittelbar hinter ihnen. Noch ein paar Sprünge seines Pferdes und die Tiere liefen einen Augenblick nebeneinander. Dann schoß der Neue wie eine Schwalbe über sie hinaus, die beiden Zurückbleibenden mit einem Hagel von Erde und Steinen überschüttend, die unter den Hufen des flüchtigen Pferdes hochauf flogen. Eine kurze Weile konnten sie den Enteilenden noch sehen, dann tauchte er hinter derselben Bodenerhöhung hinab, hinter der auch Elisabeth verschwunden war. Das Vorbeireiten dieses Helfers war ihnen, ob der schwindelnden Schnelligkeit seines Pferdes, wie ein Traum gewesen. Kaum daß sie sein Nahen vernommen, hatte er sie auch schon eingeholt, war prasselnd und dröhnend an ihnen vorübergeflogen und ihren Augen wieder entschwunden -- wie ein Reiter aus dem Gefolge des wilden Jägers. In der kurzen Zeitspanne aber, in der der Hinzugekommene mit ihnen auf gleicher Höhe ritt, hatten die Freunde ihn erkannt: es war Konrad Hartmann. Barhäuptig und mit bloßen Füßen hatte die schmächtige Gestalt zusammengekauert fast auf dem Halse des ungesattelten fuchsigen Hengstes gehockt, den Kopf zu den Pferdeohren hinabgebeugt und die Augen starr darüber hinweggerichtet. Seine linke Hand war mit einer Strähne des Mähnenhaares umwickelt gewesen, während die Finger der rechten das edle Tier leise am Halse liebkosten. Sonst keine Hilfe, kein Antreiben; als wenn er es wüßte, daß es ein Menschenleben zu retten gelte, hatte der Hengst ausgegriffen und sie zurückgelassen. Max und Friesen gaben nunmehr jeden Versuch auf, ihre Tiere weiter anzutreiben. Sie waren schon froh, daß diese sie in kleinen Sprüngen weitertrugen, der Anhöhe zu, von der aus sie alles sehen würden. Langsam kamen sie dem Punkte näher. Max bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber sein Herz klopfte hörbar und er keuchte schwer vor Anstrengung und Erregung. Noch ein paar Sprünge der dem Umsinken nahen Gäule, und sie standen auf der Höhe. Etwa sechshundert Schritte vor ihnen zog der in der Sonne glitzernde, hochgehende Bach vorüber und unmittelbar vor ihm sahen sie, wie Elisabeth, von Konrad gestützt, den Versuch machte, einige Schritte zu gehen. Ihre Pferde standen abseits. In Windeseile sprangen sie von den Gäulen, ließen die nach Luft haschenden Tiere stehen und eilten die Lehne hinab. In wenigen Minuten hatten sie das Ufer erreicht. Elisabeth lagerte auf einem mit Moos überwucherten großen Stein, sich auf den Ellenbogen stützend und sah den beiden Männern mit schwachem Lächeln entgegen. Ihr Gesicht war totenbleich, und um ihre Schläfen spielten zerzauste Locken. Konrad stand neben dem Mädchen. Mit großen Schritten eilte Max zu seiner Schwester, kniete nieder, schloß das Mädchen in tiefer Erregung in die Arme und blieb eine Weile mit ihr stumm Brust an Brust. Dann löste er sanft die Umarmung und wandte sich zu Konrad. Seine Augen liefen fast über. Der aber schlug den Blick zu Boden und machte eine Bewegung mit der Hand, als wenn es sich um eine leichte Sache handele. »Warum willst Du meinem Dank wehren, Konrad?« sprach Max mit vor Bewegung zitternder Stimme, »der Geber darf sich dem Dank des Beschenkten nicht entziehen, sonst macht er diesem die Annahme der Gabe allzuschwer.« Dann legte Max seine Hände auf Konrads Schultern, beugte sich tief herab, daß er ihm in die Augen sah und fuhr fort: »Wir sind seit unserer Kindheit Freunde, und ich habe immer gewußt, was ich an Dir besaß. Heute hast Du mir aber einen Dienst erwiesen, für den Dir zu danken meine Worte zu schwach sind. Ich bleibe für immer Dein Schuldner. Unser Freundschaftsbund, Konrad, ist durch diese Tat besiegelt fürs Leben!« Dann reichten sich die Männer schweigend die Hände, worauf sich Max abwandte, um seiner ihn zu übermannen drohenden Ergriffenheit Herr zu werden. Elisabeth aber richtete sich höher auf und sprach leise: »Konrad, bitte komm zu mir.« Und wie dieser zu der Sitzenden getreten war, legte Elisabeth ihre Hand in die seinige, sah ihn mit allem von ihr ausgehenden Liebreiz ins Gesicht und sagte mit schmeichelnder Stimme: »Die Mutter, Max und Du! Sprich, Konrad, willst Du von heute an mein Bruder sein?« Da erfüllte das Herz des also Angesprochenen eine tiefe Bewegung, und auf seinem Gesicht begann ein wunderliches Spiel. Das Mädchen aber schlang den Arm um seinen Hals, zog den Mann zu sich herab und drückte ihre Lippen auf den zuckenden Mund. 11. Kapitel. Der Frühling des Jahres 1813 war mit jener Pracht und Lieblichkeit ins Land gezogen, die alljährlich nach den dunkeln und rauhen Wintertagen wieder die Menschen erquicken und ihre Herzen lauter schlagen lassen. Die Sonne tat in kurzer Zeit Wunder; aller orten begann es zu sprießen. Die Wiesen bedeckten sich in wenige Tagen mit saftigem Grün, und zwischen den frisch aufgeschossenen Halmen der Gräser hoben die ersten Veilchen schüchtern ihre Köpfchen. Die Menschen kamen wieder aus den Häusern heraus, in die sie der diesmal so anhaltende und strenge Winter lange gebannt hatte. Mit durstigen Zügen atmeten sie die warme und würzige Luft, ließen die Augen weiden an dem geheimnisvollen, die Seele erhebenden Erwachen der Natur und lauschten frohen Herzens den muntern Weisen der zurückgekehrten Singvögel. Nun war es Gott sei Dank vorüber mit dem Untätigsein, und die Hände konnten wieder schaffen und die emsige Arbeit beginnen, deren Segen im Herbst ausgeschüttet wird. Neuer Lebensmut kehrt in diesen Tagen in die Menschenbrust zurück, und wenn es einen Schwachen und Kranken gibt, den der dunkle Winter hart niederdrückte, daß sein Lebenslichtlein nur noch trüb brannte und armselig flackerte, -- mit den belebenden Sonnenstrahlen zieht auch wieder Hoffnung in sein Herz, und er fühlt, wie sich geheimnisvolle Kräfte in seinem Innern regen. Auf dem Freihofe herrschte emsige Tätigkeit; vom Morgen bis zum Abend wurde rastlos gearbeitet. Draußen auf den Feldern zog der Pflug tiefe Furchen in die verjüngte Erde und lockerte den schwärzlichen, duftenden Ackerboden, der einlud, das Saatkorn ihm anzuvertrauen. Max hatte die Hände voll zu tun und war jeden Tag der Erste und Letzte bei der Arbeit. Mit Erstaunen sah Friesen auf die Geschäftigkeit, die sich um ihn herum plötzlich entfaltet hatte, und eine Sehnsucht zog in ihm herauf, zu seinem Regiment zurückzukehren. Er wollte nicht allein untätig sein, zumal die Rüstungen überall aufs neue begannen. Wie wenn die allerersten Strahlen der noch hinter den Bergen verborgenen Sonne über die dunkle Erde dahingleiten und die schlafende Natur wachküssen, so zog mit leisen Schwingen ein wundersames Ahnen in die Gemüter der Völker des mittleren Europas, daß auch für ihre Geschicke nun endlich der Frühling angebrochen sei. Und sie machten sich auf, das Feld zu bestellen und den Samen der Freiheit zu pflanzen, auf daß ihnen, wenn der Sommer zur Rüste ging, eine stattliche Ernte beschieden sei. Das aus der Wolke niederströmende, die Saat des Landmanns befruchtende Element hieß bei ihnen Begeisterung, die Jung und Alt durchlohte, und der Sonnenschein, der beim Reifen der Frucht nicht fehlen darf, sollte das Glänzen der blanken Waffen und das Blitzen der Feuerrohre sein. Auf deutschem Boden mußte der gewaltige, für alle Völker entscheidende Kampf stattfinden, und in das Rauschen der deutschen Eichenwälder sollte sich der kriegerische Lärm der Schlachten mischen, -- bis die letzte Brust durchschossen, das letzte Schwert zerhauen war, oder bis die berauschenden und jubelnden Klänge der Siegeslieder die Dankbarkeit für die endliche Erlösung von schwerem Joch himmelwärts trügen. Aber alsbald, wenn auch mit großem Mißmut, erkannte Friesen, daß der Zustand seiner Füße es ihm noch nicht erlaubte, seinen Dienst als Soldat wieder aufzunehmen. Sie schmerzten bei anhaltendem Laufen noch immer und verlangten gebieterisch weitere Schonung. So mußte er denn seinen Plan wieder fallen lassen und die Gastfreundschaft des Freihofes weiter annehmen. Bisweilen begleitete er Max zu Pferde, wenn dieser auf die ausgedehnten Felder hinausritt, weit öfter aber leistete er Elisabeth Gesellschaft oder begleitete sie auf kurzen Spaziergängen. Den Schimmel hatte das Mädchen seit jenem Tage nicht wieder bestiegen. Durch die Aufregung infolge des wilden Rittes hatte ihre schwache Gesundheit doch einen gewaltigen Stoß erlitten, so daß sie nach dem Vorfall noch mehrere Tage das Bett hüten mußte und dann nur ganz allmählich ins Freie gehen durfte. Es war ihr recht lieb, daß sie Friesen bei diesen Ausgängen zum Begleiter hatte, denn sie konnte nicht anders, als langsam und auf seinen Arm gestützt vorwärtsschreiten. Hätte sie diese Tage ohne Friesens zerstreuende Gesellschaft zubringen müssen, so wäre Elisabeth, da sie sonst gewohnt war, wie ein Wirbelwind umherzutollen, der leidende Zustand leicht zur drückenden Last geworden. So fand sie sich in ihre Lage mit bewundernswürdiger Ergebung und Geduld. Kein Wort der Sehnsucht nach dem Wohlbefinden, dessen sie sich bisher erfreut hatte, verlor sie. Sie vermied es, über ihre Krankheit zu sprechen, und doch bemerkte es jedermann nur zu gut, wie genau sie die Schwere der Krankheit erkannte. Fast immer peinigte das Mädchen ein böser Husten, der sich zuweilen zu solcher Heftigkeit steigerte, daß der Kreis ihrer Freunde Qualen erlitt. Dabei war sie immer gleichmäßig freundlich gegen alle. Zur Mutter, der man es äußerlich freilich fast kaum anmerkte wie sie litt, war das Kind von rührender Zärtlichkeit. Auf das Schloß aber kam Elisabeth in dieser Zeit nicht. Zudem versah Maria von Tiefenbach noch im Schulhaus ihren Pflegedienst, denn noch immer waren einige kranke Soldaten im Dorfe. Max hatte es in den letzten Wochen vermieden, das Schulhaus zu betreten. Seine Gegenwart daselbst war jetzt auch nicht mehr erforderlich wie in den ersten Tagen, als man die Krankenzimmer eingerichtet hatte. Und wenn es dennoch nötig wurde, nach dem Rechten zu sehen, beauftragte er Hermann Lehnhardt, seinen Verwalter, mit diesen Geschäften. * * * * * Es war an einem der mittleren Apriltage. Elisabeth war am Vormittag -- seit langer Zeit zum ersten Mal -- auf dem Schlosse gewesen, um noch einmal mit Maria von Tiefenbach zusammen zu sein, bevor diese nach Schloß Eckartsberg abreiste, wohin sie plötzlich gerufen worden war, um die nach ihr verlangende, schwer erkrankte Schwester ihres Vaters zu pflegen. Der Abschied war beiden Mädchen recht schwer gefallen, doch schieden sie mit der tröstenden Hoffnung, sich in kurzer Zeit wiederzusehen. Nach dem Mittagessen stand Elisabeth mit Friesen auf dem Hofe und schaute den drolligen Sprüngen junger Ziegenböcke zu. Das Gesicht des jungen Mädchens sah aus wie aus Wachs gebildet. Mit müdem Lächeln betrachtete sie das muntere Spiel der Tiere, als sie plötzlich zusammenbrach und eine große Menge Blutes aushustete. Von dieser Stunde ab durfte Elisabeth das Bett nicht mehr verlassen. Auch jetzt half Friesen dem erschöpften Mädchen die Zeit kürzen, indem er von seinen Kriegszügen erzählte, oder mit ihr von ihren gemeinsamen, kleinen Erlebnissen plauderte, oder aus Büchern heitern Inhalts vorlas. Die Freihoferin war Tag und Nacht um ihr Kind besorgt und verrichtete ganz allein die Obliegenheiten der Pflegerin. Wenn sie sich von Elisabeth betrachtet wußte, war sie bemüht, unbefangen erscheinen, war aber die Aufmerksamkeit der Kranken von ihr abgelenkt, dann ruhte das mütterliche Auge mit unsagbar zärtlicher Liebe auf dem Kinde. In solchen Augenblicken war der sonst herbe Zug von den Lippen der Greisin verschwunden, und ihr Antlitz wurde verschönt durch den Ausdruck eines gewaltigen Schmerzes gepaart mit überquellender Mutterliebe. * * * * * Draußen in der weiten Natur schritt der holdselige Jüngling Frühling durch die Gefilde, und wo sein Fuß gegangen war, erblühte alles zum neuen Leben. Drinnen aber in der stillen Stube des Wohnhauses auf dem Freihofe, welkte langsam ein junges Menschenleben dahin. Jetzt gab es keinen mehr, der noch gehofft, niemand, der nicht die Schatten gesehen hätte, die aus dem Reiche der Finsternis heraufwallten und sich auf dem Antlitz der sanftmütigen Dulderin niederließen. Große Stille herrschte auf dem Gute. Alle wußten, daß in dem Hause eine Seele weilte, die sich anschickte, das sterbliche Kleid, das sie in dieser Irdischkeit getragen, abzulegen und in die Ewigkeit zurückzukehren. Elisabeth war aller Liebling gewesen. Die meisten Dienstleute waren schon seit langen Jahren auf dem Freihof. Sie hatten das zarte Kind aufwachsen sehen, hatten es oft geliebkost, und deshalb meinte jeder ein Anrecht auf sie geltend machen zu dürfen. Von Kindheit an hatte Elisabeth, als wenn sie berufen sei eine Sendung zu erfüllen, zwischen der schweigsamen Mutter, von der nichts als Kälte auszugehen schien, und dem Gesinde gestanden. Max war nicht so geartet, daß er die Rolle des freundlichen Vermittlers hätte übernehmen können. Er hatte zuviel von der Mutter, und wenn die Leute auch wußten, daß er ein warmes Herz für sie besaß, so fürchteten sie doch seine leicht aufwallende Heftigkeit. Elisabeth war der gute Hausgeist. Sie hatte es verstanden, sich jeden zum Freunde zu machen. Deshalb war sie für die Leute nicht eigentlich die Tochter der Herrin gewesen, sondern das Kind, das, wo es auch erschien, Klingen und Sonnenschein verbreitete. Elisabeth war zu gleicher Zeit überall. Sah man ihren blonden Kopf mit den strahlenden Kinderaugen nicht, so hörte man sie scherzen und trällern. In den Ställen kannte sie jeden ihrer vierbeinigen Freunde ganz genau und in den Scheunen und ausgedehnten Dachböden wußte das Mädchen die geheimnisvollsten Winkel. Niemand war davor sicher, von ihr nicht jeden Augenblick überrascht zu werden. Ihre Lieblingsbeschäftigung aber bestand darin, mit Anbruch der Dämmerung in den Häuschen der Tagelöhner einzukehren. Dort hockte sie besonders gern, spielte mit den Kindern, aß von deren Butterbroden und stob endlich davon, wenn die Mutter der Kleinen sie bedeutete, daß auf dem Freihofe die Zeit des Abendessens gekommen sei. Nun aber, wo das Mädchen niemandem mehr hinterdrein folgte, keinen mehr neckte, man ihr fröhliches Lachen nirgends mehr vernahm und die dicken Zöpfe nicht mehr um ihre Schultern fliegen sah, jetzt fehlte sie jedem von ihnen, den Kleinen wie den Großen. Mit Engelsgeduld trug sie die quälende Krankheit. Nach jedem neuen Hustenanfall strich sie mit ihrer schmalen, abgezehrten Hand liebkosend über die der Mutter und sprach tröstend von ihrem baldigen Gesundwerden. Und doch wußte Elisabeth während sie diese Worte sprach, daß sie nie wieder durch die Räume des Freihofes huschen würde, und Friesen hatte die Ueberzeugung, daß das Mädchen nur um der Mutter willen von ihrer Genesung redete. Das letzte Drittel des Aprils war herangekommen. Elisabeth fühlte sich heute wohler. Das Gesicht des Kindes war in den letzten Wochen immer schmaler, die Augen dagegen waren unnatürlich groß geworden. Und dabei strahlten sie in seltsamem Glanze. Die Wangen waren bleich, nur die Stellen auf den stark hervortretenden Backenknochen blieben unaufhörlich fieberhaft gerötet. Max war frühzeitig nach Leipzig hineingefahren, um eine Grenzstreitigkeit mit einem Nachbarn vor Gericht zu schlichten. Seine Rückkehr sollte erst am Abend des nächsten Tages erfolgen. Es war am Vormittag, als Friesen, wie er es oft tat, Elisabeth vorlas. Das Mädchen saß in Decken gehüllt in einem großen Armstuhl, Friesen vor ihr. Mit träumerischem Blick betrachtete Elisabeth das edel geschnittene Gesicht des Lesenden. Ihr Gedankengang mußte sie weitabgeführt haben, denn schon längst hörte sie nicht mehr die gesprochenen Worte. Da klopfte es. Elisabeth fuhr aus ihren Träumen auf, während Friesen im Lesen inne hielt. Gleich darauf trat der Postbote ins Zimmer und brachte einen Brief an den Oberleutnant Bernhard von Friesen. Der junge Mann griff hastig nach dem Papier. Es trug den großen Stempel seines Regiments. Mit leise zitternden Fingern löste er das Siegel und durchflog die wenigen Zeilen mit den Augen. Betroffen ließ er den Blick sinken und schaute vor sich nieder. Wie er nach einer kurzen Weile die Augen wieder erhob, erschrak er vor dem Ausdruck, der auf Elisabeths Gesicht lag. Das Lächeln war verschwunden und an seine Stelle war der Ausdruck unsagbarer Angst getreten. Friesen überkam eine tiefe Ergriffenheit, denn er erriet die Gedanken des Mädchens. Ihr feines Empfinden hatte sie ahnen lassen, was in dem Brief stand und sie war über seinen Inhalt aufs heftigste erschrocken. Doch in demselben Augenblick zog ein Klingen und Brausen in seinem Innern herauf, ein niegekanntes Gefühl hoher Glückseligkeit, freilich vermischt mit tiefer Wehmut. Da sah er, wie ein paar tränengefüllter, glänzender Augen auf ihn gerichtet waren und einem plötzlichen Drange folgend, sprang der junge Mann vom Stuhle auf, ließ sich vor dem Mädchen nieder und lehnte sein Haupt an ihre Knie; zwei zitternde Hände tasteten nach ihm. Er nahm die eine, preßte seinen Mund darauf, und dann perlte eine Träne auf sie nieder. Die andere Hand aber berührte den Scheitel des Mannes und strich unaufhörlich liebkosend über Haar und Wangen. Lange verharrten so die zwei, die sich gefunden hatten, um sich in wenigen Stunden wieder zu trennen. Endlich sprach das Mädchen mit leiser Stimme: »Mein lieber Freund! Ich liebe Dich ja schon, ach, so lange, aber ich wußte es nicht. Nun wir aber für immer von einander scheiden müssen, spricht die Stimme in meiner Brust eine vernehmliche Sprache. Ach, laß es mich, das süße Wort einmal noch aussprechen: Bernhard, mein Bernhard, -- -- ich habe Dich lieb!« Da überlief den Knieenden eine heftige Erschütterung und schüttelte seinen Körper wie im Fieber. Dann aber hob er den Kopf auf, sah Elisabeth mit wonnetrunkenem Blick in die Augen und sprach: »Mein Lieb! Du Inniggeliebte meiner Seele! Jetzt weiß ich es auch, was mich so unwiderstehlich an dieses stille Dorf fesselte. Du hast mich wieder hierhergezogen, denn Du thronst schon seit dem ersten Anblick in meinem Herzen. Ich liebe Dich mit meiner ganzen Kraft, Du süßes Mädchen!« Nun schwiegen sie wieder, und der Knieende lehnte von neuem seine Stirn an die ihn liebkosende Kranke. So leerten die beiden Menschen in reinem Genießen den goldenen Becher irdischer Liebe, die bereits von einem Schimmer verklärt wurde, der aus der Ewigkeit herüberdrang, bis zum Grund. In wenigen Stunden genossen sie das ganze Glück, das andern in der Spanne vieler Jahre beschieden ist. Und so fand die eintretende Freihoferin die Liebenden -- -- -- * * * * * Es verhielt sich so wie Elisabeth geahnt hatte: Friesen hatte den Befehl seines Regiments erhalten, unmittelbar nach Empfang des Briefes sich nach Leipzig zu begeben und von dort mit einem Transport Reservemannschaften nach Dresden zurückzukehren. Die Ordre war in so gemessenen Worten gehalten, daß ihm nichts anderes übrig blieb, als sofort abzureisen. Hätte er Maxens Rückkehr abwarten wollen, so wäre sein Eintreffen um zwei Tage verzögert worden. Er beschloß daher, noch im Laufe des Nachmittags Rehefeld zu verlassen. Die wenigen Stunden bis dahin verbrachten die Liebenden im trautesten Alleinsein. Sie nannten sich wiederholentlich bei ihren Vornamen und waren entzückt von deren Klange, auch sprachen sie zum letzten Mal von den Erinnerungen an alles das, was sie mit einander erlebt hatten. Dabei tauschten sie liebende Blicke aus, und ein leiser Händedruck verriet dem andern, was die Lippen auszusprechen scheu vermieden. Keine Überschwänglichkeit, kein heftiges Aufwallen der Gefühle. Ihre schon längst im innersten Herzen schlummernde Liebe, deren sie sich erst angesichts des Scheidens für immer bewußt geworden waren, war in demselben Augenblick, in dem sie sich offenbarte, schon geläutert gewesen. Sie war zu zart, als daß sie laute Beteuerungen und eindringliche Beweise ertragen hätte. Wie zwei alte Menschen, die auf ein reiches Leben von Sorgen und Glück nebeneinander zurückblicken und die nun ihren Lebensabend zusammen beschließen -- ohne aufwallende Zärtlichkeiten aber mit ihrer ewigfrischen, jungen Liebe in der welken Brust, so saßen Friesen und Elisabeth Hand in Hand nebeneinander. Ihre Liebe gehörte nicht mehr dieser Welt an, dafür war sie zu groß, und ihre Blicke suchten schon das unbekannte Land, dessen Freuden gemeinsam zu genießen sie sich in der letzten Stunde vor ihrer Wanderung dahin hinieden gefunden hatten. Dann kam der Augenblick des Abschieds. Friesen kniete zum letzten Mal vor dem Mädchen nieder, das sich zu ihm hinabbeugte und ihre Lippen auf seinen Scheitel drückte. Einen Kuß auf die welke Stirn, dann trat der junge Mann zurück. Langsam schritt er zur Tür, legte die Hand auf den Drücker und warf einen langen Blick zurück, der mehr enthielt als Worte hätten sagen können. Lächelnden Antlitzes blickte Elisabeth zu dem Scheidenden hinüber. Noch ein stummer Wink, -- und der Platz an der Tür war leer. Lange Minuten schaute das Mädchen mit verhaltenem Atem unverwandt auf die Stelle. Dann kehrte sie die Augen ab, schauerte zusammen, als wenn es sie fröstle, schmiegte den Kopf an die Brust der Mutter und sprach mit versagender Stimme: »Ich bin so müde. Nun möchte ich schlafen gehen!« * * * * * Als aber die goldene Sonne untergegangen war und die grauen Schatten der Abenddämmerung sich auf die Erde herabsenkten, da hielt es die Freihoferin im Zimmer nicht mehr aus. Sie warf ein Tuch um die Schultern, vertraute die Obhut über die Schlummernde der alten Beschließerin an und eilte hinaus in die köstliche Luft des Lenzabends. Am Abendhimmel war ein glühendes Rot heraufgezogen, dessen leuchtende Farben jetzt langsam wieder verblaßten. Feierlicher Frieden erfüllte die Natur. Die gefiederten Sänger waren zur Ruhe gegangen, nur das Zirpen der Grillen tönte noch aus dem Grase hervor. Einsam funkelte der Abendstern auf die Erde herab, und langsam begann der helle Schein, der über der Stelle stand, wo die Sonne hinabgesunken war, zu verbleichen. Von fernher klang noch einmal verhallendes Hundegebell herüber, dann erstarb es, und tiefe Stille herrschte weit in der Runde. Die Greisin aber gewahrte nicht diesen Frieden, in ihrer Brust tobte wilder Schmerz. Sie wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Mechanisch schritt sie auf der Straße weiter, vorüber an den friedlichen Wohnungen glücklicher Menschen. Da blieb sie mit einem Male stehen. Sie sah sich um und erkannte, daß sie sich vor dem Schulhaus befand. Und plötzlich überkam das Weib das heiße Verlangen, hineinzutreten unter die Elenden, die noch darin weilten, vielleicht milderte sich angesichts des vielen Wehs der gewaltige Schmerz in der eigenen Brust. Schon überschritt sie die Schwelle und stand gleich darauf in dem großen Krankenzimmer, dem eine in der Mitte hängende Lampe mattes Licht spendete. Erstaunt sahen die wachen Kranken auf den späten Besuch. Die Frau des Lehrers hatte die Nachtwache. Sie berichtete der Freihoferin, daß fast alle ihrer Schützlinge auf dem Wege der Genesung seien. Zu Besorgnissen gäbe keiner von ihnen Anlaß, bis auf einen jungen Rheinländer, dessen Hinscheiden noch in dieser Nacht erfolgen würde. Der junge Mann lag allein in einem kleinen halbdunkeln Raum nebenan, in den man durch die offenstehende Tür vom großen Krankenzimmer aus gelangte. Als die beiden Frauen eintraten, wendete der in hohem Fieber Liegende den Kopf nach der Tür und richtete seine großen, dunkeln Augen auf sie. Müde ließ sich die Freihoferin neben dem Bett auf einen Stuhl nieder, währenddessen die Pflegerin wieder in das Zimmer zurückging. Es war ein junger Bursche von zartem Körper, der infolge der Krankheit stark abgemagert war. Das bleiche Gesicht mit den Fieberrosen auf den Wangen umrahmte eine Fülle tiefschwarzen Haares. Apathisch lag der Kranke in den Kissen. Sein Gesicht trug bereits die Spuren des beginnenden Verfalls, nur die Augen glänzten in unnatürlichem Feuer und kreisten unausgesetzt in ihren Höhlen. Da erhob die Greisin ihre Stimme und sprach in gedämpftem Tone: »Wie befindet Ihr Euch, mein Sohn; kann ich Euch mit etwas helfen?« Der Kranke heftete die Augen auf die Sprechende und antwortete mit Anstrengung: »Ich danke Euch, Frau, mir kann niemand helfen, mit mir gehts zum Ende.« Und wieder kreisten rastlos die Augen. Die Freihoferin sah vor sich nieder, drückte die Hände fest ineinander und dachte daran, ob der Kranke daheim auch eine Mutter habe. Da wandte sich dieser plötzlich wieder zu ihr und und sagte mit abgerissenen Worten: »Hört mich an, vielleicht hat Euch der Himmel zu mir gesandt, daß Ihr mir eine fürchterliche Last von der Brust nehmen sollt. Sagt, gibt es eine Sünde in der Welt, die nicht verziehen werden kann?« Die Freihoferin neigte das Haupt und antwortete: »Gott ist allgütig, er lässet keinen Reuigen von sich gehen!« Aber der Kranke schüttelte unwillig den Kopf und erwiderte: »Nein, das will ich nicht hören. Die Tat, die ich begangen, kann _Gott_ mir nicht anrechnen. Aber sprecht, kann eine Mutter verzeihen, wenn ihr Kind sie -- verriet?« Die Greisin wurde um einen Schein bleicher. Behutsam strich sie eine schwarze Haarwelle von der heißen Stirn des Kranken und sagte in ihrem weichesten Tone: »Wollt Ihr mir Euer Herz nicht erleichtern, mein Sohn? Sagt, was euch bedrückt, vielleicht kann ich Euch trösten.« Da schöpfte der Kranke tief Atem und begann mit unsicherer Stimme: »Meine Mutter stammt aus einem alten, reichen Patriziergeschlecht zu Geldern. Als sie zur Jungfrau erblüht war, warben viele vornehme Männer um sie. Sie schenkte ihre Gunst aber einem armen Offizier. Das machte den Bruder unwillig und er verwies seiner Schwester ihre Neigung. Und als sie sagte, daß sie niemand, als nur dem eigenen Herzen folgen würde, da packte den Hochmütigen der Zorn und er beschimpfte die Schwester und ihre Liebe. Nun war meine Mutter ein sanftes Mädchen, daß dem Bruder wohl verziehen hätte, daß er sie geschmäht. Als dieser aber den tugendsamen Mann ihres Herzens beschimpfte, da wallte in ihr heiße Entrüstung auf, und sie tat einen Schwur, daß sie dies dem Frevler nie verzeihen würde. Ich wuchs heran, und unter dem Einfluß meiner Mutter teilte ich deren Verachtung gegen die Verwandten. Mein Vater blieb bei Jena, und dem hochmütigen Kaufherrn entrissen die rauhen Kriegszeiten seinen ganzen Reichtum und machten ihn bettelarm, daß er Hand an sein Leben legte. Er hinterließ eine gelähmte Frau und eine einzige Tochter, die nun mit ihren feinen Händen, die nie Arbeit verrichtet hatten, für ihrer beiden Unterhalt sorgen mußte. So lernte ich das Mädchen kennen. Zuerst erfüllte mich tiefes Mitleid mit dem traurigen Schicksal der Frauen. Dann aber überkam mich eine edle Leidenschaft zu Karoline, meiner Base, die ich nicht aus meinem Herzen zu bannen vermochte. Ich lief hin zu meiner Mutter, gestand ihr meine Liebe und bat sie, den Schimpf, den der Verstorbene ihr angetan, nicht den schuldlosen Frauen entgelten zu lassen. Nun hatte aber meine Mutter den Haß gegen die Anverwandten wie einen bösen Wurm in ihrem Innern immer mehr anwachsen lassen, und diese unselige Leidenschaft hatte sie hart gemacht. Deshalb verbot sie mir meine Liebe und zieh mich des Undanks gegen sich. Aber ich konnte von dem Mädchen nicht lassen. Ich warf mich vor der Mutter nieder und flehte mit gerungenen Händen um ihren Segen. Da verwünschte mich meine Mutter und sagte, daß sie von stundab kein Kind mehr besäße. Und so verließ ich das traute, mütterliche Haus als Ausgestoßener, aber mit dem Trost im innersten Herzen, nicht gegen das göttliche Gebot gefehlt zu haben. Ich nahm Karoline zur Gattin. Und als nach Jahresfrist ein das Zimmer mit himmlischem Glanze erfüllender Engel uns ein Töchterchen gebracht hatte und kaum wieder entschwunden war, drängte sich der grausame Tod durch die Tür und raubte uns die ihr Leiden gottergeben tragende Mutter meiner jungen Frau. Kurze Zeit später rollte der Klang der Werbetrommel auch durch das Rheinland; der Kaiser bedurfte vieler Soldaten, die nach Rußland hinein marschieren sollten. Ich horchte nicht nach ihr hin, denn ich arbeitete angestrengt für unsern Unterhalt. Da riß man mich fort von Weib und Kind, und ich mußte mitmarschieren. Ich war schwach und litt fürchterlich unter den ungewohnten Anstrengungen und Entbehrungen. Endlich kehrten wir wieder um. Ich war so elend, daß ich kaum noch folgen konnte und blieb wiederholt liegen. Aber der Gedanke an mein verlassenes Weib, an das unschuldige, süße Kind riß mich in die Höhe, und ich wankte immer wieder weiter. So kam ich hierher, um nur wenige hundert Meilen von meinen Teuern entfernt zu sterben. O, das Schicksal ist unerbittlich grausam!« Der Kranke schloß die Augen und stöhnte laut auf unter dem gewaltigen Schmerz, der seine Seele erfüllte. Aber nur eine kurze Weile hielt diese Schwäche an. Mit ungeheuerer Anstrengung richtete er sich in den Kissen auf und lenkte die bereits verglasenden Augen von neuem auf das an seiner Seite sitzende, tief gebeugte Weib. »Hört, Frau,« keuchte der Sterbende, »was glaubt Ihr, wird sich meine Mutter meines armen Weibes und seines Kindes in Liebe erbarmen?« Mit eiserner Anspannung seiner letzten Kräfte hielt er sich auf den Ellenbogen gestützt aufrecht und sah forschend der Freihoferin ins Gesicht. Diese aber rührte sich nicht, ihre Züge waren steinern. »Ihr überlegt?« fuhr er hastig fort, und der Atem drang pfeifend aus seinem Munde, während den abgezehrten Körper heftige Fieberschauer erzittern ließen. »Ja, überlegts Euch reiflich, doch tuts rasch, bitt’ ich Euch, sonst möchte Euer Spruch mir zu spät kommen!« Aber die Greisin antwortete nicht, noch immer verharrte sie regungslos. Da drohte dem Jüngling, die Kraft auszugehn. Mit übermenschlichem Willen widerstand er der Schwäche und stieß hervor: »Beim ewigen Gott, Weib, sprecht! Vielleicht habt auch Ihr ein Kind, dem einstmals ein Mensch das Sterben mit ein paar Worten erleichtern könnte -- -- --« In diesem Augenblick neigte sich die Freihoferin rasch über den Liegenden und sprach mit kaum vernehmlicher Stimme: »Eure Mutter wird sich der armen Verlassenen erbarmen, mein Sohn!« Der Getröstete aber war mit diesen Worten nicht zufrieden. Noch einen letzten Anlauf nahm er zum Leben. Warnend erhob er den Zeigefinger, und drohend entfuhr es den blutlosen Lippen: »Weib, wollt Ihr Euer Gewissen noch im Alter mit einer Lüge belasten? Ihr vergeßt, daß meine Mutter einen Schwur tat -- -- --« Da beugte sich die Greisin tiefer zu ihm herab und sprach so leise, als wenn sie selbst ihre Worte nicht hören wolle: »Und Eure Mutter wird ihrem Kinde dennoch verzeihen!« Da entquoll dem Munde des Sterbenden ein befreiender Seufzer, und er sank wieder in die Kissen zurück. Seine Augen irrten nicht mehr unstät umher, sondern waren jetzt ruhig aufwärts gerichtet. 12. Kapitel. Max war in mißmutiger Stimmung heimgekehrt. Der Prozeß war noch nicht entschieden und drohte allem Anschein nach keinen günstigen Ausgang für ihn zu nehmen. Und doch war Max von seinem Rechte überzeugt und verstand nicht, wie die Richter daran zweifeln konnten, daß das saftige Stück Wiese dicht an der Gemarkung von Zehmen ihm zugesprochen werden müsse. Friesens unerwartete Abreise hatte seine Verstimmung vergrößert, die selbst dann noch nicht ganz wich, als er die Kunde vernahm, daß seines Freundes und Elisabeths Herzen sich gefunden hatten. Den Zustand der Schwester fand Max viel besser als er vor seiner Abreise gewesen war. Und seltsam, Elisabeth schien auch in der Tat nicht mehr so zu leiden, wie in den letzten Tagen. Der Husten war weniger heftig und schmerzhaft; sie verspürte Lust zum Essen und versuchte sogar wieder, mit dem Bruder zu scherzen. Auf dem Hofe fand Max neuen Verdruß. Ein schwerbeladener Wagen war auf eine weiche Stelle gekommen, wodurch das eine Hinterrad tief in den Boden eingesunken war. Vergebens schlug der Knecht mit der Peitsche auf die Pferde ein, aber die starken Ackergäule brachten trotz aller Anstrengung den Wagen nicht vorwärts. Mit zusammengezogenen Brauen stand Max abseits und schaute auf Hermann Lehnhardt, der im Verein mit zwei Knechten bemüht war, das Hinterteil des Wagens aus der tiefen Radspur herauszuheben. Aber sie sahen das Vergebliche ihres Versuchs gar bald ein, und schon wollte einer der Knechte forteilen, um eine Winde herbeizuholen, als ihn ein unwilliger Ruf zurückhielt. Im nächsten Augenblick bückte sich der junge Freihofer unter den Wagen und stemmte auf der herabgesunkenen Seite die Schulter an; -- ein Knirschen und Knacken, das Hinterteil des Wagens hob sich, und dann stand das Rad wieder auf festem Boden. Ruhig, nur das Gesicht vor Anstrengung stark gerötet, trat der Freihofer zurück. Nach diesem erfuhr er, daß der erst vor kurzem gekaufte, junge Zuchtstier sich gestern von der Kette losgemacht habe und auf den gerade mit einem Bund Heu in den Stall eintretenden Knecht losgerannt sei. Zum Glück war es diesem aber noch gelungen, die Stalltür hinter sich zuzuwerfen und so zu verhindern, daß das Tier auf den Hof stürmen und Schaden anrichten konnte. Allerdings war nun der Mann auf diese Weise mit dem aufgeregten Tier in dem interessanten Halbdunkel des Stalles allein geblieben. Und da hatte er, weil der Stier ihn hart bedrängte, die Heugabel ergriffen und mit ihrem eisernen Ende den Zudringlichen ein paarmal sorgfältig auf den mächtigen Schädel geschlagen, daß es vernehmbar gedröhnt hatte. Diese recht verständliche Mißbilligung seines Tuns hatte denn auch dem verdutzten vierbeinigen Sausewind eingeleuchtet, denn er ließ daraufhin von dem wehrhaften Knecht ab und konnte von diesem wieder in seinen Stand geführt und gehörig festgemacht werden. Als aber kurze Zeit darauf Hermann den Stier besah, stellte sich heraus, daß zwei der langen Gabelzinken dem Tier tief in das Fleisch des Nackens gedrungen waren. Trotzdem Hermann die beiden blutenden Wunden alsbald ausgewaschen und Vorsorge getroffen hatte, daß die erhitzte Stelle während der Nacht mit nassen Tüchern gekühlt wurde, zeigte die Umgebung jetzt starke Schwellung. Zudem war dem Stier die Freßlust vergangen, denn er hatte heute noch kein Futter angerührt. Max verdroß dieser Vorfall sehr. Er schalt laut auf den Knecht, der so ungeschickt gewesen sei, den Stier zu verletzen. Denn wenn es nicht gelang, die drohende Eiterung der, wie es schien, verunreinigten Wunden zu verhindern, konnte das wertvolle Tier an der Verletzung zugrunde gehen. Hermann trat achselzuckend von dem Stier zurück und meinte, der Mann wäre gut und es träfe ihn eigentlich keine Schuld, da der Stier die Kette zerrissen habe. Ein Mensch, der seine Geistesgegenwart weniger gut bewahrt hätte, hätte dem blind draufgehenden Vieh vielleicht die Gabel in die Brust gestoßen, was noch schlimmer gewesen wäre. Da wurde Max zornig, und er gab seinem Verwalter zu verstehen, daß er es angemessener fände, wenn er die Sache seines Herrn besser verträte, anstatt den ungeschickten und kopflos gewordenen Knecht herauszureden. Diese Worte verdrossen nun wieder Hermann gewaltig, der in bestem Bewußtsein, das Interesse seines Brotherrn jederzeit wie sein eigenes zu wahren, den Vorwurf für ungerecht fand. Er begehrte hart auf und deutete darauf hin, daß der Mann eine Frau und zwei kleine Kinder habe, und es ihm keiner verdenken könne, wenn er sein bedrohtes Leben verteidige sogut er könne. Er, Hermann, würde in solchem Falle ebenso handeln, ohne in diesen Augenblicken danach zu fragen, ob das Tier dabei totgeschlagen werde. Max war die Zornesröte ins Gesicht gestiegen. Aber er dämpfte seine Stimme, als er den Verwalter heftig anfuhr: »Was führt Ihr da für eine Sprache, Hermann! Wißt Ihr denn nicht, zu wem Ihr redet, oder habt Ihr den ganzen Tag in der Schenke gesessen? Ich habe mich doch geirrt, wenn ich Euch bisher vertraut habe, denn Ihr verdientet mein Vertrauen nicht.« Während dieses Wortwechsels hatten sich die beiden Männer der Stalltür genähert und waren zuletzt auf den Hof getreten, wo gerade die ersten Geschirre vom Felde nach Feierabend zurückgekehrt waren. Hermann war bei den letzten Worten Maxens wie unter einem heftigen Schmerz zusammengezuckt. In seiner Brust schlummerten zwei Temperamente nebeneinander. Die ruhige Gemütsanlage besaß er von seinem Vater, dem getreuen Sohn, der mehr als ein halbes Jahrhundert im Dienst der Tiefenbachs gestandenen Mutter Lehnhardt, und Gutmütigkeit war daher sein ausgesprochenster Charakterzug. Ganz tief drinnen aber in seinem Herzen glimmte wie ein winziger Funke wilde Heftigkeit. Diese Eigenschaft besaß er von seiner Mutter, dem Weibe vom Ufer der Etsch, mit den leidenschaftlichen, schwarzen Augen und den herrlichen Elfenbeinzähnen. Und dieser in tiefer Verborgenheit schlummernde Funke sollte jetzt zur hochaufschlagenden Flamme angefacht werden. Max war vor dem Verwalter aus dem Stall gegangen. Kaum hatte er seine letzten Worte ausgesprochen, war Hermann mit einem Satz auf ihn zugesprungen, daß er dicht vor seinem Herrn stand. Seine Augen funkelten vor Erregung und seine Fäuste waren geballt. »Wie,« keuchte er, »könnt Ihr meine Redlichkeit in Zweifel ziehen? Und wenn ich einen Ton anschlug, den Ihr für unangemessen fandet und den ich selbst noch nicht an mir gekannt habe, so seid nur Ihr mit Euren verletzenden Worten es gewesen, der mich dazu herausforderte. Ihr müßt nicht denken, daß ich wie ein Hund die Hand lecke, die nach mir schlägt!« Max hatte die in höchster Erregung hervorgestoßenen Worte des Verwalters mit scheinbarer Ruhe angehört, aber in seinem Innern hatte er gebebt. Beinahe hätte ihn der Zorn übermannt, doch war es ihm mit ungeheurer Überwindung gelungen, seiner Leidenschaft Herr zu bleiben. Er trat einen Schritt zurück, um durch eine zufällige Berührung den Wütenden nicht noch mehr zu reizen und sagte, sich zur Ruhe zwingend, mit leise zitternder Stimme: »Es ist gut für jetzt, Lehnhardt. Verlaßt von dieser Stelle aus den Hof und geht nach Hause. Morgen sprechen wir uns weiter.« Und mit diesen Worten wandte sich Max um und gab einem der die Pferde ausspannenden Knechte die Weisung, zusammen mit dem Großknecht heute Abend nach dem Rechten zu sehen. Aber auf den noch immer in drohender Haltung Stehenden übte Maxens kühle Besonnenheit keine beruhigende Wirkung aus, vielmehr schürte die Ruhe des Gegners nur noch die Flamme seines Zorns an und machte ihn vor Wut sinnlos. »Bauer! --« schrie Hermann mit überschnappender Stimme, »Ihr habt an meiner Ehrlichkeit gezweifelt. Wollt Ihr Euer Wort zurücknehmen, oder es gibt ein Unglück -- --!« Max war blaß geworden. Stumm und ohne einen Entschluß zu finden, stand er vor dem Wütenden. Da zuckte Lehnhardts Faust, -- in demselben Augenblick fuhr Max herum, riß dem nächsten Knecht die Peitsche aus der Hand, und noch bevor Hermann den Schlag führen konnte, wickelte sich schon der Peitschenriemen um seinen Körper. Es trifft sich oft im Leben, daß Menschen, deren Zorn aus geringfügiger Ursache hoch aufwallt, ihre Besonnenheit ebensoschnell wiedererhalten, wie sie ihnen verloren ging. Sei es nun, daß es der Leidenschaft an innerer Kraft gebricht, sich nach dem ersten Aufbäumen längere Zeit auf der unnatürlichen Höhe zu halten, sei es, daß die dem Aufblitzen der Gluten wie der Donner folgende Katastrophe die heftige Gemütserregung ihrer Stützen beraubt, -- gleichviel; der emporgeloderte Zorn bricht sehr oft jäh in sich zusammen, und die weit über Maß in Anspruch genommen gewesenen Kräfte sinken tief hinab. Der vordem verdunkelte Blick ist zur Beurteilung der Sachlage mit einem Male wunderbar geschärft; kühle Ueberlegung stellt sich ein, und eine ausdrucksvolle Stimme im Innern hebt zu sprechen an, die unerbittlich die eigene Schuld feststellt oder den Vorwurf ausspricht, daß dem Menschen die Kraft zur Beherrschung der Leidenschaft gefehlt habe. Zuweilen reißt der Niedersturz die geistige Spannkraft ebenso tief mit hinab, wie sie vorher emporgeschnellt war, und der Zornbebende, der mit funkelnden Augen und angespannten Fibern wie eine Vereinigung ungeheurer Willens- und Körperkraft erschien, bietet hinterher mit seinem gebrochenen Blick und der schlaffen Haltung ein klägliches Bild. So war auch Hermanns Zorn urplötzlich verrauscht. Als Max die Peitsche in der Faust hielt und zum Schlage ausholte, durchschoß Lehnhardt die Erkenntnis, unbesonnen gehandelt zu haben. Die Beleidigung für ihn war gesprochen und darüber sich zu entrüsten, wäre sein gutes Recht gewesen. Aber seinen Herrn zu bedrohen --, damit hatte ihm der Zorn, der ihn aller Besinnung beraubt hatte, einen Streich gespielt. Mit der blitzschnell überkommenen Nüchternheit hatte Hermann, noch bevor er unter dem Peitschenhiebe zusammenzuckte, auch den Entschluß gefaßt, den Freihofer nicht noch einmal zu reizen, sondern ruhig vom Hof zu gehen. Aber in seinem bisher besonnen gebliebenen Gegner waren jetzt die Riegel gelöst, die seinen Zorn zurückgehalten hatten. In dem Augenblick, in dem Lehnhardt sich zum Gehen wandte, traf ihn die Peitsche von neuem; ja, Maxens Wut verlangte nach einem dritten Schlage. Aber er bekam die Peitsche nicht frei, da sich der Riemen um Lehnhardts Füße geschlungen hatte. In schäumendem Zorn riß Max den Peitschenstock zurück, -- da verlor Lehnhardt das Gleichgewicht und fiel heftig auf den gekrümmten linken Arm. Jetzt hielt Max im Schlage inne, als er den Mann am Boden liegen sah, warf die schon wieder erhobene Peitsche auf die Erde und ging in den Stall zurück. Hermann Lehnhardt blieb einige Sekunden auf dem steinernen Pflaster vor dem Stalle liegen. Dann stand er mühsam auf, unterstützte mit der rechten Hand den augenscheinlich verletzten linken Arm und verließ, ohne sich noch einmal umzusehen, den Freihof. * * * * * Mit besonderer Sorgfalt hatte Max anschließend an diesen Vorfall die abendliche Runde durch den Hof gemacht, weit mehr aus dem Grunde Zeit zu gewinnen, um seine ungeheure Erregung verflüchten zu lassen, als den fehlenden Verwalter zu ersetzen. Ruhiger geworden, betrat er eine Stunde später die Wohnstube, wo die Mutter schon an dem gedeckten Tisch saß und ihn zum Abendessen erwartete. Mit kurzem Gruß und indem er es vermied, dem Blick der Mutter zu begegnen, nahm er ihr gegenüber Platz. »Wie geht es Elisabeth,« fragte Max, »ich wäre gern noch einmal zu ihr gekommen -- --« »Sie befand sich auch am Abend ziemlich wohl,« antwortete die Freihoferin »und schläft jetzt. Störe sie nicht.« Das Mahl verlief schweigsam, keiner von beiden empfand Lust zu sprechen. Endlich schob die Mutter den Teller zurück und erhob sich, um ihren allabendlichen Platz am Krankenbett einzunehmen. Da stand auch Max auf, räusperte sich heftig und stieß heraus: »Mutter, ich habe den Hermann heute Abend vom Hofe weisen müssen.« Die Alte hatte sich an das Fenster gestellt und schaute schweigend in die Dunkelheit hinaus. Bei des Sohnes Worten wandte sie sich langsam um und versetzte: »Ich habe es gehört.« »Es ist nicht das erste Mal gewesen, daß ich mich über ihn sehr ärgern mußte. Er hat viel Gutes, aber sein Wesen gefiel mir trotz alledem nicht. Er wollte nur immer allein anordnen und unterließ oft mich zu fragen, bevor er wichtige Dinge ausführte. Hinterher erst erfuhr ich’s. Aber man kann ja nicht überall sein. Ich werde ihn in der ersten Zeit recht vermissen, dann wird es aber umso besser gehen. Was meinst Du darüber?« »Du wirst wissen was Du tust,« entgegnete die Freihoferin kurz. In Max regte sich der Unmut bei diesen Worten, und er wäre gern aufgefahren, aber es war ja seine Mutter die so sprach, und er hatte es von Jugend auf nicht anders gekannt, als sich ihr unterzuordnen. Noch niemals war es ihm in den Sinn gekommen, sich gegen sie aufzulehnen. Deshalb unterdrückte er seine Verstimmung und sagte nur: »Es war anders nicht möglich, ich mußte ihn fortschicken.« »Du bist der Herr auf dem Freihofe,« klang es zurück. Diese Teilnahmlosigkeit reizte Max von neuem, und sein Ton hatte einen schlecht unterdrückten, scharfen Klang, als er hervorstieß: »Und züchtigen mußte ich ihn, das hatte er verdient!« »Ich gebe es zu, denn der Knecht darf sich nicht gegen seinen Herrn auflehnen,« lautete die rasche Antwort. Max verstand seine Mutter nicht recht. Forschend sah er ihr ins Gesicht, in dem sich kein Muskel bewegte. Da wandte sich der junge Freihofer ab und verließ das Zimmer. Die Greisin blieb in steifer Haltung am Fenster stehen und blickte sinnend durch die Scheiben. Mit einem Male stieß sie das Fenster hastig auf und rief den Mann an, der unter den Bäumen des Obstgartens herumlief. Es war der Großknecht, ein älterer Mann, der schon seit länger als zwanzig Jahren auf dem Freihofe war. »Anton!« rief die Freihoferin zum Fenster hinausgebeugt in halblautem Tone. Der Angerufene sah sich um und kam herbei. »Hat die Mutter Lehnhardt schon ihr Deputat für den Mai?« fragte sie leise. »Für den Mai?« antwortete Anton, »für den Mai, Bäuerin? Nein, wir sind ja noch im April.« »Dann tragt ihr’s noch heute Abend hinauf,« versetzte die Greisin. Darauf schloß sie das Fenster wieder und der Knecht lief den Weg zurück. In demselben Augenblicke aber, in dem er um die Scheunenecke biegen wollte, klang es hinter ihm her: »Anton! Die Mutter Lehnhardt bekommt fortan nicht mehr ein Quart, sondern einen Halben Kartoffeln und anstatt der einen Speckseite zwei!« Klirrend schloß sich das Fenster. Ein paar Sekunden blieb der Mann stehen, die Augen dorthin gerichtet, wo die Gestalt der Freihoferin eben verschwunden war. Endlich ging er davon, sein Gesicht zu einem gutmütigen Grinsen verziehend. * * * * * Einige Tage waren darüber hingegangen. Der Regen floß in Strömen vom Himmel herab, und Max, dessen Gegenwart draußen notwendig gewesen war, war gegen Mittag, naß wie eine Katze zurückgekommen. Am Nachmittag mußte er am Schreibtisch arbeiten. Der Regen hatte endlich aufgehört, und ein heftiger Sturm hatte sich erhoben, unter dessen Stößen die Fensterscheiben klirrten. Max war in seine Bücher vertieft, als sich die Tür auftat und Pastor Reinerz ins Zimmer trat. Beim Anblick des Greises konnte sich Max einer leichten Verlegenheit nicht erwehren, denn er meinte zu erraten, was diesen zu ihm führe. »Grüß Euch Gott, Herr Max,« begann der alte Herr nach einem warmen Händedruck, und noch bevor Max ihm geantwortet hatte, schob er sich einen Stuhl näher zum Schreibtisch und setzte sich neben den unsicher Dreinschauenden. »Ich komme von Eurer Schwester, der es besser geht als ich zu hoffen wagte, und nun wollte ich an der Tür nicht vorübergehen, ohne Euch einen Gruß gesagt zu haben,« hob Reinerz an, während Maxens Beklommenheit bei den ruhigen Worten zu weichen begann. »Das Kind besitzt einen hohen Schatz, den es uns allen voraus hat. Sie ist nämlich einer jener seltenen Menschen, die keinen Feind haben,« plauderte der Greis. »Damit mögt Ihr recht haben, Herr Pastor« entgegnete Max. »Ich wüßte auch wahrhaftig nicht, wer dem Kinde gram sein sollte.« »Ja, ein Günstling des Schicksals ist der, bei dem solches zutrifft,« sprach Reinerz und strich liebkosend mit den Fingern die weißen Fäden des langen Bartes. »Viel Feind, viel Ehr, sagt das Volk. Nun, das ist nicht unrichtig. Wie viele Menschen gibt es aber schon, denen die Feinde mit dem Amt zu gleicher Zeit beschert werden. Es ist ein nur Wenigen beschiedenes Glück, sagen zu können: ich besitze keinen Widersacher.« »Das ist wahr,« antwortete Max, »wenn Ihr sagt, daß manchem mit dem Amt auch Feinde erstehen, ja sie sind bereits da, bevor das nicht selten dornenvolle Amt einen einzigen Freund verschaffte. Dafür heißt leben kämpfen. Bald gesellen sich zu dem anstürmenden Schicksal auch feindlich gesinnte Mitmenschen, gegen die zu streiten bisweilen recht aufreibend ist. Glücklich ist der, dem ein stiller Winkel abseits des Planes, auf dem täglich die Kräfte gemessen werden, beschieden wurde. Er ist der Begünstigte, der, den das Schicksal liebt.« »Ja, ja, mein junger Freund, geradeso, wie Ihr es schildert, ist der Lauf der Welt,« versetzte der Greis. »Aber es genügt nicht allein, an einer geschützten Stelle zu stehen, wo die Wetter nicht brausen. Wer der Gunst des Schicksals gegenüber blind ist, der verläßt seinen schirmenden Unterstand. Er begibt sich in die Gefahr und kommt nicht selten darin um. Das weise Sichbescheiden auf den schmalen Raum, worauf man gestellt wurde und den vielleicht nur verblichene Sonnenstrahlen trafen, ist die große Lebenskunst, die nur wenige verstehen, und an deren Erfüllung täglich Hunderttausende scheitern. Eure Schwester ist einer jener klugen Menschen, denen ihr Haus nicht zu eng wurde. Sie begnügte sich mit dem Stückchen Boden, das das Schicksal ihr zugedacht hat. Das aber bebaute sie emsig und hatte die Freude, viele herrliche Blumen um sich herum gedeihen zu sehen. Nun, diese Blumen sind Eurer Schwester edle Tugenden und Eigenschaften, und die Menschen, die sich an dem Anblicke der Blumen ergötzen, sind Elisabeths Freunde.« Der Greis hielt im Sprechen inne, blickte eine Weile vor sich nieder und richtete dann seine durchdringenden Augen auf Max, der die eben entschwundene Beklommenheit unter diesem Blick wieder herannahen fühlte. Dann fuhr Pastor Reinerz ruhig fort: »Aber nicht nur Eurer Schwester sollte heute mein Besuch gelten, es verlangte mich auch, Euch selbst zu sprechen. Ihr werdet fühlen, was mich heute zu Euch führt, Max. Vielleicht habt Ihr den alten Reinerz auch schon erwartet.« Max hatte die Augen von dem Gesichte des Greises weggewendet und sah zum Fenster hinaus. Bei den letzten Worten Reinerz warf er den Gänsekiel, mit dessen Fahne er bisher gespielt hatte, auf den Schreibtisch. »Wo zwei Menschen im heftigen Zorn voneinander geschieden sind ist es gut, daß ein gemeinsamer Freund zwischen sie tritt, um ihren Groll zu besänftigen und sie wieder mit einander auszusöhnen. Der Wunsch, dieser gute Vermittler zu sein, hat mich zu Euch geführt.« Pastor Reinerz konnte nicht weiter sprechen. Max hatte schon wiederholt den Versuch gemacht den Redenden zu unterbrechen, war aber durch die abwehrende Handbewegung des Greises daran gehindert worden. Jetzt fuhr es Max heraus: »Ihr seid gütig, Herr Pastor, aber es ist nicht möglich, daß ich von Euerm freundlichen Anerbieten Gebrauch machen kann. Einer Vermittlung zwischen einem meiner Leute und mir bedarf es niemals. Wer mich beleidigt hat tut am besten, den Weg zu mir selbst einzuschlagen. Aber in diesem Fall wäre der Versuch Lehnhardts, meine Verzeihung zu erhalten, verfrüht. Der Unmut ist noch nicht von mir gewichen, deshalb müßte ich ihn, wenn er heute oder morgen zu mir käme, abweisen. Er hat zu schwer gefehlt. Und nun würde ich’s Euch danken, wenn Ihr von etwas anderem sprechen wolltet.« Aber der Greis war der Meinung, daß hierüber noch lange nicht genug gesprochen worden sei, deshalb begann er wieder: »Es ist heute noch so, wie es vor hundert und aberhundert Jahren schon war. Wenn zwischen zweien ein Streit entbrannt ist, fühlt sich selten einer von beiden im Unrecht. Ich will mich ja auch garnicht der Aufgabe unterziehen, zu ergründen, nach welcher Seite sich in diesem Fall das Recht neigt. Denn ich bin nicht gekommen, den Richter zwischen Euch und dem Hermann zu spielen, sondern als Freund zu vermitteln.« »Ich wünsche aber keinen Vermittler,« unterbrach Max ungeduldig den Sprecher. Doch ließ sich dieser nicht beirren, sondern fuhr fort: »Wer will es hindern, daß die Leidenschaft, die sonst immer im festen Zügel liegt, nicht einmal durchbricht und ihres Meisters spottet. Du lieber Gott, es ist ja so überaus schwer einen Vorwurf dafür zu machen. Der Leidenschaftslose hat freilich leichtes Urteil über den Temperamentvollen. Eins aber muß man von dem Mann fordern dürfen: daß er dann, wenn die Wogen des Zornes sich geglättet haben bereit ist, die Schuld, die er beim Ausbruch seiner Heftigkeit auf sich lud, wieder einzulösen. Auch Ihr habt gefehlt und tätet gut, wenn Ihr mit mildem Auge die Schuld des Andern betrachten wolltet.« Max hatte nur mit großer Beherrschung seine Ungeduld verbergen können. Jetzt erhob er sich hastig, trat einen Schritt zurück und sprach in entschiedenem Tone: »Herr Pastor, ich kann begreifen, wenn Ihr es als Eure Aufgabe betrachtet zu schlichten, wo Streit entbrannt ist. Es gibt aber keine Streitenden, wo das sich auflehnende Gesinde von seinem Herrn gezüchtigt werden muß. Ihr werdet den Vorfall soweit kennen, daß Ihr auch wißt, wie lange Zeit ich mich beherrschte, bevor mich der gerechte Zorn übermannte.« Langsam erhob sich auch Pastor Reinerz und sprach: »Ich hätte geglaubt, Euch versöhnlicher gestimmt zu finden. Seht, Max, ich bin ein alter Mann, der in seiner Jugend auch ein rechter Hitzkopf gewesen ist. Deshalb weiß ich es nur zu gut, wie leicht der Zorn die kühle Überlegung zur Seite drängt. Sagt, wäre es Euch nicht möglich, das Unrecht, soweit es Euch trifft, wieder gut zu machen?« Da begehrte Max heftig auf: »Mein Unrecht? Was für ein Unrecht beging ich denn?« »Das Unrecht, daß Ihr Hermann Lehnhardt reiztet, so daß er sich vergaß und daß Ihr Euch vom Zorn hinreißen ließet.« »Nun, und Ihr vergeßt ganz, daß der Knecht den Arm erhob gegen seinen Herrn.« »Das eben war die Folge Eures Zweifels an seiner Ehrlichkeit,« versetzte der Greis ruhig. »Hermann Lehnhardt ist ein schwerblütiger Bauer, den manches gleichgültig läßt, was einem andern das Blut in die Schläfen jagen würde. Aber wie so viele seinesgleichen kann er auch heftig in Zorn geraten, daß ihn die Überlegung vollständig verläßt. Ihr wißt, der gute Ruf ist ein Kleinod, das sich unsere Bevölkerung, gottlob, mit Stolz bewahrt. Ihr habt Euern Verwalter aber der Unredlichkeit verdächtigt -- --« »Nun ists genug, Herr Pastor,« unterbrach Max den Sprecher mit Festigkeit, »ich habe jetzt keine Geduld mehr, Euch länger zuzuhören.« »Ihr vergrößert durch Eure Halsstarrigkeit aber nur das Unrecht, das Ihr begangen habt,« antwortete erregt der Greis. »Dann werde ich die Folgen zu tragen wissen,« entgegnete der Freihofer herrisch. Stumm standen sich die beiden Männer gegenüber und tauchten ihre Blicke ineinander. Eine dumpfe Ahnung raunte jedem von Ihnen zu, daß die Erinnerung an diesen Augenblick in ihnen noch einmal mit aller Lebendigkeit heraufkommen würde. Das aber konnte keiner von beiden ahnen, daß jene Stunde, in der sie sich wie heute Auge in Auge gegenüberstehen und dieses Vorfalls erinnern sollten, zermalmenden Schmerz mit sich gebracht haben würde. 13. Kapitel. Es war am späten Nachmittag, als vom untern Eingang her auf schaumbedecktem Pferde ein Reiter die Dorfgasse hinaufsprengte, ein junger Bursche von etwa achtzehn Jahren. Er mußte einen tollen Ritt hinter sich haben, denn der schweißtriefende Gaul schnaubte heftig und stolperte fast über seine Beine. Trotzdem verminderte der Reiter die Geschwindigkeit nicht. Das Dorf war wie ausgestorben, da alles draußen auf den Feldern zu tun hatte. Die Wenigen, die aber noch in den Häusern zurückgeblieben waren, wurden von dem klappernden Hufschlag aufgescheucht und sprangen an die Fenster, um nach dem vorbeistürmenden Reiter zu sehen. Als der Bursche in der Nähe der Kirche angekommen war, sah er drüben von der Anhöhe einen Wagen herabkommen, auf dem einige Knechte saßen. Er hielt sein Pferd an und rief mit lauter Stimme hinüber: »Heda, Ihr Leute, wo wohnen hier die Tiefenbachs?« »Reitet noch ein kurzes Stück,« klang es zurück, »dort oben, wo Ihr die beiden großen, mit Ziegeln bedeckten Scheunen seht.« Er wandte den Blick in die bezeichnete Richtung und trabte weiter. Wie er nahe an den Hof herangekommen war, sah er vor dem Hoftor auf der Straße einen Mann von hünenhaftem Wuchse stehen. Der Reiter trieb sein Pferd heran und blieb vor jenem halten. Mit seinem Haselstock auf das Gut zeigend, fragte er: »Ist das der Hof, auf dem die Tiefenbachs sitzen?« Der Angesprochene sah den Reiter verwundert an und antwortete: »Das ist der Freihof, und ich bin Max von Tiefenbach.« Da flog ein Zug der Befriedigung über das glühende Gesicht des Burschen. Eilends riß er das Wams auf, griff hinein und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor, das er dem vor ihm Stehenden reichte. »Hier, nehmt und beeilt Euch! Der das geschrieben hat sagte, es gelte, einer Sterbenden noch etwas Liebes zu erweisen, und daraufhin bin ich geritten, als wenn ich zum Tode meiner Mutter noch zurecht kommen müsse.« Hastig griff Max nach dem Papier, riß es auseinander und las seinen Inhalt. Und während er las, preßte er die Lippen so heftig aufeinander, daß sie weiß wurden. Langsam sank endlich die Hand mit dem Schreiben herab, während er den Blick zu Boden richtete. Aber die Stimme des Reiters riß ihn aus seinem Brüten: »Diese Börse soll ich Euch aushändigen,« sprach er, »sie enthält die ganze Barschaft meines Auftraggebers, und hier ist seine goldene Repetieruhr. Sonst hat er mir nichts aufgetragen.« Max kämpfte seine Bewegung nieder und antwortete: »Gebt her die Uhr. Den Beutel behaltet für Euern Ritt, denn auf diesem Gaule werdet Ihr wohl kaum wieder zum Dorfe hinauskommen. Sattelt ab und laßt Euch zu essen geben.« Mit diesen Worten wandte er dem Reiter den Rücken und ging eilends nach dem Wohnhause. Der Bursche sprang vom Pferde, liebkoste das völlig erschöpfte Tier und zog es langsam auf den Hof. * * * * * In verschwenderischer Fülle drangen die schrägen Sonnenstrahlen des scheidenden Tages in Elisabeths Zimmer und erfüllten es mit goldenem Glanze. Die Kranke lag im Bett und hielt die Hand der neben ihr sitzenden Mutter in der ihrigen. Ihr Gesicht trug den Ausdruck schweren Leidens und war eingerahmt von dem üppigen Blondhaar. Keines von ihnen sprach ein Wort. Da öffnete sich die Tür, und Max trat ins Zimmer. Mit leisen Schritten näherte er sich dem Bett und berührte mit der Hand schmeichelnd die Wange des Mädchens. »Ich habe etwas für Dich, meine kleine Liesbeth,« sagte er und hob die Hand mit dem Papier hoch auf. Die Kranke betrachtete eine kurze Weile in hoher Spannung das Gesicht des Bruders. Dann überlief ihren Körper ein Zittern und sie flüsterte: »Max, lieber Max, wäre es möglich?« Und mit gedämpfter Stimme las dieser die folgenden wenigen Zeilen: Meine inniggeliebte, süße Braut! Während ich diese Worte niederschreibe, fließt mein warmes Herzblut unter mir dahin, und ich merke, daß es mit mir rasch zu Ende geht. Ich benutze die kurzen Minuten, die ich noch zu leben habe, um Dir, Du Gute, meine letzten Grüße zu sagen. -- Als ich nach Leipzig kam, packte auch mich die Begeisterung, die in dieser Stadt herrscht. Ich wandte der schwankenden sächsischen Sache den Rücken und verband mich den schwarzweißen Farben. Heute habe ich unter Blüchers Leitung um das Dorf Großgörschen gekämpft. Nachdem ich schon kleine Verletzungen erlitten hatte, wurde mir zuletzt die linke Schulter und Brust von einem französischen Säbel zerhauen. Ich zürne ihm nicht, nein, ich danke ihm dafür! Es wäre ein freudenloses Leben gewesen --! Mein letzter Herzschlag gehört Dir, Du inniggeliebtes Mädchen. Schon überkommt mich eine unwiderstehliche Müdigkeit; mit dem Gedanken an Dich will ich einschlafen. Habe Dank für Deine Liebe, die mich so glücklich macht, daß ich dem Sterben entgegenlächeln kann. Einen innigen Kuß drücke ich auf die Blumen, die ich Dir sende. Auf baldiges Wiedersehen, mein süßes Lieb, -- -- über den Sternen! Dein bis in den Tod getreuer Bernhard von Friesen. Elisabeths Gesicht strahlte in überirdischem Glanze. Schneller als sie es im Leben erreicht hätte, sollte sie mit dem Geliebten im Tode vereinigt sein. Ihre Augen suchten das Himmelsblau, in dem vielleicht in diesem Augenblick seine Seele zu den lichten Höhen schwebte. Dann richtete sie die strahlenden Augen auf die Mutter und den Bruder, ergriff die Hände ihrer Lieben und sprach: »Ach, Mutter, ich hätte nicht gedacht, daß das Sterben so schön sei!« Just um diese Stunde begann mit schwerem, unhörbarem Flügelschlage der Todesengel über dem Freihof seine Kreise zu ziehen -- -- -- Max hatte das Zimmer leise wieder verlassen, derweilen Elisabeth mit geschlossenen Augen ruhte. Die dem Briefe beigelegenen, an einem Stengel vereinigten zwei Himmelschlüssel standen in einem Wasserglas neben dem Bett. Da öffnete plötzlich das Mädchen die Augen und tauschte wortlos einen langen Blick mit der Mutter. Dann fühlte diese, wie die heiße, kleine Hand sich auf die ihrige legte und sie sanft an sich zog. »Mein liebes, herzensgutes Mütterchen,« sagte die Kranke leise, »ich fühle, daß meine Zeit gekommen ist. Aber ich muß, bevor ich von Dir scheide, Dir ein Geheimnis anvertrauen, das mich tief traurig gemacht hat, das mich aber zuweilen auch im innersten Herzen mit seliger Lust erfüllte: Maria von Tiefenbach, meine Cousine, und Max lieben einander.« Und mühsam erzählte Elisabeth den Vorfall in der Kirche und schloß: »Als zuletzt Maria in ihrer tiefen Not die Worte ausrief, daß Max ihre Liebe besitze, blieb mein Bruder anfangs stumm, dann wurde er rauh zu ihr. Aber ich habe es dennoch gefühlt, daß seine Hand, die in der meinen lag, zitterte, wie die eines geängstigten Kindes. Ach, Mutter, wenn die beiden glücklich werden könnten -- --« Die Freihoferin saß weit vornübergebeugt zur Seite der Kranken. Ihr welkes Gesicht zeigte deutlich die Spuren der großen Anstrengungen der letzten Wochen. In diesem Augenblick aber sah es erschreckend fahl aus. Von neuem trafen sich die Blicke von Mutter und Kind, das seine Augen ängstlich forschend auf das starre Antlitz der Mutter gerichtet hatte. Aber nur einen Herzschlag lang währte diese Spannung. Dann überflog die Züge des Mädchens ein sonniges Leuchten und sie bat: »Bitte, gib mir meine Blumen, liebe Mutter.« Die Freihoferin griff nach dem Stengel, wobei ihre Hand so heftig zitterte, daß sie einige Male an dem Glase vorbeitastete und reichte dem Kinde wortlos die gelben Frühlingszeichen. Die Kranke lächelte beglückt, drückte die Blumen an die Lippen und bald ließen die regelmäßigen Atemzüge erkennen, daß der Schlaf ihre Sinne umfangen hatte. Kurz darauf kam Max wieder in die Kammer und setzte sich neben seine Mutter. Die Dämmerung brach herein, die Abendschatten sanken herab, und langsam zog der Mond herauf. Ein zitternder Strahl fiel auf das Bett und umspielte zwei zarte, weiße Hände, in denen eine welke Blume lag. Bleiern schlichen die Stunden dahin. Endlich verkündete der helle Ton von der Kirche her die Mitternachtstunde. Keiner der beiden Menschen, die an dem Lager der Schlafenden weilten, unterbrach die hehre Stille, die in dem Raume herrschte. Stumm saßen sie nebeneinander und schauten voll Andacht in das friedliche Engelsantlitz vor ihnen. Dann war der Mond seinen Pfad weiter gewandelt, und undurchdringliche Finsternis erfüllte das Zimmer. Am Morgenhimmel zogen die ersten lichten Schimmer leise herauf, als Max unter der leichten Berührung von der Hand seiner Mutter aufschreckte. »Es ist Zeit zu beten, Max,« sagte die Freihoferin mit heiserer Stimme. Darauf knieten sie an dem Bette nieder und sprachen in lautem Gebet einander Mut und Trost zu, während die lichtumflossene Gestalt, die zu Häupten der tiefaufatmenden Sterbenden harrte, die lebensmüde Seele empfing und hinaufgeleitete zu dem Lande der gestillten Sehnsucht und des Friedens. * * * * * Wie ein Lauffeuer hatte die Kunde von Elisabeths Tode das Dorf durcheilt. Doch setzte noch niemand seinen Fuß auf den Freihof, in der Besorgnis, daß seine Tröstungen in den gewaltigen Schmerz hinein schal klingen möchten. Auf dem Hofe schien alles Leben erstorben, so geräuschlos vollzog sich das notwendige Werk, das verrichtet werden mußte. Max bekam keiner zu sehen, er blieb in der Nähe der Mutter, die, wie er deutlich empfand, furchtbar litt. So saßen sie beide in der großen Wohnstube kein Wort sprechend, nur die Gegenwart des andern als Trost empfindend. Da klangen schwere Männertritte draußen im Hausflur. Gleich darauf tat sich die Tür auf, und ein Mann trat auf die Schwelle. Die Freihoferin und Max hatten sich umgewandt und starrten wie auf eine Erscheinung nach der Tür. Der Mann, mit dem hohen, schlanken Wuchse und der leichtgebeugten Haltung, der noch immer auf der Schwelle stand und dessen dunkles Haupthaar und Bart Silberfäden durchzogen, war der Schloßherr vom Weißen Schlosse, der Freiherr Arnold von Tiefenbach. Als er eine Weile unverwandt auf Mutter und Sohn geblickt hatte, zog er die Tür hinter sich zu und trat in das Zimmer. Die Freihoferin, die mit dem Rücken nach ihm saß, hatte sich wieder umgewandt und sah mit hartem Ausdruck vor sich hin. Langsam ging Herr Arnold auf sie zu und blieb dicht vor der Greisin stehen. Eine kurze Zeit tiefen Schweigens verstrich. Dann sagte der Angekommene in bittendem Tone: »Wirst Du mir es wehren, Base, wenn mich darnach verlangt, von der Gestorbenen Abschied zu nehmen? Nicht nur Dir ist Dein Kind genommen. Auch an mein Herz hat das Entsetzen gegriffen und ihm eine blutige Wunde geschlagen.« Der alte, gebeugte Man schwieg, als wenn er auf eine Antwort warte. Dann fuhr er fort: »Base, höre mich ruhig an, um der teuern Toten willen, die meine Worte unterstützen würde, dürfte sie noch unter uns weilen. Ich stehe als Bittender vor Dir, laß mich nicht unerhört von dieser Schwelle gehen. Denke, ich nähme allen Frieden und alles künftige Glück von diesem Hause mit fort, wenn Du mich abwiesest. Der tiefe Schmerz schlingt um uns ein unzerreißbares Band und bringt unsere Herzen näher aneinander. Und so bitte ich Dich denn, Base, -- -- gib Frieden! Laß Ruhe einziehen in meine alte Brust und in Dein gequältes, tief erschüttertes Herz. Laß uns nicht richten über die Toten, sie haben ihre Rechenschaft längst abgelegt und vielleicht auch Verzeihung erhalten; gewähre auch Du Verzeihung. Ein Hauch, der nichts mit der Irdischkeit gemeint hat, umweht uns in diesem Augenblick und mahnt eindringlich, jeder Schuld bloß zu sein, wenn die Stimme endlich auch uns ruft. So komm denn, Base, schlag ein. Nimm diese Freundeshand, die Du so lange zurückgestoßen und laß uns Versöhnung feiern an der Leiche Deines Kindes!« Max saß in einem hohen Lehnstuhl mit Armstützen. Seine Augen hingen an dem schmerzerfüllten Antlitz des Freiherrn, dessen Rede er mit Bewegung angehört hatte. Jetzt sah er voll quälender Erwartung auf seine Mutter. Konnte sie diesen Worten noch Widerstand entgegensetzen, den Worten, die alle Feindschaft in seiner Brust töteten und den heißen Wunsch nach Versöhnung jäh heraufkommen ließen? Aber die Mutter rührte sich nicht, sondern blickte noch immer unverwandt zu Boden. Da wurde der alte Freiherr weich. »Constanze,« flehte er, »auf diesen Armen hab’ ich Dein Kind oft getragen. Es nannte mich Vater und erzählte viele Male mit glänzenden Augen von seiner Mutter, die bei den Menschen als hart gelte und doch ein nach Liebe flehendes Herz besitze. Komm, denke Du könntest mit Deiner Verzeihung Deinem Kinde eine Wohnung inmitten der Seligen errichten. Gib Frieden, Constanze!« Mit fliegendem Atem sah Max hinüber. Ihm war, als könnte die Mutter nicht eine Sekunde länger zögern. Ihre schwere seelische Erschütterung war offenbar, und die Worte seines Onkels waren in ihrer Wehmut und Sehnsucht nach Schlichtung des alten Familienzerwürfnisses hinreißend. Aber die Freihoferin blieb stumm und sah mit zusammengekniffenem Munde hartnäckig vor sich nieder. Da ergriff der Freiherr von neuem das Wort und sprach: »Du hast Dein Kind unaussprechlich geliebt, ich weiß es; mit allen Fasern hingst Du an seinem schwachen Leben. Denke, es wäre ein geheimer Wunsch Elisabeths gewesen, unsere Familien in Frieden zu wissen. So lange sie lebte, hätte sie niemals eine solche Bitte ausgesprochen, denn die Scheu, der Mutter weh zu tun, würde das Kind daran gehindert haben. Aber wenn der Zeitpunkt gekommen ist, wo der Mensch den irdischen Staub abschüttelt, um die letzte Reise anzutreten, dann darf er das Siegel an seinem Munde zerbrechen. Vielleicht ist die teure Tote noch von dem Wunsch erfüllt gewesen, die Mutter zu bitten, den unseligen Zwist ihr mit ins Grab zu geben und sie besaß nur nicht mehr die Kraft, die Bitte auszusprechen -- --« Maxens Blicke hingen unverwandt an der Mutter. Er bemerkte, wie ihr Körper schwankte, und eine innere Stimme sagte ihm, daß, wenn je, jetzt der Augenblick gekommen sei, wo der Widerstand der Mutter zerbrechen mußte. Er hätte aufspringen mögen, um sich zu den Füßen seiner Mutter niederzuwerfen und ausrufen: »Mutter, sei barmherzig, und gewähre Dir und uns allen Frieden!« Aber das durfte er nicht wagen! Die Wandlung in ihrem Innern mußte von anderen bewirkt werden. Die Bitten des Sohnes hätten ihren Widerstand nur wiederaufrichten und stärken können. Der junge Mann, dessen Pulse hämmerten, mußte an sich halten, damit er dem Freiherrn nicht zurief, daß er seine Bitten wiederholen und Worte finden möge, deren Wärme den Zutritt zu dem schwer zugänglichen Herzen erzwingen müßten. Doch Worte voll Liebe und Weichheit müßten es sein, denn nur diese Eigenschaften waren geeignet seine Mutter zu rühren. Aber der Mann mit den gramvollen Zügen, der gewiß noch nie so wie jetzt zu einem Weibe gesprochen hatte, besaß keine Kraft mehr zu bitten. Sein Gesicht verfinsterte sich, und die Stimme zitterte leise vor bezwungenem Unmut als er wieder begann: »Constanze, achtest Du mein graues Haar nicht _mehr_? Willst du mich wie einen Schulbuben vor Dir demütigen?« Keine Antwort. Nichts, als eisiges Schweigen. Das Weib saß vornübergesunken und wie leblos im Stuhle. Max wartete noch mit angstvoller Spannung auf Worte seines Onkels, so wie er sie vorhin gesprochen hatte. Da klang es von dessen Munde schneidend und streng: »Ich habe geglaubt, Du besäßest für den Kummer anderer Menschen wenigstens einen kleinen Raum in Deinem Herzen. Nun aber weiß ich, daß deine Brust von Stein ist. Ich gebe es auf, künftig noch auf die Verwirklichung meines Lieblingstraumes hinzuwirken. Von Menschen wird Dein Handeln nicht mehr gerichtet werden, aber sieh zu, daß Dir die Worte nicht fehlen, wenn Du einst vor dem Throne des allmächtigen Gottes Dein Tun verteidigen mußt!« Diese Worte klangen wie Donnerschläge, und Max sah, daß seine Mutter, als der schneidende Klang ertönte, sich aus ihrer zusammengesunkenen Haltung aufrichtete und das Kinn heftig auf den Hals preßte, wie sie es zu tun pflegte, wenn sie dem Schicksal ihren eisernen Willen entgegensetzte. Nun war die Möglichkeit, die Mutter umzustimmen, für immer dahin. So weich wie vor wenigen Sekunden hatte er sie noch nie gesehen. Jetzt wandte sich der Freiherr von der Greisin ab und trat zu ihm hin. »Max,« sprach er und war bemüht, den scharfen Ton in seiner Stimme zu mildern, »willst Du nicht wenigstens zu mir halten, auf daß in dieser Stunde eine Brücke aufgerichtet werde, die spätere Tiefenbachs betreten können? Wollen _wir_ Freunde werden?« Die Blicke des jungen Mannes hatten während dieser Worte auf seiner Mutter geruht und tiefes Mitleid erfüllte ihn, als er daran dachte, welchen Schmerz er ihr zufügen würde, wenn er die dargebotene Hand annahm und wie vereinsamt die Mutter dann im Leben stünde. Noch sah der Freiherr erwartungsvoll auf den jungen Neffen nieder, bis sich ihre Augen begegneten. Da schlug Max den Blick zu Boden und warf gleichzeitig den Oberkörper mit einer unwilligen Bewegung heftig gegen die Lehne, daß der schwere Stuhl ein Stück zurückfuhr. Der Freiherr aber wandte sich betrübt um und ging, ohne noch einen einzigen Blick zurückzuwerfen, aus dem Zimmer. Max hörte, wie er seine Schritte nach Elisabeths Kammer lenkte und nach wenigen Minuten durch den hintern Ausgang das Haus verließ. Eine kurze Zeit saßen Mutter und Sohn ohne zu sprechen, beisammen. Max empfand dieses Schweigen wie eine ungeheure Last und er wäre der Mutter dankbar gewesen, wenn sie in diesem Augenblick ein paar freundliche Worte zu ihm gesprochen hätte, deren er so sehr bedurfte. Statt dessen erhob sich endlich die Mutter und ging mit langsamen Schritten nach der Tür. Max sah es und fühlte einen heftigen Schmerz in der Brust. Plötzlich stockte ihr Fuß, und es schien, als wenn sie zu dem Sohne kommen wolle. Aber nur einen Augenblick hatte dies Zögern gewährt. Dann ging sie entschlossen weiter und ließ Max allein in der Stube zurück. Da kam das Gefühl einer unerträglichen Vereinsamung über den jungen Mann, und er fühlte sich von der Mutter und allen verlassen. In demselben Augenblick, wo ihm die Kraft schwand, und er seiner Mutter für einen im Leben ohnehin nur selten von ihrer Seite empfangenen Zuspruch die Hände geküßt hätte, ging sie von ihm. Noch nie war ihm so schwer ums Herz gewesen, und gerade jetzt stand er allein. Der gute Engel des Hauses war dahingegangen! Der unselige Zwist zwischen den nahen Verwandten, der über dem Freihof wie eine drückende, schwarze Wolke hing, in allen seinen Räumen gespenstisch schwebte und in den Herzen seiner Bewohner nur selten rechte Freude hatte aufkommen lassen, dieses Verhängnis, das am Schicksalswege der Tiefenbachs unheildrohend kauerte, sollte aber nicht von ihnen weichen. Den edeln Mann, der sich dem Hause als Freund angeboten, hatte das Schweigen der Mutter für immer vom Freihof gescheucht, und mit ihm war sein Lebensglück dahingegangen! Ja, heraus damit aus dem gequälten Herzen; jetzt durfte er ohne zu erröten gestehen, daß die Gluten der Leidenschaft für Maria von Tiefenbach sein Innerstes aufwühlten und allen Frieden von ihm nahmen. Denn was ihn nur daran verhindert, vor dem herrlichen Mädchen damals in der Kirche, als ihre Seele verzweifelnd ihr tiefstes Geheimnis hinausschrie, niederzuknien und ihr seine innigste Gegenliebe zu gestehen, das wußte er jetzt. Nichts anderes hatte ihm die unbegreifliche Kraft gespendet, seine Leidenschaft im Herzen zu verschließen, als die Liebe und Ehrfurcht zu seiner Mutter. Damals fühlte er noch, mit welch starken Banden, die er unzerreißbar wähnte, er mit seiner Mutter verbunden war. Der wütendsten Anstrengungen, ihn von ihr zu reißen, hätte er mit Hohn gespottet. Jetzt aber, wenige Monate später, war es so ganz anders: der mächtige Anker, der ihn bisher davor schützte, daß die wild auf ihn einstürmenden Wogen sein Lebensschifflein mit sich fortrissen und hinaustrieben auf das Meer des Unfriedens und der Ruhelosigkeit, war geborsten. So sollte also der alte Groll auch fernerhin auf ihm lasten! Der edle Freund war für die Freihofer auf immer verloren, und sein verheißungsvoll aufleuchtendes Glück war in Scherben gegangen, -- wohl, das mußte er ertragen lernen! Was ihn schwer niederdrückte, war also geblieben, das aber, was ihm hold und besitzenswert erschien, hatte ihn verlassen. Und jetzt verließ auch sie noch ihn -- seine Mutter? Da warf der riesenstarke Mann die Arme auf den Tisch, barg das Gesicht in ihnen und schluchzte wie ein Kind. * * * * * Der Freiherr war in gebeugter Haltung langsam den Weg zum Schloß hinaufgegangen. Eine halbe Stunde später tat sich das Gattertor wieder auf, und ein berittener Bote trabte auf lustig wieherndem Rößlein den Schloßberg herunter. Er hatte Ungeduld, auf die Straße zu kommen und lenkte deshalb das Tier querfeldein. Über Gräben, Hecken und rieselndes Wasser flog der Gaul wie ein Reh hinweg, bis er zuletzt in weitem Sprunge über den Straßengraben setzte. Und dann jagte der Reiter mit verhängten Zügeln auf der Straße dahin, die nach Eckartsberg führte. 14. Kapitel. Es war eine wunderbare, märchenschöne Maiennacht. Kein Wölkchen stand am Himmel. Gegen zehn Uhr war der Vollmond heraufgezogen und übergoß die ganze Landschaft mit seinem milden, weißen Licht. Der Himmel sah aus wie eine riesige, tiefdunkelblaue Sammetdecke, auf der Myriaden von Sternen gleich glitzernden Steinen ausgestreut waren. Die Luft war so klar und durchsichtig, daß die funkelnden Himmelskörper dem Auge viel näher erschienen, und die Umrisse der Häuser und Bäume waren scharf zu erkennen. Kein Laut erscholl weithin, der die feierliche Stille unterbrochen hätte. Nur dort, wo der leichte Windhauch von den bunten Wiesen her den balsamischen Duft der jungen Gräser und Blumen hintrug, rauschte es geheimnisvoll in den Bäumen. Leise bewegten sich die schlanken Zweige der in frischem Weiß leuchtenden Birken, und die zitternden jungen Blätter lispelten ohne zu ermüden und priesen die Pracht des in seiner siegenden Schönheit ins Land gezogenen Lenzes. Auf einem der breitästigen, blühenden Lindenbäume, die rund um den Brunnen vor der Schenke standen, saß mit feurigen Augen ein Eulenpaar, das in seiner hohlen, klagenden Sprache glühende Liebesschwüre austauschte, während der Wind leise die Wipfel bewegte, daß sein Rauschen wie eine Erzählung klang von all den Menschen, die unter den Bäumen schon als Kinder gespielt und die sich endlich lebensmüde in ihrem Schatten ausgeruht hatten. Rastlos floß unterdessen das Wasser aus der hölzernen Röhre in den geräumigen Steintrog. Aus den Wohnungen der Menschen drang kein Laut. Sorge und Kummer hatten ihre Macht über sie verloren und manchmal lächelte wohl einer der Schläfer, weil ihm der gütige Traumgott freundliche Bilder vor die Seele gezaubert hatte. Frieden ringsum! Alle Gegenstände waren von dem silbernen Licht des Mondes umflossen. Ein wunderbares Schweigen lag auf dem friedlichen Dorfe, in das hinein der Brunnen seine alten, dumpfen Lieder sang. Und über der schlafenden Erde zogen die Gestirne lautlos ihre unveränderlichen, ewigen Bahnen. * * * * * Vom Schloßberg kam eine schlanke Gestalt herab, die um Kopf und Schultern ein leichtes Tuch gelegt hatte. Ohne zu zögern, lief sie über die blumigen Wiesen an den blühenden Haselnußbüschen vorbei, bis sie endlich an dem schmalen Stege angekommen war, der über den Bach in den Obstgarten des Freihofes führte. Dort blieb sie stehen und lehnte sich an einen Baum, neben der schwachen Brücke. Das Weib tat ein paar tiefe Atemzüge, schob das Tuch vom Kopf zurück, daß es auf den Nacken herunterfiel und strich mit ihrer Hand über die Stirn. Der Mond schien der Einsamen voll ins Gesicht: es war Maria von Tiefenbach. Ihre Augen flogen verlangend hinüber über das leise murmelnde Wasser. Dann schaute sie wieder zurück nach dem Weg, den sie gekommen war und nach dem Schloß, dessen letzter Turm hoch hinaufragte zu dem leuchtenden Firmament. Maria hüllte den Kopf wieder ein und schritt dann vorsichtig über den Steg, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben betrat. Kaum aber stand sie unter dem nächsten Baum auf dem jenseitigen Ufer, als aus dem Schatten des Wohnhauses mit mächtigen Sprüngen Sultan der Hofhund auf sie zustürzte. Winselnd sprang das treue Tier an dem Mädchen hinauf, warf sich vor ihr nieder, wälzte sich im Grase und wiederholte dann seine ausgelassenen Sprünge. Mit wehmütigem Lächeln kniete Maria ins Gras, streckte die Hand aus, griff in das zottige Fell des Hundes und zog ihn liebkosend an sich heran, wie sie es so oft getan, wenn Elisabeth ihn mit aufs Schloß gebracht hatte. »Du Armer,« sagte sie leise. »Nicht nur den Menschen, auch Dir fehlt die Tote. Jetzt ist auf dem Hofe wohl keine Hand mehr bereit, Dich zu streicheln. Ja,« setzte das Mädchen seufzend hinzu, »es weiß noch keiner richtig, wie viel er verloren hat!« Dann klopfte sie dem Tier noch einmal den Rücken und ging nach der hintern Tür des Hauses. Die örtlichen Verhältnisse des Freihofes waren Maria so bekannt, als ob sie von Jugend auf hier gewohnt hätte. Hatte sie den Fuß auch noch nie an diesen Ort gesetzt, so kannte sie doch die Einrichtung des Hofes aus den tausend kleinen Erzählungen Elisabeths ganz genau, und von dem Vater wußte das Mädchen, daß man die Tote in ihrer Kammer aufgebahrt hatte. Maria legte die Hand auf den eisernen Drücker und öffnete behutsam die Tür, die ohne das geringste Geräusch unter ihrem Drucke wich. Eine undurchdringliche Finsternis gähnte ihr entgegen. Durch die offene Tür warf aber der Mond sein milchweißes Licht und beleuchtete ein großes Stück Wand nahe dem Eingang. Die Aeste und Blätter der Bäume des Obstgartens zeichneten sich auf der beschienenen Fläche ab, und wenn der milde Luftzug die Bäume bewegte, huschten die verworrenen Figuren durcheinander und wichen vor dem Mädchen zurück, um sich ihm alsbald wieder zu nähern. Wie eine Unzahl schattenhafter Wesen, die ihr Spiel mit ihr trieben und versuchten, sie hineinzuziehen, um sie im nächsten Augenblick wieder über die Schwelle zurückzudrängen. Da überfiel das tapfere Mädchen eine große Bangigkeit. Und mit einem Male überkam sie die Bedeutung für den Schritt, den sie zu tun beabsichtigte. Aber nur eine einzige Sekunde währte dieser Schwächeanfall. Dann richtete Maria sich auf, machte gegen die gespenstischen Bilder eine unwillige Bewegung mit der Hand und betrat vorsichtig den dunkeln Hausflur. Unhörbar lief sie auf den Zehenspitzen weiter. Als sie bei der ersten Tür vorbeischritt, sagte sie leise: »Das ist die Wäschekammer.« Bei der zweiten Tür flüsterte sie: »Hier schläft die Beschließerin.« Vor der nächsten Tür blieb Maria aufatmend stehen. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen bei der Erwägung, ob es ihr vergönnt sein würde, von der toten Freundin Abschied zu nehmen, oder ob sie, nur durch ein dünnes Brett von ihr getrennt, wieder umkehren müsse. Bebend tastete Maria nach der Klinke und gewahrte zu ihrer unsäglichen Freude, daß die Tür nicht verschlossen war. Geräuschlos öffnete sie und glitt in das Zimmer, aus dem ihr ein betäubender Blumenduft entgegenschlug. Dichte Dunkelheit umfing sie. Allmählich gewöhnte sich ihr Auge an die Finsternis, die ihr, nach der großen Helligkeit im Freien, anfangs pechschwarz erschienen war. Sie bemerkte, daß in dem obern Teil der beiden geschlossenen Fensterladen zwei kleine Löcher in Form von Herzen eingeschnitten waren, durch die einzelne Mondstrahlen hereinfielen und das Zimmer notdürftig erhellten. In der Mitte des kleinen Raumes stand auf einer mit schwarzem Tuch umkleideten Bahre der offene Sarg, um den herum eine große Menge von Blumen und Kränzen aufgehäuft war, daß er fast unter ihnen verschwand. Zu Häupten breitete eine hohe Fächerpalme an weitragenden Stengeln ihre umfangreichen Blätter aus. Neben ihr standen zahlreiche hochstämmige, blühende Gewächse, so daß der obere Teil des Sarges von einem Blütenhain umgeben war. Das Herz brechend schwer, trat Maria zur Linken der Toten an den Sarg heran. Ihre Augen durchbohrten mit Anstrengung die dichte Finsternis und blieben auf dem Antlitz ruhen, dessen Züge, je länger sie darauf schaute, immer deutlicher hervortraten, bis sie zuletzt das alte, liebe Gesicht der verstorbenen Freundin genau erkannte. Wie ein schlafendes Kind ruhte Elisabeth auf den weißen Polstern, bekleidet mit einem dunkelblauen, mit weißen Kanten besetzten Musselinkleid, das das Mädchen oftmals getragen, wenn sie wie ein Irrwisch durch die Scheunen und Ställe des Freihofes flog und das die kindliche Lieblichkeit der Jungfrau erhöht hatte. Der Tod hatte auf dem Gesicht keine verheerenden Spuren hinterlassen. Er war ihr ein willkommener Erlöser gewesen, dem sie mit frohem Lächeln entgegengesehen hatte. Ein beglückender Gedanke mußte sie im Augenblick des Scheidens der Seele bewegt haben, von dem ein milder Abglanz auf dem Gesicht zurückgeblieben war. Heiter, wie sie im Leben gewesen, war sie hinübergeschlummert. Und neben dem Ausdruck unstillbarer, freudiger Sehnsucht lagerte ein verklärender Hauch von Frieden auf dem schmalen Kindergesicht. Maria sah erschüttert auf die Tote, die ihr im Leben Freundin und Schwester zugleich gewesen war. Nie konnte ein reineres und treueres Herz jemals wieder in Liebe so für sie schlagen, wie das der Toten, das nun stillstand. Elisabeths sonnige Lebensauffassung, die sich in einer nie versiegenden Fröhlichkeit kundtat, hatte sie, die Ernste, Sinnende, oft erheitert, wenn ihr Gemüt von düsteren Wolken umlagert gewesen war. Und die tiefe Liebe und Anhänglichkeit, die die Freundin ihr entgegengebracht, hatte sie immer als ein Gnadengeschenk betrachtet, für das sie dem Himmel nicht genug danken konnte. Nun war es vorbei mit diesem Glück! Der Augenblick war gekommen, dessen Herannahen sie schon seit geraumer Zeit mit wachsender Angst bemerkt und vor dem sie gezittert hatte. Maria ließ den Kopf sinken, und ein Gedanke stieg in diesem Augenblick in ihrer Seele auf, den niederzukämpfen sie sich vergeblich bemühte und der sich ihr mit solcher Heftigkeit aufdrängte, daß sie schließlich mit glutroten Wangen davon abstand, ihn länger zu meistern: noch immer hatte sich in ihrem Herzen die geheime Hoffnung behauptet, daß eine so reiche Liebe, wie sie für ihren Vetter empfand, endlich doch über alle Mühsale triumphieren müsse, und die Stütze ihrer Zuversicht war Elisabeth gewesen. Darüber freilich, wie das Kind mit seiner schwachen Kraft und seinem gänzlich mangelnden Einfluß auf die Entschließungen seiner Mutter sie aus der Wirrnis hinausführen sollte, hatte sie nie nachgedacht. Sie selbst schalt sich in ruhigen Stunden töricht ob ihrer Hoffnung, daß in dem Herzen der unerbittlichen Tante jemals eine Wandlung vor sich gehen könne. Und die scharfe und kalte Absage, die ihr Max in demselben Augenblick erteilte, in dem die tötliche Angst, ihn auf immer zu verlieren, den leidenschaftlichen Ausbruch bei ihr bewirkte, hatte sie belehrt, daß sie die Stimme in ihrem Busen verstummen lassen müsse. Alles das hatte sich Maria ja schon oft gesagt, und doch wollte die Stimme nicht schweigen, sehnte und hoffte ihr gequältes Herz in Bangigkeit weiter. Jetzt begriff sie mit einem Male, daß, solange Elisabeth gelebt, sie auch hatte weiterhoffen dürfen, denn die Freundschaft Elisabeths war das unsichtbare Band gewesen, das sie mit dem Freihof verknüpft hatte. Jetzt aber versagte dem beredten Mund in ihrem Innern die Sprache, und eine zermalmende Hoffnungslosigkeit überkam sie. Max von Tiefenbach war von jetzt ab für sie unabänderlich verloren! Und langsam zogen die geheimsten Gedanken des Mädchens an seiner Seele vorüber. Sie sah sich zärtlich an den Geliebten geschmiegt, ihre Stirn war an seine Brust gelehnt. Innig hielt er sie umfangen, und mit unsagbar beglückenden Worten hatte er ihr seine Liebe gestanden und dann ihren Kopf aufgehoben und ihre Lippen und Augen geküßt. Niemand in der weiten Umgebung besaß eine so hohe Gestalt, daß er neben Maria von Tiefenbach sich hätte behaupten können, nur er; und keinen anderen Mann würde Marias stolzer Sinn jemals den Besitz ihres herrlichen Körpers, wie die Natur ihr ihn gütig verliehen hatte, einräumen. Die heiligen Flammen keuscher Mädchenliebe durchloderten ihren Busen im Wachen wie im Schlummer, -- mit der treuen Freundin aber zugleich begrub man auch ihre Liebe. -- -- -- Maria von Tiefenbach vergaß in diesem Augenblick ganz den Ort, an dem sie weilte. Sie kniete neben der Bahre nieder, neigte den Kopf darauf und weinte zum Herzbrechen. Und so verharrte sie lange Zeit, während die Tränen reichlich flossen und der wilde Sturm in ihrem Innern an Heftigkeit langsam nachließ. Da überkam sie plötzlich der Gedanke, wie unsagbar schwer vor allem Elisabeths Mutter unter dem Verlust leiden müsse. Und wie der edle Mensch dann wenn er des Nächsten gewaltigen Schmerz sieht, den eignen Schmerz unter seinem Mitleid für eine Weile vergißt, empfand auch Maria tiefes Mitgefühl für die unglückliche Mutter. Ihre Tränen versiegten, und indem sie sich aufrichtete, die gefalteten Hände erhob und an die Lippen preßte, betete sie mit bebender Stimme: »Du Allgütiger, Tröster und Erbarmer! Erbarme Dich auch der Mutter dieses Kindes, spende ihr reichen Trost in diesem schweren Herzeleid und laß sie Ruhe und Frieden finden!« Langsam sanken die Hände herab, und Maria fühlte ihre seelische Kraft wieder erstarken. Mit der Tröstung, die sie auf das Weib herabgefleht, das sich ihr so unversöhnlich feindselig gegenüberstellte und zweifellos die Schuld trug, daß ihr zartes Liebesglück in der Knospe vernichtet wurde, war auch in ihre Brust Trost eingezogen. Der herbe Schmerz hatte sich gemildert und war vor dem Mitleid keusch zurückgewichen. Ihre Gedanken aber wollten sich nicht von der Freihoferin abwenden. Immer deutlicher stieg das Bild dieser schwergeprüften Mutter in ihrer Seele herauf, daß sie meinte, sie vor sich zu sehen. Maria sah im Geiste ein Paar runzliger Wangen, einen zusammengekniffenen Mund und fühlte fast den langen Blick aus den tiefliegenden Augen. Sie hatte die Freihoferin immer nur von fern gesehen, jetzt aber gewahrte sie zu ihrem Erstaunen, wie tief das Bild der Greisin in ihrer Seele eingegraben war. Die hohe Stirn wurde von grauem Haar begrenzt, das, in der Mitte geteilt, in dünnen Strähnen zu den Ohren herablief. Neben dem herben Ausdruck lagerte auf dem Gesicht gewaltiger Schmerz. Maria empfand, wie ihre Einbildungskraft aufs höchste erregt war. Sie fuhr mit der Hand über die Augen um das Trugbild zu verscheuchen. Aber die Erscheinung wollte nicht weichen, denn noch immer sah sie zwischen Blüten und Blättern das fahle Gesicht Elisabeths Mutter. Ihre Augen schmerzten schon, doch konnte sie nicht wegschauen. Den Atem zurückhaltend, versuchte sie erneut mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen, während Schweißperlen auf ihre Stirn traten. Da, -- hatte sich das Bild nicht soeben bewegt? Nein, es war nicht möglich, die hohe Aufregung und der Ort hatten ihre Sinne überreizt. »Großer Gott -- -- --!« schrie das Mädchen plötzlich auf. Dann erstarben ihr die Worte auf der Zunge, und sie duckte sich nieder wie in der Erwartung eines heftigen Schlages. Denn in diesem Augenblick waren die tödlichen Zweifel geschwunden, -- sie wußte sich der Freihoferin gegenüber. Noch einige Sekunden hingen diese vier Augen aneinander, dann schwankten drüben Blätter und Zweige, bogen sich zurück und schlugen, während das Gesicht verschwand, wieder zusammen. Geräuschlos rückte ein Stuhl, und die Freihoferin trat aus der Hecke von Blumen und Gewächsen hervor. Sie zündete die Kerzen eines auf dem Tische stehenden, schweren, dreiarmigen Silberleuchters an, wandte sich zur Tür und deutete mit einer schroffen Bewegung, als wolle sie die Grabesstille des Raumes nicht unterbrechen, dem noch immer mit den Zeichen des Schreckens in hilfloser Haltung knieenden Mädchens stumm an, ihr zu folgen. * * * * * Max saß im dunkeln Wohnzimmer wieder wie gestern beim Erscheinen des Freiherrn in dem mächtigen Armstuhl, dessen hohe, mit gepunztem Leder überzogene Lehne noch ein Stück über seinen Kopf hinausragte. In dieser Nacht würde er den Schlaf nicht finden, deshalb suchte er das Lager nicht erst auf. In seiner Seele lag eine Welt in Trümmern, und der Himmel, der sich über ihm wölbte, war bleifarben und hing tief herab. In den letzten Tagen war er um Jahre älter geworden. Das Schicksal hatte ihm einen empfindlichen Schlag versetzt. Seinen Nacken zu beugen, war es freilich nicht im stande gewesen, aber seinen unbändigen Trotz, mit dem er die entstellte Fratze, die, wohin er auch immer ging, vor seinen Augen stand, auflachend verscheuchen wollte, hatte er noch nicht wiedergefunden. Aber gemach! Er wußte, daß er die beschämende Schwäche in wenigen Tagen würde niedergerungen haben, denn die Tiefenbachs hatten zu allen Zeiten Stiernacken besessen. Da hörte er Tritte im Hausgang, die in die tiefe Stille hineinklangen. Die Mutter wußte er am Sarg der Toten, die sie in der letzten Nacht nicht verlassen würde. Er erkannte ihren Schritt, der schleppend näherkam. Aber, horch, was war das? War das nicht der Schall der Tritte _zweier_ Menschen? Unwillkürlich richtete er sich auf und lauschte. Da öffnete sich schon die Tür, und heller Kerzenschein drang in das Zimmer. Schwerfällig trat die Greisin ein und stellte den Leuchter auf den großen, runden Tisch. Max aber achtete nicht der wankenden Mutter, seine Augen waren voll Ueberraschung auf die Tür gerichtet, in der soeben eine fremde Frauengestalt erschienen war. Eine Sekunde starrte er atemlos auf die im Halbdunkel stehende Erscheinung auf der Schwelle, deren Gesicht er nicht zu erkennen vermochte. Da griff plötzlich eine kalte Hand nach seinem Herzen und preßte es heftig -- er hatte die Fremde erkannt. Schon wollte ihn die Überraschung ganz gefangen nehmen, da erhob sich in seinem Innern ein Sturm, und seine Sinne arbeiteten fieberhaft an der Deutung dieses Rätsels. Wie ein Blitz fiel die Erleuchtung in seine Seele: Maria von Tiefenbach hat sich in das Haus gestohlen, um von ihrer gestorbenen Freundin Abschied zu nehmen. Die am Totenbett weilende Mutter will in ihrem Haß die edeln Gefühle des Mädchens nicht gelten lassen und bringt es hierher, damit sie in seiner Gegenwart Marias Teilnahme schroff zurückweise, um durch verletzende Worte dem sie beunruhigenden Herannahen der Schloßleute für immer zu begegnen. Da schlug die heiße Flamme des Unwillens in Maxens Herzen über seine Mutter jäh auf. Er raste wie im Fieber und erhob sich halb vom Stuhl, um bei ihren ersten verletzenden Worten aufzuspringen. Noch verließ ihn die Besinnung nicht, noch war er sich bewußt, daß er sich vor seiner Mutter befand, die er von Kindesbeinen an so verehrt und geliebt hatte, wie ein Sohn seine Mutter nur lieben kann und die er noch bis gestern für unfehlbar gehalten hatte. Auf sein Lebensglück um ihretwillen verzichten und es zersplittern zu lassen, das vermochte er zu ertragen. Die aber verletzen, deren Bild er fortan unauslöschbar im Herzen tragen würde, obwohl sie die Enkelin jenes Mannes war, der seine Großmutter beschimpfte, diesem hochherzigen Mädchen wehzutun, nein, beim ewigen Himmel, das durfte sie nicht! Mochte die Scholle erbeben, auf der ihm die Mutter das Leben gegeben, wenn er sich jetzt gegen sie wandte, mochte das Dach des väterlichen Hauses niederstürzend ihn begraben und die Menschen einst mit Entsetzen im weiten Bogen das Grab meiden, das die Unnatur barg, die gegen den Schoß raste, der sie gebar. Er würde trotzen! Zusehen aber, und müßig dabei bleiben, wenn Maria von Tiefenbach von der Mutter gedemütigt wurde, das konnte er nicht! Alle Sinne aufs äußerste angespannt, starrte Max auf seine Mutter. Das Mädchen war in der Tür in vornübergeneigter Haltung stehen geblieben, während die Freihoferin an das nach dem Garten hinausgehende Fenster getreten war und sich müde zurücklehnte. Kein Laut kündigte an, daß sich in diesem Zimmer drei Menschen befanden, deren Herzen zum Zerspringen schlugen. Ein paar Sekunden atemraubender Stille verstrichen, dann machte die Freihoferin eine Bewegung, als wenn sie die letzte Kraft zusammenraffe und begann zu sprechen. Ihre Stimme klang nicht so voll wie sonst, aber ruhig und eisig: »Baronesse! Um des traurigen Ereignisses willen, das zu ertragen uns eine höhere Fügung auferlegt hat, kann ich Ihnen nicht zürnen, wenn Sie Ihren Fuß über die Schwelle dieses Hauses setzten, das Ihnen sonst verschlossen bleiben muß. Sie haben sie gekannt, meine -- verstorbene Tochter -- --« Bei den letzten Worten war die Stimme rauh geworden und brach plötzlich ab. Der Körper der Sprechenden war wieder gegen das Fenster zurückgesunken, ihre Augenlider waren halb herabgefallen. Sie versuchte und versuchte wieder weiterzusprechen, -- umsonst. Ein heftiges Zittern überlief die hohe Gestalt der Greisin, und der zum Sprechen geöffnete Mund schloß sich und blieb stumm. O, ihr rätselvollen, unergründlichen Tiefen des Frauenherzens! Eine kurze Weile tödlichen Schweigens verstrich, währenddessen ein erbitterter Kampf, der Abschluß einer siebzigjährigen, unaufhörlich genährten Feindschaft, blitzschnell entschieden wurde. Und dann klang es, demütig bittend, von den zuckenden Lippen der Tochter des beschimpften Weibes: »Maria, willst Du mir eine liebende Tochter, meinem Sohn eine treue Gattin sein?« Wenn die Natur sich in wildem Aufruhr befindet, und die sonst friedlich schlummernden Elemente entfesselt sind, wenn von dem dräuenden Himmel Wolkenbäche herniederstürzen, in den zusammengeballten, schwarzen Luftgebilden Blitze mit rasender Aufeinanderfolge aufzucken, denen das Krachen der Donner hinterhergrollt und der Orkan heulend durch die Gassen peitscht, dann ereignet es sich zuweilen, daß einem letzten, den Himmel in zwei unermeßliche Hälften zerreißenden Aufleuchten und einem gräßlichen Donnerschlage tiefe Ruhe folgt. Also geschah es in der großen Wohnstube mit dem schweren, altväterischen Hausrat auf dem Freihofe. Der ungeheure Sturm war wie durch einen Zauberspruch gebändigt, und tiefe Stille war ihm gefolgt. Während die Greisin bis an die Wand am Fenster zurückgesunken war, war das Mädchen von der Tür aus mit ein paar heftigen Schritten zu dem Tisch geeilt und starrte, mit beiden Armen sich schwer aufstützend, unverwandt auf das Weib am Fenster. Max, der zum Aufspringen bereit gesessen hatte, war in den Stuhl hineingesunken, daß der große Körper in dem schwerfälligen Möbel aussah wie der eines Kindes. Er war nicht im stande klar zu denken; hundert Begriffe drangen von allen Seiten und zu gleicher Zeit auf ihn ein, jagten wie das wilde Heer in sinnverwirrender Geschwindigkeit an seinem geistigen Auge vorüber und tanzten dann in tollem Wirbel um ihn herum, bis sie ihn endlich in eine ungeheure Tiefe mit hinabrissen. Das Vermögen, zu beurteilen wo er sich befand, verließ ihn, und die Erinnerung an das soeben Erlebte verblich. Ein Zustand höchster geistiger Abspannung nach all den wilden Stürmen in den letzten Tagen war über ihn gekommen, der so gewaltig war, daß selbst Max von Tiefenbachs Kraft ihm nicht widerstehen konnte. Wie wenn ein schwer getroffener Stier röchelnd zusammenbricht, wenn der Wirbelsturm in einem einzigen Augenblick einen mannsdicken Eichbaum knickt, daß er krachend zu Boden stürzt, so hilflos brach Maxens Widerstand zusammen. Seine Blicke irrten im Zimmer umher, glitten verständnislos von einem zum andern, ohne den beklommenen Eindruck der Seele zu vermitteln. Sein Hirn war wie ausgeblasen. Er hatte das verschwommene Empfinden, als wenn sich etwas Ungeheuerliches zugetragen hätte und bemühte sich mit aller Kraft, seine Sinne wieder in die Gewalt zu bekommen. Vergebens, die Seele sagte ihm in diesem Augenblick den Gehorsam auf und ließ ihm nur das Erkennen seiner Ohnmacht. Mit riesengroßer Willenskraft riß er das Wenige, das ihm geblieben, an sich und war bemüht, wie ein Kind das Nächstliegende zu überdenken. Dies war seine Hand; worauf sie lag, die Armlehne eines Stuhles, das ein Knopf seines Rockes. Dann versuchte er darüber nachzuforschen, was sich hier zugetragen hatte. Er strengte seinen Geist mit übermenschlicher Kraft an, daß er einen heftig bohrenden Schmerz im Gehirn empfand, der ihm den Schädel zersprengen wollte. Worte waren gesprochen worden. Von wem, worüber? Vergebens versuchte er gegen die Schwäche anzukämpfen, die wie ein granitner Felsen vor ihm lagerte, an dem sein Willen zersplitterte wie ein Knabensäbel. Plötzlich horchte er auf. Vom Fenster her drangen schwach Worte an sein Ohr: »Aber warum küßt Ihr Euch nicht, meine Kinder?« Wer war das, der da so sprach? Wer hatte das gesprochen? War das nicht die Stimme der Mutter? Seiner _Mutter_? Nein! vom Küssen ging die Rede, und seine Mutter sprach nie vom Küssen! Aber vorhin war die Mutter doch in der Stube gewesen und hatte gesprochen. Und wie sie geendet, hatte es sich wie eine schwarze Binde auf seine Augen gelegt, und der Kopf hatte ihm geschmerzt wie infolge eines heftigen Sturzes. War nicht noch jemand hier gewesen? Ja, die Mutter war mit dem brennenden Leuchter eingetreten und hinter ihr hatte er in dem ungewissen Halbdunkel noch einen Menschen gesehen, -- ein Weib. Wer aber war dieses Weib? Und abermals versuchte Max mit aller Kraft seine Gedanken zu zwingen, ihm wieder dienstbar zu sein. Da tönte wiederum die Stimme von vorhin, und jetzt erkannte er sie untrüglich als die seiner Mutter. Aber weich klang sie, wie der Sohn sie noch nie gehört hatte: »Als ich jung war, küßte man sich in solchen Augenblicken!« Und wie das Sonnenlicht durch dunkles Gewölk bricht, ebenso siegreich stieg bei diesen Worten die Erinnerung an das in den letzten Minuten Vorgefallene in Max herauf. Blitzschnell und mit bewunderungswürdiger Schärfe arbeitete jetzt Maxens Hirn und gab ihm die Deutung dessen, was ihm soeben noch als Rätsel erschienen war. Er knüpfte wieder dort an, wo ihn vorhin das klare Denkvermögen verlassen hatte: Maria war unbemerkt in das Haus gekommen, um an Elisabeths Sarge noch einmal zu beten, und von dort hatte die Mutter das Mädchen mit hierhergebracht. Max kämpfte mit der Erschütterung, die der überraschende Wandel der Gesinnung seiner Mutter auf ihn ausgeübt hatte. Aber er kannte seine Mutter nur zu gut, daß ihm jetzt die Beweggründe für ihr Tun nicht bis zur Ueberzeugung hätten verständlich sein müssen: der erzene Panzer um ihr Herz war zersprungen. Sie war entschlossen, die Schuld für die Nichteinlösung des ihrem sterbenden Vater gegebenen Wortes auf sich zu nehmen und über den Haß, den sie seither im Busen wachgehalten und genährt, triumphierte die Liebe. Eingedenk des Versprechens und mit dem halsstarrigen Trotze, der ein geistiges Familiengut der Tiefenbachs war, und den die bäuerliche Linie noch weit stärker besaß als die auf dem Schlosse, hatte sie sich den Haß gegen die Verwandten zu einem Stück ihrer Lebensaufgabe gemacht. Und, ach, wie seltsam! Wie doch die Leidenschaften, die sich fliehen müßten, dicht beieinander wohnen; denn mit der Stärke zu hassen, hatte die Vorsehung diesem Weibe auch das unstillbare Verlangen Liebe zu geben und zu empfangen in die Seele gepflanzt. Wie oft mußte ihr das Hassen schwer geworden sein, wenn sie sah, wie das Kind, an dessen Besitz ihr Herz mit allen Fasern geknüpft war, ein Stück seiner Liebe den Gehaßten schenkte. Es war Max offenbar, daß die Liebe _eines_ Kindes seiner Mutter nicht genug war. Wem unter einem rauhen Aeußern ein von Liebe so überquellendes Herz schlägt, der darf sich füglich darnach sehnen, mit mehr als einem Teuern auf das Innigste verbunden zu sein. Deshalb bat sie jetzt das Mädchen, an dem die Verstorbene mit ganzer Seele gehangen, die leergewordene Stelle in ihrem Herzen einzunehmen und die Liebe, die sie für die Tochter empfunden hatte, fortan ihr, der Mutter zu schenken. -- Oder sollte seine Zuneigung zu Maria auf die Mutter eingewirkt haben? Nein, das war es nicht, denn seine Liebe war ja sein tiefes Geheimnis gewesen, von dem die Mutter nichts hatte ahnen können -- -- Das Glück, das in dem Augenblick, wo Max verzweifelnd alles verloren wähnte, ihm zuteil ward, war so riesengroß, daß ihm schwindelte und er unwillkürlich die Hand auf die Augen legte. Da hörte er einen fliegenden Atem an seiner Seite, so nahe, daß der warme Hauch seine Stirn streifte. Und wie er aufschaute, blickte er in das von Angst entstellte Gesicht seiner Mutter, die ihn mit weitaufgerissenen Augen flehend ansah. Es war die brustzuschnürende tödliche Angst, daß in dem Augenblick, in dem der Himmel ihr Herz weich werden ließ und sie geglaubt hatte, das Leben der von der Toten geliebten Freundin an sich ketten zu können, diese Hoffnung in Scherben gehe. Denn sie hatte gewähnt, Max liebe Maria, -- und nun -- --? Und zum drittenmale hörte der regungslos im Stuhle Sitzende die Stimme. Diesmal klang sie gepreßt und die Worte waren abgerissen: »Max, Dein Vater küßte mich, als wir uns verlobten!« Da überfiel den Sohn ein unendliches Mitgefühl und er griff mit beiden Händen nach seiner Mutter, um sie an sich zu ziehen. Die aber wich zurück und wandte den Blick nach der Gestalt am Tische in der Mitte des Zimmers. Max folgte ihrem Blick und gewahrte das in all seinem überwältigenden, mit Schmerz und Überraschung vermischtem Glück von ihm vergessene Mädchen, das, die Augen zu Boden geschlagen, dem Umsinken nahe vor ihm stand. Eine Sekunde lang herrschte noch Schweigen in der Stube. Nur der Holzwurm tickte in dem hohen Eichengetäfel an den Wänden, und die flackernden Flammen der Kerzen warfen wunderlich geformte Schatten darauf, die geisterhaft hin- und herhuschten. Dann wurde die Stille plötzlich unterbrochen. Max erhob sich lärmend aus dem Stuhl, ging mit den polternden Schritten eines Trunkenen zum Tisch und schlug die Arme um die Schultern des bebenden Mädchens. Einen langen Blick warf die Freihoferin noch auf die beiden Menschen, -- dann verließ sie geräuschlos das Zimmer -- -- Freut Euch, Ihr guten Geister, die Ihr auf dem Freihof und auf dem Weißen Schlosse allnächtlich Euer Wesen treibt! Kommt hervor aus den dunkeln Winkeln und Ecken, steigt herab von den Dachbalken und tretet heraus aus den Verstecken, in denen Ihr Euch am Tage verborgen haltet. Lärmt heut ausgelassener denn je und treibt Euern närrischen Spuk in dieser Nacht lustiger wie zuvor. Die gute Tote würde es Euch danken, wenn Ihr so tätet, und läge sie nicht in ihrem hölzernen Schrein, dann käme sie heute gewiß zu Euch, um im lustigen Spiel mit herumzutollen. Und in dem großen Saale auf dem Weißen Schlosse, durch dessen hohe Bogenfenster das Mondlicht glänzte, regten sich mit einem Male die Bilder in ihren goldenen Rahmen. Die alten Herren des Tiefenbachschen Geschlechts in blitzenden Rüstungen, mit Arm- und Beinschienen, den eisernen Helm mit hochgeschlagenem Visier auf dem Haupt und zur Seite den klirrenden Pallasch, oder in sammeten Wämsern mit geschlitzten und rot ausgefütterten Ärmeln, mit steifem, breitem Halskragen und eckigem Barett angetan, oder mit goldstrotzenden Staatsgewändern bekleidet, dazu den federgeschmückten Hut und an der Seite den leichten Degen, -- die Damen in geschürzten und bauschigen Gewändern von bunter Seide und mit Courschleppen versehen, etliche mit dem Reifrock, geschmückt mit schweren, goldenen Ketten, die gepuderten Gesichter mit dem roten Tupf auf den Wangen unter der hochtoupierten Coiffure in wunderlichsten Formen, oder eingerahmt von der Dormeuse, -- sie alle bekamen Leben und stiegen herab auf das spiegelblanke Parkett. Die Herren machten tiefe Verbeugungen zur Begrüßung, die die alten Damen mit gnädigem Kopfneigen, die jungen aber mit holdem Erröten und zierlichem Knixe erwiderten, worauf sie einander in fröhlicher Erregung stumm die Hände schüttelten. Alle aber trugen einen freudigen Zug auf den sonst so starren Gesichtern. Auf den Gängen und Treppen des Wohnhauses im Freihofe aber begann ein Summen und Zischeln, ein Wispern und Flüstern; es trippelte und huschte treppauf, treppab, und des Kicherns und Ausgelassenseins war kein Ende. Die Kecksten der Hausgeisterchen eilten auf den Zehenspitzen zu der Tür der Wohnstube. Einer kletterte auf die Schultern eines andern und guckte voll Eifer durch das Schlüsselloch. Und wie er den Neugierigen herunterrief was er sah, hob das kaum verstummte Kichern von neuem an. Sie klatschten in übermütiger Laune in die Hände, und die Ausgelassensten schossen Purzelbäume. Auf dem mit rosigen Blüten übersäten Apfelbaume dicht unter den Fenstern der Wohnstube jauchzte und schluchzte eine Nachtigall -- -- -- Und während die beiden Liebenden einander fest umschlungen hielten und sich unter Tränen und glückseligem Lächeln die süßesten Schmeichelworte zuflüsterten, saß eine alte, verhärmte Mutter zusammengesunken am Totenlager ihres Lieblingskindes, die wildhämmernde Stirn auf die harte Kante des Sarges gepreßt, die brennenden Augen weit geöffnet, -- tränenlos. Und sie stammelte mit erstickter Stimme: »Hab ich’s so recht gemacht, -- mein Sonnenschein?« 15. Kapitel. An dem politischen Himmel waren von neuem schwere Gewitterwolken heraufgezogen. Wie ein donnernder Orkan, der alles vor sich niederwirft, waren die Wirkungen der kriegerischen Ereignisse des letzten Jahres über Deutschland gekommen, und nun türmten sich schon wieder neue Ungewitter auf. Das große Kriegstheater, auf dem sich jüngst so manches blutige Schauspiel abgespielt hatte, zitterte in seinen Grundfesten, und wie vor zwei Jahren machten die Völker gewaltige Anstrengungen, um sich zu dem ungeheuern Kampfe zu rüsten. Eine dumpfe Ahnung schwebte in der Luft: es würde der Entscheidungskampf sein, der Befreiungskrieg der deutschen Stämme von fremdem, schmachvollem Joch. Vom Westen her zogen langsam die neugeschaffenen französischen Armeen heran. Wohl waren es nicht die kampferprobten, siegesgewohnten Kriegsscharen wie bisher; in der Mehrzahl füllten junge Männer die Reihen, deren Dienste man früher abgelehnt hatte. Aber der Riesengeist des Schlachtenkaisers führte sie, auf dessen zermalmendes Genie seine Soldaten blind schworen, und dem gegenüber trotz aller kriegsfreudigen Stimmung seine Feinde ihrer Bangigkeit nicht völlig Herr werden konnten. In Sachsen wogte die Stimmung noch immer auf und nieder. Einig war sich das Volk nur in dem Gedanken, daß man von Polen, nach dem der König angstvoll ausschaute, nichts wissen wollte. Er und seine Minister harrten sehnsüchtig auf die Ankunft Napoleons, während das Volk mit klopfendem Herzen über die Grenze sah, wo der preußische Nationalstolz wieder erwachte und ein erhebendes Schauspiel anhob. Hier und da begann auch in Sachsen die Begeisterung emporzuflackern; aber das Feuer war matt, man konnte sich kaum die Hände daran wärmen. Von der himmelwärts schlagenden Begeisterung, dem Zorn und Rachedurst, die in den preußischen Herzen alle Bedenken zum Schweigen brachten, war in Sachsen nichts zu spüren. Wohl hatte man nicht die Demütigungen erlitten, die Preußens König und Volk auferlegt worden waren. Statt der Mißhandlungen hatte das Land Gunstbeweise und Schmeicheleien vom Kaiser erfahren. Leider empfanden die weiten Kreise aber nicht, daß Napoleons Großmut nichts anderes gewesen war als die Klugheit, sich im Herzen Deutschlands die Sympathien eines Volkes zu sichern, um andere deutsche Stämme desto ungestörter bekämpfen zu können. In der Schlacht bei Jena neben Preußen fechtend, hatte sich Kurfürst Friedrich August bald darauf Napoleon unterworfen und als Lohn dafür die Erhebung zum König freudigen Herzens entgegengenommen. Von diesem Augenblick an war Sachsens Herrscher ein willenloses Werkzeug in der Hand des Gewaltigen. Er war ihm weniger ergeben aus Dankbarkeit, als aus Furcht; und mit seinem König jubelte das Land dem Kaiser zu. Das Volk entriß sich endlich zuerst dem Taumel; König und Regierung aber bewahrten ihre Anhänglichkeit fort. Und als schließlich die Staatsmänner die Stimmung im Volke nicht mehr verkennen konnten, als sie Scham darüber empfanden, daß nur Sachsen mit Deutschlands Feinden wider alle deutschen Stämme stand und ihre Verehrung gegen Napoleon sich in Haß kehrte, da blieb der König allein auf der Seite seines kaiserlichen Gönners. Selbst als alles verloren war, und die aufgelöste französische Armee in wilder Flucht durch die Straßen Leipzigs zurückflutete, erklärte der aus seinem Schlupfwinkel im Keller herbeigeholte sächsische König dem russischen General Toll mit bleichem Gesicht, daß sein hoher Verbündeter Leipzig sicherlich nur deshalb verlasse, um mit seiner Armee auf freiem Felde zu manövrieren. -- In Dresden hatte unterdessen der Marschall Davout infolge Sprengens der Elbbrücke unter der Bevölkerung maßlose Erbitterung erregt, und der Kommandant von Torgau, General Thielmann, war in die russische Armee eingetreten, da er die vom König befohlene Auslieferung der Festung an die Franzosen als entehrende Schmach empfand. Noch war Napoleon mit seiner Hauptmacht unterwegs, da wurde dem König beim Heranrücken der Russen der Boden seines Landes unter den Füßen heiß. Er zog sich nach Regensburg zurück und ging bald darauf nach Prag, von wo aus er mit dem Wiener Kabinett Unterhandlungen pflog, deren Spitze sich allerdings gegen die Franzosen richtete, und die er aus Klugheit eingeleitet hatte, um es nicht mit beiden Teilen zu verderben. Da erschien plötzlich der Kaiser in Dresden, nachdem ihm das alte Kriegsglück bei Großgörschen wieder gelächelt hatte. In hellem Zorn entbot er König Friedrich August zu sich. Bei der Kunde des Sieges Napoleons brach die mühsam behauptete Fassung des Königs zusammen. Er eilte nach seiner Hauptstadt und empfing zerknirscht die Vorwürfe des Kaisers. Alle Demütigungen, die Friedrich Wilhelm von Preußen erlitten hatte, bedeuteten nichts im Vergleich zu der Erniedrigung, der sich Sachsens König in diesen Tagen unterwerfen mußte. Aber auch dieses Schicksal war nicht imstande, dem dreiundsechzigjährigen König die Augen zu öffnen, sondern vertiefte in ihm nur das Gefühl der Unterwürfigkeit vor Napoleon. Einer von den Männern, die die politische Lauheit ihres Volkes von vornherein ergrimmte, und denen die Scham über das unwürdige Gebahren von König und Regierung ins Herz brannte, war Konrad Hartmann. Mit Freude vernahm er von der gewaltigen Erhebung des preußischen Volks und er konnte eine Anwandlung von Neid nicht unterdrücken, wenn er diese Begeisterung und Opferwilligkeit mit der schwankenden Haltung der breiten Kreise der sächsischen Bevölkerung verglich. Denn aus dem menschlichen Hingezogenfühlen zu diesem, den Sachsen durch seine unerschrockene Erhebung hohe Achtung einflößenden deutschen Stamme, aus den eingebildeten Gefühlen der Dankbarkeit und der Anbetung des Genies, der stillen Eitelkeit, daß der von der ganzen Welt bewunderte Franzosenkaiser sich offen als Freund des sächsischen Volkes bekannte und endlich der gewohnten, alles gutheißenden Ergebenheit zu dem König, -- aus all diesen widerstreitenden Empfindungen heraus wollte in Sachsen noch immer nicht überall die Erkenntnis des wahren Standes der Dinge heraufkommen. Konrad hatte schon mehrfach versucht, gleichgesinnte Männer zu finden. Bei Max hatte er zuerst angeklopft, obwohl er von früher her dessen Gesinnung kannte. Es war auch diesmal nicht möglich gewesen, den Freund für seine Ideen zu gewinnen. Zwar verfolgte Max den Gang der Ereignisse mit Aufmerksamkeit, aber dem Plan Konrads, im Stillen für eine gewaltige Kundgebung gegen die laue Regierung zu arbeiten, konnte er nimmermehr zustimmen. Das aristokratische Gefühl, das er mit dem Blut empfangen hatte, beherrschte ihn so stark, daß er jeden Plan zu einem Unternehmen, den Entschlüssen der Regierung gewaltsam entgegenzutreten, verwarf. Er war nicht umsonst der Nachkomme eines Geschlechts, das jahrhundertelang für die Autorität der Staatsregierung durch dick und dünn geritten war und dem der Wille des Landesherrn allzeit als oberstes Gesetz gegolten hatte. Wenn er auch nicht an die Unfehlbarkeit der Monarchen glaubte, so war es nach seiner Überzeugung doch besser, wenn sich ein Volk selbst dann, wenn seine Geschicke durch die irrige Politik seines Königs drückend wurden, dem Lose willig fügte, als durch eigene Versuche eine Änderung der Verhältnisse herbeizuführen. Das hohe Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber der Vorsehung, die sie eingesetzt, hatte die Herrschenden auf Sachsens Thron zu allen Zeiten den richtigen Augenblick erkennen lassen, zu dem sie das Steuer des Staatsschiffes wirksam gebrauchen und seinen Kurs ändern mußten. Konrad hatte mit großer Beredtsamkeit auf die vielen Fehler hingewiesen, die in den letzten Jahren in Dresden gemacht worden waren, ohne daß es seinen Worten gelungen wäre, den Freund umzustimmen. Dann ging der Rabensteiner zu andern, bei denen er Erhörung hoffte. Aber auch hier machten seine Worte keinen großen Eindruck. Des Krieges waren sie alle müde, aber sie begriffen es nicht, wie einer so kühn sein konnte daran zu denken, daß das Volk einen Einfluß auf die Beendigung des Krieges gewinnen könne. Für solche Sachen hatte man ja die Regierung. Und wenn diese, die das Elend des Landes sicherlich genau kannte, nicht imstande war eine Änderung herbeizuführen, wie sollte es dann der einzelne Bauer können? Drüben in Preußen lag die Sache ja ganz anders. Dort handelte der König gemeinsam mit seinen Untertanen. Und die Sprecher schlugen mit der schwieligen Bauernfaust krachend auf den Tisch und schwuren, daß sie nun genug hätten von den ewigen Kriegen und daß sie, wenn man nach ihnen riefe, bereit seien, die Blutsauger zu Paaren zu treiben, -- freilich müsse man, fügten sie kleinlaut hinzu, doch erst abwarten, ob denn der König dies auch so haben wolle. Mit Ingrimm lachte Konrad diesen Helden dann ins Gesicht und versicherte ihnen, daß sie, wenn sie darauf warten wollten, nie im Leben ein Schießeisen in die Hände zu nehmen brauchten; die Schrecken des Krieges mit seinen Verlusten an Blut und Gut würden dann aber auch niemals enden. Bei den Besitzenden hatte Konrad nichts ausgerichtet. Sie bangten vielzusehr um ihre Habe und hätten sich ihr Eigentum eher stückweise unter den Händen wegreißen lassen, als sich dazu aufzuraffen, dem unersättlichen Angreifer entschlossen entgegenzutreten. Hierauf ging der Unermüdliche zu den Besitzlosen, zu denen, die um ihr tägliches Brot hart arbeiteten. Denn auch diese litten schwer unter den Kriegszeiten. Er sprach von der mit Füßen getretenen Ehre des Volks. Das verstanden sie nicht. Dann erzählte er, wie schön es doch wäre, wenn die Franzosen das Land verließen und nicht wiederkehrten. Das gefiel ihnen. Zuletzt malte er die Segnungen gedeihlicher Friedensarbeit aus. Wie das arg verwüstete Land wieder aufblühen würde, der Wohlstand zurückkehre und auch für sie wieder bessere Zeiten anbrechen müßten. Da schmunzelten die also Angesprochenen, hielten den Pflug an, oder machten den krummen Rücken gerade und stellten den Fuß auf den Spaten und erkundigten sich, ob der Mittelknecht dann wieder dreißig Taler bekäme statt der zwanzig wie jetzt, und ob das Besserwerden schon von der nächsten Woche ab losgehe, oder wann sonst. Wenn die Franzosen gingen. -- Ob die bald gingen? -- Die gehen nicht von selbst, wir müssen sie zum Lande hinauswerfen. -- Staunen! -- Aber ihr Kaiser, der Napoleon, was mit dem werden solle? -- Der muß mitsamt seinem Heere fortgejagt werden. -- -- Da wurden die Gesichter lang und länger, und mitleidige Blicke trafen Konrad. Schade um ihn! Der Rabensteiner war bisher ein Mann gewesen, vor dem man Achtung haben mußte, weil er alle Dinge kannte; aber jetzt war es aus mit ihm. Er hatte immerfort in dicken Büchern gelesen und sich dabei überstudiert. So war er, der Alleswissende, im Kopfe schwach geworden und sah den Mond für ein Käsekäulchen an. Und mit lautem hüh wurden die Gäule wieder angetrieben, daß der scharfe Zahn des Pfluges das Erdreich von neuem aufriß, und das Grabscheit stichelte fleißig weiter, um die nutzlos geopferte Zeit wieder einzuholen. So erging es Konrad überall. Ob Herr, ob Knecht, der Gesichtskreis beider hörte unmittelbar hinter den Abschlußrainen ihrer Wiesen und Felder auf, und mit hartnäckigem Bauernstarrsinn horchten sie an seinen Worten vorbei. Nun lief Konrad auf die Nachbardörfer wo er einen Gleichgesinnten wußte, vielleicht hatte dieser mehr Erfolg. Aber er erlebte eine Enttäuschung über die andere. Überall wo er fragte, vernahm er dieselbe Antwort: es ist unmöglich, die Leute für die Sache zu gewinnen. Da reifte, gleichsam wie das Weizenkorn in der Erde unter den belebenden Strahlen der Frühlingssonne, zwischen den bittern Gefühlen über die Gleichgültigkeit und Stumpfheit seiner Landsleute und dem die Brust beengenden Haß gegen die Bedrücker, in der Seele des jungen Mannes langsam der Entschluß, die Sorge für seinen Hof der Mutter allein zu überlassen und in das preußische Heer als Freiwilliger einzutreten. Die Ausführung dieses Planes sollte aber sobald nicht verwirklicht werden. Konrads Mutter wurde von einer tückischen Krankheit hart darniedergeworfen und rang während mehrerer Wochen mit dem Tode. Und als endlich die Gefahr für ihr Leben vorüber war, genas sie sehr langsam, und Konrad mußte während dieser ganzen Zeit so angestrengt schaffen, daß er sich nicht wenig verwunderte, wieviel Arbeit seine Mutter doch bisher still verrichtet hatte. Der Sommer des Jahres 1813 ging ins Land. Die für Napoleon siegreichen Schlachten bei Bautzen und Dresden wurden geschlagen und stärkten seinen Kriegsruhm von neuem. Fast zur gleichen Zeit aber wurden die hervorragendsten Generale des Kaisers von preußischen Armeen besiegt, so daß die zuversichtliche Stimmung in den Reihen der Franzosen arg litt, während die Siegeshoffnung der Verbündeten immer mehr wuchs. Aus allen Teilen des sächsischen Landes kamen jetzt Nachrichten über Sympathiekundgebungen für die verbündeten Truppen. In Dresden wurden die Stimmen, die noch für den Kaiser waren, niedergeschrieen, und mit Frohlocken sprach man die Tatsache weiter, daß eine ganze Anzahl Leipziger Studenten als Freiwillige zu den preußischen Fahnen geeilt sei. Napoleons Zorn wandte sich deshalb gegen diese verhaßte Stadt. Er legte ihr eine Brandschatzung auf und erklärte sie in Belagerungszustand. Für den König aber und seine Minister schien die wachsende Begeisterung im Lande überhaupt nicht zu bestehen. Mehr den je fand Friedrich August das Verhältnis zu Napoleon natürlich und heilbringend für sich und sein geprüftes Volk. Den niedrigsten Tiefstand von Entfremdetsein mit den Ereignissen dieser bedeutungsvollen Tage aber erreichten Sachsens Regierende um die Mitte des Monats August. In unglaublicher Verblendung wurde nämlich der General von Gersdorff beauftragt, dem Kaiser eine Note zu überreichen, worin der König bat, die von Napoleon schon in Aussicht gestellte Gebietsvergrößerung Sachsens um 500000 Seelen ihm beim Friedensschlusse mit den besiegten Preußen und Russen dergestalt zu gewähren, daß ein Teil Schlesiens mit Sprottau und der Festung Glogau an Sachsen falle, um eine unmittelbare Verbindung mit dem Herzogtum Warschau herzustellen. Und selbst dann war der suggestive Einfluß Napoleons auf den König von Sachsen noch ebenso gewaltig, als die Niederlagen der Franzosen bei Großbeeren, Kulm und Dennewitz in den Straßen der sächsischen Hauptstadt ausgerufen wurden und der Jubel der Bevölkerung das düstere Schloß der Wettiner umtoste. In den größeren Städten des Landes bekannte man sich jetzt offen für die Verbündeten, und als in der Nacht zum 23. September der Major von Bünau mit einem sächsischen Bataillon König bei Oranienbaum zu den Preußen überging, schwoll die Abneigung gegen die Franzosen so an, daß die Wogen der Begeisterung über die Ufer hinausrollten und sich bis in die kleinsten Ortschaften des Landes ergossen. Mit Wut sah man auf die Ausschreitungen einzelner schlecht in der Mannszucht stehenden französischen Regimenter und bemerkte mit Freude, daß die Anzahl ihrer Fahnenflüchtigen wuchs, die in hellen Haufen dem Rheine zuwanderten. Konrad war unterdessen nicht müßig gewesen. Er hatte nicht nachgelassen, für den Eintritt in preußische Dienste Stimmung zu machen, und seinen unermüdlichen Anstrengungen war es zuletzt gelungen, im Dorfe ein paar Gesinnungsverwandte zu finden. * * * * * Auf dem Freihofe war es in diesem Sommer ziemlich still zugegangen, denn es war ja noch immer Trauer im Hause. Die Ernte war zwar gut gewesen, aber man hatte nicht viel davon hereingebracht. Die wiederholten Truppendurchzüge, mit denen die Gegend vom Tage von Großgörschen ab überschwemmt wurde, hatten viel davon aufgezehrt. Fast den ganzen Hafer hatte Max, gerade als er sich goldig färbte, an französische Reiterregimenter auf dem Halme verkaufen müssen. Nicht viel anders war es ihm mit dem Roggen gegangen, von dem er in diesem Jahre so viel besaß, und den Weizen hatte er schon im Frühjahr einem der herumreisenden Regierungsagenten versprochen, der ihn bei jeder Begegnung obendrein an die in Aussicht gestellten zweitausend Scheffel Kartoffeln erinnerte. Von allen Seiten war mit gutem Gelde bezahlt worden, auch von den Franzosen. Später aber gaben diese nur noch Anweisungen auf die Regierungskasse in Leipzig, die kaum imstande war, alle Anforderungen zu befriedigen. Zuletzt kamen auch Einbußen. Die Einquartierungen wollten nicht enden, und die französischen Kommissare feilschten um das Vieh wie die schlimmsten Juden, und man mußte höllisch aufpassen, daß mit der schlecht bezahlten Kuh nicht auch das Kalb aus dem Stalle verschwand. Das Federvieh konnte nicht mehr herausgelassen werden. Wenn man den Rücken wandte, streckten sich sechs Hände zugleich nach der dürrsten Henne aus. Die französischen Soldaten waren oft betrunken und begingen dann Ausschreitungen. Als Max eines Abends in den durch eine Lampe notdürftig erleuchteten, kleinen Rinderstall trat, kam er gerade zur rechten Zeit, um eine sich heftig sträubende Magd aus den Armen eines hochgewachsenen französischen Korporals zu befreien. Wie ein Vampyr hing der Kerl an dem zitternden Mädchen, das ihn nicht abschütteln konnte, obwohl es die ganze Kraft seiner starken Arme aufs äußerste anspannte. In zornigem Tone herrschte Max den Franzosen an, worauf dieser, ohne das Mädchen aus den Armen zu lassen und erzürnt ob der Störung, ihn frech musterte. Da überkam den jungen Gutsherrn vom Freihofe ein gesunder Zorn. Mit einem langen Schritte trat er hinzu, faßte den Soldaten mit der Faust am Rockkragen, riß ihn vom Mädchen weg, schüttelte ihn wie eine Katze ein paar mal hin und her, daß dem liebestrotzenden Marssohne Hören und Sehen verging und warf ihn dann mit solcher Kraft gegen die Stalltür, daß deren Zapfen sich in der Mauer lösten, und er im Verein mit dem obendrein zersplitternden, alten Holzgitter prasselnd hinaus auf den Hof flog. Die Freihoferin war seit Elisabeths Tode noch wortkarger geworden. Um die Wirtschaft kümmerte sie sich nicht mehr sonderlich viel. Am liebsten saß sie in der großen Stube am hintern Fenster und sah hinaus im den Obstgarten. Dort konnte sie lange sinnen und schweigsam den Ort betrachten, wo Elisabeth als Kind immer gespielt hatte. Maria kam täglich zu ihr. Mit dem feinen Takte, den man in hohem Grade bei edeln Frauen findet, hatte sie jeden Zärtlichkeitsbeweis der Mutter ihres Verlobten gegenüber unterlassen. Die Nichte war ihrer Tante vom ersten Tage ab mit ruhiger Sicherheit begegnet, als wenn sie schon seit Jahren um sie herum wäre. Nichts erschien ihr auffällig und ohne sich in der Ausführung ihrer Dienste zu übereilen, war sie voll Aufmerksamkeit bemüht, die Wünsche der Greisin von ihrem Gesicht abzulesen, das freilich nur wenig von dem verriet, was in ihrem Innern vorging. Das zurückhaltende Benehmen Marias gefiel der Freihoferin. In kurzer Zeit hatte ihr scharfer Verstand das Wesen der jungen Nichte erkannt, und mit geheimem Entzücken entdeckte sie neben den herrlichsten weiblichen Tugenden ein Herz voll Liebe, das auch für sie schlug. Und als eines Abends Maria vor der Greisin stand, um Abschied zu nehmen, fühlte die feine, weiße Hand, die sonst nur flüchtig in der von vielen blauen Adern durchzogenen geruht hatte, sich festgehalten. Langsam erhob sich die Greisin vom Stuhle, weidete sich ein paar Augenblicke mit Entzücken an der Schönheit des in großer Verwirrung errötenden Mädchens und zog es endlich an die Brust und küßte es wiederholt. Da öffnete sich die Tür, und unbemerkt von beiden erschien Max auf der Schwelle, um seine Braut abzuholen, damit er sie, wie allabendlich, über die Wiesen begleite. Ein Sekunde lang schaute er mit großen Augen auf die Gruppe, dann verließ er leise wieder das Zimmer. Von diesem Tage ab erschien die Freihoferin den Leuten getrösteter. Der herbe Leidenszug war von ihrem Gesicht verschwunden und hatte dem Ausdruck eines geklärten Schmerzes, wie der Mensch ihn zur Schau trägt, wenn er sich mit Würde in sein Schicksal zu finden weiß, Raum gegeben. Nun ging sie auch wieder öfters als in den letzten Wochen über den Hof, hinüber nach den Scheunen und Ställen. Aber ihr Gang war nicht mehr so sicher wie bisher, und das spärliche, glattgestrichene Haar, das noch vor wenigen Jahren tiefschwarz war, lag auf dem Kopfe wie in mattem Silberglanze leuchtende Seide. Die Hochzeit der jungen Leute sollte nach der Ernte sein. Die Vorbereitungen hierzu wurden auf das eifrigste betrieben, als sie ganz unerwartet jäh unterbrochen werden mußten: Marias Vater erlitt einen Schlaganfall, der den alten Herrn todkrank machte. Seine kräftige Natur raffte sich jedoch bald wieder auf, als der Anfall sich wiederholte und er ihm erlag. Marias Schmerz war zum Herzbrechen, und erschüttert stand Max an der Leiche des teuern Toten, der ihm mit väterlicher Liebe und Güte zugetan gewesen war. Wie bei Elisabeth war die Freihoferin von dem Krankenbette nicht gewichen, und in den letzten lichten Stunden des Verstorbenen hatten sich die beiden alten Menschen gefunden, und die Aussöhnung, die nach der Verlobung stattgefunden hatte, war im innersten Herzen besiegelt worden. Mit fester Stimme segnete der Freiherr die Kinder. Darauf wandte er sich an die Greisin, die mit ineinandergeschlungenen Händen, den Kopf auf die Brust geneigt, wortlos am Bette stand. Der Sterbende griff nach ihrer Hand und zog die vom Schmerze, dem keine Worte Ausdruck geben können, Überwältigte sanft an sich. Da versagte der Freihoferin die Kraft. Ihre Knie beugten sich, und langsam sank sie neben dem Bette nieder und barg das Haupt in den Händen. Als aber die tastende, zitternde Hand sanft über ihr welkes Antlitz strich, wehrte ihr die Greisin, und aus den Händen heraus klang ihre bebende Stimme: »Arnold, ich verdiene Deine Liebe und Güte nicht, ich, die Dir im Leben so schweres Herzeleid zugefügt hat.« Der alte Mann aber sprach mild: »Die bösen Zeiten sind vorüber, Constanze; möge die Erinnerung an sie recht bald in das graue Meer der Vergessenheit hinabsinken. Ich nehme alle Schuld, die begangen worden ist, mit ins Grab und das, was ich zurücklasse, sei Liebe und Frieden. Ein starkes Geschlecht mag aus der Vereinigung unserer Kinder erwachsen, und auf immerdar sollen unsere Familien unauflösbar miteinander verschmolzen sein. Dir aber, wünsche ich, mögen die Kinder Deinen Lebensabend sonnig gestalten, denn Du hast ja am meisten gelitten.« Darauf entgegnete die Freihoferin nichts, aber sie küßte wiederholt und voll Inbrunst die Hand des Sterbenden. 16. Kapitel. Es war an einem Septembertage, als Konrad Hartmann Max mit seinem Besuche überraschte. Die beiden Freunde hatten sich in der letzten Zeit selten gesehen. Konrad hatte nicht aufgehört, die franzosenfeindliche Stimmung in alle Häuser zu tragen und war seiner Aufgabe mit einem solchen Eifer nachgekommen, daß ihm keine freie Minute übrig blieb. Max war tagsüber in der Wirtschaft stark in Anspruch genommen gewesen, in den übrigen Stunden aber hatte er das Haus selten verlassen. Zu dem kleinen Kreise, den er mit der Mutter und Maria bildete, hatte sich als viertes Mitglied Marias wiedergenesene Tante hinzugesellt, die bis zur Hochzeit und Übersiedlung Marias nach dem Freihofe auf dem Weißen Schlosse das Zepter führte. Nach Bauernart sprach Konrad, ehe er mit dem herausrückte was ihn hergeführt, erst vom Wetter, dann von der Ernte und davon, daß die Rüben im vorigen Jahre viel besser standen als heuer. Dann kam das Vieh an die Reihe, bis er plötzlich mitten in der Rede abriß und scheinbar harmlos hinwarf: »Anfang Oktober gehe ich fort und schließe mich den Preußen an.« Konrad war während der Unterhaltung unruhig in der Stube auf- und abgegangen, während Max am Tische saß und durch das Fenster das Anspannen zweier Pferde auf dem Hofe beobachtete. Als Konrad geendet, fuhr Max herum und ließ seine Augen forschend auf dem Gesicht des Freundes ruhen, gleichsam um dessen geheimste Gedanken zu erraten. Und je länger er ihn betrachtete, je überzeugender kam ihm die Gewißheit, daß der Freund seine Worte in unerschütterlichem Ernste gesprochen hatte. Aber es war ihm nicht möglich, sich mit dem Gedanken so schnell vertraut zu machen, daß Konrad wirklich schweren Kriegsdienst tun solle. Mit ungläubigen Blicken, beinahe lächelnd, betrachtete er die schwache Gestalt des Freundes, und noch nie war ihm dessen Wuchs so knabenhaft erschienen als in diesem Augenblick. Da begegneten Konrads Augen den seinigen, und blitzschnell verstand dieser die stumme Sprache, die sie führten. Eine heftige Blutwelle schoß ihm in das Gesicht, und es dauerte eine kurze Weile, bevor er sprechen konnte. Und dann hatte die sonst so sichere Stimme allen Klang verloren und zitterte leise und verriet die tiefe Bewegung ihres Besitzers. »Max, glaubst Du, daß sie mich zurückweisen, wenn ich mich bei der Armee der Verbündeten als Freiwilliger melde?« Max hatte eine leichte Entgegnung auf den Lippen. Da kam ihm der noch nie gehörte Ton zum Bewußtsein und er fühlte die Augen des Freundes in qualvoller Unruhe auf sich gerichtet, als wenn von seinem Spruche das Gelingen des Planes abhinge. Da erschrak er bei dem Gedanken, daß er eben im Begriff gewesen war, Konrad wehzutun. Es war bei ihm ja auch weniger der Zweifel in die Tüchtigkeit des Freundes zum Waffentragen als vielmehr sein zäher Widerspruch gegen alle Unternehmungen des sächsischen Volkes die darauf hinausgingen, sich gegen die Politik der Regierung aufzulehnen. Deshalb sagte er begütigend: »In den preußischen Regimentern wird bei dem Strome von Kriegsfreiwilligen jeden Alters sich ganz bestimmt eine große Anzahl solcher befinden, deren schwacher Körper obendrein an schwere Arbeit nicht gewöhnt ist.« Und als er sah, wie die Besorgnis aus dem Gesichte Konrads zu weichen begann, setzte Max hinzu: »Deine außergewöhnliche Gewandtheit zu Pferde wird man ja bald erkennen, und Du kannst sicher sein, daß sie Dir vortreffliche Dienste leisten wird.« »Gebe Gott, daß Du recht hast,« antwortete Konrad, »denn ich beabsichtige, mich um die Aufnahme in ein Husarenregiment zu bewerben. Aber Max, nur um Dir dies zu erzählen, bin ich nicht hierhergekommen; -- ich kann es noch immer nicht glauben, daß Du zurückbleiben könntest, wenn Du uns gehen siehst.« Da wandte Max das Gesicht erneut zu Konrad und sagte mit schlecht verbissenem Lächeln: »Soll ich mich mit meinem Körpergewicht von dritthalb Zentnern etwa auch für ein Husarenregiment einschreiben lassen?« »Keine Scherze, Max,« bat Konrad, der seine ganze Sicherheit wiedergewonnen hatte, »die Zeit ist zu ernst zum scherzen. Wenn mich nicht so feste Bande an Dich fesselten, würde ich nicht hier stehen und noch einmal versuchen, Dich zum Mitgehen zu bewegen. Du wünschest sehnlichst friedliche Zeiten herbei. Gut, das weiß ich, aber glaubst du vielleicht, daß der Frieden kommt, wenn die Regierungen einzelner deutschen Staaten sich darin überbieten, dem fremden Eroberer zu lobhudeln, anstatt dem Beispiele ihrer Bruderstämme zu folgen, bei denen einsichtsvolle und beherzte Männer die lange genug am Boden schleifenden Zügel des in toller Fahrt dahinjagenden Staatskarrens mit Verachtung der Gefahr in die Höhe reißen?« Max war während der Worte des Freundes ernst geworden. Jetzt antwortete er: »Dein leicht erregbares Blut spielt Dir einen Streich, Konrad. Du siehst nicht die Steine, die am Wege liegen, bis Du ihre scharfen Kanten spürst und Dir die Füße an ihnen wundgestoßen hast. Wir Sachsen haben immer mit dem besten Erfolge die Geschicke des Landes in die Hände unserer Fürsten gelegt. Ob die abwartende Haltung des Königs und der Minister uns nicht doch noch zum Segen gereicht, wissen wir heute nicht. Ruft uns die Stimme des Königs gegen Napoleon, dann wird ihm von seinem Volke dieselbe Hingebung zuteil, wie sie Friedrich Wilhelm von seinen Untertanen empfängt. Aber gegen den Willen des Königs darf sich ein Volk erst dann auflehnen, wenn es sich überzeugt hat, daß seine Existenz bedroht ist, oder daß es schweren Schaden erlitte, wenn die eingeschlagene Straße weiter verfolgt würde.« Bis hierher hatte Konrad an sich gehalten, jetzt brach er los: »Wie weit willst Du denn die Probe ausdehnen? Wann ist für Dich der gegebene Augenblick gekommen, zu dem die Nation eine Abkehr von der Politik des Landesherrn mit Recht fordern darf? Sieh Dich um, Max! Aus allen Teilen des Landes des langmütigen Sachsenvolkes kommen Nachrichten von heftigen Einsprüchen gegen die Stellung der Regierung. Das ist der sich erhebende Sturm, der vor dem Hereinbrechen des Gewitters über die Fluren braust. Nur zu lange haben wir der Führung blind vertraut; jetzt schrecken wir auf und sehen mit Entsetzen, daß dicht vor unsern Füßen ein tiefer Abgrund gähnt. Wie kannst Du noch von den heiligen Untertanenpflichten gegen den König sprechen, wenn dieser uns von der Höhe des Ansehens und der Achtung, die wir bei unsern Nachbarn genossen, tief hinabgeführt hat in Niederungen, wohin uns nichts als höhnische Zurufe und verächtliche Blicke begleiteten. Unser Land ist ausgesogen und dem Ruin nahegebracht, und seine besten Söhne liegen ruhmlos in fremder Erde oder kämpfen schimpflich gegen die heldenmütigen Verteidiger deutscher Ehre und deutschen Bodens. Unaussprechlicher Jammer ist in die Wohnungen unseres guten Volkes eingekehrt; Armut schwingt die Geißel, und Not und Sorge hocken am Herd und blasen die spärlichen Feuer aus. Dafür lodern aber die gefräßigen Flammen anderwärts hell auf: zwanzig Dörfer brannten zwischen Königswartha und Görlitz in den Tagen, wo um Bautzen gekämpft wurde, und ihr blutigroter Schein am Nachthimmel leuchtete den Entmenschten, die sich Freunde unseres Landes nennen, als sie den Bauern das letzte Stück Vieh aus den Händen rissen, das ihm von dem in Trümmern liegenden Besitz seiner Väter geblieben war. Die schlimmsten Gräuel des dreißigjährigen Krieges steigen wieder herauf wenn man vernimmt, daß Tausende von Bauern aus den niedergebrannten Dörfern in die Wälder flüchten mußten, um das nackte Leben zu retten. Und wenn am Sonntag die geängstigten und schwergeprüften Landleute sich in den Kirchen wiederfinden, dann müssen sie vernehmen, wie von den Kanzeln herab der Segen des Allmächtigen für die Waffen des _Beschützers_ des Landes erfleht wird. Max, ich sage Dir, hüte Dich, daß Du aus Liebe und Treue gegen den König nicht zum Verräter an Deinem Volke wirst!« Hier schwieg Konrad, um den Freund sprechen zu lassen. Der aber antwortete nicht. Wie eine Bildsäule saß er im Stuhle und starrte vor sich nieder. »Jahrhundertelang,« fuhr Konrad bitter fort, »lagen die deutschen Stämme gegen einander in Streit, wie die Nachkommen einer Mutter, die sich gegenseitig verderben. Einer gewaltigen Arena glich das deutsche Land, und die Völker Europas saßen auf den Stufen und schauten mit vergnügten Mienen auf die Kämpfenden. Zu allen Zeiten wurde ein Grund gefunden, der es ermöglichte, daß man eine lange Reihe von Jahren gedeihlichen Friedens vermeiden konnte. Krieg und Verwüstung war die Losung! Heute verlangt es der König, daß in der großen Zeit einer einmütigen Erhebung gegen die Feinde Deutschlands sein Volk die Waffen gegen die befreundeten Nachbarn erhebe, um den Blutdurst des Anführers eines jahrhundertealten Feindes allen Deutschtums zu stillen. So vertilgen wir einander mit Ingrimm selbst, bis endlich an den Ufern der deutschen Ströme fremde Laute erklingen und fremde Sitten gepflegt werden, und man von uns sprechen wird, wie von einer untergegangenen Stadt; -- -- ein neues Glied im Totentanze der Völker! Heute helfen wir unsere Stammesbrüder niederwerfen und sehen in unbegreiflicher Verblendung nicht voraus, daß sich der Fuß des Siegers auch seinem Helfer auf den Nacken setzen wird. Was wirst Du einstmals empfinden, Max, wenn Du siehst, wie Deine Töchter mit niedergeschlagenen Augen Unfreien zum Altare folgen! Und was wirst Du antworten, wenn sich Dein Sohn mit blitzenden Augen vor Dich hinstellt und fragt: Vater, ist es wahr, daß es einstens welche gegeben hat, die die große Sache mit kleinlichen Bedenken bekämpften, bis es zu spät war? Und das sage ich Dir, Max, Kinder sind zuweilen unerbittlich strenge Richter für die Taten ihrer Väter!« Max hatte während der ganzen Rede Konrads stillgeschwiegen. Auch jetzt, nachdem dieser geendet, blieb er stumm sitzen, den mächtigen Oberkörper fast auf dem Tische liegend und mit beiden Ellbogen stützend. Ein paar Sekunden verstrichen, ohne daß einer der beiden Männer ein Wort sprach. Da endlich unterbrach Max das Schweigen und fast wie im Selbstgespräch sagte er mit halblauter Stimme, die gezwungen ruhig klang: »Ich kann es keinem erlauben zu behaupten, daß ich ihm nachstünde in der Liebe zu meinem Volk und meinem Vaterlande. Ich habe es bereits ausgesprochen, daß ich bereit bin, zum richtigen Zeitpunkt mein Leben in die Schanze zu schlagen. Bis dahin bin ich bemüht, das Elend und die Not meiner Mitmenschen zu mildern, soweit es in meiner Macht steht -- --« »Max,« unterbrach hier Konrad ungeduldig, »verzeihe mir, wenn ich Dich verletze. Aber auch Du hast, wie so viele andere, in den Augenblicken der höchsten Not nichts als Worte. Das Vaterland liegt auf den Tod darnieder und krümmt sich unter den schweren Schlägen, die es erschüttern. Einige Wenige nur sind es, die ihm beispringen, die großen Massen aber stehen dumpfbrütend zur Seite und lassen es verbluten. Daß Du für die Schwachen, für die Frauen und Kinder Deinen Leib einsetzen würdest, glaube ich Dir, denn nur ein Hundsfott handelt anders. Aber wenn je, dann ist es jetzt Zeit, den Worten Taten folgen zu lassen, heraus mit der Plempe, wer gut sächsisch denkt, auf daß wir nicht mehr das Gespött von Millionen guter Deutschen bilden. Wer jetzt, in den Tagen der großen Wehen noch lau ist, auf den wird einst das kommende Geschlecht mit Fingern zeigen.« Da machte der breit am Tisch sitzende Mann eine plötzliche Bewegung, erhob sich und ging mit dröhnenden Schritten auf den Sprechenden zu, bis er dicht vor ihm stand. Sein Gesicht war gerötet, und seine breite Brust erzitterte unter den schweren Atemstößen. »Konrad,« stieß er hervor, und bezwang seine große Erregung, daß er nicht laut aufschrie, »bedenke, was Du sprichst? Du führest große Worte im Munde; hüte Dich, daß die Wogen, die Du aufpeitschest, nicht über Deinem Kopfe zusammenschlagen. Es klingt ein brausender Klang durch Deine Rede, aber es wäre entsetzlich, wenn den, der sich begeistern ließe, nur ein Trugbild narrte. Welche Schuld können die Männer auf sich laden, die einen großen Sturm im Lande entfachen! Der Kaiser würde, wenn es ihm gelänge, die Heere seiner Gegner niederzuwerfen, unser Land grausam strafen. Edler Freiheitsdrang und kühner Wagemut würden tiefste Demütigung gebären, und die dem Volke auferlegten Opfer müßten alles bisher Erlittene weit übertreffen. Die einmal entfesselten Gewalten sind nicht mehr niederzuhalten. Sind erst die Leidenschaften geweckt, dann sind die Menschen blind und wüten, wenn der Plan fehlschlägt, gegeneinander, sich selbst zerfleischend.« »Still, still,« fiel Konrad dem Freund in die Rede, »du bist im Irrtum, wenn Du glaubst, daß ich jetzt noch für eine lärmende Erhebung gegen die in unseres Volkes Mitte weilenden Zwingscharen Stimmung machen wolle. Ich will, wie ich Dir schon sagte, mich dem preußischen Heere anschließen und versuchen, noch eine Anzahl warmherziger Männer für diesen Plan zu gewinnen. Und so, wolle es Gott, möge man in vielen andern sächsischen Ortschaften auch denken. Aber ohne Lärm muß dies geschehen, sonst wird unser Vorhaben vereitelt, denn wir sind rings von Spionen umgeben, die der uns Sachsen längst nicht mehr trauende Kaiser unterhält. Du befürchtest, daß die Armeen der Verbündeten den Franzosen zuletzt wieder unterliegen müßten? O, Du Kleingläubiger! Komm, zieh mit uns und hilf die Reihen der deutschen Streiter vergrößern, auf jedes Mannes Faust und Auge kommt es an. Die unerschütterliche Zuversicht aber laß in Deine Seele einziehen: Männer von dem unbeugsamen Willen zu siegen oder zu sterben, wie sie den wallenden schwarzweißen Fahnen nachfolgen, können wohl geschlagen, nie aber besiegt werden, denn sie kämpfen ja alle für ihre verlorenen höchsten Güter. Gebiete deshalb der beschwichtigenden Stimme in Deinem Busen Schweigen, sie will Dir den Mannesmut ersticken! Du milderst Elend und Not, die um dich herum grinsen? Gewiß, das tust Du, und das habt Ihr Tiefenbachs im Verborgenen immer getan. Ja, Du tust noch mehr! Dein nüchtern denkender Kopf hat schon manchen glücklichen Ausweg gefunden, und Dein Rat wird von jedermann hoch geschätzt. Keine Mühe verdrießt Dich, wenn es gilt, das Gemeinwohl im Dorfe zu fördern. So verleihen Dir Herz und Verstand Eigenschaften, daß Du Dich trotz Deiner jungen Jahre wie keiner sonst großen Ansehens erfreust, weit in der Landschaft. Aber ist das das Höchste, mit dem Nächsten das Brot teilen und ihm, wenn er in Bedrängnis, mit gutem Rat zur Seite stehen? Dazu bedarf es doch keiner hohen Eigenschaften! Dein Ziel muß weiter draußen liegen. Ich will Dir sagen, Max, was besser ist als treu mit dem Volke die Straße dahinziehen: Du mußt es führen! Dein Blick soll weithinaus schauen. Wo steinigte Abhänge und fruchtbare Täler liegen, mußt Du wissen, Gefilde, die die belebenden Sonnenstrahlen täglich umschmeicheln und verlorene Plätze, wo kalte Nebel ziehen und schwere Stürme jahraus jahrein daheim sind, dürfen Dir nicht verborgen sein! Dort, wohin heute die Deinen gelangen, mußt Du schon gestern geweilt haben, und wenn ihr Zug am Kreuzweg ankommt, betrittst Du als erster den richtigen Pfad, der nach Deinen besten menschlichen Erwägungen von den Dir Hinterdreinziehenden zu ihrem Heile begangen wird. Stell’ Dich darum jetzt an unsere Spitze, denn Du bist unser geborener Führer. Laß Deine Beredtsamkeit auf die Männer wirken und reiße die Zögernden durch Dein Beispiel mit fort. Schwing Dich hoch hinauf, betrachte von den Zinnen der Geschichte die Völkerstraßen und urteile dann, ob Entschlossenheit und Draufgehen oder Ergebenheit und täglich erneutes Weiterquälen für das Heil eines Volkes besser sind. Der gemeine Mann ist zaghaft und beschränkt, er betrachtet jedes Abweichen vom Althergebrachten als einen Sprung ins Dunkle und berechnet die Möglichkeit des Wachsens oder Verminderns seines Besitzes an den zitternden Fingern, indem er den Gewinn mit eins, den Verlust aber mit vier multipliziert. Lehre Du ihn, daß es Augenblicke gibt, in denen man sein Leben und die gesamte Habe auf das kippende Brett setzen muß, und daß zu allen Zeiten diejenigen Völker aus Wirbelwind und Wogen endlich ihre Schiffe in sturmfreies Wasser brachten, die mit Verachtung der Totesnöte das Erz des Kieles durch Flut und Brandung hindurchtrieben. Mag auch die Wimper zucken und die nervigste Faust zittern, -- den hohen Einsatz lohnt der hohe Gewinn!« Konrad hielt einen Augenblick inne und neigte seinen Kopf vor, als wenn er etwas Geheimnisvolles zu sagen habe. Dann fuhr er mit veränderter Stimme, die Worte abreißend, hastig fort: »Darum handle, Max, ehe es zu spät ist! Mir folgen ihrer sechs, nicht mehr, Dir alle. Dein Einfluß ist gewaltig, der meinige schwach. Der Rabensteiner mit seiner Hundehütte von Hof kann schon etwas wagen, sagen sie. Geh, zeige ihnen, daß Du, der Freihofer, der größte Bauer weit in der Runde, Deinen Hof im Stiche läßt, um des Vaterlandes willen. Lehre den Starrköpfen, daß die höchsten Ziele eines Volkes nichts zu tun haben mit der kleinlichen Sorge um Nahrung für Weib und Kind für den nächsten Tag. Rüttle sie auf und stachle schonungslos ihren Ehrgeiz an, auf daß in ihren Herzen die edelsten Mannestugenden wach werden und sie sich darauf besinnen, daß ein tatenloses Volk in Ketten sich aus den abscheulichsten Kreaturen unter der Sonne zusammensetzt. Geh in die Häuser und zwinge die Männer unter deinen Willen. Wirb für die große Idee, ich werde Dir treulich helfen. Mache Helden aus den Säumigen und Bedenklichen und führe sie denen zu, die ihr Blut verspritzen für die Freiheit der deutschen Erde!« Max hatte in zusammengesunkener Haltung, das Kinn herabgesenkt, den glühenden Worten des Freundes gelauscht. Ihm war, als wenn eine berückende Musik sein Ohr träfe, deren Klang er noch nie vernommen. Die schmeichelnden Tonwellen umstrickten seine Seele und brachten die feinsten Saiten in ihr zum Klingen. Da richtete er seinen riesenhaften Körper mit einem Ruck zu seiner ganzen Höhe auf, und die Brust weitete sich, als wenn neues Leben in sie einzöge. Der blondhaarige Kopf mit dem ausdrucksvollen Gesicht und dem starken Nacken war dieser Bewegung gefolgt und stand stolz auf den breiten Schultern und unbeugsam von diesem Augenblick an, -- bis ans Ende! Es war ein Bild strotzender Kraft und sieghafter Mannesschönheit. Nicht mit ungestümer Bewegung, sondern langsam und etwas ungelenk, um das im Innern entfachte Feuer niederzuhalten, streckte er seine Hand aus und sagte mit leisem Beben in der Stimme: »Konrad, schlag ein! Du hast recht, der Taten bedarf es, denn Worte sind jetzt nichts anderes als das Bekenntnis der Feigheit. Die zwölfte Stunde des gewaltigen Dramas ist angebrochen, und wir müssen uns beeilen, denn niemand vermag den unerbittlich vorwärtsrückenden Zeiger an der Weltenuhr aufzuhalten. Der Lässigkeit wird die Geschichte unser Volk einst zeihen, handeln wir und tragen wir dazu bei, daß ihm der Schimpf der Feigheit erspart bleibe!« »Max!« schrie Konrad jubelnd auf und seine Augen liefen ihm über, »ich wußte es, daß Du uns nicht ziehen lassen konntest. Hier meine Hand. Mag unser Schicksal da droben beschlossen sein, wie es will, wir folgen unserm Herzen; ob in Nacht oder in Sonnenschein!« 17. Kapitel. Von diesem Tage an begann in Rehefeld ein geheimnisvolles, emsiges Treiben. Zuerst hatte Max mit klopfendem Herzen daheim seine Absicht ausgesprochen. Die Mutter war, nachdem er geendet, recht still geblieben und hatte nur mehreremal leise genickt, als wenn es sich für sie um eine schon längst beschlossene Sache handele. Maria aber war auf Max zugeeilt und hatte in stürmischer Bewegung ihre Arme um seinen Hals geworfen. »Ich hätte Dich nicht verstanden, Geliebter,« sagte sie, sich zärtlich an ihn schmiegend und das Haupt an seiner Brust bergend, »wenn Du zuhause geblieben wärst.« Da regte sich inmitten der ernsten Stimmung der Schalk in Maxens Brust und er fragte in scheinbar vorwurfsvollem Tone: »So spricht meine holde Braut? Ich hätte gehofft, sie würde Einspruch gegen meine Absicht erheben und mich bestimmen, bei ihr zu bleiben. Erkaltet die Glut eines Mädchenherzens so rasch?« Vergebens aber wartete er auf eine Antwort. Und als er nach mehreren Sekunden den fest an seine Brust gepreßten Kopf mit einiger Mühe aufhob und zurückbeugte, um Maria ins Gesicht zu sehen, da zeigte es sich, daß dieses Antlitz in holdseligem Lächeln tief errötet war. Aber das Herz des Mädchens erfüllte nicht eitel Wonne, sondern wie so oft im menschlichen Leben wohnten auch in diesem Herzen jetzt die beiden Geschwister Freude und Schmerz dicht beieinander. Denn es darf nicht verschwiegen werden, daß an den langen, dunkeln Wimpern ihrer Augen ein paar glitzernde Perlen hingen. In wehmütiger Freude beugte sich Max nieder und küßte leise diese Tränen fort. Die Vorbereitungen zur Hochzeit aber wurden nun wieder aufgenommen und mit vermehrtem Eifer fortgesetzt, denn noch vor dem Ausmarsch der kleinen Schar sollte ihr Bund den kirchlichen Segen empfangen. * * * * * Die beiden Freunde waren unermüdlich im Werben, und nach wenigen Tagen hatten sich dreizehn Männer gefunden, die die Schmach des Landes nunmehr so bitter empfanden, daß alle Bedenken gegen die Ausführung des Planes überstimmt wurden. Max war ein beredter Anwalt für die Idee; wo seine Worte nicht überzeugen wollten, siegte zuletzt sein Beispiel. Das ganze Dorf geriet in helle Aufregung, und in allen Häusern sprach man von dem Vorhaben. Anfangs war es nicht leicht gewesen, mit den Männern darüber zu reden. Ihre geistige Schwerfälligkeit verhinderte, daß sie den so schnell veränderten, politischen Verhältnissen ebenso rasch folgen konnten. Die Niederlagen der französischen Generale und die dadurch schwierig gewordene Stellung Napoleons in Dresden waren zu überraschend gekommen, und die breiten Volksmassen hatte zu sehr der Gedanke durchdrungen, daß es heller Wahnsinn wäre, gegen die Macht des Gefürchteten anzukämpfen. Denn von dem Tage ab, wo die Heere der Verbündeten gegen den Kaiser losmarschierten, galt es in den störrischen Bauernschädeln für unausbleiblich, daß der Mächtige alle feindlichen Armeen in kurzer Zeit über den Haufen werfen würde. Als dann die Niederlagen der Franzosen eintraten, wurden die Getäuschten fast unwillig, weil ihre Voraussage nicht stimmte. Großgörschen hatte ihre Sehergabe als untrüglich anerkannt, und Bautzen hatte sie glänzend bestätigt. Dazwischen passierte allerdings Großbeeren, aber dort war ja der Kaiser nicht selbst gewesen, und die Schuld der Niederlage traf den Marschall Oudinot. Wenn auch einmal ein General unterlag, was tats, der Kaiser würde alles wieder einbringen. Dafür strahlten seine Sterne bei Dresden wieder um so heller; selbst die Unterlegenen sprachen ja mit Bewunderung von dem Sieger. Dann kam Vandammes Niederlage und Gefangennahme bei Kulm. Das war wieder gegen die Weissagung, durfte aber nicht allzuernst genommen werden, denn er war ja keiner von den großen Generalen der alten Schule. Da trat aber wenige Tage später ein Ereignis ein, das aller Zuversicht einen gewaltigen Stoß versetzte: General Bülow hatte eine starke französische Armee, die nach Preußens Hauptstadt vordringen wollte, wenige Meilen vor Berlin bei Dennewitz gänzlich geschlagen, und der Führer dieser Armee war der ruhmreichste der Feldherren Napoleons, -- der Marschall Ney. Da schwiegen die Eigensinnigen, nahmen die Pfeife aus dem Munde, spuckten aus und kratzten sich die Köpfe. Nun lag der angeschossene Löwe knurrend in Dresden und hieb mit seiner Tatze wütend nach den ihm keine Ruhe gönnenden Feinden. Jeder Schlag dieser fürchterlichen Pranke saß zwar, aber es waren keine eigentlichen Siege, wenigstens keine solchen, wie man sie von einem Schlachtengewinner von seinem Range erwartete. Denn das staunende Europa war anspruchsvoll geworden und gab seinen Leistungen strenge Zensuren. Und bei alledem wuchs des Kaisers Verlegenheit in der sächsischen Königsstadt sichtlich. So stand es im Anfang des Monats Oktober, gerade in den Tagen, in denen Max und Konrad ihre Tätigkeit entfalteten. Die Stimmung in den meisten Städten Sachsens wurde zu dieser Zeit derart franzosenfeindlich, daß es gefährlich war, sich noch offen für die Bedrücker zu bekennen. Aber der schwerfällige Sinn des sächsischen Bauern war nicht dazu geschaffen, seine Bedenken gegen einen Aufstand wider die Franzosen binnen wenigen Tagen aufzugeben, obwohl nicht nur zahlreiche eigene Landsleute dafür Stimmung machten, sondern auch die im Lande stehenden preußischen und russischen Truppen unaufhörlich dazu anfeuerten. Der Bauer wollte erst Garantien dafür haben, daß Napoleon nicht mehr mächtig genug war, eine Erhebung des Volkes mit drakonischer Strenge zu vergelten. Denn die Leiden der letzten Jahre waren gerade für dieses unglückliche Land über alle Maßen schwer gewesen und hatten die frohe Hoffnung auf ein endliches Zerschmettern der Kraft dieses Riesen in der Brust der Menschen bis auf ein winziges Fünkchen ersterben lassen. Dies war die Stimmung, die die bäuerliche Bevölkerung Sachsens erfüllte, als sie endlich einsah, daß das Staatsschiff mit vollen Segeln auf die Brandung zusteuerte und mit Mann und Maus unterzugehen drohte. Allmählich machte sich denn auch der Umschwung der Gesinnung auf dem platten Lande geltend und nicht zuletzt unter den Einwohnern Rehefelds. Die Landbevölkerung begann von neuem zu hoffen und vergaß die bisher gewahrte, ängstliche Vorsicht. Die Bedenken für den Verlust von Haus und Hof traten immer mehr in den Hintergrund, und Begeisterung zog in die Gemüter ein. Der Drang nach Freiheit wuchs ins Riesengroße und erfüllte zuletzt Aller Herzen. Wenn es in diesen Tagen trotzdem nicht zu einer allgemeinen Erhebung in Sachsen kam, so war nicht die mit Eifer beschwichtigende Regierung schuld, als vielmehr der Umstand, daß große Teile des Landes sich noch in den Händen der Franzosen befanden, daß ferner eine erhebliche Anzahl ungeduldiger sächsischer Männer in die immer weiter nach der Elbe zu vordringenden preußischen Regimenter als Freiwillige eintrat und endlich, daß die, die fremde Zwingherrschaft niederwerfende Schlacht auf den Fluren bei Leipzig unerwartet schnell hereinbrach. Wie ein großes Ereignis wirkte die Aufgabe Dresdens, das der Kaiser hatte stark verschanzen und sonst auch für seinen Winteraufenthalt hatte herrichten lassen. Eine weit über Deutschland hinaus sichtbare, leuchtende Flammenschrift erschien an dem tiefschwarzen Firmament und verkündete, daß sich jetzt das Ende vorbereite. * * * * * In Rehefeld herrschte in diesen Tagen unbestritten Maxens Geist. Er wußte alle Bedenken zu beschwichtigen und entfachte ein solches Feuer der Begeisterung in aller Brust, daß die Männer ruhelos zum Ausmarsch drängten, und die Frauen diesen Entschluß nicht nur durch Worte, sondern auch in tiefster Seele guthießen. Noch eine Woche wollte man warten, bis sich die französischen Armeen bei Leipzig gesammelt haben würden, und der jetzt von ihnen versperrte Weg zu den Verbündeten freigeworden war. Denn die Franzosen waren sehr mißtrauisch geworden, und niemand durfte bei Vermeidung von Festnahme in diesen Tagen ohne einen Reisepaß mehrere Meilen über Land gehen. Die Zeit bis dahin brachte man damit zu, sich im kriegerischen Handwerk zu üben. Ein Gewehr schweren Kalibers war für jeden vorhanden. Denjenigen, die selbst keines besaßen, wurde von mehreren Seiten zugleich ein solches angeboten, wie überhaupt die Gebefreudigkeit, namentlich bei denen die daheim blieben, mit der Begeisterung zusammen erwacht war. Auch Geld und Wertgegenstände wurden den Freiwilligen ausgehändigt, um sie ihrem zukünftigen Regimente zu überbringen. Wie drüben über der Grenze, waren auch hier die Zurückbleibenden bemüht, die große Sache, wenn nicht mit Blut, so doch mit Gut zu unterstützen. Auch ein paar Seitengewehre und Säbel, deren Existenz bisher außer den Eigentümern ein anderer kaum geahnt hatte, tauchten auf und wurden auf dem Wetzstein scharf geschliffen. Diejenigen, die schon früher einmal die Waffe getragen hatten, erklärten die Handgriffe, und der Schmied, der in dem Bataillon aus dem Winckel bei Jena mitgefochten hatte, stellte die Streiter in Reih und Glied, ließ sie marschieren und einschwenken und die Gewehre laden und Salven abgeben. Max, als der Größte, marschierte natürlich voran, während Konrad, wie es ihm zukam, als linker Flügelmann exerzierte. Alles erfolgte so, wie es in wenigen Tagen in Wirklichkeit geschehen sollte. Und wenn auch der oder jener, wie bei einer Anzahl von der Arbeit weggerufenen Bauern unausbleiblich, noch reichlich ungeschickt war, so glich er diesen Mangel durch Eifer und guten Willen wieder aus. Sobald aber die künftigen Verteidiger des Vaterlandes endlich ermüdet wieder ins Dorf zogen, dann trat flugs eine andere Schar zusammen und übte genau so, wie sie es vorher stundenlang beobachtet hatte. Leider besaßen diese keine Gewehre, aber sie waren genügsam und verfügten über hinreichend genug Phantasie, um eine eigens zu diesem Zwecke ausgesuchte, besonders schön gewachsene Haselrute oder schließlich auch einen invaliden Rutenbesen als wahrhaftes Schießgewehr anzusehen. Das war die liebe Jugend von Rehefeld. Der Schullehrer hatte, um seine sonst außer allem Zweifel stehende Autorität zu retten, in diesen Tagen darauf verzichtet, seine Lämmer täglich um sich zu versammeln. Und so hatten diese denn vollauf Muße, ihren sich im Schweiße des Angesichts abmühenden Vätern und Brüdern aufmerksam zuzuschauen. Waren diese aber endlich abgetreten, so liefen flink die bisherigen Zuschauer zusammen, und dieselbe Kleestoppel, deren Boden soeben noch unter dem schweren Bauernstiefel gedröhnt hatte, stampften jetzt die Tritte der barfüßigen Jungen. Der Platz des Freihofbauern auf dem rechten Flügel des Gliedes galt als besonders erstrebenswert und wurde sehr begehrt, und um das Amt des die Schar kommandierenden Schmieds fanden wahre Schlachten statt. Keine künstlichen, wie sie das Exerzieren mit sich brachte, sondern Schlachten ohne alle strategischen Vorbereitungen, aber mit anerkennenswerter Erbitterung. So plagte und prügelte man sich abwechselnd in heiliger Begeisterung, bis die Sonne sank und alle endlich den von herbstlichen Abendnebeln umflossenen Häusern zustrebten. Dann betrat der seine Sache mit vollem Ernst auffassende, junge Krieger mit erhitzten Wangen und zerzaustem Schopfe die niedrige Stube und sah geringschätzig auf die Schwester, die gerade ihrer Puppe das Nachtlager herrichtete. Kurz vor dem Schlafengehen und als er schon bis auf das Hemd entkleidet war, gedachte einer von ihnen aber noch einmal seiner kriegerischen Pflichten, indem er der Mutter zeigte, wie der Bauer vom Freihof den Ausfall mache. Dabei warf er das Körpergewicht wuchtig auf den vorgestellten linken Fuß und vollführte mit beiden Armen einen fürchterlichen Stoß, der auch ohne die eigentlich dazu notwendige Flinte ganz gegen Erwarten über alle Maßen gut ausfiel, daß der von der Wucht des Stoßes getroffene kleinere Bruder, der in seine Butterbemme vergnüglich hineinbeißend dem älteren arglos und voll Bewunderung zugeschaut hatte, heulend gegen die Wand flog. Eine Viertelstunde später lagen die beiden rosigen Kleinen in tiefem Schlafe, und die Mutter beugte sich schweigend darüber, und ein Himmel von Freude und Glückseligkeit brach aus ihren Augen. Genau eine Woche darauf aber begannen die mörderischen Tage von Leipzig, und als am Abend des letzten Tages der Mond wieder heraufzog, genau so wie heute, da düngte der Gatte dieser Mutter und Vater dieser Kinder den heimatlichen Boden mit seinem Herzblut. Sein glühender Durst nach Freiheit war gestillt worden. Schlaft süß, Ihr unschuldigen, vaterlosen Kleinen! Lächle wieder du junges, verlassenes Weib! Einer von den leuchtenden Sternen droben, die mild auf dich herabschauen, ist der Deinige! 18. Kapitel. Eines der am weitesten auf der Höhe gelegenen Güter Rehefelds war das des Bauern Frank. Es war ein mittelgroßes Anwesen mit reichlichem Viehstand und alten, aber noch recht gut erhaltenen Gebäuden. Ein früherer Besitzer hatte sich inmitten der beiden Ställe und gegenüber der großen Scheune ein niedliches Wohnhaus herrichten lassen, das dem ganzen Besitz ein ungemein freundliches Ansehen verlieh. Es war nicht streng nach der Bauweise der alten sächsischen Bauernhäuser gebaut worden, war aber mit guter Raumverteilung eingerichtet und bestand aus dem etwas erhöhten Unterbau und einem freundlichen, hellen Oberstock, den ein weitüberragendes, dickes Strohdach schirmte. Vor der Haustür befand sich eine kleine Terrasse, die von einem von zwei Säulen getragenen Lattenrost überdacht wurde, und von der hüben und drüben einige Stufen hinabführten. Um die hölzernen Säulen wanden sich dicke, schwärzliche Ranken Jelänger-jelieber und Heckenkirsche, deren grüne Zweige über das ganze Dach ausbreitet und zu einem unentwirrbaren Durcheinander verwachsen waren und die so tief herabhingen, daß der Raum zwischen den Säulen von Blättern und Blüten beinah ausgefüllt wurde. Im Sommer glich die Terrasse einer dichten Laube, die selbst im heißesten Sonnenbrand Schatten und erquickende Kühle spendete. Das Haus war sorgfältig mit Kalk verputzt und wurde öfters getüncht. Dann hoben sich die schwarzangestrichenen, recht- und spitzwinklig zueinander stehenden Balken von den blendendweißen Flächen scharf ab, und wenn man sich zu diesem freundlichen Hintergrund die grüne, über und über blühende Laube vor der Mitte des Hauses hinzudenkt, so erhält man eine Vorstellung von dem in Bauart und lebendiger Farbenzusammenstellung gleich harmonischen Bild, welches dieses Haus bot, das den die Straße ziehenden Fuhrleuten immer wieder von neuem gefiel und das von der sanften Anhöhe herab den das Dorf berührenden Wandersmann freundlich grüßte. Noch vor wenigen Jahren hatte dieses Gut ein altes Ehepaar besessen, dem das Schicksal von seinen Kindern nur eine Enkeltochter gelassen hatte. Der Bauer Honigmann war in den Siebzigern, gesund und kräftig, als er eines Morgens, das erste Mal in seinem Leben, die Neigung verspürte, im Bett liegen zu bleiben. Tags darauf war er tot. Niemand hatte ihn jemals krank gesehen, und auch der Arzt wußte nicht zu sagen, an welcher Krankheit er gestorben war. Die Leute aber meinten, Honigmann sei eigentlich garnicht gestorben, sondern hätte nur aufgehört zu leben. Die Fürsorge für die hübsche Marianne fiel nun der schon lebensmüden Bäuerin allein zu. Marianne hatte kurz vorher ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert. Sie war ein braunäugiges, dunkellockiges Geschöpf und schlank und biegsam wie die schönste Tanne aus den Musterforsten des Freiherrn von Tiefenbach. Immer ruhig, freundlich und gewinnenden Gemüts, zuweilen wohl auch ein wenig übermütig, hatte jedermann im Dorfe das Mädchen gern, und viele der Bauernburschen wären glücklich gewesen, Mariannens Hand und Herz zu besitzen, vorzugsweise die Hand. Denn außer einem hübschen und guten Weibe mußte dem Erwählten ja auch der saubere und unverschuldete Hof zufallen. Aus diesem Grunde drängte sich täglich eine große Anzahl Heiratslustiger an das Mädchen heran, die alle heiß bemüht waren, sich gegenseitig den Rang abzulaufen. Und so wurde denn der für Gemüt und Verstand in gleicher Weise begehrliche Preis von einer Wolke von Anbetern unaufhörlich umlagert, die selbst aus den Nachbardörfern sich einstellten, wie etwa ein Sirupstopf von einer großen Anzahl von Fliegen umschwärmt wird. Marianne aber war ein kluges Mädchen. Sie war zu dem einen nicht freundlicher wie zu dem andern und verdarb es deshalb mit keinem. Meinte einmal einer der jugendlichen Heißsporne, daß er den richtigen Pfad gefunden habe in dem Labyrinth der Gänge, die zu ihrem Herzen führten, so mußte er am nächsten Tage die sehr betrübliche Erfahrung machen, daß Marianne genau dieselbe Freundlichkeit, über die er gestern hochbeglückt war, heute einem andern erwies. Mancher der jungen Männer wollte schier verzweifeln, wenn er das Heer seiner Nebenbuhler überdachte, und manche festgefugte, auf Leben und Tod geschlossene Freundschaft ging in diesen Tagen aus dem Leim. Gleichzeitig empfand aber wieder jeder der Beharrlichen als kühlenden Balsam auf die Wunde im Herzen die Ueberzeugung, daß augenblicklich keiner von den Vielen dem allgemein zugestrebten Ziele näher stand als er selbst, um freilich in der nächsten Stunde bei dem Gedanken zu erbleichen, Marianne könne mittlerweile die Werbungen eines im stillen Bevorzugten erhört haben. So ganz spurlos aber, wie es schien, ging der tägliche Sturm auf Mariannens Herz doch nicht an ihr vorüber. Mit großem Interesse beobachtete das Mädchen die sich ihr nähernden jungen Männer, die es auf mancherlei Weise versuchten, die begehrenswerte Braut heimzuführen. Die einen marschierten geradenwegs auf ihr Ziel zu. Sie sprachen, wie es in solchen Fällen wohl allgemein üblich, von unverbrüchlicher Liebe und Treue; dieser tat es stammelnd, jener mit anerkennenswertem Zungenschlag. Ja der Schulzensohn ging sogar soweit, daß er die, noch vom Geständnis seiner Liebe her auf dem Herzen ruhende Hand -- also der während einer Liebesbeteuerung allerorts als allein richtig anerkannten Haltung --, daß er die beteuernde Hand aufhob, die Schwurfinger ausstreckte und mit rollenden Augen versicherte, im Falle der Nichterhörung von der Stelle aus in den Dorfteich zu gehen. Nun, Erhörung fand er zwar nicht, ob er aber, wie bestimmt zugesagt, weiter als bis zum Rand des Teichs gegangen war, entzog sich jedermanns Kenntnis. Als unbestreitbare Tatsache mußte es jedenfalls gelten, daß er Leipzig mitmachte und kurz nach der Rückkehr aus Frankreich eine ältliche aber wohlbegüterte Witwe in Göhren heiratete. Ferner gab es vereinzelte, die schworen, daß es ihnen beileibe nicht auf den Hof ankäme, sie, Marianne, wäre ihnen wie sie gehe und stehe gerade recht. Sie wollten den Hof überhaupt nicht haben, meinten sie, nur das Mädchen. Nun ging es jedoch nicht gut an, daß Marianne diesen Verächtern irdischer Habe zuliebe auf den schmucken Besitz ihres Großvaters Honigmann verzichtete. Lieber verschloß sie sich deshalb diesen Werbungen. Die also Geschilderten waren die Gefährlichen unter den Anbetern. Glücklicherweise aber waren sie in der Minderzahl. Ungleich harmloser gestaltete sich das Gespräch mit einem der schüchternen Verehrer. Diese sprachen fast alle sehr wenig, ja bei manchem beschränkte sich die Rede auf einen schüchternen Gruß. Dafür war aber infolge der zurückgetretenen Töne das Herz zum bersten voll, und die Augen mußten in diesem Falle den Dienst der widerspenstigen Zunge übernehmen. Einer erzählte von daheim; wieviel jede der Kühe Milch gäbe, daß die Schweinezucht in den letzten Jahren immer profitabler geworden sei, wie auf dem Hofe des Vaters musterhafte Ordnung herrsche und er selbst in allen Tugenden eines männlichen Wesens im allgemeinen und eines Bauern im besondern von früh ab unterwiesen sei. Ein anderer sprach davon, was er tun würde, wenn er auf einer eigenen Scholle säße. Zuhause könne er seine Pläne nicht zur Tat machen, denn sie seien bekanntlich vier Söhne und unter vieren gäbe es täglich Katzbalgereien. Mit einer Frau nur allein auf einem Hofe sitzen, müsse herrlich sein. Da herrsche doch immer Frieden und Eintracht -- -- -- Der Letzte endlich redete keinerlei Anzüglichkeiten. Dafür machte er soviel Spaß, daß die Maid zuweilen vor Heiterkeit bis zu Tränen gerührt war. Er hoffte, auf der luftigen Brücke, die der Humor über Hindernisse errichtet, den gefährlichen Abgrund bis zu Mariannens Herz zu überschreiten, ohne hineinzufallen. Dieser gewiegte Diplomat hieß Emil und war der Sohn eines kleinen Bauern. Er war flink wie ein Wiesel und gelenkig wie eine Katze. Dabei lag ihm sehr daran, von der kleinen Klitsche daheim sobald als möglich wegzukommen. Lange Jahre war er das einzige Kind gewesen. Da starb die Mutter. Sein Vater heiratete kurz darauf ein blutarmes, junges Ding, das seinem Gatten die Mitgift nach und nach in Gestalt kugelrunder, pauspackiger Kindlein einbrachte. Von diesem Augenblick an war daheim nichts mehr zu hoffen. Die kleinen Geschwister taten vorderhand noch nichts besseres, als daß sie mit beängstigend gutem Appetit aßen. Wenn die Familie bei Tische saß, mußte Emil jeden dieser ewig hungrigen Esser unwillkürlich mit einer Raupe mit sieben Köpfen vergleichen, die sich eben daran macht, eine Kohlstaude kahlzufressen. Und mit Grausen sagte er sich, daß das bescheidene Besitztum seines Vaters diese unersättlichen Schlünde niemals werde stopfen können. Und er berechnete nüchternen Verstandes, daß der dürre Hof gerade dann aufgezehrt sein würde, wenn das letzte der jetzt noch im Nichts schlummernden Geschwister flügge war. Da ging er hin und stellte seine angeborene Kunstfertigkeit in den Dienst des Werbens um wohlversorgte Hoftöchter. Wen die Burschen und Mädchen an den warmen Sommerabenden im Mondenschein, fein säuberlich in zwei getrennte Lager geschieden, auf dem Anger saßen, Scherzreden und Neckereien hinüber und herüberflogen und alle Spaßmacher endlich ihren Witz ausgegeben hatten, dann stand Emil auf. Zwar sprach er seiner anstoßenden Zunge wegen herzlich wenig, aber das Lachen der Zuschauer erklang nach seinen Leistungen bald wieder von neuem. Nun waren seine Hanswurstspäße freilich nicht mehr neu und hatten schon manch liebes Mal Stoff zu harmloser Heiterkeit gegeben; aber das Völkchen war ja so bescheiden in seinen Ansprüchen an Unterhaltung und wollte um jeden Preis fröhlich sein. Zuerst schlug er also das Rad mit solcher Behendigkeit und Ausdauer, daß er die Anerkennung herausforderte. Dann ging er zu wunderlichen Gliederverrenkungen über, die die Lachlust empfindlich reizten. Selbst der Ernsthafteste aber konnte sich der Heiterkeit nicht mehr enthalten, wenn Emil wie ein Känguruh in possierlichen Sprüngen umherhüpfte. Dazwischenhinein überschlug er sich mehrere Male als Zugabe oder lief minutenlang und mit größerer Sicherheit auf den Händen, als manchem der Zuschauer auf den Beinen möglich war. Alles dies tat er stumm. Die karge Belohnung, die er sich in den kurzen Ruhepausen gönnte, bestand einzig und allein darin, daß er mit dem Ärmel den Schweiß von der tropfenden Stirn wischte. Zum Schluß stellte sich Emil auf den Kopf und verharrte in dieser Haltung unbeweglich wie ein Pfahl solange, bis die Zuschauer erklärten, diese Vorführung sei langweilig, und einer der Burschen ihn umwarf. Dann setzte er sich stillschweigend in den Hintergrund und beobachtete forschend die vom Mondenschein erhellten Gesichter der Mädchen auf die Wirkung seiner Vorführungen hin. Mit besonderer Sorgfalt studierte er die Züge der rehaugigen Enkelin des alten Honigmanns. Marianne aber dachte: ach, was soll Dir ein Mann, der unausgesetzt durch die Luft wirbelt, und wenn er einmal auf die Erde kommt, steht er verkehrt. Da machte sie in ihrem Herzchen kurz entschlossen einen dicken Strich durch seinen Namen. Jeder empfindsame Leser, den diese Zeilen erreichen, wird das Resultat betrüblich finden und sich einer wehmütigen Regung nicht verschließen können. So viel wahrhafte Kunst an ein Trugbild verschwendet -- -- -- Armer Emil! Marianne hatte lange geschwankt, welchen der Anbeter sie endlich erhören würde. Denn wenn auch die meisten von ihnen ihr gleichgültig blieben, so waren es doch immerhin einige der Burschen, die dem Mädchen recht gut gefielen. Gewissenhaft durchlief sie in ihrer stillen Kammer im Geiste die noch gebliebene, stattliche Anzahl der Bewerber, merzte von neuem aus, bis denn schließlich zwei übrig blieben, von denen sie einen zu erhören beschloß. Der erste von diesen war Berthold Frank, der jüngste Sohn vom Oberhofbauern. Er war ein hübscher Bursche mit hellblauen Augen und schwarzem Schnurrbart, dessen Spitzen am Sonntag sorgfältig gedreht waren. Er war nicht allzuhoch gewachsen, aber sein Körper war gedrungen und seine Bewegungen verrieten große Kraft. Mit seinem hübschen Äußern verband sich ein Auftreten, das allen Mädchen wohlgefiel, denn er war geweckt und verstand es, verbindliche Reden zu führen; darin glich ihm kein zweiter der Burschen. Und doch konnte Frank sich vieler Eroberungen eigentlich nicht recht rühmen, weil man wußte, daß er streitsüchtig war und sich zuweilen betrank. Daheim auf dem Obergut herrschte polnische Wirtschaft. Die Mutter war in der Stadt aufgewachsen und hatte nie verstehen gelernt, worauf es in ihrer Stellung ankam. Den Besitz zusammenhalten und mehren konnte sie nicht. In einer großen Anzahl von feinen Kanälen floß der saure Gewinn vom Hofe wieder fort und sickerte ihr geradezu durch die Finger. Für die sparsame Verwendung der Nahrungsmittel und die weise Einschränkung der Bedürfnisse des Haushalts hatte sie kein Verständnis. Täglich wurde weit mehr gekocht als gegessen wurde; was übrig blieb, bekam das Vieh. Das Essen war ohne Sorgfalt zubereitet und befriedigte nicht. Dann schlich das Gesinde in die offene Vorratskammer und in den Milchkeller und tat sich dort gütlich. Der Bauer trank und wenn er in später Nacht nach Hause kam, prügelte er sein Weib. Stand der Wagen des Kornhändlers auf dem Hofe, so war er nicht beim Aufladen der Säcke zugegen, sondern saß wetternd im Gasthof, oder schlief oben in der Kammer seinen Rausch aus. Und so kam es, daß manches aus dem Gut hinausging von dem er nichts wußte. In dieser Umgebung wuchsen die drei Jungen auf. Von Anfang an war niemand da, der sie zur regelmäßigen Arbeit angehalten hätte, und als sie sehend wurden und das Leben einzuschätzen vermochten, wollten sie nicht begreifen, warum gerade nur sie allein die Last des Tages tragen sollten. Dazu hatte die Mutter die Kinder von früh auf verwöhnt, indem sie alle ihre Wünsche erfüllte und ihnen vorredete, sie könnten das so haben, dafür seien sie die Söhne des reichen Oberhofbauern. Und so war es aus all diesen Gründen nicht verwunderlich, daß das Gerücht immer mehr Wahrscheinlichkeit gewann, auf dem Oberhof stehe es schlecht, und der Bauer sei bis über die Ohren verschuldet. Berthold kannte ganz genau die Schwierigkeiten, die es dem Vater bereitete, wenn er an jedem Quartalsersten die fälligen Hypothekenzinsen, aufbringen mußte, und er sah voraus, daß ihm einst als Erbe nicht mehr zufallen würde, als ein paar vertrocknete Dachschindeln. Und da er wohl die Kraft, nicht aber den Willen besaß mit fester Faust in das Wespennest hineinzugreifen und er das einzige Mittel, das den Oberhof noch retten konnte, die Arbeit, verschmähte, so beschloß er, sich anderswo ein behagliches Nest zu suchen. Warum sollte er sich schinden? Tat es der Vater, oder machten es etwa seine Brüder? Und gesetzt den Fall, es wäre ihm gelungen -- aber nur ihm, denn die beiden Brüder waren Dummköpfe -- den Oberhof vor dem Ruin zu retten, was hatte er davon? Er konnte doch nicht als Miteigentümer auf dem Hofe sitzen, der dem ältesten Bruder Christian zufallen würde. Also steckte er die Hände in die Hosentaschen, pfiff eine Melodie von der letzten Tanzmusik her und ging mitten am Nachmittag zum vordern Hoftor hinaus, um zu versuchen ob es ihm gelingen würde, bei der Erbin des Lindengutes einige von seinen stets vorrätigen Schmeichelreden anzubringen. Und man konnte es nicht anders sagen, Berthold Frank war ein hübscher Bursche mit gefälligen Manieren, der zuletzt wegen seiner Aussichten auf den Besitz des Lindengutes manchen grimmen Neider besaß. Der andere Bewerber, der sich zusammen mit Berthold Frank in den Besitz von Mariannens flatterndem Herzchen teilte, war Gottfried, der Knecht auf dem Lindengute. Stolz war das Mädchen nicht! Es war ihm gleichgültig, ob sein künftiger Gatte auf einem großen Hof aufgewachsen war, oder ob er aus einem armen Häuschen kam. Denn wenn sich Marianne auch durch ein glänzendes Äußere leicht blenden ließ, so hätte sie ihrer inneren Stimme entgegen doch niemals, um seiner äußeren Vorzüge willen, einem ungeliebten Mann die Hand reichen können. Deshalb hatte sie die stummen und bescheidenen Werbungen Gottfrieds auch nicht zurückgewiesen, sondern ihn eher noch dazu ermutigt. Gottfried war wohl fast in allen Eigenschaften das gerade Gegenteil von dem Jüngsten vom Oberhof. Er war ein stiller, in sich gekehrter Mensch und von einer Arbeitskraft, für die der Lindenhof fast zu klein war. Vor nahezu dreißig Jahren war eine junge Magd auf dem Lindengut gewesen, mit strotzenden Wangen und lachenden Schelmenaugen. Sie besaß einen allzeit fröhlichen Sinn, und ihr blühender Leib war gerade gewachsen wie eine Gerte. Sie war laut gewesen bei der Arbeit, wo sie weilte, hörte man den kunstlosen Sang ihrer glockenreinen Stimme, und weit mehr als nötig war, tönte von dem frischen Munde jauchzendes Lachen. Da wurde mit einem Male, schier über Nacht, das Mädchen still. Zuletzt war sie scheu geworden und hielt die Augen niedergeschlagen. Ihr fröhlicher Sinn war von ihr gewichen, und das erquickende Lachen war verstummt. Immer schwerer wurde ihre Seele bedrückt, bis sich endlich ihr Gemüt umdüsterte und sie, fast selbst noch ein Kind, in der Andreasnacht unter Verzweiflungsqualen und den doch so beseligenden Ahnungen von Mutterglück einem rosigen Knaben das Leben gab. Und als von ihrer schweren Stunde an gerechnet drei Tage verflossen waren, trug man die junge Mutter hinaus und bettete ihren blühenden Leib, der nun all seine Wärme verloren hatte, zwischen die Schollen des Friedhofs. Ein winziges Häufchen Sand zeigte die Stelle an, wo man ein in der Blüte geknicktes Leben voll sprudelnder Fröhlichkeit, voll Singsang und Lachen dem Erdenschoße still wieder zurückgegeben hatte. Den verlassenen Knaben aber legte der Bauer Honigmann seiner Frau wortlos in den Schoß, die für ihn redlich sorgte, auf daß die Seele des Kindes die mit in die Grube gebettete Liebe der Mutter nicht allzu schmerzlich vermisse. Einen einzigen Kuß hatte die junge Mutter ihrem Kinde auf die Stirn gedrückt, dann war sie in den Gottesfrieden hinüber geschlummert. Der Knabe aber hatte bei der Taufe den Namen Gottfried erhalten. Gottfried hatte schon frühzeitig damit begonnen, seinen Wohltätern das zu vergelten, was sie an ihm getan. Aufgewachsen in der wahren Frömmigkeit der Bäuerin, hatte der Knabe unter den unübertrefflichen Anleitung Honigmanns die Arbeiten auf dem Hofe gelernt. Schon mit vierzehn Jahren schaffte er so viel wie ein Knecht und als er die Zwanzig erreicht hatte, bot sich für ihn auf dem Lindengute fast nicht mehr genug Gelegenheit zur Betätigung seines Eifers. Der alte Mann aber, dem die Arbeit selbst noch Lebenbedürfnis war, wurde zuweilen ärgerlich, wenn er sah, wie der junge Knecht ihm die Arbeit aus den Händen riß. Dabei war Gottfried wortkarg, und seine Bewegungen waren eckig und unbeholfen. Mit den Altersgenossen pflegte er nicht viel Umgang, da er ein wenig unterhaltsamer Geselle war. Den Keim hierzu hatte er bereits mit in die Welt gebracht, denn die schweren Gewissensqualen der Mutter waren nicht ohne Einfluß auf die Frucht in ihrem Schoße geblieben. Marianne fühlte sich zu Gottfried hingezogen. Zwar gestand sich das Kind, daß der Knecht nicht das Abbild eines herrlichen Jünglings sei, wie es ihr in ihren Mädchenträumen immer erschienen war; aber einem unbewußten Drange folgend mußte sie zugeben, daß ein gutes und treues Herz in seiner Brust schlüge, und sie an seiner Seite recht wohl glücklich werden könne. Ein Leben ohne Jubel und Tanz, aber treu behütet und die Brust angefüllt mit Frieden und sonnigem Glanz. So dachte Marianne in den Stunden stiller Einkehr. Waren diese aber vergangen, dann zog ihr leichtfüßiger, junger Sinn sie zu den lustigen Burschen. Und wenn sie dann einen Vergleich anstellte zwischen dem ernsten Gottfried mit den plumpen Bewegungen und den unschönen Zügen und dem in männlicher Kraft und Schönheit strahlenden Berthold Frank, dem die bunte Halsschleife mit den flatternden Bändern so gut zu Gesicht stand und der jederzeit so unterhaltsam plauderte, dann vergaß das Mädchen alles, was sie an dem einfachen Knecht schätzte. Und sie war blind und sah nicht die schweren Fehler des anderen. Die Warnungen der Großmutter machten keinen Eindruck auf das Mädchen. Und so hielt denn endlich nach der Ernte Berthold Frank vom Oberhof seinen Einzug auf das Lindengut. Gottfried hatte kurze Zeit darauf zwar die Absicht ausgesprochen, nach Knauthain zu übersiedeln, wo ein entfernter Verwandter seiner Mutter lebte, aber Frank hatte erklärt, daraus würde nichts, und so war Gottfried geblieben. Frank ahnte nicht, was seinen Knecht vom Hofe forttrieb; eins aber wußte er: daß er niemals wieder einen so unverdrossenen und arbeitsfreudigen Besorger seiner eigenen Pflichten in der Wirtschaft bekommen würde. Mit Berthold Franks, des trunksüchtigen Oberhofbauern Sohnes Einzug auf dem Lindengut war der Frieden, der solange an dieser Stätte regiert hatte, gewichen. Denn zu derselben Stunde, in der der festlich geschmückte Hochzeitswagen von vier starken Braunen gezogen unter dem Jubel der Gäste und dem brausenden Tusch der Musikanten durch das weitgeöffnete Tor auf dem Hof rollte, schlichen in grauen Gewändern und mit hämischen Blicken unbemerkt zwei Frauengestalten durch die in schmalem Spalt offenstehende Hintertür auf das ehemalige Besitztum des alten Honigmanns; ihre Namen aber waren Kummer und Gram. Im ersten Jahre tat der junge Bauer seine Pflicht wie es ihm zukam, und es schien, als ob der Besitz eines blühenden, fröhlichen Weibes und des schmucken Lindengutes alle Bedenken zunichte mache, die manchen im Dorfe bei dieser Verbindung überkommen waren. Aber die Sünden der Väter rächen sich sattsam an den Kindern, und Berthold Frank war ein echter Sohn des seit Jahren in wüstem Taumel dahinlebenden Oberhofbauern. Solange Mariannens Großmutter lebte, nahm sich Frank höllisch zusammen. Denn der Hof gehörte noch nicht ihm, und durch einen Federstrich konnte sie zu Gunsten seiner Kinder ihr Testament umstoßen und ihm harte Einschränkungen durch die Obrigkeit auferlegen. Bei aller Frömmigkeit und Milde wohnte nämlich in dem müden Körper der alten Bäuerin eine streitbare Natur, und ihre Zunge war flink und nannte das Kind gleich beim richtigen Namen. Da starb die Alte, und der Hof fiel ihm endgültig zu. Von diesem Zeitpunkt ab war Frank wie ausgewechselt. Sein viel umneidetes Heim verlor für ihn den Reiz; im Wirtshaus bei Würfelspiel und wüsten Gelagen war ihm wohler. Spät in der Nacht kehrte er dann angetrunken nach Hause zurück, schalt sein Weib und hob endlich die Hand gegen sie auf. Am Tage schlief er seinen Rausch aus, war froh, einen rechtschaffenen, gottesfürchtigen Knecht zu besitzen und ging damit beruhigt wieder ins Wirtshaus. Mit einem grausamen Ruck fühlte Marianne die Binde von ihren Augen weggezogen, und ein freudenloses, unwürdige Leben rollte sich vor ihren entsetzten Blicken auf. Gottfried arbeitete für zwei und war in der letzten Zeit noch stiller geworden. Zuweilen traf es sich, daß Marianne in der Blütenlaube vor dem Hauseingange stand, das neugeborene Kind auf dem Arme, während er auf dem Hofe schaffte. Da sah er ihr verhärmtes Gesicht, umrahmt von grünem Blattwerk sich zugewendet, und ihre Augen begegneten mit tieftraurigem Ausdruck den seinigen und führten eine stumme und doch so beredte Anklage gegen sich selbst. Gottfried aber konnte den Blick dieser umflorten Augen nicht aushalten. Schwerfällig wandte er sich ab und faßte mit unsichern Händen von neuem nach seiner Arbeit. Denn das Schicksal des Weibes, das er mit voller Inbrunst seines einfachen, vortrefflichen Gemütes geliebt hatte, ging ihm zu Herzen und bereitete ihm Schmerz. Da brausten wie auf Sturmesflügeln die flammenden Proteste einzelner Patrioten, die die schmachvolle Haltung ihres Vaterlandes nicht mehr mit anzusehen vermochten, über die sächsischen Fluren. Von den Hauptstädten ausgehend, sprang der Brand auf das platte Land über, und zuletzt glich das Königreich einem einzigen Flammenmeer. Das bängliche Ausharren in der von den Verbündeten schon längst übelgedeuteten Stellung zu den Franzosen und die ergebene Haltung vor dem Kaiser, ein Gemisch von Bewunderung, Furcht und dumpfem Dahinleben, verschwanden mit einem Schlage. Jäh kam die Erkenntnis und ließ das Unwürdige der in den letzten Monaten bewahrten Gleichgültigkeit mit Scham bemerken. Wer konnte müßig bleiben, wenn alles in den heiligen Kampf zog? Und war es nicht unsinnig, daß von der Beteiligung an der Niederwerfung desjenigen, der seit acht Jahren Entsetzen und Not über die Länder deutscher Zunge heraufbeschworen hatte, gerade das Volk zurückbleiben wollte, dessen Land der Kriegswütige zum Tummelplatz seiner Heere und zur Schlachtenbühne Europas ausersehen hatte? Gottfried war einer der Ersten, die sich Konrad Hartmann anschlossen, dessen Worte ihn begeistert hatten. Als er aber von seinem Vorhaben dem Bauern Frank erzählte, wurde dieser zornig und schalt auf die Sache, insbesondere auf die Männer, die ihr vorstanden. Es kam ihm recht wenig gelegen, seinen zuverlässigen Knecht zu verlieren; andererseits bot ihm dieser Vorfall aber willkommene Gelegenheit, seiner alten Abneigung gegen den Freihofer in gehässigster Weise Ausdruck zu geben. Max hatte von jeher mit seiner Meinung über die schlechte Wirtschaft auf dem Oberhofe nicht zurückgehalten und auch dann, als Berthold Frank Lindengutbauer geworden war, gab er seine kühle Haltung gegen ihn nicht auf. Und gerade dies letztere hatte den eingebildeten Frank ungemein verdrossen und eine feindselige Haltung gegen Max annehmen lassen. Zwar hatte er es nie gewagt, gegen den angesehenen und reichen Besitzer des Freihofes etwas zu unternehmen. Jetzt aber reifte in seiner Seele ein teuflischer Entschluß. Wenn er mit seiner Ausführung vielleicht auch manchen andern hart traf, -- was tats? Wen er nur ihn, den Gehaßten damit vernichten konnte. Franks Stellung zu dem Plane der kühnen Männer entsprach ganz seinem Charakter. Mit höhnischen Worten erklärte er die Idee für unsinnig und bezeichnete die Männer, die an der Spitze standen, als Tollhäusler und Verbrecher. Öfters als sonst saß Frank in diesen Tagen bis zum Morgen in der Schenke und bekämpfte mit schreiender Stimme und wilden Bewegungen den geplanten Auszug. Dazwischenhinein versicherte er mit geheimnisvollem Lachen immer wieder von neuem, er glaube garnicht daran, daß es noch soweit kommen werde und schlug zur Bekräftigung seiner Worte mit der derben Faust auf den Tisch, daß dieser dröhnte und die Gläser tanzten. 19. Kapitel. Hermann Lehnhardt hatte den verletzten Arm bisher noch immer in der Binde getragen. Nun aber ließ er diese daheim und schob die Hand zwischen die Knöpfe seiner Jacke. Der schwierige Bruch des Ellenbogens war nach langen Wochen zwar wieder geheilt, hatte aber in dem Arm eine große Schwäche zurückgelassen, so daß er ihn noch nicht gebrauchen konnte. Bis zur völligen Heilung wohnte er mit seiner Frau und dem hübschen Buben, den ihm Antonie geschenkt hatte, bei seiner Großmutter. Kurz nach dem schlimmen Vorfall war eines Tages in dem Hause der Mutter Lehnhardt der neue Verwalter des Freihofs erschienen und hatte sich im Auftrage seines Herrn einer Summe Geldes entledigen wollen, die für den Arzt bestimmt gewesen war. Da war Hermann aufgesprungen und ohne ein Wort zu sprechen, hatte er blitzenden Auges und in drohender Haltung mit der gesunden Hand nach der Tür gewiesen, durch die der Abgesandte denn auch ohne Widerrede alsbald verschwand. Seitdem war die Verbindung mit dem Freihofe durchgeschnitten. Traf es sich aber, daß die Freihoferin der Mutter Lehnhardt draußen begegnete, so begrüßten sich die beiden Alten ebenso herzlich wie bisher, den Vorfall jedoch berührten sie nicht. Als Hermann Lehnhardt eines Tages, wie er es oft tat, über die Wiesen geschlendert war und dann an der hintern Seite der Höfe entlang ging, stand der Lindenbauer an seinen schadhaften Zaun gelehnt und sah ihm entgegen. Natürlich schlug Frank sofort wieder sein Lieblingsthema an und wetterte gegen das Vorhaben der Männer, die lieber daheim bleiben sollten, damit ihre Frauen und Kinder nicht betteln zu gehen brauchten, anstatt den Preußen die Kastanien aus dem Feuer holen zu helfen. Hermann Lehnhardt schwieg zu diesen Worten und sah geflissentlich an Frank vorbei. Der aber hätte es gern gehört, wenn Lehnhardt ihm beigestimmt. Als dieser hierzu nun trotz seiner Anzapfungen keine Anstalt machte, konnte sich Frank nicht enthalten, ihn in ärgerlichem Tone zu fragen: »Nun, Ihr seid wohl gar einer vom feindlichen Lager?« »Ach,« antwortete Lehnhardt ausweichend und ließ den Blick sehnsüchtig über die Fluren schweifen, »Ihr wißt ja, daß ich nicht mit ausziehe, warum quält Ihr Euch deshalb mit mir herum?« Aber der dringliche Frager war von dieser Antwort nicht befriedigt. Es hatte ein Ton durch Lehnhardts Worte geklungen, der ihm nicht gefiel. Deshalb kniff er die verschwommenen Augen halb zu und warf mit listigem Lächeln scheinbar achtlos hin: »Ich hörte jüngst, daß Ihr nahe daran wäret, voll Demut die Hand wieder zu drücken, die Euch zum Krüppel machte -- -- --« Da fuhr Lehnhardt voll Wildheit herum, das Gesicht wie von Flammen umspielt, während aus den soeben noch träumerischen Augen glühender Haß brach. »So, Bauer,« schrie er, »das habt Ihr gehört? Da sagt Euern Zuträgern nur, daß ihnen dies im Rausch beigekommen sei!« Und sich nach rechtsseitwärts wendend, hob er die Faust auf und drohte nach der Stelle hinüber, wo die stattlichen Ziegeldächer des Freihofes über die ihn umgebenden niedrigen Häuser herausragten: »Wir rechnen noch miteinander ab -- --!« Mehr konnte er nicht sprechen, denn eine unbeschreibliche Wut schnürte ihm die Kehle zu. Er wandte sich kurz ab und ging stumm weiter. Frank war betroffen. Der plötzliche Wutausbruch Lehnhardts und der unverfälschte Naturlaut des wildesten Hasses in dessen Stimme, hielt seine Zunge noch im Bann. Dann aber blitzte es in dem fahlen, aufgedunsenen Gesicht auf, und ein breites Lachen scholl dem Davongehenden nach. »Laßt den feinen Burschen nur mir, Lehnhardt,« klang es zwischendurch, »ich habe einen kostbaren Spaß für ihn ausgedacht. Hahaha!« * * * * * Es war ein trüber Tag gewesen. Gegen Abend fiel starker Regen, und der Wind jagte heulend über die Felder. In den Häusern wurden die Fenster verwahrt, die der immer mehr anwachsende Sturm scharf berannte, und in den Ställen, wo das Vieh unruhig wurde, schloß man sorgfältig die Türen. In gewaltigen Stößen wütete der Sturm gegen die Häuser, riß große Äste von den Bäumen und trieb den unaufhörlichen Regen vor sich her, daß die dicken Tropfen klatschend an die Fensterscheiben schlugen. Eine undurchdringliche Finsternis herrschte im Freien. Es war, als ob der Himmel von einer einzigen schwarzen Wolke bedeckt sei. Kein Stern, nicht einmal eine helle Stelle war am Himmel sichtbar. Die Elemente schienen ihrem Meister entschlüpft zu sein. Mit erbitterter Wut kämpften sie gegeneinander und gegen alles, was die menschliche Hand mühevoll errichtet oder die gütig schaffende Natur auf den Fluren erzeugt hatte. Das Dorf schien wie ausgestorben. Niemand war jetzt noch im Freien, und selbst die vierbeinigen Hüter des Hauses waren schutzsuchend in ihre Hütten gekrochen und winselten leise, den Kopf auf die ausgestreckten Vorderpfoten gelegt. Auf der Dorfstraße schritt um die Mitternachtstunde vorsichtig ein Mann dahin. Wie ein Schatten hob sich die Gestalt zuweilen von den weißgetünchten Häusergiebeln ab, um sogleich wieder in die gähnende Finsternis hineinzutauchen. Wütend peitschte der strömende Regen des einsamen Wanderers Gesicht, und der Sturm eilte dem Naß als Bundesgenosse zu Hilfe und drang so heftig auf den Menschen ein, daß dieser von Zeit zu Zeit hinter einem dicken Baumstamm Schutz suchen mußte und es ihm nur mit großer Mühe gelang, vorwärts zu kommen. In den Häusern ruhten die Bewohner schon längst im tiefen Schlafe. Nur hie und da brannte noch eine Lampe, die einen schwachen Lichtschein durch das Fenster auf die Straße warf. Sobald der Gesell einen solchen Lichtkreis betrat, beschleunigte er die Schritte, bis die Dunkelheit ihn wieder aufnahm. Es schien, als ob der Unbekannte es scheu vermeide, daß ein menschliches Auge ihn auf seiner nächtlichen Wanderung entdecke. Als er am äußersten Ende des Dorfes angelangt war, blieb er plötzlich vor dem Rabensteiner Hofe stehen. An einen Baum gelehnt, betrachtete er das einstöckige Haus, dessen Fenster dunkel waren und aus dem kein Laut herausdrang. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich der Tür neben dem großen Tor und versuchte, sie zu öffnen. Da schlug der wachsame Hofhund an, daß er schnell wieder die Hand vom Drücker nahm. Das bellende Tier war aus der Hütte gesprungen und zerrte wütend an der Kette. Aber seine mächtige Stimme klang nur schwach, sie wurde übertönt von dem Heulen und Brausen des Sturmwinds. Als wenn die wilden Geister der Luft ein tolles Bankett feierten, zu dem die Elemente eine schauerliche Musik aufspielten. Da sprang der Mann über den Graben, in dem das Wasser wie in einem Flußbett dahinschoß und ging an der äußeren Seite des Hauses entlang. Aus dem oberen Fenster unter der Spitze der hinteren Giebelwand drang ein schwacher Lichtschimmer heraus. Emsig bückte sich der Einsame, las einige herabgefallene Zweige auf und versuchte, sie gegen das Fenster zu werfen. Aber der Sturm vereitelte diese Anstrengungen, indem er die leichten Wurfgeschosse, sobald sie die Hand des Schützen verlassen hatten, in eine andere Richtung fortriß. Als der Mann die Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen erkannte, ließ er die Augen ratsuchend umherschweifen, bis sie endlich auf einem dicken Baum haften blieben, der wenige Schritte von ihm entfernt stand. In diesem Augenblick glänzten seine Augen vor Befriedigung. Entschlossen trat er an den Baum heran und kletterte mit großer Anstrengung den starken Stamm hinauf. Dann kroch er auf einem bis fast an das Haus reichenden Ast soweit vor, daß er mit der Hand das Fenster erreichen konnte. Kaum hatte er das Glas berührt, als Konrad Hartmann am Fenster erschien. Er öffnete den Flügel, beugte sich ein wenig vor und versuchte mit angestrengter Aufmerksamkeit, die Dunkelheit mit dem Augen zu durchdringen. »Still, Rabensteiner, daß man uns nicht hört. Niemand darf uns heute Nacht beisammen sehen!« sprach der auf dem Aste Liegende mit leiser Stimme, die in dem Sturm fast unterging. Jetzt hatte Konrad den Mann erkannt. »Teufel,« antwortete er ebenso leise, »Gottfried seid Ihrs? Was in aller Welt treibt Euch in diesem fürchterlichen Wetter ins Freie, und warum klettert Ihr mitten in der Nacht auf die Bäume?« »Es droht uns allen schweres Unheil, sage ich, Rabensteiner, aber besonders Euch und dem Freihofer. Es ist ein Schurke in unserer Mitte, der Verrat üben will.« Da beugte sich Konrad Hartmann weit vor, daß ihm die schweren Tropfen auf Kopf und Wangen fielen, und der Sturm sich in sein Haar wühlte. Aber er merkte dies nicht. Doch war sein Gesicht um einen Schein bleicher geworden, als er mit gepreßter Stimme sprach: »Ein Verräter, sagt Ihr, Gottfried? Ja, seid Ihr denn von Sinnen? Ein Verräter im Dorfe?« »Es ist so wie ich sagte,« raunte dieser zurück. »Hört und überlegt rasch was zu tun ist. Der, den ich Verräter nannte, ist der Lindengutbauer. Er hat den Verrat zwar noch nicht geübt, wird es aber schon morgen tun. Ihr wißt, wie er seit Wochen gegen uns gesprochen hat, auch ist Euch bekannt, daß er den Tiefenbach wie ein giftiges Gewürm haßt und ihm gern Übles anhängen möchte. Nun also: Heute am Vormittag höre ich ein Gespräch mit an, das Frank mit Hermann Lehnhardt führt und worin er ihn gegen den Freihofer aufreizte. Und als dann Lehnhardt voll Erbitterung verspricht, diesem einen Denkzettel anzuhängen, ruft der Bauer ihm nach, daß er selbst dies besorgen wolle. Darauf ging er ins Wirtshaus. Heute am Abend kam er schwerbetrunken heim, vergriff sich wieder an seinem Weibe, das ihm, den Kleinen im Arm, weinend entgegentrat und schlug darauf den ganzen Hausrat in der Stube kurz und klein. Dabei tat er die lästerlichsten Flüche und schwor, morgen in der Frühe nach Zehmen zu fahren, wo er unsere Absicht, zu den Preußen zu gehen, dem dort befehligenden französischen Kommandeur mitteilen wolle. Ihr wißt, Rabensteiner, wie kurzen Prozeß die Franzosen mit aufständischen Bauern machen. Statt zu den Preußen, wandern wir bestenfalls in eine Festung. Aber den Anführer stellt man sicher vor den Sandhaufen.« Konrad hatte in seiner vorgebeugten Haltung unbeweglich verharrt. Jetzt sagte er lebhaft: »Wir müssen sofort zu Frank eilen und mit ihm reden.« »Das wäre umsonst,« antwortete Gottfried, »er liegt schwer betrunken daheim.« »Dann aber morgen in aller Frühe, noch ehe er von Hause fortgeht.« »Es nützt Euch alles nichts,« versetzte Gottfried bitter und bestimmt, »so wie ich den Bauern kenne, führt er seinen Vorsatz aus. Schon um den Tiefenbach zu vernichten, tut er’s.« »Ja, aber,« fuhr Konrad auf, »wir müssen auf jeden Fall diesen Verrat verhindern. Der Freihofer könnte zwar noch in dieser Nacht fliehen, aber alle andern lassen sich nicht so schnell benachrichtigen, und der Name Rehefeld wäre für alle Zeiten geschändet. Was meint Ihr denn, Gottfried, was da am besten zu tun ist?« Da hob dieser seinen Körper ein Stück in die Höhe, daß sein Mund an Konrads Ohr lag und flüsterte diesem ein paar Worte zu. In demselben Augenblick fuhr Konrad erschreckt zurück, als wenn er einen heftigen Schmerz verspüre. »Gibt es einen andern Ausweg, Bauer?« fragte Gottfried. Konrad sah eine lange Weile mit finsterm Blicke vor sich nieder, dann sagte er mit dumpfer Stimme und mit Nachdruck: »Nein, es gibt keinen andern!« Da kam wieder Bewegung in den Liegenden und er schob sich behutsam auf dem Ast zurück. »Frank ist riesenstark,« rief Konrad dem schon Hinabkletternden noch zu. »Geht schlafen, Rabensteiner,« gab dieser zurück, »die Nacht ist gräßlich!« Damit verschwand er in der Dunkelheit. Eine Sekunde lang sah Konrad auf die Stelle, wo Gottfried verschwunden war. Dann schloß er das Fenster und gleich darauf verlöschte das Licht in der Kammer. * * * * * Die Macht des Unwetters hatte ihren Höhepunkt erreicht. Der Sturm schüttelte und riß mit tausend Händen an allem, was sich ihm entgegenstellte, und wie Keulenschläge fielen seine Stöße auf die Dächer. Ächzend bogen sich die stärksten Stämme der Bäume unter seiner Wut, und aus des Himmels Schleusen strömte es wie eine Unzahl tosender Sturzbäche auf die geängstigte Erde herab. Ein Höllenkonzert von zehntausend Teufeln! In der Unterstube auf dem Lindenhofe tickte die große Kastenuhr laut und einförmig. Auf der Bank vor dem Ofen lag der Bauer laut schnarchend ausgestreckt auf dem Rücken, die beiden Arme unter dem Kopfe verschränkt. Die undurchdringliche Nacht hüllte alle Gegenstände in ihren schwarzen Mantel. Da tauchte neben dem Schläfer ein Schatten auf, und im nächsten Augenblick umschlossen zwei große Fäuste den Hals des Liegenden wie eiserne Klammern. Frank zog blitzschnell den rechten Arm unter dem Kopf hervor und führte damit einen furchtbaren Hieb durch die Luft. Dann lag er wieder so bewegungslos wie vorher; nur der Arm hing schlaff herab und pendelte noch eine Weile hin und her, bis er ruhig herunterhing. Aber die Finger der auf dem Fußboden auftreffenden Hand hatte der Krampf gekrümmt wie Krallen. Noch ein, zwei Sekunden, dann lockerte sich der eiserne Griff, und die Gestalt verschwand unhörbar in der Finsternis wie eine nächtliche Erscheinung. Die große Uhr tickte in gleichmäßigem Schlage weiter, aber der Bauer hatte aufgehört zu schnarchen. -- * * * * * Am andern Morgen hatte sich das Unwetter gelegt. Der Himmel war hell, und der matte Glanz der mit den Wolken kämpfenden Sonne strahlte friedlich auf die Verheerungen herab, die der Sturm während der Nacht an Gebäuden und Bäumen angerichtet hatte. Da lief plötzlich die Kunde von Mund zu Mund, den Bauern Frank habe in der Nacht der Schlag gerührt, er sei tot. Und vor der Bank am Ofen in der Unterstube des Lindengutes lag eine alte Frau auf den Knien, die mit gerungenen Händen um den Sohn weinte. Droben aber in seiner Kammer saß mit zusammengekniffenen Lippen, mit steinernen Zügen und trockenen Augen ein junges Weib, auf dem Schoße das schlummernde Kind, und blickte hart vor sich nieder. Als einige Tage darauf Gottfried das Lindengut verließ, um mit den andern Männern auszumarschieren, da traf ihn ein flehentlicher Blick, der zum Bleiben einlud. Aber ihm grauste vor diesem Blick und er wandte sich ab. Wieder einige Tage später standen die kampfesfrohen Männer von Rehefeld in Reih und Glied eines in der Reserve gebliebenen Regiments vom Korps des Generals von Kleist. Als aber am Montag des 18. Oktober mittags 2 Uhr dieses preußische Korps von Güldengossa her den großen Bajonettangriff auf das vom Marschall Victor verteidigte Probstheida unternehmen mußte, da wurden auch die Reserven vorgezogen. Und einer der Ersten, die von den beiden verderbenspeienden Batterien am Eingang des Dorfes zerschmettert wurden, war Gottfried, der ehemalige Schützling des alten Ehepaares Honigmann, der getreue Knecht auf dem Lindengute. 20. Kapitel. Schon seit einigen Tagen hatten die Rehefelder von Norden her Geschützdonner gehört, der bewies, daß Heeresteile der Verbündeten endlich mit französischen Truppen ins Gefecht geraten waren, die ja im großen Bogen die Ortschaften vor Leipzig besetzt hielten und sich auf einen verzweifelten Kampf eingerichtet hatten. Auch waren Fuhrleuten auf der weiten Ebene hinter dem Tanzberg fremde Reiter aufgefallen, dergleichen noch niemand gesehen hatte, und die mit ihren wilden, struppigen Gesichtern und der fabelhaften Sicherheit, mit der sie auf den kleinen, häßlichen Pferden umherjagten, einen merkwürdigen Anblick boten. Es waren dies die ersten russischen Kosaken, die in dieser Gegend auftauchten und die dort, wo sie auftrafen, stahlen und brandschatzten und sich weit ärger betrugen, als die französischen Soldaten es getan hatten. Ferner ging ein Gerücht herum, dessen Richtigkeit sich bald herausstellte, und das die Gährung in der sächsischen Armee kennzeichnete. Man erkannte, daß die Freudigkeit, mit der diese Truppen unter den Schwingen der französischen Adler gefochten hatten, nunmehr vollständig geschwunden war, und daß die Soldaten eine Erbitterung beseelte, die den Uebergang des größten Teiles der sächsischen Armee zu den Verbündeten am Vormittag des 18. Oktober vorbereitete. Nach dieser Kunde hatte Napoleon vor den Toren Leipzigs eine große Heerschau über seine Truppen abgehalten, an der auch die sächsischen Regimenter teilnahmen. Während die Franzosen in gewohnter Weise dem die Front abreitenden Kaiser zujubelten, empfingen ihn die Reihen der Sachsen mit eisigem Schweigen. Napoleon versammelte hierauf die Offiziere und Unteroffiziere des Korps Regnier, in dessen Verband sich die Sachsen befanden, um sich und hielt eine zündende Ansprache, deren Bedeutung durch Caulaincourts mangelhafte Verdeutschung aber verloren ging. Die Frage, ob der Kaiser in der Schlacht darauf rechnen könne, daß sie ihrem König die gelobte Treue halten würden, bejahten die Sachsen freilich einmütig. Als aber General Regnier sie um ein Zeichen der Ergebenheit bat, gingen sie, von den wütenden Blicken Napoleons begleitet, stumm auseinander. Auch der Umstand, daß während dieser Szene eine große Anzahl Soldaten für das Kreuz der Ehrenlegion aufgeschrieben wurde, machte keinen Eindruck. Die Ortschaften nördlich Rehefeld bis über Leipzig hinaus waren mit französischen Truppen dicht belegt, und vom Schloßberg aus konnte man ihre Vorposten bei Göhren erkennen. Die Wolken hatten nach hartnäckigem Streite mit der Sonne die Herrschaft endgültig behauptet, und als Fortsetzung des Unwetters der vergangenen Nacht begann dichter Regen zu fallen. Da fuhren gegen Mittag von Borna her etwa 10 Wagen ins Dorf, deren Beladung aus Pulver und Geschützmunition bestand. Als Begleitung dieser Kolonne waren einige französische Infanteristen mitgekommen; Mannschaften und Pferde waren furchtbar erschöpft. Deshalb beschloß der führende Offizier, im Dorfe einen längeren Halt zu machen. Er ließ die Wagen auf dem Stoppelfelde dicht neben dem Weißen Schlosse auffahren und die Pferde in den Ställen im Dorfe unterbringen. Da es rätlich erschien, das Pulver vor dem dichten Sprühregen zu schützen, kam der Offizier, begleitet vom Ortsvorstand, auf den Freihof geritten, und bat in höflichen Worten, ihm zu diesem Zwecke den Turm des Schlosses zur Verfügung zu stellen. Max begab sich, dem eisernen Druck, der hinter dieser höflichen Aufforderung stand gehorchend, an Ort und Stelle und öffnete die große Tür, die wohl zu einer Zeit, in der das Schloß keine Belagerung mehr auszuhalten hatte, eingebaut worden war. In früheren Jahren war der weite Raum im Turme zur Aufspeicherung von Getreidevorräten benutzt worden. Jetzt stand er leer und bot genug Platz zur Unterbringung der Pulversäcke und Munitionskästen. Stickige Moderluft empfing die Eintretenden, und mit großer Aufmerksamkeit betrachtete der Franzose die mehrere Ellen starken Mauern, an deren Festigkeit in früheren Jahrhunderten der wilde Ansturm manches Belagerers abgeprallt war. Eine Stunde später waren die zweihundertfünfzig Zentner Pulver im Turme untergebracht, und ein vor der Tür aufgepflanzter Doppelposten bewachte die Säcke und das mörderische Blei, das dazu bestimmt war, gewiß schon am nächsten Tage seine verheerende Wirkung in die Reihen der verbündeten Truppen hineinzutragen. In den Gemütern der Dörfler herrschte scheinbar große Ruhe. Aber wer ungesehen einen Blick in manches der Häuser hätte tun können, würde mit Staunen eine fieberhafte Tätigkeit wahrgenommen haben. Denn am übernächsten Morgen sollte der Ausmarsch stattfinden, zu dem die letzten Vorbereitungen getroffen wurden. Das Wohl ihres Besitzes, gleichviel ob es ein Bauerngut oder ein ärmliches Häuschen war, lag den Davonziehenden am Herzen, und den Zurückbleibenden wurde noch mancher treffliche Rat erteilt und für das kommende Frühjahr manche Aufgabe übertragen. So verstrichen die Stunden, und als am späten Nachmittag der Regen nachließ, versammelte sich eine große Anzahl Schaulustiger um die fremden Wagen, die in peinlicher Ordnung am Fuße des Schlosses standen. Viele Blicke gingen auf die Schildwachen am Turm und auf das Eingangstor: die Augen der Frauen und Kinder mit Neugierde, die der Männer mit schlecht verhehlter Erbitterung. Kurz darnach hatte sich plötzlich die große Schankstube des Gasthofes dicht angefüllt, und laute Rufe der Entrüstung wurden dort ausgestoßen, daß man ruhig mit ansehen müsse, wie die viele Munition im Dorfe aufgespeichert werde. Niemand hatte heute ein rechtes Vergnügen am Biertrinken. Die Deckel klapperten lange nicht so laut wie sonst an Wintersonnabenden, und als die neunte Stunde herangekommen war, hatten die Letzten den Gasthof verlassen. Nur an dem Tische dicht bei der Tür saß noch ein Gast, der nachdenklich in sein halbgeleertes Bierglas schaute. Es war Johann, der Schafhirt der Gemeinde. Vor etwa siebzehn Jahren hatten eines Tages Fuhrleute, die vom Erzgebirge herkommend ihre schweren, mit Leinen und Klöppeleien beladenen Wagen zur Neujahrsmesse nach Leipzig führten, einen vierjährigen Knaben mit ins Dorf gebracht. Sie hatten das Kind unterwegs gefunden und ein paar Tage mit sich geführt. Aber das Wetter wurde empfindlich kalt, und der nur mit einem dünnen Röckchen bekleidete Junge fror entsetzlich. Deshalb gab einer von ihnen das Kind in die Obhut einer armen Frau, mit dem Versprechen, es bei der Rückkehr wieder mitzunehmen. Die Frau nahm sich des Kleinen an, aber der Fuhrmann kam nicht wieder. Und als die Summe, die sie für das Kind bekommen hatte, zu Ende war, erklärte das Weib der Ortsobrigkeit, daß sie von dem geringen Verdienst ihres Mannes neben den vier hungrigen Mäulern ihrer eignen Kinder, nicht auch noch das des fremden Jungen stopfen könne. Daraufhin mußte wohl oder übel die Gemeinde für den Fremdling sorgen, der niemand gehörte, und von dem kein Mensch wußte, ob er Heide oder Christ war. Auch seinen Namen kannte man nicht, und da Nachforschungen keinen Erfolg hatten und aus dem, wie es schien, geistig etwas zurückgebliebenen Jungen nichts herauszubringen war, nannte man ihn Johann und gab ihn einem Bauern in Pension. Dieser schob den Jungen nach einem Vierteljahr wieder ab, indem er ihn mit der Kleinmagd kurzerhand zum Nachbar schickte. Der Zweite verfuhr wie der Erste, und so ging Johann reihum und lernte dergestalt viele Haushaltungen kennen und viele Menschen und den Inhalt verschieden gearteter Kochtöpfe und Suppenschüsseln. Zu Klagen bot der Bursche keinen Anlaß. Er war gutmütig und blieb ein beschränkter, einfältiger Tropf, was mit einer großen Wunde am Hinterkopfe zusammenhängen mochte, die der Junge gehabt, als ihn der fremde Mann zur einstweiligen Aufbewahrung abgegeben hatte. Nun war aber schon längst Gras über die Geschichte seines unerwarteten Auftauchens im Dorfe und über die Wunde eine dicke, rote Narbe gewachsen, vor der die strohgelben, wie Schweinsborsten in die Höhe strebenden Haare Johanns ehrerbietig Halt machten, und die den auch im übrigen keine Schönheiten aufweisenden Kopf in gleicher Weise verzierte, wie ein dicker Regenwurm einen gelben Kürbis. -- Genug, Johann war niemandes Feind! Als er ein gutgenährter Bursche von fünfzehn Jahren war, wurde er der Nachfolger des eisgrauen Schafhüters, nachdem man diesen eines Tages inmitten seiner Herde entseelt aufgefunden hatte. Diese Rangerhöhung vom schlichten Kostgänger zum Inhaber eines unter der lieben Jugend mit Ansehen verbundenen Amtes, wurde von den sich in die Unterhaltung Johanns teilenden Bauern ungefragt gutgeheißen und von dem Erwählten selbst mit einer an ihm noch nicht gekannten Würde entgegengenommen. Denn weil der Schafhüter nicht auf Gnadenbissen angewiesen war, sondern ihm freier Unterhalt im Gemeindehause von Rechts wegen zustand, war allen geholfen. Mit der Fähigkeit, ernstlich zu arbeiten, hätte es bei ihm für alle Zeiten gehapert, aber dem Posten als Befehlshaber dieser vierbeinigen Garde war der Bursche vollauf gewachsen. Noch immer saß Johann still auf seinem Platze und guckte nachdenklich in sein Glas. Der Gastwirt stand hinter dem Schanktisch und war mit müden Bewegungen dabei, die leeren Biergläser in einem mit Wasser gefüllten, hölzernen Schaff zu spülen. Er war ein kleiner, dicker Mann, dem das schwarze, gestickte Käppchen mit der roten Quaste würdig auf dem kurzgeschnittenen, weißen Haar saß. Den kugelrunden Bauch umspannte gerade auf der Stelle, wo er den größten Umfang, hatte das Band einer frischgewaschnen blauen Schürze und teilte ihn mit derselben gewissenhaften Genauigkeit in eine nördliche und südliche Hemisphäre, wie dies der Äquator mit der Mutter Erde freundlicherweise und unverdrossen noch bis auf den heutigen Tag tut. Während des Gläserspülens flogen die schläfrigen Augen des gutmütigen Alten von Zeit zu Zeit prüfend hinüber zu dem zurückgebliebenen Gast, der noch immer keine Anstalten zu gehen machte. »Na, Johann,« rief der Wirt endlich dem Schafhirten zu, »ich dächte, Du gingest jetzt auch heim. Du träumst wohl schon von dem Dutzend Klößen, das Du morgen Mittag wieder essen wirst?« Der Angesprochene aber sah den verschmitzt lächelnden Wirt mit großem Ernst an und fragte: »Vater Böhme, habt Ihr’s gehört, wie der Bauer vom Rabenstein heut Abend gesagt hat, jeder müsse jetzt dem Vaterlande einen Dienst leisten?« »Ja, so ähnlich hat’s schon geklungen, was er gesagt hat, der treffliche Konrad, aber Dich, Johann, hat er damit nicht gemeint. Zerbrich’ Dir den Kopf nicht darüber.« Der aber blieb hartnäckig bei der Sache und fragte von neuem: »Vater Böhme, habt Ihr schon Euern Dienst getan?« »Noch nicht, Johann. Aber wenn die Männer ausmarschiert sein werden, dann wissen es schon diejenigen Frauen, die es bedürfen, daß an jedem Sonnabend nach Feierabend beim Vater Böhme ein großer Topf Fleischsuppe für sie bereitstehen wird.« »Vater Böhme, nicht wahr, das ist eine Sünde, wenn einer jetzt für das Vaterland garnichts tut?« Der alte Mann blickte verwundert auf den Schafhirten und schüttelte leise mit dem Kopfe. Dann stemmte er die Arme breit auf den Tisch, daß der Bauch fest am Holze lag und antwortete: »Wer in den Augenblicken der höchsten Not nicht wenigstens im Geiste für die gute Sache ist, der versündigt sich allerdings an seinem Volke. Aber jetzt geh heim, Johann!« Dem Burschen war zwar der eigentliche Sinn dieser Worte dunkel geblieben, so viel aber hatte er davon begriffen, daß er jetzt wußte, daß sein Plan gut war. Mit dem zufriedenen Ausdruck eines Mannes, der in einer schwierigen Frage mit sich ins reine gekommen ist, stand er auf und verließ, den Gutenachtgruß vergessend, den Gasthof. 21. Kapitel. Es war ein kühler Oktoberabend. Die Wolken jagten in dicke Haufen geballt über die Mondscheibe hinweg, und über den zahlreichen Pfützen schwebten graue Dunststreifen. Etwa zweihundert Schritte von dem Turme entfernt, der die Munition barg und so, daß der Wind keine Funken hinübertreiben konnte, brannte ein mächtiges Feuer von großen Holzscheiten. Rund um den Holzstoß war ein Graben ausgehoben, auf dessen Rand ein Fuhrmann saß, der die Pferdewache hatte. Er war in einen weiten, schwarzen Mantel gehüllt, dessen Falten seinen Körper ungeheuerlich groß erscheinen ließen; auf seinen Knien lag ein alter, breiter Reitersäbel. In geringer Entfernung dahinter, in einer Talwelle, brannte ein zweites Feuer, um das die übrigen Fuhrleute, gleichfalls in die Mäntel gewickelt, im Schlafe lagen. In engem Halbkreis standen, mit dem Rücken gegen das Feuer, die an Pflockleinen festgemachten Pferde. Sie hielten die Köpfe gesenkt und wie die Männer schienen auch sie zu schlafen. Von Zeit zu Zeit stampfte einer der Gäule mit den Hufen den weichen Boden und trat soweit zur Seite, daß er an seinen Nachbar anstieß, oder eines der Tiere hob den Kopf, prustete laut und schüttelte müde die Mähne. Ein drittes Feuer hatten drüben an der Straße die französischen Soldaten angezündet, die den Transport begleiteten. Der einsame Fuhrmann ergriff einen von seinen Ästen befreiten Stamm einer jungen Kiefer und schob ein paar abseits liegende Scheite näher zu den Flammen, als er mit einem Mal einen jungen Burschen neben sich bemerkte, der seine Bemühungen aufmerksam betrachtete. Blitzschnell hielt der Fuhrmann in seinem Beginnen inne, wandte sich zu dem Erschienenen und schrie: »Holla, Du Teufelsbraten, Dich hat gewiß die Erde ausgespien! Warum schleichst Du so hinterrücks heran? Soll ich Dich mit meinem Schürbaum hineinfegen in Dein flammiges Element?« Und er hob den Stamm und holte mit einer drohenden Gebärde aus, als wolle er seine Worte zur Tat machen. Der Angekommene aber stand dem Erregten so ruhig gegenüber, als wenn ihn dessen Drohung nicht im geringsten anfechte. Die Hände in den Taschen seines langen, grauen Kittels verborgen, sah er gelassen in die zornfunkelnden Augen und hielt den Blick mit großem Gleichmut aus. So verstrich eine Sekunde. Dann wandte sich der Fuhrmann ab, spuckte in weitem Bogen in die Flammen, warf mit tiefem Lachen den Baum zur Erde und setzte sich zugleich nieder. Noch immer laut lachend rief er: »Da hat mich doch dieser Einfaltspinsel zum Angsthasen gemacht. Ich kann’s aber auch auf den Tod nicht leiden, wenn’s einer darauf anlegt, mich zu erschrecken. Komm, Du Schlingel, setze Dich zu mir und hilf mir die Langweile bannen. Hast eine beneidenswerte Gemütsruhe an Dir, Bursche. Hahaha, steht da wie ein Pfahl, und doch hätt’ ich ihn beinahe totgeschlagen.« Der Angesprochene setzte sich bedächtig zur Seite des Fuhrmanns nieder und ließ mit Behagen die wohltuende Wärme des Feuers auf sich wirken. Unterdessen brachte der Fuhrmann aus der Tasche seines Mantels eine kurze Pfeife mit selbstgeschnitztem Kopfe hervor, nahm einen brennenden Spahn und zündete sie an. »Wer bist Du denn, Du maulfauler Geselle?« hob er endlich an. »Ich bin Johann, der Schafhirt von Rehefeld,« antwortete der Gefragte mit einem Anflug von bewußtem Stolz. Der Fuhrmann spuckte zweimal kurz nacheinander aus, warf wieder einen langen Blick auf den Burschen an seiner Seite und sagte mit Ausdruck: »Je länger ich Dich betrachte, mein Freund, umso aufdringlicher kommt mir die Ueberzeugung, daß keines Deiner allergrößten Schafe dümmer sein kann als ich vorhin gewesen bin. Aufrichtig gesagt, ich hätte mir selbst leid getan, wenn ich Dich totgeschlagen hätte.« »Mir auch,« versicherte Johann einsilbig, denn er dachte nur an das, was er zu tun entschlossen war. Der Fuhrmann nahm die Pfeife aus dem Munde, spuckte bedächtig in die Glut und warf einen neuen, verstohlenen Blick zur Seite. Dann versetzte er: »Bursche, Du bist entweder ein mit allen Salben geschmierter Windhund, oder ein ausgemachter Narr!« Johann hatte aber kein Interesse daran, was der fremde Mann von ihm dachte. Sein armseliges Hirn hatte einen Plan ausgesonnen, so groß, wie ihm noch keiner geworden war und der seine ganze geistige Kraft alarmiert hatte. Freilich war sein Hirn von der Mutter Natur recht stiefmütterlich bedacht worden, dafür regte sich aber in ihm alle jene instinktive Verschmitztheit und Schlauheit, die die mit feinen Verstandeskräften nicht sonderlich ausgerüsteten Menschen in bedeutungsvollen Augenblicken überkommen. Jetzt empfand er es auch, daß dieser Mann neben ihm seinen ganzen herrlichen Plan vereiteln konnte, und daß es nur von seiner Geschicklichkeit abhinge, ihn nicht argwöhnisch zu machen. »Ihr habt am Abend die Pferde aus den warmen Ställen gezogen,« sagte er, »Ihr wollt doch nicht etwa zur Nacht aufbrechen?« »Daß Dir der leibhaftige Gottseibeiuns das Genick umdrehe,« antwortete der Fuhrmann, »bist Du etwa von den Preußen als Spion hergeschickt, he?« Bei diesen lautgesprochenen Worten nahm der Fuhrmann die Pfeife aus dem Munde und sah den Schafhirten scharf an, als wolle er im Grunde seiner Seele lesen. Dieser aber bewahrte seine gutgespielte Harmlosigkeit, kicherte leise vor sich hin und versetzte: »Hab’s noch nicht probiert mit diesem saubern Handwerk. Soll ja viel einbringen, aber bisweilen auch den Hals kosten. Und was tut der Mensch dann ohne Kopf? Seinen klingenden Lohn kann er nicht mehr genießen und bleibt obendrein ein Krüppel zeitlebens.« Der Fuhrmann hatte wieder beruhigt ausgespuckt und lachte jetzt laut auf. »Du gefällst mir, Bursche,« rief er und schlug Johann derb auf das Knie. »Du hast recht, es ist ein bißchen windig mit dieser Karriere. Sonst hätte ich mich selbst schon längst damit befaßt.« »Seht,« begann Johann von neuem und sah aufmerksam in die Flammen »warum sollte ich auch meinen Beruf mit diesem vertauschen? Tät’ ichs, so würden mich selbst die ärgsten Spitzbuben verachten, daß ich den Stand derjenigen so tief herabsetze, die sich freiwillig oder gezwungen dazu hergeben, die nun einmal vorhandenen Gefangenhäuser zu bevölkern. Und ein rechtschaffener Bettler würde lieber einem armen Mann sein letztes Huhn stehlen, als daß er auf das Klimpern des Sündenlohnes in meiner Tasche hin die Hand hohl machte. Lieber bleibe ich also Knecht.« »Ich merk’s, Du bist ein Galgenvogel,« unterbrach der Fuhrmann den Sprecher, »aber fahr fort in Deiner Rede.« Johann ließ sich durch den Einwurf nicht beirren, sondern begann von neuem und recht geheimnisvoll: »Ich sagte, ich sei ein Knecht? Das ist eigentlich nicht richtig, denn niemand darf sich so frei fühlen, wie ich es bin. Die Arbeit ist ein Joch, das den Menschen auf eine Stufe mit dem Stier stellt, der neben dem Pferd vor dem Pfluge einhergeht. Die Arbeit macht den Menschen häßlich, zeichnet ihm harte Linien ins Gesicht, verdirbt seine gerade Haltung und den leichten Gang und schafft grobe Hände. Und warum lassen die Menschen trotz alledem und alledem nicht von ihr ab? Weil mit der Arbeit die Sucht nach dem Gewinn in das Herz einzieht! Hat die Arbeit dem Menschen erst einmal so viel eingebracht, was dem Wert eines Stückchens Fingernagel gleichkommt, wie man sich’s täglich abbeißt, dann hat auch schon der böse Geist die arme Seele gepackt, und sie verzehrt sich vor Sehnsucht nach immer reicherem Gewinn. Und wo ist die Grenze, an der angekommen der Mensch aufhörte zu streben und aufhörte auf mehr zu hoffen? Es gibt keine! Und darum sage ich: in der Arbeit sitzt der Teufel!« »Hm,« begann der Fuhrmann zögernd, »meine Mutter sprach vor vielen Jahren freilich anders, doch war sie eine einfache, ungelehrte Frau, und zudem war damals die Einsicht noch nicht so tief in das Volk eingedrungen wie heutzutage. Doch erzähle weiter, mir sprichst Du jedenfalls aus der Seele.« »Seht mich an,« fuhr der Schafhirt fort, »wie reich ich bin! Und doch hasse ich die Arbeit und gebe mich nie dazu her. Frühmorgens, mit dem ersten Sonnenstrahl, springe ich vom Lager auf und treibe meine Herde hinaus auf die grünen Fluren. Dort bin ich mit den Tieren allein in traulicher Einsamkeit, die kein lästiger Mensch stört. Ein Teil der Herde grast, ein anderer steht um mich herum und hört mir zu, wie ich auf meiner Schalmei blase, derweilen der wachsame Spitz die Tiere bellend umkreist. Ich habe nur nötig, hierhin zu gehen, gleich folgt mir alles nach, meine Schritte dorthin zu lenken, um die Schar wieder zur Umkehr zu bringen. Sie sind meine Untertanen, und ich bin ihr König. Der Himmel ist mein Baldachin, der moosgeschwellte, blumige Sitz mein Thron, und die Hirtenpfeife ist mein Zepter. Sagt, kann man mich hiernach noch einen Knecht nennen?« »Du hast Dir jedenfalls ein Metier erwählt, das für Dich paßt,« antwortete der Fuhrmann, ohne des Schafhirten Frage zu beachten. »Für mich wäre es aber nichts, denn mich würde schon am ersten Tage die Langweile mit Stumpf und Stiel auffressen. Du bist ein Träumer, ich hingegen bin ein ruheloser Stürmer, ein Reptil mit hundert Gelenken, die sich unaufhörlich bewegen. Nun hör mich an, und sage mir, wie Dir mein Leben gefällt, das ebenso ruhelos ist und reich an wilden Szenen, wie Deine Tage ohne Aufregung und in ihrer Gleichförmigkeit zermalmend dahinfließen. Wir Fuhrleute sind ein rauhes, liederliches Volk und fürchten Gott und den Teufel nicht. Wir vom Troß der Armee haben das bessere Teil erwählt. Denn während vorn zerrissene Leiber auf den Rasen stürzen, befinden wir uns weit hinten allen Gefahren für Leib und Leben entrückt und spielen unterdessen Meister und Sieger. Und zu alledem sind wir ein unentbehrlicher Teil des Ganzen, wichtiger zuweilen, als die Hälfte der Streitmacht und von dieser hochgeschätzt und immer gern gesehen. Keine Schlacht kann ohne uns geschlagen werden, denn wir schaffen ihnen das mordgierige Blei und das Pulver herbei, und was frommte dem Heere der schönste Sieg, wenn nach der Schlacht unsere Räder den Erschöpften und Hungrigen nicht die gehörige Atzung zuführten! Heute hier, morgen dort, einmal im Überfluß, dann wieder darbend, das was begehrlich erscheint entweder durch Bitten und Versprechungen willfährig machend -- betörend, oder mit herzhaftem Griff an sich reißend, um es nach dem Genusse wieder wegzuwerfen -- --, so treiben wir im Regen und Sonnenschein, jahraus jahrein, bergauf talab singend und peitschenknallend unsere Pferde durch die Welt, wir, die Männer der Straßen!« »Sagt doch einmal,« warf Johann eingeschüchtert ein, »Ihr seid Eurer Sprache nach ein Deutscher. Wie kommt es denn nun, daß Ihr gerade den Franzosen Pulver und Blei nachfahrt? Sie benutzen es doch nur dazu, um Eure Landsleute damit zu verderben. Der Rabensteiner hat gesagt, es dürfe kein deutscher Mann den Feinden des Vaterlandes dienen.« »Ach was, Firlefanz,« antwortete der Fuhrmann, »ich gehe mit dem, der am besten zahlt. Und dann, Bursche, ist es doch mehr Ehre den siegreichen Heeren des großen Franzosenkaisers hinterdrein zu ziehen, als beispielsweise den preußischen Regimentern, die doch in der Mehrzahl nur aus zusammengelaufenem Pack bestehen.« »Ja, aber der Rabensteiner hat gesagt,« erwiderte Johann halsstarrig, »daß -- -- --« »Hol Dich der Henker mit Deinem verdammten Rabensteiner,« schrie der Fuhrmann auf und spuckte zornig ins Feuer, »sorg lieber dafür, daß Du Dir einstmals eine bessere Gruft ausgesucht hast, als sie Dir der Rabenstein bietet. Was schiert mich das Vaterland! Heute hier, morgen dort. Wo man trinkt und liebt ist mein Vaterland!« Er stopfte aus einer getrockneten Schweinsblase neuen Tabak in seine Pfeife, zündete sie an und stieß den Rauch in mächtigen Wolken aus dem Munde. Dann begann er wieder: »Du vorwitziger Gelbschnabel hast eben nicht den leisesten Begriff, wie lustig das Leben unter den Flügeln der siegreichen Adler ist. Laß Dir davon erzählen. Übrigens wirst Du wohl vom Hörensagen wissen, daß es gerade bei den Preußen nicht in Saus und Braus hergeht! Tagelang sehen wir von der Armee kein Käppi und schalten nach unserm eignen Willen. Den Bauer machen wir willfährig und zwingen ihn, die fetteste Sau im Stalle zu einem Frühstück für uns abzustechen. Rauben dürfen wir beileibe nicht, aber, wie’s so kommt, etwas bleibt immer an den allzeit klebrigen Fingern hängen. Und köstlichen Spaß gibt’s bisweilen auch. Merk auf, Bursche! Im verflossenen Monat war’s, da zogen wir in langsamen Märschen mit schwerbeladenen Proviantwagen durch thüringisches Gebiet. Der Tag war heiß, denn die Septembersonne brannte seit dem frühen Morgen recht empfindlich auf uns hernieder. Der Weg wurde uns sauer, und wir hatten noch weit bis ins nächste Dorf. Da tauchte ein einzelnes Bauernhaus auf, das unsern Blicken bisher durch eine Waldecke verborgen geblieben war. Erschöpft kamen wir an und wetterten nach Speis’ und Trank. Im nächsten Augenblick erschien eine runzlige, alte Vettel auf der Haustürschwelle, die heulend versicherte, daß die Soldaten all ihre bewegliche Habe zerstört oder mitgenommen hätten, und sie den vorangezogenen Fuhrleuten die letzten Kartoffeln hätte geben müssen, von denen sie sich selbst das Mittagsmahl bereiten wollte. Ich sah durch das Fenster in die Stube und erkannte sofort, daß in diesem Hause nichts mehr zu holen war, in dem selbst die Mäuse, statt Futter zu finden, sich nur Blutblasen an die Pfoten gelaufen haben würden. Ich war erbost, denn mich plagte Hunger und Durst. Da kam mir mit einem Male ein köstlicher Gedanke: sollen wir hier nichts bekommen, so müssen wir doch unsern Spaß haben! Ich raun’ meinem Kameraden ein paar Worte zu, daß er laut auflacht. Aber schon bin ich entschlossen und mach’s kurz. Mit festem Griff fasse ich die zaundürre Hexe trotz allen Keifens und Widerstrebens um den Leib, und hoppdihopp, sitzt sie rittlings auf dem breiten Rücken des Handpferdes. Starr vor Schrecken klemmt sie auf dem Gaul wie eine Wäscheklammer auf der Leine und rührt sich nicht. Da fliegt, wie aus der Kanone geschossen, der Bauer aus dem Hause heraus, der die unfreiwillige Prüfung seines Ehegespons auf ihre Reitfertigkeit wahrscheinlich schon von drinnen beobachtet hatte. Seine spärlichen, weißen Haare hingen wirr um den kahlen Schädel, und während ich auf den Bock gesprungen war, hob er die Hände zu mir empor und wimmerte wie eine sterbende Katze um sein Weib. Ich aber treibe die Pferde an; -- er greift nach den Zügeln, um die Gäule zurückzuhalten. Da habe ich auch schon den blanken Säbel in der Hand und lasse die flache Klinge auf seine Arme niederfallen. Wie Schilfrohr knickte der morsche Röhrenknochen des fleischlosen rechten Unterarmes um und hing zu Boden, wie ein zerbrochener Rührlöffel. Ich schlage kräftig auf die Pferde ein, daß die wahrscheinlich von der Peitsche getroffene Alte heulend in die Höhe fährt, und in rascher Bewegung rollt der Wagen die Straße entlang. Da kommt wieder Leben in den in wunderlicher Haltung auf dem Pferde hockenden Reiter, und bald flehend, bald zischend vor Galle begehrt die Bäuerin, sie herunterzulassen. Es war ein ausgezeichneter Spaß, der uns über Hunger und Durst reichlich hinwegtröstete. Etwa zwei Stunden führten wir das Weibsbild hoch zu Roß mit uns. Dann kam ein französischer Offizier angeritten, der uns das Pläsier verbot und die Alte unnützerweise durch ein des Weges kommendes Gespann wieder zurückbringen ließ. Ein paar Tage später bin ich in Verlegenheit. Meine Sacktücher sind zu Ende gegangen, weshalb ich genötigt bin, den Schweiß immerzu mit dem Rockärmel von der Stirn zu wischen, und meine Füße steckten barfuß in den Stiefeln. Da halte ich in einem elenden Dorfe vor einem niedrigen Hause, in dem sich, wie es schien, keine lebende Seele befand. Ich zweifelte, ob da drinnen für mich etwas sein könne, gehe aber doch hinein. Die vordere Tür im Hausflur war verschlossen. Ich öffne die hintere und komme in eine sehr ärmlich aussehende Küche. Wie ich aber auf die Türschwelle trete, da frohlockt’s in mir, denn eine Anzahl bunter und weißer Leinwandstücke liegt auf dem Tische durcheinander. Das war’s ja gerade, was ich suchte. Ich eile also darauf zu und fange an, den Vorrat hurtig im meine Taschen zu stopfen. Da höre ich heftiges Atmen und wie ich mich umwende, sehe ich in einem Bett eine junge Frau liegen. Mit fliegenden Worten beschwört sie mich, davon abzustehen. Sie sei seit gestern Mutter und die Leinwand wäre zu Hemden und Windeln für den um einen ganzen Monat zu früh erschienenen Erdenbürger bestimmt. Die Nachbarin wäre soeben noch bei ihr gewesen und sei nur für kurze Zeit fortgegangen, um nach den eigenen Kindern zu sehen. Ich aber überlege nicht lange. Meine Not ist groß, und der Säugling mag sehen wo er bleibt. Ich kehre mich also nicht an das Rufen der Mutter, sondern raffe zusammen was ich bekomme. Ihr Geschrei wird aber ärger, und ich bin besorgt, daß man sie auf der Straße hören könne. Nun weiß ich aber, wie schwer es ist, einem zeternden Frauenzimmer mit Erfolg das Maul zu verbieten. Da fällt mein Blick auf den Ofen, ein zweiter auf das trinkende Kind an ihrer Brust. Ich springe hinzu, reiße ihr die hungrige Brut weg und lege sie dicht vor dem Tische auf den Fußboden nieder. Dann ziehe ich den eisernen Topf mit kochendem Wasser aus der Röhre und setze ihn so auf die Kante des Tisches, daß er beständig zwischen Stehenbleiben und Umkippen schwankt und suche mir nunmehr in aller Gemütsruhe die besten Leinenstücke aus. Das dünne Zeug werfe ich zurück, da es mir nicht viel nützen konnte. Du hättest sehen sollen, Junge, wie jetzt das Weib schwieg, denn ein kleiner Stoß von mir an den Tisch hätte den Topf zum Umkippen gebracht, -- -- und darunter lag der schmatzende, quäkende Wurm. Der Mutter hatte der Schrecken gewaltig eingeheizt. Ihr Gesicht war grau geworden und mit kreisrunden Augen und ohne alle Bewegung schaute sie auf ihr Junges, als wenn es von ihrer ruhigen Haltung abhinge, daß der unaufhörlich schwankende Topf stehen bleibe. Als ich dann von der Straße neugierig durch das Fenster schaute, sah ich, wie das Weib wie eine aufgezogene Puppe zum Ofen ging, das Kind aufhob und gleich darauf mit ihm umfiel.« Der Fuhrmann brach hier kurz ab und blickte erstaunt auf den neben ihm Sitzenden. Johann war zusammengesunken, seine Augen waren starr vor sich niedergerichtet und die Zähne fest aufeinandergebissen. Der Körper des jungen Mannes bebte, und es kostete ihm sichtlich viel Mühe, ruhig zu bleiben. Da stieß der Fuhrmann mit einem wilden Fluche den Säbel auf den Boden, daß das Eisen klirrte und sagte drohend, aber mit gewaltsam gedämpfter Stimme: »Du gefällst mir nicht, Bursche! Bringe mich nicht in Versuchung, mit dem Korb meines Säbels Dir Deinen windschiefen Hirnkasten einzuschlagen!« Bei diesen Worten kam Johann rasch die Ueberlegung zurück. Die tierische Wut, die den seine Leidenschaften nicht beherrschenden, geistesschwachen Jüngling während der letzten Worte der Erzählung des Fuhrmanns so urplötzlich gepackt hatte, wich von ihm und die Besinnung kam wieder. Er hatte sich in seinen Plan so verbissen, daß der Gedanke an die Möglichkeit des Scheiterns alle andern Regungen in seiner Seele zum Schweigen brachte. Mit geheucheltem Erstaunen drückte er dem Erzähler seine Verwunderung über dessen Zornesausbruch aus und mit zwinkernden Augen und listigem Schmunzeln rieb er sich die Hände und kicherte wieder still vor sich hin. »Das muß ich schon gestehen,« beeilte er sich hinzuzufügen, »Euer Beruf ist kurzweiliger als der meinige, wenn Ihr öfters solche lustige Streiche vollführt.« Dabei schossen seine Blicke verstohlen zu dem Mann an seiner Seite, um zu ergründen, ob dessen Argwohn verflogen sei. Der Fuhrmann aber rührte sich nicht. Die Pfeife lag in seinem Schoße, und der Blick war finster in die Nacht hinaus gerichtet. Eine geraume Weile verstrich in beiderseitigem Schweigen. Dann legte der Fuhrmann den noch immer mit der Faust umklammerten Säbel wieder auf die Knie, während sich seine Augen mit sinnendem Ausdruck auf die züngelnden blauen, gelben und roten Flammen des niedrigbrennenden Feuers hefteten. »Es gab eine Zeit,« begann er wie im Selbstgespräch und mit so veränderter Stimme, daß Johann bei dem weichem Klange plötzlich aufhorchte und angestrengt nachsann, ob er diese Stimme nicht schon einmal gehört habe, »es gab eine Zeit, zu der ich die Achtung aller die mich kannten genoß, und der Name Laurentius Kräutlein einen guten Klang hatte. Damals war ich an Jahren noch ein junger Mann und an Herzenseinfalt ein Kind. Ich genoß auf Erden die Wonnen des Paradieses. Da griff das grausame Schicksal jäh zu und zerbrach mir mein sonniges Glück. In einer einzigen Stunde verdorrten Blüten und Blätter, und ich ward zum ruhelosen, rauhen Mann, den die bösen Mächte um Heimat und Glück betrogen. Und darum sage ich: -- es gibt keinen Gott.« Des armen Johanns aber hatte sich bei diesen Worten des Mannes, die eine furchtbare Anklage an das Schicksal enthielten, eine tiefe Regung bemächtigt. Und mit fliegendem Atem versetzte er: »Der Pastor Reinerz aber sagt immer: Es gibt einen Gott, und dieser läßt sich nicht spotten!« Da fuhr der Fuhrmann zornig auf, und alle Weichheit war wieder von ihm gewichen, als er herausbrach: »Halte Dein lästerliches Schandmaul, Du Rabenaas, es gibt keinen, sage ich,« dabei drohend den Säbel von den Knien hebend. Und nach einigen Sekunden fuhr er beruhigter fort: »Merk auf, junger Mann. Ich werde Dir meinen Lebensgang erzählen, und Du sollst urteilen. Kannst Du aber, wenn ich geendet, für das Bestehen der Gottheit noch sprechen, dann werfe ich mich freiwillig in die Flammen dieses Feuers. -- Ich bin im Bayrischen geboren. Meine Kindheit gestaltete sich so tieftraurig, daß ich ihrer nur mit Wehmut gedenken kann. So viel wie andere Kinder gespielt und gelacht haben, habe ich geweint. Alle im Hause schalten und schlugen mich, und wer an mir vorüberging, stieß heimlich nach mir. Mein Vater war ein Hund! Väter, die ihre Kinder, noch bevor sie geboren sind, im Stich lassen, sind immer Hunde. Mag der gräßlichste Tod für ihn bestimmt sein und er jahrelang sterben! Meine Mutter war ein engelgutes, schüchternes Wesen von schwachem Körper. Sie litt unsägliche Qualen unter den täglichen Boshaftigkeiten ihrer lieben Verwandten, auf deren Hilfe sie leider angewiesen war. Ihr ganzes Glück war ich, und ich entsinne mich noch recht lebendig, wie inbrünstig sie mich als Knaben manche Nacht im Bette an sich drückte, wobei die bittersten Tränen aus ihren Augen auf mein Gesicht niedertropften. Zum Glück starb sie bald, und ich verließ kurz darauf die Gegend und ließ mich nach manchen ziellosen Wanderungen im sächsischen Erzgebirge nieder. Dort erlernte ich die Klöppelei und war in wenigen Jahren ein sehr geübter Arbeiter, dessen Erzeugnisse ob ihrer Feinheit und Sauberkeit geschätzt wurden. Ich war fleißig und sparsam und brachte mir eine hübsche Summe Geldes auf die Seite. Ich war auch angesehen und geachtet, -- aber glücklich war ich nicht! Der Stachel, der in der Kindheit in mein Herz getrieben wurde, besaß einen starken Widerhaken und verhinderte, daß wahre Zufriedenheit über mich kam. Auch fromm bin ich zu dieser Zeit gewesen und an keinem Abend schlief ich ein, ohne das Kindergebet gesprochen zu haben, wie es mich meine Mutter gelehrt hatte. Da lernte ich ein armes Mädchen kennen, das aus Böhmen eingewandert war. Nach kurzer Zeit gestanden wir uns unsere gegenseitige Liebe und heirateten bald darauf. Meine Freude war unbeschreiblich und mir war von dieser Stunde an die Brust mit reinem, innigem Glück erfüllt, das die traurigen Erinnerungen an die Kindheit langsam aus der Seele verdrängte. Wir erstanden etwas abseits vom Dorfe, dicht an der Landstraße ein kleines Häuschen, mit schmuckem Garten und einem ansehnlichen Hühnervolk und lebten so zufrieden, daß wir unser Glück gegen alle Schätze der Welt nicht eingetauscht hätten. Mein junges Weib war heitern Gemüts, das mich ernst Veranlagten fröhlich machte. Durch das Haus und den Garten scholl ihre Stimme und ihr lustiges Lachen. Ihre Lippen waren voll und kirschrot, und ihre dicken, dunkeln Zöpfe trug sie auf dem Kopfe wie eine Krone. Das herrlichste an ihr aber waren die pechschwarzen Augen, aus denen Freude und Lebenslust blitzten und die in mir die ungeheure Glut entfacht hatten. Und als nach Jahresfrist uns in einer weichen Sommernacht ein Sohn geboren wurde, da stand ich wunschlos auf dieser Welt. Ich mußte allein sein mit meinem Glück. Leise verließ ich mein schlafendes Weib auf kurze Zeit, ging ins Freie und brach in reichfließende Tränen der Freude aus. Nicht mehr Herr meiner Gefühle, sank ich in die Knie und lehnte den Kopf an die Hinterwand meines Hauses. Ich dankte Gott für die Fülle seiner Gaben und gedachte in unendlicher Liebe meiner verstorbenen Mutter. Auf das kleine Haus, das meine Teuern barg, hatte sich das Glück herabgesenkt, das zwei wackere Helfer geschmiedet hatten: Arbeit und Liebe. Die sturmfesten Stützen des schirmenden Daches verdankte ich dem Ertrage meiner Hände Arbeit, und das was den Eingang treulich hütete und den Glanz im Innern bereitete, war die Liebe.« Hier unterbrach der Fuhrmann seine Erzählung. Noch immer war der Mond von Wolken umlagert. Der Wind hatte sich etwas erhoben und blies in das Feuer, daß die Flammen seitwärts schlugen. Durch die Postenkette ging einer der Fuhrleute, der von der am nächsten stehenden Schildwache an der Straße angerufen wurde. Der Wind trug leise den Klang der Worte herüber, die gewechselt wurden. »Parole?« tönte die Frage, und »Jena!« lautete die gedämpfte Antwort. Jetzt wandte sich der Erzähler wieder zu dem Schafhirten und fuhr fort: »Die Schwäche meiner Frau war ihre Putzsucht. Sie liebte es, sich mit bunten Flicken zu schmücken und konnte lange die Wirkung solchen Aufputzes im Spiegel betrachten. Ich habe sie nie darum gescholten, denn Eitelkeit ist die Zwillingsschwester der Keuschheit. Ich war froh darüber, daß sie sich solch harmlose Freude bereitete, denn unser Leben floß recht ruhig dahin. Bisweilen hatte ich aber die Empfindung, daß Franziska ihrer Schwäche manchen Groschen opferte, der bei unsern knappen Mitteln besser für etwas Anderes ausgegeben worden wäre. Fünf Jahre waren seit unserer Verheiratung verstrichen, als mich eines Sonntags auf dem Heimwege vom Kirchgang mein Nachbar Werner am Arm nahm und mir verstohlen zuraunte: »Laurentius, gib Acht auf Dein Weib!« Ich war so überrascht und erzürnt durch diese Worte, daß ich den Sprecher am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte, wen mir nicht alsbald das Bewußtsein gekommen wäre, daß Werner, wenn er auch nur ein armer Weber war, das größte Vertrauen von jedem im Dorfe genoß. Fassungslos starrte ich ihm in die Augen um darin zu lesen, ob er sich einen grausamen Scherz bereite, oder ob er so schlecht wäre, Mißtrauen in mir gegen mein reines Weib zu erwecken. Je länger ich ihn aber anschaute, umso eindringlicher kam mir die Überzeugung, daß dieses in Ehren ergraute Haupt keine schlimme Tat auf sich laden könne, und ich wurde verwirrt unter dem wohlmeinenden Blick dieser ehrlichen Augen. Wie ein Rasender stürmte ich nach meinem Hause. Da sah ich von der Schwelle aus ein liebliches Bild: Franziska hielt den Knaben fest in ihren Armen, jauchzte vor Freude und küßte wieder und immer wieder das lächelnde Kind. Noch nie war mir ihr wohlgebildeter, schmiegsamer Leib so lebensfrisch und anziehend erschienen, und niemals hatte das Mutterglück ihr Gesicht so verklärt, wie in diesem Augenblick. Eine warme Welle trieb mir zum Herzen, und ich bat ihr im Stillen das bittere Unrecht ab, das ich ihr getan und entschuldigte Nachbar Werners Verdacht mit unseligem Irrtum. Wenn mir nun auch manches aus den letzten Wochen an Franziska ungewohnt erschien, so fühlte ich doch im innersten Herzen, daß eins geblieben war: die Liebe zu mir und dem Kinde. Mochte sie mit ihrer Schwäche auch manchmal Ursache zu Gerede unter den Leuten geben, im Grunde war es doch etwas anderes, das diesen Menschen die Zungen schärfte: sie gönnten mir mein Weib und mein friedliches Heim nicht. Gerüchte tauchen plötzlich auf und zerflattern wieder wie Sternschnuppen, und der Mann hat sein Weib nie geliebt, den die erste Warnung wider sie in Harnisch bringt! -- Aber ich nahm mir vor, auf die Eindämmung ihrer immer mehr wachsenden Gefallsucht ernst hinzuarbeiten. Der Herbst war ins Land gekommen, und bald fegten die ersten winterlichen Schauer über die verödeten Fluren. Es war Sonnabend und ich war, wie ich es an diesem Tage immer zu tun pflegte, nach dem zwei Stunden entfernten Annaberg gegangen, um meine Arbeit der Woche abzuliefern. Hierbei war ich länger als sonst aufgehalten worden und besorgte deshalb rasch die gewohnten Einkäufe. Wohlgemut schritt ich auf der Landstraße hin, mein Bündel im Arm und die Gedanken daheim bei meinen Lieben. Es war kurz vor der Dämmerung, als ich durch ein Dorf kam, das gerade auf der Hälfte des Weges lag. Da sehe ich drüben am Mühlgraben Menschen zusammenlaufen. Ich eile hinüber, um nach der Ursache des Geschreis zu fragen. Kaum aber bin ich dort angekommen, gewahre ich einen etwa achtjährigen Knaben in den Fluten des breiten Grabens, den die Wasser im Wechsel niedertauchen und dann wieder auf kurze Zeit an die Oberfläche heraufbringen. Der Kleine zappelte und sträubte sich herzhaft gegen das tückische Element. Aber es war umsonst, daß das bedrohte Leben sich der gefährlichen Umarmung zu entziehen versuchte. Nach ein paarmal Untertauchen würde der Knabe nicht wieder heraufkommen, und dann nahm ihn der stille, schwarze Teich auf und bettete den kleinen Leichnam in seinen tiefen, weichen Schlamm. Wohl hatte der Gedanke meine Seele durchzuckt, hineinzuspringen und den Versuch zu machen, den Ertrinkenden zu retten. Aber dieser Versuch mußte aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Leben gebüßt werden, denn das Wasser war übermannstief, ich war des Schwimmens nicht kundig, und die Wirbel hätten meinen schweren Körper viel eher hinabgezogen wie den leichten Knaben. Zudem hatte man ja selbst Weib und Kind daheim, die ihres Ernährers harrten -- -- und ich wandte mich ab. Da zerriß der wilde Wehruf eines Weibes die Luft: »Mein Kind! Um Gotteswillen, mein einziges Kind!«« Der Fuhrmann hielt eine Sekunde in der Erzählung inne, so mächtig packte ihn die Erinnerung. Dann fuhr er fort: »Der Klang dieser Worte drang mir ins Herz wie glühender Stahl. Ruhig, aber schnell wie das Aufleuchten des Sonnenlichts zwischen dunkeln Wolken, stellte ich mir vor: -- wenn dieses verzweifelte Weib Deine Mutter, der Kämpfende Dein Bruder wäre! Dieser Gedanke ließ die Bedenken gegen den, das eigene Leben gefährdenden Versuch der Rettung verblassen. Dann wieder drang es auf mich ein: -- wie nun, wenn dies Dein geliebtes Kind wäre ...! und es schien mir, als wenn plötzlich mein Herzschlag stocke. -- Was aber würdest Du tun, schrie es mir wild ins Ohr, wenn Dein Weib hier stünde und in tödlicher Angst nach einem Retter riefe ...! »Platz da!« schrie ich mit dem ganzen Aufgebot meiner Stimme und drängte mich wieder zum Rande des Grabens. Die Menschen wichen zurück, Mütze und Rock flogen zur Erde, und dann sprang ich kopfüber in die eisige Flut. Die plötzliche Kälte raubte mir den Atem, die Wasser rissen mich mit sich fort, und die Todesnähe hemmte mir die ruhige Ueberlegung. Zweimal schlägt es über mir zusammen, dann komme ich herauf und tue instinktiv wieder einen tiefen Atemzug, -- von neuem umfängt mich die Finsternis, und wieder unterscheidet endlich mein Auge in der Dämmerung verschwommen die Gestalten der Menschen am Ufer. Da streift die Hand einen Körper. Ich erkenne den Knaben, packe fest zu, und die Wirbel reißen mich zum letzten Male hinunter. Mit der Verzweiflung des Ertrinkenden halte ich mich und den Knaben darauf eine kurze Weile über Wasser und ergreife dann die mir entgegengehaltene Stange, an der wir ans Ufer gezogen werden. Während die Menge Knaben und Mutter umgibt, werfe ich flugs mein Gewand über und mache mich auf und davon. Noch höre ich die jubelnden Worte: er lebt, er hat die Augen aufgeschlagen? Ich aber wickle mich, so gut es eben geht, in meinen dünnen Rock und laufe, als wenn der Böse hinter mir wäre. Endlich komme ich an meinem Hause an, die Glieder fast erstarrt vor Kälte. Doch, was ist das? Kein Licht? Mein Weib empfängt mich nicht? -- Sie ist ausgegangen! -- Aber wohin? Warum? Jetzt zu dieser Zeit pflegt sie doch niemals das Haus zu verlassen! Die vordere Haustür ist verschlossen. Ich klinke die Hintertür auf und trete ein. »Franziska!« rufe ich, »Fränzchen, mein liebes Fränzchen, ich bin wieder da -- --!« klingt mein angstvoller Ruf aus dem plötzlich bebenden Munde. -- Nichts rührt sich, niemand antwortet mir. Ich stolpere nach der Stube und mache mit zitternden Händen Licht. Und wie der schwache Schein der Kerze den Raum erhellt, sehe ich ringsum eine Verwüstung, als wenn Räuber darin gehaust hätten. Alle Schubfächer der Kommode, des Tisches sind geöffnet; der Deckel der großen Lade ist zurückgeschlagen und der Inhalt auf dem Fußboden ausgebreitet. Weiße und rote Gewänder, bunte Stoffe und Schürzen, aufgerollte Bänder, künstliche Rosen und Jasmin wild durcheinander. Sind das alles Kleider von Franziska? denke ich. Da erscheint mir dies und jenes bekannt, manches davon aber hatte sie mir verborgen gehalten. Meine Gedanken werden wirr. Was um Christiwillen bedeutet das, und wo ist dein Weib? Indem fällt mein Blick auf ein Stück Papier, das neben dem Leuchter auf dem Tische liegt. Ich hatte das Gefühl, als wenn mir das Herz still stehe, nehme den Zettel in die Hand und lese bei dem flackernden Kerzenscheine: Lieber Laurenz! Du mußt mich gehen lassen und darfst mir nicht böse sein. Du bist ein herzensguter Mann, aber ich würde sterben bei diesem Leben. Ich habe mich jahrelang beherrscht und wollte meinen leichten Sinn unterdrücken, aber meine Kraft reichte dazu nicht aus. Ich habe, bevor Du mich kanntest, trotz meiner Jugend schon lustig in den Tag hineingelebt und kehre nun wieder zu diesem Leben zurück. Vier Jahre lang habe ich Dir die Treue gehalten, seit ein paar Monaten aber bin ich des Nachts manchmal aus dem Haus geschlichen, wenn Du von der Arbeit ermüdet fest schliefst. Das Glück und die Ruhe in Deinem Hause würden mich noch töten. Mich verlangt’s nach Freiheit und wirbelndem Tanz! Leb’ wohl und küsse unser Kind, das Du gewiß zu einem guten Menschen erziehen wirst. Franziska. Den Zettel in den wie vom Starrkrampf zusammengepreßten Fingern festhaltend, sank ich neben dem Tische nieder. Das Schicksal hatte mich an der Wurzel allen Lebens getroffen. Mechanisch glitten meine Hände über die bunten und weichen Stoffe, die ich streichelte wie ein Kind sein liebstes Spielzeug. Da vernehme ich hinter mir ein leises Geräusch und erkenne im Halbdunkel mein Kind, das vom Schlummer erwacht ist, sich erhebt und noch schlaftrunken lächelnd sich mir nähert. In diesem Augenblick vollzieht die Natur in meinem Innern einen urplötzlichen Umsturz. Gutes verwandelt sich in Böses, Weichherzigkeit in Grausamkeit und Gelassenheit in wilde Wut. Ich will gegen das Schicksal wüten, und -- wende mich gegen meinen Knaben. Ein Stück von diesem verruchten Weibe! ruft eine Stimme in mir, und die wilden Flammen des Zornes schlagen hochauf und stürzen mich in Raserei. Ich springe in die Höhe, -- da hält der Knabe den Schritt an. Sein leuchtendes Auge verliert den Glanz vor dem Ausdruck im Gesichte seines Vaters. Angstvoll wendet er sich ab, um davonzueilen, -- da trifft ihn ein fürchterlicher Fußtritt, der den Körper des Kindes wie einen Ball fortwirft bis hin zum Ofen, auf dessen steinernem Untersatze der Kopf dumpf aufschlägt. Einen Augenblick sehe ich auf den Knaben mit der blutenden Wunde am Hinterkopfe, dann packen mich alle bösen Geister. Ich reiße die Kerze vom Tische, springe hierhin, dorthin und entzünde alles was brennbar ist in der Stube. Schon lodern die gefräßigen Flammen neben mir empor und lecken an mir hinauf, und ich prüfe, welches der feurigste Herd ist, daß ich ihn zu meinem Ruhbett erwähle, -- -- da kommt der Dämon der Feigheit über mich! Ich stürze durch Qualm und Glut und wie ich meine Sinne wiederfinde, hocke ich draußen auf der Straße im Graben und schaue auf mein Haus, aus dessen Fenstern dichter Rauch und Flammen herausschlagen. Auf der Straße aber höre ich schwere Wagen daherrollen, dazu die lauten Stimmen der Fuhrleute. Schon hat der Vorderste von ihnen die Feuersäule entdeckt, läßt die Pferde im Stich und eilt auf das Haus zu. Ich aber drehe mich um und jage wie von Furien gepeitscht über die Stoppeln. Und seit dieser Stunde bin ich der, der ich bin!« Der Fuhrmann hatte seine Erzählung beendet und sah gedankenvoll in die hüpfenden, niedrigen Flammen des Feuers. »Mein Haus ist zerstört,« sagte er langsam, »und mein Sohn verbrannt und unter den Trümmern begraben. Ich bin bereit jede Vergeltung für meine Tat zu tragen. Und doch, -- zehn Jahre meines Lebens und diese meine Rechte gäbe ich darum, wenn ich die Tat ungeschehen machen könnte -- --« Einige Minuten verstrichen. Da ergriff der Fuhrmann den Baumstamm und stieß ihn mit solcher Kraft zwischen die schwelenden Scheite, daß die glühenden Funken knisternd hochaufsprühten. »So, Du Großmaul« schrie er Johann zu, »willst Du es jetzt noch sagen: es gibt einen Gott?« Der Angesprochene aber vernahm diese Worte nicht. Wie ein Steinbild saß er auf dem Grabenrand und hielt die Augen halb geschlossen. Die nächste Umgebung entwich dem Kreis seiner Gedanken, aber die bis zu dieser Stunde in engen Banden gehaltene Kraft der Erinnerung befreite sich mit einem einzigen Kraftausbruch von ihren bisherigen Fesseln, und sein Geist eilte zurück bis in seine Kindheit. Vor seiner Seele stieg das Bild eines jungen Weibes herauf mit roten, schwellenden Lippen, tiefdunkeln Augen und einem Kranze glatter Flechten, die wie eine Krone auf der Stirn ruhten. Auch den Klang ihrer fröhlichen Lieder vernahm er und er fühlte deutlich, wie die roten Lippen seinen Mund küßten. Neben diesem Bilde malte die Erinnerung mit zauberhafter Deutlichkeit das eines Mannes mit ernsten Zügen, dessen Augen voll Liebe und unaussprechlichem Glück auf das Kind gerichtet waren. Mit wunderbarer Schärfe traten noch andere glückliche Erinnerungen an die Kindheit aus dem bisher undurchdringlichen Dunkel heraus, bis zuletzt der düstere Anblick der Stube im elterlichen Hause im Scheine einer Wachskerze heraufstieg, und ihn aus einem entstellten Männerantlitz zwei drohende Augen trafen -- -- -- Der Schafhirt sprang in die Höhe und taumelte wie ein Berauschter ein paar Schritte zur Seite. »Haha,« lachte der Fuhrmann, »nicht wahr, mein Bürschchen, jetzt ist Dir der Appetit zum beten vergangen?« Da warf der Schafhirt dem Manne einen langen Blick zu, als wenn er diesen Anblick mit dem Bilde in seiner Seele vergleichen wolle, -- und er wandte langsam die Augen ab. Mechanisch kehrte er sich um und ging schwerfällig auf dem Wege weiter, der zum Turm führte. »Heh!« rief der Fuhrmann dem Jüngling zu, »dort habt Ihr nichts zu suchen. Geht links hinüber, sage ich Euch!« Aber schon trugen den Schafhirten die Füße nicht mehr weiter. Er strauchelte und fiel neben dem Wege zwischen die blätterlosen Ruten eines Haselnußstrauches. Und dann glitten seine Hände zuckend über den Boden, und die starren Finger krampften sich hinein, als wenn ein Schwindelnder Halt sucht, und den Mund preßte er fest auf Erde und Moos, um das wilde Schluchzen zu ersticken, das ihm das Herz schier zersprengen wollte. 22. Kapitel. Vor der schmalen Eingangstür des Pulverturmes, mit dem Rücken gegen das Mauerwerk, standen in dunkler Nacht zwei Schildwachen in eifrigem Gespräch. Der eine der Männer mochte fünfundvierzig Jahre zählen und war hochgewachsen und breitschulterig. Sein verwettertes Gesicht mit den klugen und ausdrucksvollen Zügen erhielt durch den den Mund vollständig bedeckenden, buschigen Schnauzbart, dessen lange Spitzen wie die Kiele starker Rabenfedern von der Oberlippe abstanden, einen Stich ins Martialische. Wie selten auf einem Antlitz, war auf diesem die stärkste Charaktereigenschaft seines Trägers scharf ausgeprägt, denn die blitzenden Augen und die scharfgekrümmte, starke Adlernase verrieten eine außergewöhnliche Kühnheit. Er trug die Uniform der Alten Garde, und seine Brust war mit zahlreichen Kriegsmedaillen und Kreuzen geschmückt. Der andere der beiden Männer war ein blutjunges, schmächtiges Bürschlein mit bleichem und schmalem Gesicht. »Ich sage Dir,« sprach mit tiefer Stimme der alte Gardist, »Du hast ein Leben begonnen, das reich an Ehren ist. Der Ruhm, der sich an den Flug der Kaiserlichen Adler heftet, berauscht alle bis auf den letzten Soldaten seiner Armee und bewirkt, daß sich Alter und Jugend, Vornehm und Niedrig willig ihm beugen. Das Schicksal hat uns wunderbar zusammengeführt: ihn, den Kriegsgott und uns, die Söhne der großen Nation! Ein bedeutsamer Sieg steht uns bevor; die Kanonen, die Du heute hörtest, verkündeten aufs neue seine Unsterblichkeit. Leipzig müssen wir gewinnen, mein Sohn, und wenn den altersschwachen Gott der Christen des Kaisers Arme selbst herunterreißen müßten!« »Sagt mir doch,« klang zögernd die mädchenhafte Stimme des jungen Soldaten, »warum seid denn Ihr nicht bei Euerm Regiment?« »Ach,« versetzte der Gardist mißmutig und verzog das Gesicht, als wenn er Essig im Munde habe, so daß der gewaltige Schnurrbart in heftige Bewegung geriet »Bei Lützen sprang mir ein Granatsplitter ins Bein, daß ich kampfunfähig wurde und mehrere Monate im Spital zubringen mußte. Vor wenigen Tagen erst gab man mich frei, und ich schloß mich diesem Munitionstransport an, denn ich brannte vor Begierde, wieder zu meinem Regimente zu stoßen. Von den elf Blessuren, die ich bisher erlitt, ist es die letzte gewesen, während deren Heilung ich vor Ungeduld bald gestorben bin.« »Man sagt,« begann der Jüngling von neuem, »daß der Kaiser sich seine Generale selbst heranbilde, und daß der Lehrer keinem seiner Schüler einen starken Einfluß auf die Heranführung der Armeen zum Kampfe einräume.« »Das ist wahr,« antwortete der Gardist und zwirbelte seinen Schnurrbart. »Die Pläne zu allen großen Schlachten sind in dem Hirn unseres genialen Meisters erdacht worden. Deshalb gebührt auch ihm der größte Teil von dem Ruhme seiner Siege. Seine Marschälle sind nichts anderes als Ausübende seiner Befehle. Vielfach früher gemeine Soldaten, sind sie aus der hohen Schule des großen Kaisers hervorgegangen. Der wahre Meister lehret die Gehilfen selbst. Und wen einmal der Korse für vollgewichtig fand, der zählt in Zukunft zu des Imperators Paladinen!« »Ihr habt den Kaiser recht sehr in Euer Herz geschlossen, merke ich,« sprach der Jüngling. »Ihr müßt doch eine gewaltig hohe Meinung von ihm haben.« Der alte Soldat wandte sich um, daß er dem andern den Anblick seiner breiten Brust bot und ließ seine blitzenden Augen spöttisch auf dem Milchgesicht ruhen. »Junger Kamerad,« versetzte er endlich, »Du kommst mir vor, wie ein frisch dem Mutterleibe entstiegenes Böcklein, das in den wärmenden Sonnenstrahlen seine possierlichen Sprünge macht. Deine Worte klingen wie das Lallen eines Kindes. Noch ganz andere Männer als ich huldigen unserm großen Kaiser, dem die Meinung der Menschen nichts an seinem Ruhme schmälern oder hinzufügen kann. Seine welterschütternden Taten fordern bei Freund und Feind hohe Ehrfurcht heraus. Sie sind in dem Buche der Geschichte auf ewig unvergänglich eingegraben, und noch in den spätesten Tagen wird man mit Bewunderung seinen Namen nennen. Er ist der Erste, aller Zeiten Ersten, vor seinem Stirnerunzeln zittert eine Welt, und wie das Schicksal von Europas Völkern in seiner Faust er hält, brächt’ er im Rasen selbst den morschen Erdenball zum bersten.« »Vergebt,« begann nach einer geraumen Weile Stillschweigens der junge Soldat schüchtern, »wenn ich Euern Unmut herausforderte. Ich bin ja, wie Ihr wißt, keiner Eurer Landsleute, zudem bin ich jung und unerfahren, und in unser stilles Schwarzwaldtal ist zum Glück nur wenig von dem Kriegslärmen gedrungen. Ich kann Eure blinde Anbetung des Kaisers nicht recht verstehen, aber Eure Rede flößt mir Achtung vor ihm ein. Und wenn ihr sagt, »der Kaiser!«, so sprecht Ihr diese Worte in einem Tone, den ich bisher noch nicht vernommen habe, und jedesmal ist es mir dabei den Rücken hinabgerieselt. Zugegeben, Napoleon ist ein großer Kriegsmann, der bei jedem Menschen ein starkes Gefühl herausfordert, sei dies nun Liebe, Bewunderung oder Haß. Sagt mir aber doch, bitt’ ich Euch, welche Bewandnis es damit hat, wenn Ihr sagt »der Kaiser!«.« Das Gewehr an die Schulter gelehnt, griff der alte Gardist mit beiden Händen langsam an den Schnurrbart und richtete, ihn wiederholt blitzschnell durch die Finger drehend, eine wahre Revolution in den beiden Haarbüscheln an. Aber nur eine Sekunde dauerte diese Verwirrung, dann glätteten, drehten und strichen die zerstörenden Finger das stolze Symbol seiner Männlichkeit in eine noch ansehnlichere Form als der Bart vorher besessen hatte, und ein paar letzte Striche verliehen den Büscheln einen kühnen Schwung, und die dicken Enden ragten aufs neue spitzig in die Luft. Mit dem Gesichtsausdruck des Geschmeichelten blickte der Franzose einen Augenblick sinnend ins Leere. Dann warf er seine nachlässige Haltung ab, richtete sich auf und begann die folgende kleine Erzählung: »Es war bei Austerlitz. Die Schlacht war im vollen Gange, und die Russen und Österreicher boten alle Kraft auf, dem gewaltigen Stoße unserer Sturmkolonnen standzuhalten. Die Alte Garde stand mit Gewehr bei Fuß rückwärts auf einer Anhöhe, jedes Winks gewärtig, um etwa einem bedrohten Flügel zu Hilfe zu kommen. Wir Auserlesenen der großen Armee kennen schon dieses Verweilen in der Reserve, denn wir sind gewöhnt, in den Augenblicken, wo die Schlachten ihren Höhepunkt erreichen, einzugreifen und aufs neue mit dem Lorbeer des Sieges unsere Adler zu schmücken. Von unserm Platze aus konnten wir das ganze Schlachtengefilde überblicken. Die ungeheure Fläche war ein einziges Schneefeld, auf das die Wintersonne herniederglänzte. Millionen von Eiskrystallen glitzerten in den goldenen Sonnenstrahlen, und der Donner der ersten Kanonenschüsse der Russen zerriß die Luft und rollte majestätisch zu uns herüber, die erhabene Ruhe der Natur jäh erschreckend. In kurzer Zeit aber wurde das Bild lebendiger. In weitem Halbkreise bot sich dem Auge der Anblick der Dörfer dar, aus deren Häusern hier und da schon die Flammen schlugen. Verhaue waren zu sehen, Hecken, hinter denen es wie in einem Ameisenhaufen kribbelte, langgedehnte Feuerlinien, von Rauch fast verhüllt, anstürmende Regimenter und sich zur Schlacht entwickelnde Divisionen. Eins bemerkten wir schlachtenkundigen Veteranen des Krieges sehr bald: das Ringen war zum Stillstand gekommen. Zudem war es bekannt, daß wir uns in der Minderzahl befanden. Also konnte es wohl einem Neuling etwas bänglich zu Mute werden, zumal sich unser Aufenthalt auf der sanft in das Tal hinabführenden Lehne immer ungünstiger gestaltete. Denn nicht nur eine ganze Anzahl verirrter Flintenkugeln schlug mitten in unsere Reihen ein, sondern es schwirrten auch Granaten dicht über unsere Köpfe hinweg, mit denen sich die russische Artillerie auf uns einzuschießen begann. Wir aber standen schweigend und ohne mit den Wimpern zu zucken und betrachteten scheinbar gleichgültig das weite Schlachtfeld. Aber in der Brust eines Jeden von uns stieg eine quälende Unruhe herauf und das wilde Verlangen, anstatt in dieser Totenstarre, zu der wir verurteilt waren, auszuharren, vorwärts zu stürmen. Dicht vor unserem Bataillon hielt zu Pferd der Marschall mit seinen Adjutanten. Wie aus Stein gemeißelt saß er auf dem Pferde und blickte unausgesetzt nach einem großen Reiterhaufen in geraumer Entfernung vor uns, von dem unaufhörlich einzelne Reiter ab und zu ritten. Auch unsere Blicke wurden auf diese Stelle hingezogen, von der eine magnetische Kraft auszugehen schien. Und je länger wir untätig standen, je lauter der Schlachtenlärm heraufdrang, und je gefahrvoller unsere Stellung wurde, um so sehnsüchtiger hingen unsere Augen an diesen Reitern. Die Unruhe in unserer Brust war auf das höchste gestiegen. Da löste sich mit einem Male wieder ein Reiter von dem großen Haufen und stürmte in verwegenem Galopp über die Hecken und Gräben hinweg auf unsere Stellung zu. Ein Aufatmen ging durch die Reihen! Wie eine Windsbraut fegte der Reiter die Anhöhe herauf. Es war, wie man beim Näherkommen erkennen konnte, ein Major vom Großen Hauptquartier, ein noch junger Mann mit vornehmen Gesichtszügen und hohen Auszeichnungen auf der Brust. Dicht vor dem Marschall riß er mitten in der Karriere so gewaltig in die Zügel, daß das feurige Roß fast auf die Hinterhufe niederbrach. Dann legte er mit edelm Anstand die Hand an die Mütze und sprach langsam und mit laut vernehmbarer Stimme: »Befehl des Kaisers! Die Kaiserliche Garde soll das Dorf im Zentrum der Schlachtlinie nehmen und um jeden Preis halten!« Bei diesen Worten streckte der Offizier den Arm aus und bezeichnete ein fast gänzlich zusammengeschossenes, langgestrecktes Dorf, aus dessen Häusern dichte Rauchwolken drangen und von dem soeben stark gelichtete französische Kolonnen zurückfluteten, die vom Dorfe aus mit heftigem Gewehrfeuer verfolgt wurden. Hierauf salutierte der kaiserliche Adjutant von neuem, riß das Pferd herum und stürmte, wie er gekommen, wieder die Anhöhe hinab. Kaum war er aber hundert Schritte weit geritten, da bäumte plötzlich der prächtige Rappe hochauf und begrub, sich überschlagend, den Reiter unter seinem Leibe. Infolge der Heftigkeit des Sturzes rollte das Pferd über den Offizier hinweg, stieß, auf dem Rücken liegend, die im Krampf gekrümmten Beine ein paarmal heftig in die Luft und fiel dann langsam auf die Seite neben seinen Reiter, der unbeweglich auf dem gefrorenen Schnee lag. Da wandte der Marschall sein Pferd herum, und durch unsere Reihen scholl ein unterdrücktes Jauchzen. Sein Gesicht war dunkelrot, und seine Augen glühten vor innerm Feuer. Die Kommandeure sprengten auf ihn zu, ritten wieder zurück, und wenige Minuten später erschollen die Kommandos, und die Bataillone setzten sich stumm in Marsch. Alles dies geschah ruhig und ohne Aufregung, wie daheim auf den Übungsplätzen. Mit beflügelten Schritten eilten wir abwärts, an dem auf dem Rücken lang ausgestreckten Adjutanten vorbei, dessen gebrochener Blick nach oben gerichtet war, und erreichten bald die Stelle, wo der bewegliche Reiterschwarm hielt. Hier waren Offiziere jeden Ranges und aller Waffen. An der Spitze des Haufens sah man die Uniform des Kaiserlichen Stabes und etwa fünfzig Schritte vor ihnen befanden sich zu Fuß drei oder vier einzelne Offiziere, unter ihnen der Kaiser. Der Gewaltige hielt ein großes Fernrohr vor die Augen und blickte aufmerksam auf das Schlachtfeld. Nach einer kurzen Weile nahm er das Glas herunter und beugte sich über einige Karten, die auf einem am Boden liegenden Baumstamm ausgebreitet waren. In diesem Augenblick ritt ein Regiment Grenadiere zu Pferde in leichtem Trabe vorüber. Ein hundertstimmiges Vivat brauste durch die Luft; der Kaiser rührte sich nicht. Da erhoben sich die Stimmen noch lauter, und die Soldaten riefen: Nun werden wir den Petersburger Damen wieder eine Gelegenheit zum weinen geben. Der Kaiser blieb unbeweglich. Er richtete sich nicht für einen Augenblick auf, sondern blieb über die Karten gebeugt, und es schien, als wenn er den tosenden Beifall, der den betäubenden Lärm der Schlacht fast übertönte, garnicht vernehme. In gleichmäßigem Takte, die Zunge im Bann, schritten wir vorüber. Denn die Kaiserliche Garde pflegt ihre Pflicht stumm zu tun! Schnell nährten wir uns dem brennenden Dorfe. Ohne einen Schuß abzugeben, marschierten wir vorwärts, in den infernalischen Hagel von Blei hinein. Das Etagenfeuer, womit wir empfangen wurden, wütete fürchterlich in unsern Reihen und riß gewaltige Lücken in die dichten Sturmkolonnen. Aber unsern Mut konnten die Verluste nicht erschüttern. Die Reihen schlossen sich fester zusammen, und die Plätze der Gefallenen wurden im Augenblick ausgefüllt. Plötzlich schien es, als wenn die Verteidiger Verstärkung erhielten, denn das Feuer nahm an Heftigkeit zu. Man konnte nicht mehr das Knattern der einzelnen Schüsse unterscheiden. Grollendem Donner gleich hallte es herüber, und das Pfeifen und Zischen der Kugeln wuchs zur sinneraubenden Musik an: wir bissen die Zähne zusammen und marschierten weiter. Da schlugen plötzlich von halblinks her Kartätschen in uns ein und rissen ganze Reihen nieder: -- wir senkten den Blick zu Boden und marschierten weiter. Eins nur war jetzt die Losung: Vorwärts! Jedes Halten oder gar Zurückweichen war gleichbedeutend mit Vernichtung. An den weißen Uniformen hinter den Mauern erkannten wir, daß es Österreicher waren. Nun, wir nahmen uns vor, mit ihnen fürchterlich abzurechnen! Noch immer bewegten wir uns beim Schlage der Trommeln im Schritt vorwärts, die Adler voran, wie eine granitne Mauer, ein Wald von Bajonetten. Da ertönten plötzlich die Hornsignale. Wir durcheilten die kurze Entfernung bis zum Dorfe laufend und warfen uns auf die feindlichen Schützen, die im letzten Augenblick das Schießen eingestellt hatten und uns mit erhobenen Gewehren erwarteten. Mit lautem Schlachtruf stießen wir aufeinander; hüben wie drüben herrschte fürchterliche Erbitterung. Die braven Weißjacken mußten natürlich schon in der Entfernung die Uniform der Alten Garde erkannt haben und hatten sich daraufhin auf einen verzweifelten Kampf gefaßt gemacht. So standen sie denn auch wie eine Felswand und wehrten sich wie Rasende. Aber _diesem_ Ansturm war ihre Kraft nicht gewachsen!« Der alte Gardist räusperte sich und hielt einen Augenblick inne. Dann fuhr er mit großem Nachdruck fort: »Junger Kamerad! Ich habe in achtundzwanzig Schlachten gestanden und weiß, mit welcher Erbitterung zuweilen gestritten wird. Noch niemals, außer vielleicht bei Eylau gegen die Preußen, habe ich es aber wieder erlebt, daß mit solcher Wut gefochten wurde, wie wir und die österreichischen Regimenter bei Austerlitz kämpften. Kolben und Bajonett wüteten furchtbar in ihren Reihen, und die weißen Koller färbten sich in kurzer Zeit blutigrot. Sie schienen in den Erdboden gewurzelt, und es genügte nicht, ihnen den Tod zu geben; jeder Erschlagene mußte noch umgeworfen werden, und der Gesichtsausdruck der Toten war ein grimmes Bedauern, daß sie nicht wieder aufstehen und weiterkämpfen konnten. Unterdessen hatte die Schlacht weitergetobt und auf der ganzen Linie hatten unsere Regimenter den Angriff erfolgreich vorwärts getragen. Das alle Kriegskundigen überstrahlende Genie des Kaisers feierte an diesem Tage einen seiner glänzendsten Triumphe! Er wußte, daß er sich auf sich selbst und auf seine Truppen verlassen konnte. Deshalb hatte er den rechten Flügel der Aufstellung nur schwach besetzt. Die Verbündeten trauten einem Napoleon wirklich den Fehler zu, daß er seine Rückzugslinie nicht genügend decken würde. So liefen die Russen wie Mäuse in die Falle und schickten große Massen auf diesen sumpfigen Teil des Schlachtfeldes, bis ihre Regimenter zwischen zwei große Seen und dem wasserreichen Goldbach eingekeilt waren. In diesem Augenblick wurden sie von den Truppen des Herzogs von Auerstädt angegriffen. Kaum hatte der Kaiser die durch den Marschall Davout gefährdete Lage der Russen und Österreicher erkannt, als er die ganze Garde und die Regimenter des Marschalls Soult von der Hochfläche herab in den Rücken des Feindes warf. Von der furchtbaren Blutarbeit, die zu dieser Minute begann, habe ich Dir, junger Kamerad, soeben erzählt. Die feindlichen Truppen entzogen sich zuletzt dem Gemetzel und ergriffen die Flucht. Ein Teil von ihnen geriet in die Sümpfe, der andere gedachte auf der Fläche zwischen den beiden Seen zu entkommen. Hier brachen aber unsere Reiterregimenter in ihre Flanke und hieben schonungslos auf die Fliehenden ein. Wir hatten unterdessen unsere Arbeit getan. Ausruhend standen wir nun auf einem Hügel seitwärts des in rauchenden Trümmern liegenden Dorfes und wischten mit den Fingern das tropfende Blut von den Bajonetten. Da sahen wir, wie einige Tausend Russen über den großen, zugefrorenen See flüchteten. Gerade als sie die Mitte erreicht hatten, ließ der Kaiser durch die Gardeartillerie das Eis einschießen. Unter gewaltigem Krachen barst die Eisdecke des Sees, und mit gellenden Hilferufen versanken Tausende von Flüchtigen mit Pferden, Wagen und Geschützen langsam in der eisigen Flut. Die darauffolgende Nacht wurde bei grimmiger Kälte im Freien zugebracht. Am andern Tage stand die Alte Garde schon frühzeitig auf den Biwakplätzen bereit, den Kaiser zu erwarten, -- die Adler vor den Bataillonen. Eine Stunde verstrich in fieberhafter Ungeduld, denn wir ahnten, daß sich heute für uns Bedeutendes ereignen würde. Keine Blutarbeit wie gestern, aber doch würde es ein großer Tag sein. Endlich sahen wir von der Ferne her den bekannten großen Reiterschwarm langsam auf uns zu reiten. Der Marschall gab das Zeichen zum Präsentieren, und einige Sekunden später nährte sich der Kaiser, von nur wenigen Generalen begleitet, im Galopp unserm Bataillon, während der große Haufen in respektvoller Entfernung zurückblieb. Als der Kaiser vor unserer Mitte angekommen war, hielt er das Pferd an und ließ die Augen eine Weile stumm auf uns ruhen. In diesem Schweigen standen die alten, schlachtenerprobten Soldaten vor ihrem Kaiser. Kein Laut wurde vernommen, aber Tausende von Herzen schlugen hörbar in der Brust, und Männer, von denen die meisten in ebensoviel mörderischen Schlachten, wie Du Milchbart Jahre zählst, dem Tod gleichgültig ins Gesicht gesehen hatten, zitterten in diesem Augenblicke wie Knaben. Da erhob sich der Kaiser, der uns zu dieser Stunde wie ein Gott erschien, in den Bügeln und begann mit weithin schallender Stimme zu sprechen. Er nannte uns die Männer der Pyramiden, Granitkolonnen von Marengo, er erinnerte sich unserer Tapferkeit bei Hohenlinden und sprach sein blindes Vertrauen zu seiner Alten Garde aus, bis er seine zündende Ansprache mit den Worten schloß: Grenadiere der Alten Garde, ich bin zufrieden mit Euch! Darauf ritt er zu dem nächsten Adler, schlang den Arm um den Schaft und küßte den alten Sergeanten, der das Siegeszeichen trug, auf die Wange. Bei diesem Beginnen vergaßen die Truppen die eiserne Disziplin; die Größe des Augenblicks riß alle hin. Tränen entstürzten den Augen der Männer, und der vieltausendstimmige Ruf zerriß das große Schweigen: Es lebe der Kaiser. Mit diesem Jubel können die Huldigungen, die treue Untertanen ihrem Fürsten, Soldaten anderer Nationen ihrem Führer darbringen, nicht verglichen werden; er entlud sich mit elementarer Kraft und einem Donnerton, gleich dem furchtbaren Ausbruch eines Vulkans. Jeder der Soldaten wußte, daß er diesem Manne ganz gehörte und daß er sich willig für ihn in Stücke hauen lassen würde. Denn dieser geheimnisvolle Seelenzwinger galt uns alles: Heimat, Familie, -- Gott! Einen Augenblick noch sah der Kaiser mit Wohlgefallen auf die immer wieder in laute Rufe ausbrechenden Bataillone. Dann wandte er langsam das Pferd und sprengte, von dem Donnerrollen der nicht endenwollenden Huldigungen begleitet, hinüber zu den Vierecken der jungen Garde. Siehst Du, mein junger Freund,« schloß der alte Gardist mit gehobener Stimme, »das ist der Kaiser!« Eine lange Weile verstrich, der Jüngling stand noch immer sprachlos. Das eben Gehörte hatte ihn so mächtig ergriffen, daß er die Herrschaft über seine Gefühle noch nicht wiedererlangt hatte. Endlich riß er sich von den vor seine Seele gezauberten Bildern mit einem gewaltigen Ruck los und rief erregt aus, während sein schlanker Körper bebte: »Pfui, wie ich ihn hasse, Euern Kaiser!« Mit einem lauten Zeichen des Unwillens und großen Erstaunens sah der Gardist offenen Mundes auf den Kameraden. Dann schüttelte er den Kopf und sprach mißbilligend: »Mäßige Dich, Knabe, Du sprichst im Fieber!« »Nein,« rief der Jüngling leidenschaftlich, »nein und abermals nein, ich rede nicht im Fieber, denn meine Gedanken sind klar wie die Eurigen. Aber ich wiederhole es, ich hasse Napoleon!« »Du bist noch ein halbes Kind,« versetzte der Gardist, »und hast das Schürzenband Deiner Mutter zu zeitig losgelassen. Ein anstürmendes Bataillon ist etwas Anderes als ein Schwarm augenklappernder Betschwestern, und der Krieg ist kein lustiger Zeitvertreib für großgewachsene Knaben, sondern ein ernstes Geschäft für Männer. Dem Feldherrn gebührt Ehre und Bewunderung! Schiltst Du Gott, daß er täglich Zwietracht unter die Menschen sät und sie erbittert gegen einander wüten läßt? Das, was einem Geisel dünkt, empfindet der Andere als Wohltat. Der Kaiser kämpft für die Herrlichkeit, für die Größe und für den Ruhm Frankreichs!« »Ihr seid verblendet,« antwortete der Jüngling ruhiger aber mit edelm Feuer. »Was Ihr bei ihm für hohe Ziele haltet, ist nichts weiter als Blutdurst und maßloser Ehrgeiz. O, welch furchtbares Verbrechen ist doch der Krieg! Die härteste Geisel, die über der Menschheit geschwungen werden kann, viel entsetzlicher als verheerende Hungersnot und Pest. Alles was göttlich ist im Menschen wird erstickt, und die bösen Leidenschaften kommen allein zur Entfaltung. Das Land ist verwüstet, zertreten die Frucht der Felder, niedergebrannt die Wohnungen der Bürger und Landbewohner, und in die Brust der Menschen ist herzzerreißender Jammer eingezogen. Die obersten Gesetze der Gottheit werden mit Füßen getreten, und mit ihrer gütigen Langmut treibt man frevelndes Spiel. Und wie segensreich, wie herrlich ist doch der Frieden! Heiter schreitet der Bauer, der Städter zum gedeihlichen Tagewerk. In bunter Pracht liegen die Fluren, die Schätze des Ackerbodens, und die Früchte des Baumes reifen im goldenen Sonnenstrahl. Stillfrohlockend betrachtet der Landmann die sich herabneigenden, körnerreichen Ähren, die wohlgenährten, glänzenden Tiere. Unter fröhlichem Scherzen und Singen rollen die hochaufgetürmten, schwankenden Wagen langsam auf den heimischen Hof, und die Scheunen und Keller vermögen den Segen kaum zu bergen. Und wenn dann nach getanem Tagewerk im Glanze der rötlich untergehenden Sonne der Gatte, der Vater um sich schaut, und die Blicke auf seinem fröhlichen, liebevollem Weib inmitten ihrer blühenden Kinder ruhen, da sieht er in ihren Augen ein wundersames Leuchten. Und während die Mutter in überquellender Liebe und Glückseligkeit die Kleinen an den Busen drückt, hebt in seinem Innern ein geheimnisvolles Jauchzen und Klingen an: -- der Gotteslohn für ein Leben weiser Mäßigung und unverdrossener Arbeit im Schutze des Friedens!« Der alte Gardist hatte den warmen Worten des Jünglings mit Andacht gelauscht. Als dieser geendet, sah er zu Boden und sprach mit einem Anflug von Weichheit: »Du hast die empfindsamste Saite in meinem Herzen berührt, Knabe. Denn wisse, auch ich habe ein liebes Weib und zwei herzige Kinder zu Hause. Sie sind mein Stolz und meine Freude und sollen mir einstmals Licht und Trost sein, wenn der Schnee des Alters meine Schläfen bedeckt und ich ihnen von dem großen Kaiser und unsern Ruhmestaten getreulich berichten werde. Das Bild des Friedens aber, das Du mir in gleißenden Farbentönen gemalt hast, ist so berückend schön, daß ich die Augen schließen muß, um es nicht mehr zu sehen, -- -- es möchte mir die Freude am Kriege vergällen! Das eine aber sage mir, Du wunderlicher Tropf: wie kommst Du in die Gemeinschaft des rauhen Kriegsmannes, wenn der Krieg Dir ein Greuel ist?« Der Jüngling sah bei dieser Frage hinauf zum Nachthimmel, wo kleine dunkle Wolkenfetzen noch immer über den Mond hinwegjagten, und er seufzte tief auf. Mit einem Klange voll Schmerz vermischt mit Wehmut sprach er: »Ja, darüber bin ich Euch nach meinen voraufgegangenen Worten Rechenschaft schuldig, und Ihr sollt sie mit wenigen Sätzen haben. Meine Heimat ist Baden. In einem tief eingeschnittenen Tale, dessen Hänge mit düsteren Tannen bewachsen sind, von der Kinzig durchbraust, weilt mein Liebstes auf Erden. Die Eltern sind mir frühzeitig gestorben. Dafür hat mir des Allmächtigen Güte ein anderes treues Herz geschenkt: ein seelenvolles Mädchen, das ich meine Braut nenne. Sie bewohnt zusammen mit ihrer Mutter ein kleines Häuschen, und die beiden Frauen ernähren sich rechtschaffen mit dem Flechten von Stroh. Erst im vorigen Jahre starb der Vater; er war Holzfäller und wurde von einem stürzenden Baume erschlagen. Unsern Herzen viel zu früh ist er dahingegangen, leider aber auch zu früh für die äußern Lebensbedingungen der Frauen, denn auf dem Häuschen lag noch eine Schuld von achtzig Talern, auf deren Rückzahlung der herzlose Gläubiger mit drohenden Worten drängte. Anstelle des friedlichen Gleichmaßes der Tage von früher, herrschte schwere Sorge in dem kleinen Hause, denn man sah voraus, daß der Unhold die Frauen aus ihrem lieben Besitz treiben würde. Die Mutter hätte das nicht überlebt! Ich selbst war arm und verdiente mit meiner Hände Arbeit nur das Notdürftigste. Helle Verzweiflung hatte sich meiner bemächtigt; da sandte Gott Hilfe. Der Lärm der Kriegstrommel hallte bis in unser stilles Tal. Dreihundert Franken zahlt der Franzosenkaiser jedem Freiwilligen, war in dem Aufruf zu lesen, der an der Tür des Gemeindehauses angeschlagen war. Im Nu war mein Plan gefaßt. So hoch war gerade die Summe, die der böse Gläubiger erhalten mußte. Die beiden Frauen weinten heftig und beschworen mich, von diesem Gedanken abzustehen, aber ich blieb fest. Ich ließ mich anwerben, und das Häuschen gehörte ihnen. Heimlich bei Nacht und Nebel verließ ich das Dorf, um ihnen den Abschied nicht allzuschwer zu machen. Vor wenigen Tagen erhielt ich die ersten Zeilen der Geliebten woraus ihr gutes und treues Herz zu mir spricht. Seht, so bin ich hierher gekommen. Ich verabscheue den Krieg, aber ich durfte ihn nicht meiden. Gott wollte es so!« Während der letzten Worte des Jünglings hatte sich auf dem schmalen Wege, der zum Turm führte, den Schildwachen ein Mann genähert, der ganz plötzlich aus dem Dunkel der Nacht aufgetaucht war. Jetzt stand er vor ihnen. »Die Wagen sollen beladen werden. Wenn die Wolken den Mond etwas frei lassen, fahren wir ab.« »Wer seid Ihr,« fragte der Gardist, den Mann mit argwöhnischen Augen betrachtend. »Kennt Ihr mich denn nicht?« antwortete dieser, »ich bin ja einer der Fuhrleute. Dort der Kräutlein ist mein Vater.« »Der Kräutlein?« versetzte der Gardist erstaunt. »Ich kenne doch den Kräutlein schon länger als zehn Jahre, aber nie habe ich gehört, daß er einen Sohn besitze.« »Laurentius Kräutlein aus Niederstopfenheim im Bayrischen ist wahrhaftig mein Vater,« wiederholte der Sprecher. Und wie er sah, daß der Gardist ihn noch immer ungläubig betrachtete, fügte er mit angstgepreßter Stimme hinzu: »Das schwöre ich Euch, so wahr ich selig werden will und bei dem Andenken an meine -- unglückliche Mutter!« »Es ist gut,« sagte der Gardist, »tut was Euers Amtes ist.« Bei diesen Worten streifte er den Lederriemen ab, an dem der Schlüssel um seinen Hals hing und übergab ihn dem Fremden. Dieser ergriff hastig den schweren Schlüssel, drehte ihn im Schloß um, öffnete die Tür ein Stück und tat einen Schritt vorwärts. In diesem Augenblick senkte der Gardist das Bajonett und forderte die Parole. Keiner der beiden Soldaten ahnte, was für einen unbeschreiblichen Sturm diese Aufforderung in der Seele des Burschen blitzschnell entfesselt hatte. Er verstand nicht, was die Schildwache von ihm verlangte, seine Klugheit gebot ihm aber, nicht darnach zu fragen, denn mit solchem Wort mußte er sich sofort verraten. Als Spion würde man ihn packen und am nächsten Morgen vor der erstbesten Gartenmauer niederknallen, -- das wußte er. Aber, wennschon, das war ja nicht das Schlimmste. Doch sein Plan, sein wunderschöner Plan, den er bisher so vortrefflich hatte ausführen können; sollte er in der letzten Sekunde, einen Schritt vom Ziel entfernt, noch scheitern? Das Blut staute in seinem Hirn, und sein Schädel drohte zu zerspringen. Da huschte eine Erinnerung an seiner Seele vorüber: als vorhin in der Dunkelheit Schritte ertönten, hatte da die Schildwache an der Straße nicht dasselbe gefragt? Parole? Ja, beim Himmel, so hatte es geklungen! Und was hatte der Unbekannte darauf geantwortet? Ein neuer, siedendheißer Strom schoß ihm zu Kopfe, und vor seinen Augen begann es zu flimmern. Dieser ganze Vorgang hatte sich in dem Hirn des Burschen so blitzschnell abgespielt, daß die Schildwachen noch keine Veranlassung hatten, Verdacht zu schöpfen. Jetzt stieß der Zögernde die schwere Bohlentür heftig auf, sagte mit heiserer Stimme »Jena!« und stolperte, als das Gewehr des Gardisten den Eingang freigab, in die schwarze, gähnende Finsternis hinein. Der junge Soldat war durch das Erscheinen des Fremden aus seinen lieben Erinnerungen herausgerissen worden. Jetzt versenkte er sich von neuem darein. »Gebe Gott,« seufzte er, »daß der Krieg recht bald endige, mein Lieb daheim bekommt vor Angst und Gram blasse Wangen.« »Mein junger Freund,« versetzte der Gardist mahnend, »wie aber dann, wenn Ihr nicht wieder heimkommt? Im Kriege ist einem ein plötzlicher Tod ja weit näher als in Friedenszeiten.« Der Jüngling fuhr verstört auf und blickte den alten Soldaten mit angstvollen Augen an: »Geht,« stieß er hervor, »seid nicht so grausam. Ihr habt mir da einen schönen Schreck eingejagt. Nein, wie könnte ich denn sterben? Ich will ja noch Hochzeit feiern und glücklich sein. Ihr dürft nicht so garstig sprechen!« »Nun, nun,« beschwichtigte jener gutmütig, dem die Unruhe des Jünglings nicht entgangen war, »freilich sollt ihr noch lange leben. Ich will es doch auch, denn ich muß ja noch meinen Enkeln von den Taten des großen Kaisers künden.« Über den Köpfen der beiden Schildwachen hatte in diesem Augenblick ein gespenstisches Rauschen und Flattern begonnen. Allerlei Nachtgevögel war durch eine unbekannte Ursache aufgeschreckt worden. Die Tiere hatten ihre Löcher im Mauerwerk verlassen und flogen mit hastigen Flügelschlägen am Turm auf und nieder. Nur ein Käuzchen saß noch in seinem Spalt und rief durchdringend zweimal rasch nacheinander: Kommit, Kommit! Der alte Gardist hob den Kopf, um nach dem Mahner zu sehen und sagte mit belegter Stimme: »Das ist der Totenvogel!« Da konnte der Jüngling aber seine Erregung nicht mehr meistern. Er griff hastig in die Tasche seines Uniformrocks und brachte ein zerknittertes Blatt Papier hervor. Mühsam las er dann im Mondenlicht mit lauter Stimme: »-- -- -- ich flehe allabendlich die heilige Jungfrau für Dich an. Mein Gebet dringt bis zu den Stufen des Allerhöchsten. Er wird Dich beschützen. Glaube mir das, Geliebter meines Herzens -- -- --!« »Hört Ihr,« jubelte der Jüngling, »ich werde wohlbehalten zu ihr zurückkehren -- --« In diesem Augenblick trat ein Ereignis ein, durch das die Menschen weit in der Runde erschreckt wurden: an der östlichen Seite des Schlosses sprühten Myriaden von Funken hochauf, und aus Nebel und undurchdringlichem Rauch stieg eine riesengroße Feuergarbe kerzengleich zum Himmel empor, begleitet von einem gräßlichen Donnerschlage. Der Boden erzitterte wie bei einem Erdbeben, und Steine und Erdschollen wurden mit solcher Kraft in die Höhe geworfen, als wenn der weite Himmelsbogen gesprengt werden solle. Unter gewaltigem Getöse fielen die aufgewirbelten Steinmassen wieder zu Boden. Dann war es totenstill wie zuvor. Nur ein Regen von Staub und Asche rieselte langsam auf die Erde herab, und die Luft erfüllte starker Schwefelgeruch. Unten aber, am Fuße der Bodensenkung, wo die Schar der Fuhrleute schlief, wurde es lebendig. Laute Rufe erschollen. Sie rissen die brennenden Scheite aus dem Feuer, eilten die Anhöhe hinan und beleuchteten den Platz. Aber sie fanden sich nicht zurecht, es war alles ganz anders als vor ihrem Schlafe. Der dicke, steinerne Turm, der ihr Pulver barg, war verschwunden, der Fuhrmann, der hier oben die Wache gehalten hatte, das Feuer, die Wagen, die beiden Schildwachen, -- -- alles war verschwunden. Die hohen Bäume, die in der Nähe gestanden hatten, waren dicht über dem Erdboden abgeknickt und weit fortgeführt. Nur hier und da lag ein weißer Sandsteinquader aus dem Gefüge des Turmes. Sonst war nichts zu sehen. Es war, als wenn ein Gigant aufgestanden wäre, der mit einem eisernen Besen alles hinweggefegt hätte. 23. Kapitel. Der Sonntagmorgen brach an. Schon zu früher Stunde eilten die Dorfbewohner ins Freie und betrachteten mit Neugierde und Grausen das Bild der Verwüstung. Der letzte der beiden Schloßtürme war von seinem Platze verschwunden. Alle Steine, die ihn gebildet, lagen weit verstreut auf der Erde, und selbst die tiefen Grundmauern hatte die zerstörende Kraft des Pulvers zerrissen. Der anstoßende Flügel des Schlosses war in sich zusammengestürzt, und die Mauern des weiter nach dem Mittelbau zu gelegenen Teils durchzogen vom Dach bis zum Boden herab breite Risse. Seit jener Nacht, in der der westliche Turm einstürzte und Oskar von Tiefenbach mit seinem Bruder Egbert das Schloß verlassen hatte, um den Freihof zu beziehen, war dieser Flügel des Schlosses allmählich zerfallen. Nun lag auch das letzte Wahrzeichen des alten Baues in Trümmern, und nur ein kleiner Teil war noch bewohnbar. Aber soweit bekannt, waren Leute aus dem Dorfe der verheerenden Explosion nicht zum Opfer gefallen, und in die ehrfürchtige Scheu vor der furchtbaren Gewalt der Elemente mischte sich innerliches Frohlocken. Was tat es, daß der steinerne Riese nicht mehr war! Allzulange hätte er der zerstörenden Zeit doch nicht mehr standhalten können, nachdem an vielen Stellen der Mauerfraß den Turm schon sehr geschwächt hatte. So war er denn von seinem Platze gewichen wie ein heldenmütiger Krieger, der in der Schlacht fällt. Die dritthalbhundert Zentner Pulver und Geschosse, die in seinem weiten Bauche aufgespeichert waren, hatten sich mit einem einzigen Schlage entzündet, anstatt in mörderischer Feldschlacht hundertfachen Tod in die Reihen der deutschen Kämpfer zu tragen. -- Gottlob! Auf welche Weise die Entzündung erfolgt sein mochte, wußte niemand. Die französischen Schildwachen hatten mit einer dichten Postenkette rund um das Schloß scharf Wache gehalten, so daß es wohl keinem gelungen sein konnte, sich zwischen ihnen hindurchzuschleichen. Außerdem hatte vor der Tür des Turmes ja noch ein Doppelposten gestanden, wodurch es unmöglich gewesen war, zu dem Pulver zu gelangen. Man glaubte deshalb an eine Selbstentzündung der Sprengstoffe aus unbekannten Gründen. Noch in der Nacht hatten sich die Fuhrleute auf die Pferde geschwungen und waren, von den französischen Soldaten begleitet, zum Dorf hinausgeritten, auf Leipzig zu. Vermutlich hatten sie geglaubt, der weithin vernehmbare Donnerschlag der Explosion könne feindliche Truppen herbeiziehen, die ja zufolge Nachrichten der Landleute in geringer Entfernung vom Dorfe stehen sollten. Lange konnten die Rehefelder aber nicht an der Trümmerstätte verweilen. Heute war ja der letzte Tag, an dem sich die kühnen Männer noch im Kreise ihrer Lieben befanden, morgen mit Tagesgrauen wollten sie das Dorf verlassen. Deshalb sollte heute Vormittag, nachdem die Tiefenbachs sich vor dem Altar Treue fürs Leben gelobt hatten, die Einsegnung der Davonziehenden stattfinden. * * * * * Max hatte mit beklommenem Mute sein Hochzeitsgewand angetan. Nur wenige Stunden sollte es ihm vergönnt sein, sein junges Weib an seiner Seite zu wissen, dann riß ihn das Schicksal von ihr fort, -- hinein in den opfervollen Kampf. Würde er sie wiedersehen? War es recht von ihm, wenn er schon am Morgen nach dem Hochzeitstage sein Weib verließ? Hatte er richtig gehandelt, als er sich Konrad mit Leib und Seele verband, als er den Plan faßte, wider den alten Feind mit zu Felde zu ziehen? Gab es nicht eine große Anzahl anderer Männer im Lande, die niemand zurückließen, dem ihr Scheiden großen Schmerz bereitete? Mußte es denn wirklich sein, daß er sein eben angetrautes Weib allein ließ, um für die Freiheit der deutschen Stämme zu streiten? Solche Anfechtungen überkamen den Mann zu dieser Stunde und bedrückten ihn schwer. Kein tröstender Gedanke, wie er sich auch nach ihn abmühte, wollte ihm als Retter in schwerer Not erstehen, und in seiner Niedergeschlagenheit mutete es ihn an wie ein Rätsel, wenn er daran dachte, daß ihn bisher diese Bedenken nicht heimgesucht hatten. Noch bis gestern war er bei dem Gedanken an den Ausmarsch freudig erregt gewesen, aber heute, an seinem Hochzeitstage, war es ihm doch wunderlich ums Herz. Da erinnerte er sich plötzlich der Worte der Geliebten, die sie in jener Stunde gesprochen, als er ihr seine Absicht, mit auszuziehen, kundgetan: ich hätte Dich nicht verstanden, wenn Du hier geblieben wärst! Jetzt wich die Verzagtheit von ihm, und sein bänglicher Mut richtete sich auf. Das freudige Gefühl, das ihn in den letzten Wochen nicht verlassen hatte, beseelte ihn aufs neue. Ein warmer Strahl brach aus seinem Auge, als er die Worte Marias leise vor sich hin sprach, und Stolz schwellte seine Brust bei dem Gedanken an sein hochherziges, tapferes Mädchen. Rasch und ungeduldig beendete er seinen Anzug und schlug mit hastigen Schritten den Weg nach dem Schlosse ein. Ihre Hochzeit sollte ohne laute Feier stattfinden, denn der Ernst des Tages ließ keine sprudelnde Fröhlichkeit aufkommen. Als Max das Schloß betreten hatte, wurde er von Marias Tante empfangen, die ihn davon benachrichtigte, daß ihn die Braut schon erwarte. Schnell begab sich Max nach der Geliebten Zimmer. Schon streckte er die Hand aus, die Tür zu öffnen, da hörte er Maria drinnen mit ihrer herrlichen Altstimme dieselbe schwermütige Weise anstimmen, die die Mädchen im Dorfe in diesen Tagen so oft sangen: Eng im Glanz des Mondenschein Hielt die Liebste er umschlungen, Leis zu ihren Schelmerein Hat Frau Nachtigall gesungen. Stehe still, o Wonnezeit, Holde Zeit der Lust und Freude! Doch wie schnell weicht Seligkeit, Kehrt sich Lust zu bitter’m Leide. Starr im Glanz des Mondenschein Ruht er auf dem Feld der Ehre, Leis vom Aug’ des Mägdelein Löst sich eine blut’ge Zähre. Max überkam bei dem Klange dieses Liedes eine Anwandlung unendlicher Wehmut. Er glaubte aus den Tönen den Trennungsschmerz herauszuhören, den Maria fühlte. Leise öffnete er die Tür, -- da stockte sein Fuß auf der Schwelle, denn das liebliche Bild, das sich ihm bot, hielt ihn im Bann. In dem geräumigen Erkerzimmer mit den schweren, eichenen Möbeln aus einer längst vergangenen Zeit, stand Maria an eine den Erker tragende, geschnitzte Säule gelehnt, nahe beim Fenster im bräutlichen Schmuck. Sie trug ein schlichtes, weißes Wollenkleid, das sich weich anschmiegte und das herrliche Ebenmaß ihres jungfräulichen Körpers ahnen ließ. Von der rechten Schulter wand sich nach der Mitte der Brust eine frische Ranke von Myrthenblüten, und die glänzenden, braunen Zöpfe, die, wie Maria es liebte, rund auf dem Scheitel aufgesteckt waren, trugen eine zierlich geflochtene Myrthenkrone. Mit dem Arm hatte sie leicht die Säule umschlungen, während ihre Augen sinnend hinaus in die Weite gerichtet waren. Das feingeschnittene Profil und die edle Linie des Halses, den das Kleid freiließ, zeichneten sich von dem lichtvollen Hintergrunde rein ab. Ein goldener Morgenstrahl der Oktobersonne drang durch die Butzenscheiben im oberen Teile des breiten Fensters und küßte ihren braunen Scheitel. Von der Erscheinung der zu herrlichster Pracht sich erschließenden Mädchenblüte ging eine reine Harmonie aus, und das Gesicht der Jungfrau verkündete schmerzliche Innigkeit, die nach Seelenstärke begehrte. Max stand lautlos und hielt den Blick unverrückt auf Maria gerichtet, um die Erinnerung an dieses wunderbare Bild seinem Herzen tief einzuprägen. Mehrere Sekunden blieben seine Augen an der Erscheinung hängen, -- da wandte Maria sich von ungefähr um und machte dabei eine leichte Bewegung des Erschreckens, als sie die männliche Gestalt auf der Schwelle gewahrte. Im nächsten Augenblick aber und noch bevor Max seine Erstarrung abschütteln konnte, flog Maria auf ihn zu und schlang leidenschaftlich die Arme um seinen Hals. »Geliebter,« sagte sie mit fliegendem Atem, »ach, wie froh ich bin, daß Du endlich bei mir bist. Ich habe mich um Deinetwillen so sehr geängstigt!« Und das klopfende Herz, das Max an dem seinen fühlte, bestätigte ihm die Wahrheit ihrer Worte. Max trat in das Zimmer, küßte seine Braut zärtlich und sprach: »Hat der Schmerz des Abschieds mein Lieb schon sobald heimgesucht? Sei mein tapferes Mädchen wie immer und vertraue dem gütigen Geschick, daß es uns ein Wiedersehen feiern lassen wird.« »Wiedersehen? Ach! Wo werden wir uns wiedersehen?« sprach Maria leise und gedankenvoll, den Blick zu Boden geschlagen. »Aber Du irrst, Geliebter,« fuhr sie alsbald lebhafter fort, »der Schmerz der Trennung ist es nicht gewesen, der mir so viel Schrecken eingeflößt hat, sondern ein böser Traum, der mich am frühen Morgen heimsuchte.« Mit diesen Worten waren sie zum Erker geschritten und ließen sich nun, die Arme einander um die Schultern gelegt, auf der Ruhbank am Fenster nieder. »Gegen Mitternacht,« begann Maria, »vernahm ich plötzlich im Schlafe eine ungeheure Erschütterung, gleich dem Krachen eines Kanonenschusses, der in kurzer Entfernung von mir abgefeuert wurde. Die Fenster klirrten, und es war einen Augenblick, als ob die schwankenden Wände über mir zusammenstürzen wollten. Da trat nach einer bangen Viertelstunde die Tante ins Zimmer und erzählte, daß der Schloßturm, in dem das französische Pulver lagerte, in die Luft geflogen sei. Heute morgen habe ich versucht, den Ostflügel zu betreten. Aber man kann nicht weit darin vordringen, denn die Gänge sind verschüttet und die Mauern eingestürzt. Viel Schaden ist damit nicht angerichtet; der Flügel war ja schon wegen seiner Baufälligkeit seit langem nicht mehr bewohnt und geräumt. Daß der alte, verwitterte Geselle ein solches Ende finden mußte! Gerade er, glaubte ich, würde am längsten trotzen. Lange mußte ich über den rasch fortschreitenden Verfall des Schlosses unserer Väter nachdenken, bis ich endlich wieder den Schlummer fand. Da fuhr ich mit einem Male von neuem auf. Diesmal aber war ein schrecklicher Traum die Ursache.« »Träume sind leichte Gesellen,« tröstete Max. »Unstät und ohne Skrupel um die Wahrheit dessen, was sie künden, führen sie ein wahrhaftes Zigeunerleben. Bald bei diesem, schnell wieder bei jenem, statten sie den Menschen ihre schattenhaften Besuche ab, wispern dem Unglücklichen berauschende Worte ins Ohr, die ihm märchenhaftes Glück prophezeien, oder gaukeln ihm die lieblichsten Bilder vor die Seele, während sie den, dem ein froheres Erdenlos zuteil ward, mit bösen Vorstellungen schrecken und seinem fröhlichen Sinn die Quelle abgraben. Erwacht dann jener vom Schlummer, so bemerkt er mißmutig, daß ein schöner Traum ihn geäfft, der sein Elend mit einem goldenen Mäntelchen umkleidet hatte, und schlägt dieser die Augen zum Morgenlicht auf, so beschleicht ihn blasse Furcht, und der Schwache überträgt die Schrecknisse seiner Phantasie nur allzuwillig auf das Leben des Alltags. Träume sind Seifenblasen, mein Lieb! Ihre Oberfläche ist schillernd und versprechend, im Innern aber sind sie hohl. Und will man sie schärfer ins Auge fassen, zerspringen sie, und nichts bleibt mehr übrig von ihnen als der winzige Tropfen, der herabfällt, und den der durstige Sand begierig aufsaugt.« »Mein Bräutigam,« versetzte Maria mit leise wieder aufkommender Fassung. »Du Lieber, Guter, wie vortrefflich Du Dich doch aufs Trösten verstehst! Sieh, wenn Du bei mir bist, ist mir nie bange. Wenn Du aber fern von mir weilst, dann schleichen leicht trübe Ahnungen mir in die Seele, und meine Phantasie nimmt geschäftig die Fäden auf und spinnt sie ineinander. Und der bunte Teppich, den sie also gewoben, zeigt zuweilen gar kein freundliches Bild.« Maria hielt im Sprechen inne, und eine Glutwelle färbte ihr Gesicht purpurn, als sie mit stockender Stimme leise bat: »Max, -- küsse mich!« Bewegt beugte sich Max nieder und drückte in ehrfurchtsvoller Scheu die Lippen auf Marias reine Stirn. Mit unendlicher Zärtlichkeit schlang das Mädchen seinen Arm um den Hals des geliebten Mannes und legte die Stirn an seine Wange. »Ach, Max,« fuhr sie fort, »der böse Traum hat mich aber auch allzusehr erschreckt. -- Ich sah Dich in schwerer Gefahr. Du saßest in schwankendem Boot und strengtest alle Deine Kräfte aufs äußerste an, das Ufer des Sees zu erreichen. Aber der Sturm tobte mit unbeschreiblicher Heftigkeit, und die Wellen gingen so hoch, daß das tanzende Schifflein oft meinen Augen entschwand. Ich stand am Rande des Ufers und schrie in meiner Seelenangst laut auf und rang in Verzweiflung die Hände, denn ich sah, wie die Kraft der entfesselten Elemente Deiner übermenschlichen Anstrengungen spottete. Der Raum zwischen Dir und mir ward immer größer, und die Wellenberge, die mich von Dir schieden, türmten sich immer höher auf. Da machte ich im Schlafe eine heftige Bewegung und erwachte, in Schweiß gebadet. Rosiges Morgenlicht erfüllte das Zimmer und rief mir zu, daß ich ja nur geträumt habe. Aber meine Sinne waren noch lange im Banne der nächtlichen Erscheinung. Und als ich dann die brennende Stirn mit frischem Wasser kühlte und dabei wie von selbst die Augen schloß, -- gleich war er wieder da, der schlimme Spuk und erschreckte meine Seele aufs neue. Ach Max,« bat das Mädchen flehend, -- »küsse mich wieder!« Max war von Marias qualvoller Angst gerührt. Mit überschäumender Herzlichkeit küßte er sie und preßte ihren Kopf zärtlich an seine Brust und sprach ihr begütigende Trostworte zu. »Du lieber Mann, Beherrscher meiner Seele, wie lieb ich Dich doch habe!« sagte Maria, sich eng an ihn schmiegend. »Aber nicht wahr,« fügte sie rasch hinzu, indem sie ihm mit Innigkeit und neu erwachter Stärke in die Augen sah, »wie es auch kommen mag, Geliebter meines Herzens, laß uns in unerschütterlichem Vertrauen auf Gott bauen!« »Ja, wir wollen unsere Zukunft in seine Hände legen,« antwortete Max und erhob sich. »Aber jetzt komm mein Lieb, reiße Dich heraus aus den ängstigenden Vorstellungen, die Deine Seele bedrücken. Laß uns miteinander fröhlich sein, den heute ist ja unser Hochzeitstag! Und nun gehen wir zur Kirche, auf daß der Himmel um seinen Segen für unsern Bund angefleht werde.« »Ach, Du tust recht daran, Geliebter,« antwortete Maria, »mir diesen schönen Gedanken in die Seele zurückzurufen. Ja, heute ist mein Hochzeitstag,« sagte sie leise wie im Selbstgespräch, während ihr Blick wieder durch das Fenster in das weite Land hinein schweifte und sich träumerisch verlor. Das Mädchen vergaß den Ort und ihre Umgebung für einen Augenblick. Ihre Lippen lispelten leise Worte, und auf dem Gesicht spielte ein sonniges Leuchten. Da verschwand plötzlich der Zug des Glückes von ihrem Antlitz, und der verstörte Ausdruck geheimer Angst trat wieder an seine Stelle. Mit einem leidenschaftlichen Aufschrei warf Maria wie bei Maxens Eintreten die Arme um seinen Hals und flehte zitternd wie ein Kind und mit bebender Stimme: »Trübe Ahnungen beschleichen mir die Brust; Max, -- -- küß mich noch einmal!« Da kam dem starken Mann doch eine tiefere Rührung an, als sich in bewegten Augenblicken sonst bei ihm einzustellen pflegte. Mit zitternden Händen griff er nach dem Mädchen, drückte die heftige Schauernde an sich und bedeckte Stirn, Augen und Mund mit ungezählten Küssen. * * * * * Wenn in späteren Jahren die um die Zeit unserer Erzählung jungen Männer als Greise von der Einsegnung der dreizehn Freiwilligen erzählten, dann unterließen sie nie, hinzuzufügen: keiner aus dem Dorfe fehlte; der schwerkranke Sägemüller ließ sich von seinen zwei mitausmarschierenden Söhnen im Bett in die Kirche tragen, und drei Tage darauf starb er. Das Gotteshaus war mit Andächtigen dicht gefüllt. In allen Gängen, rund um den Altar und in den offenen Türen und Fenstern standen oder saßen sie. Die Mütter hielten die Kleinsten auf dem Arm, und alle verharrten in andächtigem Schweigen. Eine hohe Feststimmung hatte sich auf die einfachen Menschen herabgesenkt, von denen jeder einzelne stolz auf die Männer schaute, die in einer Reihe dicht vor den Stufen des Altars Platz genommen hatten. Feierlich begann die Glocke auf dem Turm des Kirchleins zu läuten, und die Worte, die der metallne Mund rief, hielten bedeutungsvolle Zwiesprache mit der Stimme im Busen eines jeden der Andächtigen. Leise setzte zu einem feierlichen Präludium die Orgel ein, bis endlich die herrliche Melodie des Hauptliedes des heutigen Gottesdienstes durch die Kirche brauste. Ein paar gedrängte Augenblicke, und dann fielen die Stimmen ein. Alle Kümmernis, die diese Menschen bedrückte, und alle Bitten nach Tröstung und göttlicher Hilfe ergossen sich aus ihren Herzen in die Worte des Psalms: Alles was Odem hat, lobe den Herrn! Da erschien Pastor Reinerz am Altar. Er hatte eine schwere Krankheit hinter sich und übte heute zum ersten Male wieder sein Amt aus. Mühsam waren seine Schritte, mit denen er die Stufen hinaufging. Als er aber wieder an seinem lieben Platze stand, den er vor vierzig Jahren das erste Mal betreten hatte, als er die Melodie seines Lieblingschorales vernahm, und als er um sich schaute und die dichtgedrängte Menge gewahrte, da wurde ihm, ach, so warm ums Herz. Seine Augen blitzten vor Freude, und die bleichen Wangen und seine Stirn überzog eine feine Röte. Nachdem das Lied zu Ende gesungen war, traten Max und Maria zum Altar. Hochaufgerichtet stand hinter ihnen die Freihoferin und neben ihr Marias Tante. Als Trauzeugen dienten die Base Marias und Konrad Hartmann. Auf dem lieblichen Antlitz der Braut lagen Demut und Ergebung. Und als Pastor Reinerz von ihr zu wissen verlangte, ob sie gewillt sei, ihren Vetter Max von Tiefenbach zu ehelichen und fürderhin Freud und Leid mit ihm zu teilen, da klang aus ihrem Munde ein freudiges Ja. Aller Augen hingen an der holden Erscheinung, und schon jetzt wurde mancher Blick feucht beim Anblick der Braut eines morgen ausziehenden Kriegers, und mancher Mund flüsterte: Du armes, armes Weib! Als die Trauungszeremonie beendet war, sprach Pastor Reinerz vom Altar aus die Predigt. Wenn einem aus der Gemeinde etwas das Herz bedrückte, dann wußte er, daß er in der Sonntagspredigt Trost und Erbauung erhalten würde. Pastor Reinerz war kein glänzender Kanzelredner. Seine Worte flossen ihm nicht von den Lippen, sondern rangen sich zuweilen mühsam von seinem Munde. Aber er sprach eindrucksvoll und öffnete mit seinen Worten den innersten Schrein der Menschen und übte eine tiefe Wirkung aus. Seine Art zu sprechen war überraschend einfach, und gerade deshalb klang die Predigt im Innern der Zuhörer noch lange nach. Heute hatte er einen Stoff, den er meisterhaft zu behandeln verstand. Er sprach von der schweren Prüfung, die dem Lande noch immer auferlegt sei, von dem gewaltigen Ringen der Völker um Freiheit und Heimaterde und führte die atemlos Lauschenden allmählich bis zu den Geschehnissen der jüngsten Tage. Ein Sturm der Begeisterung fege durch das Land, man erwache aus einem verhängnisvollen Schlummer, und überall schicke man sich in letzter Stunde an, das Versäumte gutzumachen. Auch hier in der Gemeinde seien mutige Männer aufgestanden, die in diesen großen Tagen nicht müßig bleiben wollten. Bei diesen Worten lief eine leise Bewegung durch die dichtgedrängten Zuhörer, den man fühlte, daß jetzt der Höhepunkt der Feier nahe. Mit einem kurzen Gebet, in dem er die Geschicke des Landes und des sächsischen Volkes der Gnade des Allbarmherzigen empfahl, schloß Pastor Reinerz seine Predigt. Dann erhoben sich die Dreizehn, traten enganeinandergeschart zum Altar und knieten auf den Stufen nieder, um den Segen zu empfangen. Ein heißer Strahl ergoß sich in die Brust eines jeden der Versammelten, und man drängte sich und hob die Köpfe, um die Knieenden nicht aus den Augen zu verlieren. Es war ein erhebender Augenblick! Mancher verbarg seine Rührung, in Vieler Augen aber glänzten Tränen. Sie gingen ja, um für das Vaterland zu streiten, das war das Tröstende, aber -- sie gingen! Keiner verspürte das Verlangen, sie zurückzuhalten, aber weinen mußte man sie lassen. War doch manche alte Mutter, manches junge Weib, manches zarte Kind unter den Versammelten, die verlassen wurden! Markig, doch aus tiefer Bewegung heraus, klangen die Worte des Geistlichen, und das Ergriffensein ihres verehrten Pfarrers teilte sich der Gemeinde mit; die Weiber schluchzten und die Kinder weinten. Die Erschütterung wuchs, und reichliche Tränen flossen, als er die Männer segnete. Wie darauf Pastor Reinerz aber davon sprach, daß die vaterlosen Kindlein Gott am nächsten stünden, da brach plötzlich die bebende Stimme des Greises, und der Jammer übermannte die Versammelten, und das Schluchzen wurde so stark, daß der Geistliche wohl minutenlang nicht weitersprechen konnte. Zugleich mit dem Schmerz erfüllten aber heiliger Zorn und Empörung gegen die Bedrücker Aller Brust, und aus den Seelen der Hartgeprüften rang sich zum Himmel empor der flehentliche Schrei: »_Herr, mach’ uns frei!_« Dann erklang die Orgel von neuem, und die Gemeinde stimmte mit Inbrunst das Lied an: »Befiehl Du Deine Wege, und was dein Herz nur kränkt, der der allertreusten Pflege des, der den Weltkreis lenkt --« Hierauf leerte sich langsam das Gotteshaus. 24. Kapitel. Die Männer hatten sich zu einer letzten Besprechung nach dem Gottesdienst in die Schenke verabredet, da der übrige Teil des Tages den Angehörigen gewidmet sein sollte. Max hatte die Seinen nach dem Freihofe zurückbegleitet und fand, als er nach kurzer Zeit in die Wirtsstube trat, alle schon versammelt. Das halbe Dorf war auf den Beinen und umlagerte den Gasthof, und die Neugierigsten unter der Jugend umdrängten die Fenster und versuchten zu erfahren, was drinnen beschlossen wurde. Auch lief das Gerücht herum, daß eine französische Patrouille von fünf Reitern außerhalb des Dorfes gesehen worden sei und den Schauplatz der Verwüstung besichtigt hätte. Sodann seien die Reiter beim Schwedenloch abgesessen und hätten dort auch ihre Pferde gefüttert. Die Zaghaften unter den Einwohnern aber sagten, Pferde in der Nähe des Schwedenloches wären keine gute Vorbedeutung, und die den Lebenden von Mund zu Mund überlieferte Erzählung des Ursprungs dieser Stätte wurde wieder aufgewärmt. Mit dem Schwedenloch verhielt es sich nun folgendermaßen. Vor etwa zweihundert Jahren war, vom Erzgebirge her kommend, ein unbekannter Mann im Dorfe erschienen. Der Fremde behauptete, er sei ein großer Bergverständiger und habe schon manchem dadurch zu Reichtum verholfen, daß er auf seinem Besitz eine schwere Silberader entdeckte. Die Gegend um Rehefeld erscheine ihm versprechend, und er werde versuchen, hier nach Silber zu graben. Darüber lachten die Bauern, weil sie dachten, der Fremde sei ein Spaßmacher. Aber dieser verfügte über eine gute Zunge, und als er zu ihnen von dem Reichtum sprach, den selbst ein kleiner Silberbergbau abwerfe und mit lebendigen Worten die freudige Überraschung zu schildern verstand, die in andern Gegenden die hartnäckigsten Zweifler angesichts der reichen Ausbeute der von ihm gegrabenen Schächte nach kurzer Zeit überkommen sei, da wurden die Bauern nachdenklich. Das Lachen verschwand von ihren Gesichtern, und sie kraulten sich bedächtig hinter den Ohren, und einer fragte den andern, ob er sich mit ein paar Hundert Talern etwa beteiligen würde. Anfänglich schien niemand dazu geneigt. Als aber der Schätzesucher hoch und teuer beschwor, daß sich das Geld über Nacht zwanzig- und dreißigfach verzinsen könne, und er davon sprach, bei längerem Weigern das Kapital auf den umliegenden Dörfern aufzubringen, da wurden die Rehefelder neidisch auf die von Gröbern und Zehmen, und in wenigen Tagen war die verlangte Summe beisammen. Nun fing der fremde Mann an zu bohren. Aber einige Ellen tief traf er auf Sandstein, und die Bauern empfanden so etwas wie Enttäuschung. Der Fremde aber meinte, dies sei recht und gut, denn er habe gerade unter so weichem Gestein schon die reichsten Silberadern gefunden; und er bohrte fröhlich weiter. Die Arbeit ging langsam von statten, und die Geldgeber wollten schon allmählich verzweifeln, da berührte der Bohrer wieder Sand, und die bereits gelästerten Prophezeihungen des Schatzgräbers gingen mit neuer Hoffnung und unter ehrfürchtigem Nicken von Mund zu Mund. Immer tiefer drang das Eisen des Bohrers hinab. Das Loch in der Sandsteinschicht wurde weitgemacht und rund ausgehauen, die Erde in dem neuen Schacht abgegraben und durch einen Göpel herausgebracht, und die Wände wurden verschalt und abgesteift. Mit der Miene gediegener Sachverständigen guckten die Bauern von oben in das immer tiefer werdende Loch hinunter und freuten sich, als sie eines Tages entdeckten, daß es drunten so finster geworden war, daß sie nicht mehr bis auf den Grund sehen konnten. Nun fing es doch endlich an, ein richtiges Bergwerk zu werden. Keinen andern Gesprächstoff kannte man mehr, als Bergbauwissenschaft, und man erörterte ernsthaft, ob nicht neben Silber auch Kohlen in der Nähe zu finden seien. Nur der alte Lederhannes, der die Leute im Dorfe versohlte, lachte und spottete über das Beginnen. Auf der Erde, meinte er, wäre dem Bauern vom Himmelsvater die Arbeit zugewiesen; um das, was im Bauche der Erde verborgen sei, brauche er sich nicht zu kümmern. Aber die Rehefelder zuckten die Achseln und sagten, mit siebzig Jahren -- so alt war der Spötter -- werde der menschliche Geist mürbe und brüchig, wie dem Hannes seine Stiefelsohlen lebtags gewesen seien. Die Sandberge rund um den Schacht wuchsen mächtig an, denn seine Tiefe betrug nun schon an die hundert Ellen. Doch mit jeder Elle tieferen Hinabdringens wurden die Gesichter der Bauern länger, aber noch immer wollte sich kein Erz zeigen. Zudem fragte der Lederhannes höhnisch, was sie mit dem vielen Sand anfangen und ob sie ihn nicht probeweise von dem gelehrten Manne zu einem Düngemittel für die Saatfelder verarbeiten lassen wollten. Der Fremde hatte aber schon zweimal wieder von den Bauern Geld verlangt, das sie ihm mit Rücksicht auf die bereits hineingesteckten Tausende auch gegeben hatten. Einige Monate hatte der schöne Wahn vorgehalten, dann brach er, gleichzeitig mit dem Schachte, plötzlich in sich zusammen. Als eines Morgens die Arbeiter die Einsteigleitern betreten hatten, um sich zum gewohnten Tagewerke hinabzubegeben, da vernahmen sie in der Tiefe dumpfes Rauschen. Ein paar Beherzte stiegen hinunter und fanden, daß die Sohle des Schachtes tief hinabgesunken war und unter Wasser stand. An mehreren Stellen hatte sich die Verschalung gelöst und war hinuntergestürzt. Da gerieten die Bauern in helle Verzweiflung und fragten nach dem Anstifter des Unglücksunternehmens. Der aber war und blieb verschwunden. Wahrscheinlich hatte er den Schaden vorausgesehen und sich in weiser Vorsicht rechtzeitig aus dem Staube gemacht. Nun erfuhren die Beteiligten zu dem Schaden noch reichlichen Spott, und sie zogen es vor, den Verlust und die Enttäuschung klaglos zu tragen. Den Schacht aber überließ man seinem Schicksale. Die Steigleitern wurden zwar gerettet, wie man aber auch die Verschalung losreißen wollte erwies sich dieses Vorhaben als sehr gefährlich für die Arbeiter, und man ließ davon ab. Dann deckte man das Loch zu und ging mit Eifer an die willkommene Ausbeutung des Steinbruches, bis sich endlich der Schacht oben trichterförmig erweitert hatte. Zuletzt wollte niemand mehr von den schwierig zu gewinnenden Steinen etwas wissen. Und als die Deckbretter verfault und hinabgestürzt waren, weigerte sich jeder, sie zu erneuern. Man umgab den oberen Rand des Steinbruches mit einer hölzernen Einfassung, um einen in der Dunkelheit von dem in der Nähe vorüberführenden Wege etwa Abkommenden vor dem Hinabstürzen zu bewahren. Von dem schwedischen Hauptmann aber, dessen wildgewordenes Roß im Verlaufe des dreißigjährigen Krieges mit seinem Reiter über die Barriere hinwegsprang und den niemand wiedersah, hatte der Schacht seinen Namen erhalten. Man ahnte, daß das Schwedenloch bodenlos sei, und jedermann vermied es, in seiner Nähe zu verweilen. Die jungen Mädchen aus dem Dorfe erzählten sich an den langen Winterabenden schauerliche Geschichten von dem Orte, und seit jener stürmischen Neujahrsnacht, in der ein von Zehmen zurückkehrender Knecht kreidebleich im Gasthof erschienen war und aussagte, am Steinbruche jage ein schwarzer Reiter auf feurigem Rosse umher, wurde der Ort selbst von den Erwachsenen mit Scheu gemieden. * * * * * Als Max in der dichtgefüllten Wirtsstube erschien, verstummte das in trägem Flusse sich dahinwindende Gespräch sofort gänzlich, und alle sahen auf ihn und waren begierig darauf, die letzten Abmachungen zu hören. Die Ausmarschierenden hatten sich an einem langen Tische niedergelassen, in dessen Mitte und zwar so, daß sie das Zimmer übersahen, Max und Konrad saßen. Freundlich schien die Oktobersonne durch die Fenster und spielte auf den ernsten Gesichtern der Männer. Der Abmarsch sollte am nächsten Morgen frühzeitig und in aller Stille erfolgen. Wenn die Kirchturmuhr die fünfte Stunde verkündete, mußte jeder am Freihofe eingetroffen sein, von wo es dann ohne Aufenthalt weiterging. Niemand außer den fortziehenden Männern sollte die Dorfgasse betreten, denn man konnte nicht wissen, ob nicht französische Patrouillen in der Nähe herumspionierten, denen das Dorf infolge Auffliegens ihres großen Pulvervorrats vielleicht verdächtig erschien. Die Kunde, daß französische Reiter am Schwedenloch gesehen worden seien, bestärkte die Männer in ihrer Vorsicht, und als einige zurückbleibende Bauern sich erboten, einander ablösend während der Nacht die Dorfausgänge zu beobachten, wurde dieser Vorschlag allgemein gutgeheißen. Zuletzt erklärte der Rabensteiner, sogleich nach dieser Besprechung auf dem Wege nach Gröbern soweit vorwärts reiten zu wollen, bis er auf die preußischen Vorposten stoße. Sollte er in dieser Gegend aber französische Uniformen sehen, so würde er versuchen, über Göhren seinen Zweck zu erreichen. Auf alle Fälle mußte man genau wissen, welche Richtung morgen früh einzuschlagen war. Überall schwärmten kleine französische Reiterhaufen herum, deshalb war große Vorsicht geboten. In der Nacht abzumarschieren, erschien ihnen nicht ratsam, da die Franzosen infolge der großen Nähe des Feindes sehr auf der Hut sein würden. Die letzten Anordnungen waren getroffen und die Männer nahe daran, aufzubrechen, als plötzlich die unmittelbar auf die Straße führende Tür des Gastzimmers aufgerissen wurde. Überrascht fuhren die Versammelten in die Höhe und blickten auf die offene Tür, in deren Rahmen sich noch immer nichts zeigte. Da erschien plötzlich auf der Schwelle eine wunderliche Gestalt, in der man nach genauem Hinschauen Mutter Lehnhardt erkannte. Sie trug ein seltsam aufgeputztes Kleid von Lilafarbe, das ehemals kostbar gewesen sein mußte. Heute aber war sein Glanz verblichen. In nichts ähnelte es der Form, in der die Frauen zur Zeit die Kleider trugen, und die über und über zerknitterte und an manchen Stellen zerschlissene Seide ließ erkennen, daß das Kleid vielleicht Jahrzehnte unbenutzt in einer Ecke des Schrankes gehangen hatte. Den Kopf der Greisin bedeckte ein gleichfalls zerknitterter Filzhut von uralter Form, mit verblaßten, bunten Bändern, von denen zwei an den Wangen herabliefen und unter dem Kinn zu einer Schleife verknüpft waren. Keiner der Anwesenden konnte sich entsinnen, Mutter Lehnhardt jemals anders als in einem selbstgefertigten Rock von grobem Stoff und der üblichen Jacke einfacher Dorfleute gesehen zu haben. So gekleidet, erkannte man sie schon von fern. In dem Aufputze, in dem sie aber jetzt dicht vor ihnen stand, mußten sie scharf hinsehen, um die Alte zu erkennen. Anfangs drängte sich ein Lächeln auf manche Lippe, denn die Erscheinung forderte den Spott heraus. Das Kleid war ehedem sicherlich nicht für seine heutige Trägerin angefertigt worden, denn es war für diese einfache Frau viel zu kostbar. Man kannte die Vergangenheit der Greisin zu gut, um nicht richtig zu vermuten, daß das Kleid einstmals von einer Schloßherrin getragen wurde, und daß es später, als es nicht mehr mit der Zeit ging, verschenkt worden war. Der Schnitt erregte Kopfschütteln, und die Männer begriffen nicht, wie man an dieser Form einst hatte Gefallen finden können. Die Anwandlung von Heiterkeit aber währte nicht lange, dann verschwand das Lächeln von den Gesichtern vor dem ernsten, ja feierlichen Ausdruck, der auf den Zügen der Greisin lag. Eine Sekunde lang blieb die schmächtige Gestalt auf der Schwelle stehen und ließ die klaren Augen flink über die Versammlung gleiten. Es schien, als wenn sie sich an der Überraschung weide. Dann griff die Hand der Alten entschlossen in das Kleid, raffte es auf, daß es nicht den Fußboden streife, und so betrat sie mit ihren gewohnten Trippelschritten die Gaststube, bis sie an dem langen Tische der Ausmarschierenden stehen blieb. »Ei, sieh da, der Herr Max,« sprach sie, »und alle die mutigen Burschen. Will’s Gott, so sitzt Ihr nach Jahresfrist wieder so wie heute beisammen.« Sie hielt mit eifrigem Kopfnicken inne, um alsbald lebhaft fortzufahren: »Doch dürft Ihr nicht denken, daß ich gekommen wäre, um Eure kostbare Zeit zu verschwatzen. Aber die Erzählung geht, daß drüben im Preußischen alle, selbst der Arme zu den Kosten des Krieges sein Scherflein beitrage. Und deshalb will auch ich der guten Sache mein Opfer bringen.« Die Greisin suchte die Tasche des Kleides und entnahm ihr ein kleines Papier, das die zitternden Finger mühsam entfalteten und legte den Inhalt dann dicht vor Max auf den Tisch. Es waren zwei goldene Ringe. »Das sind meine einzigen Schätze,« begann sie wieder, »nehmt sie mit, Herr Max, mir können sie nichts mehr nützen. Es ist der Ring meines Seligen, den man mir, nachdem er bei Kesselsdorf gefallen war, sandte und der meinige. Jenen habe ich nun mehr als siebzig Jahre gut verwahrt gehalten, und nur wenn die alten Erinnerungen allzustark heraufstiegen, habe ich ihn hervorgeholt und mit ihm geplaudert, als ob es mein guter Mann selbst wäre. Den meinen habe ich erst heute nach dem Gottesdienst vom Finger gezogen. Bevor ich beide Ringe in das Papier schlug, habe ich sie noch einmal geküßt, sie waren ja das Unterpfand einer jungen Liebe. Nehmt sie mit, ich bitt’ Euch darum!« Niemand sprach darauf ein Wort, keiner der Männer fand eine Erwiderung. Sie alle hielten die Blicke niedergeschlagen und betrachteten die Ringe. Der eine davon hatte, wie es schien, noch sein ursprüngliches Gewicht und war groß, wie eben ein Ring sein muß, der an der Faust eines Bauernburschen sitzt. Der andere aber war dünn wie Blech, so hatte sich das Edelmetall an den Fingern der Greisin während der vielen Jahre abgewetzt. Da unterbrach Max das Schweigen: »Mutter Lehnhardt,« sagte er, »Ihr reißt einen kostbaren Schatz von Euerm Herzen, bedenkt es wohl, bevor Ihr Euch für immer davon trennt.« Die Greisin machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand und erwiderte: »Das Gold möge sich in Stahl verwandeln, mit dem unsere Jugend sich und ihren Kindern ein freies Vaterland schaffe. Mein Seliger wird mir’s im Traume zuflüstern, daß ich richtig gehandelt habe. Er war ja selbst ein Feuerkopf.« »Nun denn,« antwortete Max, »zurückweisen darf ich Eure reiche Spende um der guten Sache willen nicht. Wir nehmen aus dem Dorfe manche Gabe mit uns; laßt es Euch aber versichert sein, Mutter Lehnhardt, daß wir die Eurige als die kostbarste schätzen.« Die Alte nickte freundlich, sah sich im Kreise der Männer noch einmal um und trippelte dann mit einem »Behüt’ Euch Gott« wieder der Tür zu. Friedrich, der zwanzigjährige, hochgewachsene und breitschultrige Sohn der Kirchengutbäuerin, der morgen früh mit ausmarschierte, saß der Tür am nächsten. Mit unbeholfener Eilfertigkeit sprang er hinzu und öffnete. Mutter Lehnhardt zögerte aber eine kleine Weile, als wenn ihr das Hinabsteigen der Stufen viel Mühe mache. Da bückte sich der große Junge, hob die Greisin wie eine Feder auf und ging mit ihr vorsichtig die Stufen hinab. Stirn an Stirn lagen die beiden Gesichter aneinander, das welke des langsam absterbenden Menschen neben dem blühenden des kraftstrotzenden Jünglings. Und zärtlich, wie eine Mutter ihr noch hilfloses Kind, streichelte während des Hinabschreitens die runzlige Hand der Greisin seine vollen Wangen. Zu ebener Erde angelangt, setzte Friedrich seine leichte Last behutsam nieder, und weil er die Blicke der Männer von drinnen und der vor dem Gasthof Weilenden auf sich gerichtet fühlte, wurde er sehr verlegen, und eine dunkle Röte überzog ein hübsches Gesicht. Da stand nun der junge Riese mit dem glattgescheitelten Blondhaar und den zu kurzen Jackenärmeln des Sonntagsgewands, aus denen die starken Handgelenke und die derben Fäuste weit herausragten, nicht wissend, wohin er seine Augen richten sollte. »Wie sein seliger Großvater, als er noch ein junges Blut war,« sagte Mutter Lehnhardt, Friedrich mit versonnenem Lächeln betrachtend. Dann hob die Alte mit großer Sorgfalt das Kleid auf und lief mit kleinen und flinken Schritten über den Dorfplatz. 25. Kapitel. Die Männer hatten den Gasthof nunmehr verlassen, denn es drängte sie, heimzukehren. Deshalb geizten sie mit der Minute. Maxens Sehnsucht nach Maria war aufs höchste gestiegen. Bevor er aber nach Hause zurückkehrte, gab er Konrad das Geleit bis zum Rabensteiner Hof. Zuletzt verabredeten sie noch eine kurze Besprechung auf dem Freihofe nach Konrads Rückkehr. Hierauf trennte sich Max unter guten Wünschen von dem Freunde und ging rasch den Weg zurück. Marias liebliche Erscheinung, wie er sie an diesem Morgen im Erker gesehen hatte, stand ihm lebendig vor der Seele, und der heiße Wunsch, sein junges Weib ans Herz zu drücken, beflügelte seine Schritte. Schon während des Aufenthalts im Gasthofe hatte ihn einmal eine geheime Unruhe bedrückt, und er wäre am liebsten aufgesprungen und nach Hause geeilt. Nun sollte er aber in wenigen Minuten bei ihr sein, ihre klangvolle Stimme vernehmen, ihren warmen Odem an seiner Wange fühlen und in ihre lieben, treuen Augen schauen. Verwundert blickte sich Max während seines beschleunigten Laufes um, denn das Oberdorf war wie ausgestorben. Da sah er den spitzen Giebel seiner großen Scheune auftauchen, und nach ein paar weitausgreifenden Schritten gelangte er an die Biegung der Dorfstraße, von wo aus er das Hoftor sehen konnte. Doch -- was war das? Was bedeutete die große Menschenansammlung vor dem Freihofe? Ein Alp senkte sich auf seine Brust, daß er nur schwer zu atmen vermochte. Unwillkürlich seinen Lauf beschleunigend, flog er zuletzt die Straße hinab. Da kam er bei den ersten Herumstehenden vorüber und rief ihnen zu: »Was ist’s, warum seid Ihr alle hier versammelt?« Aber er nahm sich nicht die Zeit, ihre Antwort abzuwarten, so rastlos trugen ihn die Füße weiter. Die Gefragten schienen ob der überhobenen Antwort erleichtert, denn sie hatten scheu an ihm vorbeigesehen. Je mehr der Freihofer sich aber seinem Besitze näherte, umso dichter standen die Menschen. Stumm wichen sie zurück und bildeten eine Gasse, durch die er bis zu dem geschlossenen Hoftor stürmte. Hier angekommen, versagten ihm die Füße wie gelähmt den Dienst, und er wandte sich zu der Menge. Eine verzehrende Angst machte ihn heimlich beben, aber er war zu stolz, sie erkennen zu lassen. Deshalb fuhr er die Nächststehenden mit Trotz in der Stimme an: »Warum haltet Ihr hier Maulaffen feil? Geht heim und lobt Eure Weiber für den Sonntagsschmaus, den sie Euch auftischen!« Die so unsanft Angeredeten erwiderten nichts, aber sie vermieden es, daß ihre Augen seinem Blick begegneten. Qualvoll verstrich eine Sekunde eisigen Schweigens, das angesichts der dichtgedrängten Menschen unnatürlich erschien und das die deutlich auf das Gesicht des Mannes am Hoftor geschriebene Angst bis zur Unerträglichkeit steigerte. Da faßte einen aus der Menge das Erbarmen mit dem Gefolterten und er rief ihm zu: »Freihofer, bereitet Euch auf Entsetzliches vor; es ist ein Unglück geschehen!« Diese wohlgemeinten Worte riefen eine unerwartete Wirkung hervor: aus der tödlichen Angst des Bemitleideten schlugen die Flammen blinder Wut, und er schrie: »Daß Du ersticken mögest an Deinem Unkenruf. Mit solchen Worten schreckt man Memmen. Ich sage Euch, es spukt nur in Euern Köpfen, sonst ist es nichts!« Eine neue Pause, angefüllt mit demselben entsetzlichen Schweigen von vorhin schien wieder einzutreten. Wer vermochte es, diesen Mann daran zu hindern, daß er, wie es ihm ein verzehrendes Angstgefühl gebot, sich gegen die Kenntnis eines furchtbaren Geschehnisses sträubte, obgleich er dessen Wahrheit ahnte. Da kam Bewegung in den Kreis. Zwei Arme teilten die Menge, und ein Mann trat aus ihr heraus und stellte sich dem jungen Bauern gegenüber, -- es war Pastor Reinerz, angetan mit langschößigen Bauernrock. Max empfand in diesem Augenblick das Nähertreten dieses Mannes wie das eines Gegners. Die aller Fesseln befreiten, wild mit einander ringenden Leidenschaften rissen sich um die Herrschaft über ihn, und je nachdem, ob es der dem Wahnsinn zutreibenden Angst oder der schäumend machenden Wut gelang, zu siegen, konnte der Unglückliche sich auf den Greis stürzen, oder im nächsten Augenblick unter dem zermalmenden Drucke des Jammers zusammenbrechen. Doch alsbald sollte der Kampf im Innern des Freihofers entschieden sein; Pastor Reinerz begann zu sprechen, und bei seinen Worten glätteten sich die aufgepeitschten Wogen. Der Feuerstrom des Zorns, der seine Ufer schon überflutet hatte, schäumte jetzt wieder in sein Bett zurück und ließ die Angst, die unaussprechliche Angst anwachsen, daß der Freihofer wähnte, um Brust und Hals legten sich ihm Eisenklammern. »Der Gott, der Himmel und Erde erschaffen,« begann Pastor Reinerz, »bestimmt auch den Lauf der Menschengeschicke, und wir sollen nicht mit ihm hadern, wenn sein unerforschlicher Wille uns von der Höhe irdischen Glücks hinab in die Tiefen des Schmerzes und der Verzweiflung stürzt. Denn der Mensch ist aus des Meisters Hand hervorgegangen, und sein winziger Geist begreift nicht den Geist seines Schöpfers. Wir stehen erschüttert vor diesem entsetzlichen Schlag, der uns alle getroffen hat. Aber es gebührt uns nicht, uns aufzulehnen; neigen wir in Demut das Haupt und vertrauen wir unverändert auf die Liebe des himmlischen Vaters. Was der ewige Gott, unbegreiflich für uns Menschen, diesmal zu sich berufen hat, ist ein blühendes, junges Leben -- -- --« Der Freihofer hatte bisher mit Aufbietung seiner ganzen Willenskraft eine ihn zu übermannen drohende Schwächeanwandlung bekämpft, bei diesen Worten aber brach seine Beherrschung jäh zusammen. Er grub die Zähne in die Unterlippe, daß das Blut erschien und taumelte gegen das Hoftor. »Meine Seele ist noch aufs tiefste erschüttert,« fuhr Pastor Reinerz fort, »denn gerade ich mußte Zeuge des Verbrechens sein, denn einem schändlichen Verbrechen, Freihofer, ist Euer Weib zum Opfer gefallen.« Max machte eine zuckende Bewegung, aber es war, als ob der Schlag, der gegen ihn geführt worden war, ihm die Kraft, zu verzweifeln, gelähmt habe. Da wandte sich Pastor Reinerz von dem bis ins innerste Mark Getroffenen ab und sprach zu der Menge: »Hört mich an, Leute, denn Ihr kennt den Hergang nur flüchtig. Die milden Strahlen der Sonne bewogen mich, nachdem ich von der Kirche heimgekehrt war, einen lang entbehrten Spaziergang in die freie Natur zu machen. Einsam ging ich über die herbstlichen Felder, derweilen Ihr im Gasthof versammelt wart und sog mit tiefen Zügen die erwärmte Luft ein. Kein Laut störte die sonntägliche Stille. Da wurde ich plötzlich aus meinen Gedanken wachgerüttelt. In geraumer Entfernung von mir sah ich in dem hohen Grase etwas Weißes bald aufleuchten und bald wieder verschwinden. Ich strengte meine Augen an und erkannte in der weiblichen Gestalt Maria, die kaum vor einer Stunde von mir angetraute Gattin des Bauern vom Freihofe. Zeitweilig sich niederbückend, schlenderte sie umher, um die letzten Feldblumen zu einem Strauße zu sammeln. Schon wollte ich meine Schritte zu ihr hinlenken, da fiel mein Blick auf einen zweiten Menschen, -- und das Blut stockte mir in den Adern! Vom Schwedenloche herabkommend, wo ein paar Reiter in der Nähe ihrer grasenden Pferde weilten, nahte sich ein hochgewachsener französischer Offizier, das junge Weib von hinten her beschleichend. Ich biete meine ganze Stimme auf und rufe: Maria! ohne daß sie meine Warnung hörte. Ein zweites, ein drittes Mal klingt mein Ruf, da hatte sie mich vernommen. Sich umschauend, fällt ihr Blick auf den Mann, der sich ihr bis auf wenige Schritte genähert hat. Sie erschrickt, wendet sich um und enteilt flüchtigen Fußes der schon drohenden Berührung des Elenden. Aber die Flucht nach dem Dorfe ist ihr verlegt. Wie ein gehetztes Wild fliegt sie nach der andern Seite, -- da schneidet ihr der Verfolger, der sich im raschen Laufe seinem Opfer nähert, den Weg ab. In demselben Augenblick, in dem die Verzweifelte die Unmöglichkeit eines Entrinnens erkennt, stürzt sie nach dem nahen Schwedenloch, um durch einen Sprung von dessen Rand sich vor dem Schlimmsten zu bewahren, -- da treten ihr die Soldaten entgegen. Und als die Gehetzte die Schnelligkeit ihres Laufs unwillkürlich etwas verringert, um so vielleicht doch einen rettenden Ausweg zu erspähen, da packt sie die rohe Faust des Entmenschten am Handgelenk. Ein verzweifelter Aufschrei, -- dann entschwanden die Ringenden, zu Boden fallend, meinen Augen, und nur das hohe Riedgras bewegte leise die Spitzen. Eine verspätete Lerche flog auf und trug in weiten Kreisen ihren Sang der Sonne entgegen. Mich alten Mann aber überfällt ein wahnsinniges Entsetzen und ich eile, so schnell mich die Füße tragen wollen, vorwärts. Doch bald zwingt mich einer der Soldaten stehen zu bleiben, und wie ich dennoch weiterdränge, wirft mich ein Kolbenstoß vor die Brust besinnungslos nieder. Als ich aus meiner kurzen Ohnmacht erwachte, sah ich Maria aufrecht stehen. Zu ihrer Seite befand sich der Franzose, dessen Bestialität noch einmal aufzublitzen schien, denn er legte die Arme um das Mädchen und versuchte, es zu küssen. In dem Augenblick aber, in dem sein Mund sich ihrem Gesichte näherte, grub sie die Zähne in den Hals des Lüsternen, daß dieser das Weib mit einem wilden Fluche freiließ und nach der blutenden Stelle tastete. Wohl tut einer der Elenden, die entfernt standen, einen Schritt nach dem ruhig dahinschreitenden Weibe, wie die Hyäne, die darnach lechzt, was der gesättigte Blutdurst des Tigers verschmäht. Aber ein königlicher Blick scheucht ihn zurück, und bald stand Maria am Rande des Steinbruchs. Ein paar Sekunden verharrte sie unbeweglich, das Haupt auf die ineinander gelegten Hände gebeugt. Dann wandte sie noch einmal den Blick und ließ das Auge über die Fluren schweifen, hinüber nach dem Dorfe. Ich sprang auf und winkte und rief. Sie erkannte mich, nickte mir zu, nahm den Strauß aus den Falten des Busens, führte ihn noch einmal zum Munde und legte ihn nieder, und dann --,« hier schwieg der Greis. Die Männer hatten während seiner Erzählung wiederholt laute Verwünschungen ausgestoßen, und manche Faust hatte sich unwillkürlich geballt. Pastor Reinerz aber fuhr fort: »Die Soldaten gaben mir jetzt den Weg frei, und ich lief nach der Stelle, an der ich Maria zum letzten Male gesehen hatte. Als ich erschöpft dort ankam, bot sich meinem Blicke nichts weiter von ihr, als die Blumen. Ich beugte mich über den Abgrund, der gerade dort am steilsten abfällt und gewahrte, etwa dreißig Ellen unter mir, dort, wo der große Trichter in den Schacht ausläuft, an einem niedrigen, verkrüppelten Baumstamm einen menschlichen Körper hängen. Voll Freude und Schrecken zugleich, daß der schwache Stumpf der Last nachgeben könne, schaute ich mich nach einem Helfer um. Da bemerkte ich schon einen Mann, der wie von ungefähr über die Felder schritt. Ich schrie und machte verzweifelte Bewegungen. Im eiligen Laufe kam er heran, und während ich ihn mit fliegenden Worten unterrichtete, schaute er hinab. Bange Sekunden verstrichen; endlich rief er: Ich wags! Rasch streifte er die Schuhe von den Füßen und dann stieg der Verwegene hinunter. Ich wußte es, daß er den Zorn des Himmels herausforderte, denn es war ein Frevel, den Versuch zu unternehmen; ich erkannte das Unsinnige seiner Tat, denn der Einsatz galt nicht einem Menschenleben, sondern es war das aussichtslose Spiel mit einem Leben um einen Leichnam, -- und doch ließ ich es zu! Der Weg, den der Tollkühne zurückzulegen hatte, ist Euch vom Schauen her bekannt; es hat bisher noch keiner versucht, ihn zu betreten. Hände und Füße gebrauchend, klomm er langsam hinunter, jeden Vorsprung weise benutzend, und wo ein solcher nicht vorhanden war, das Fleisch der Finger und Zehen in die Ritzen der Steinwand pressend. Ein Ausgleiten weihte ihn rettungslos dem entsetzlichen Tode des Absturzes. Langausgestreckt am Rande liegend, schaute ich dem immer tiefer Gelangenden nach, während kalter Schweiß mir auf die Stirn trat und mein Herz in lauten Schlägen arbeitete. Mehr als einmal strauchelte er, mehr als einmal löste sich ein Stein von der Wand, den er sich als Halt erkoren hatte, unter seinen Füßen, so daß es unabwendbar schien, daß der Retter in die Tiefe stürze. Dann fiel mein Auge wieder auf den schwachen Stamm, der sich unter der Last soweit bog, daß er jeden Augenblick brechen konnte. Mir wollte das Herz stille stehn bei dem Gedanken, daß das Rettungswerk umsonst versucht worden sei. Endlich, nach Minuten furchtbarer Qual, langte der Mann am Ziele an. Vorsichtig näherte er sich der Stelle, schlang den linken Arm um den leblosen Körper und trat nun, nur die Rechte noch benutzend, mit seiner schweren Bürde den Aufstieg an. Ach, und wie viel schwieriger gestaltete sich dieser als der Abstieg! Durch Gestrüpp, das aus der Felswand drängt, und über Geröll bahnte er sich den Weg. Ich verlor fast die Sinne und mußte die Augen schließen, denn die Bilder meiner Phantasie waren gräßlich. Da erscheint nach todesbangem Harren ein Kopf über dem Rande, das Haar wirr, und das Gesicht entstellt vor Anstrengung und Erregung. Ich fasse die Schultern, um ihn heraufzuziehen. Doch was frommte die schwache Kraft eines mit der Ohnmacht kämpfenden Greises! Schon schien es, als wenn Leben und Tod in gemeinsamer Umarmung im letzten Augenblick des Rettungswerks und schon fast in sicherer Hut, mit einander in die begehrliche Tiefe hinabstürzen müßten. Da machte der Keuchende eine letzte, verzweifelte Anstrengung, und es gelang unsern vereinten Bemühungen, daß er sich auf den Rand schob und damit in Sicherheit brachte. Eine geraume Zeit ruhten dann beide Körper so nebeneinander, daß man nicht angeben konnte, welcher von beiden noch Leben barg, und es hatte den Anschein, als ob der genasführte Tod seine ihm schon sicher erschienene Beute in schäumender Wut noch jetzt an sich reißen wolle. Bleich lag der Wackere auf dem Rasen; Gesicht, Hände und Füße hatten ihm das scharfe Gestein und das Dornengestrüpp blutig gerissen. Endlich kehrten seine Lebensgeister wieder zurück. Er wischte sich erschöpft Schweiß und Blut vom Gesicht und taumelte davon.« Hier machte der Sprecher eine lange Pause. Dann hob er wieder an: »Ja, Max von Tiefenbach, Dein Weib ist tot, aber unvergänglich ist die Schrift, womit ihr Andenken uns allen in das Herz eingegraben ist. Vereinen wir uns in christlicher Liebe, und rechten wir nicht mit der Unglücklichen wegen des Schrittes, den sie tat. Denn an der Schwelle des Todes machen die Vorwürfe Halt und was die Verblichene darüber hinwegbegleitet, sind Wehmut und herzinniges Mitleid!« Max stand zusammengesunken mit dem Rücken an das Tor gelehnt, beide Hände gegen dieses gestützt. Sein Kopf war herabgefallen, und das Gesicht war fahl. Den Blick auf dem Boden ruhen lassend, keuchte er jetzt: »Ihr habt eins vergessen, Pastor, nennt den Namen jenes Mannes, den Ihr bisher verschwiegt.« »Den Namen dieses Edeln soll keiner erfahren! Seine Worte, bevor er ging, lauteten: wenn ich einen Lohn für meine Tat fordern darf, so bestehe er darin, daß man verschweige, wer dieses tote Weib seinem Gatten wiedergegeben hat! Ihr werdet deshalb begreifen, -- --« »Den Namen will ich wissen!« schrie der Freihofer heiser und hob zugleich den Kopf und richtete seine Augen starr auf die des Pastors Reinerz. Ein paar Sekunden tauchten die Blicke beider Männer in einander. Mahnend, -- drohend drang es aus den grauen Augen des Alten. Und Max trat blitzschnell die Erinnerung an einen Tag vor die Seele, an dem er diese Augen so wie in dieser Sekunde hatte leuchten sehen. Er wußte es, was kommen würde, aber eine furchtbare Grausamkeit gegen sich selbst zerfleischte sein Inneres, und es frohlockte in seinem Herzen, wenn er daran dachte, daß sein gewaltiger Schmerz sich noch vergrößern könne. »Ich will ihn wissen, den Namen!« schrie er noch einmal, »sprecht!« Da richtete sich Reinerz auf, und die Greisengestalt wuchs noch mehr bei seinen Worten: »Freihofer!« sprach er mit erhobener Stimme, »ja, Ihr habt das Recht darauf, zu wissen, wer Euer Weib umfangen hat, und wenn es auch nur im Tode geschehen ist. Der Mann also, der unbedenklich sein Leben daran setzte, Euch den Leichnam der geliebten Toten wiederzubringen, auf daß er da drunten in der Tiefe nicht eine Beute von allerlei Getier werde, sondern damit Ihr Euerm armen Weibe ein christlich Begräbnis könnt zuteil werden lassen, dieser Mann, Freihofbauer, war -- -- Hermann Lehnhardt!« »Der Lehnhardt?« schrien zehn Stimmen zugleich, »der mit seinem Arm -- --?« Da erhoben sich aber auch schon winkende Hände, um die Unvorsichtigen daran zu erinnern, daß es nicht angemessen sei, den Schmerz des gebrochenen Mannes noch zu vergrößern. Der aber stand wieder mit niedergesunkenem Haupte. In Reinerzens Augen lesend, was folgen mußte, hatte sein halsstarriger Widerstand wohl wild aufgebäumt, daß er dem Kommenden trotze; -- und doch hatte er, als der Name fiel, tief den Nacken gebeugt, wie unter einem ungeheuern Faustschlage. »Auf,« rief einer aus der Menge, »ziehen wir zum Lehnhardt!« Zustimmend und mit lauten Worten der Anerkennung und Bewunderung zog der Haufe lärmend davon. Zuletzt war niemand mehr geblieben, denn was sollte man hier? Den Zusammengesunkenen trösten? Das versuchte keiner. Endlich richtete sich Max auf. Alle weichen Empfindungen flohen ihn in dieser Sekunde; das aber was blieb, und zu Riesengröße anwuchs, war der alte, nackenzerbrechende Trotz der Tiefenbachs! Mit stampfenden Schritten ging er über den Hof und betrat das Haus. 26. Kapitel. In die Mitte der großen Stube hatte man einen langen Tisch gestellt, und auf diesem ruhte Maria, den Kopf auf ein Kissen gebettet. Sie trug noch ihr Hochzeitskleid. Ihre Hände waren auf der Brust ineinandergelegt und hielten die gepflückten Blumen umschlossen. Zu ihren Füßen, mit dem Rücken nach der Tür gewendet, saß steif und unbeweglich die Freihoferin. In unnatürlicher Ruhe blieb Max eine kurze Weile an der Tür stehen und betrachtete die Tote. Langsam trat er endlich näher. Als die Mutter das Herankommen des Sohnes vernahm, erhob sie sich stumm und ohne sich nach ihm umzusehen, als habe sie nunmehr diesen Platz zu räumen. Dann setzte sie sich an den runden Tisch auf ihren gewohnten Platz und legte den Kopf mit dem weißen Haar auf die Arme. Max ließ sich auf den Stuhl niederfallen, beugte den Oberkörper, beide Ellbogen auf die Knie stützend, vornüber und in einem Traumzustand versinkend, behielt er die Augen unverwandt auf sein totes Weib gerichtet. Sein Inneres war wie versteinert. Das Unglück in seiner Riesengröße und zerschmetternden Wucht war so urplötzlich über ihn hereingebrochen, daß das Entsetzen seine Seele umdüstert hatte. Ein Blitzstrahl war herabgefahren und hatte den starken Mann getroffen und seinen feinsten Lebensnerv bloßgelegt. Wie armselig ist doch in den Augenblicken des entsetzlichsten Wehs der Mensch! Ob König oder Bettler, zarte Jungfrau oder lästernder, brutaler Gewaltmensch, ob naives Gemüt oder weltenumspannender Geist, -- gleichviel: eine Riesenfaust greift hinein in das Innere und schüttelt das Menschlein zum Erbarmen und wirft es zuletzt in den Staub! Mehrere Stunden hatte der unglückliche Mann regungslos gesessen, bis sich die Schatten der Nacht auf die Erde herabsenkten. Und mit ihrem Kommen wurde es in seiner Seele lichter. Die entschwundenen Sinne kehrten langsam wieder zurück, und die Fähigkeit, die Schwere des Unglücks zu ermessen, wurde wieder wach. Eine unsägliche Bitterkeit bemächtigte sich seiner. So schnell also und so schimpflich mußte eine reine Seele sterben? -- Ein Ekel, Mensch zu sein, mußte jeden überkommen, der dieses Verhängnis und sein Opfer kannte. Der Schöpfer der Welten schafft die Menschen im Übermut, damit er sie in lüsterner Grausamkeit wieder zertrümmere. Seine wahnwitzigen, auf Zerstörung gerichteten Launen blitzen grell auf und vernichten, als wenn drunten in der Grube die schlagenden Wetter aufblitzen, und ihre elementare Kraft den nach desselben Gottes Gebot im Schweiße seines Angesichts sich mühenden Menschen wie einen Spielball gegen die Wände der Grube schleudern und ihn endlich als formlose Masse liegen lassen. Mit der Geburt in die mißliche Lage hineingestoßen, umlauert von tückischen Mächten, preisgeben der Not, der Krankheit, dem Schmerze der Welt, der Verzweiflung, dem Tod, -- das ist das Schicksal der Sterblichen! Der Erbarmungslose aber, dem seine Geschöpfe nichts weiter sind als ein Spielzeug, der ein Werk, aus seiner Hand hervorgegangen, nach einem andern schleudert, um sich an dem Zermalmen beider zu ergötzen, diese im Rausche schaffende und zerstörende Kraft, dieser blindwütige Despot nennt sich selbst der Menschheit Gott, ihr liebender Vater und Erbarmer! -- Haha, -- Wahnwitz ist sein Beginnen, niederste Grausamkeit seine Befriedigung. Blühende Gefilde, bereitet unter inbrünstigen Gebeten und mit frohen Hoffnungen, gedüngt mit sauerm Schweiß und gehegt mit Daransetzen der besten menschlichen Kräfte, zerstören jubelnd seine wilden Gewalten, während sie an den Verfall, an die Trümmer, die Verwesung, das Chaos nicht rühren. Dem Lasterhaftesten seiner Menschen, dem Bekümmerten und Elenden, dem Fluchwürdigen, dem, der dem Schöpfer nachäffend die Völker sich zerfleischen läßt, daß Tausende von Leben untergehen, -- diesen allen, die den Tod täglich herbeisehnen, oder die sein Blitz spalten müßte, läßt er das Leben; -- das Schöne aber wirft er in den Staub, das strotzende Leben vernichtet, die bauende Hoffnung enttäuscht er. Und die höchste seiner Gaben, die Reinheit, läßt er schamlos beflecken. Das ist der Gott der Menschen! Der Freihofer schüttelte leise den Kopf. Und das war sein Hochzeitstag, und das seine Brautnacht! Wahrlich, es war ein Meisterstück des auf neue Grausamkeiten sinnenden Schicksals, ein Streich, den alle Teufel ausgesonnen hatten. Man mußte sie loben, die erfindungsreichen Höllenbewohner, wenn ihr Schelmenwitz nicht so witzlos, ihr Erfindungsgeist nicht so traurig wäre. All ihr dunkeln Gewalten, Verhängnis, Schicksal, Teufel -- Gott, zuletzt ist euch der Mensch doch überlegen! Untergehend belächelt er eure Wut, und das gefaßte Sterben des schwachen und -- gegenüber den Jahrmillionen eures unheilvollen Wirkens -- ephemeren Geschöpfes müßte Euch die Schamröte in die Schläfen jagen. Aber hohen Sinn und Edelmut darf man nicht bei den Unsichtbaren suchen. Das also war seine Hochzeitsnacht! Nicht auf weichem Wonnepfühl, Leib an Leib streckten sie in seliger Umarmung die Glieder, -- zusammengesunken und mit einer nie wieder heilenden Wunde im Herzen saß der Bräutigam neben dem harten Lager der schönen Braut. Zwischen ihnen aber kauerte der unerbittliche Knochenmann und betrachtete grinsend das hellrote, rauchende Blut, das von seiner Sense herabtropfte. Wie ein gefesselter Löwe gegen seine Ketten, tobte Max wider die stärkere Macht, die seinem Herzen diese Wunde geschlagen hatte, und anstatt Schrecken schüttelte seinen Körper der Zorn. An seinem Geiste zog langsam sein ganzes Leben vorüber, und von dem einförmigen Hintergrund seiner ohne Stürme verflossenen Lebensjahre hob sich in leuchtenden Farben die Zeit der Liebe zu Maria ab, seiner tiefen und starken Liebe, deren Wurzeln sich bis auf den Grund seines Herzens hinabrankten. So unsagbar elend mußte sie an ihrem Ehrentage zugrunde gehen! Wie hatte sich Maria auf die Hochzeit gefreut! Viel mehr noch, als sie es ausgesprochen hatte. Das hatte er oft aus den versonnenen Augen gelesen, die der blanke Spiegel ihrer reinen, unschuldvollen Mädchenseele gewesen waren. Und nun! Welch schriller Mißklang, welch unreine Schlußakkorde, die aber vor der himmlischen Melodie, die ihre Seele droben empfing, wieder zu den Irdischen flüchten mußten. Den Makel, den jener Bube ihr zugefügt, hatte ihr guter Engel aber in dem Augenblick wieder von ihr genommen, als sie den Tod einem Leben vorzog, dessen Wert für immer verloren war. Doch was für Gedanken kamen ihm da! Nein, fort mit der Weichheit, denn nichts Mildes, keine Barmherzigkeit wohnen bei den Mächtigen im Reiche der Seelen. Und er bäumte sich im Trotz von neuem auf unter dem entsetzlichen Drucke. Man sagt, daß Gott die Menschen ihre Missetaten sühnen läßt, wenn das Maß gefüllt ist. Aber warum ließ er deshalb gerade sie zerschmettern? Sie, die Sündenreine, Edle, die den anspruchsvollsten Anforderungen des Schöpfers an seine Kreaturen glänzend gerecht wurde und die wert gewesen wäre, das Schoßkind der Gottheit zu sein? Das war keine Großtat! Laßt, Menschen, den wildesten Leidenschaften die Zügel schießen, züchtet die niedersten Begierden in der befruchtenden Treibhausluft Eurer ärgsten Sittenlosigkeit und spottet aller Sühne und Vergeltung! Dann wird Euch beim Sterben das befriedigende Bewußtsein werden, Eure Tage würdig benutzt zu haben, und die Posaunen des jüngsten Gerichts werden Euch nicht schrecken, sondern wie blecherne Kindertrompeten klingen, mit denen die Frucht Eurer Wollust einst spielte. Denn das Walten des Gottes ist blind! Er wütet gegen sein getreustes Abbild und läßt den Verächter seiner Gebote unangetastet die Straße ziehen! Max krampfte die Hände ineinander: wenn es ihm doch vergönnt sein möchte, jenem Tier in Menschengestalt noch einmal zu begegnen, die Seligkeit tauschte er willig dagegen ein! Den gräßlichsten Tod würde er für ihn ersinnen! Und doch, welches beseligende Bewußtsein gewährt wieder der Trost, daß jeder Flecken von Marias Reinheit getilgt ist, seitdem ihr Geist seinen Aufflug zu den verklärenden Strahlen des ewigen Lichts angetreten hatte. Max fuhr bei diesen Betrachtungen zusammen. Warum gehorchten ihm seine Sinne nicht? Weshalb drängten sich dem Widerstrebenden Gedanken wie diese immer wieder auf? -- Ach, es waren die treuen Gefährten seiner Kinderzeit! Als er noch ein Knabe war, war vor dem Schlafengehen sein Lieblingsplatz zu den Füßen der Mutter, die die schlummernde Elisabeth auf den Armen hielt, während er den Kopf an der Mutter Knie gelegt hatte und ihren Worten lauschte, mit denen sie dem Knaben von der Liebe und Güte des Schöpfers und Erhalters der Welten erzählte. Damals, ja damals konnte er noch aus inbrünstigem Herzen sein Abendgebet sprechen und auf die alles umfangende Liebe des ewigen Gottes vertrauen. »Und hast Du nicht noch gestern vor dem Einschlafen Deine Hände nach Kinderart gefaltet und aus Deinem übervollen Herzen ein Gebet gestammelt?« tönte plötzlich eine ernste Stimme an sein Ohr. Max fuhr erschrocken auf und sah sich nach allen Seiten um. Draußen war undurchdringliche Nacht. Auch im Zimmer herrschte Finsternis, nur auf dem runden Tische stand vor der schlafenden Mutter eine kleine, zinnerne Öllampe, deren rußige Flamme einen schwachen Lichtschimmer verbreitete. Aber es war niemand bei ihm, der die eben vernommenen Worte gesprochen hätte. Also war es die Stimme in seinem Innern gewesen, die zu ihm geredet hatte. Und wenn er ehrlich sein wollte, -- war er nicht bei ihrem mahnenden Klange erschreckt zusammengefahren? Ja, war denn in seiner Brust noch ein Gewissen rege? Und wenn es noch nicht erstorben war, brauchte er dieser Stimme noch sein Ohr zu leihen, angesichts des bejammernswerten Opfers göttlicher Raserei? Eine neue, gewaltige Zornwelle trieb von seinem Herzen zu den Schläfen und machte ihn heiß aufbegehren, und die Hände fuhren in die Luft, als wollten sie etwas ergreifen, was sie zerreißen könnten. Da überfiel ihn eine übermächtige Müdigkeit, gegen die sich sein Wille einen Augenblick unwillig auflehnte, um sich dann sträubend zu unterwerfen. Seine Arme erschlafften und sanken herab, und er neigte den Kopf auf die Brust. Die übermenschliche Anstrengung seiner Sinne und die tiefe Erschütterung infolge des gewaltigen Schlages hatten zu stark an den Kräften des Mannes gezehrt. Jetzt war sein Widerstand für eine Weile überwunden, und ein mitleidiger Schlummer senkte sich auf ihn herab, der ihn seine unglückliche Lage vergessen ließ und seinen müden Geist hinüber in das wunderbare Land der Träume führte. Mit einem unvergeßlichen Erlebnis aus seiner Kindheit Tagen begann das Spiel seiner Phantasie. Es war ein linder Frühlingsmorgen. Die Schneeglöckchen und Veilchen blühten im Garten unter den hohen Obstbäumen, und der weiche Windhauch trug ihren süßen Duft in alle Räume des Wohnhauses auf dem Freihofe. Er war noch ein Knabe und saß in der Stube am Fenster, als die Mutter sonntäglich gekleidet in das Zimmer trat und sprach: »Jetzt habe ich Dein Schwesterchen in den Garten getragen, wo sie in dem warmen Sonnenschein süß schläft. Die alte Katharine sitzt neben dem Korbe und hütet Elisabeths Schlummer. So, und und wollen wir zur Kirche gehen.« Und bei diesen Worten faßte ihn die Mutter an der Hand und sie verließen den Hof. Dieser Tag war für ihn von hoher Bedeutung gewesen, denn es war das erste Mal, daß ihn die Mutter zum Kirchgang mitnahm. Das hohe Gotteshaus und die Menge der Andächtigen in ihrem Sonntagsschmuck und den Ernst auf den Zügen, machten einen tiefen Eindruck auf den Knaben, und als der Gesang der Gemeinde feierlich anhob, zog eine hohe Weihe in seine Kinderseele. Und so war der Tag für ihn ein Ereignis geworden, dessen Erinnerungen im Leben nie verblassen sollten. Bis hierher war das Traumbild einer langentschwundenen Wirklichkeit entnommen; jetzt begann die Phantasie ihre Malereien. Er sah Pastor Reinerz auf der Kanzel stehen und vernahm seine Worte, die von den Leiden Lazarus erzählten, dieses Schwergeprüften, der in all seinem Unglück nicht die Zuversicht auf die göttliche Barmherzigkeit verlor und selbst dann nicht aufhörte Gott zu preisen, als sich seine Leiden bis ins unerträgliche gesteigert hatten. Vor des Knaben Augen aber erschien während der Worte des Geistlichen die Gestalt des in seinem Glauben unerschütterlichen Mannes. Er sah vor dem Altar einen elenden Greis in spärliche Lumpen gehüllt liegen, die die Blöße des abgezehrten und über und über mit eiternden Wunden behafteten Körpers nicht bedeckten, Schmerz und Entbehrung hatten tiefe Linien in das Gesicht gegraben, dessen Züge den immerwährenden Kampf der Versuchung mit dem felsenfesten Vertrauen erkennen ließen. Da wurde der Ausdruck auf dem Gesichte des Armen friedlich, und seine Augen leuchteten in überirdischem Glanze. Der Knabe sah zur Decke der Kirche empor, doch das Dach des Gotteshauses war verschwunden, und die Blicke schweiften in die sonnendurchgoldigte, blaue Luft, bis hinauf in die Wohnungen der Seelen. Und vor seinen staunenden Augen erschien eine unübersehbare Menge strahlender Engel in weißen Gewändern, die aus Dunst und Wolkenschleiern hervorschwebten und, sich umfangend, einen weiten Halbkreis bildeten. Mit glockenreinen Stimmen begannen sie einen wunderbaren, himmlischen Gesang, dessen Weise sanft auf die Erde herabströmte und die Brust des Knaben anfüllte, daß seine Seele in heiligem Schauer erbebte. Da öffnete sich plötzlich der Himmel, und von goldenem Lichte umflutet erschien das Haupt des Gekreuzigten unter der Dornenkrone, mit dem Ausdruck unendlicher Liebe in den Zügen. Durch das Lied der Engel aber klang laut eine Stimme, und die Worte tönten hernieder: Sei getreu bis in den Tod, so will ich Dir die Krone des Lebens geben! In diesem Augenblick entfloh die Seele des Kranken ihrer armseligen Hülle und schwebte, von den Engeln geleitet, aufwärts, immer höher, bis endlich alle den Blicken entschwanden. Der unglückliche Mann in der einsamen Stube erwachte und schlug beide Fäuste vor die Stirn, denn sein Herz war zerrissen und blutete aus tausend Wunden. Seine Seele aber wußte in dem verzweifelten Kampf, den sie bestand, nicht, wohin sie sich wenden sollte; hilfesuchend irrten die Augen des Mannes umher. Da hob die Freihoferin, das erste Mal seitdem sie sich an den Tisch gesetzt hatte, den Kopf und sah sich in dem Halbdunkel entgeistert um. Endlich kehrte ihr das Verständnis für die Umgebung zurück, und die harten Züge der Greisin verzogen sich schmerzlich. Schon wollte sie das Haupt wieder auf die Arme niederlegen, da begegneten ihre Augen dem hilfeflehenden Blick ihres Kindes. Sie machte eine verzweifelte Anstrengung, sich zu erheben, aber ihr Körper sagte dem Willen den Dienst auf. Gebrochen beugte sie sich unter dem gewaltigen Schmerz, den diese Augen ihr bereiteten, und in das gramerfüllte Gesicht schoß der Ausdruck, der ein Menschenantlitz furchtbar entstellt: der qualvolle Ausdruck ohnmächtiger Liebe. Stumm machte sie mit der Hand eine matte Bewegung nach ihrem Kinde, dann sank der Kopf der Greisin wieder auf die Arme herab. Während aber draußen im Dunkel der Nacht, nur wenige Stunden entfernt, auf den herbstlichen Feldern Hunderttausende mit der Waffe in der Faust in leichtem Schlummer dem anbrechenden Morgen entgegenharrten, um den grausigen Kampf fortzusetzen, schlugen in der Brust des schwergeprüften Mannes die Flammen der Verzweiflung noch einmal hoch auf. Gut und Böse rangen zum letzten Male erbittert miteinander, dieses unterstützt von den wildschäumenden Furien des Schmerzes und Trotzes, jenes gekräftigt durch den mahnenden Zuspruch des leise wiedererwachenden Gewissens. Hatte Max vorhin sein Schicksal verflucht und gegen das Walten der Vorsehung gerast, so versagte ihm jetzt hierzu die Kraft; sein Trotz war gebrochen. Aber sein Inneres war eine Beute entfesselter Gewalten, über die zu gebieten er nicht imstande war. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er preßte die Hände auf die hämmernden Schläfen, um sie vor dem Zerspringen zu schützen, und sein Körper wand sich wie unter Peitschenhieben. Endlich, nach furchtbar qualvollen Stunden, ging der Kampf zu Ende. Dem Lager, gegen das er stritt, nahte Hilfe, die es unbesiegbar verstärkte, so daß er sich unterwerfen mußte. Kraftlos entglitt den für ihn streitenden Mächten die Wehr. Und wenn er jetzt noch genug Stärke besessen, um selbst für sich zu kämpfen, er hätte dennoch die Faust sinken lassen müssen, denn die, um derentwillen er sich gegen die höhere Macht aufgelehnt und für die er mit seiner ganzen Kraft nach Rache an dem Schicksal geschrien hatte, wandte sich selbst gegen ihn, -- Maria! Er sah sich in dem hohen Erkerzimmer des Schlosses, wie er es am Morgen dieses unheilvollen Tages betreten hatte um die Braut in Empfang zu nehmen, fühlte den Schlag ihres von finstern Ahnungen gequälten Herzens an dem seinen und vernahm ihre flehende Stimme, gleichsam als ob sie das alles, was sich eingestellt, vorausgesehen hätte: »Wie es auch kommen mag, Geliebter meines Herzens, laß uns in unerschütterlichem Vertrauen auf Gott bauen!« Gegen diese Macht konnte er fürder nicht streiten, und demütig beugte er vor ihr das Haupt. Die Eisrinde, die seine Brust gepanzert hatte, schmolz unter dem warmen Hauche, der von diesen innigen Worten ausströmte, und der Pfeil, den er vorhin von der überstraff gespannten Sehne schnellen ließ, wandte sich gegen seinen Schützen. Der hoffärtige Zorn und der ingrimmige Trotz stahlen sich heimlich von ihm fort, und Demut und kindliche Unterwerfung unter den Willen des Lenkers der Geschicke zogen in seine Brust ein. Gott hatte ihn bis heute mit der verschwenderischsten Fülle seiner Gaben überschüttet, denn sein Lebenspfad war sonnig gewesen. Nun schickte der Himmel die Prüfung, -- und er unterlag. Ja, das Aufschrecken aus dem wohligen Leben war rauh, es war ein herzspaltender Schwerthieb gegen ihn geführt worden, -- aber es war doch auch eine Prüfung auf seinen Glauben, die keinem Sterblichen erspart bleibt. Max beugte sich tief hinab, denn er empfand brennende Scham im Herzen. Und dann dachte er der teuern Toten. So hatte er sein Versprechen ihr gehalten, das er mit Druck und Kuß besiegelt hatte! Ihre Worte waren für ihn, kaum verklungen, -- vergessen. Er schloß die schmerzenden Augen und bedeckte sie mit den Händen. Aber ob er der Erscheinung auch fliehen wollte, das schmerzerfüllte Antlitz Marias stieg vor seinem Geiste herauf. Kein Vorwurf stand darauf geschrieben, aber der umflorte Blick aus ihren kummervollen Augen traf ihn wuchtiger als die schwerste Anklage. Der ganze ungeheure Schmerz, das entsetzliche Weh bäumten sich in ihm auf, rissen den Unglücklichen gewaltsam in die Höhe und warfen ihn willenlos vor der Leiche nieder. Tieferschüttert tastete er mit den Händen nach dem glaubensstarken Mädchen, und dem bebenden Munde entrangen sich die Worte: »Hehrer Geist meiner Maria, verlaß mich nicht in dieser Stunde!« Die furchtbare Last löste sich langsam von seiner Brust und schwand in einem reichlich fließenden Tränenstrom dahin. »Vergib mir, Geliebte,« flüsterte er, »gewähre mir Deine Verzeihung, wie ich sie von dem Allbarmherzigen zu erhalten hoffe!« Lange verharrte er so auf den Knien, das Gesicht in den Falten des Kleides der Toten verborgen. Draußen auf der Straße erklangen Tritte, und einzelne Stimmen wurden vernehmbar. Obwohl sie nur flüsterten, hätte ein Aufhorchender im Zimmer erkennen können, daß entgegen der Abmachung Angehörige die ausmarschierenden Männer begleiteten. Aber es dauerte geraume Zeit, bis der Knieende das immer mehr anschwellende Stimmengemurmel vernahm, so weltenfern waren seine Gedanken entrückt gewesen. -- Jetzt kehrte sein Geist in die Wirklichkeit zurück. Er vernahm, wie die Mutter aufstand und hinter seinem Rücken auf den Strümpfen aus dem Zimmer ging. Nach einer Weile trat sie wieder ein, legte leise sein Gewehr und den schweren Säbel aus dem Nachlaß seines Großvaters auf den kleinen Tisch an der Wand, stellte die flackernde Lampe dazu und setzte sich wieder geräuschlos auf ihren Stuhl. Max erhob sich. Seine Haltung war aufrecht, seine Bewegungen elastisch. Neue Kraft rollte ihm in den Adern, und seine Augen glänzten wieder, als er Maria betrachtete. Sie war gestorben wie ein tapferer Streiter auf der Walstatt. Ihr unter des Vaterlandes Schmach gleichfalls gepreßtes Herz hatte sich nun im Kampfe um ihr höchstes Gut verblutet. Sie war zuerst erlegen; wie lange würde es dauern, bis das Los ihn traf? Draußen standen schon die Kameraden und harrten seiner ungeduldig. Er durfte sie nicht warten lassen. Schnell also Abschied genommen von der unvergeßlichen Toten, mochten die Zurückbleibenden sie zum letzten Schlummer betten. Seine Kraft gehörte dem Leben, sein Leben bis zum letzten Hauche dem Vaterland! So handelte er auch, wie er wußte, nach Marias Wunsch. Und dem Walten der Vorsehung, gegen das er frevelhaft aufbegehrt hatte, hatte er sich gläubig ergeben. Nun gab es hier für ihn nichts mehr zu tun. Er ging zu dem Wandtische, warf den Tornister mit Wäsche und Mundvorrat auf den Rücken, schnallte den Säbel um die Hüften und legte den Riemen des Gewehres über die Schulter. Jetzt war er gerüstet und bereit, den Weg zu betreten, den viele andere deutsche Männer schon vor ihm gegangen waren. Doch bevor er sich zum gehen wandte, warf er noch einen letzten Blick zurück auf sein Weib. Wie friedlich sie doch schlief! Kein Zug des Gesichts deutete auf Schmerz, den sie im Tode erlitten hätte. Sie war mit dem Gedanken an ihn und dem festen Vertrauen auf des Allmächtigen verzeihende Liebe von hinnen gegangen. Und so hatte auch für ihn das Schrecknis seine zerschmetternde Wirkung verloren. Ihr Auge blickte aus Himmelshöhen liebend auf ihn herab, und ihre Seele umschwebte ihn schützend auf allen Wegen. Mit dieser erhebenden Zuversicht konnte er froh und leichten Herzens ins Feld ziehen. Neu erwachter Lebensmut schwellte seine Brust, und während er sich über die Tote beugte und zum letzten Male die weiße Hand drückte, sprach er: »Schlafe wohl, Du Reine, und sei auch fortan mein guter Engel!« Entschlossen wandte er sich ab und schritt nach der Tür. In demselben Augenblick vernahm er ein Geräusch, wie vom schnellen Zurückstoßen eines Stuhles stammend, dem das heftige Poltern des umstürzenden Gerätes unmittelbar folgte. Und dann gellte ein durchbohrender Schrei durch das Zimmer, der Angstschrei eines todeswunden Mutterherzens: »Max!« Wie angewurzelt blieb sein Fuß auf dem Boden haften, während er sich blitzschnell umwandte. Die schon nach der Tür ausgestreckte Hand sank herab, und er konnte sich einer tiefen Rührung nicht erwehren, als er die zusammengesunkene Gestalt seiner Mutter gewahrte. Wie war sie doch in dieser einen Nacht hinfällig geworden! Diese gebeugte Haltung, das entstellte Gesicht, der gequälte Blick! Schwankte sie nicht? Mit ein paar raschen Schritten stand Max an ihrer Seite und bewahrte die Greisin vor dem Umsinken. »Mutter,« rief er zärtlich, »wie konnte ich auch Dich vergessen! Verzeihe dem Ungestümen, der nicht schnell genug dem Vaterhaus den Rücken wenden kann!« Während dieser Worte hielt Max sie mit beiden Armen umschlungen, und die Freihoferin lehnte sich müde an des Sohnes Schulter. »Geh dorthin, wohin Dich Dein Gewissen ruft,« sagte die Greisin mit leiser Stimme, »hier ist nicht mehr Raum für Dich!« So standen sie einige Minuten stumm beieinander. Max wußte, wie sich das Herz seiner Mutter zusammenkrampfte, denn er kannte sie nur zu gut. Elisabeths Hinscheiden hatte ihr eine tiefe Wunde geschlagen, die sich kaum geschlossen hatte. Nun traf sie des erschütternden Unglücks Schlag und riß die alte Wunde wieder auf. Zu gleicher Zeit ging auch er noch von ihr, und sie blieb ganz allein zurück. Die kaum gewonnene Tochter, der sie schon nach kurzer Zeit ihre ganze Liebe geschenkt, ja an die sich die rasch Alternde angeschmiegt hatte, sollte ihr ein Trost sein, wenn er selbst gegangen war. Vielleicht hatte sie davon geträumt, wie neues, junges Leben auf dem Freihofe erblühen und die seit Elisabeths Tode einsam gewordenen Zimmer des Wohnhauses erklingen sollten von fröhlichen Worten, Singen, -- Kinderlachen -- -- -- Ach, es verlangte sie nur allzusehr darnach, wenn sie auch an der Fröhlichkeit scheinbar nicht teilnahm. Sie, der die Liebe nur eines Kindes zu wenig war, besaß jetzt keines mehr. Niemand würde ihr, wenn der Krieg ihn behielt, Trost in den letzten Tagen sein und keine liebende Hand ihr einst die Augen zudrücken! Da hob die Freihoferin den Kopf auf, daß Max voll in das gramdurchfurchte Gesicht blicken konnte. »Mein teurer Sohn,« sprach sie mit wiedergewonnener Fassung, während ihre Augen aber in rührender Bangigkeit auf ihm ruhten, »noch einmal: Ziehe dahin! Aber laß Dein Herz nicht anfechten. Wie groß auch die Prüfung sei, sie kommt von ihm, gegen dessen Willen wir uns nicht auflehnen dürfen.« »Sei beruhigt, liebe Mutter,« rief Max fast mit einem Ton des Frohlockens. »Ich darf es nicht verhehlen, daß ich nahe daran war, der Anfechtung zu unterliegen, aber diese da stand mir bei. Und nun bin ich dagegen gewappnet für alle Zeiten!« Ein Seufzer der Erleichterung entfloh den Lippen der Freihoferin. Sie richtete sich in die Höhe, legte die Hände auf das Haupt des zu ihren Füßen niederknieenden Sohnes und segnete ihn. Dann aber war ihre Kraft zu Ende. Sie warf sich an seine Brust, und was ihr bisher im Leben versagt geblieben war, gewährte der Greisin das Schicksal in dieser schweren Stunde als Trost: reichliche Tränen flossen ihr über die Wangen. Max empfand dieses Geschenk als eine Himmelsgabe und beugte sich herab und küßte die Zähren sanft von dem welken Gesicht. Da schlug aus dem Gemurmel vor dem Hause eine Stimme an Maxens Ohr, bei deren Klang er zuerst zusammenzuckte. Dann aber eilte er, einer plötzlichen Eingebung folgend, hinaus und trat wenige Sekunden darauf wieder ins Zimmer, einen sich sträubenden Mann an der Hand führend, den er bis zum Stuhle seiner Mutter geleitete. »Hermann,« sprach er, »ich will Dir jetzt Deinen Edelmut, mit dem Du mir vergolten hast, was ich Dir zufügte, angemessen lohnen, indem ich Dir das Höchste anvertraue, was ich besitze. Hier ist meine Mutter, seid ihr, Du und Dein Weib, fortan Kinder. Pflegt sie, schenkt ihr Eure Liebe, und lasset ihr Herz über Euch aufgehen. Nenne Dich von diesem Augenblick an ihren Sohn, es gibt keinen Würdigerern als Dich!« Mit diesen Worten legte er die Hände beider ineinander und drückte einen Kuß auf die Stirn der Weinenden. Dann riß er das Gewehr an sich, streifte noch einmal mit dem Blick das Zimmer und stürmte hinaus, während der klagende Wehruf hinter ihm herklang: »Mein Sohn, mein Sohn -- --!« 27. Kapitel. Vor dem Freihofe standen etwa dreißig Menschen; außer den Fortziehenden und einigen ihrer Angehörigen ein paar Neugierige. Eine halb verdeckte Laterne huschte hin und her, und das Gespräch wurde leise geführt. Die Männer, die während der Nacht Wache gehalten, hatten nichts Verdächtiges wahrgenommen. Nur einer erzählte, daß er gegen Morgen vorsichtig ein Stück auf der Straße hinausgelaufen wäre, und da sei es ihm gewesen, als wenn er einigemale entferntes Pferdeschnauben durch die schweigende Nacht vernommen habe. Der Beobachter meinte, das könne wohl von einer französischen Patrouille herrühren. Aber der Wahrnehmung wurde kein Glauben beigemessen, denn der Erzähler galt als ängstlich, und seine gereizte Phantasie hatte das Rascheln von Laub im Winde für Rosseschnauben gehalten. Eins aber war beunruhigend, die Tatsache nämlich, daß der Rabensteiner noch nicht zurückgekehrt war. Seit gestern abend harrte man seiner in banger Erwartung, bis zur Stunde aber vergebens. Daß er mit aller Vorsicht vorgegangen sein würde, wußte man von dem Besonnenen, und reiten konnte er, wenn’s not tat, wie der Teufel. Sollte er den Franzosen in die Hände gefallen sein und von ihnen etwa als Spion betrachtet werden? Sein Schicksal fand viel Besorgnis, und nur der Gedanke war tröstlich, daß er die Preußen glücklich erreicht habe, der Franzosen wegen aber nicht zurückkönne. Viele Worte wurden nicht gewechselt, die meisten standen stumm beieinander. Auch die Kirchengutbäuerin hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Friedrich zu begleiten. Während der halben Nacht hatte sie an seinem Bette gesessen und ihn mit zärtlichen Empfindungen betrachtet und sich gewundert, daß er so ruhig schlafen konnte. Sein Lederränzel fand er am Morgen mit Lebensmitteln so vollgestopft, daß die Nähte zu zerreißen drohten und er mehrere Tage von dem Inhalt zehren konnte. Ja, ihre mütterliche Sorge ging so weit, daß sie ihrem Jungen, wie er zum Fortgehen gerüstet vor ihr stand, in die Tasche seines faltigen Rockes eine große Papierdüte gefüllt mit Kamillentee schob, mit dem sie alle Krankheiten erfolgreich zu kurieren pflegte. An die Gefahren, denen ihr Einziger entgegenging, dachte das besorgte Mutterherz in diesem Augenblick weniger als je, nur daran, daß er sie verlassen und sich ihrer Obhut entziehen wollte. Und das konnte sie bis zur letzten Minute noch nicht glauben. Denn er war ja von Kindesbeinen auf gewöhnt, die Mutter für alle seine Angelegenheiten bis ins kleinste sorgen zu lassen, und sie wußte, daß er darin hilflos geblieben war. Friedrich hatte sich dieser Bevormundung stets willig unterworfen, in dieser Stunde aber fühlte sich der Stolz des jungen Kriegers doch etwas verletzt, und er beschloß insgeheim, sich des Kamillentees draußen vor dem Dorfe zu entledigen. Die unermüdlich wiederholten Fragen, ob er sich auch wirklich gesund fühle und ob nicht noch etwas einzupacken sei, beantwortete er zerstreut und war froh, als die Mutter auf sein Drängen zum Abschied endlich ihr wollenes Umschlagetuch um die Schultern schlang und mit ihm auf die Straße trat. Schweigend ging er neben ihr her, während sie in einemfort auf ihn einsprach. Er solle es nicht zu toll treiben, sagte sie, und sich nicht immer vordrängen, die andern wollten auch zeigen, wer sie wären. Bald aber redete sie wieder vom väterlichen Hof. Daß sie mit dem alten Großknecht nun allein regieren müsse, was ja, solange es Winter sei, nicht allzuviel sagen wolle. Wenn aber das Frühjahr käme, dann solle er ans Heimkehren denken. Gerade im kommenden Jahre sei seine Anwesenheit ja so sehr vonnöten, denn für die beiden steifgewordenen Braunen müßten junge Pferde in den Stall, und die ganze weite Koppel hinter dem Berg, die so lange verlassen lag, sollte endlich gepflügt und mit Roggen bestellt werden. Schließlich sei auch der Anbau an den Rinderstall nun nicht mehr hinauszuschieben. Friedrich brummte nur bisweilen ein Ja oder Nein in den plätschernden Redefluß, und damit war die Mutter schon zufrieden. Keiner der Männer fehlte mehr, als sich endlich auch der Freihofer einfand. Rasch wurde er von dem Ausbleiben Konrads unterrichtet, worauf er die Achseln zuckte und zum sofortigen Aufbruch antrieb. Hier und da eine letzte Umarmung, ein wortloser Druck der Hand. »Denke einmal daran,« klang allen vernehmbar die hohe Stimme der Kirchengutbäuerin, »vierzehn Tage vor Weihnachten wird Deine Lieblingsschecke wieder kalben; hoffentlich geht es so gut ab wie das letzte Mal. Halte Dich immer hübsch warm, zwei frische Sacktücher stecken noch im Ranzen.« Friedrich wurde feuerrot; zum Glück konnte es in der Dunkelheit keiner sehen. Er schloß der Mutter mit einem Kusse den Mund und ließ sich von ihr noch einmal herzen. Dann riß er sich los und eilte den schon einige Schritte Vorangehenden nach. »Ich würde noch ein Stück mit Dir gehen, Junge,« klang es ihm hinterdrein, »aber Ihr lauft mir zu schnell, und ich bin in Pantoffeln. Ziehe die roten Müffchen nicht aus!« -- -- Aber der Ermahnte hörte die Stimme nicht mehr, soweit waren die Männer schon entfernt. Rüstig schritten sie auf der Straße dahin und näherten sich dem oberen Dorfausgang. Bald befand sich die zusammenhängende Reihe der weißen Giebel hinter ihnen, und nur noch einzelne Häuser lagen neben und vor ihnen. Vom Osten her stieg ein fahles Licht herauf, und man konnte schon ein kurzes Stück weit die Gegend erkennen. Ueber den Wiesen hingen unbeweglich breite Nebelschwaden von wunderlichen Formen. Die Luft war empfindlich kühl, und an dem rasch heller werdenden Himmel verblichen die letzten Sterne. Der erste Hahnenschrei klang hinter ihnen aus dem Dorfe herauf, sonst aber hüllte sich die Natur noch in lautloses Schweigen. Wie weit sie zu marschieren hatten, bis sie bei der ersten preußischen Vorposten ankamen, wußten sie nicht. Aber weiter als eine halbe Meile entfernt konnten sie nicht stehen. Die Augen scharf offen haltend, marschierten die Männer, um ihre Tritte unhörbar zu machen, jetzt auf den mit Gras bewachsenen Rändern der Straße, die langsam anstieg, um unmittelbar hinter dem Schwedenloch wieder hinabzuführen. Auf der Höhe angekommen, wollten sie einen schmalen Feldweg einschlagen, der rechtsseitwärts der Straße entlang lief. Bis dahin aber mußten sie der Straße folgen, denn die Wiesen zur rechten Hand waren sumpfig. Nur wenige Worte im Flüstertone wechselnd und das Geräusch des tiefen Atmens dämpfend, liefen sie im Gleichtritt hintereinander her. Nur noch wenige Schritte, und sie hatten die Höhe, -- da sprang mit einem Male der am weitesten vorausgehende Schmied hinter einen Baum am Rande der Straße, und gleichzeitig sahen die Männer in kurzer Entfernung vor sich blitzende Bajonette. Wie gebannt standen sie still; sie waren überrascht worden. In demselben Augenblick aber schallte eine drohende Stimme durch die Stille, und die deutsch gesprochenen Worte ließen die Aussprache des Franzosen erkennen: »Halt, Verräter!« Jetzt wuchs auch aus den das Schwedenloch auf der einen Seite umsäumenden Büschen ein Haufen von etwa zwanzig französischen Soldaten hervor, hinter denen im Nebel einige Pferde matt erkennbar waren. Die Gewehre von den Schultern reißend, drängten sich die Männer zusammen. Drohend und jeden Augenblick zum gegenseitigen Aufeinanderstürzen bereit, standen sich die beiden Haufen gegenüber. Ein Windstoß fegte die Nebelwand zurück, so daß es in dem mittlerweile schnell angewachsenen Zwielicht nicht mehr schwer war, das Gelände, auf dem man sich befand, genau zu übersehen und die Vorteile abzuschätzen, die es beiden Parteien bot. Die Franzosen waren in der Uebermacht, aber sie standen auf dem abfallenden Boden, neben dem die Straße wie ein natürlicher Wall hinlief. Dieser Umstand verstärkte die eigene Stellung. Mochten sie es versuchen, den Rand zu erklimmen, manch einem würde bei diesem Unternehmen der von nervigen Bauernfäusten geschwungene Kolben den Schädel einschlagen! Noch standen Freund und Feind tatlos; da sprang der Freihofer auf einen über Nacht draußen stehengebliebenen, hohen Aufsatzwagen zu und rannte ihn mit solcher Kraft auf einen mächtigen Eichbaum, daß die Deichsel krachend zersplitterte. Noch ein Ruck, dann zerriß das die Deichsel umringelnde, eiserne Band, und die Kette mit dem oberen Ende um das Handgelenk schlingend, hielt er den Stumpf wie eine schwere Keule, die in seiner mächtigen Faust eine furchtbare Waffe sein mußte. »Heran!« knirschte er, von grenzenloser Wut gepackt, »und sorgt, daß Euch das letzte Stündlein nicht zu kurz sei für Euer kleinstes Stoßgebet!« Dies hatte sich blitzschnell abgespielt und ohne daß die Franzosen gewagt hätten, sich auf ihn zu stürzen. Da erscholl die rauhe Stimme von vorhin wieder: »Schlagt mir keiner diesen tollen Hund tot, lebendig soll er am Aste baumeln.« Und gleichzeitig trat der Sprecher, ein Offizier von riesenhaftem Wuchse, ein paar Schritte weiter vor und hob den Säbel, um das Zeichen zum Angriff zu geben. In diesem Augenblick schrie der ihm zunächst stehende Schmied schrill auf: »Freihofer, das ist der Mörder Deines Weibes!« Wie eine vernichtende Anklage, die einem furchtbaren Gericht vorausgeht, erklangen diese Worte und warfen in die Seele vieler der Anwesenden jäh das Verständnis für ihren Sinn. Das farblose Gesicht mit dem brutalen Ausdruck des französischen Anführers wurde um einen Schein bleicher; langsam sank der erhobene Säbel herab, und das Kommando zum Angriff erstarb ihm auf der Zunge. Starr ließ er seine schwarzen, stechenden Augen auf den gerichtet, den er instinktiv als seinen Todfeind empfand. Der Freihofer aber stand wie ein Steinbild auf seinem Platze. In seinem Gesicht spielte kein Muskel. Der Kopf war weit vorwärts geneigt, wie bei Menschen, die mit Anstrengung aller Sinne ins Weite sehen. Mit rasender Geschwindigkeit traten Reinerzens gestrige Worte, mit denen er jenen Elenden beschrieb, jetzt wieder an seinen Geist heran. Die Beschreibung stimmte just mit der Erscheinung dieses Franzosen überein, -- aber war es kein Irrtum? Sollte ihm sein Wunsch, für dessen Erfüllung er gern sterben würde, wirklich gewährt werden? Da blitzte es in den Augen des noch Zweifelnden hell auf, und sein suchender Blick blieb auf der linken Halsseite des Franzosen haften, wo dicht unter dem Ohre ein oval geschnittenes Stück Leinwand aufgeklebt war. Von dem Franzosen aber war die Beklemmung wieder gewichen, und ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. In Aufwallung grenzenlosen Übermutes, der aus dem Vollgefühl seiner ungeheuern Stärke herauswuchs, richtete er sich hoch auf und warf herausfordernd den Kopf zurück. Sich noch einmal an seine Leute zurückwendend, befahl er ihnen, sich nicht eher auf die Gegner zu werfen, bis er ihnen das Zeichen dazu gebe. Darauf riß er den Säbel wieder herauf und schrie: »Komm herab, deutsches Schwein, wenn Du den Mut hast mit mir zu kämpfen!« Max stand noch wie vorher unbeweglich. Bei diesen Worten aber kam wieder Leben in ihn. Seine umklammernde Rechte ließ den Wagenbaum los, daß dieser dumpf aufschlagend und mit Kettengeklirr zu Boden fiel, und dann sprang er mit beiden Füßen zugleich von der Böschung hinab. Der lange Jahre in der Scheide gebliebene Säbel seines Großvaters blitzte gerade noch rechtzeitig auf, um den ersten Hieb des Franzosen abzuwehren, der mit fürchterlicher Erbitterung auf ihn eindrang. Hageldicht sausten die Schläge des kampfgeübten Soldaten herab, daß Max seine ganze Geschicklichkeit und Aufmerksamkeit aufbieten mußte, um sich ihrer zu erwehren. Nach wenigen Gängen zeigte sich aber schon der Vorteil der überlegenen Kaltblütigkeit, mit der er focht, und der Franzose war einige Male nahe daran, seine hitzige Kampfesweise zu büßen. In respektvoller Entfernung standen die beiden Parteien dahinter und sahen auf ihre kämpfenden Führer, deren Klingen ohne Unterbrechung aufzuckten. Da klang durch den hellen Erzklang der aufeinanderschlagenden Säbel ein Mißton. Man vernahm, wie etwas durch die Luft flatterte und dann klirrend niederfiel. Der Franzose erhob sich ein Stück aus seiner weit ausgelegten Haltung, warf einen raschen Blick voll Ingrimm auf den stehengebliebenen Stumpf seines Säbels und hob in demselben Augenblick instinktiv wieder die zerbrochene Waffe, als wenn er damit den unvermeidlichen Todesstreich abwehren könne. Mit hochgeschwungener Klinge holte Max zum furchtbaren Schlage aus. Unwillkürlich duckte sich der Wehrlose nieder, -- da klirrte, von seines Gegners Hand geschleudert, dessen Säbel neben ihm zur Erde, und als der Franzose die Augen hob, stand ihm dieser mit herabgesunkenem Arme und ohne Waffe gegenüber. Verständnislos starrte er dem Gegner ins Gesicht, den nur eine unerklärliche Anwandlung von Großmut zu dieser Tat bewogen haben konnte. Aber nur während der kurzen Spanne Zeit, die zwischen zwei Pulsschlägen liegt, blieb ihm dieser Trost. Dann bemerkte der Franzose, wie die Augen des andern blitzschnell die nur wenige Schritte betragende Entfernung maßen, die zwischen ihnen und dem Rande des ihm seit gestern bekannten Abgrundes lag. Er dachte daran, wer dieser Mann ihm gegenüber war, der seine unnatürliche Ruhe in diesem Augenblick bewahrte, -- und alles Blut wich aus seinem Gesicht. Sollte er jetzt seinen Leuten das Zeichen zum Angriff geben? -- -- -- Nein, in Dreiteufelsnamen nein! Dann wäre auf die eisigen Züge dieses Verhaßten ein höhnisches Lächeln getreten, das ihn der Feigheit geziehen hätte. Deshalb scheuchte er auch mit einem wilden Fluche einen seiner Leute zurück, der herbeigesprungen war und ihm seinen eigenen Säbel darbot. Max hatte den Blick wieder auf den Gegner gerichtet und alsbald erkannt, daß dieser seinen blitzschnell gefaßten Plan erraten hatte. Eine Sekunde lang standen sie sich einander gegenüber; dann begann das gräßliche Ringen, -- es war der Kampf zweier Riesen! Der Körper des Franzosen war kraftvoll und wie aus Stahl geschmiedet, dazu war er sehnig und geschmeidig wie ein Leopard; der Deutsche war fast ebenso hoch gewachsen, aber seine Schultern waren breiter, und er glich einem verwundeten Bären, der sich zum Angriff aufgerichtet hat. Max hatte schon während des Fechtens eine an sich noch nie gekannte Ruhe gespürt, jetzt aber fühlte er seine Kaltblütigkeit noch verstärkt. Sein Hirn arbeitete in ruhigem Gleichmaß, als wenn er daheim auf dem Hofe stünde und das Herauslassen des Viehes aus den Ställen zum Austrieb auf die Weide leite. Und doch hatte er die tiefe Empfindung, als ob dieser Kampf sein Leben fordern müsse -- -- Da griffen beide nach einander, der Franzose mit dem blitzartigen Prankenschlag des Raubtieres, Max dagegen faßte tastend nach den Ellenbogen des Gegners. Von neuem stockte während einer Sekunde alle Bewegung, als wenn die Männer sich wie im Spiel berührt hätten. -- Da, -- ein fürchterlicher Ruck! Max versuchte, sich vor dem Fall zu bewahren, umsonst; dröhnend stürzte er zu Boden und riß seinen festumklammerten Gegner mit sich nieder. Mit einer schnellen Bewegung gelang es ihm, den Franzosen unter sich zu bekommen, aber schon rollten sie wieder über den Rasen und hielten sich im nächsten Augenblick, auf die Knie erhoben, umschlungen. Da spannte der junge Bauer seine ganze Kraft an und drückte den sich heftig sträubenden Franzosen so hintenüber, daß es den Anschein hatte, als wenn dessen Wirbelsäule davon zerbrechen müsse. Langsam fiel der Franzose auf den Rücken, -- um den auf ihn Stürzenden aber sofort wieder zu entgleiten. So rangen sie während mehrerer Sekunden in unverminderter Erbitterung. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze entzog sich der Franzose allen ihn zu erdrücken drohenden Umarmungen, und vermöge seiner blitzschnellen Bewegungen gelang es ihm, wiederholt die Oberhand über seinen Gegner zu bekommen. Und während dieses Ringens rollten sie die feuchte Rasenlehne ein Stück hinab, daß ein paar französische Soldaten sich zwischen den Ringenden und den Rand des Steinbruches aufstellten, um sie vor dem Hinunterstürzen zu bewahren. Noch einmal wildes Schlagen des Rasens mit den Füßen, ein Zubodendrücken mit umklammernden Armen, Entweichen, Aufrichten und Niederstürzen, -- dann sprang einer von ihnen auf die Füße: es war der Deutsche. Im nächsten Augenblick mußte auch der Franzose aufschnellen; aber es gelang ihm nicht mehr. Zwei Hände hielten den wild um sich Schlagenden mit eisernem Griffe fest, um ihn gleich darauf mit einer furchtbaren Kraftanstrengung in die Höhe zu reißen. Alle Muskeln bis zum zerspringen angespannt, hielt der Freihofer den Körper seines Feindes über seinem Haupte, währenddessen es aussah, als ob er unter der ungeheuern Last und infolge des überschnellen Aufrichtens hintenüberbrechen müsse. Aber nur einen Augenblick währte diese Spannung, dann hatte er die Herrschaft über seinen Körper wiedergewonnen. Mit übermenschlicher Kraft stieß er den Franzosen von sich, der, über die Köpfe seiner Leute hinwegfliegend, hinter dem Rande des Steinbruches lautlos verschwand. Ein dumpfes Aufschlagen drang herauf, ein Geräusch, wie von dem Rutschen eines schweren, weichen Gegenstandes auf dem Gestein, dann war alles still. Den Lauschenden aber stockte der Atem unter der blitzschnell sich ihnen aufdrängenden Vorstellung, daß der ihren Augen soeben Entschwundene ins Bodenlose stürze. Noch hielt das Fürchterliche alle gelähmt, als von fernher der Hufschlag eines auf der Straße herangaloppierenden Pferdes erklang. Und mit diesem Laute kehrte Aller Besonnenheit in die Wirklichkeit zurück. Ihres Führers plötzlich beraubt, von dem Schrecken noch halb betäubt und durch das Nahen des vermutlichen Feindes kopflos gemacht, eilten die Franzosen zu den Pferden und sprengten querfeldein in den Nebel hinein. Der letzte von ihnen, ein junger Bursche, dem kaum der erste Flaum auf den Lippen sproß, hob rasch, bevor er davoneilte, die Mündung seines Gewehres und schoß ohne zu zielen aufs Geratewohl ab. Ein dumpfer Knall, ein schwacher Feuerstrom, wie von verdorbenem Pulver herrührend, dann wandte auch er sich zur Flucht. Beim Aufblitzen des Schusses griff der Freihofer hastig nach der Brust, während sich auf seine Augen gleichzeitig undurchdringliche Dunkelheit senkte. Aus der ihn umgebenden Nacht aber trat ein liebliches Bild vor seine Seele: Er stand an einem reißenden Fluß. Das Ufer, auf dem er sich befand, glich einem unfruchtbaren Ödeland, drüben aber breitete sich ein prächtiger Garten aus mit maienfrischem Rasen und herrlichen Blumen. Ueber den Fluß führte eine Brücke, an deren Ende auf dem jenseitigen Ufer Maria stand, die ihm winkte und jubelte und rief. Da trat ein seliges Lächeln auf das Antlitz des Freihofers; er breitete die Arme aus und fiel langsam vornüber auf den Rasen. Erschrocken sprangen die Freunde hinzu, richteten den Gefallenen auf und entblößten seine Brust. Ein kleines, kreisrundes Loch wurde auf der Haut sichtbar, gerade auf der Stelle des Herzens. Da legten sie ihn, ohne ein Wort zu sprechen, behutsam auf dem Rücken in das Gras, und jeder vermied es, dem andern ins Gesicht zu sehen. Durch den Lärm waren die Leute in den nächstliegenden Häusern längst erwacht, bei dem Knall des Schusses aber eilten einige voll Unruhe herbei. Unter diesen befand sich auch Mutter Lehnhardt. Bestürzt betrachteten die Ankommenden den am Boden Liegenden und traten dann wortlos zur Seite. Die Greisin aber setzte sich neben dem Verwundeten nieder und zog seinen Kopf auf ihren Schoß. Im Osten hatte sich unterdessen der Himmel blutigrot gefärbt, und die ersten Sonnenstrahlen waren über die noch schlummernde Erde geglitten. Jetzt ward auch der glühende Ball am Himmelsrande sichtbar, der rasch heraufwuchs und sein flutendes Licht auf die Fluren ergoß. Der Nebel zerriß, und die weite Landschaft wurde erkennbar. Der junge Tag brach an mit seiner ganzen, sieghaften Schönheit, und alles erwachte zu neuem Leben. Nur der Mann auf dem Rasen machte seine letzte Rechnung auf Erden! Noch einmal schweifte sein Blick in die Weite. Drüben stand in goldigem Glanze das Schloß seiner Väter. Aber seine trutzigen Mauern waren zerfallen, und kein verjüngender Sonnenaufgang gab ihm seine Festigkeit wieder. Nur ein kleiner Teil, die vorspringende Mitte, stand noch, und die weißen Quader leuchteten wie einst über das Land. Aber ach, wie lange würde es dauern, dann stürzten auch die letzten Mauern zusammen, und ein wüster Trümmerhaufen bezeichnete die Stätte, auf der einst in Pracht und scheinbarer Unvergänglichkeit auf felsigem Grunde ein stolzes Menschenwerk gestanden hatte. Jahrhunderte hatte der Bau ins Land ziehen sehen. Lieblicher Sonnenschein hatte ihn unzähligemale umschmeichelt, brausende Naturgewalten drohend umbrandet. Zeiten segensreichen Friedens waren an ihm vorübergegangen, und auf wildes Kriegsgetümmel und ohnmächtige Wut seiner Angreifer hatte der steinerne Koloß mit stummer Verachtung herabgesehen. Nun war auch seine Zeit abgelaufen, und der vorgeschrittene Verfall führte die eindringliche Sprache, daß auf Erden alles vergänglich ist! Nach einer Reihe von Jahren, früher oder später, aber einmal doch, werden auch die letzten, stummen Zeugen entschwundener Pracht und menschlichen Fleißes nicht mehr sein. Die noch nicht zertrümmerten Steine werden Häuser bauen helfen, in denen Menschenfreud und Menschenleid geboren wird, lacht und weint und stirbt, und die geborstenen Säulen und Quader zerfallen endlich in Staub und vermischen sich wieder mit der Erde, von der sie gekommen sind, und deren mütterlicher Umarmung sie sich nur zu lange entzogen hatten. Dann geht die Pflugschar wieder über das Land und wirft die köstlich duftende Ackerkrume auf, und saurer Schweiß tränkt den Boden. Bis endlich auf dem Rasen Spiel und Sang anheben, und die Halme sich biegen unter den Füßen der Tanzenden. So in stetem Auf- und Niedergang, Geburt, Hinaufeilen auf den Gipfelpunkt des Lebens, mühsames Hinabklimmen oder Hinabsturz -- und Tod: das ist das wechselvolle, geheimnisumwobene Spiel des Werdens und Vergehens alles Irdischen, das sind die urewig gleichen Menschenschicksale! Eine zermalmende Traurigkeit beschleicht bei dieser Betrachtung das Gemüt, gegen die menschlicher Witz sich vergebens sträubt und menschliche Kraft ohnmächtig ankämpft. In diesem Leid tröstet und erquickt allein der aus starkem Herzen quellende Glaube an die Barmherzigkeit und Ewigkeit der Himmel! Und dann gedachte der junge Tiefenbach seines Geschlechts. In langen Reihen standen in sturmfesten Kellergewölben des Schlosses die Särge seiner Ahnen. Viele von ihnen waren wohl mit dem Schwerte in der Faust gestorben und schlummerten in unbekannter Erde. Er war der letzte Sproß. Jung war er und kraftvoll, und doch rüstete er sich schon zur Wanderung nach jenem unbekannten Land, aus dem niemand wiederkehrt. Nun stand der Name Tiefenbach nur noch auf zwei alten, müden Augen -- -- -- Aber er ging gern von hinnen, denn er ging nach einem gewonnenen Streit gegen den Feind des Landes und den Beflecker seiner Ehre. Das ist für Menschen, die beim Heimgange eines Teuern großen Schmerz erlitten, das Köstliche, daß sie in jenen unbekannten Gefilden von einer ihrer harrenden, liebenden Seele an die Hand genommen werden. So mußte er denn früher scheiden als er gedacht; aber noch waren es ihrer zwölf, die die Reihen der für die Freiheit Kämpfenden verstärkten. Und bei diesem tröstenden Gedanken trat wieder das glückliche Lächeln auf die Züge des schwer Atmenden, und eine neue Ohnmacht umfing seine Sinne. Jetzt tauchte auch der galoppierende Reiter vor einer Biegung der Straße auf und näherte sich rasch der Gruppe. Es war Konrad Hartmann. Schon von weitem winkte und rief er. Hastig sprang er vom Pferde und fragte die schweigend Herumstehenden mit lauten Worten nach der Ursache des Schusses, den er schon in weiter Ferne vernommen hatte. Mit fliegendem Atem wurde er unterrichtet. Da fielen seine Augen auf den wie in friedlicher Ruhe schlummernden Freund. Ein einziger Blick, und er hatte alles verstanden. In heftigem Schmerze griff er mit beiden Händen nach der Stirn und blieb eine Sekunde lang mit verhülltem Antlitz stehen. Dann eilte er zu dem Liegenden, faßte ihn an der Schulter und rüttelte sie und schrie dem Ohnmächtigen ins Ohr: »Vernimm erst noch, was ich Dir sage, mein Freund, es mag Dir eine erquickende Zehrung auf die Reise sein!« Der Angerufene schlug langsam die Augen auf und sah den Freund verständnisvoll an. »Die Sache steht gut,« rief Konrad ihm zu, »heute oder morgen werden die deutschen Hörner beim Blasen der Siegesfanfaren zerspringen. Der Blücher haut die Franzosen in Fetzen. Hörst Du’s, Max, der Blücher! Und in den sächsischen Regimentern ist ein Tumult ausgebrochen. Sie wollen nicht mehr für den Kaiser fechten, sondern zu den Preußen übergehen!« Da erstrahlten die schon brechenden Augen noch einmal in sonnigem Leuchten, und der Sterbende nahm die rasch entfliehenden Kräfte zusammen und sprach mit leiser, vernehmbarer Stimme: »Der Freihof gehört dem Hermann, und -- sagt’s der Mutter, -- der Schimpf ist getilgt!« Dann fiel der während der letzten Worte mühsam gehobene Kopf wieder in Mutter Lehnhardts Schoß zurück, und ein tiefer Seufzer entrang sich den bleichen Lippen. Konrad ließ sich neben dem Freunde auf das Knie nieder und drückte ihm leise die Augen zu, während die Umstehenden in tiefer Ergriffenheit die Blicke zu Boden schlugen. * * * * * Vorwärts, soweit das Auge reichte, dehnte sich die weite Ebene von Leipzig aus. Obwohl die Erde von dem Flammenkuß des leuchtenden Tagesgestirns eben erst erwacht war, stiegen pyramidengleich schon durchsichtige Staubwolken zum Himmel empor, deren düsteres Grau, durchglänzt von dem leuchtenden Gold der Sonnenstrahlen, sich mit der tiefblauen Färbung des Äthers vermählte. Das waren die ersten Anzeichen, daß der Aufmarsch der Regimenter von Freund und Feind zur Schlacht nach dem gestrigen Tage der Ruhe begonnen hatte. Als wenn ein ungeheures Wesen seine tausendfach gegliederten, tausend Arme zu gleicher Zeit rege. Zum letzten Male rauschte der Vorhang des großen Schlachtentheaters in die Höhe, -- morgen fiel er, und hinter ihm sank einer der gewaltigsten Abschnitte deutscher Geschichte hinab in das Meer der Weltgeschichte! Die eisernen Würfel rollten um alles über die zerstampften, blutgetränkten Gefilde Leipzigs und warfen für Deutschland achtzehn Augen. Einer der Großen der Erde wurde von dem wandelbaren Geschick, nachdem es den beispiellosen, sieghaften Aufflug seines Genies lange Zeit wunderbar behütet hatte, in diesen Tagen verlassen. Aber selbst sein Volk vermag ihm bei dem Heraufsteigen seiner Manen nur Bewunderung gemischt mit Grausen zu zollen; eine höhere Empfindung kann das menschliche Herz für ihn nicht bewegen. Sein Lebensschiff trieb auf einer Woge von Blut und bittern Tränen. Denn er war ein Zerstörender, Niederreißender. Der aber, dessen Lebensfaden Klotho kaum zwei Jahre darauf zu spinnen begann, und dessen Genius später in Deutschland wie ein leuchtendes Phänomen langsam emporstieg, bis es, wie einst jenes, über die ganze Erde hinweg gesehen ward, dieser Große war ein Aufbauender, Schaffender! Anfangs alle bis auf seinen König zum Gegner, schlug die Stimmung infolge seines weitschauenden Wirkens und seiner kühnen und von glänzendem Gelingen gekrönten Taten allmählich um, und aus den heftigsten seiner Widersacher von einst wurden unwandelbare Verehrer seines Kurses. Aus einem Wirrwarr sich heftig befehdender Kräfte erstarkte unter seinem Einfluß ein bewußtes Streben nach nationalen Hochzielen, und der nie ganz ausgeklungene, märchenschöne Traum trat endlich in plastischer Schärfe wieder vor die Seele des ungestüm seine Verwirklichung fordernden deutschen Volkes: der große, der gewaltige, -- der Kaisergedanke! Und als nach Jahren brausender Gährung der einstmalige Tummelplatz hoher Ideen und doch gleichzeitig engherziger Empfindungen ihm für sein Riesenwerk hinreichend bestellt erschien, da schweißte der Titan mit weit über Europas Grenzen hinaus hallenden Hammerschlägen das zerstückelte Deutschland zusammen. Hinter dem schwärzlich sich ballenden Rauche der dröhnenden Kanonen stieg die schimmernde Morgenröte des neuen deutschen Reiches verheißungsvoll empor, und in das Wimmern und Ächzen der Verwundeten, in das Seufzen und Beten der Sterbenden mischten sich Posaunentöne, feierlicher Glockenklang und der stürmische Jubel der Ueberlebenden, denn Deutschland hatte, ja es hatte wieder -- einen Kaiser! Zweimal führte der Erzfeind im Schilde, Deutschland zu zersplittern und zu vernichten, und zweimal ging es siegreich und schließlich geeint und in seinen höchsten Idealen erstarkt aus dem aufgezwungenen Kampfe hervor. Wie später auf Frankreichs Boden, gingen damals auf dem grünen Plane vor Sachsens alter Lindenstadt Tausende deutscher Männer und Jünglinge freudig in den Tod. Sie starben, um kommenden Geschlechtern die Freiheit und Unabhängigkeit des Heimatbodens zu sichern. Heil, dreimal Heil, dir mein deutsches Vaterland, zu solchen Heldensöhnen! -- Da sprang der Rabensteiner auf. Sein Gesicht war mit hellem Rot übergossen, und sein Auge glühte in edlem Feuer: »Was steht Ihr noch länger müßig? Hebt den Leichnam auf, tragt ihn hinab ins Trauerhaus und tröstet die tiefgebeugte Mutter. Dann aber eilet von Hof zu Hof, von Haus zu Haus und fordert die Männer, die Frauen und Kinder auf zur Totenschau, auf daß mit Tränen der Wehmut und des Stolzes reichlich genetzt werde der gemeinsame Hügel, unter dem zwei Helden schlummern, die für ihre Ehre und die deutsche Freiheit in den Tod gingen.« Dann stellte er sich vor die Männer: »Euerm Führer war es als Ersten vergönnt, für die heilige Sache sein Herzblut dahinzugeben. Wohlan, Freunde,« fügte er frohlockend hinzu, »so laßt es nun mich sein, der Euch den Weg weist, zu den siegenden Fahnen der deutschen Brüder!« Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Sonst wurde die teilweise uneinheitliche Schreibweise, insbesonde der großen Umlaute, wie im Original beibehalten. Korrekturen: S. 231: bekommenen → beklommenen ohne den {beklommenen} Eindruck der Seele S. 325: Sternschuppen → Sternschnuppen zerflattern wieder wie {Sternschnuppen} *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 67303 ***