The Project Gutenberg eBook of Nachttänze der Indianer, by B. Traven
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Title: Nachttänze der Indianer
Author: B. Traven
Release Date: January 1, 2022 [eBook #67067]
Language: German
Produced by: Jens Sadowski. This file was produced from images made available by Heidelberg University.
*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACHTTÄNZE DER INDIANER ***
Nachttänze der Indianer
Von B. Traven, Tamaulipas (Mexiko)
In: Das Buch für alle. Stuttgart, 1926, H. 7, S. 156-157.
Es war an einem Spätnachmittag im November und sehr heiß. Ich saß
vor meiner Hütte und las.
Plötzlich kommt ein Indianer, mein Nachbar, angeritten, steigt ab, setzt
sich zu mir, und nach einer kurzen Einleitung kam mein rothäutiger Nachbar
zum Kernpunkt seines Besuches. „Wir machen heute abend Tanzen bei mir.
Wir haben Musica, auch ich werde schön spielen, Guitarra, ich habe es
gelernt fünf Tage. Wir machen viel Spaß. Sie sind hier so allein und so
sehr traurig, Señor.“
Ich war keineswegs traurig. Im Gegenteil, ich war überaus glücklich,
weder Straßenbahnen nachjagen noch vor Automobilen fliehen zu müssen,
noch Telephongerassel hören noch von der elektrischen Klingel mich verrückt
machen lassen zu müssen. Aber wenn man keine indianische Köchin
ins Haus nimmt, so ist man, nach Ansicht der Indianer, unbedingt traurig.
Mir fehlten nur die acht Pesos, die eine Köchin monatlich als Lohn haben
möchte.
„Darum möchte ich Sie einladen, kommen Sie herüber zu unserem Tanz.
Sie können bei mir zu Abend essen.“
„Kommen hübsche Mädchen hin?“
„Hübsche, Señor? Hübsche? Die allerhübschesten, die hierherum wohnen,
kommen alle.“
So machte ich mich denn bei Sonnenuntergang auf den Weg, um noch
vor der Nacht, die unheimlich rasch hereinbricht, bei dem Nachbar zu sein.
Seine Hütte lag auf demselben Höhenzuge, auf dem meine Höhle lag,
aber er wohnte noch abgeschiedener im Dschungel als ich. Warum er sich
wohl so tief verkrochen haben mochte?
Der Platz war idyllisch. Etwa zwanzig riesige Bäume standen über die
Buschlichtung verstreut, die eine Art Hochfläche bildete, von der aus man
weit über das flache Dschungelland blicken konnte. Die Bäume hatten meterlange
graue Moosbärte. Sie sahen aus wie sehr lustige und vergnügte
alte Herren.
Zwei Indianer mit ihren Frauen waren schon da. Nachdem die sehr
höfliche Begrüßung vorüber war, wurde ich aufgefordert, in die Hütte zu
kommen und zu Abend zu essen. Es gab schwarze Bohnen, Tortillas und
schwarzen Kaffee.
Inzwischen kamen weitere Gäste, nur Indianer. Ich war der einzige
Weiße und war nur deshalb eingeladen worden, weil ich ein Mitbewohner
dieses wilden Dschungelbezirks war.
Die Indianer kamen auf Pferden, Eseln oder Maultieren geritten. Viele
hatten keine Sättel, sondern nur eine Matte. Alle brachten ihre Frauen
und Kinder mit. Manchmal saßen Mann, Frau und drei Kinder auf demselben
Pferde, während die Frau noch einen Säugling im Arm hielt. Die
Indianerfrauen sitzen nur in seltenen Fällen, wenn es gar nicht anders geht,
nach Männerart auf dem Pferde. In einem umgehängten Basttäschchen
hatten sie Tortillas, falls sie Hunger bekommen sollten, denn getanzt wird
bis Sonnenaufgang. Tortillas sind kleine dünne Pfannküchelchen aus Mais,
der auf einem Stein zerrieben wird. Anderes Brot mögen die Indianer
nicht essen.
In einem Sack hatten die Frauen ihre Musselinkleider und Halbschuhe
aus Lackleder mit hohen Absätzen. Bei der Ankunft waren sie entweder
barfuß oder hatten schlichte Sandalen an, und gekleidet waren sie in billigen
Kattunkleidern.
Sobald sie von den Reittieren abgesessen waren, verkrochen sie sich in
einen Winkel der Hütte oder hinter die Hütte und zogen sich um. Dann
wuschen sie sich noch einmal, wobei sie eine stark nach Patschuli und Moschus
riechende Seife benutzten, lösten ihr langes rabenschwarzes Haar
und kämmten es eine halbe Stunde lang durch. Nachdem sie Blumen
hineingesteckt hatten, ließen sie es während der ganzen Nacht offen.
Der Vollmond war glänzend aufgegangen. Mit majestätischer Ruhe
glitt er über den sternbesäten Nachthimmel.
Nach und nach kamen die Frauen hervor, an ihren dünnen Gewändern
die Falten herunterstreichend. Sie fühlten sich zuerst ein wenig fremd in
den modischen Festkleidern, die kurz waren, kurze Ärmel hatten und Hals
und Nacken frei ließen.
Manche der Frauen waren kaum vierzehn oder fünfzehn Jahre alt,
hatten aber schon ihre Säuglinge bei sich. Die keine hatten, hofften, bald
welche zu bekommen.
Der Gastgeber hatte einige Bretter über morsche Kisten gelegt, damit
die Damen sitzen konnten. Die Männer standen schwatzend herum. Sie
hatten sich nicht umgekleidet, weil sie nichts zum Umkleiden besaßen. Sie
trugen ihre üblichen gelben oder blauen Zwirnhosen, ein weißes oder
farbiges Hemd ohne Kragen, Sandalen oder Straßenstiefel und ihren
großen spitzen Strohhut. Jacken oder Westen hatten sie nicht. An deren
Stelle hatten manche von ihnen braune oder rote Wolldecken mitgebracht,
denn die Nächte werden oft kühl.
Die Frauen hatten große, schwarze Baumwolltücher, die sie um die
Schultern legten. Diese Tücher dienen als Hut, als Schleier, als wärmendes
Umschlagtuch, häufig auch als Taschentuch und als Windel für die Säuglinge
und zusammengefaltet als Kopfkissen, wenn die schweren Wassereimer
vom Fluß heraufgeschleppt werden müssen.
Die Musiker hatten gleichfalls ihre Bohnen und ihren Kaffee bekommen.
Darauf drehten sie sich eine Zigarette, und als sie aufgeraucht war, begannen
sie zu spielen. Mein Nachbar spielte vorläufig noch nicht, er wollte
erst tanzen. Denn er hatte eine sehr hübsche Frau, die von allen am elegantesten
gekleidet war. Sie war noch keine zwanzig Jahre alt, hatte aber
schon drei Kinder. Ihr ältester Sohn war fünf Jahre alt. Im Laufe der
Nacht zeigte er sich als ausgezeichneter Solotänzer und Zigarettenraucher.
Seine Mutter war die einzige Person unter allen Anwesenden, die nicht
rauchte. Sonst rauchte alles, was mehr als drei Jahre alt war.
Als die Musik zu spielen begann, wurde sofort losgetanzt. Das Zögern
und Zieren, das die erste Stunde einer Tanzfestlichkeit oft wie eine Begräbnisfeierlichkeit
erscheinen läßt, kennen diese Leute nicht. Man ist gekommen,
um zu tanzen, also wird getanzt. Ihnen ist Tanzen keine Verführung,
noch viel weniger etwas, das sich mit der Würde eines Menschen
nicht verträgt. Es waren Frauen da mit ihren Kindern und mit ihren
Enkelkindern, die auch schon wieder Kinder erwarteten, während die
werdende Urgroßmutter selbst noch einen Säugling an der Brust liegen
hatte. Und diese lebenstrotzende Urgroßmutter tanzte nicht weniger oft
und nicht weniger reizvoll als die fünfzehnjährigen Frauen und Mädchen.
Die Frauen säugten ihre Kleinen, ohne irgendwelche Scham dabei zu
zeigen. Das geschah so natürlich, so unverhüllt, als ob einem Kind eine
Milchflasche gereicht würde. Hatten sich die Kleinen sattgetrunken, dann
wurden sie in das schwarze Baumwolltuch gehüllt, auf die Erde gelegt und
unter die Bank ein wenig nach hinten geschoben, damit man sie nicht mit
den Absätzen der Schuhe treffen konnte. Die Kleinen schliefen dann ruhig
drauflos bis gegen Mitternacht, dann meldeten sie sich wieder und fanden
abermals reichliche Milchvorräte vor, obwohl die Mütter keinen Tanz versäumt
hatten.
Weiß man, was auf dem Erdboden im tropischen Dschungel, auch wenn
er gelichtet ist, besonders zur Nachtzeit, herumkriecht, so überläuft es einen
eiskalt, wenn man die kleinen Würmchen auf der Erde liegen und schlafen
sieht. Aber der Indianer macht sich solche Gedanken nicht. Wenn dem Kind
etwas zustößt, so ist es eben ein unvermeidliches Unglück, das man aus
tiefster Seele beklagt und beweint.
Die größeren Kinder tummelten sich eine Weile herum, dann wurden sie
müde, legten sich auf die blanke Erde neben die Säuglinge, zogen die Knie
so hoch sie konnten und schliefen wie kleine Ratten. Wenn der Vater eine
Decke hatte, wurde das Kind eingewickelt, bis das nächstältere müde ankam,
um hinzugewickelt zu werden. War keine Decke da, dann mußte die
zerfetzte Reitmatte genügen.
Bis gegen neun Uhr kamen immer weitere Gäste angeritten. Auf mich
machte es immer einen seltsamen Eindruck, wenn plötzlich eine Indianerin
mitten in der Musik oder im Tanzen anhielt, einige Sekunden in die Nacht
hinauslauschte und dann sagte: „Es kommt wieder ein Paar. Wer mag
es sein?“
Nach einiger Zeit erschien das angekündigte Paar. Sehen konnte man
die Ankömmlinge nicht, hören noch viel weniger, denn ringsum war alles
dichter Busch. Aber die Gabe der Wahrnehmung aus der Ferne ist bei
einigen Stämmen sehr stark ausgebildet.
Die Musik spielte alles nach dem Gehör. Ab und zu spielte der Geiger
die Gitarre und der Gitarrespieler die Geige. Wenn die Musiker selbst
tanzen wollten, ergriff einer der Indianer das Instrument und spielte,
vielleicht nicht ganz so gut wie die Musiker, die natürlich keine Berufsmusiker
waren, sondern ebensogut wie alle übrigen Männer als Köhler
und Holzhauer ihr Brot verdienten. Auch mein Nachbar beeilte sich zu
zeigen, was er in den fünf Tagen gelernt hatte. Ich wußte gut, daß die
Gitarre nicht länger in seinem Hause gewesen war, denn ich sah ihn damit
kommen, als er sie sich ausgeliehen hatte. Jemand hatte ihm gezeigt,
wie das Instrument anzufassen sei, ihm einige Griffe beigebracht, und das
war alles. Was er jetzt leistete, war erstaunlich. Er hatte zwar nur die Geige
zu begleiten, aber auch das will gelernt sein. Manchmal vergriff er sich, doch
fand er sich immer wieder schnell zurecht. Der eigentliche Geiger war ein
schmächtiges Bürschchen. Er tanzte seltener mit den Mädchen und zog es
vor, Sologrotesktänze zu veranstalten, die so urkomisch waren, daß die
Indianer zum Bersten lachten. Gespielt wurden amerikanische Onesteps
und Foxtrotts, ferner Walzer, die im altväterlichen Polkaschritt, nur viel
langsamer, getanzt wurden. Der Rundwalzer ist ganz unbekannt. Dann
tanzte man eine Art Rheinländer. Hin und wieder kam der Tanz, der mich
besonders interessierte, ein Originaltanz der mexikanischen Indianer. Ich
habe denselben Tanz hier bei Vögeln in der Balzzeit gesehen.
Die Musik hat sich in den Jahrhunderten geändert und den modernen
Musikinstrumenten angepaßt. Der Rhythmus jedoch, die Schritte und die
Absicht sind noch dieselben. Ein Teil des Tanzes wird von Gesang begleitet.
Während des Tanzes nähern sich die Paare und entfernen sich, berühren
sich aber nie, nicht einmal mit den Händen, sondern tanzen girrend und
lockend voreinander herum. In bestimmten Zwischenräumen setzt die Musik
aus, und die Musiker sowie diejenigen Männer, die keine Tänzerinnen
haben oder nicht tanzen, ersetzen die Musik durch Singen. Dieses Singen
geschieht auf der höchsten Höhe der menschlichen Stimme und ist eigentlich
kein Singen, sondern ein sehr taktmäßiges, jedoch schrilles und kreischendes
Modulieren von Tönen, die kaum etwas Menschliches an sich haben. Es
überkommt einen ein Grauen, wenn man ganz allein zwischen Indianern
um Mitternacht im Dschungel weilt, ungezählte Meilen von dem nächsten
weißen Menschen entfernt, und diesen unheimlichen Gesang hört. Ich
fühlte dabei, daß ich in einer anderen Welt lebte, daß Zehntausende von
Meilen mich von meiner Rasse trennten.
Ununterbrochen wurde getanzt. Die Pausen zwischen den einzelnen
Tänzen waren gerade lang genug, um einen Schluck Wasser zu trinken.
Nichts anderes wurde getrunken als Wasser, das von zwei Burschen in
einem Eimer aus einem Regenpfuhl herbeigeschleppt wurde, sobald der
Eimer leer war, was alle Augenblicke der Fall war. Jeder Tanz wurde
so lange gespielt, bis die Tänzer so ermattet waren, daß sie ihre Tänzerinnen
zu der Bank führen mußten.
Ab und zu lief den Tanzenden ein Schwein zwischen die Beine, während
ein anderes sich an einem Holzsattel, der auf der Erde lag, den Rücken
schabte und ein drittes, behaglich grunzend, sich in dem Schlamm wälzte,
der sich von dem ausgespuckten Wasser und den weggeschütteten Kaffeeresten
gebildet hatte.
Ein Kind begann leise zu weinen. Sofort ließ die Mutter ihren Tänzer
stehen und lief zu dem winzigen Bündelchen, das auf der Erde sich bewegte,
wickelte es aus, knöpfte ihr Kleid weit auf, setzte sich auf die Bank, gab dem
Kind zu trinken und sah dabei den Tanzenden zu, denen sie lustige Scherzworte
zurief.
Die jüngeren Frauen und Mädchen waren mir gegenüber anfangs ein
wenig scheu. Als sie aber sahen, daß ich nicht bissig war, beim Tanzen
die Beine genau so bewegte wie ihre Stammesgenossen, auch nur Hose,
Hemd und Hut hatte und meine Zigaretten verschenkte, bekamen sie Zutrauen.
Die Urgroßmutter tanzte am reizvollsten. Ihr Gesicht sah aus wie
zerknülltes und zerknittertes schwarzbraunes Leder, ihre Augen waren
schwarz wie Pech, ihr langes, offenes, gesträhntes Haar war ölig, und ihre
Haut strömte einen scharfen, nicht angenehmen Geruch aus, aber ihre
Bewegungen waren jung, voll Rhythmus, voll Harmonie, voll Rasse und
Schönheit, so daß man vergaß, daß hier eine Großmutter tanzte im Wettbewerb
mit sonniger Jugend.
Mit den eigenen Frauen tanzten die Männer nur selten, immer mit
anderen, und sie boten mir ihre Frauen alle der Reihe nach an, damit ich
mit ihnen tanzen möge, wodurch sie mir eine Ehre erweisen wollten. Doch
die Frauen betrachteten es als keine besondere Ehre, wenn ich mit ihnen
tanzte, sie haben keine Hochachtung vor dem Weißen. Wenn ich mit einer
Frau oder mit einem Mädchen häufiger tanzte, fingen die Frauen an zu
lächeln und zu kichern.
Mit Sonnenaufgang verblaßte der Mond, verblaßte die Musik. Unauffällig
zog sich eine Frau nach der anderen hinter die Hütte zurück, kam nach einer
Weile wieder vor, in ihre Lümpchen gekleidet und mit einem Bündelchen.
Ebenso unauffällig, ohne Abschiedszenen, mit einem kurzen „Adios!“ oder
„Gracias!“ setzten sie sich auf ihre Esel oder Pferde und verschwanden im
dunklen Busch. Der Sommernachtstraum war zu Ende.
Anmerkungen zur Transkription
Quelle: Das Buch für alle. Stuttgart, 1926, H. 7, S. 156-157.
Dies ist die Erstveröffentlichung dieser Erzählung. Sie wurde später
unter dem Titel Indianertanz im Dschungel
in den Erzählungsband Im Busch aufgenommen.
Die ursprüngliche Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden beibehalten.
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK NACHTTÄNZE DER INDIANER ***
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