Zwei Novellen
von
Grethe Auer
Egon Fleischel & Co. / Berlin / 1919
Alle Rechte, besonders das
der Übersetzung, vorbehalten
Amerikanisches Copyright 1919
by Egon Fleischel & Co., Berlin
Mit der ersten Auflage dieses Werkes
wurden fünfzig Exemplare auf
Büttenpapier gedruckt und von der
Verfasserin numeriert und gezeichnet
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Gabrielens Spitzen | 1 |
Die Tugend der Sabine Ricchiari | 77 |
Die Frau, von der ich jetzt erzählen will, war eines Schreibers Tochter in einer rheinischen Stadt, in der die Üppigkeit eines kleinen Fürstenhofes, Kunstsinn einer altangesessenen und wohlhabenden Bürgerschaft und natürliche Leichtlebigkeit und Anmut der unteren Bevölkerungsschichten zusammenwirkten, um einen für jene Zeit bedeutenden Grad von Sinnenkultur hervorzubringen. Es haben Männer aus jener Stadt später oft führende Stimmen im Rat der hohen Kunst besessen; oft hat sie Feldherren gestellt in den Kampf eines neuen Kunstgedankens gegen einen alten. Doch das tut nichts zur Sache. Was uns angeht – in jenem ersten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts – ist nur eine gewisse Feinheit und Freiheit der Lebensauffassung, eine gewisse Veredlung alles Trieblebens durch echtes Schönheitsempfinden, die durch alle Schichten der Bevölkerung zu bemerken waren und die es einem armen Schreiberskinde ermöglichten, eine Künstlerin zu sein.
Im Hause des Schreibers herrschte bei einer vielköpfigen Familie und einfachster Lebensführung durchaus kein Mangel irgendwelcher Art. Die nüchterne Kost genügte stets für alle, ein bescheidener Leckerbissen krönte die Feiertage, und ein zufälliger Gast fand immer freundliche Bewirtung. Das wenige Hausgerät, obzwar schlicht und derb, war stets in gutem Zustande, wozu die liebevolle Behandlung, die ihm von allen Seiten zuteil ward, nicht wenig beitrug. Da jedes Stück selbst erworben, lang erstrebt und mühsam in langen Raten bezahlt war, so verkörperte es gleichsam ein paar Jahre Lebensgeschichte des Erwerbers, besonders, wenn noch eigene Kunstfertigkeit hinzutrat, die den Wert des Gerätes erhöhte. So war das eigengesponnene Linnen der Betten durch eigengeklöppelte Spitzen bereichert, in denen alle Feierabende und Sonntagnachmittage sämtlicher Frauen der Familie Gestalt gewonnen hatten; die Mußestunden der Männer hatten sich in sinnreiche Bemalung der tannenen Schränke und Truhen, in leichtes Schnitzwerk an Bettleisten und Stuhllehnen umgesetzt; und die Glorie einer frohen Erinnerung, der Wehmutsschleier einer trüben schwebten und webten über jedem Dinge. Noch wurden Wohnungen nicht gewechselt, Hauseinrichtungen nicht fertig gekauft, schnell abgenutzt, erneut und getauscht nach Belieben. Sie entstanden unter den Schicksalen der Menschen, trugen ihren Stempel und überlebten sie als Denkmäler ihres Wesens.
Wie alle Glieder der Schreibersfamilie an dem Bau, der Erhaltung und Verschönerung ihres Heims tätig gewesen waren, so trugen auch alle zu dem bißchen Wohlstand und Wohlleben der Familie bei, indem alle nach Kräften erwarben. Jedes der Kinder hatte sein Talent oder seine Tüchtigkeit und, kaum den Kinderjahren entwachsen, seinen Broterwerb. Und diejenige unter den Töchtern, deren Geschichte ich erzählen will, war Spitzenklöpplerin und zählte die vornehmsten Frauen der Stadt zu ihren Kundinnen.
Es war eine kleine Person, dunkel, mit großen, aber keineswegs schwärmerischen Augen, äußerst zarter, aber blühender Haut und dem prächtigsten, glatten, rabenschwarzen Haar, das sie in Zöpfen unter einer sittigen kleinen Haube verborgen trug. Ihr braunes Kleidchen sah dank ihrer friedlichen Beschäftigung immer wie neu aus, das Busentuch stets rein und weiß, und das goldene Kreuzchen, das sie an einem Sammetbändchen am Halse trug, hob die Zierlichkeit ihrer Erscheinung durch sein Blinken gerade genug, um ihrer keuschen Jugendlichkeit nichts zu nehmen. Sie hieß Gabriele; und wie auch der Name im Munde ihrer Umgebung verdorben wurde, sie selbst sprach ihn stets unverkürzt; und hätte sie schreiben können, sie würde ihn auch unverkürzt geschrieben haben.
Gabriele hatte zwar in ihrer Kindheit bei den Klosterfrauen einiges gelernt; aber, dem ohnehin dürftigen Unterricht kaum entwachsen, hatte sie unverzüglich alles wieder vergessen bis auf das Spitzenklöppeln und -nähen, das sie mit der Leidenschaft einer echten Künstlerin betrieb. Nicht nur hatte sie die gewandtesten Finger; sie hatte auch Gedanken: sie ersann Formen, veredelte und verbesserte die vorhandenen und liebte es, ihre Muster im feinsten Faden und in der mühevollsten Technik der Klöppel und der Nadel auszuführen; denn da sie unendlich flink arbeitete, so geschah es nicht leicht, daß ein angefangen Stück Arbeit ihr zum Überdruß wurde. Alles, was unter ihren Händen entstand, erfüllte sie in seiner Sauberkeit und Regelmäßigkeit mit solcher Freude, daß sie vergaß, wer es geschaffen und erdacht hatte, und es wie ein Geschenktes hinnahm. War ein Stück fertig, so trippelte sie flink und glücklich nach dem Hause der Bestellerin. Nie gab sie ihre Arbeit in Dienerhände: selbst wollte sie sie vorlegen, selbst auf ihre Schönheit aufmerksam machen, selbst das Lob ernten, das dem Wohlgelungenen zukam. Sie pflegte ein Stück schwarzen Sammets bei sich zu tragen, darauf breitete sie die Spitze, ehe sie sie vorzeigte.
Und dann bewunderte sie ihr eigenes Werk so herzlich, unschuldig und ehrlich, daß es niemandem einfiel, dies als Eitelkeit oder gar als berechnete List zur Erzielung eines höheren Preises aufzufassen.
Wie eine Mutter ihr Kind anbetet, von dem sie weiß, daß sie selbst nichts tun konnte, als das vom Himmel Gegebene hüten und heilig halten, so betete Gabriele ihre kleinen Kunstwerke an, ohne sich eigentlich ein Verdienst daran beizumessen. Man hörte sie auch nie sagen: »Dies habe ich so oder so gemacht«, sondern stets: »Dies ist gut geworden« oder »Dies ist recht artig herausgekommen«, wobei doch jedermann empfand, daß sie diese Worte nicht wählte, sondern unbewußt als die einzig angemessenen vorbrachte. Deshalb mochten es die großen Damen auch gerne leiden, wenn die kleine Klöpplerin mit ihrer Arbeit bei ihnen eintrat; sie brachte etwas mit, was keine von ihnen verstand oder kannte, und was sie doch anwehte wie ein Hauch aus dem Paradiese.
Am heiligen Sonntag klöppelte Gabriele nicht. Da ging sie zur Kirche, wobei freilich nicht verschwiegen werden darf, daß sie es weniger um Gottes Wort zu hören tat, als einigen köstlichen Altarspitzen zuliebe, deren Zeichnung sie in ihrem Gedächtnis nur fixierte, um sie gleich wieder ihrer stets tätigen Phantasie zum freien Spiel zu überlassen. Den Nachmittag aber legte sie vollends die Hände in den Schoß – das heißt, sie klöppelte und nähte nicht, zwang sich auch nach Möglichkeit, nicht in Gedanken an einem Entwurf weiter zu grübeln; da gab sie sich ganz dem Zusammensein mit Eltern und Geschwistern hin. Der Sonntag war der Tag, der alle, die die Wochenarbeit auseinander gerissen hatte, in einem Raum und an einem Tische vereinigte. Da war die kleine Wohnstube, die während der ganzen Woche still und sauber aufgeräumt stand und keinen Laut vernahm als das surrende Spinnrad der Mutter oder den leichten Elfentanzschritt von Gabrielens Klöppeln, plötzlich belebt, übervoll und lärmend. Jeder der Brüder, jede der Schwestern hatte eine Sonntagnachmittagspassion, sei es, daß sie für ihre Gewandung arbeiteten, die sie während der Woche vernachlässigen mußten, sei es, daß sie Hausgerät und Zieraten herstellten, die sie lange begehrt hatten und nicht durch Kauf erwerben konnten. Der hämmerte, jener brannte, einer schnitzte; jene klapperte mit der Schere, diese mit Stricknadeln, eine dritte mit dem dampfenden Plättsteine. Dazu rauchten die Männer, daß die Luft wie eine bläuliche Wand zwischen den einzelnen stand, und im Ofen zischten leise die bratenden Äpfel, Wohlgerüche mit Wohlgerüchen mengend. Alle redeten, alle lachten, und der oder jener sang auch. Gabriele und die Mutter sorgten für die Mahlzeiten, und die stets Emsigen nahmen diese Aufgabe für Erholung und sonntäglichen Müßiggang, dem sie sich mit all der Schwelgerei hingaben, die ihre kleinen Mittel erlaubten. Duftete dann die Mehlsuppe, ein gebackener Fladen oder gar ein Stück Fleisch auf dem Tische, so trat eine große Stille ein, und man vernahm nichts als leises Klirren der Löffel und behagliches, langgezogenes Schlürfen. Bald aber schwirrte es um so lustiger wieder durch die erhitzte Luft der Stube.
Das waren Gabrielens Feste. Einmal oder zweimal im Jahr sah sie eine Volksbelustigung, einmal oder zweimal im Jahr genoß sie eine fröhliche Sommerfahrt in grünes Land. Das waren dann Erinnerungen, die leuchteten lange nach. Aber die Alltäglichkeit hatte auch ihren Glanz, mochte er auch nur geborgt sein von dem Sonnenschein in Gabrielens eigenem Wesen. Krankheit blieb dem Hause fern; Mangel am Nötigsten hatte die tätige Familie nie erfahren müssen, und Monate knappen Erwerbes machten nur freudiger und erfinderischer zur Arbeit. Es waren glückliche Menschen und Gabriele, weil die Kunstfertigste, die Glücklichste.
Dann kamen Freier für die Schwestern, dann vermählten sich die Brüder. An den Sonntagnachmittagen wurde die Stube enger, die Luft heißer und dicker, der Lärm mannigfaltiger. Kinderstimmen gellten, Kinderfüße trappten polternd dazwischen. Vielfach klangen manchmal ein kurzer, lebhafter Streitlärm, ein Kreischen, auf den Tisch donnernde Fäuste dazu. Aber es endete immer in Eintracht, und auch das bedeutete nur vermehrte Freude.
Gabriele war die letzte Unvermählte, vielleicht weil sie die Feinste und Schönste der Familie war. Einfache Männer wagen sich nicht gern an das Aparte, und Gabriele war apart und ein bißchen hochnäsig, insofern, als sie derbe Scherze nicht liebte. So fröhlich sie war, das Lachen versagte ihr oft da, wo die werbenden Männer am meisten erwarteten, es zu hören. Das machte die Freier scheu, und schon glaubte jedermann, Gabrielen sei es nicht bestimmt – – da schlug auch ihre Stunde.
Es war an einem Sommerabend, als im Städtchen das Leben sich in allen Gassen drängte. Duft von weißem Holunder wehte aus irgendeinem Garten. Frauen und Greise saßen auf den Bänken vor den Häusern; Kinder, Hunde und Spatzen tummelten sich in den Gassen, die Männer standen unter den Türen der Werkstatt, der Boutique, der Kanzlei und warteten auf den Feierabendschlag, schon müßig, ehe er erklang. Die milde Wärme löste jede Spannung, jede Sorge, jeden Arbeitstrieb, weckte den Lebensgenuß, die Sorglosigkeit, den Leichtsinn – als ob es nie mehr einen Winter, Not und Kälte geben sollte.
Da kam auf Stöckelschuhen, die fast so hell und flink klapperten wie ihre Klöppel, Gabriele durch die Gasse getrippelt. Sie hatte etwas vollendet, was ihr besonders gefiel, und sie trug das fertige Stück seiner Bestimmung zu. Da wollte es der Zufall, daß ein vornehmer Müßiggänger, der ziel- und absichtslos durch die abendliche Schönheit schweifte, die Vorstadtgasse kreuzte und das Mädchen erblickte. Er folgte ihm bis in das stillere Quartier der Reichen, wo die Bestellerin der Spitze wohnte. Er sah die schöne Person vor einem großen steinernen Hause haltmachen, das er erfreut als das eines Freundes erkannte. Er trat hinter ihr ein, eilte vor ihr die Treppen hinauf und stand neben dem Lehnstuhl der greisen Herrin des Hauses, als die höflich knixende Gabriele unter der Tür des Gemaches erschien.
Das Herz der kleinen Klöpplerin, das bei der offensichtlichen Verfolgung bereits etwas ängstlich zu pochen begonnen hatte, beruhigte sich sofort beim Anblick des Mannes an diesem Orte. Gabriele gehörte zu den seltenen Menschen, die jedem Ding gern die natürlichste Erklärung geben: daß dieser Mann denselben Weg gehabt wie sie, daß er in dies Haus gehörte und daß er mit Fug und Recht Leuten, die da aus und ein gingen, etwas scharf ins Gesicht blicken mochte, das war eine Folgerung, mit der sich Gabriele ohne weiteres zufriedengab. Sie knixte bescheiden und artig auch vor ihm, dann begann sie unbefangen, ihren Sammetfleck auszubreiten und die Spitze darauf zu entfalten.
Es war ein feines Gebilde von Sternen und duftigen, nebelzarten Hintergründen, aus denen sich die kräftigeren Linien eines streng gehaltenen Musters hervorhoben. Ein blühender Kirschbaum; der Schaum eines Wasserfalls; die windgekräuselte Fläche einer Wiese voll weißer Sternblumen; Schneeflockentanz oder rieselnder Regen abfallender Sternchen der Holunderdolde – alles das konnte dem Beschauer zu Sinn kommen, der dies reinliche Stückchen Menschenwerk sah. Und doch stand eine feste, straff geführte Zeichnung in dem Nebelbilde. Die kleine Künstlerin selbst faltete die Hände, wie sie drauf niederblickte, ganz versunken in die Vollkommenheit dessen, was sie im einzelnen durchdacht und ausgeklügelt, in seiner ganzen Wirkung aber nur eben geahnt hatte.
Gleichfalls mit gefalteten Händen aber, und nicht weniger als sie versunken in den Anblick einer Vollkommenheit höherer Art, stand der Mann, der Gabriele verfolgt hatte. Die Klöpplerin hatte sich bedachtsam so gestellt, daß ihre Figur keinen Strahl des sinkenden Lichtes von ihrem Kunstwerke hinwegnahm; dafür traf nun sie selbst die volle Beleuchtung. Alles Feine, Säuberliche und Zierliche an ihr kam zu voller Würdigung: die seidige Haut, die Weichheit ihres Haares, die dunkle Glockenschweifung ihrer langen Wimpern, die durchsichtige Zartheit der kleinen Ohren nicht weniger als das tadellose Gefältel der Haube, die Unverbrauchtheit ihres Anzuges, die züchtige Ordnung des Halstuches. Und vielleicht waren es Bilder noch holderer Art, die dem Beschauer dieses Stückchens Gotteswerk zu Sinn kamen, denn ein inniges und sehr glückliches Lächeln verbreitete sich langsam über sein Gesicht, in dem auch nicht der Schatten eines niedrigen Gedankens mehr zu sehen war. Er richtete mit freundlicher Stimme einige übliche Fragen an Gabriele, und wenn sie bei der Antwort in seine Augen blickte, was sie mit der Unerschrockenheit der Unschuld tat, so begegnete sie dem Ausdrucke lauterster Güte.
Als Gabriele heimwärts wandelte durch die Straßen und Gassen, in denen nun die Dämmerung wob, mußte sie recht ernsthaft an den großen vornehmen Mann denken, der sie so gütig angeblickt hatte. Sie verhehlte sich nicht, daß sie einem ähnlichen Blick nie in ihrem Leben begegnet war. Sie hatte oft genug Bewunderung und Begehren in Männeraugen gesehen, aber nur in den Augen glücklicher Mütter etwas von dem, was dieser Fremde über sie ausgegossen hatte. Und wie sie über das Erlebnis nachdachte, ertappte sie sich auf dem sonderbaren Wunsche, diesem Manne als Magd zu dienen, wenn es einmal mit dem Spitzennähen vorbei sein sollte. Gabriele wußte, daß die Augen vieler Klöpplerinnen in noch jungen Jahren den anstrengenden Dienst des Ausnähens versagen, und der Gedanke an diese Möglichkeit hatte sie oft erschreckt. Jetzt sah sie in ein Zukunftsbild, wo es sich auch ohne die gewohnte Arbeit recht annehmbar leben ließ: sah ein freudiges Schaffen aus innerm Herzenstrieb vor sich, wie sie es bisher noch nie einer Person, nur ihrer Kunst dargebracht hatte.
Einige Tage nach diesem Vorfall trat der fremde Mann in Gabrielens Stube; er bestellte Spitzen, er ließ sich Muster zeigen, er sprach viel und fragte eingehend über die wunderlichsten Dinge. Gabriele antwortete in wahrer Herzensfreude, schon jetzt den künftigen Gebieter in ihm verehrend, und bemühte sich, ihr Bestes zu zeigen, um seine gute Meinung für kommende Zeiten zu gewinnen. Darüber merkte sie nicht, wie lange er blieb und wieviel er frug, was gar nicht zur Sache gehörte. Auf ihren stillen, morgenlichten Lebensweg war plötzlich in goldener, breitstrahlender Fülle der blendendste Sonnenschein gefallen; sie vermochte noch nicht, die Augen ganz aufzuschlagen.
Sie hatte nun erfahren, daß der Fremde ein Ratsherr war und einer der reichsten Patrizierfamilien der Stadt angehörte. Er hatte ihr seinen Namen genannt, hatte ihr beschrieben, wo er wohnte, und ihr befohlen, die Spitzen dahin zu bringen. Ohne Arg sagte Gabriele zu. Schnell huschte der listige Vorsatz durch ihr Köpfchen, sich das Haus, in dem sie einmal dienen wollte, gut anzusehen: »ob etwas zu lernen wäre, was sie noch nicht könnte«. Sie lächelte ein wenig bei dem Gedanken, daß sie dann etwas anderes als Mehlsuppen würde kochen müssen. Aber was wollte sie nicht können, wenn es diesem Herrn galt?
Sie machte sich an die Spitzen und spann dabei an den frömmsten und demütigsten Vorsätzen. Sie dachte an tausend kleine Verrichtungen, die sie für Vater und Brüder zu tun gewohnt war, und ob jener Gestrenge auch damit zufrieden sein würde. Und in der Sorge um sein Wohlgefallen schien ihr plötzlich auch ihre Kunst arm und ihr Fleiß ungenügend. Sie warf beiseite, was sie begonnen hatte, und fing noch einmal mit feinerem Faden an.
Wenn Gabriele je ein Kunstwerk geschaffen hatte, so war dies Stück Spitze eines. Wie von leichten Winden getragen, lebte und webte das Geranke auf dem duftklaren Grunde; jede Blüte öffnete sich in voller Wonne, jede Knospe zitterte, schlanke Stäbe von leichtem Gitterwerk strebten kühn nach oben und stützten die flatternde Wildheit der Zweige, und Schmetterlinge mit ausgebreiteten Schwingen lagen ruhend auf den Wogen der Luft. Ein ganzer Frühling, nur im lauteren Weiß eines Schneeblumentraumes, erwachte unter den emsig spielenden Fingern. Die Klöppel klangen wie klappernde Pantöffelchen zahlloser kleiner Elfen, die hurtig und froh den Wunderwebstuhl bedienten; in lautloser Stille aber zog die Nadel ihre magischen Kreise, feierlich, langsam und preziös bedächtig, wie ihrer größeren Wichtigkeit bewußt.
Der Ratsherr kam von Zeit zu Zeit, um den Fortschritt des Werkes zu betrachten. Wenn er in die Stube trat, ruhten die Klöppel, denn dann fühlte Gabriele ihre Finger kalt und unruhig und zu subtiler Arbeit untauglich werden. Sie stand vor dem Gewaltigen auch lieber auf: schon stehend fühlte sie sich so klein neben ihm. Und dann war er doch auch ihr zukünftiger Herr, und Sitzen und Weiterarbeiten vor ihm wäre eine Unziemlichkeit gewesen.
Der Ratsherr pflegte recht ausgiebig zu loben, und Gabrielens Herz hüpfte vor Freude, wenn sie sah, wie gut er das wahrhaft Kunstreiche und Schwierige zu würdigen wußte. Das war ein Mann, dem edle Arbeit durch die Finger gegangen war! Sein verständiges Lob gab Gabrielen die anfänglich erschütterte Sicherheit zurück, sie fing wieder an, sich unverhohlen des Gelingens zu freuen, und je mehr sie sich freute, desto schöner und holder sah sie aus, so daß es fast eine zu harte Probe für des Mannes Liebe wurde, das ernste Spiel nicht durch einen voreiligen Ausbruch von Zärtlichkeit ganz zu verderben. Seine Besuche wurden immer länger, kamen immer häufiger. Er gab ihnen eine gewisse Begründung durch allerhand Belehrendes, was er Gabrielen zutragen zu müssen vorgab: denn wie alle Geniemenschen trieb diese kleine Fee ihre Kunst nur nach den Geboten ihrer eigenen Seele und ahnte nicht, daß es außerhalb dieser und dem Stückchen ererbter Tradition noch unermeßliche Möglichkeiten gab. Sie besaß eine Sammlung pergamentener Klöppelbriefe, die uralt waren. Die Jahreszahl 1604, die irgendwo auf dem ersten Blatte neben dem Namen des Sammlers stand, hatte keine Bedeutung für sie; die vorhandenen Muster veränderte und veredelte sie mit sicherem Stilgefühle. Nun kam der Ratsherr, und plötzlich stieg aus den vergilbten Blättern ein lebendiges Bild von Menschen- und Völkerschicksalen empor. Jedes Muster in dem alten Buche trug den Namen eines fernen Landes, einer Stadt: von einem längst versunkenen Kaiserreiche Byzanz, vom wogenumspülten Venedig, von der fernen Königin der Meere, dem glorreichen Genua wußte der vielwissende Mann die gewaltigsten Dinge zu erzählen. Dann wieder beschrieb er den stillen Fleiß holländischer Schifferfrauen, die träumend des Liebsten im tosenden Weltmeere denken, die höfische Pracht Frankreichs, wo der größte aller Könige die schöne friedliche Kunst der Frauen geadelt und gelohnt habe; die Nöte wandernder Hugenotten, die die Gottesfunken des reinen Glaubens weitertrugen, aus Holland und Frankreich in deutsche Lande, und mit ihm als Bild und Schild ihrer Tugend die edle Arbeit. Auch brachte er neue Muster aus Gent oder Alençon, die vielleicht ein tüchtiges kleines Menschenwesen wie Gabriele in die Welt geschickt hatte, vielleicht aber auch ein großer Künstler, der eigens zu dem Zweck studiert hatte und viel Gold und Ehre mit seiner Erfindung gewann. Gabrielens Geist erfaßte bang und doch froh die Lehre von der Weltbedeutung der Industrie, von der Mitarbeiterschaft stiller Frauen am Wohlstande und Ruhm ganzer Völker. Sie versuchte auch gern die Anwendung mancher Lehre, die dem anschaulichen Unterrichte entfloß, ahmte die neuen Muster nach, grübelte über ihre Technik, wagte und probierte, und durfte bald ein Gelingen verzeichnen. Den Ratsherrn beglückte die Feinheit und Richtigkeit ihres Empfindens, die Klarheit, die sie über ihr Können und seine Grenzen besaß.
So ging das Werk zu Ende. Gabriele wurde desto stiller, je mehr sie sich dem Abschluß näherte, sie arbeitete auch langsamer und saß oft lange in müßigem Träumen vor ihrem Kissen, während sie sonst wohl ein wenig gehastet hatte, wenn es zur Vollendung ging. Es tat ihr weh, sich von dieser Arbeit zu trennen.
Mit Tränen löste sie die letzten Nadeln aus der Spitze, rollte ihren Klöppelbrief zusammen und legte ihn in ein Kästchen, das einige kindliche Reliquien barg: kein anderer sollte je dieselbe Spitze tragen. Dann machte sie sich, diesmal mit langsamen Schritten und ganz blaß vor Leid, auf den Weg nach dem glänzendsten Hause der Stadt. Sie hatte dem Ratsherrn die Ablieferung für den bestimmten Tag versprochen, sonst hätte sie wohl das geliebte Stück Arbeit noch ein Weilchen für sich behalten.
Als sie nach dem Hause des Gestrengen kam, erschrak sie sehr. Sie sah festlich geschmückte Menschen in der Halle, auf den Treppen, in den Gemächern, durch die ein schweigender Diener sie führte. Einige von diesen Menschen blickten sie lächelnd, andere erstaunt, andere ernst und forschend an, aber kein einziger gleichgültig.
Gabriele fühlte sich nur von dem Gedanken bedrückt, daß sie vielleicht in dieser letzten Stunde den geliebten Mann nicht allein sehen, daß sie seine Aufmerksamkeit mit vielen anderen teilen würde. Vielleicht würde er gar nicht Zeit haben, die fertige Arbeit in diesem Augenblicke zu betrachten; er würde sie beiseitelegen, vergessen, vielleicht nach vielen Tagen zufällig darauf stoßen – und Gabriele hätte doch so gern noch einmal sein knappes, scharfes Urteil gehört. Sie empfand es bitter, daß so ihrer Schaffensfreude Lohn und Krone genommen sein sollte, und schon erwog sie, ob sie nicht umkehren und zu gelegenerer Stunde wiederkommen sollte, als sie den Ratsherrn, von einigen würdig aussehenden Matronen geleitet, auf sich zuschreiten sah.
Sie erkannte schnell in den alten Damen Kundinnen und Beschützerinnen und fühlte sich ein klein wenig versöhnt mit dem Mißgeschick der Stunde. Wie sie aber, an einen Tisch geleitet und von vielen Neugierigen umringt, ihre Spitze, um die alle zu wissen schienen, entfalten sollte, brach ihr fast das Herz. Es schien ihr grausam, daß sie vor gleichgültigen Gaffern bloßlegen sollte, was ihr das Heiligste und Liebste im Leben war. Und nicht mit der gewohnten leuchtenden Freude stand Gabriele diesmal vor ihrer Gabe, sondern trübe, in lautloser Ergebenheit und ganz stumpf gegen den Beifall, der sie von allen Seiten umrauschte. Langsam verschleierten sich ihre Augen; sie fühlte, daß sie eilen müsse, dem Getriebe zu entkommen, und mit einer Verbeugung gegen den Hausherrn suchte sie die Türe zu gewinnen.
Aber schnell faßte der Ratsherr sie an der Hand und bat sie, zu verweilen und als sein Gast dem Feste, in das sie nun einmal geraten sei, ein Weilchen beizuwohnen. Auf Gabrielens erschrockene Abwehr hin mischten sich auch die würdigen Damen ein, und jede hatte ein liebes Wort für das geängstigte Kind. Die Matrone, in deren Haus jene erste kleine Begegnung zwischen Gabrielen und dem Ratsherrn stattgefunden hatte, sprach besonders gütig zu ihr; sie berichtete der langsam Auftauenden, es wäre zwischen den Gästen bereits verabredet worden, Gabrielen zum Bleiben aufzufordern, falls sie, wie erwartet, mit ihrer Spitze erscheinen sollte; und da sei niemand so hochmütig, einer so braven und fleißigen kleinen Person den fröhlichen Abend zu mißgönnen. Sie möge nur bleiben und sich an allem Gebotenen gütlich tun und sich einmal recht ansehen, wie es bei den reichen Leuten zugehe. Wenn sie sich aber dabei auch ein bißchen freuen könne, so statte sie ihrem Gastgeber dadurch den allerliebsten Dank ab, denn ihm sei daran gelegen, ihr für die besonders tüchtige und geduldige Arbeit eine kleine Ehrung widerfahren zu lassen.
Gabriele war sprachlos, aber der überglückliche Ausdruck ihres Gesichtchens antwortete deutlich genug, daß ihr der eigentümliche Extralohn, den der vornehme Mann ihr zugedacht, keineswegs zuwider war. Sie stammelte nur noch etwas Undeutliches von armseliger Gewandung – aber der Ratsherr rief alsbald ein paar jüngere Frauen heran und bat sie, seinen kleinen Gast nach Möglichkeit zu schmücken.
»Nach Möglichkeit, Bruder?« rief eine große blonde Frau von heiterem Wesen, »nach Möglichkeit ist mehr verlangt, als du von unseren Frauenherzen billig erwarten kannst! Denn sie würde uns alle ausstechen, wenn wir mehr als das Nötigste täten!« Gabriele wurde flammendrot und schlug die Augen zu Boden, weil sie dachte, man spotte ihrer. Aber als sie den Ratsherrn die wohlwollende Necklust der blonden Frau durch ein scharf verweisendes: »Laß die Torheiten!« bestrafen hörte, tat es ihr leid, und sie lächelte mit einer sanften Bitte um Verzeihung im Blick den Personen zu, die sich nun an ihr zu schaffen machten.
Die Männer wurden von den munteren Frauen ins Vorgemach gewiesen, und alsbald sah Gabriele sich der Haube und des Busentuches beraubt. Während eine Hand ihr Haar löste, wieder flocht und durch funkelnde Spangen in ganz anderer, vornehmer Weise feststeckte, legte eine andere ihr die eben vollendete, köstliche Spitze um die Schultern. Es bedurfte weiter nichts, um die kleine Klöpplerin in eine allen anderen durchaus ebenbürtige Erscheinung zu verwandeln; die artige Haltung ihrer feinen Figur und das schöne Maß ihrer Bewegungen taten das übrige.
Als Gabriele vor dem Ratsherrn stand, entschuldigte sie sich zaghaft, daß man gewagt habe, ihr die kostbare Spitze umzulegen; er aber erwiderte freundlich, dies sei durchaus in seinem Sinne geschehen; an ihrem Leib sei ihm die Spitze so sicher, als läge sie in einem Reliquienschreine. Sie versicherte eifrig und beruhigt, sie wolle die Spitze fein hüten, und wandte sich nun der Unterhaltung zu, die das fröhliche jüngere Volk sich schaffte. –
Es war tatsächlich ein Zufall gewesen, was Gabrielen in die hochansehnliche Gesellschaft geführt hatte. Als nämlich die kleine Künstlerin den nahen Ablieferungstermin für ihr Werk festgesetzt hatte, war dem Mann die Antwort entglitten: »Wohl, ich werde dich erwarten, da ich weiß, daß du deine Arbeit nur dem Besteller zu übergeben pflegst.« Eine Minute darauf war ihm das Fest eingefallen, das am gleichen Abend in seinem Hause stattfinden sollte: er fühlte, daß das liebe Mädchen vor der geputzten Schar erschrecken würde, und daß der kleine Akt der Übergabe, der ihr sonst zum Ereignis zu werden pflegte, ihr durch Befangenheit und Scheu getrübt werden würde. Ihr – und ihm! Er hatte alles auf diesen Augenblick verschoben, er erwartete alles von ihm. Aber gerade in tiefem Vorgefühl einer bedeutungsvollen Wendung verwirrte und bedrückte ihn das unerwünschte Zusammentreffen aufs heftigste. Ihn bedrängte die Frage, die ein Unbefangener leicht gelöst hätte: unter welchem Vorwande er Gabrielens Kommen verschieben solle – bedrängte ihn heißer als manche schicksalsschwere Frage in Völkerhändeln. Es erschien ihm hart, ihr schlechtweg zu sagen: »Du kommst mir ungelegen, denn ich habe Gäste!« und es erschien ihm beleidigend und töricht, sie geradezu aufzufordern: »Komme, wenn ich allein bin!« So ging der Ratsherr an diesem Tage unentschlossen heim, und nachdem er eine unruhige Nacht voll nutzloser Grübeleien verbracht, verfiel er auf den Ausweg, seine alte Freundin, die auch Gabrielen wohlgesinnt war, um Rat zu fragen.
Die würdige Frau fand gleich die natürlichste Lösung. Gabriele sei ein Wesen, dem man wohl eine seltene Auszeichnung zuteil werden lassen dürfe. Sie sei klug genug, um die Sache zu würdigen, wie sie gemeint sei, und nicht Wünsche und Begierden in sich aufkommen zu lassen, die ihrem Stande nicht angemessen wären. Sie selbst wolle Gabrielen die Sache erklären. Jedermann sei Gabrielen gut und würde ihr die Ehre und Freude dieser Einladung gönnen.
Das Gesicht des Ratsherrn, als er diesen Vorschlag anhörte, verriet der weisen Freundin, wie sehr sie das Richtige getroffen habe. Mit einem Lächeln voll feinen Verstehens reichte sie ihm die Hand.
Den Ratsherrn hatte zuerst nur die edle Billigkeit des Gedankens gewonnen, und ihm gefiel die Vorurteilslosigkeit, mit der die vornehme Frau die Sache vorbrachte. Dann aber tauchte leise eine andre Vorstellung in ihm auf, bei der es ihm erst klar wurde, was er in Gabrielen sah. Daß die Geliebte in seinem Hause umhergehen sollte, daß er ihr seinen Reichtum und sein ganzes Ansehen gleichsam zu Füßen legen wollte, ja, daß am Ende gar die ungewöhnliche Stimmung des Vorganges das Wort lösen würde, das seit langem in seiner Seele schlummerte – diese Möglichkeiten stiegen in schönen, triumphierenden Bildern langsam in der Seele des Mannes auf. Der Ratsherr sah dem Tage dieses Festes als dem entscheidendsten entgegen.
Schöner, als er gehofft, erfüllten sich seine Erwartungen. Mit einem Anstand ohnegleichen bewegte sich Gabriele in dem vornehmen Hause; ohne im geringsten von ihrer Natürlichkeit abzuweichen, wußte sie Sprache und Benehmen so sehr dem gehaltenen Tone dieser Gesellschaft anzupassen, daß ein Uneingeweihter sie ohne Zweifel als dazugehörig eingeschätzt haben würde. Dazu verhalf ihr in erster Linie ihre Bescheidenheit, die sie mit einer Art religiöser Dankbarkeit über dies unverhoffte Glück erfüllte. Nicht nur der Ratsherr selbst, sondern auch jeder Gast des Hauses anerkannte erstaunt diese Vollkommenheit der Form. Was vorher gönnerhafte Herablassung war, wurde wirkliches Wohlwollen, und es verging wenig mehr als eine Stunde, so ward Gabrielen gehuldigt wie einer kleinen Königin.
Es erschien sonderbar, daß die so unerwartet Gefeierte sich ihres Erfolges nur lau zu freuen schien. Bei den artigsten Worten, die verzückte Bewunderer ihr zuflüsterten, sah man sie mit gespannter Aufmerksamkeit einem Gespräche lauschen, das zehn Schritte von ihr geführt wurde, und ihre Erwiderung bestand meist in einer Frage, die große Lernbegier, aber sehr geringes Verständnis der Situation des Augenblicks verriet. Einige der Schwärmer wurden von dieser augenscheinlichen Kälte abgeschreckt; andre um so tiefer angezogen; aber keiner verstand den Vorgang.
Es verhielt sich mit Gabrielens Nachdenklichkeit etwas anders, als der liebende Mann sich vorstellte. Zu wiederholten Malen im Verlauf dieses Abends war es geschehen, daß Gabriele auf irgendeinen Gegenstand aufmerksam gemacht wurde, der zu besonderer Ehre und Zierde des vornehmen Hauses gehörte. Sie hörte auch von nichts anderem so oft und so eingehend sprechen, wie von dem Wert und der Schönheit eines Gemäldes, einer Schale, einer Figur, der Geschichte seines Erwerbes, der Art seiner Herstellung. Die kleine Gabriele, die sich bisher nur an dem zarten Kunstgedanken einer Spitze hatte berauschen können, bekam nun manches zu sehen, was ihr den Atem nahm: an Goldfiligran, Holzwerk, Glas und Silber, an Gewebtem und Gesticktem, an Leder und Pergament, an Bildnissen in Farbe und Marmor, mehr als nach ihrer Ansicht der prunkvollste Dom aufzuweisen hatte. Und sie, die alles, was sie sah, in Beziehung zum wirklichen Leben bringen mußte, sie empfand wie einen Alp die Vielgestaltigkeit der Bedürfnisse. Sie verstand, daß diese Menschen mit anderen Sinnen empfanden als sie; daß das, was Gabriele bisher als Mittel zum Leben angesehen: Kleidung, Nahrung und Hausgerät, ihnen als Zweck des Lebens erschien. Und es erfaßte sie etwas wie Angst vor dem Aufwand an Zeit, den so ein Dasein verschlang, ohne etwas anderes davonzutragen als wachsende Fähigkeit des Verbrauches. Sie hatte sich einen Haushalt vorgestellt, wo sie durch Fleiß und Ordnungssinn eine nennenswerte Dienstleistung bieten konnte, und sie sah mit Schrecken, daß in diesem Betriebe der einzelne kaum zählte. Und ihr schöner Zukunftstraum zerfiel.
Während der Mahlzeit, wo funkelnde Schüsseln sie blendeten, ging es ihr übel. Kaum daß noch zu erkennen war, was Fisch, was Vogel war. Und trotzdem sah keiner von den Gästen überrascht aus, ja, wenn Gabriele auf ihre Unterhaltung lauschte, so schien es ihr, als wäre der oder jener nicht einmal sonderlich zufrieden. Gabriele war es, als müsse sie sich über diesen Undank kränken; wie viele Hände mochten an dem geschaffen haben, was da genußlos verbraucht wurde! »Sie wissen nicht, was Arbeit ist!« fuhr es ihr durch den Sinn, und ihr Gesichtchen ward kummervoll.
Des Ratsherrn würdige Freundin versuchte auch, sobald das Mahl zu Ende war, mit mütterlicher List den Grund dieser unzeitigen Trauer zu ermitteln. Gabriele war zu schlicht für diplomatische Ränke; sobald sie nur erraten hatte, was ihre Beschützerin wollte, legte sie ihre ganze Seele vor sie hin. Sie habe oft, so erklärte sie, in ernsten Stunden darüber nachgedacht, was sie einmal beginnen würde, wenn ihre Augen, wie die so vieler Genossinnen, zum Klöppeln und Ausnähen zu schwach würden. Und wenn man Zukunftsgedanken spinne, so sei es natürlich, daß man das Erwünschteste zuerst in Betracht ziehe. Da habe sie denn geglaubt, nichts könne für eine arme Dirne schöner sein, denn als Magd in solch einem Hause zu dienen; sie habe auch den festen Glauben gehabt, sie könne backen, kochen, flicken und waschen so gut wie jede, und was sie noch nicht könne, würde sie mit Geduld und Fleiß wohl noch gelernt haben. Aber o Jesus! wie seien ihr heute die Schuppen von den Augen gefallen! Kaum zur untersten Scheuermagd lange ihr Können.
»So gering schätzest du dich ein, Gabriele?« erwiderte lächelnd die alte Dame. »Aber mir scheint, daß du immerhin als Scheuermagd beginnen könntest, denn du würdest es schnell genug bis zur Schaffnerin bringen. Du brauchst ein Ding nicht mehr als einmal zu sehen, um es zu begreifen.«
Gabriele, in ihrer Eigenliebe geschmeichelt, lächelte ein wenig vor sich hin. »Es freut mich, daß Ihr das denkt,« sagte sie, »aber da ist noch ein andrer Grund, warum ich traurig bin. Meine zwei Hände wären in diesem Hause nur ein Paar unter zehn anderen Paaren, und so ist Dienen keine Freude! Der Herr würde es nicht merken, wenn morgen ein andrer die Arbeit täte, die heute ich getan habe, und das wäre Arbeit ohne Gotteslohn, nur um Geld.« Die Matrone ging, den Ratsherrn aufzusuchen, und berichtete ihm unter Lachen, was Gabriele ihr soeben gestanden habe. »Ich weiß ihr wohl eine Antwort,« sagte der Ratsherr, und sein schönes Gesicht wurde flammend rot. Er ging, Gabrielen aufzusuchen, die nachdenklich noch immer an der Stelle stand, wo die alte Dame sie verlassen hatte, und da er mit Recht schloß, daß ihr Sinnen auch noch nicht wesentlich von seinem Gegenstande verrückt sein würde, so fing er geradezu an und sprach: »Gabriele, es gibt in diesem Hause eine Stelle, die so ist, wie du sie dir eben gewünscht hast.« Sie blickte erschrocken auf, wollte etwas sagen, verstummte aber vor dem strahlenden und eindringlichen Blick seiner Augen. Er fuhr fort: »Niemandem als mir sollst du verantwortlich sein für die Arbeit, die du tust, und da wo du stehst, kann keiner je stehen und dich ersetzen. Dem Gesinde sollst du gebieten, aber dennoch wirst du die letzte Magd sein, denn aller Arbeit muß in deinen Gedanken sein, und du sollst dich nicht frei fühlen, als bis alle ihre Arbeit getan haben. Würde dir ein solcher Dienst gefallen, Gabriele?« Dem Mädchen brauste es vor den Ohren. Sie versuchte, wie gegen einen Wirbelwind kämpfend, auf dem Boden stehenzubleiben, wo sie sich sicher fühlte, deshalb sagte sie leise und mühsam: »Herr, ein solcher Dienst würde mir wohl gefallen!« »Überlege es wohl,« fuhr der Ratsherr fort, und seine Stimme zitterte ein wenig. »Es handelt sich um dein ganzes Selbst mit allen seinen Kräften. Du sollst geizig sein mit Weizenkörnern und freigebig mit Talern. Die Motte im Speicher soll dich ärgern, aber Krieg und Brand soll dich gefaßt und stark finden. Du sollst Magd sein unter Mägden und Edelfrau unter Edelfrauen. Du sollst jeden hören, für alle Rat haben, deine Zeit darf dir nicht zu kostbar sein, wenn es sich um eine Kunkel voll Flachs oder einen Korb Äpfel handelt; du mußt sechs Dinge zu gleicher Zeit vollbringen können, und du darfst nie so aussehen, als ob du Eile hättest. Ich frage noch einmal, würde ein solcher Dienst dir gefallen?« Gabriele vermochte nur zu nicken. Ihre Augen standen voll Tränen. »Dann frage ich dich also hiermit, Gabriele,« schloß der Ratsherr – er ergriff die Hand der Klöpplerin und küßte sie sehr inbrünstig – »dann frage ich dich also: willst du in diesem Hause als Hausfrau eintreten?« – – Die Antwort auf diese Frage ließ sehr lange auf sich warten. Sie erfolgte überhaupt nicht mehr an diesem denkwürdigen Abend, denn Schicksalswendungen, wie diese, finden nur langsam Eingang in die Vorstellung einfacher Menschen, und Gabriele mußte erst eine lange, bange Nacht voll seliger und demütiger Gebete verbringen, ehe sie glauben konnte, daß sie recht gehört. Am andern Tage hielt der Ratsherr förmlich um Gabrielens Hand an und erhielt ein schluchzendes »Ja« zur Antwort. Dann erst begann er mit der Zartheit eines Gärtners, der eine Blume in fremdes Erdreich verpflanzt, die Betäubte in seiner Liebe und ihrem Glück heimisch werden zu lassen. Als er Gabrielen nach zwei Monaten zum Altar führte, war sie seiner Liebe gewiß und er der ihren.
Wenn ich bisher ein guter Erzähler war: wenn es mir gelungen ist, das Charakterbild zweier Menschen klar zu überliefern, so müßte mein Leser jetzt imstande sein, nach einer einfachen logischen Gesetzmäßigkeit das Rechenexempel zu lösen, das sich aus dem Plus und Minus ihrer Eigenschaften ergibt. Das Resultat dieser Gleichung war ein Schicksal, ein kleines, stilles, das wenig Aufsehen machte; und doch ein Schicksal, das erzählt zu werden verdient, weil es vielleicht das Schicksal mancher Frau ist.
Ich habe Gabriele geschildert als einen Menschen, der zugleich bescheiden und seines Wertes bewußt ist. Also wird sie nicht in den Fehler verfallen sein, an dem Frauen, die durch Heirat emporgekommen sind, so leicht kranken! Sie wird nicht abgewogen haben, was ihrem Rang an Ehrungen zukam, sie wird nicht eifersüchtig gewacht haben, daß ihr nicht weniger geschähe als der Base, der Schwägerin, der Freundin. Sie wird das Gefühl, das ihr unmittelbar entgegenkam, ebenso erwidert haben, und wo es ausblieb, keinen Versuch gemacht haben, es zu erzwingen.
Ich habe auch die Sippe des Ratsherrn als eine weitherzige und redlich gesinnte gekennzeichnet. Die treue Gesinnung der blonden Schwester des Ratsherrn und die offenkundige Gunst der vornehmsten Matrone der Stadt unterstützten Gabriele in jedem Falle, und das Ansehen des Gatten half vollenden, was die Anmut der jungen Frau etwa nicht allein zu bewirken vermocht hätte.
Es war auch nicht das Verhältnis zu ihrer eigenen Familie, das einen Mißklang in Gabrielens Eheharmonie hätte tragen können. Fleißig, gesund und glücklich, wie diese einfachen Menschen waren, fühlten sie auch insgesamt zu stolz, um irgendeinen unbilligen Vorteil aus der Heirat ihrer Schwester ziehen zu wollen. Wo der Ratsherr zu ihren Gunsten wirken konnte, tat er es gern, denn es war ein tüchtiges Geschlecht, das seiner Fürsprache Ehre machte. Sie hielten sich aber immer ein wenig abseits und riefen seine Hilfe nur da an, wo sie sagen konnten, daß Zusammenhalten im Nutzen beider Teile läge, zum Beispiel, wenn sie sich an irgendeiner öffentlichen Arbeit zu beteiligen wünschten, wo sie als Gegenwert die Wahrung der Gemeindevorteils hoch hielten, den der Handwerker sonst nicht gern anerkennt.
Was endlich den Ratsherrn selbst betrifft, so ist er wohl als ein Mann zu schätzen, der sein Wort an einer Frau ganz erfüllt. Wie er sich durch den Unterschied zwischen seiner und Gabrielens Erziehung nicht hatte anfechten lassen, so wird er auch zu ihr gestanden sein, wo etwa dieser Unterschied sich fühlbar gemacht haben mag. Er wird ihre Unwissenheit vor anderen gedeckt, er wird ihren hellen, empfänglichen Geist gebildet haben. Und die Saat, die er in ihre weiche Seele legte, wird Blumen stillen Glücks für ihn und sie getragen haben.
Und doch hatte diese Ehe ein Schicksal.
Gabrielens Leben war zunächst ein Lernen auf jedem Gebiete. Sie war eine redliche Frau, die das, was sie war, auch bis zur Vollkommenheit sein wollte, und wenn sie denken mußte, sie habe es in irgendeinem Punkte an Willen oder Fähigkeit fehlen lassen, so grämte sie sich schwer. Sie ward in allen Punkten das, was der Ratsherr von ihr erwartet hatte, das Herz, der Fels, das lebendige Licht des Hauses, und sie ward es nach verhältnismäßig kurzer Zeit. Glaube nicht, daß das ein leichtes für sie gewesen sei! Gabriele hatte zunächst die Abneigung einer alteingesessenen Gesindeschar zu überwinden. Dann hatte sie die Arbeit nicht mehr nach der eigenen Klugheit allein, sondern nach Zeit, Willen und Fähigkeiten von einem Dutzend Untergebener einzuteilen. Gabriele mußte das Tagewerk jeder Magd und jedes Knechtes im Kopfe haben, und, wenn sie nicht Mißstimmung und ewig erneuten Widerstand erregen wollte, auch die persönlichen Eigenheiten jedes einzelnen. Sie mußte vorsichtig und gerecht sein in ihren Forderungen, denn verlangte sie zu viel, so riß Unzufriedenheit, verlangte sie zu wenig, so riß Unordnung und Trägheit ein. Sie mußte ihren Leuten schlechte Laune und Krankheit ansehen, mußte ein scherzendes Wort gegen die eine, ein Heilmittel für die andere bereit halten, durfte sich nicht erst bitten lassen, sollte aber auch nicht zu rasch damit kommen und jedenfalls immer den Abstand wahren zwischen sich und jenen Übelgesinnten. Sie durfte sich von der Schaffnerin nicht mahnen lassen, daß die Birnen zum Mosten reif seien, vom Knecht nicht an das Schwefeln der Fässer, und sie mußte doch beiden den Ruhm gönnen, den Zeitpunkt der Arbeit selbst zu bestimmen. Sie mußte Jahreszeiten und Elemente verstehen lernen, wie die Launen ihres Gesindes. Bei jedem Brot, bei jedem Lichte, bei jeder Elle Leinwand, die sie aus Keller und Speicher holte, mußte sie wissen, wieviel noch vorhanden war, die Würste im Rauchfang und das Mus im Bottich, der Sirup, die Kienspäne und die kleinen Büschelchen Schachtelhalme zum Scheuern der Zinngefäße: alles mußte registriert sein in Gabrielens Köpfchen, und sie mußte merken lassen, daß es das war, und durfte doch den Anschein geizigen Nachzählens nicht haben.
Doch war dies der bei weitem leichtere Teil ihrer Aufgabe. Weit ernster und verantwortungsreicher erschien das Amt, das sie an ihrem Gatten zu üben hatte. Scherzen und kosen, wenn er zum Kosen bereit war, und beiseitestehen, wenn Wichtigeres ihn beschäftigte, ist nichts; das lernt jede Frau über Nacht. Aber der Ratsherr stand mitten im öffentlichen Leben, und jeder seiner Schritte hatte eine Bedeutung für viele, wurde getadelt oder gebilligt. Und Segen wie Fluch schlug zuerst an das Ohr seines Weibes. Da hatte Gabriele denn zu lernen, was sie verraten und was sie verschweigen mußte; was sie auf eigene Gefahr hin schlichten oder in rechtes Licht rücken durfte, und was sie still bei sich herumtragen mußte, um es im gegebenen Augenblick vorzubringen und zu befürworten. Sie hatte zu lernen, wo man horchen und wo man sich abwenden mußte; sie, die Arglose, mußte unterscheiden können zwischen Übelwollenden, Gleißnern, schwachen Gutwilligen und fest Erprobten; mußte wissen, wen der Ratsherr zu Recht oder Unrecht liebte, wen er verkannte, wen er fürchtete. Sie hatte auch zu lernen, wann sie selbst ein Anliegen vorbringen durfte, wann ein teilnahmsvolles Fragen von ihrer Seite erwartet ward, und wann sie sich gedulden mußte, bis des Gatten Herz und Mund sich von selber auftat zu seiner Erleichterung. Sie mußte Wolken auf seiner Stirn sehen, die ihr bange machten, und durfte nicht fragen: »bin ich schuld?« und sie mußte Teilnahme und oft gar Rat in Dingen finden, die sie nur halb verstand.
So war es zu jener Zeit, in welcher die Frauen das Wort »Bedeutung« noch nicht kannten und doch alles bedeuteten für den Kreis, in dem sie standen: da durfte jeder Brave all diese Dinge und noch viel mehr von seiner Frau verlangen. Es ist damals nicht leicht einem Manne eingefallen, Rücksicht auf die Anlage einer Frau zu nehmen, und noch viel weniger einer Frau, es zu beanspruchen. Ich glaube nicht, daß die Männer sich höher fühlten als heute; aber sie vertraten die eiserne Notwendigkeit des Lebens, den Kampf, die Ehre der Gemeinde, die Sicherheit des Vaterlandes. Und dieser Notwendigkeit allein ordneten die Frauen sich unter, waren ganz Beobachtung, ganz Anpassung, ganz Entsagung. So töricht waren wenige Frauen, daß sie das nicht begriffen hätten: des Mannes Arbeit konnte nur gesegnet sein, wenn die aufreibenden Nichtigkeiten des täglichen Lebens ihm erspart blieben. Die Frau war noch nicht zur Krone der Schöpfung proklamiert, ach! aber sie war die unentbehrliche Lebenskraft des Einzelnen wie des Ganzen.
Und so war auch Gabriele in ihrem kleinen Reiche. Ihr Gatte fühlte wohl, was sie ihm und dem Hause war. Hatte er sie vorher geliebt, so betete er sie jetzt an. Er schätzte ihren Rat; die leiseste Wolke der Mißbilligung auf ihrer klaren Stirn war ihm wie ein schwerer Tadel; eine Träne in ihren Augen machte die seinen hellsehend und milde. Er wußte, daß ihm nichts Unnützes, Eitles, Spielerisches von ihr kam; die Frau, der einst die eigene Arbeit heilig war, hielt wie eine Priesterin die Arbeit ihres Gatten hoch.
Es kamen Kinder. Sie vermehrten Gabrielens Lasten, sie kürzten ihr den Schlaf. Sie brachten aber auch wieder liebliche Ruhestunden, in denen die Gatten, Hand in Hand sitzend, sich sorglos dem Anschauen ihrer Spiele hingaben. Und jetzt hätte beider Glück vollkommen sein müssen – wenn nicht in Gabrielen langsam, aber stetig um sich greifend, eine heimliche und geheimnisvolle Krankheit am Werke gewesen wäre.
Es war nicht die Krankheit des Körpers. Die ersten Zeichen stellten sich schon etwa zwei Jahre nach ihrer Vermählung ein und waren so subtil, daß sie kaum Gabrielen selbst zum Bewußtsein kamen. Nur eine flackernde Unruhe war's, etwas wie Unlust am Schaffen, etwas wie Sehnsucht, sich einem bestimmten Gedanken einmal ganz und ungestört hingeben zu können. Was für ein Gedanke das sein mochte, darüber nachzudenken fand Gabriele nicht Zeit noch Muße. Unaufhaltsam drängte das geschäftige Leben mit seinen tausend Forderungen. Aber während sie treu und emsig ihr Linnen maß, ihre Brote zählte, ihren Haspel füllte, ihre nähenden, spinnenden und kochenden Dienerinnen beriet, glitt es schemenhaft vor ihr her wie ein luftiges Etwas, das sie gerne festgehalten hätte und nicht greifen konnte. Wie ein ferner, süßer, vertrauter Ton, der leise, leise heranschwebte, und den der Lärm der Gegenwart verschlang. Wenn sie sich eine Viertelstunde Muße erhetzt hatte, siehe, dann war alles leer und tot in ihr, und sie fragte sich erstaunt, wozu sie nun so geeilt hatte. Meist freilich kam es nicht zur ersehnten Ruhepause; meist, wenn sie mit dem letzten Griff ihres Tagewerkes das eiserne Gewand ewig gespannter Aufmerksamkeit glaubte hinwerfen zu können, kam ein Gast, ein Notleidender, eines ihrer Geschwister, ihr Gatte. Sagen, daß Gabriele sich nicht gefreut hätte, daß ihr Herz und ihre Arme sich nicht in Liebe dem Kommenden geöffnet hätten, wäre Wahnwitz; aber das geheimnisvolle Etwas, dem sie einen Schritt näher gewesen zu sein meinte, huschte wieder vor ihr her. Sie konnte nicht anders, als ihm nachblicken – nachsinnen – einen Augenblick wenigstens! Und ihr erster Gruß klang zerstreut.
Selbstvorwürfe vollendeten, was die nagende Unruhe begonnen hatte: Gabrielens Äußeres zeigte die Spuren ihrer inneren Zerrissenheit. Ihr Auge haftete nicht mehr klar und freundlich im Auge des Gatten, es irrte suchend umher und senkte sich oft. Von ihrer Stirn wollte eine kleine böse Falte fast nie mehr weichen. Ihre Wangen verblaßten, ihr Körper magerte ab. Da bemerkte der Ratsherr die Veränderung, erschrak aufs tiefste und beschwor sie, ihm zu sagen, was ihr denn fehle.
Gabrielen traten die Tränen in die Augen, als sie ihn so ergriffen sah. Sie legte die Arme um seinen Hals, hob ihr Antlitz zu ihm auf und sagte ernsthaft: »Ich schwöre dir bei Gott, daß ich nicht weiß, was es ist. Wüßte ich es, ich würde es dir längst gesagt haben, würde längst auf Abhilfe gesonnen haben. Denn es ist mir, als brenne ein Feuer unter meinen Füßen, das mich dahin und dorthin treibt und mich keinen Bissen Brot in Ruhe essen läßt. Ich möchte glauben, daß ich behext bin.«
»Gabriele,« flüsterte der Mann, indem er sie fester an sich zog, »Gabriele, bist du nicht glücklich?«
»O Liebster,« rief sie weinend, »ich liebe dich wie an dem Tage, da Gott unsre Hände ineinanderfügte. Ich liebe dich noch tiefer, inniger. Jede Stunde meines Lebens war mir eine neue Offenbarung des seligsten Wunders. Du bist mir alles!«
»Dann verstehe ich nicht, was dich grämt,« sagte der Ratsherr. Und nach einer Weile fragte er wieder: »Hast du Sorgen um die Kinder?«
»Sie blühen wie die Rosen im Hag,« rief Gabriele, und ihr Gesicht leuchtete unter ihren Tränen. »Täglich danke ich Gott, daß er mir solche Kinder geschenkt hat!«
»Dann verstehe ich nicht, was dich anficht,« sagte der Ratsherr noch einmal. Er suchte hin und her in seiner Angst und verfiel auf dieses und jenes. »Hat dich irgendeiner meiner Sippe gekränkt? Ist von den Deinen jemand in Not oder krank? Sind die Knechte aufsässig oder die Mägde faul? Gehen Gerüchte über mich in der Stadt umher?«
Da mußte Gabriele lächeln in all ihrer Bangigkeit. »Glaube mir, Lieber, wenn die Dinge, die du da genannt hast, imstande wären, so monatelang an meiner Ruhe zu nagen, dann müßte ich eine schlechte und törichte Frau sein. Ich wäre ehrlich zu dir gekommen, wenn ich in Sorge um die Meinen oder in Not mit dem Gesinde gewesen wäre. Deine Sippe ist voll Güte zu mir, und was die Neider im Lande betrifft, so weißt du, daß ich mir ihre Meinung nur zu Herzen nehme, wo ich weiß, daß du Nutzen draus ziehen kannst. Nein – das alles ist nicht, was mich quält.«
»Vielleicht«, sagte der Ratsherr, »liegt zu vieles auf deinen Schultern. Du bist so gewissenhaft, und ich sah noch nie, daß du dir Ruhe gönntest.«
»Meine Schwestern arbeiten bis in die tiefe Nacht um ihr Brot,« rief Gabriele ein wenig erzürnt ob der Zumutung, »und ich soll das nicht leisten können, was nur Freude und Spiel für mich ist? Nie hat mich die Not getrieben, länger zu arbeiten, als ich es gerne tat; nie hat mir die Arbeit den Schlaf gekürzt. Es gibt Mütter, die mehr Kinder und weniger Gesinde haben. Ich würde mich schämen, das Wort Übermüdung nur zu nennen.«
»Dann,« sagte der Ratsherr in tiefer Besorgnis, »dann sehe ich nur noch eines: dann bist du krank! Und das ist wohl das Schlimmste von allem. Denn es zwingt uns, Hilfe außer uns zu suchen.«
Gabriele erschrak und wehrte sich lange, denn sie empfand, so unerfahren sie in ärztlichen Dingen auch sein mochte, dunkel die Gefahr der Irreleitung für den Arzt, dem sie keine Krankheit, nur einen unbeschreiblichen Seelenzustand vorführen konnte. Sie sah voraus, daß sie nutzlos mancherlei Qualen würde ertragen müssen, und sie fürchtete sich sehr. Denn in jener Zeit gingen Ärzte mit grausamen Mitteln ihren Kranken zu Leibe, und alles, was wie Geistesverwirrung aussehen konnte, wurde mit Härte ausgetrieben, als ob man die rebellische Vernunft durch strenge Maßregeln hätte zwingen können. Gabriele bat daher ihren Gatten flehentlich, noch ein Weilchen zu warten, ob das Übel nicht etwa von selbst weichen wolle; und er, dem das Herz blutete bei dem Gedanken, die liebste Frau von den Händen fühlloser Quacksalber mißhandelt zu sehen, willigte nur zu gerne ein.
Aber das kleine graue Schemen blieb da und rollte wie ein gespenstisches Garnknäuel, das sich hemmend und verwirrend in tausend listigen Schlingen abwickelt, vor Gabrielens Füßen her. Sie machte jede Anstrengung, deren ihr sonst so starker Wille fähig war, die sonderbare Verstimmung ihres Gemütes zu vergessen. Sie log eine gesteigerte Heiterkeit, sie suchte neue Zerstreuung, sie berauschte sich in Festen und schmückte sich, wie sie es vorher nie getan. Es waren traurig gewaltsame Versuche, die nach kurzer Zeit traurig endeten. Die quälende Unruhe in ihrem Innern brannte weiter und zehrte an ihr wie ein Fieber.
Aber Gabriele lebte in einer Zeit, wo dem Menschen die Fähigkeit der Reflexion, der Selbstbespiegelung in beschränkterem Maße verliehen war, als dies heute der Fall ist. Sogar die Sprache jener Zeit ist arm an Ausdrücken, die für solche inneren Zustände Maß und Wage geboten hätten. Und selbst gesetzt den Fall, es hätte ein Wissender Gabrielen die Augen öffnen können und ihr einen Einblick geben in das feine Uhrwerk der Natur, die in jedes Würzelchen den Trieb lichtsuchenden Schaffens, in jeden Nerv den Drang zur Tätigkeit gelegt hat, und die sich durch grimme Unregelmäßigkeit rächt, wenn irgendwo ein Kleinstes verkümmert – Gabriele würde ihm nicht geglaubt haben. Ein Dasein, das vor Not und Fährde geborgen war; ein Gatte, der sie liebte, und holde, blühende Kinder: sie würde jeden einen Frevler genannt haben, der mehr vom Schicksal gefordert hätte. Daß ein Organ in ihr krankte und siechte, sie ahnte es nicht.
Eine böse und wirre Zeit begann für Gabriele. Denn endlich mußte sie doch in ihrer Hilflosigkeit den Rat des Arztes suchen, und, da natürlich der eine Rat nicht das Richtige traf, einen langen Leidensweg voll unnützer und schädlicher Versuche durchlaufen. Von den Blutegeln und spanischen Fliegen, von den Pflastern, Salben, Tränklein, Bädern, Pillen und Aderlassen will ich erst gar nicht anfangen zu berichten. Gabriele hatte bei aller Zartheit einen gesunden Körper und trug keinen dauernden Schaden davon. Aber was ihr schadete und ihren Zustand verschlimmerte, war die anhaltend auf ihr Leiden gerichtete Aufmerksamkeit. Gabriele empfand es als höchst lästig, über viele Dinge Auskunft geben zu müssen, auf die sie bisher keinen Gedanken verwandt hatte; teils empörte sich ihre Keuschheit, teils ihr gesunder Verstand, der ihr die künstlich ausgedachten Zusammenhänge zwischen dem und jenem lächerlich erscheinen ließ. Und es bemächtigte sich ihrer ein Gefühl hilflosen Zornes, eine böse Ungläubigkeit, die bei jedem neuen Ratschlag sich in heftigen Launen äußerte und die ihr ganzes Wesen in Reizbarkeit und Unfreundlichkeit wandelte.
Es mochten vier Jahre vergangen sein, seit diese Veränderung ihres ganzen Selbst in Gabrielen am Werk war. Auch für den Ratsherrn war dieser Weg ein Leidensweg gewesen. Er konnte sich nicht verhehlen, daß sie ihm manches vorenthielt, worauf er durch süße Gewohnheit ein Recht zu haben glaubte. Nicht mehr in beschaulicher Betrachtung des Lebens konnten die Gatten Hand in Hand einherschreiten. Gabriele war auch hierin verändert, daß sie schwärzer sah als vorher, sich vor Aufregungen ängstigte, daß Mißerfolge sie schreckten, Unfreundlichkeiten sie kränkten. Auch mußte der Ratsherr so manches für sich behalten, was er sonst selbstverständlich auf ihre Schultern geladen hatte, weil er fürchtete, ihrer Schwäche neue Lasten aufzubürden. Freilich entging der Frau diese Änderung seiner Gewohnheiten nicht, und sie war klug genug, sie auf die richtigen Ursachen zurückzuführen. Und diese Erkenntnis ward eine Quelle der tiefsten Verzweiflung. Sie sah, daß alles auf dem Spiele stand, daß sie nur um einer unbegreiflichen Verstimmung willen, über die sie nicht Herr werden konnte, das Beste zu verlieren im Begriffe stand. In solchen Augenblicken schien es ihr, als müsse sie das Fürchterlichste auf sich nehmen, um nur die einstige Gesundheit wiederzugewinnen; sie unterwarf sich jeder Vorschrift der Ärzte, sie ward eine zahme, gewissenhafte Patientin – bis das Stadium der Entmutigung, der Hoffnungslosigkeit, der Rebellion wieder eintrat.
Und so wäre Gabriele mit der Zeit wohl dem Schicksal so mancher Frau verfallen, jener krankhaft gesteigerten Reizbarkeit und dem unfruchtbaren Getändel mit Heilmethoden aller Art. Und es wäre ja wohl auch ihr Eheglück schließlich dem unfaßbaren Verhängnis zum Opfer gefallen.
Da kam Rettung in Gestalt jener treuen alten Freundin, die für Gabriele seit den ersten Tagen ihrer Ehe wie eine Mutter gefühlt hatte. Sie hatte die junge Frau in alle ihre Pflichten hineinwachsen sehen. Sie hatte, vielleicht wachsameren Auges als der Ratsherr selbst, die ersten Zeichen jener seltsamen Müdigkeit und Zerstreutheit beobachtet, die stets wachsende Hast und Unruhe, schließlich die unbezwingliche Übellaunigkeit. Auch sie gehörte zu den Menschen, die gern die nächste und einfachste Ursache der Dinge annehmen, und sie hatte sich ihren Vers gemacht, lange ehe die Ärzte mit ihren Versuchen begannen. Aber bedächtig, wie sie war, hielt sie mit ihrem Wissen zurück, ließ sich indessen gern von Gabrielen jede neue Erfahrung und jede neue Behandlung erzählen, freute sich ihrer Nutzlosigkeit und gewann endlich Gabrielens Vertrauen zu einer erschöpfenden Beichte. Und als sie die phantastische Geschichte all dieser gestaltlosen Leiden, das wirre Bekenntnis der Willenlosigkeit und all die Befürchtungen und Reuequalen des armen Weibes vernommen hatte, da erwiderte sie nur mit der einfachen Frage, ob denn Gabriele nicht des Guten zu viel tue, wenn sie so rastlos tätig sei. Wie vorher ihrem Gatten, so antwortete Gabriele nun auch der Freundin mit Entrüstung, sie wisse nichts von Ermüdung.
»Man kann auch am Genuß Schaden nehmen, wenn man zu viel tut,« erwiderte die weise Freundin. »Und du kannst nicht leugnen, daß dein Gesicht sich verdunkelt, wenn Gäste oder Hilfeheischende kommen. Ich sage dir, sogar gegen Mann und Kinder habe ich dich oft lässig gesehen, als ob ein heimlicher Gedanke in dir hämmerte, daß du unausgesetzt auf ihn horchen mußt. Ich habe auch ein großes Haus geführt, habe viele Kinder großgezogen und meinem Gatten manche Sorge ferngehalten. Es ist mir nie zu viel geworden, aber müde war ich oft, zum Sterben müde. Und dann, dünkt mich, mag eine Stumpfheit, wie deine jetzt, auch mich besessen haben.«
Sie redete lange auf Gabriele ein. »Wir sind ehrgeiziger, als wir scheinen mögen,« sagte sie unter anderem; »meinst du, ich weiß nicht, was es kostet, ein Haus so schmuck zu halten? Ich entsinne mich noch gut, was du sagtest, als du diesen Teufelskram von Weltwundern und Jahrmarktsseltenheiten, den die Mannsbilder so närrisch lieben, zum ersten Male sahst: nicht zur Scheuermagd hieltest du dich gut genug! Und jetzt sieh her, was du gelernt hast, was du leistest! Zähle die Schritte, die du vom Morgen bis zum Abend vom Brotspeicher im Dach bis zum Fischbecken im Keller tust! Das zehrt an deiner Kraft, mein Kind, und wenn du es auch nicht wahrhaben willst, dein Leiden ist nichts als Müdigkeit und Schwäche!«
Das klang alles so einfach, daß Gabriele nicht zu widersprechen wagte; sie konnte nicht leugnen, daß jede neue Forderung an ihre Zeit sie mit einem Unlustgefühl erfüllte, das sie nur schwer bekämpfen konnte. Sie duldete es, daß die alte Dame den Ratsherrn und den vertrautesten Arzt des Hauses zur Stelle rufen ließ, und daß schließlich ein feierliches Konsilium abgehalten wurde, wie man der eigensinnigen Gabriele, die von Ruhe nichts wissen wollte, wieder zu Kräften helfen könne. Der Arzt, der der Vernünftigen einer war, wußte Rat: »Wann schläft Euer jüngstes Kind?« fragte er die Patientin. »Zwei Stunden um die Mitte des Tages? Nun wohl, um diese Zeit seid Ihr entbehrlich, denn die größeren Kinder werden wohl bei einer Schaffnerin versorgt werden können. Ihr legt Euch also still zu dem Kleinen und schlaft, solange er schläft! Nehmt dies als eine Verschreibung und handelt gewissenhaft danach!«
Gabriele empörte der Gedanke, daß sie um die Mitte des Tages schlafen solle wie eine Greisin; sie wandte auch gleich ein, daß sie gerade diese zwei Stunden, wo das Kind ihrer entraten könne, für mancherlei Hausgeschäfte dringend brauche. Aber der Arzt wiederholte seinen Befehl in strengem Tone, die Freundin bestürmte sie und der Gatte bat leise, mit dem alten Liebesblick in ihre Augen, um seiner Ruhe willen das kleine Opfer zu bringen. Da mußte sie nachgeben und versprach, das sonderbare Mittel eine Woche lang zu versuchen.
Das erstemal, als Gabriele sich hinlegte, lag sie mit weit starrenden Augen und dachte an alles, was jetzt im Hause vorgehen mochte ohne ihr Dabeisein. Sie lauschte auf jedes Geräusch, das gedämpft in ihr geschlossenes Gemach drang. Sie hörte die Haustüre fallen und wußte, daß jetzt die Bäuerin vom Gutshofe gekommen war, um Eier abzuliefern, und war ärgerlich, daß sie nicht dabei sein konnte, sie Stück um Stück durch die hohle Hand zu prüfen. Sie hörte gelle Schreie der Kinder und wußte nicht, ob sie Freude oder Schmerz bedeuteten. Sie wurde aufgeregter, erhob sich nach kaum einer Viertelstunde und eilte zu ihrem Gatten, um ihn zu bitten, sie von ihrem Versprechen zu entbinden. Diese Art von Ruhe sei keine Erholung, hundertmal wohler wäre ihr, wenn sie wüßte, was vorginge, und nachher nicht Fehler gutzumachen hätte, die während ihrer Abwesenheit begangen worden seien.
Der Ratsherr sah erst etwas böse drein, indes ein Blick in das zuckende Gesicht seiner Frau machte ihn mitleidig. Er legte den Arm um ihre Schultern und führte sie sanft, aber stark in das Schlafzimmer zurück, indem er ihr voll Innigkeit und Liebe ins Gewissen redete.
»Gabriele,« sagte er, »hast du die Zeit vergessen, wo wir die glücklichsten Menschen auf Erden waren? Wo du heiter und weise warst, mein Sonnenschein und mein Vertrauter, mein Ratgeber, mein besseres Selbst? Das alles ist mir verloren, seit du krank bist; ich trage meine Sorgen allein mit mir herum und wage nicht, sie mit dir zu teilen. Und du willst nichts tun, um mir das Glück zurückzugewinnen? Was kann denn in diesen zwei Stunden Schlimmes im Hause vor sich gehen, was nicht mit Geld gutzumachen wäre? Und würde ich nicht alles Geld und Gut der Erde hingeben, um dich wieder gesund zu sehen? Komm, tu mir's zuliebe! Leg dich hierher neben das Kind! Sieh, wie süß es schläft!«
Er drückte die Widerstrebende, aber schon halb Beschämte in die Kissen nieder, legte vorsichtig das schlafende Kind neben sie, nahm ihre Hand, ihren Zeigefinger und drückte ihn sacht in die Fläche des kleinen rosigen Pfötchens, das sich im Augenblick der Lageveränderung ein wenig geöffnet hatte. Augenblicklich schlossen sich die Fingerchen des Kindes um den vertrauten Gegenstand mit jenem festen, weichen Drucke, den Mütter wohl kennen. Gabriele mußte lächeln, so nah ihr sonst die Tränen gewesen sein mochten. Sie ließ das Haupt mit einer Gebärde der Ergebung in die Kissen sinken, küßte ihres Gatten liebevolle Hand und schloß die Augen.
Da sie aber wirklich nicht schläfrig war, öffnete sie sie bald wieder und lauschte weiter. Aber erstens durfte sie das schlafende Kind nicht wecken, das immer noch ihren Zeigefinger festhielt, und dann lagen ihr auch die weichen Worte ihres Gatten im Sinne, und sie dachte, daß sie es ihm schuldig sei, jedes Mittel der Heilung zu versuchen. Deshalb bezwang sie sich, lag still und betrachtete das liebliche Gesichtchen ihres schlummernden Kindes.
Und wie sie sich so recht vertiefte in den Anblick, an dem eine Mutter sich nie satt sieht, da glitt unversehens ihr Blick über das Spitzenhäubchen hin, das des Kindes rosiges Köpfchen umschloß. Es war einem ihrer älteren Kinder von irgendeiner Pate geschenkt worden und mochte bei dem ersten besten Krämer gekauft sein, denn es war von unedler, alltäglicher Arbeit. Aber etwas in der Zeichnung der Spitze bannte Gabrielens Aufmerksamkeit »Wie hübsch ist dieses Muster,« dachte sie, »wenn das Ding nur besser gearbeitet wäre!« Sie begann zu sinnen, ihre Phantasie heftete unvermerkt ihren silbernen Spinnwebfaden an dem kleinen Erlebnis an und spann und spann, bis ein schimmerndes Netz von feinen Kunstgedanken klar ausgearbeitet vor Gabrielens innerem Auge lag. Sie sah ein Gebilde von tausend geduldig geknoteten Schlingen, so zart, daß ein Blumenelf die Fingerchen gespitzt haben würde, um es anzufassen, so dicht, daß er keinen Blütenstaub damit hätte sieben können, und so fest und straff geädert wie ein Bienenflügel. Und als Gabrielens Auge dies sah, da fuhr es wie ein Feuer in ihre Hand. Es war ihr, als müsse sie aufspringen und sich an die Arbeit machen; Haussorgen und drängende Arbeit waren vergessen.
Aber das Kind hielt sie fest. Das feine Händchen hatte solch eisernen Griff, daß Gabriele den umklammerten Zeigefinger kalt werden fühlte. So ergab sich denn die Mutter für dies eine Mal, arbeitete aber im stillen an ihrem Vorsatze weiter, in der ersten freien Minute mit der Ausführung der Spitze zu beginnen, und überlegte, wo sie ihre Geräte haben konnte. Und als endlich ein tiefer Atemzug neben ihr und das freiwillige Losspannen der energischen kleinen Fingerchen ihr verriet, daß ihre Gefangenschaft zu Ende sei – da wunderte sich Gabriele ein wenig, wie rasch ihr diese zwei Stunden dahingegangen.
Der Ratsherr war klug genug, nicht gleich am ersten Tage nach der Wirkung der Verordnung zu fragen. Er berührte mit keinem Wort Gabrielens Befinden, und sie war glücklich darüber, denn es wäre ihr schwer geworden, ihm zu sagen, daß sie nicht geschlafen habe. Einmal fiel ihr mitten in der Arbeit ihr Spitzenmuster ein. Sie sah es vor sich mit einer gespenstischen Deutlichkeit, weiß leuchtend wie Phosphor auf einem Grunde von schwärzester Nacht, die jeden andern Gegenstand im Zimmer verhüllte. »Noch habe ich es nicht vergessen,« dachte sie voll Freude. Dann seufzte sie leise und schüttelte sich. Das Erwachen kam, das Besinnen auf die tausend Notwendigkeiten des Tages, und ein mutloses Aufgeben: »Dazu komme ich ja doch nie!«
Am andern Tage begleitete der Gatte sie wieder ins Schlafgemach, ließ aber auf ihre Bitte das Kind in der Wiege liegen. Ehe er das Zimmer verließ, flüsterte er von der Türe her noch einmal ein eindringliches »Mir zuliebe!« zurück. Die Frau wurde flammend rot. »Ja, Liebster!« hauchte sie kaum hörbar. Sie lag einige Minuten und kämpfte mit sich, hätte gern getan, was sie für eine Pflicht hielt, brachte es aber nicht über sich. Sie sprang auf, verriegelte die Türe, huschte schuldbewußt ängstlich und auf jeden nahenden Tritt lauschend im Zimmer umher, bis sie ihre Siebensachen beisammen hatte, und saß bald über ihr Pergamentstreifchen gebeugt, den Klöppelbrief entwerfend.
Sie arbeitete, daß ihre Wangen brannten. Die Zeichnung war fast fertig, als das Kleine erwachte. Als der Gatte sie später erblickte, streichelte er ihr lächelnd das Gesicht, in dem die Röte des inneren Feuers noch weiterglühte, und sagte mit glücklichem Ausdrucke: »Rotgeschlafen wie ein Kind!« Sie hätte vor Beschämung in den Boden sinken mögen – aber wie hätte sie die Wahrheit gestehen sollen?
Den nächsten Tag betrat Gabriele ihr Gemach mit den Gefühlen einer Verbrecherin. Der Gatte verweilte einige Minuten, die ihr wie Stunden erschienen, lobte zärtlich ihre Fügsamkeit und Geduld und sah die Gebärde nicht, mit der sie sich abwandte. Kaum daß er sie verlassen, sprang sie vom Lager, schon war das Klöppelkissen zur Stelle, und in wenigen Handgriffen alles zur Arbeit bereit. Nun saß sie, füllte ihre Spülchen, steckte ihre Nadeln und schrak erst beim hellen Aufschrei des erwachenden Kindes empor, mit einem leisen Ausdruck des Bedauerns im erregten Antlitz; sie hatte gehofft, an diesem Tage noch mit dem Klöppeln beginnen zu können.
Von nun an freute sie sich den ganzen Morgen, was immer sonst ihre Hände auch schaffen mochten, auf die stille heimliche Klöppelstunde am Nachmittag. Die eichenen Türen hielten das kleine Geheimnis wohl verborgen. Was sie an Lärm aus Haushalt und Kinderstube etwa durchließen, das drang nicht an Gabrielens Ohr; das leise Rollen und Klappern der Spülchen, jener alte, süße, vertraute Elfentanzschritt, sie übertönten alles. Und jeden Tag erschrak sie ein wenig, wenn des Kindes Weckruf ertönte.
Den Rest des Tages fühlte Gabriele sich leicht und frei. Daß sie eine heimliche Sünderin war, bedrängte sie fürs erste gar nicht, wenn sie auch ihrem Gatten gegenüber sich schuldig fühlte.
Als die Woche um war, an die Gabriele sich mit ihrem ersten Versprechen gebunden hatte, wagte der Ratsherr eine Frage: ob sie denn schon eine Veränderung in ihrem Befinden bemerke? Gabriele erschrak heftig und wußte sich nicht anders zu helfen als mit einer Gegenfrage: ob er denn eine Veränderung in ihrem Gehaben bemerke? Der Ratsherr erwiderte: »Mich dünkt, du bist froher und gleichmäßiger, auch scheint mir, du hast wieder eine lachende Erwartung im Gesicht wie einst. Ich wage es aber noch nicht zu glauben!« Da antwortete die listige Frau: »So will ich noch eine Woche versuchen, es so zu machen, wie ich es diese letzte Woche gemacht habe.«
Sie konnte sich indes nicht verhehlen, daß in der Tat eine Rückveränderung zu ihrem alten Selbst mit ihr vorging. Wenn sie sich den ganzen Morgen in der Tiefe ihres Herzens auf die kommende Stunde freute, so freute sie sich den ganzen Abend über das, was sie in dieser Stunde fertiggebracht hatte, und kam so einfach aus dem Freuen nicht heraus. Sie trug es mit sich herum wie eine liebliche Melodie, die einem auf Schritt und Tritt nachgeht. Ja, auch diese Empfindung mußte Gabriele sich eingestehen: es glitt ihr nur so unter den Händen weg, was sie sonst mit Unlust getan hatte; wenn ihr sonst der Tag zu kurz geschienen hatte für alles, was er erheischte, so war er jetzt mit einem Male um vieles länger, seit die bewußten zwei Stunden daran fehlten. Es war ihr Klarheit gekommen über das Wesen ihrer Krankheit, als sie begriff, daß die gewohnte und geliebte Tätigkeit ihr bisher an ihrem Glück gefehlt habe. Und wenn sie sich auch verwunderte, wie es hatte sein können, daß eine solche Albernheit, wie sie es nannte, ihr fast das Leben zerstört hätte, so wußte sie doch, daß dem wirklich so war. Tief dankbar empfand sie, wie Ruhe und Frohsinn sich täglich mehr in ihr und um sie verbreiteten, wie ein sanftes Licht auf ihren ganzen Lebensweg fiel.
Sie hätte gern das Wundersame und Unbegreifliche des ganzen Vorganges verstehen mögen, und es drängte sie oft, zu ihrem Gatten zu eilen und ihm ihr Gefühl zu äußern, ihn zu fragen, ob er eine Erklärung oder ein Beispiel dafür kenne. Es tat ihr weh, dies Unverstandene mit sich herumzutragen, ohne es mit ihm zu teilen, der es vielleicht verstanden hätte. Aber sie fürchtete zu sehr das Geständnis ihres Betruges. Wenn sie bedachte, mit welch rührender Treue er immer dafür gesorgt hatte, daß in jenen ihrer Ruhe geweihten zwei Stunden kein Schritt ihrer Türe sich nahe, so fand sie es unmöglich, ihm zu sagen, daß diese Sorgfalt verschwendet, seine liebende Aufmerksamkeit mißbraucht worden war. »Wenn er hört, daß ich ihn monatelang betrogen habe,« so dachte Gabriele oft mit leisem Kummer, »so wird seine Liebe zu mir verlöschen. Er ist die Wahrhaftigkeit selbst!« Und sie schwur sich zu, daß er nie um das Geheimnis wissen sollte.
Der Ratsherr küßte seiner alten Freundin die Hände und nannte sie gerührt die gütige Vorsehung seines Lebens. Die gute Matrone freute sich des Erfolges, den ihre einfache Verordnung gehabt, und Gabriele, wenn sie es hörte, lächelte beklommen und dachte bei sich: »Auch diese darf nie erfahren, daß ihr Rat unbefolgt geblieben ist. Wie würde sie sich kränken!« Und ebenso schwieg sie dem Arzte gegenüber, mit weiblicher Feinheit daran bedacht, ihm das Gefühl der Lächerlichkeit zu ersparen.
Je weiter die Arbeit fortschritt, je köstlicher und reicher die zarte Kunstfertigkeit der neugeübten Finger sich kundtat, desto stiller und seliger wurde Gabriele. Alles Irdische erschien ihr klein. Denn wahre schöpferische Kunstliebe ist nicht anders als wahrer Gottesglaube, sie leiht der Seele schöne lichte Flügel, mit denen sie über die Erde schwebt.
Zwei Stunden täglich sind eine knappe Zeit, um ein großes und allerfeinstes Werk zu Ende zu führen, und Gabriele arbeitete weit über ein Jahr an ihrer Spitze. Es kamen natürlich auch Wochen der Unterbrechung, sei es, daß ein Kind erkrankt war, sei es, daß unruhige Zeiten in Stadt und Land jede Ordnung auflösten. Dann unterwarf sich Gabriele ohne einen Schatten von Verstimmung der Entbehrung.
Endlich war das Werk vollendet. Und wie es nun so dalag, die feste und zarte Gestaltung des schönen Traumbildes, da ging die Freude, die Gabrielens ganzes Wesen verklärt hatte, in einen Sturm neuer Empfindungen auf. Mit einem heftigen Erschrecken kam es Gabrielen zum Bewußtsein, daß es jetzt um ihr Geheimnis geschehen sei: diese Arbeit ließ sich nicht verbergen! Wie ein Hammer pochte die Angst vor dem schmählichen Geständnis einer monatelang durchgeführten Unredlichkeit in Gabrielens Herzen; aber Schlag um Schlag traf einen Gegenschlag. Wie Gabriele als Mädchen gelechzt hatte nach dem verstehenden Worte, das ihrer Arbeit die Krone aufsetze, so brannte sie jetzt töricht und wild auf eine Möglichkeit der Verwendung ihres Geschaffenen. Sie versuchte die Spitze zu vergessen, aber es war ihr, als habe sie ein Kind lebendig begraben. Sie haderte mit ihrer Natur, die sie erst zu Heimlichkeiten trieb und dann zum Geständnis zwang; sie begriff nicht, welche Dämonen in ihr tätig sein konnten, hielt sich vor, daß ihr Lebensglück auf dem Spiel stehe, und gewann es über sich, vierundzwanzig Stunden nicht an die Spitze zu denken. Dann kam der Augenblick der Mittagsruhe, des Alleinseins – und da saß sie, hielt die Spitze in der Hand, saugte sich mit Blick und Geist ordentlich in jede Masche fest und fühlte, daß die Arbeit nicht fertig sei, solange sie hier in der Verborgenheit begraben liege. Und nach einigen Tagen aufreibenden Kampfes gab Gabriele ihn auf und sann nun nur noch auf die erträglichste Form, ihr Schuldgeständnis darzulegen.
Sie holte aus einem Schrank, der Abgelegtes und Ungebrauchtes barg, das Kleid hervor, das sie in den letzten Jahren ihrer Mädchenzeit getragen, das Kleid, in dem sie ihre Liebe und ihr Glück gefunden, das schlichte, dünne, ärmliche braune Kleid mit dem zierlichen Halstuch und dem reinlich gefältelten Häubchen. Sie hatte es nie übers Herz gebracht, sich von diesem Kleide zu trennen, hatte es oft mit heimlicher Rührung betrachtet, es sauber gehalten und vor dem Verfall bewahrt. Jetzt probierte sie es an und änderte flugs mit geschickten, leichten Stichen Sitz und Weite. Sie lachte ein bißchen, als sie es anzog, und freute sich, daß sie ihrem früheren Selbst darinnen gar nicht so unähnlich sah, wie man es nach sechsjähriger Ehe hätte meinen sollen. Ein schwarzer Sammetfleck fand sich auch, den spannte sie fein über ein Kissen, nadelte ihre Spitze recht anschaulich und kokett darauf und betrat, so gerüstet, ihres Mannes Zimmer.
An der Türe packte sie noch einmal die Angst, daß sie fast wieder umgekehrt wäre. Sie wagte kaum, einen Fuß vor den anderen zu setzen; es schien ihr, als müsse der Boden vor ihr nachgeben und sie hinuntergleiten lassen in höllische Schlünde. Und so, in ihrer Zaghaftigkeit, mit den gesenkten Wimpern und den von brennender Scham geröteten Wangen, glich sie so sehr der demütigen kleinen Arbeiterin von einst, daß dem Ratsherrn, der zuerst mit ungeduldigem Staunen auf die Verkleidung geblickt hatte, das Herz weit wurde. »Gabriele,« rief er zwischen Rührung und Lachen, »was soll diese Schelmerei? Willst du mir damit sagen, daß ich meine alte Gabriele wiederhabe, die ich mir aus dem Winkelgäßchen geholt?« Sie aber antwortete nicht, sondern kam langsam auf ihn zu, ohne ihn anzusehen und immer das Kissen mit der Spitze ein wenig vor sich herstreckend, als solle das Kunstwerk ihr Fürbitter sein. So mußte der Ratsherr es ins Auge fassen, und als er es tat, stutzte er und erkannte sofort, daß es eine neue und selten schöne Arbeit war; zugleich aber mußte er auch den verworrenen und gequälten Ausdruck im Gesichte seiner Frau bemerken, und es dämmerte ihm, daß da ein Geheimnis sich enthüllen sollte. »Hast du diese Spitze gemacht, Gabriele?« fragte er sanft. »Du große Künstlerin, es ist deine schönste! Aber wann und wo hast du diese Riesenarbeit schaffen können?«
Gabriele rang eine Weile mit ihrer erstickenden Angst, dann brachte sie fast tonlos die Antwort hervor: »In den zwei Stunden, in denen ihr alle dachtet, daß ich schliefe!« Dann legte sie ihr Kissen auf den nächsten Tisch, bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann zu weinen. Sie dachte: jetzt kommt der Wetterstrahl, der all dein Glück zerschlägt!
Aber der Ratsherr stand selber da, wie vom Wetter getroffen. Ein so schneller, klarer Denker er auch sein mochte – diese Offenbarung nach allem Vorhergegangenen verwirrte ihn. Daß Gabriele an der Überlast eines großen Haushaltes, einer stets belebten Kinderstube und vielen neuen Kenntnissen, in die sie erst hineinwachsen mußte, erkrankt war, hatte er begriffen; daß ein täglicher, regelmäßiger Schlaf sie geheilt, war natürlich. Aber jetzt –? Da sie nicht geschlafen hatte und doch geheilt war, stand das Rätsel ihrer früheren Krankheit wieder ungelöst da, vermehrt um ein neues, noch verwirrenderes! Es bedurfte der ganzen weiblich-schönen Herzensgüte und auch der ganzen Selbstbeherrschung des Mannes, um hier nicht, was er für eine äußerst verworrene und dunkle Sache hielt, durch ein hartes Wort für immer um seine Aufklärung zu bringen. Er wagte fürs erste überhaupt nicht zu sprechen, sondern betrachtete nur immer mit neuem Staunen die wunderbare Spitze. Aber die Frau, als sie nach einer langen Weile es endlich wagte, zu ihm aufzublicken, konnte unschwer erkennen, daß er keineswegs zürnte, sondern bloß sehr angestrengt nachdachte. Da trat sie an ihn heran, legte leise die Hand auf seinen Arm und flüsterte: »Ich glaube es wohl, daß ich dir verrückt erscheinen muß!«
Er nahm ihre Hand und sagte lächelnd: »Ich will nicht leugnen, daß ich dich nicht ganz begreife. Wie kamst du darauf, eine solche Arbeit zu beginnen, da du doch sonst genug zu tragen hattest?« Da erzählte ihm Gabriele, so gut sie es eben verstand, von der zwingenden Lust, die sie dazu getrieben, und wie sie mit schlechtem Gewissen, aber doch mit Seligkeit an dem Werke geschafft hätte und es nicht hätte lassen können. Sie beschrieb auch ein wenig, wie ihr jede Arbeit verklärt und verschönt erschienen sei im Freudenschimmer eines schöpferischen Siegbewußtseins, und auch von ihrer Angst erzählte sie und wie sie schließlich gegen ihren Willen, gleichsam durch die Macht ihres Geschaffenen selbst zum Bekenntnis gezwungen worden sei. Es war alles ein wenig verworren und unzusammenhängend, denn es war das erste- und wohl auch das letztemal im Leben, daß Gabriele über sich selbst zu sprechen hatte, und es fiel ihr gewaltig schwer. Aber der Ratsherr schien doch etwas davon zu verstehen, wenigstens ging es wie Wechselspiel von allerlei Lichtern über sein Gesicht. Dann fragte er sehr ernst und sehr eindringlich: »Nun sage mir eines, Gabriele, was mir wichtiger zu wissen ist als alles übrige: bist du mir nun tatsächlich genesen, oder ist das nur ein frommer Betrug vor dir selbst, der deinen Ungehorsam rechtfertigen sollte, und fühlst du dich am Ende noch kränker, als du es zeigen willst?«
Da mußte Gabriele lachen in all ihrer Bangigkeit. »Siehst du mir das nicht an, Liebster? Mußt du nicht glauben, daß das Rot meiner Wangen echt ist, da es diesen Tränen widerstanden hat?«
»Man sollte es meinen,« sagte er mit humorvoller Grimmigkeit. »Aber ihr Weiber würdet den Teufel zum Narren machen mit eurer Verschlagenheit.« Dann nahm er sein Weib in den Arm, liebkoste es innig und fuhr fort: »Es war gut, daß du dieses Kleid angezogen hast, du Dreimalkluge! Denn dieses Kleid hat mir die Augen geöffnet, wer du eigentlich bist, und jetzt weiß ich auch, woran du erkrankt warst und wodurch du genesen bist. Nun sollst du mir auch nicht mehr darben.« Und er küßte sie nur noch herzlicher, so daß sie beglückt seine Güte und sein volles Verstehen empfand. –
Der Ratsherr hielt Wort. Wie er mit eiserner Strenge dafür zu sorgen gewußt hatte, daß inmitten all der unberechenbaren Zufälligkeiten eines großen Haushaltes der Schlaf seines Weibes nie ohne zwingende Not gestört wurde, so sorgte er jetzt dafür, daß Gabriele die einmal eingeführte Ruhestunde festhielt und sich ganz ihrer stillen Lust darin ergab. Gabriele selbst hatte sich anfangs dagegen gewehrt, aber die einmal aufgedämmerte Erkenntnis brach von Tag zu Tag zu neuer Klarheit durch, und bald war Gabriele dem Gatten dankbar. Und weder er selbst, noch der Haushalt, noch Kinder, noch Gäste kamen zu kurz durch diese Erweiterung von Gabrielens Tätigkeit. Wie ein Gebet oder ein frommes altes Lied labte und reinigte diese Stunde ihre Seele, stärkte sie zu neuem Lebenskampfe, machte sie hellsehend und gütig. Alles Schwere, was an sie herantrat – und es wurde dessen mehr, wie die Kinder heranwuchsen und eigene Wege suchten – löste sich in sanfte Harmonie, sobald der leise Tanzschritt der Klöppelelfen erklang. Die guten Gedanken tauchten aus den lichten Gebilden empor, die Gabrielens Hand entwarf: nicht einzeln kamen sie, sondern in langen freundlichen Reihen, und sie umschlossen Gabrielens ganzes Leben und ihr ganzes Haus.
Ich war, als ich Sabine Ricchiari verstehen lernte – gekannt hatte ich sie schon seit zehn oder zwölf Jahren! – Seelsorger in einer kleinen süddeutschen Stadt, hatte die Fünfzig überschritten und war also in eine Lebensperiode getreten, wo man keinen mehr um seiner Sünde willen haßt, keinen um seiner Tugend willen preist, sondern alle liebt, weil man alle bedauert. Ist man einmal so weit, so fliegt einem das Vertrauen von selbst entgegen, man darf dann nur den scheuen Vogel nicht durch eine hastige Bewegung schrecken. Ich hörte manche Lebensgeschichte, dazu bedurfte ich keines Beichtstuhles. Über die nun folgende habe ich heißer gegrübelt als über sonst eine.
Sabine Ricchiari brachte durch ihre Erscheinung schon Aufruhr in unsere kleine Stadt. Sie war die Gattin eines Arztes, dessen Familie aus dem Veltlin stammte, die aber, seit mehreren Generationen in Deutschland ansässig, jede Erbschaft ihrer stolzen Abkunft verloren hatte, bis auf den klingenden Namen. Dessen gegenwärtiger Träger nun war ein so bescheidener, schlicht und nüchtern aussehender Mann, daß auch dieses karge Erbe an ihm noch wie Verschwendung erschien; denn der schöne Name wollte zu dem unscheinbaren Wesen übel passen. Er lebte einige Jahre in einer größeren Stadt, lernte dort Sabine kennen und führte sie uns zu, als er eine neue Praxis unter uns eröffnete. Nun, da ich die Frau erblickte, freute ich mich, und zwar um ihretwillen, daß der Mann nicht Schulze hieß. Denn Sabine saß der Name wie angeschaffen; sie trug das trompetenhelle Wort vor sich her, wie eine kriegerische Jungfrau eine silberne Tuba trägt; und wenn man ihre hohe Schönheit betrachtete, so genoß man es doppelt, daß man dies seltsame und bedeutende Geschöpf nicht mit einem gewöhnlichen oder gar übellautenden Worte benennen mußte.
Durch die engen und gewundenen Gassen unseres Städtchens, in denen damals noch Handwerker- und Markttreiben sich stieß und drängte wie vor hundert Jahren, war noch nicht zweimal Sabine Ricchiaris hohe Gestalt gewandelt, als schon Neugier und Tadelsucht sich an ihre Fersen hefteten. Der stille stolze Gang, womit sie die übelgepflasterten und bergigen Gäßchen beschritt, als wären es Treppen einer Königshalle und mit den weichsten Purpurteppichen belegt; der freie, klare Blick, den sie die Häuserreihen hinabgleiten ließ bis an das altersgraue Stadttor, über welches Berg und Himmel hold hereinlugten; die kecke Haltung des wohlgeformten Hauptes; nicht zuletzt auch das helle Kleid, das alles Licht der Sonne, welches die graue Umgebung so mürrisch hinweg wies, in sich allein gesammelt zu haben schien – ja, der Klang ihrer zuversichtlichen, frischen und lauten Stimme selbst irritierte dies trippelnde, kichernde, hustende und knicksende Geschlecht bis zum Haß. Sabine wirkte verfassungstörend. Die Frau mit den Großstadtsitten machte die Kleinstadtgehirne toll. Alles Überkommene drohte zu stürzen. Frauen, die dreißig Jahre lang unangefochten und sorglos den Pantoffel geschwungen hatten, wurden plötzlich eifersüchtig und – aus Eifersucht – zahm; Männer, die dreißig Jahre lang geduldig ihr Joch getragen hatten, wurden plötzlich rebellisch. Putzmacherinnen wurden erfinderisch und phantasiekühn. Ladendiener und Schreiberlein salbten ihr Haar und trugen Nelken im Knopfloch. Offiziere a. D., die längst in Biertischgemütlichkeit versunken waren, hielten plötzlich wieder auf Taille, und Referendare wurden stumpf gegen die Reize zierlicher Krawattenverkäuferinnen. Und weil Sabinens Schönheit es war, die also demoralisierend wirkte, so wurde mit promptem Schlusse die Schönheit selbst für unmoralisch erklärt, so wurde, wie auch sonst wohl geschieht, das Unnachahmliche und Unerreichbare als nicht nachahmenswert beiseitegeschoben. Sabine war ein Jahr lang oder zwei höchst unpopulär. Dennoch war sie Gegenstand der Gespräche in Gasse und Kemenate: denn männiglich wartete auf den Augenblick, wo die lästerlich schöne Fremde zu Fall kommen würde, und sieben- bis achthundert Paar Nächstenaugen paßten haßgeschärft auf die Vorzeichen eines solchen Falles. Aber sie paßten umsonst. Klar wie ein Wiesenbach floß Sabinens schlichtes Leben dahin. Stets an der Seite ihres Gatten, immer im Kreise ihrer Kinder, sah man sie laute Vergnügungen meiden und keinen anderen Umgang pflegen, als den so tugendhafter Frauen, wie nur kleine Städte sie aufweisen können. Die Huldigungen der Männer wies sie lächelnd, aber nachdrucksvoll in solche Grenzen, daß auch die bitterste Eifersucht ihr keinen Vorwurf allzuschneller Geneigtheit machen konnte. Erregte sie Aufmerksamkeit durch Gewandung und Erscheinung, so schien es doch, als beabsichtige sie nur, diese Aufmerksamkeit, einmal gefesselt, auf ihr musterhaftes Betragen zu ziehen: man sollte sie sehen, um zu sehen, daß es nichts zu sehen gäbe. Keine kokette Gebärde, kein noch so leises Augenspiel war ihr nachzusagen. Dazu war ihr Haushalt tadellos geführt mit geringen Mitteln; ihre Kinder blühten. Gegen Arme war sie äußerst freigebig, sonst jedoch sparsam, wenn auch stets auf vornehmes Auftreten bedacht. Und kurz und gut: Sabine Ricchiari erwies sich als ein solcher Ausbund trefflicher weiblicher Eigenschaften, daß langsam die neidischen Gemüter ihrer Mitbürger und Mitbürgerinnen sich wandten, zur Duldung erst, dann zur Achtung, schließlich aber zu grenzenloser und unbedingter Bewunderung. Im dritten Jahre ihres Aufenthaltes war Sabine der Liebling unseres Städtchens, wie sie in ihrer Heimat der Stolz des Kreises gewesen war, in welchem sie sich bewegt hatte. Man sprach von ihrer Tugend als von etwas Heiligem, von ihrer Treue gegen den wenig bestechenden und meist mürrischen Gatten als von einem Wunder. Um diese Zeit geschah es nun, daß eine zufällige Gesprächswendung mich darauf führte, Sabinen in Gegenwart ihres Gatten von dieser verblüffenden Wandlung der öffentlichen Meinung zu reden und ein kleines und – wie ich glaubte – wohlverdientes Kompliment daran zu knüpfen. Alsobald erschrak ich jedoch über die Miene des Doktors, die sich noch mehr als gewöhnlich verfinsterte. Von ihm hinweg zu Sabinen mich wendend, erstaunte ich noch mehr über den Ausdruck höchsten Triumphes in ihren Zügen. Mitten im Zimmer stehend, von der Lampe über ihrem Haupte in einen Mantel von Licht gehüllt, strahlte ihr hochgehobenes Antlitz wie das einer Fürstin, der man eben eine Krone zu Füßen gelegt hätte. Arglos wie ich war, verwunderte ich mich nur darüber, daß eine so kluge Frau so hohen Wert auf das Urteil der Menge legen mochte, denn offenbar war sie über die Maßen geschmeichelt und erfreut. Indes mochte ich ihr diese Schwäche wohl verzeihen; mußte aber, sechs oder acht Jahre später, mit Schmerz an diese stumme Szene denken, deren Bedeutung ich im Augenblicke nur halb verstanden hatte.
Es sei hier nun gleich betont, daß ich kein so unbedingter Bewunderer der tugendhaften Sabine Ricchiari war, wie der Chor der Basen und Nachbarinnen; wie ich denn auch anfangs kein Verdammer ihrer Anmut gewesen war. Ich hatte zwar – leider hatten mich schlimme Erfahrungen dazu berechtigt – die auffallende Ungleichheit zwischen Mann und Frau nicht ohne Unruhe sehen können. Denn war auch der Doktor tüchtig in seiner Kunst, pflichttreu, redlich und von beherrschtem, würdigem Wesen, so habe ich es doch nie erlebt, daß Frauen vor solchen Eigenschaften sonderlichen Respekt haben; und die, denen ein Weib gerne erliegt, besaß Ricchiari nicht. Aber ich hatte doch das gesetzte Wesen der Frau erkannt, das leidenschaftliche Verirrungen ausschloß. Dieselbe Eigenschaft der Sabine aber, die mich ihr zu Anfang nichts Schlechtes zutrauen ließ, hinderte mich nun daran, ihr nur Gutes zuzutrauen: denn ganz ohne Zweifel war Sabine eine kalte Natur, und ihre Vortrefflichkeit baute sich mehr auf Überlegung als auf irgendwelche Herzenseigenschaften. Und wenn ich nun auch um so mehr eine mit Ausdauer geübte Willensbeherrschung in dieser Frau bewundern mußte, so konnte mir doch diese ganze starr festgehaltene Unfehlbarkeit im Grunde nicht recht gefallen. Man wird mir zugeben, daß wir Männer in diesem Punkte unlogisch sind; aber ich wette, man wird mir nachfühlen: lieben wir es schon, daß Frauen, die wir verehren sollen, rein und stark in ihrer Tugend seien, so lieben wir es doch auch, sie gegebenenfalls einer Schwäche mindestens fähig zu wissen. Und eben diese Fähigkeit schien Sabinen zu fehlen. Ich hatte Gelegenheit, sie ziemlich genau zu beobachten; war ich doch, dank meines Priesteramtes und dank der – Korrektheit, die Sabinens Verkehrswahl bedingte, ein vertrauter Gast im Hause des Doktors. Und daß ich es nur gleich sage: nie habe ich Sabinen gereizt, nie eigensinnig, nie vergnügungssüchtig, nie begehrlich nach Tand oder Schmuck gesehen; aber auch nie in weicher Stimmung, nie in Tränen, nie in überschwenglicher, voller, jugendlicher Freude. Ihr ganzes Wesen stellte eine bis zum äußersten geglättete Fläche dar; aber, wenn ich das Bild vollenden darf: nicht Marmor, der unter dem Schliff das köstliche Geäder, sein inneres Leben, erst recht schön entfaltet, sondern irgendeinen Kunstguß von Metall, der nur glänzt und seine reinliche Außenseite in Wind und Wetter blank erhält; sonst aber nichts von eigener, in seiner Struktur begründeter Schönheit besitzt. Um Schillers hohe Forderung gegen diesen seltsamen Frauencharakter auszuspielen: Sabine Ricchiari war eine Natur, die eben unausgesetzt nötig hatte, »edel zu wollen«, weil sie ganz und gar nicht imstande war, »schön zu empfinden«. Freilich hatte sie es in der Anwendung dieses Wollens zu unerhörter Fertigkeit gebracht – das sollte mir später noch klar werden.
Die Eindrücke, die dies mein Urteil über Sabine Ricchiari begründen, lagen zu der Zeit, von der ich spreche, natürlich gleichsam schlummernd in mir; ich hätte damals nicht vermocht, sie zu irgendeinem Ausdrucke zu gestalten, ja, ich gab mir kaum Rechenschaft darüber. Ich war mir nur eines leicht abweisenden Gefühles gegen die vielbewunderte Dame bewußt, welches sich gerade dann regte, wenn ich sie in schwieriger Lage mit beängstigender Sicherheit das einzig Richtige und Wohlanständige treffen sah, das es für sie zu tun gab. So geschah es zum Beispiel öfters, daß der Doktor in einer Anwandlung von Laune, wie sie auch bei trefflichen Männern wohl vorkommen mag, seine Frau vor Zeugen hart anließ; dann benahm Sabine sich mit solch einzigem Anstande, daß man ihr Bewunderung nicht versagen konnte. Dennoch schien mir, als täte sie es ohne Anstrengung, als erlitte sie die Kränkung von einem Fremden, dessen Meinung ihr nichts galt, oder als eifere ein Machtloser gegen sie, der sie in ihrer Hoheit nicht verletzen konnte. Ich, der ich den Doktor liebte, empfand für ihn die Geringschätzung, die in dieser Sachlichkeit lag, womit Sabine seinen Schwächen gegenübertrat; und wohler wäre mir um seinetwillen gewesen, hätte sie sich bei solchen Gelegenheiten manchmal kindisch, trotzig, erregbar gezeigt. Ebenso erging es mir, als Ricchiari einmal bedenklich erkrankte: Sabine pflegte ihn mit beispielloser Pflichttreue und Geduld. Aber ihr Aussehen veränderte sich bei dem schwierigen Krankendienste nicht, ich sah sie nicht verhärmt, als er dem Tode nahe schien, sah sie nicht in jubelnder Seligkeit aufblühen, als die Rettung gewiß war. In ähnlicher unentwegter Fassung stand sie auch ihren Kindern gegenüber, ihren kleinen Unarten, ihren allerdings unbedeutenden Krankheiten. Und ich kam mir damals oft selbst töricht und sogar böse vor, weil eben diese Gleichmäßigkeit ihres Wesens mir nicht recht zusagen wollte, während doch jedermann sonst sie darum bewunderte und verherrlichte. Aber ich kam nicht gegen mein Empfinden auf.
Als Sabine eine mehr als zehnjährige Ehe hinter sich hatte – sie stand nun in der Mitte der Dreißig, trat ein Ereignis ein, welches mir Gelegenheit gab, Sabinens Wesen und Entwicklung aus ihrem eigenen Munde kennen zu lernen, zugleich auch mein dunkles Gefühl zum klaren Verständnis ihrer Art auszubilden. Das Ereignis war ein solches, das die ganze Stadt, Beteiligte und Unbeteiligte, heftig erschütterte und selbst in den seichtesten Seelen eine Ahnung weckte von der Sturmgewalt der Elemente, die in Tiefen toben können. Einer der jungen Rechtsgelehrten, die dem in unserem Städtchen tagenden Gerichtshofe beigegeben waren, ein Sohn guter Eltern, aus begüterten Kreisen stammend, aus einer größeren Stadt zugezogen – ein Jüngling von äußerst einnehmendem und freundlichem Wesen, der sich großer Beliebtheit unter den besten Menschen des Landes erfreute: wurde eines Morgens mit durchschossener Schläfe tot in seinem Bette gefunden. Ein hinterlassener Zettel kündigte Selbstmord aus verschmähter Liebe an, aber in so rührender Art, so schlicht zum Herzen sprechenden Ausdrücken, daß auch der böseste Skeptiker nicht zu lächeln gewagt hätte. Der Name des Weibes, das den armen Knaben in den Tod getrieben, war begreiflicherweise nicht genannt; aber der Instinkt der Menge, der in solchen Dingen fast immer richtig geht, bezeichnete Sabine Ricchiari als die Urheberin der Tat. So wie der Vorfall sich darstellte, schien diese Annahme allerdings glaublich: Sabine war in der Tat reizbegabt genug, um eine verheerende und alle Fesseln sprengende Leidenschaft zu entflammen; kein Mann wäre zu verdammen gewesen, der für dieses Götterbild das Letzte gewagt hätte; und andererseits machte Sabinens anerkannte Tugend jeden Wunsch von vornherein zu einem hoffnungslosen. Das war die Erläuterung, die die öffentliche Meinung gab: entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schienen alle Lästerzungen geneigt, die edelsten Beweggründe auf beiden Seiten anzunehmen. Fama drapierte sich romantisch. Und wenn etwas imstande war, Sabine Ricchiaris Ansehen und Beliebtheit in der Stadt noch zu steigern, so war es dieser Vorfall, die letzten Worte eines Todbereiten, die ihre ehrenfeste Unbesiegbarkeit mit solch tragischem Nachdruck verkündeten.
Die öffentliche Meinung sieht meistens richtig, aber niemals tief; Tatsachen bleiben ihr selten verborgen, Beweggründe immer: das Ereignis war genau so vor sich gegangen, wie der Stadtklatsch annahm – und doch, wie anders! wie furchtbar anders! –
Man hatte die Verwandten des Jünglings von dem Selbstmorde benachrichtigt, doch gab es keine Möglichkeit ihres Eintreffens vor dem späten Nachmittage. Weil ich das verblendete Kind lieb gehabt hatte und weil mir das Herz blutete um sein Schicksal, so übernahm ich es, bei ihm zu bleiben und seinen letzten Schlummer zu hüten, bis das Gebet seiner Mutter das meinige ablösen würde. Ich ließ den Leichnam auf reinem Bette aufbahren, setzte mich neben ihn und blickte unverwandt in das sanfte, stille Gesicht, als könne es mir noch Antwort geben auf die bittere Frage, die mich, der ich weniger hurtig schloß als die Menge, unablässig quälte: »Wie hat es so weit kommen können?« Ich hatte den Jüngling als einen stäten und tüchtigen gekannt, ohne Überspanntheit und ohne Pose. Was hatte er leiden müssen, was erkennen, bis er diesen letzten Verzweiflungsschritt unternommen hatte? In mir zitterte alles vor Mitleid und Schmerz, ich fühlte die Tränen über meine Wangen rinnen, und mehr als einmal beugte ich mich über den Toten und küßte seinen kalten Mund in einer traurigen Hoffnung, es möchte die Seele, die diesem Leib entflohen, noch irgendwo in der Nähe weilen, mein Leid und meine Liebe mit ansehen und als Trost empfinden. Da geschah es, daß ich plötzlich, den Kopf von meiner schmerzlichen Liebkosung erhebend, Sabine Ricchiari im Zimmer stehen sah. Sie war geräuschlos eingetreten und zwischen dem Bette und dem Fenster stehen geblieben, so daß sich nur ihr großer schwarzer Schattenriß in unheimlicher Starrheit vor mir erhob. Ich fuhr auf mit einer Regung des Hasses gegen sie; denn mein Gefühl, das nie unbedingt zu ihren Gunsten gesprochen hatte, schrie in diesem Augenblicke blindlings, jede Reflexion niederdonnernd, ein »Schuldig!« über sie. Meine Augen mußten deutlich sprechen, was ich empfand, denn sie trat einen Schritt zurück und senkte das Haupt langsam tiefer und tiefer. Dann hörte ich, daß sie weinte; und weil mich das bei ihr, die ich keiner redlichen Träne für fähig gehalten, überraschte und ergriff, wie es mich noch bei keiner Frau ergriffen hat, so fühlte ich schnell meine Stimmung gegen sie sich erweichen und näherte mich ihr, um ihr die Hand zu reichen. Dabei sah ich ihr Gesicht – und jetzt umschloß mein Mitleid sie ganz! Sie aber ergriff meine Hand nicht, sondern meine versöhnliche Geste für ein Zeichen der Verzeihung nehmend, das ihr freien Zutritt zu dem Toten gewährte, eilte sie an mir vorüber nach dem Bette, über welches sie sich mit dem ganzen Leibe warf, ihre Lippen auf die des Verblichenen pressend und mit den Armen seine Schultern und seinen Kopf umklammernd. Es lag eine Heftigkeit der Leidenschaft in dieser Bewegung, die grauenhaft gewirkt hätte einem Lebenden gegenüber; an dieser fühllosen Masse, die schlaff und kalt in ihrer Umarmung hing, stellte sich der Anblick ihrer Raserei geradezu haarsträubend dar. Besonders entsetzlich war die Art, wie der bleiche Kopf, den sie wiederholt emporriß, immer wieder über ihren Arm zurück und zur Seite sank, als wolle er sich den allzuspäten Liebkosungen jetzt verachtungsvoll abwehrend entziehen; so schien es Sabine auch zu nehmen, denn ihre Gesten wurden wilder, ihr Weinen lauter bei jeder derartigen Bewegung. Ich stand sprachlos dabei, fühlte Schauer um Schauer über meinen Rücken rinnen und vermochte nicht, dem Tun der Frau zu wehren. Sie aber, nachdem sie das Gesicht des Toten und seine Brust mit solchen Küssen bedeckt hatte, und unter solchen Ausrufen und Seufzern, wie die Verzweiflung fruchtloser Reue sie lehrt, erhob sich endlich rasch und wollte aus dem Zimmer huschen, wie sie hereingekommen war. Da ereilte ich sie an der Tür und verstellte ihr den Ausgang, denn ich dachte nicht anders, als daß auch sie jetzt in den Tod zu rennen beabsichtige. Sie kehrte um, setzte sich auf den nächsten Stuhl und suchte augenscheinlich in schwerem Kampfe ihre Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Ich erinnere mich nicht, ob ich ihr zugesprochen habe; mit meinem Herzen tat ich es gewiß, aber in mir schrien so viele Stimmen durcheinander, daß ich nicht weiß, ob ich wirklich zu Worte gelangt bin oder ob ich die Laute nur geträumt habe, die meine bebenden Lippen zu formen suchten. Immerhin beruhigte die entrückte Frau sich endlich und kehrte zur Wirklichkeit zurück; ihre Augen begegneten wieder und hafteten diesmal an den meinen, in denen sie wohl das heißeste Erbarmen lesen mußte. Dann setzte sie sich neben das Bett, das sie nun mit einem rührenden Ausdrucke mütterlicher Geschäftigkeit in Ordnung brachte, und schließlich begann sie in schauerlich ruhigem Tone den Hergang der Sache zu erzählen.
Sabine war ein Kind von unvergleichlicher Anmut gewesen, und da war es denn nur zu begreiflich, daß sie in Aller Mienen der Wirkung ihrer eigenen Zauberhaftigkeit nachspürte und es zur Aufgabe ihres kleinen Lebens machte, diese Wirkung nach Möglichkeit zu verstärken. Dabei experimentierte sie förmlich mit der Tragfähigkeit dieses Magnets: denn sie trug Farben und Gewandformen, die an anderen Mädchen gewagt erschienen wären, und triumphierte innerlich, wenn ihre Schönheit das Unmöglichste und Heterogenste zu einem gefälligen Eindrucke verband. Auch gelang es ihr öfters, selbst die Mode zu beeinflussen, indem sie durch die Macht ihrer Erscheinung die Augen ihrer Geschlechtsgenossinnen blendete, so daß jene das Kleid von der Trägerin nicht mehr zu unterscheiden vermochten und sich für schön hielten, wenn sie trugen, was an Sabine Ricchiari schön erschien So sicher aber diese ihrer äußeren Vorzüge war und so viel sie darauf wagen konnte, so genügte ihr dies doch keineswegs; sie hätte nun auch gerne durch Gaben des Geistes und der Seele allen anderen Frauen den Rang abgelaufen und empfand es höchst schmerzlich, daß ihr hervorragende Talente versagt waren, die ihren Namen durch die Lande trügen. Deshalb aber nicht eingeschüchtert, warf sich Sabine auf das »Fach«, in welchem Lukretia und andere hohe Frauen der Geschichte sich mit Glück betätigt hatten: auf die Tugend. Und sie faßte diesen Begriff in seinem weitesten Sinne.
Als Kind hatte Sabine Ricchiari nicht gerne gelernt. Da sie heranwuchs, beobachtete sie, daß jedermann einen gewissen Grad von Albernheit und Denkfaulheit als Vorrecht ausnehmend schöner Personen für zulässig zu halten schien Das erbitterte sie sofort aufs höchste als eine Beleidigung, die ihr mehr galt als tausend anderen, minder reizenden Frauen. Und hier sprang nun der gefährliche Zug ihres Wesens mit einer ganz wohltuenden Wirkung ein: denn, beharrlich und energisch, wo es ihrer Eitelkeit galt, zwang Sabine ihren flattersüchtigen jungen Geist in eine Zucht, die alle Welt in Erstaunen setzte. Bald erlebte sie die Freude, daß man laut und leise ihren Fleiß und ihr ernsthaftes Streben noch höher als ihre Anmut pries, und ehe sie achtzehn Jahre alt war, konnte sie schon mit vollem Rechte das kühne Wort sprechen: »Müssen denn alle tüchtigen Frauen häßlich sein und nur häßliche tüchtig? Ich denke zu beweisen, daß man körperliche und geistige Bildung vereinigen kann!« Dabei fiel ihr das Studium vieler Wissenszweige durchaus nicht leicht, und nur der maßlose Ehrgeiz, ein Frauenbild von nie dagewesener Vollkommenheit darzustellen, hielt sie in Stunden tiefer geistiger Erschöpfung aufrecht. Bei solchen Beschäftigungen mußte sich ihr notgedrungen die Zeit kürzen, die andre junge Mädchen ihres Kreises auf Tanz und Flirt verwendeten; jedoch empfand Sabine dies durchaus nicht als Verlust, da ihr Siege auf diesem Felde allzu sicher waren, und wenn sie sich unter die Spiele der Geselligen mischte, so war's nur, um durch verspätetes Erscheinen und frühen Abgang die Leute zu erinnern, daß sie Besseres zu tun hatte. So albern nun dies Tun an sich erscheinen mag, so trug es doch für Sabine bessere Früchte, als sie eigentlich verdient hätte. Denn darin ist die Wissenschaft, die Göttin, dem sterblichen Weibe gleich, daß sie ihre Bewerber nicht leicht auf die Redlichkeit ihrer Gesinnung prüft und auch den mit Segenshänden beschenkt, der nur mit ihr tändelt. Was Sabine Gutes, Klares, Großzügiges in ihrem Charakter hatte, war ihr als unverdiente und ungewollte Beute aus der Zeit dieser Raubzüge in das reine Land des Gedankens geblieben.
Aber nun kam Sabine in das Alter, wo die höchsten Lebensfragen an ein Weib herantreten, und leider machte sich auch hier wieder die Sucht, das Ungewöhnlichste, das völlig Unerwartete zu tun, zu ihrem Schaden geltend. Sie war – schön, gebildet und überaus sittsam, wie sie sich stets gezeigt hatte – von zahlreichen Bewerbern umschwärmt und hätte unter den Männern ihres Kreises den Besten und Begehrtesten zu ihren Füßen sehen können. Aber Sabine bildete ihr Urteil über Männer nach eigener Art. Die naive Siegessicherheit, mit welcher heutzutage ein Mann, der seinen Wert kennt, ein Weib zu nehmen pflegt, erbitterte und beleidigte sie, die sich selbst als etwas Einziges und Unvergleichliches geschätzt zu sehen wünschte, nicht wenig. Sabine wollte Werber im Minnesängerstil. Dafür war sie auf der anderen Seite höchst anspruchslos, denn kein äußerer Vorzug des Mannes sollte ihre Wahl bestimmen; freie, reine Neigung beider Herzen allein sollte den Ausschlag geben und – Bedingung sine qua non! – das Publikum vor allem sollte von dieser reinen Neigung überzeugt sein. So, damit auch ja nicht der leiseste Vorwurf einer Bestechlichkeit erhoben werden konnte, wandte das törichte Fräulein sich sofort und demonstrativ von allen glänzenden, angesehenen und vielbegehrten Männern hinweg und solchen zu, die von Frauen übel behandelt, von Kritikern verkannt, von Vorgesetzten übersehen und von rassestolzen Aristokraten geächtet wurden. Und man konnte hinfort auf allen Festen das sonderbare Schauspiel genießen, das schönste Mädchen der Stadt mit einem Gefolge zweifelhafter Gestalten einherwandeln zu sehen, an denen sie eifrig und ernsthaft ein Werk der Veredlung zu betreiben suchte, das indes sehr selten mit einem Gelingen lohnte. Denn Männer pflegen es sehr übel aufzunehmen, wenn ein Weib sie »zu sich emporziehen« will – und ich weiß nicht, ob ich ihnen darin nicht recht geben muß.
Es konnte nicht fehlen, daß Sabine in diesem Umgange ein paar schlimme Erfahrungen machte, die ihr indes glücklicherweise nicht so zum Verderben ausfielen, wie es wohl hätte sein können. So befand sich unter den Unbegehrten, die sie zu beschenken glaubte, ein junger Naturforscher von beträchtlicher Häßlichkeit, deren Wirkung noch verstärkt wurde durch den Hochmut, mit welchem der Mann alle gefälligen Formen in Rede, Kleidung und Auftreten verschmähte. Er war aus Arbeiterkreisen hervorgegangen, recht im vollsten Sinne des Wortes ein geistiger Selfmademan, und allerdings sehr bedeutend in seinem Fache. Aber er setzte einen törichten Stolz darein, das Plebejertum, dem er angehört hatte, auf drastische Weise darzulegen, und scheuchte feinfühlige Frauen von sich durch die Derbheit seiner Ausdrucksweise sowohl wie durch die Gehässigkeit, die er denen gegenüber zur Schau trug, die sich feinerer Sitten befleißigten. Auf ihn konnte mit Recht das drollige Wort angewendet werden, er habe »zwei Rücken«; denn bei Gastmählern, zu denen er freilich selten genug gebeten wurde, brachte er es fertig, seinen beiden Nachbarinnen zugleich den Rücken zu kehren – und das schlimmste war: sie zogen sein unartiges Schweigen seiner Konversation vor. Das war ein Objekt für Sabine! Mit dem raschen Schlußvermögen, das sie auszeichnete, stellte sie fest, daß eben diese Gehässigkeit gegen alles Glatte und Vornehme einem tiefen Bewußtsein eigener gesellschaftlicher Unzulänglichkeit entsprungen sei, und daß der rauhe Mann nur deshalb nicht manierlich sein wollte, weil er klar empfand, daß er es nicht sein konnte. Sie sagte sich, daß er wußte – und wahrlich nicht zu seinem Behagen wußte –, an ihm müsse Kultur zur Karikatur werden. Deshalb hegte sie Mitleid für ihn und beschloß, die erste zu sein, die seinem hervorragenden Verstande und seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit volle Ehre antat, ohne sich durch seine ungeschlachte Art und böse Sitten beirren zu lassen. Und sie erwählte ihn förmlich und feierlich zu ihrem Höflinge und war holdseliger zu ihm, als ihr dabei eigentlich ums Herz war; denn sie mußte sich alle mögliche Gewalt antun, um den Widerwillen zu überwinden, den seine physische Erscheinung, seine zynische Rede und häufige lästerliche Flüche ihr einflößten.
Aber Sabine kam übel an mit ihren Beglückungsversuchen. Denn sie mußte einsehen, daß der erwählte Mann selbst nicht nur keine sonderliche Dankbarkeit gegen sie empfand, sondern daß er die Bevorzugung, die ihm widerfuhr, auf eine sehr kränkende Weise deutete. Daß seine Häßlichkeit, über welche er sich keiner Täuschung hingab, ein so holdes und vielbegehrtes Wesen wie Sabine anzog, erschien ihm durchaus nicht als ein Wunder der Liebe, die ihren Gegenstand nach seinem seelischen Gehalte schätzt – denn so hätte Sabine es gerne gedeutet wissen wollen; vielmehr erklärte er sich in seiner materialistischen Weltanschauung dies Wunder einfach aus einem perversen Reiz, den Scheusale von Männern auf Frauen auszuüben verstehen, und er schämte sich nicht, dies in wenig verschleierten Worten anzudeuten, wobei er mit Vorliebe das Beispiel des großen Sinnenbetörers Mirabeau zitierte. Daß Sabine seine durchaus nicht gewählte Unterhaltung ertrug, schrieb er demselben krankhaften Gefallen am Allzunatürlichen zu, denn er gab sich nie Mühe, in den Mienen anderer zu lesen, und übersah deshalb den Kampf, mit welchem das wunderliche Fräulein diese härteste Probe ihrer Gesinnungstreue zu bestehen suchte. Daß sie endlich vor aller Welt seine Partei hielt, schien ihm selbstverständlich, denn er wußte, daß er für eine wissenschaftliche Größe galt und daß eine Frau an seiner Seite einer großen Zukunft entgegenging. Und er sprach auch dies aus und verfehlte nicht, Sabine aufmerksam zu machen, daß sie trotz ihrer Schönheit und höheren Geburt bei einer Verbindung mit ihm der gewinnende Teil wäre. Es dauerte eine ganze Weile, bis Sabine diese seine Auffassung von der Sache ganz begriffen hatte, denn sie hatte sich in der Rolle der Gebenden und Herablassenden zu wohl gefallen, um leicht einer so demütigenden Erkenntnis zugänglich zu sein. Aber der merkwürdige Galan, der seinerseits durchaus nicht geneigt war, den Empfangenden, den Beschenkten zu spielen, versuchte endlich, ihre Liebe, die er für höchst leidenschaftlich hielt, durch bewußte Bosheiten auf die Probe zu stellen, bald ohne Anlaß fernbleibend, bald auch vor Zeugen ein hämisches und tyrannisches Wesen gegen sie zur Schau tragend. Ihre Ratlosigkeit und Verblüfftheit solchen Roheiten gegenüber hielt er für Schmerz, und die wirklich bewunderungswürdige Geduld, mit welcher sie verzieh, was sie einem Mangel an Besserwissen zuschrieb, deutete er als Verliebtheit, die, selbst getreten, nicht von ihm lassen konnte. Endlich kam aber doch der Tag der Abrechnung, und es erfolgte nun die allerwunderlichste Auseinandersetzung, die je zwischen Liebesleuten stattgefunden. Jeder der beiden Toren war sehr verdutzt, sich von dem anderen nicht heißer geliebt zu sehen, jeder rechnete dem anderen sein Gewinnen oder Verlieren mit allerliebster Offenheit vor. Bei dieser Abschiedsszene zeigte sich schließlich der Mann noch als der Charaktervollere von beiden, denn er war der erste, welcher der Frau mit ihrem unerbetenen Mitleiden den Laufpaß gab, indem er erklärte, daß ihm ein Schankmädchen, das zu ihm aufsähe, liebenswerter erscheine als eine Königin, die sich »herablasse«. Sabine zog sich gekränkt zurück und gewann aus der bösen Erfahrung wenigstens die Lehre, daß Mitleid vom Weibe zum Manne vorsichtig in leisen Schuhen wandeln muß, soll nicht sein Tritt die jungen Liebespflänzlein zermalmen. Eine Weile war sie traurig und enttäuscht. Bald aber löste eine neue, noch sonderbarere Wahl die Mißstimmung jenes ersten Erlebnisses. Auch dieser zweite Mann war das Gegenteil von einem Adonis und nichts weniger als ein Gesellschaftslöwe. Wäre er beides gewesen, so hätte er ja für Sabine keinen Reiz gehabt, denn dann wäre es keine Kunst gewesen, ihn zu lieben; und Sabine wollte, wie gesagt, auch hierin etwas völlig Neues leisten. Was ihre Neigung in diesem besonderen Falle bestimmte, war hauptsächlich die bittere Armut, in welcher der Betreffende lebte, der seines Zeichens ein unbedeutender Musikus am Theaterorchester der Stadt war, in welcher das seltsam wählerische Fräulein damals lebte. Sabine hatte durch Hausgenossen des Fiedlers von seinem Elende vernommen, hatte ihn unterstützen lassen und suchte nun seine persönliche Bekanntschaft zu machen. Sie verhalf ihm zu Unterrichtsstunden in besseren Häusern und eröffnete damit zugleich ihm und sich selbst einen Weg, auf welchem sie sich häufig genug ohne Anstände begegnen konnten. Dabei geschah nun, was geschehen mußte. Hatte der Mann schon vorher gewußt, daß er ihrem Mitleid viel verdankte, so warfen ihre strahlende Erscheinung, ihr berückendes Lächeln und die freundlichen Worte, die sie an ihn richtete, ihn nun ohne weiteres in eine maßlose Leidenschaft, die er auch durchaus nicht zu verbergen strebte. Dabei war er klug genug, weder seinen persönlichen Vorzügen noch seiner musikalischen Begabung das Verdienst dieser Eroberung beizulegen, denn er wußte genau, daß er von letzterer nicht viel mehr besaß als von ersteren. Aber er empfand doch künstlerisch-naiv gerade soviel als es brauchte, um an eine ideale Liebe zu glauben, die wahllos trifft und sich mit gleich selbstloser Erwiderung reichlich gelohnt fühlt. Eine solche Liebe legte er in Sabine hinein; und er selbst stattete seinen Dank für das unverdiente Gnadengeschenk in einer Anbetung ab, an der sich Diana hätte genügen lassen können, und die unsere kühle Heldin selbst höchlichst befriedigte, weil sie endlich zur Erfüllung brachte, was lang geträumt und gewünscht war. Denn nun genoß Sabine die Genugtuung, daß die Romantik dieses Verhältnisses von alt und jung gebührend geschätzt wurde, und wandelte einher, von Mondschein und blauen Blumen gleichsam auf Schritt und Tritt umsponnen, wie ein mittelalterliches Burgfräulein, das sich einem fahrenden Sänger neigt. Sie redete viel, um zu beweisen, daß echtes Gefühl auch in unseren nüchternen und bösen Zeiten noch nicht ganz vom Erdenrund geflohen sei, und glaubte ganz ernsthaft, die schöne Neigung, die sie darstellte, wirklich selbst zu empfinden. Allerdings glaubte das auch jedermann sonst; und selbst die losesten Zungen fanden keinen schlimmeren Anlaß zu sticheln als den, daß man Sabine hinfort auch im Getöse einer Wagneroper in der ersten Reihe des Parkettes sitzen sah, wo sie dem Bombardement wahnsinniger Pauken- und Trompetenstöße heldenhaft standhielt, nur um Aug' in Auge mit ihrem Geigerlein und in seiner möglichsten Nähe den Abend zu verbringen. Dem Widerstand ihrer Verwandten gegen diese sehr unerwünschte Verbindung setzte sie eine siegreiche Beredsamkeit entgegen, die alle Bedenken entwaffnete und die Zweifler beschämte. Die Entdeckung, daß ihr neuer Liebhaber einige Male ziemlich betrunken im Orchester erschien und daß er Ring und Kette, die sie ihm gegeben, gelegentlich versetzte, ernüchterte sie zwar ein wenig, entmutigte sie aber keineswegs. Sie löste geduldig ihre Liebespfänder selbst wieder aus und gab sie ihm ohne ein Wort des Vorwurfes zurück. Die Beschämung und Reue, die der arme Kerl bei solchen Anlässen an den Tag legte, war echt; aber die sittliche Festigkeit, die er neuen Versuchungen gegenüber bewies, war die eines Kindes; und Sabine machte hier die schmerzliche Schule durch, die Künstlerliebchen und -frauen selten erspart bleibt: sie mußte sehen, daß ein Mann alles Göttliche und Hohe in seinem Busen bewegen und doch vor einem Glase Wein zum Tiere werden kann. Aber Sabine hatte ihre Rolle zu hoch gegriffen, um ihr selbst vor derlei Schrecknissen untreu zu werden. Auch als ihr Bräutigam wegen der eingetretenen Unordentlichkeit seines Lebenswandels aus dem Orchester entlassen wurde, hielt sie noch fest zu ihm. Bereits aber war sie so weit zur Vernunft gekommen, daß sie den Argumenten ihrer Verwandten ein willigeres Ohr lieh als zuvor; und als man ihr geschickt vorstellte, wie gerade die Gunst, die sie dem Musikus erwies, die unerwartete Veränderung seiner Lage verderbenbringend geworden sei für den Mann, der bisher in seinen dürftigen Verhältnissen arbeitsam und brav gewesen war – da entsagte sie, obgleich schweren Herzens und nach langem Kampfe, auch diesem Traume. Von ihrem Anbeter kaufte sie sich los, indem sie mit Einwilligung ihrer Angehörigen ein bescheidenes Kapitälchen für ihn anlegte, das ihn vor äußerster Not bewahren, ihm aber keinerlei Ausschreitungen ermöglichen sollte. Es muß zur Ehre des Mannes gesagt werden, daß er diese Abfindung erst nach langer und rasender Gegenwehr hinnahm; denn er liebte das schöne Mädchen, wie nur ein Musikerherz lieben kann, und drohte sie und sich selbst zu ermorden, ehe er sie aufgäbe. Erst die Vorstellungen desselben klugen Verwandten, der Sabine herumgebracht, vermochten ihn zu erschüttern; denn sie brachten ihn zur Einsicht, daß er die Heißgeliebte in ein trauriges Los herunterzöge, wenn er sie an sich fesselte, ohne durch seinen Charakter eine Gewähr für seines Zukunft zu geben. Er trat zurück und zeigte sich beim Abschiede so ehrenhaft und stolz, daß Sabine fast wieder ihren Sinn zu seinen Gunsten geändert hätte; denn es war ihr bitter, daß er sie an Entsagungsmut übertraf, und sie konnte sich nicht verhehlen, daß er ungleich mehr opferte als sie, weil er ungleich leidenschaftlicher geliebt hatte. Seine Pension griff er erst viele Jahre später an, als er, wieder zur Ordnung zurückgekehrt, eine passende Lebensgefährtin gefunden hatte, mit welcher er dann auch leidlich glücklich wurde. –
Sabinens dritte Wahl fiel gleichfalls auf einen Musiker, aber weit höheren Ranges. Dieser Mann war städtischer Domorganist, war ein wirklicher Künstler, war weder häßlich noch arm, dafür aber blind. Sabine hätschelte ihr eigenes törichtes Heldentum mehr denn je, als sie diesem Manne nahetrat, mit welchem sie aber glücklicherweise kein Verlöbnis einging. Denn – um es kurz zu machen – sie mußte bereits nach einiger Zeit zur Überzeugung kommen, daß andere Frauen an derselben Wut der Selbstaufopferung krankten wie sie, und daß der blinde Mann die Äußerungen dieser edlen Regungen, denen er sich übrigens kaum hätte entziehen können, rückhaltlos und recht dankbar annahm. Es gab keinen tolleren Don Juan im Lande als ihn, und er prahlte, sein eigener Leporello, vergnügt mit seinem Sündenregister. Das widerte die im Grunde keusche Sabine an, und sie zog sich zurück, ehe ein bindendes Wort gesprochen war. So war sie noch einmal mit heiler Haut davongekommen, als sie dem Mann begegnete, der ihr Verhängnis werden sollte, ihre Strafe und – nach schweren Irrungen – ihre Rettung. Dieser Mann war Ricchiari.
Sabine war damals vierundzwanzig Jahre alt, und ihre Schönheit hatte den Gipfelpunkt der Entfaltung erreicht. Sie war eine so hervorragende Erscheinung, daß die Schar ihrer Bewerber und Bewunderer sich trotz all ihrer Torheiten nicht wesentlich vermindert hatte, und sie hätte immer noch eine Ehe eingehen können, wie sie ihrer höchst verfeinerten und verwöhnten Natur angemessen war. Aber einer war abgefallen, von dem sie wußte, daß er sie früher gern gesehen hatte, und dieser eine beschäftigte nun die widerspruchsvolle Dame mehr als der ganze übrige Hofstaat. Auch Ricchiari war kein glänzender Mann. Er war, wie bereits erwähnt, von unansehnlicher, wiewohl durchaus nicht unangenehmer Erscheinung, dabei trocken und knapp in seiner Rede, schlicht in seinem Auftreten und nicht immer liebenswürdig in Frauengesellschaft. Als Arzt war er mäßig beliebt und gerade genug beschäftigt, um eine kleine Familie ohne Sorgen ernähren zu können, aber was man so eine Zukunft nennt, das traute ihm niemand zu. Auch war es diesem Manne, der die Welt kannte und wußte, nach welchen Werten ein Mensch geschätzt wird, nie zu Sinn gekommen, um die vielbegehrte Schöne zu werben; doch war auch er am Ende ein Wesen von Fleisch und Blut, und kein solches konnte Sabinens unvergleichliche Anmut sehen, ohne sich an ihr zu entflammen. So ging es auch dem armen Doktor, obgleich er sich redlich Mühe gab, seine Gefühle zu verbergen. Sabine, deren Augen auf dergleichen Vorgänge geübt waren, bemerkte nun wohl seine Leidenschaft; aber sie bemerkte auch seine Zurückhaltung, und sie schätzte ihn darob; möglicherweise würde sie ihn auch ermutigt haben, wenn der Beginn ihrer Bekanntschaft nicht gerade in eine Zeit gefallen wäre, wo eines der früher erwähnten Opfer Sabinens ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Nun war aber auch der Doktor ein Mann von äußerst scharfen Blicken, und er beobachtete mit innerlicher Empörung Sabinens Verhalten. Das komplizierte und etwas krankhafte Spiel ihrer Seelenregungen lag ihm längst offen, und was von guten Gefühlen in diesem wunderlichen Gemüte vorhanden war, unterschätzte er keineswegs. Daß Sabine im Verhältnis zum Manne die Gebende sein wollte, lieber als die Empfangende, das gefiel ihm sogar; und die Beharrlichkeit, mit welcher sie alle Folgen dieses Anspruchs auf sich nahm und ertrug, setzte ihn in Bewunderung. Aber daß sie im allerletzten Grunde dabei um den Beifall der Menge buhlte, daß sie etwas sein wollte, nur um es auch zu scheinen, das verdroß den Doktor, der in allen Dingen gerade nach der entgegengesetzten Seite hinstrebte und sich unbeachtet am wohlsten fühlte. Schmerzlich geteilt zwischen stiller, heißer Leidenschaft und einer gewissen Verachtung lebte der Mann kein vergnügtes Leben unter den Sonnenaugen der begehrten Frau, und kein Wunder, daß er die Verachtung etwas schroffer zur Schau trug, als er eigentlich wollte, da er sie wie einen schützenden Mantel um sein Herz und seine Liebe ziehen mußte.
Sabine bemerkte alsobald die Veränderung in Ricchiaris Betragen, und da sie nicht ahnen konnte, wie klar der Mann sie durchschaute, und daß er mehr von den Vorgängen in ihrer Seele wußte, als sie selbst, so störte seine plötzliche Kälte sie und gab ihr zu denken. Sie nahm sich vor, ihn zu erobern; und da er auch sonst ihren – negativen Anforderungen genügte und sie die Illusion, zu ihm herabgestiegen zu sein, vor sich und anderen aufrechterhalten konnte, so gab sie ihm Zeichen ihrer Huld, die er verstehen mußte, und bot alles auf, um ihn in ihren Bannkreis zu ziehen. Aber mit dem Doktor ging das nicht so leicht, wie es mit den anderen gegangen war. Je liebenswürdiger Sabine ihm entgegenkam, desto unnahbarer zeigte er sich und ließ sie endlich in unzweideutiger und fast unartiger Weise fühlen, daß er nichts von ihr wollte. Hätte Sabine in sein Herz blicken können, so hätte sie erkennen müssen, daß er unter dem Zustand der Dinge fast schwerer litt als sie, denn er konnte dem schönen Frauenbild lange nicht so ernstlich gram sein, wie er es zu sein wünschte. Da sie das nicht wußte, so war sie von seinem Verhalten nur aufs tiefste gekränkt und so unglücklich, wie ein Weltkind überhaupt sein kann. So heftig war sie von Zorn und verletzter Eitelkeit beherrscht, daß sie aller Weiblichkeit vergaß und den Doktor bei erster Gelegenheit zur Rede stellte. Es geschah dies auf einem einsamen Wege vor der Stadt, der durch Gärten und Gemüsepflanzungen weiter hinaus nach einer kleinen Privatheilanstalt führte, die Ricchiari regelmäßig besuchte. Sabine hatte ihm aufgelauert wie ein Schulmädchen, und sein spöttisches und abweisendes Gesicht, als er sie erblickte, brachte schnell genug zur Entladung, was sich an Lava, Schwefel und Pech in ihrem Gemüte gesammelt hatte. Es knallte ganz artig, als die erbitterte Heldin den Mund auftat. In dieser Stunde redete Sabine nicht eben klug und auch nicht ganz sittsam; aber sie redete zum ersten Male, seit er sie kannte, nicht mit der Absicht, ihrem Publikum zu imponieren. Deshalb empfand er ihren Ärger fast als etwas Wohltuendes und vernahm ihre wirren Vorwürfe lieber, als er je zuvor ihre wohlberechneten Sentenzen gehört hatte. Endlich versagte ihr die Stimme, und sie lehnte sich halb weinend, ratlos und atemlos vor Erregung an den Gartenzaun, an welchem sie gerade entlang wandelten. Ricchiari blieb vor ihr stehen und betrachtete sie nachdenklich. Sie stand, schön wie immer, vor der hohen grünen Sträucherhecke, in deren Zweige sie, mit rückwärts emporgreifenden Armen, die Hände verschlungen hatte, als wolle sie sich daran aufrechterhalten. Sonnenlicht und Schatten der windbewegten Blätter spielten rieselnd auf ihrem Antlitz und auf ihrem weißen Kleide, so daß ein Schleier goldener Wellchen die Erregung ihrer Mienen und das Zittern ihrer Glieder verhüllte und ihre ganze Gestalt so in wogendes Funkeln auflöste, daß sie, aus geringer Entfernung gesehen, fast wie etwas Überirdisches erscheinen mußte, etwa wie eine Dryade, die sich schemenhaft leuchtend aus dem frühlingshellen Geäste erhob. Solch ein Naturwesen, mehr oder weniger als Mensch, tückisch, süß und verführerisch zugleich, mußte der geblendete Doktor in diesem Augenblicke doch zu sehen glauben, denn er erlag dem Zauber, und seine Wehrhaftigkeit splitterte um ihn wie ein Panzer von Glas. Mag nun sein, daß die Stimmung des blütenübersponnenen Sträßleins, das weit hinaus in freundliches grünes Land zu führen schien, der weiche Maiduft des Himmels und Frühlingsstimmen junger Vögel nah und fern die Wirkung des holden Bildes verstärken halfen – kurz, der Mann fühlte sich innig gerührt und zu jedem Verzeihen geneigt, so daß er nähertrat und bereitwillig Rede stand. Dabei konnte er es sich dennoch nicht versagen, ihr seine Meinung ordentlich klarzulegen, und so kam ein gar wunderlicher Sermon zustande, den ich aus mancher Andeutung Sabinens und aus später selbst miterlebten Wiederholungen ähnlicher Szenen wohl zu rekonstruieren vermag.
»Haben Sie denn«, so etwa mochte der Doktor schmälen, »je ein edles Gefühl um seiner selbst willen gehegt? Haben Sie nicht alles, was Sie taten, um der Leute willen getan? Haben Sie nicht früh schon durch Kleidung und Auftreten bewiesen, daß Sie Aufmerksamkeit zu erregen wünschten? Haben Sie nicht ein braves und anerkennenswertes Streben der modernen Frau, das Streben nach Bildung und Wissen, dadurch erniedrigt, daß Sie lauen Herzens und nur deshalb an den Altar der Athene getreten sind, weil es heute noch für ungewöhnlich gilt? Dies alles wäre noch zu verzeihen. Auch daß Sie Almosen geben, weil es zum guten Ton gehört, will ich Ihnen nicht zu hoch anrechnen, denn ihr kurzdenkenden Frauen könnt das Unheil nicht übersehen, das eure Wohltätigkeit en décolleté anrichtet. Aber Sie haben mit dem Dinge gespielt, das jede echte Frau als eine Offenbarung von oben in demütigen Händen empfängt. Sie haben mit Ihrer Liebe Parade geritten vor klatschlustigen Basen, Sie haben Männer angezogen und abgestoßen, um von sich reden zu machen, und Sie haben den, der mit gläubigem Herzen Ihnen entgegenkam, nicht minder geäfft als die Menge Ihrer Zuschauer, um deren Beifall es Ihnen so sehr zu tun scheint. Denn Sie gaben ihm ein Recht, an Liebe zu glauben, und Liebe haben Sie nie gefühlt, nur eitle Selbstüberhebung und Hochmut, die beide Tugenden galten, von denen Sie nur den Schein besitzen. Wie dürfen Sie nun noch Anspruch erheben auf eines ehrlichen Mannes Gefühl? Ich für mein Teil mag keine Schauspielerin zur Frau, und so innig lieb ich Ihr schönes Bild leider im Herzen halten muß, so wenig werde ich mich dazu hergeben, Ihren Partner zu spielen. Denn die Rolle, die Sie mir in Ihrer Komödie eines romantischen Ehestandes zudenken, gefällt mir nicht – und übrigens ist die Sache bei mir, Gott sei's geklagt! etwas mehr als Komödie!«
So gestand der Doktor seine Liebe und verschwor sie im selben Atem, und Sabine hing wie ein windbewegtes Blatt zwischen Himmel und Erde, zwischen Freude und Scham, zwischen höchstem Triumphgefühl und tiefster Erniedrigung. Tränen, halb des Zornes und halb der Rührung, traten ihr in die Augen, und sie empfand in dieser Stunde, was auch die seichteste Frau nicht ohne Seligkeit empfinden kann, die Herrschaft und Überlegenheit eines starken und geradsinnigen Mannes. Wie nun auf jedes Weib diese Erkenntnis des Untergeordnetseins viel eher beglückend als verletzend wirkt, so ward auch für Sabine die Beschämung selbst zu einer Quelle der Lust, und sie wünschte nichts sehnlicher, als daß der Doktor bis in alle Ewigkeit fortfahren möchte, sie zu schelten. Er fügte auch noch ein gut Teil bei; und sooft er aufhören wollte, sah Sabine ihn mit zwar feuchten, aber so strahlend glücklichen Blicken an, daß er schnell wieder einsetzte, weil ihm schien, sie sei noch lange nicht so zerknirscht und schuldbewußt, wie sie von Rechtes wegen hätte sein müssen. Bald wurde er dann wieder härter, als er beabsichtigt hatte, und nun faßte er ihre Hand, um durch einen sanften Druck und etwa ein Streicheln da versöhnend entgegenzuwirken, wo seine bitter wahren Worte zu tief verwunden mußten. Und so zwischen Grausamkeit und Liebe schwankend, nahm er Sabinen endlich an sein Herz und bedeckte sie mit Küssen, dazwischen hoch und teuer schwörend, daß er sie nun und nimmer zur Frau haben wolle. Sie aber, von einem neuen Gefühle ganz verwirrt und betäubt, ließ alles über sich ergehen und fragte in diesem Augenblicke sogar nicht einmal, was die Leute dazu sagen würden, die ab und zu durch das grüne Sträßlein spazierten und mit Lachen dem wunderlichen Paare nachblickten.
Es versteht sich von selbst, daß Ricchiari trotz all seiner grimmen Vorsätze um Sabinens Hand warb und daß er sie erhielt. Der brave Mann stellte sich entschieden und tapfer auf die Seite der Liebe, besiegte das Widerstreitende in seiner Brust und verzieh dem holden Frauenbilde nicht nur alle früheren Torheiten, er bemühte sich sogar, in noch bestehende und fortwirkende sich zu finden oder sie wenigstens mit Anstand zu ertragen. Ricchiari sah seine Frau hundertmal des Tages an und fühlte, daß er sie bei jedem Blicke heißer liebte als zuvor. Er führte sie bald darauf hinweg nach der kleineren Stadt und hoffte sie dort in der Stille und Zurückgezogenheit in kurzer Zeit zu größerer Sinnesschlichtheit umzubilden und das Lautere ihres Wesens, woran er nun einmal glaubte, von anhaftendem Flitter zu reinigen.
Leider mußte er nur zu bald erkennen, daß er sich hierin vergriffen hatte. Die in der großen Stadt eine Rolle gespielt hatte, glaubte sich in der kleinen noch viel mehr berechtigt, alle Augen auf sich zu ziehen. Die Feindseligkeit und das Mißtrauen, die ihr allenthalben entgegentraten, reizten sie nur zu neuen Künsten. Und da sie bald herausgefunden hatte, daß dem beschränkten Geiste ihrer Mitbürger nur durch eine einzige Eigenschaft zu imponieren war, nämlich durch Tugendhaftigkeit, so warf sie sich mit ihrem ganzen virtuosen Anpassungsvermögen nach jener Seite hin und stellte alle Penelopen und Kornelien der Welt durch ihre Leistungen in Schatten. Zugleich aber begann jetzt für Sabine wie für ihren Gatten ein Martyrium schlimmster Art; es fing damit an, daß Sabinens Gefühl für den Doktor mit seiner Neuheit dahinging. Wohl hatte die Macht von Ricchiaris ehrlicher Gesinnung, seine Offenheit, sein Zorn, kurz, die Äußerung seiner Männlichkeit so überwältigend auf das Wesen mit den verschrobenen Neigungen gewirkt, wie eben das Wahre und Gewaltige dem Gekünstelten gegenüber wirken muß. Einer wirklichen Liebe war Sabine Ricchiari nicht fähig, und von der angenehmen Verwirrung ihrer Sinne war nichts geblieben als eine Empfindung höchsten Unbehagens dem Manne gegenüber, der so scharf in jeden Winkel ihrer Seele zu leuchten wußte; denn Sabine ahnte wohl, daß es keine wertvollen Funde in diesem Inneren aufzudecken gab. Das Unbehagen steigerte sich nicht selten zur Angst. Und diese Angst war es, die sie verhinderte, ihre Schauspielkunst, die sie gegen Fernerstehende so glänzend behauptete, auch da zu versuchen, wo es am meisten gelohnt hätte: Sabine konnte ihren Gatten nicht glauben machen, daß sie ihn liebte.
Den ganzen Tag wandelte sie in stumpfer Gleichgültigkeit umher. Daß sie die Großstadt und ihren Vasallenkreis vermißte, daß Haushalt und Kinderstube sie langweilten, daß sie hungerte nach rauschenden Festen, wo ihre Schönheit Siege gefeiert hätte, daß der schlichte, stäte und zuverlässige Gatte ihrem phantasievollen Köpfchen nichts zu denken gab – Ricchiari mußte es täglich aus kalten Mienen und lässigem Gebaren erkennen. Da er die Frau liebte, tat das ihm weh. Aber man vergegenwärtige sich das Leiden, das für ihn anhub, sobald ein fremder Fuß das Gemach betrat: wie durch Zauberschlag verwandelt, huschte die plötzlich erblühende Frau als rühriges Hausmütterchen durch alle Räume; Heiterkeit strahlte ihr von rosigen Wangen, Liebe aus leuchtenden Augen; sie herzte ihre Kinder, sie nickte dem Gatten zu; sie redete wirtschaftlich, prahlte mit kleinen häuslichen Kenntnissen, pries die pastoralen Freuden ihres bescheidenen Lebens, scherzte anmutig und überlegen über leicht verschmerzte Entbehrungen – kurz: zeigte sich so ganz als das, was sie nicht war und doch hätte sein sollen, daß die Klügsten betrogen hinweggingen. Laut und leise pries alle Welt Ricchiari als den glücklichsten Gatten; und der Doktor hörte es mit finsterem Gesichte und verbiß seine Martern: wußte er doch aus wiederholter Erfahrung, daß Licht und Lächeln in den Augen seiner Frau erlöschen würden mit den letzten Lampen des Mahles, bei dem sie durch horazische Tugenden eine Anzahl leichtgläubiger Gäste berückt hatte.
Diese sichere und stets eintreffende Voraussicht machte, daß Ricchiari in Gesellschaft nicht eben leidenschaftlich auf die Liebenswürdigkeiten seiner Frau einging; dazu war er eine zu gerade Natur. Ja, er begegnete in der Regel ihren holden Koketterien mit abweisenden Blicken und erreichte dadurch, was er eben hatte vermeiden wollen, daß alle Leute die herrliche Frau, die an solch einen Bären gebunden war, erst recht bewunderten und bedauerten. Dieses Bedauern, das der unglückliche Mann in allen Mienen lesen mußte, war seine schärfste Qual. Es war ihm unmöglich, auf die unedle Pose einzugehen, die Sabine vor der Welt aufrechterhielt und mit welcher sie ihm seine tiefe und wahrhafte Liebe so übel vergalt. Jeder Versuch aber, die Komödie zu durchbrechen, prallte an Sabinens unerschöpflicher Sanftmut und Holdheit ab, und immer blieb das gewandte Weib im Vorteil, immer mehr vergab sich der von Leidenschaft gepeinigte Mann in den Augen der Kurzsichtigen, die nach dem Schein urteilten. Bald war Sabine nah und fern als eine neue Griseldis gerühmt, der Doktor als ein Tyrann verschrien; und das ruchlose Geschöpf war wirklich erbärmlich genug, sich an dieser Rolle zu ergötzen. Die Art und Weise, wie sie Mitleid von sich wies und ihren Gatten zu entschuldigen suchte, war mit Feinheit so berechnet, daß auch wieder niemand als sie selbst dabei gewann: denn nun prunkte sie noch mit einem Edelmute, der ihr sehr ferne lag, da sie genau wußte, daß in Wirklichkeit ihr Gatte der still Duldende und Vergebende war. Daß ich selbst von diesem Spiele fast gefangen worden wäre, habe ich wohl schon angedeutet. Sabinens Geständnisse am Bette des Selbstmörders ließen mich klar in dies fürchterliche Verhältnis blicken. Die Unselige erzählte mir selbst, daß ihr Mann sie einmal mit Tränen in den Augen gebeten habe, ihm in Gegenwart von Leuten nicht mehr so zärtlich zuzunicken, da sie es doch in Stunden des Alleinseins mit ihm nicht wolle oder nicht könne. Dies habe ihr ins Herz geschnitten, und sie habe eine Zeitlang wieder ein wärmeres Gefühl für ihn zu empfinden geglaubt, ein solches auch mit ängstlicher Deutlichkeit an den Tag gelegt. Ricchiaris trauriges Lächeln habe sie wohl belehrt, daß sie ihn nicht täuschen könne, und diese Erkenntnis habe sie selbst mit Bitterkeit erfüllt. Nach kaum einer Woche sei ihr machtloser Wille wieder erlahmt, Leben und Umgebung hätte sie gelangweilt, das tägliche Einerlei von Kleinem und Kleinstem die alte Verstimmung wieder wachgerufen. Vor Zeugen aber habe sie nach wie vor ihr äußeres Scheinleben weiterführen müssen und sich dabei selbst wie behext gefühlt; denn sie sei sich ihrer Falschheit wohl bewußt gewesen, ohne sich ihrer jedoch erwehren zu können.
Ich fragte Sabinen, ob sie sich über die Empfindungen Rechenschaft geben könne, die sie beherrschten, während sie dies verräterische und für ihren Gatten so grausame Spiel trieb. Sie gestand mir nach einigem Sinnen, daß sie sich immer durch das Verhalten der Leute selbst gleichsam dazu gereizt gefühlt habe. Denn wie ein offenes Buch habe jedes Herz vor ihr sich aufgetan, und was sie da zu lesen geglaubt, war eben die Erwartung dessen, was mittlerweile wirklich schon eingetreten war. Jeder Blick schien sie zu fragen: hast du die übereilte Verbindung noch nicht bereut? hält die Romantik dem wirklichen Leben stand? sehnst du dich nicht zurück nach dem Kreise, für den du geboren bist? Bereits glaubte sie zu hören, wie triumphierend Nachbarin zu Nachbarin flüsterte: wir haben es vorausgesagt! Bereits war ihr, als spitze sich jeder Beau, der huldigend ihre Hand küßte, schon im stillen darauf, der Hausfreund der schönen Doktorsfrau zu werden. Daß aller Augen auf ihren Fall warteten, hatte sie richtig erraten, und sie hätte sich, wie sie sagte, lieber in Stücke reißen lassen, als dem Volke die Freude des Rechthabens zu gönnen.
Die Spannung zwischen den Gatten kam endlich so weit, daß Ricchiari die Scheidung vorschlug. Ihm schien es leichter, sich der begehrten Frau ganz und gar zu entwöhnen, als fürder unter ihren Lieblosigkeiten zu schmachten. Dennoch mußte ihn der Vorschlag schwere Überwindung gekostet haben, und Sabine, die es verstand, war von seinem Leiden einigermaßen erschüttert. Aber als sie dies Anerbieten zurückwies, tat sie es dennoch erst in zweiter Linie aus Mitleid mit dem Manne; ihr erster Gedanke war auch hier wieder: »wie würden die Leute sich freuen!« und deshalb willigte sie nicht in die Scheidung.
Ricchiari, der mit weißen Lippen seinen Antrag gestellt hatte, errötete ein wenig, als sie rasch und heftig »Nein!« sprach. »Darf ich hoffen,« fragte er mit unsicherer Stimme, »daß es dir doch ein wenig leid tun würde, mich zu entbehren?« Sie schaute ihn an und hätte Welten darum gegeben, hätte sie jetzt ihr Verstellungstalent zur Hand gehabt, das ihr vor Fremden doch nie versagte. Aber vor den ehrlichen Augen dieses Mannes war sie gelähmt, sie fand das falsche Lächeln nicht, oder vielmehr, sie wußte, daß es ihn nicht würde betrügen können. Sie sah zur Seite, zitterte und stammelte endlich: »Um der Kinder willen laß uns beisammen bleiben!« und das war das einzige, was sie antworten konnte ohne direkte Unwahrheit. Wirklich war das ein Grund, dem Ricchiari sich beugen mußte; und wenn es für ihn irgendeinen Trost gab, so mußte es der Gedanke sein, daß Sabine in diesem einen Punkte wenigstens durch ein braves und natürliches Gefühl geleitet worden sei.
So also standen die Dinge in Ricchiaris anscheinend so tadelloser Häuslichkeit. Eine Frau von unfehlbarer Lebensführung und wertvollen Eigenschaften verstand die bescheidene Kunst nicht, einen schlichten Mann glücklich zu machen; und ein Mann, der jede andere Frau durch die Fülle und Tiefe seines Empfindens hoch beglückt hätte, mußte seine köstliche Flamme vor einem Götzenbilde von Erz verlodern sehen, und kein Zeichen belehrte ihn, ob sein Opfer Gnade gefunden.
Sylva stammte aus guter, alter Familie. Er war wohlhabend und hatte Ansehen. Aber er war auch brav, tüchtig, ernsthaft und seelenrein, wie wenige Menschen in dieser verderbten Zeit und in den Kreisen, aus denen er stammte. Er war dreiundzwanzig Jahre alt.
Sabine Ricchiari war eine zu blendende Erscheinung, um von dem neuen Ankömmling nicht alsbald bemerkt zu werden, und entzückt erkundigte er sich sofort nach Namen und Geschichte der schönen Frau. Der Bescheid, den er erhielt, entsprang der falschen Meinung, die Sabinens ruchloses Spiel in den Köpfen der Leute gezeitigt hatte. Die Frau, so hieß es, sei ein vornehmes und mit allen holden Gaben geschmücktes Wesen, an einen Mann gekettet, der nicht wert sei, ihr die Schuhriemen zu lösen, und der das Gotteswunder nicht zu schätzen wisse, das mit solch einem Weibe über sein Haus gekommen. Vielmehr behandle er sie höchst lieblos, sie aber ertrage mit engelgleicher Geduld all seine Launen, und nie habe jemand sie ein Wort der Klage äußern hören. Ja, selbst den Mangel all des Glanzes, zu welchem ihre Geburt sie berechtigte, habe sie mit solcher Anmut und Heiterkeit auf sich genommen, daß alt und jung vor einem so seltenen Frauencharakter in Bewunderung vergehe. Niemand könne an dem herrlichen Bilde die leiseste Trübung nachweisen, und allgemein werde nur bedauert, daß nicht ein würdiges Eheglück ihr beschieden sei.
Solche Kunde war natürlich dazu angetan, ein Jünglingsherz zu rühren. Sie aber ahnte nicht, welchen Quellen die scheue Verehrung entsprang, die sie alsobald in den Augen des jungen Mannes zu lesen begann; seicht wie sie selbst war, schloß sie nur auf seichte Leidenschaft, wie ein blühender Frauenleib sie wohl zu wecken vermag, und wandte sich mit einem spröden Gesichte zur Seite, so oft sie dem stillen Minnewerber begegnete. Sie selbst gestand, daß sie damals nichts als Groll empfand, jenen alten Groll gegen angenehme und sogenannte unwiderstehliche Männer, die jede Frau als leichte Beute behandeln.
Es hatte nämlich bereits die öffentliche Aufmerksamkeit sich auf Blicke und Mienen des schmachtenden Jünglings gerichtet, und eine Schar von solchen Geistern, die nie das Unheil zu bemessen verstehen, das sie anrichten, ergriff sofort diese wahrlich ernste Sache als ein neues und willkommenes Spielzeug. Keine der Freundinnen und Nachbarinnen konnte sich das Vergnügen versagen, Sabinen die Beobachtungen zu hinterbringen, die sie an Sylva gemacht hatten, und jene bekannten neckenden Bemerkungen daran zu knüpfen, die bei solch kurz denkenden Wesen besseren Gesprächstoff ersetzen. Und diese Gefühllosigkeit gab leider der gefühllosesten unter den törichten Frauen den Anstoß, um aufs neue und tiefer als jemals in ihr altes Laster des Posierens zu verfallen.
Sabine wies die Neckereien der Freundinnen anscheinend mit Ernst und Würde zurück, dabei aber verfehlte sie nicht, mit feiner Wahl des Ausdruckes soviel Teilnahme für den stillen Anbeter zu verraten, als eine anständige Frau ohne Furcht vor Mißdeutungen an den Tag legen darf. Noch eine Nuance mehr Interesse, so gab sie, dessen war sie sich wohl bewußt, falschen Vermutungen Raum. Und dennoch – so unglaublich es scheint! – überschritt sie diese Linie, überschritt sie, während ihr selbst die Erkenntnis dessen, was sie tat, kalte Schauer über den Rücken jagte. Warum sie es tat – Gott weiß es! Sie wollte eben wieder einmal ihre Tugend zu allgemeiner Betrachtung aushängen. Sie arbeitete ihre Komödie mit gewohntem Raffinement aus, und die Freundinnen gingen mit der Gewißheit hinweg: »Sabine Ricchiari liebt den jungen Sylva. Aber mit eiserner Hand wird sie ihre Wünsche ersticken. Ihre Tugend ist über jede Versuchung erhaben.«
Alles dieses wäre noch kein Verhängnis gewesen. Aber nun gingen die schwatzenden Elstern hin und bearbeiteten den Jüngling. Sylva hatte das Unglück, jene sanfte und weiche Schönheit zu besitzen, auf welche ältliche Weiber besonders toll sind. Jede einzelne der müßigen Redespinnerinnen suchte aus der eben gemachten Entdeckung einen Vorwand zu konstruieren, um sich dem jungen Manne zu nähern, sein Vertrauen zu gewinnen, als sympathetische Seele seinen Schmerz zu teilen und – aber dieser Gedanke lauerte nur ganz verborgen im Hintergrunde! – womöglich zu heilen. Sylva, jung und nicht übermäßig erfahren, war schnell umgarnt. Bald hatte er drei oder vier »mütterliche Freundinnen«, die sich darin überboten, ihm zu sagen, was er zu hören brannte. Und bald war auch er von der Überzeugung durchdrungen, daß Sabine ihn im stillen liebe. Jetzt erst stiegen seine Hoffnungen zu äußerster Kühnheit empor, und jetzt erst lag sein Herz zu tiefst im Staube vor dieser Frau, die er unglücklich glaubte und doch von siegreicher Reinheit in ihrem Unglücke. Hatte er sie vorher schon mit heißester Glut begehrt, so betete er jetzt geradezu die Spur ihrer Füße im Sande an, überwältigt von ihrer unantastbaren Tugend.
Und seine Trösterinnen sorgten dafür, daß ihm der Mut nicht sank. Jedes Wort Sabinens wurde ihm hinterbracht; und da es die Frau in entsetzlicher Verblendung nicht lassen konnte, ihre Rolle weiter und weiter zu verfeinern und auszugestalten, so gab es bald ordentlich was zu hinterbringen. Die Phantasie der Zwischenträgerinnen tat das ihre.
Sylva schien zu glauben, daß dieser Frau gegenüber, die es verschmähte, sich um ihr Glück zu wehren, gewaltsamere Schritte erlaubt wären. Er suchte eine Zusammenkunft mit ihr, und die Trösterinnen rangen um den Vorzug, sie ihm zu verschaffen. Diejenige, der in dieser edlen Konkurrenz der Sieg zufiel, besaß einen schattigen und abgelegenen Garten, dahin lud sie Sabinen zu einem Plauderstündchen, und Sylva erschien wie zufällig. Nun verschwand die hilfsbereite Freundin, und das Paar stand sich gegenüber.
Sabinens Augen funkelten. Sie begriff sofort das Beabsichtigte der Situation, und neben einem kleinen Ärger über die niedrige Kuppelsucht ihrer Vertrauten, die ihr jetzt klar zum Bewußtsein kam, regte sich sofort und übermächtig auch die Freude darüber, daß endlich für sie der Augenblick gekommen sei, ihre sittliche Größe ganz zu zeigen. Sie bedauerte nur die Abwesenheit der Freundin, die ihr eine willkommene Zeugin gewesen wäre. Daß diese Freundin in sicherem Verstecke die ganze Szene belauschte, konnte sie freilich nicht ahnen.
Der Jüngling, ehrlich und geradeaus in seiner Liebe, ergriff alsbald das Wort und erklärte freimütig, daß er keineswegs zufällig gekommen sei, sondern in der bestimmten Hoffnung, Sabine allein zu sehen und zu sprechen. Sie habe ihm diese Möglichkeit bisher versagt, obgleich sie wissen müsse, was er für sie empfinde; doch sei er sich seines Unwertes vor ihr bewußt, wie seiner Vermessenheit, vor sie zu treten. Dies habe er nun gewagt, weil er den Zustand der Dinge unmöglich länger ertragen könne und lieber ein verdammendes Urteil für alle Zeit auf sich nehmen wolle, als fürder zwischen Hoffen und Verzweiflung zu schweben. »Und warum Hoffen?« unterbrach ihn Sabine voll Hochmut. »Habe ich Ihnen je ein Recht dazu gegeben?« – »Nicht Sie,« antwortete Sylva in einiger Verwirrung, »aber die schlimmen Verhältnisse, in denen Sie leben, und die, verzeihen Sie mir! leider genugsam bekannt sind.« Sabinens Antlitz flammte auf, und jetzt stand sie im Begriffe, das Lügengespinst zu zerreißen. »Was sagen Sie?« rief sie in echter Entrüstung. »Welche Verhältnisse? Ich bitte, sich deutlicher zu erklären!« Sie rang, von Scham eine Sekunde lang überwältigt, nach Worten, den verhängnisvollen Irrtum zu heben, wußte nicht, wo beginnen, wurde aufgeregt und ängstlich. Unterdessen sprach Sylva, der ihren Zorn nach seiner Art deutete, auf sie ein, schilderte mit Farben, die er aus der Tiefe seines gläubigen Herzens holte, ihr Bild, wie es ihm erschien, in all der Heiligkeit entsagungsvoller Treue, in all der Größe, Reinheit und süßen Trauer, die er ihr andichtete, und bemerkte beglückt, daß sie ruhiger wurde und endlich in augenscheinlicher Ergriffenheit ihm zuhörte. Wirklich dämmerte ihr etwas von dem bitteren Ernste der Lage. War bei ihrer plötzlichen Besänftigung auch vielleicht in erster Linie wieder das kindische Wohlgefallen an sich selbst im Spiele gewesen, das Sylvas Worte so angenehm streichelten, so möchte ich doch annehmen, daß der Anblick der unschuldigen, heiß flehenden Augen, die köstlich reine Verehrung des armen Jungen etwas von ihren weiblichen Empfindungen wachriefen und vibrieren machten. Denn von hier an kann ich Sabinens Verhalten nicht mehr ganz als Pose auffassen.
»Der Anblick Ihres Jammers«, so sprach Sabine, »zerreißt mir das Herz. Wollte Gott, ich dürfte milder sein, denn Strenge wird mir schwer, wo ich an ein echtes Gefühl glauben muß. Nicht oft im Leben ist mir ein solches begegnet, und ich wünschte, ich müßte nicht zurückweisen, was manche andere Frau mit Stolz und Freude annehmen würde. Aber bedenken Sie, daß diese Liebe, die Sie mir entgegenbringen und die in ihrer hohen und edlen Natur das Wertvollste ist, was eine Frau auf ihrem Lebenspfade finden kann, zugleich eine erniedrigende Zumutung an mich enthält. Nein, erschrecken Sie nicht – ich zürne nicht, denn ich weiß, was Sie leiden! Dennoch haben Sie es sich allzu leicht vorgestellt, das Pflichtbewußtsein einer Frau zu überwinden. Vergaßen Sie, daß ich Kinder habe? Wenn ich unterliege, so trifft mich kein Verlust, den eine Liebe wie die Ihre mir nicht ersetzen könnte; aber die ganze Härte der Konsequenzen fällt auf die unschuldigsten Häupter, die somit mein und Ihr Vergehen zu büßen haben werden. Welches Glück könnte auf solchem Grunde aufgebaut werden? Lassen Sie mich, um Ihrer selbst willen, an Ihr besseres Selbst appellieren! Sie werden überwinden, Sie können es! Es gibt unfehlbare Tröster: die Arbeit, die Kunst – zu diesen flüchten Sie! Erhalten Sie Ihr Leben rein, bessere Menschen als ich bin haben noch Rechte an Ihre Zukunft. Diese erhalten Sie unbefleckt, diese opfern Sie nicht einer vielleicht flüchtigen Leidenschaft! Seien Sie stark – Sie sind ein Mann: muß ich es doch sein, die ich nur ein schwaches Weib bin!«
Sylva hatte von Sabinens Rede nichts gehört, als daß sie an seine Liebe glaubte, und das war mehr, als er geträumt hatte. Zitternd vor Seligkeit warf er sich vor ihr nieder, mächtig hinströmend ergoß sich sein Gefühl, so daß es der erschrockenen Frau wohl scheinen mochte, als wankte der Boden und die alten Stämme gewaltiger Bäume rings um sie vor dem Anprall einer Flut, die sich rauschend und klingend durch das All verbreitete. Wieder, wie schon einmal im Leben, stand sie dem Elemente gegenüber und hatte die Kraft nicht, sich darüber zu erheben. Wieder ließ sie sich hinreißen. Über solche Wellen hatte der flache Kiel ihres Seelenschiffleins keine Gewalt. Es trieb, es schwankte und wäre zerschellt, wenn nicht Sylva selbst in seiner Redlichkeit den Sturm gemeistert hätte. Mehr auf die Geliebte als auf sich selbst bedacht, kam es ihm durchaus nicht zu Sinn, ihre Verwirrung zu nützen, und bereits hatte seine fromme Phantasie Mittel und Wege einer rechtlichen Verbindung zwischen ihm und der angebeteten Frau gefunden. »Kein Unrecht!« so rief er aus, »keine Schmach auf dir, du einzig Geliebte! Ich trete vor deinen Gatten, ich stelle ihm deine Entsagung, deinen Opfermut vor, ich zeige ihm, wie du um deiner Pflicht willen dein Herz ersticken wolltest! Ist etwas Menschliches in ihm, so muß er dich freigeben!«
Ernüchtert und entsetzt riß Sabine sich los. Ihr Verstand, der einige Minuten lang geschwärmt hatte, stand plötzlich wieder auf festen Füßen, und sie überblickte nun mit ziemlichem Schrecken den Schaden, den sie angerichtet. Nichts konnte dieser Frau, deren Abgott das »Qu'en dira-t-on?« war, unwillkommener sein, als die Aussicht, daß Sylva in seinem Eifer bis zur ernsthaften Forderung einer Scheidung gehen könnte. Hunderte von Fällen ähnlicher Art, an denen ja heutzutage Wirklichkeit und Dichtung so Artiges liefern, fielen ihr ein: immer und unter allen Umständen haftete der Frau, die einen gesicherten und geachteten Hausstand preisgab, um sich der abenteuerlichen Liebe eines weit jüngeren Mannes anzuvertrauen, mindestens Lächerlichkeit an. Und was fürchtete Sabine mehr als Lächerlichkeit? Und allen Grund hatte sie, diese zu fürchten, denn gerade sie fiel furchtbar, wenn sie fiel. »Das war die Tugend Sabinens?« schallte ihr's im Ohr, hundert lachende Stimmen, hämisch, triumphierend, fröhlich und harmlos spottend, aber alle lachend schienen aus allen Ecken des Gartens den lustig erstaunten Ruf zurückzugeben. Flammen der Scham loderten ihr im Antlitz. Sie stieß den Jüngling von sich, stammelte in höchster Ratlosigkeit ein paar Worte von Überlegung und Zeit zum Sammeln und enteilte.
Sylva, trunken und träumerisch, mag ihr nachgeblickt haben, wie ihr helles und in seiner Flucht anmutig bewegtes Bild in der violetten Tiefe des abenddämmrigen Gartens unterging. Dann mag es in jedem Laubengange vor ihm hingewandelt sein, in tausend holden Erscheinungen wechselnd, bald mit kummervollen Augen ihn abwehrend, dann wieder lockend und verheißend mit solchem Lächeln, wie er nun bald in Wahrheit von Sabinen zu verdienen hoffte. Der junge Mann verweilte bis tief in die Nacht im dunklen Garten, und ich sehe ihn heute noch in Gedanken, wie er mit Sternen und Blumen sprach, die Zweige küßte, die das Haar der fliehenden Göttin gestreift hatten, und aufgelöst in demütiger Seligkeit vor der Rasenbank kniete, auf der sie gesessen. Wer von uns, der jung war, sieht ihn nicht so?
Am Tage darauf erhielt Sabine ein Briefchen, worin Sylva um eine neue Zusammenkunft bat. Hätte die leiseste Spur von Selbstbewußtsein sich in dem Schreiben verraten, so hätte die leichtverletzliche Schöne ohne Zweifel eine schroffe Antwort gefunden, die alles abgeschnitten hätte. Aber der liebende Jüngling ehrte so sehr den Kampf, den, wie er glauben mußte, eine edle Frau zwischen Pflicht und Liebe führte, daß er kaum in bescheidenster Weise anzudeuten wagte, zu welchen Hoffnungen ihn Sabinens Verhalten berechtigte. Die Fassung des Briefchens rührte Sabinen, und die Verantwortung, die diesem jungen Herzen gegenüber auf ihr lag, stellte sich ihr drohend vor. Sie beschloß, dem Bittenden das verlangte Wiedersehen zu gewähren, und glaubte in lauterer Absicht zu handeln: wollte sie ihm doch nur zur Vernunft reden! Und sie antwortete in freundlich gewährendem Sinne. –
In der Stunde freilich, wo Sabine in grausiger Selbstanklage gerade diesen Teil ihrer Geschichte über das Haupt ihres toten Richters hinschrie, in der Beichte am Bette des Geopferten, gab sie anderen Motiven schuld an diesem letzten törichten Schritte. In Selbstzerfleischung und Reue so maßlos, wie sonst in Selbstüberhebung und Eitelkeit, suchte sie hervor, was sie verdammen konnte, und verschmähte, was irgend zu ihren Gunsten sprechen mochte. »Nichts wollte ich,« so rief sie in ihrer Verzweiflung, »als den Weihrauch atmen, den er mir streute! Nichts, als ihn wiederholen hören, was, wie ich wußte, die Fama ihm zugeflüstert, wie groß und gut ich sei. Um das zu hören, habe ich in der zitternden Seele vor mir alle Stadien der Glut zu erregen gesucht und mich, ohne eigenes Verlangen, am Gefühle der Meisterschaft berauscht, mit welcher ich das Element dämpfte und wieder schürte: denn jedes neue Emporlodern der Flamme stellte eine neue Verherrlichung meines Selbst dar, und immer schöner und erhabener schien er mich zu sehen, je mehr ich ihn quälte. Sein armes, von sehnsuchtsvoll durchwachten Nächten blasser und blasser werdendes Gesicht war das Reklamebild meiner Tugend, und im letzten Grunde, wenn ich's recht bedenke, habe ich ihn auch in den Tod getrieben, damit nur einmal meine Unbesiegbarkeit durch einen öffentlichen Akt dargelegt werden möchte.« Es liegt mir fern, der unglücklichen Frau in dieser traurigen Übertreibung zu folgen. Vielmehr glaube ich, daß, ihr selber unbewußt, ein neuer Trieb sie beherrscht habe, der zwar nicht minder sträflich, aber weitaus natürlicher und menschlicher war; und diesem möchte ich gern alle weiteren Torheiten der Armen zuschreiben. Freilich denke ich nicht an ein solches Gefühl, das dem Sylvas auch nur im entferntesten die Wage halten konnte: dessen war Sabine nicht fähig. Aber ein leiser Widerhall davon muß doch vorhanden gewesen sein. Keine Frau kann eine solche Liebe sehen, dieses Himmelsfeuer von Gottes eigenstem Altare, ohne einen Schimmer davon mit sich herumzutragen, wie Marienkind, als es die innerste Himmelskammer geöffnet und die heilige Dreieinigkeit im Goldglanze erblickt hatte. Und dieser Abglanz, wenn schon nicht mehr, mußte in Sabinens Seele gefallen sein, ein erstes, wahrscheinlich unverstandenes Regen zarter Neigung, das sich nur noch nicht zum Erscheinen durchgekämpft hatte. Diesen Schluß zu ziehen, berechtigt mich Sabinens Gebaren an der Leiche Sylvas, das sonst unbegreiflich gewesen wäre. –
Und so geschah alles, wie es geschehen mußte. Wieder lag dämmriger Abendschein über Lauben und Büschen des stillen Gartens. Die Allee schien ein goldenes Gewölbe, wie schimmernde Schätze lag rötliches Laub über den Boden gestreut. Ein scharfes gelbes Licht, von Westen her geworfen, prallte an den Stämmen der schönen alten Bäume ab und zeichnete ihre Schatten quer über den flimmernden Grund, daß es aussah, als hemmten schwarze Balken das Wandeln über die kostbaren Fliesen. Mit jeder Elle, die Sabine im frühherbstlichen Blätterfall vorwärtseilte, überschritt sie eine dieser dunklen Schicksalsschwellen, mit jedem solchen Überschreiten stand sie tiefer in ihrem Verhängnisse. Am Ende des Ganges lag die Laube, wo Sylva sie erwartete.
Als die Nacht sank und die Frau durch die Allee zurückhuschte, waren die finsteren Schattenschwellen verschwunden. Auf den Weg zur Sünde hin hatte das Schicksal ihr die warnenden Zeichen gelegt; jetzt war alles bleiches Grau; den Weg zurück wies keine Hand von oben. –
Sabine glaubte einen Teil ihres Selbst zu retten, als sie in ihre wilde Beichte die scheue Bemerkung einschob, Ehebruch im landläufigen Sinne des Wortes habe sie immerhin nicht begangen. Mein Gott, das glaubte ich ihr nur zu sehr! Wollte ich doch, um des armen Jungen willen, diese Armseligkeit wäre weniger glaubhaft gewesen! Wie mag sie ihn hingehalten haben, wie seine Sehnsucht gefoppt! Das sehe ich, ohne daß sie es zu schildern brauchte, das sehe ich, wie sie spärliche Liebkosungen sich mühsam abringen ließ, als wäre es königliche Gunst, ihre kalten Fingerspitzen zu berühren; wie sie den äußersten Rand ihres Kleidersaumes erst nach tausend Bitten preisgab, eine welke Blume für hundert treue und gute Worte, und einen lauen Kuß auf die Stirne erst dann, wenn sie fürchten mußte, den allzu Geduldigen für immer zu entmutigen. Ich sehe sie! Und ich hätte nicht selbst einmal ein armer junger Narr sein müssen, hätte es mich wundern sollen, daß diese Kargheit, die den Schein der Ehre für sich hatte, den gläubigen Knaben nur fester an seine Göttin band.
Sabinens Kunst, diese Sprödigkeit, die zum Teile in ihrem hochfahrenden Charakter begründet lag, für das Ergebnis schwerer Seelenkämpfe, für einen Sieg ihres Entsagungsmutes auszugeben, muß indes bis zur höchsten Vollendung gewaltet haben. Denn nicht nur das gute fromme Kind war betrogen – auch der Klatsch, der alles zu entstellen geneigt ist, der Klatsch im Kaffeekranz und der weitaus schlimmere am Biertisch – der Klatsch, der natürlich in den treulichen Berichten der emsig lauschenden Gartenbesitzerin seine Quelle hatte – auch der nahm die Sache ohne weiteres von derselben Seite. Alle Sympathien galten der Frau, den Jüngling bedauerte man kaum, Ricchiari hätte mancher vielleicht eine Schlappe vergönnt. Ich glaube fest, daß es Wetten gab um den Ausgang der Sache; war dem so, so setzte die Mehrheit auf Sabine Ricchiaris Tugend.
Der einzige Mensch, der nicht betrogen war, war Ricchiari selbst. Ihm, dem Menschenkundigen, mußte vor allen Dingen die sonderbare Erregung auffallen, in welcher er seine Frau jetzt öfters sah, ihre heimlichen Gänge, ein häufiges Kommen und Gehen von Freundinnen, die stets über Gebühr zärtlich Abschied zu nehmen pflegten – und dergleichen wohlbekannte Anzeichen mehr. Und da er ein Mann am Platze war, so beherrschte er die eigene Unruhe, forschte gewandt umher, spähte, folgerte, kombinierte – und erriet endlich, was zu erraten war. Noch immer freilich kannte er die ganze Hohlheit des Wesens nicht, auf das er einst so viel gebaut; doch überraschte ihn an Sabinen, daß sie heimlicher Leidenschaft sollte fähig sein. Er grübelte unter heftigen Schmerzen über diese neue Wendung der Dinge nach, versuchte seine Frau bald durch Laune, bald durch Zärtlichkeit, fand sie aber in ihrem Verhalten gegen ihn unverändert; er wurde irrer und wirrer an ihr, als er je gewesen, und das Rätselhafte der Erscheinung quälte ihn fast mehr, als seine immerhin nicht geringe Eifersucht. Endlich verfiel er auf eine List von so lächerlicher Art, daß er sich fast schämte, sie anzuwenden, eine Niedrigkeit, die nur seinem äußerst gereizten Zustande zugute gehalten werden muß: und siehe, da fing er die Törin! Er brachte nämlich mehrfach das Gespräch, und zwar in Gegenwart möglichst zahlreicher Zeugen, auf das Recht freier Liebe und auf einzelne Beispiele hypermoderner Ansichten über diesen Punkt, wie jede Gesellschaft sie liefert; und zwar vertrat er listig herausfordernd die Sache der frevelhaftesten Ungebundenheit. Wie er es erwartet, so nahm Sabine höchst eifrig die Partei der strengsten Ehemoral und rasselte förmlich mit Tugendsprüchen. Ricchiari redete von Tag zu Tag ketzerhafter, schien sich in die Sache zu verbeißen, nannte die Ehe ein Kulturübel und wollte jeden vernunftbegabten Menschen sich über die erniedrigende Fessel erheben sehen; seine Zuhörer saßen ordentlich entgeistert, denn in diesem Tone hatte man im Städtchen bislang noch nicht reden hören, wenigstens keinen Familienvater; das aber schien den Doktor nicht anzufechten, oder auch: er mochte wissen, daß er in der Achtung seiner Mitbürger ohnedies als Mensch nicht mehr viel zu verlieren hatte. Sabine dagegen nahm in der sonderbaren Sache wieder nur die Gelegenheit wahr, sich in Szene zu setzen, und genoß das unheimliche Geplänkel ordentlich, ohne auch nur zu ahnen, daß eine Absicht dahinterstecken konnte. Sie sagte Dinge, die so rührend und schön waren, daß man einen Ehestandskatechismus davon zusammenstellen konnte, und deren schlagende Wirkung sie wahrscheinlich vorher an dem armen Sylva erprobt hatte. So setzte sie zum Beispiel auseinander, daß die wahre Liebe – im edelsten Sinne Liebe! – zwischen Mann und Weib erst dann beginnen könne, wenn die Leidenschaft dahingegangen; denn im Jugendrausch das Geliebte anzubeten, sei keine Kunst und kein Verdienst; wohl aber sei es edler Naturen würdig, Schwächen und Torheiten des Gefährten geduldig und verstehend zu ertragen, und erst, wo dieses göttliche Allesverzeihen eingetreten sei, da könne sie, Sabine Ricchiari, von Liebe reden. Sie blickte dabei ihren Gatten in hinreißender Weise an, und das gute Publikum war natürlich überzeugt, daß Sabine dieses schöne Dulden nach eigener täglicher Übung geschildert habe. Wer hätte ahnen sollen, daß sich die Sache gerade umgekehrt verhielt? Ricchiari knirschte mit den Zähnen, aber nicht nur ob der nun zu lang gewohnten Falschheit seiner Frau. Sein feines Ohr unterschied in ihrer Beredsamkeit etwas mehr als den gewöhnlichen Eifer für das Wohlanständige, aber auch etwas mehr als gewöhnliche Erfahrung. Was für Situationen wußte Sabine plötzlich zu schildern, und wie wußte sie in die Seelenregungen einer schwer angefochtenen und tapfer widerstehenden Frau einzugehen! »Wirklich?« fragte sich Ricchiari erschrocken, »hat sie solche Kämpfe durchlebt?« Es schien ihm, daß hier nicht mehr alles Phrase sein konnte; und, wie ich bereits gesagt, ich für mein Teil möchte das am liebsten glauben und bin dankbar, daß auch der kluge Doktor etwas von der neuen Unterströmung in dem Gemüte seiner Frau bemerkte. Immerhin, als Ricchiari so weit gekommen war, dachte er, nun sei es genug. Und nun begann er, die Auseinandersetzung mit seiner Frau unter vier Augen zu führen. Die ganze Behandlung bis hierher hatte ungefähr drei Wochen gedauert, und Sabine war in eine Leidenschaftlichkeit der Parteinahme hineingesteigert worden, die sie alle Vorsicht vergessen ließ. Nun brauchte der Doktor nur noch eine Frage zu tun: »Willst du mich wirklich glauben machen, daß du unter so und so gegebenen Umständen nach deinen Worten handeln würdest?« Sabine rief entrüstet: »Zweifelst du an meiner Festigkeit? Liebe ich dich schon nicht, so sollst du mir doch nichts vorzuwerfen haben!« und sprudelte in höchster Erregung die ganze Geschichte ihrer Versuchung und musterhaften Abwehr hervor. Nach dieser Erleichterung wandelte sie mit höchst zufriedener Miene im Zimmer auf und ab, den schönen Kopf hoch auf steifem Nacken tragend, als wolle sie jede beliebige Kritik gegen ihr Tun herausfordern und entwaffnen. Ich glaube wahrhaftig, sie kam sich in dieser Stunde sehr verdienstreich vor.
Ricchiari, ob er schon alle erdenkliche Herrschaft über sich besaß, mußte während dieses Vorganges die Hände in den nächsten Vorhang krallen, um nicht in Gefahr zu kommen, seine Frau zu schlagen. Ekel und Verachtung stiegen ihm bis zum Halse, sprechen hätte er nicht können, und er dankte Gott, daß er's nicht konnte – denn was hätte er dieser Frau sagen sollen? Daß er einen Fehltritt, in spontaner Leidenschaft begangen, leichter verziehen hätte, als diese Tugend? Des unglücklichen Mannes Gehirn, von einem Wirbel häßlicher Vorstellungen ergriffen und betäubt, vermochte in dieser Verwirrung die Anklage nicht zu formen, die sein ganzes Selbst in rasender Empörung gegen das armselige Weib zu schreien schien. Er fühlte nur dunkel und peinigend, daß er sie verdammen müsse, weil sie nicht schuldig geworden sei, und der Wahnwitz dieses Gedankens erfüllte ihn mit Schrecken vor sich selbst. Er glaubte verrückt geworden zu sein, und es dauerte mehrere Stunden, bis er soweit mit sich zurechtgekommen war, um mit seiner Frau über den Fall zu sprechen. Er stellte ihr eindringlich und mit wahrer Himmelsmilde die Schändlichkeit, aber auch die Gefahr eines solchen Verhaltens vor, wie sie Sylva gegenüber an den Tag gelegt, und gab ihr zugleich noch einmal in großmütiger Weise Freiheit, dem jungen Manne zu folgen, wenn sie etwa Neigung für ihn empfände. »Verzeihe mir, wenn ich dir zu nahe trete,« sagte er sanft, »aber es dünkt mich doch, der Mann könne dir nicht ganz gleichgültig sein. Hättest du ihn solange hingehalten und gefesselt, wenn seine Gegenwart dir nicht einen gewissen Reiz böte? Täuscht man sich doch selbst über solche Empfindungen, und vielleicht entspringt auch dein gedankenloses Spiel einer solchen Selbsttäuschung, die wiederum auf deinen maßlosen Stolz gebaut ist. Ich würde es als Segen empfangen, wenn es so wäre, wenn ich schon dabei der Verlierende bin. Besser, es sei einer unglücklich, als drei!« Sabine rief: »Wer sagt, daß ich unglücklich bin?« und ihr Gesicht überzog sich mit Purpur. Ricchiari antwortete: »Mich liebst du nicht, aber ihn liebst du vielleicht!« – »Und wenn schon,« rief sie mit geballten Fäusten, »so will ich doch nicht zum Kinderspott werden! Leidenschaften treten wie Krankheiten an uns alle heran, aber ich möchte mich lieber aus dem Fenster werfen, als so läppisch erliegen wie andere Frauen. Ich werde mich durchkämpfen.« – »Du bist zu klug,« sagte der Mann traurig. »Ich weiß nicht, soll ich dich bewundern oder verachten.« Sie erwiderte finster: »Ich dächte doch, das letztere hätte ich nicht verdient,« worauf er voll Schmerz zurückgab: »Das ist es ja gerade, was mich wirbelsinnig macht, daß ich das nicht weiß. Du mußt Geduld mit mir haben.« Sie gingen auseinander, ohne daß Ricchiari um vieles klüger geworden wäre.
Aber für Sabine war die Sache nun doch nicht so glatt abgetan. Daß sie sich durch ihr ruhmrediges Geständnis die Möglichkeit abgeschnitten habe, sich ferner zu den absonderlichen Stelldicheins zu begeben, das leuchtete ihr natürlich sofort ein. Doch fiel ihr diese gezwungene Entsagung durchaus nicht leicht, und sie bereute heftig ihre unzeitige Offenheit, die sie nun unerbittlich vor eine endgültige Entschließung stellte: entweder mußte sie Sylva aufgeben, oder sich vor Gott und der ganzen Welt die Seine nennen. Und eines kostete sie soviel wie das andere. Immerhin war der Kampf in ihr verhältnismäßig rasch entschieden. Sie setzte sich hin und verfaßte ein Schreiben an Sylva, worin sie ihm endgültig absagte. Den Brief hat niemand gesehen; Sylva muß ihn sofort vernichtet haben. Er ging alsbald hin und erschoß sich.
Ricchiari war es, der zuerst an das Lager des Toten gerufen wurde und der zuerst auch den rührenden kleinen Zettel las, den jener hinterlassen. Diesen zu eskamotieren, dazu fühlte sich der Arzt indes zu sehr beobachtet, bereits lief das verräterische Dokument durch die Hände hilfeleistender Frauen. In begreiflicher Erregung kehrte Ricchiari heim, und schonungslos, kopflos, zitternd und hastig teilte er Sabinen das Grauenhafte mit. Sie blickte ihn anfangs geringschätzig an, mit einem Schürzen der Oberlippe, als spräche er von dem Fremdesten der Fremden. Nach drei Sekunden etwa wurde ihr Gesicht weiß und ihr Auge starr. Sie fragte heiser: »Was sagtest du?« und als er schreiend wiederholte: »Sylva hat sich erschossen!« schritt sie langsam, wie geistesabwesend, durch das Gemach und begann mit nervösen Fingern ein Wollknäuel abzurollen. Nach einer weiteren Minute drehte sie sich rasch um, faßte nach der Lehne eines Stuhles, setzte sich hin und legte das Gesicht auf die Arme. Der Mann sah ihren Körper schauern, vernahm jedoch kein Schluchzen. Er wagte, da er nun sah, daß sie äußerst erschüttert war, kein Wort weiter zu sagen, und nach einer Weile zog er sich still zurück. Eine Stunde später trat Sabine, sehr blaß, aber anscheinend wieder ruhig, in sein Zimmer und fragte kurz und hart: »Weiß man, warum er es tat?« Der Doktor, da er sie gefaßt sah, erwiderte ebenso kurz: »Er hat einen Brief hinterlassen.« – »So? und was steht darin?« – Ricchiari, von ihrem Blicke, der wie Feuer brannte, gemeistert, sagte mechanisch die ersten zwei Zeilen des Zettels her, die er im Gedächtnis behalten hatte. Sie zog dabei die Schultern hoch, als ob Schläge darauffielen, und bewegte sich mit gesenktem Haupte gegen die Türe, durch welche sie verschwand, ohne das Ende des Berichtes abzuwarten. Gleich darauf stand sie in Sylvas Totenzimmer. –
Es wurde nun dem Doktor an Sabinens Seite besser denn je. Wenn ein Menschenkind allen Halt und allen Glauben an sich selbst verloren hat, so streckt es naturgemäß die Hände dem entgegen, der sich in Güte und Verzeihung seiner annimmt. Dazu war nun kein Mann so geschaffen, wie Ricchiari, der jeden Winkel im Herzen der Frau mit seinem stillen Erbarmen durchleuchtete und nichts als Friedensworte für sie hatte, selbst da, wo er zu strafen berechtigt war. Sein Mitleid für sie war grenzenlos, und nicht geringer war allerdings das meine. Weit entfernt, die unglückliche Frau noch tiefer zu beugen, tat Ricchiari, und ich mit ihm, das Äußerste, um ihr wieder einen Teil ihres Lebensmutes zurückzugeben. Sie nahm, wie ein krankes Kind, was der unermüdliche Gatte für sie tat; dabei war sie klug genug, das Unverdiente seiner Großmut ganz zu empfinden, und eine innige Dankbarkeit ihrerseits mußte naturgemäß dieser Erkenntnis folgen. Bald stellte sich zwischen den Gatten ein ganz erträgliches Verhältnis her, und Sabine lernte ihre unerhörte Meisterschaft über sich selbst nun in einer würdigeren Sache anwenden. Daß sie eine Natur war, die alles konnte, was sie ernstlich erstrebte, hatte sie bewiesen, und jetzt ging ihr Wollen dahin, ihren Gatten für manche erlittene Kränkung, die sie reuevoll einsah, zu entschädigen. In gewissem Maße gelang ihr auch das; wenigstens erfuhr Ricchiari nichts mehr als Liebes und Gutes von ihr, und war schlau genug, nicht ergründen zu wollen, ob dieses Liebe und Gute einem spontanen Herzenstriebe entsprang oder ob eiserne Willenskraft es aus dem Bewußtsein einer nie gutzumachenden Schuld erzeugt hatte. Er begnügte sich mit der Wirkung, und daran tat er wohl. Denn wer nach Ursachen forscht, wird irre an Gott und Welt. Die Menschenseele ist das verschleierte Bild von Sais – und vielleicht ist uns wohler, solange keiner kommt, den geheimnisvollen Flor zu heben.
Druck von F. E. Haag, Melle i. H.
Curt Hamel'sche Druckerei u. Verlagsanstalt, Charlottenburg, Spreestr. 43/44
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