The Project Gutenberg EBook of Die Kegelschnitte Gottes, by 
Bertha Eckstein-Diener and Sir Galahad and Helen Diner

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Title: Die Kegelschnitte Gottes
       Die Horus-Romane. Erster Roman.

Author: Bertha Eckstein-Diener
        Sir Galahad
        Helen Diner

Release Date: December 1, 2020 [EBook #63927]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE KEGELSCHNITTE GOTTES ***




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Die Kegelschnitte Gottes

Die Horus-Romane
von
Sir Galahad

Erster Roman:
Die Kegelschnitte Gottes

Albert Langen, München
1921

Die Kegelschnitte Gottes

Roman
von
Sir Galahad

1. bis 10. Tausend

Albert Langen, München
1921

Copyright 1920 by Albert Langen, Munich

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts,
auch für Rußland, vorbehalten

Ein Verzeichnis
der früher
von

Sir Galahad

verfaßten und herausgegebenen
Werke findet sich
am Schluß
dieses Buches.

An das Publikum. Du führst einen Namen und brauchst keinen Beweis deines Daseins, du findest Glauben und tust keine Zeichen, denselben zu verdienen. Du erhältst Ehre und hast weder Begriff noch Gefühl davon. Wir wissen, daß es keine Götzen in der Welt gibt. Ein Mensch bist du auch nicht; doch mußt du ein menschlich Bild sein, das der Aberglaube vergöttert hat. Es fehlt dir nicht an Augen und Ohren, die aber nicht sehen, nicht hören; und das künstliche Auge, das du machst, das künstliche Ohr, das du pflanzest, ist gleich den Deinigen blind und taub, du mußt alles wissen und lernst nichts. Du mußt alles richten und verstehst nichts. Du dichtest, hast zu schaffen, bist über Feld oder schläfst vielleicht, wenn deine Priester laut rufen und du ihnen mit Feuer antworten solltest. Dir werden täglich Opfer gebracht, die andre auf deine Rechnung verzehren, um aus deinen starken Mahlzeiten dein Leben wahrscheinlich zu machen. So ekel du bist, nimmst du doch mit allem fürlieb, wenn man nur nicht leer vor dir erscheint ... weil du Züge menschlicher Unwissenheit und Neugierde an deinem Gesichte trägst ... was die Wirkungen deiner Mahlzeiten anbetrifft, so lernte bei einem ähnlichen Gefühl derselben Vespasian zuerst das Glück deines Namens kennen und soll auf einem Stuhl, der nicht sein Thron war, ausgerufen haben: Uti puto, deus fio.

Johann Georg Hamann

Erstes Buch

Der reife Schlaf fließt auseinander.

Immer lichter schimmern selige Schichten dem Bewußtsein zu. — Dort oben kreist, noch wolkig, das Dasein: Grünes und Gezwitscher. Hebt, was seinen Rand berührt, herauf in gleitenden Erdentag und geordnetes Wegeneinander.

Doch auch der zeitlose Abgrund bleibt beständig — samtene Nächte tief unter den Wirbeln —, und hintüberstürzend läßt sich’s nach Willen in ihn zurücksterben: in lautlose Schwärze.

 

Nach einem dunklen Klumpen Ewigkeit rötet sich abermals die Zeit an den gewölbten Lidern. Ein Niederpressen, und wieder ist der ganze Kopf voller Sterne da; geschlängelte Goldfäden dazwischen und Wirbel bunter Atome.

Doch bananenfarbne Glorie lockt und lockt in die sanfte Geburt des Erwachens. Etwas steigt auf — stößt durch letzte Schimmerschichten — ist ein Ich und ruht in einem wunderguten Eck; jedes Glied zum Besten und ganz still, ja nicht zu stören, was der Muskelgeist im Unbewußten prächtig geordnet. — Wonne läuft von einem zum andern. Dort um das Ohr besonders, wo das Kissen eiderdaunig am Hals zergeht, staut sich ein kleines Privatparadies animalischer Seligkeit. Das Linnen ist eine laue Wolke über den Beinen und schwebt. — Unter ihm schwelen noch alle Wunder der Nacht: der Ichverlöscherin.

Aus lichten Gebärden und dunklen Trieben wirkt sie das Zwiegespinst allen Erdenglücks: verküßte Glieder jenseits von Ich und Du. Die Grenzen der Körper zergangen, Blütenweiches ineinandergegossen, Muskelwellen und Täler sich rhythmisch streifend; Duft — Hauch — Haar zu einem Frühling gemischt.

Allmählich aber in den Reigen blinder Sinne mengt es sich scheu, heiß, sehnsüchtig auch, wie ein Kind, das andere nicht mitspielen lassen: Das Schauen will sein Teil:

Horus hat die goldenen Knabenaugen aufgeschlagen. Das Ich und Du fällt auseinander. Unerbittlich nah, wie es nur Wesen in der Liebe sind, sieht er das holde Gespiel gleich einem Schleier leicht auf sich ruhen. Geisterhaft fein gebaut, vorweiblich edel in der Vollkommenheit ihrer dreizehn Jahre. —

Und er erschauerte ihrer Schöne.

Weise menschliche Bräuche des Tropenlandes, in denen der Knabe aufwuchs, hatten sie an den Grenzen der Kindheit zueinander gelegt. So blühten sie mit dem allmählichen Zentrieren der Sinne in die Ehe hinein; nach wonnig-langem Aneinanderhinbeben noch herbverschlossener Lust. Ohne Eheeinbruch: roh und frech. Horus Elcho löste sich tierweich von dem Liebesgespiel, hauchte hinknieend die Silberhalme der Schenkel hinauf zur noch verschlossenen Quelle des Lebens unter dem glatten jungen Frühlingshügel. Sie duftete nach den zartesten Harzen der Welt. Ein Falter aus atmendem Brokat, angelockt, ließ sich nieder mit gebreiteten Farben. Entrollte umständlich eine brünette, haardünne Spirale und begann starren Auges zu saugen aus diesem ganz unbegreiflichen Kelch. Dann stieg er lautlos auf in seinen einzigen, großen Lichttag.

Des Knaben Hände sehnten sich, das schlafende Kindergesicht wie einen Kelch zum Mund zu führen, mit den Lippen die befiederten Wimpern zu heben: dann schnitten sie flügelhaft weit in die Schläfen, und man sah lebendige Kerne in wunderbar wagrechten Schalen voll flüssiger Magie. Oder es waren klare Bergseen in der Form eines Fisches, leicht gebogen ruhend, wo aus bläulichem Tal der durchsichtige Nasenfelsen unbegreiflich edel steigt. Und auf einmal warf man alle Bilder weg, um nur „Auge“ zu fühlen — nichts als: Auge. Man sah auch, daß der Schwung der Braue verströmte und eigentlich etwas Unendliches war ... man sah ... man sah; der Segen des Sehens an diesem jungen Liebeskörper war ohne Ende.

Doch feine Hemmung hielt: nie einen Schlaf zerbrechen — nie einen Traum ermorden und Jene vielleicht, die drüben in ihm sind.

Er berührt einen Hebel an der Brüstung aus rosigem Granit, die das Halbrund der offenen Schlafterrasse umläuft. Lautlos dreht sich eine Metallkuppel — wie der Sektor einer Sternwarte — schließt den Raum, auf daß die Sonne, der gelbe Tageslöwe, nicht ihren Schlaf bespringe, ruhiges Ausschwingen des Unbewußten in der Elfenschale störe.

Dann steigt er hinab zu den Bäderhallen. Nur an der Schwelle hat sich der Knabe noch einmal sanft zurückgewandt über seine Schulter, die hart ist und geschwungen wie eines Falken Fittich.

Torflügel aus lichtem Erz glitten in mächtigen Angeln zurück, und zum Ausgehen bereit, schritt Horus die Terrasse des südlichen Parks hinab. Es war noch früh. Mit schleppenden Schleiern kam zarter Tag herauf, doch in den Palmen hingen noch streitlustige Sterne: Falmahaud, Sirra, Antares: der Gegenmars.

Es war die Frühe vor den Morgennebeln und alles blasser Kristall. Da kamen durch die reine Weite her drei Wesen herangeflogen: Wettläufer. Strahlengrade Glieder, sprunggestreckt, schienen den Raum nach rückwärts zu treiben; Wehen war um sie, Gefunkel von Spiel und Frühe. Hellfarbig die Sarongs, bloß ihr Haar, das um der Mittleren Haupt als silbriger Schleierhelm stand.

„Agai — Sigiria“. — Doch sie flogen winkend weiter. Nur die Läuferin mit dem silbrigen Helm bog ab, Horus entgegen, der sie an der Treppe auffing. Es war seine Mutter. Er verbeugte sich. Küßte ihre Hände; erst deren Rücken, dann die Innengeburt jedes Fingers. Linde liefen seine Lippen die azurnen Aderfäden hinauf zum Ellenbogen. Dann ließ er ehrerbietig los — trat zurück — Licht im Blick, verneigte sich ein zweites Mal. Ganz tief.

Stets war es ein kleines Fest, Lady Elcho am Morgen zu treffen, oft blieb sie bis Mittag unsichtbar: nach späten Stunden in Laboratorium und Bibliothek, klaren Nächten auf der Sternwarte oder vor der großen Orgel allein. Erschien sie aber, gehörten alle Stunden ihm, bis der Mittagdämon mit bleierner Rüstung jedes Lebendige in den Schatten niederdrückt. Dann schweiften beide über die Tropeninsel, nach Laune den Träger der Bewegung wählend: vom Rolls-Royce bis zu Rama-Krishna, dem alten Reitelefanten. War es sehr früh, die Straßen blank, schien es dem Knaben Lust am Volant — als Herr des Raumes — Kokosplantagen an sich vorbei zu peitschen, Blöcke blauer Lichtungen: alles, was Zäune hat, Grenze ist, und, sein Schicksal zwischen den Fingerspitzen, vorzustürzen ins herzzersprengende Nichts. — Oder sie ritten auf Pferden durch alle Farben; übergrellt vom phantastischen Grün der Reisfelder: dem zitternden Smaragd — durch Kakaopflanzungen, Dörfer. Und hier war es gerade, daß Begrenztes wieder, Enges, Einzelnes unermeßlich werden konnte: der Brunnenrand, ein lichtes Tier, Paradiesesaugen brauner Kinder.

Stand aber die Sonne hoch, trug Rama-Krishna sie auf schlingernden Pneumatiksäulen in den Dämmer der Wildernis: Ceylons Reservat. Hoher Urwald, Freistatt aller Tiere; an Ausmaß einem deutschen Bundesstaate gleich und dem Fußgänger undurchdringlich wie haushoher Filz.

Flach auf des Elefanten Rücken liegend, um von den Luftwurzeln nicht herabgefegt zu werden, getürmten Pflanzenozean über sich, erzählten sie einander ihre Träume, und das leiseste Tier, mächtigster Beschützer zugleich, drang immer tiefer in das dumpfdunkle Abenteuer — den lautlosen Tumult — berstend vor Leben und duftend nach Brunst und Tod.

War es gar Frühling nach den Monsunen, dann brach wohl Rama-Krishna nach solchem Ritt aus dem Dschungl hervor, anzuschauen wie einer jener Elefantenfürsten des Hitopadéça: „dahinstürmend gleich einer Wetterwolke, schwefelgelb vom Staub der Banjanblüten, mit honigfarbnen Stoßzähnen, und um den Duft des Brunstsaftes, der ihm aus den Schläfenhöhlen quoll, kreiste ein Schwarm wilder Bienen.“

An diesem Morgen aber begab es sich anders. Der Sinn stand ihnen nach Weite und Maß zugleich, nach beweglichem, mancherlei Möglichkeiten umspannendem Tun. So flirrten sie auf Rädern in die schönste Tropenstunde hinein, jene, die beide polare Klarheiten scheidet. Aus weißer Seide war die Welt. Mit hängenden Flatterschlägen strebten Schwärme fliegender Hunde — schwer wie Hammel — den Dickichten zu, um in höchsten Wipfeln zu zackichten Säcken gefaltet, an einer Kralle aufgehängt, schlafend im Winde zu wehen.

Wallen und Brauen war es einer noch wolkig-flüssigen Welt. Wie wenn aus Gischt und Licht das Lebendige sich eben zeugte. Noch unbegrenzt. Unverloren. Früh, sanft und ungeheuer. Aus verdunsteten Opalen gebären sich haarige Schäfte. Aus dem Nirgends kommen Luftwurzeln gehangen, saftgetränkt: Gelegenheitsorgane des Nichts. Durch niedre Regenbogen fahren beschweifte Vögel, leuchten auf — vergehen. Nebelgroß treibt ein Büffelhaupt aus schwarzen Nüstern seine Sonderwolken in den goldnen Dunst.

Und durch alles hindurch, über alles hinweg: Wissen um die Sonne. Daß sie wirkt, teilt, ordnet, die Luft dünn und schließlich fein werden muß wie Geist, und daß der letzte Rest des Chaos nur mehr als Tau-Franse in den Wimpern hängen wird.

Sie gleiten hügelab durch steigerndes Licht in weichgewelltes Land. Ein Streifen Löwenozean zergeht am Horizont. Vom unbändigen Grün bis an den Straßenrand gespült, klammern sich dort braune Dörfer an dem leblosen Strich fest; verteidigen sich mit Äxten und Spaten gegen den immer wieder anschwellenden Wald. Zahme Arbeitselefanten stehen als runzlige Ballons überall herum, lassen uralte Stämme unter gespannten Rüsseln knacken, schichten sie dann säuberlich lotrecht und wagrecht, ganz allein, mit weisem Wiegen des Hauptes und vielem Flappen der Ohren. Dann tritt man hinter sich, prüft das Werk und reibt unterdes mit lieben kleinen Verlegenheitsbewegungen ein Hinterbein am andern, wo zwischendurch das pauvre Schweineschwänzchen töricht hängt. Man ist auch sonst genau: Schlag zwölf die Mittagspause — und jeder der großen Professionisten läßt aus schon erhobnem Rüssel sein Stück Holz wieder fallen, alles liegen und stehen läßt er, geht einfach weg zum Lunch aus Reis und Zuckerrohr.

Die Straße herauf wandeln neben großäugigen Tieren Männer aus dem Blut der Sonne, schmale Frauenakte dazwischen — in einen einzigen farbigleuchtenden Schleier geschlagen. Kommen näher — sind Greisinnen; das Antlitz verfurcht, eingewelkt die winzigen, weitgespannten Kinderbrüstchen, so zart aber blieben die Lineamente — oder sind es Glied gewordene Gebärden? —, daß im wechselnden Sonnenstand der Lebensalter auch letzter, schräger Strahl reinen Kontur zeichnet, das Wunder geschieht und eine Greisin lieblich ist. Über nackten Männerschultern schwanken an Stangen Messingeimer oder Bananenbüschel, grellgelb und schwer. Wagschalen an diesem höchst edlen Menschenmaß. Es scheint das Maß zu sein „dieser ganzen in Namen und Gestalten auseinandergetretenen Welt, die der Brahman als Zauberer aus sich heraussetzt, wie der Träumer den Traum“.

An einer Stelle der Straße biegt der Wandelzug von Mensch und Tier in eine Kurve aus: Büffelgespanne, Reitelefanten, Rikshaw-kulis, Bananenträger, alles dämpft den Tritt. Es bildet sich eine stehende Welle von Rücksicht. Mitten im Weg liegt ein schlafender Hund.

Auf der feuchten Erde schweben viele Geisterspuren bloßer Füße; Zehenfächer mit leichter Ferse, vom unsichtbaren Bogen überspannt. Da und dort ein Blumenring, den Frauenfesseln abgestreift.

Unbeirrbar flirren die Räder hindurch.

Weiße Zebus: Gazellenrinder. Sie springen ab und hin, die helle Tierstirn in die Arme zu nehmen, den haarigen Stern mit seinen zottigen Radien zu streicheln — wie ein lauer Champignon fühlt sich der sanfte Schnüffel an — sie versinken in herrliche Geschöpfaugen. Dann führen Seitenpfade wieder leicht bergauf; grasbewachsene Dämme geleiten zwischen Wasserspiegeln der Reisfelder in das Überhangene der Haine.

Quer über Damm liegt ein alter schwarzer Wasserbüffel. Mit ihm verhandeln ist nicht leicht. Von Argumenten hält er wenig in seinem ungeheuren Schädel voll Wut. Doch volle zwanzig Sekunden braucht es, bevor er selber weiß, wie bös er ist. Die beiden ducken sich zu schnellster Fahrt. Knapp hintereinander sausen sie über den basaltnen Rücken weg.

„Flohzeug — — damisches — — damisches — — damisches! Solchen Unfug mit einem ernsten und anständigen Vieh treiben — — ich werd’ euch!“ Furchtbar steht er auf. Da flitzen schon die zwei blanken Insekten um eine Biegung ins Nichts.

Wo der Fluß im „Tal der nephritgrünen Wolke“ sanft geworden, erwarteten sie die Fähre. Mit ihnen ein bunter Trupp; der wuchs an hennaroten Zehen als tiefe Farbeninsel vom Ufer verkehrt ins goldne Wasser hinab. In den dunklen Spiegel blühte es herunter: aus weißem Lendentuch braunsamtne Muskelkelche, arisch klare Züge, überzüchtet fast, und, feuchter als die Flut, Augen von der Farbe des Paradieses. Aus Körben zittert es hell, Mangos, Ananas, safrangelbe Reiskuchen tropfen unten wehend ab ins Nichts wie Wasser von Riemen.

Ein dünner Afghane hockte abseits. Splitternackt. Fädelte sich seine Hose ein. Zwanzig Meter war sie weit. Benützte statt der Nadel gleich einen jungen Bambusschößling, in dessen Spalt das Durchzugsband geklemmt war. Die Hose selbst lag als gestrandeter Ballon über die Landschaft gebreitet. Seine goldne Spitzmütze mit grünen Zauberzeichen auf Rabenlocken, saß er: ein vazierender Magier im Negligé.

 

Nun öffnete sich der wartende Kreis den Ankommenden; in ohnegleicher Anmut. Tamils, Singalesen, Bengali, Rhajputen: es waren die Ärmsten der Armen. Die Typen rein, dank der Kastentrennung unvermischt, unverkötert. Standen da in golddunkler Allbegabung und feinstem Wissen um den Eros: wie der schmale Kopf über den glatten Haarknoten stieg, der Sarong das Antilopenhafte zeichnete, eine Spange, ein Nichts an Linie war von gepflegtester Sinnlichkeit. Und die dankbare Natur achtete im Alter ihre schlanke Anmut, weil ja auch sie Süße und Wert des Daseins zu achten vermocht. An diesem abgelegenen Küstenstrich des östlichen Reservats hatten wohl noch die Wenigsten weiße Menschen gesehen, oder gar einherreiten auf glimmernden Skeletten. Doch in unverlierbarer, blutgewordener Gesittung behielt Jedes die zufällige Stellung des Augenblicks bei, führte in leichten Lauten die Wechselrede weiter, wandte nicht einmal, ängstlich sich selbst zügelnd, die Augen ab — ganz des eigenen Taktes sicher. Keine Gebärde, kein Blick, nur unaussprechliche Freundlichkeit nahm die Andersartigen auf.

Horus stand neben einem hochgewachsenen Rhajputen. Sonderbar ziehender Rhythmus, von dem er sich klare Rechenschaft nicht gegeben, hatte ihn hingeleitet, wiewohl merkbarer Abstand diesen von den übrigen schied.

Er war glatt, faltenlos wie Diorit. Breit in den Schultern, aus schmalsten Lenden wuchs sein Torso zum Dreieck aus dunklem Stein.

Paramahansa nach den Sektenmalen: vier Stücke lachsfarbenen Tuches, das fünfte um die Schläfen, der Rudrakshabeere am Hals — das Auge aus Asche im Herzen der Stirn. Einer, der weder an Feuer, noch Geld, noch irgend Metall rührt — nichts genießt, was aus Arbeit stammt.

Lässig und doch strahlengerad an Haupt und Rücken stand er, das Profil dem Knaben zugekehrt. Da fühlte Horus, wie der Rhythmus seiner Pulse sich zu verändern — anders zu schwingen begann. Wußte, es hing an dem wunderbar langen, doch unhörbaren Atem des andern. Ihm war: Hände aus Hauch griffen an sein Herz, stellten es nach einer andern Sternenstunde. Die Wellenlänge seines Wesens schien sich zu wandeln — weiter schwang die Amplitude seines Ich, bis es riß — die Zeit zerriß — bis es unbegreiflich stark, wehrlos und geborgen sich ausblühend in ein neues Maß ergoß. Und ein silbern unirdisches Erinnern ward groß in ihm, daß es schon immer so gewesen — heute — in der Freiheit des Tiefschlafs, als sie im Spiegelbilde eines Morgentraumes kindlich und sanft verzerrt zerging.

Dann begann der lange, wunderschöne Atem ihn langsam wieder zurückzuspülen in sein eignes Maß.

Als wäre er in eine Froschkehle gestürzt, so zappelnd und klein tickte das jetzt. Dumpf, kurz. —

Sehr allmählich schmolz alles ins Gewohnte wieder. Der Rhajpute hatte sich ihm nun zugekehrt, unfaßbaren, ortlosen Blicks. Nur das Aschenauge sah einen Augenblick auf ihn.

Er fühlte: wie eine Flaumfeder herangesogen, hatte er einen Atemzug lang, solang ein einziger Ein- und Aushauch währt, an einem Wesen andern Ranges teilgehabt. Wußte zugleich: das blieb. Unverlierbar irgendwie. Ließ ihn stark — wehrlos und geborgen zurück.

Die Fähre legte an. Trug die Wartenden ans andre Ufer. Der Rhajpute aber ging zurück ins „Tal der nephritgrünen Wolke“, ohne sich umzusehen.

 

Auf grasiger, leicht abfallender Höhe, unter dem breiten Tempelblütenbaum — vor Weite und Meer — sprang ein Sonnenrausch sie an. Betäubung, Bezauberung des Lichts. Lachend fielen sie einander in die Arme. Begannen zu ringen; geballt, verschlungen, aufschnellend und gespannt. Ein Umeinandergleiten wie von Echsen, Aufgebäumtes und Kauerndes auch, Raubzeug im Ansprung: gepflegte Kunst japanischer Samurais. Es endete wie immer: bis hart an den Sieg ließ der so viel Stärkere die Gegnerin kommen, glitt, fast am Boden schon, mit stets erneuten Varianten unter ihr durch, hob die Leichte auf, gab ihr einen Kuß — warf sie dann auf beide Schultern weit ins Gras.

Vor wenig Jahren noch, auf einer Reise in Japan, als sie auf dicken Kokosmatten bei dem gelben Lehrer Griff und Gegengriff geübt, wußte er es anders. Dann eine Periode des Gleichgewichts — und jetzt! Ruchlos war der Siegestanz. Eine Schnur greiser Papageien, aus ihren Betrachtungen aufgestöbert und außerdem in der Mauser, traten vor Ekel von Bein zu Bein. Mißbilligten alles über Hornbrillen herab, schimpften mit dicken Zungen in einer uralten heiligen Gaunersprache. Flatterten schließlich fluchend davon.

Horus warf sich neben seine Mutter in den Schatten des Riesenbaumes. Sanfte Rührung dessen, der vom Beschützten zum Beschützer wird, allein durch die Magie der Zeit, griff an sein Herz.

Unheimlicher, verborgener ist nichts, als dies gespenstige Kontinuum, wenn es den Schwerpunkt unmerklich vom Schöpfer hinüberspült in das Geschaffene. Von der Gebärerin in das Geborene. Zu geisterhaftem, unzerreißbarem System sie schließend, in dem das eine schwillt, steigt, strahlend wird, indes das andre langsam scheidend sich verdunkelt und schließlich, ganz erloschen, nur mehr von reflektiertem Leben nachglänzt. War der Tag auch nur zu denken, da er in anderm noch, als bloßem Muskelspiel: als Persönlichkeit, der Mächtigere bliebe?

Sie hatten von je eine Art stiller Übereinkunft geschlossen, den großen Unterschied, den Leben und ungemeines Schicksal der Älteren schuf, diesen ganzen Fond unendlich überlegenen Wissens und Verstehens, in der Regel beiseite zu setzen. Den Knaben gleichsam „mit Vorgabe“ spielen zu lassen. Er wußte es wohl, war sich’s aber nicht immer bewußt. Doch kurze Trennung — noch so kleiner Anlaß — Umkehr des Gewohnten, und wieder wirkte der ergreifende Zauber dieser wissenden Güte auf ihn wie ein Schauer von Glück.

Als er vorhin die Überwundne von der Erde abgelöst, die Schleierschlanke über sich gehalten, das war ein Grenzenloses gewesen, einen Herzschlag lang. Jubelnd — tröstend:

„Du bist ja in mir. Und aus meinem Blut will ich dich weitergeben, und im Fernsten, wo die Lebenskette in Unfaßbares mündet, soll noch dein liebes Wesen sein.“

In der Stille sang das Licht. Schmeichelte zwischen den weißen Tempelblüten herab auf Schulter und Haar: ein heißes Händchen am Ende des weltenlangen Strahls. Er hätte das Händchen nehmen und küssen mögen. In ihm war das dumpfe goldne Bienensummen des Glücks. Auf seinen nackten Armen schwankten schwerelose Blätterschatten: schwimmende Gespenster von Edelsteinen, unirdische Opale aus Aladins Fruchtschalen, und an ihrem Aberglanz schien sein eigner Leib durchleuchtend wie belebter Beryll.

Riesige Varane zickzackten umher: bekrönte Drachenprinzen, Neurastheniker. Erschraken maßlos, standen still, steifen Hauptes, und während die Pigmentporen sich langsam öffneten, bis alle Regenbogenfarben ihrer Körper vor lauter Feigheit zu Erdbraun verebbt waren, tickten die butterweichen Kehlen wie die Unruhe in der Uhr. — Geraume Zeit verstrich. Da sagte er, ohne sich zu rühren:

„Heut nacht hat sich ein großer Falke wirklich reizend gegen mich benommen.“

— — „?“ — —

„Er sah zu, wie ich mit einer Quadriga von Kolibris über unsrem Golfplatz aufzukreuzen versuchte, und bewies mir mit Hilfe kolossaler Differentialgleichungen, wie wenig Sinn das hätte. Er selbst aber sei gern bereit, mich mitzunehmen. Nur, vorher — darauf müsse er bestehen — sei ein Probeflug nötig. Womöglich auf einem Eisvogel.

Ein vermietbarer Eisvogel war sofort zur Stelle. Dort, wo das Türkisblaue ist, legte ich mich auf die Flügel. Er schoß schräg herab, ritzte den Weiher dann so steil an Bethelranken vorbei zu Arekapalmenhöhe, daß mir das Licht ins Herz schnitt. Der Falke kommandierte. Das Weibchen des Eisvogels saß neben ihm, und zwischendurch erklärte er ihr das Ganze.

„Aber es gibt Sie doch gar nicht hier,“ fuhr ich plötzlich mein Flugzeug an; „Eisvögel auf Ceylon!“

Es war ein dummer Wortwitz, aber er schien sichtlich betreten. Ich lenkte ein:

„Aber von mir aus können Sie ruhig hier vorkommen.“

Er murmelte etwas von „verdammter Ornithologie“, versuchte es aber englisch auszusprechen, verwickelte sich rastlos im Akzent, wurde immer böser und schließlich so voll Trotz, daß er schwebend die Erde unter sich durchrotieren ließ, um an sein korrektes Vorkommen zu gelangen. Dreimal verpaßte er es, als es unter ihm durchsauste. Das wurde dem Falken zu dumm, und er nahm mich zu sich herüber. Es war ein braunseidner Falke, wie er auf unsren chinesischen Holzschnitten in Rhododendronwipfeln spitzgefiedert steht.

Von dort schweifte er mit mir auf. Wie ich so gebreitet lag im staubigen Zimtduft der großen Federn, schlossen sich meine Schultern genau dem Schwung seiner Flügel an. Meine Arme begrenzten sie als lichte Säume. In den gespreizten Federfingern war eine schwingende Kraft. Ich trug mich selbst durch die anstürmende Bläue. Auch im Herzen war ich ihm und in den goldnen Augen. Nur die Gedanken blieben mein. Ich genoß den Raum wie eine Symphonie der Richtungen. Leer von Dingen, mit nichts als diesem unirdischen Äthersturm unter den Flügeln, ließ ich mich in einer wundervollen Kurve, die der Wille meines Blutes schrieb, in den oberen Lichttrichter hinaufsinken. Den Sonnenkern im Auge.

Was mir dort geschah, war so schön, daß ich es nicht mehr weiß.

Mir ist nur, als wäre die Spitze meines Herzens leuchtend geworden und mit ihm die Adern an meinem Haupt. Und von der hundertundersten Ader ging ein Strahl hinaus — bis in den Herzkern der Welt, um den alle Ströme und Wirbel treiben. Nach zeitlosen Wonnen kam ich mir zurück aus Ader und Strahl. Lag wieder als Körper in braunseidenen Schwingen und sagte schwer von Abschied:

„Pardon, ich muß jetzt aufwachen.“

„Schade,“ meinte der Falke, — „recht schade. Ich dachte, wir wollten im Westen landen, aber“ — er schien nachdenklich — „vielleicht wäre es Ihrer Mutter nicht recht gewesen.“

Ich wollte verneinen — ihn zum Weiterfliegen bewegen: da floß der reife Schlaf auseinander.“

„Nicht recht gewesen.“ Sachte belustigt horchte er den Traumworten nach. War doch, so lange er denken konnte, jedes Schöne, jedes Geschenk seiner Mutter für ihn aus eben diesem geheimnisvollen Westen, über den Löwenozean, hergekommen.

Nur Gargi nicht: sein Liebesgespiel.

[Lebendiges nie.]

Aber all die glitzernden Zwitter aus Zweck und Zahl: Räder — Rolls-Royce — Jacht, jedes wieder bedient von einem Stab wundervoller Werkzeuge. Durch das ganze Haus pulste dann Jubel; Erasmus van Roy verließ Bücher und Instrumente, er und der japanische Monteur des Hauses begannen zu zerlegen, zu erklären, bis der junge Besitzer den neuen Ankömmling wie seinen Leib beherrschte, im Gleiten der Achsen war wie in sich selbst: Lenker und in Wahrheit Herr.

Quer durch das Bilderspiel ging eine Stimme, sehr gepflegt, leicht gebrochen:

„Wärt ihr weitergeflogen, wir hätten uns im Westen treffen können: Bei Tag wirft man mich zwar ins Gras; heut nacht aber hab’ ich im größten Zirkus Londons einen Elefanten im Diu-Diuzu besiegt. Schon bei der Ankunft in Charing-croß war alles voll Plakate. Peinlichst berührt, sah ich an allen Wänden, in Überlebensgröße den Elefanten und mich — mich und den Elefanten. Buchmacher liefen umher. Legten Wetten. Ich floh in ein geschlossenes Cab. Sauste ganz draußen immer rund um London herum in der Hoffnung, sie fänden mich nicht. Sie fanden mich aber. Kein Sträuben half.

Schwarz war alles vor Menschen, und inmitten der Arena stand schon der Elefant und krempelte sich die Ärmel auf. — Es begann wie der XXII. Gesang der Ilias: Achilleus und Hektor. Doch wie ich das drittemal um den Zirkus lief, kam mir der „große Drachengriff“ wieder, von dem doch Jamagata uns immer zu sagen pflegte: „And then you finish your man — dann beenden Sie Ihren Mann“. Nun, ich beendete meinen verblüfften Elefanten. Packte seinen Rüssel und schloß ihn im „großen Drachengriff“ wie in einem Schraubstock fest. Führte ihn gebändigt dreimal um die Arena unter dem Jubel der zehntausend entzückten Zuschauer.“

Auf einmal fühlte Horus sich von rückwärts sanft umarmt — hochgezogen und plötzlich im „großen Drachengriff“ zu seinem Rade geleitet.

Erheitert fuhren sie heimwärts.

 

Das Haus der Elchos war von köstlicher Glätte.

Zwischen diesen Menschen, ihrem Wohnen, allen Dingen, die sie berührten, war jene adlig verwandte Lauterkeit, Reine und Noblesse, die aus der Knappheit aller Begrenzungslinien ersteht.

Wie sie selbst in jeder Gebärde stets die eleganteste Lösung der Gleichung „Mensch“ darzustellen nicht müde wurden, so mußte auch der bescheidenste Gegenstand, der hier geduldet wurde, restlose Lösung seines Sinns verkörpern — bis in die letzte Linie hinein.

Neue Formen waren lediglich neuen Bedürfnissen entsprungen, wie die Kurve des Türgriffs nachgegossen dem Druck der Hand.

Dieses Heim enthielt keinen läßlichen Gegenstand. Jeder unerläßliche aber hatte den Charme gewachsener, doch nicht unmittelbar gewachsener Dinge: als hätte die Natur dies alles durch das Medium eines Lieblings schaffen lassen wollen, der aus reineren Gesetzen schöpft als sie. Das Ding aus Zweck — Zahl — letzter Geisteszucht, hier berührte es sich wieder, ein Lebendiges höherer Ordnung, mit dem Organischen, das gleich ihm nie gewollt, nur geworden wirkt.

In diesem Heim gab es kein Kompromiß. Jedes Problem mußte restlos, wenn auch einmalig und höchst persönlich gelöst werden. Sonst völliger Verzicht. Und alles ward hier wieder zum Problem, denn jede Frage wurde neu gestellt.

Von den Fundamenten auf.

Schon in der beglückend reinen Kurve, mit der fugenlos die Wände aus der Decke in den Marmorboden übergingen, der nachzugleiten pausenlose körperliche Wonne schuf.

Jeder Raum, geschlossen durch die Synthesis von Einordnung und Eigenleben der Dinge, wirkte als ein Monolith. Kein Gegenstand griff, optisch zudringlich, hinüber in das Gebiet der Bewohner, und die Reizfülle, die Anmut, mit der das Leblose im Dienen ganz sich darbot, verlieh ihm etwas Genienhaftes, wie aus Märchen her. Dinge, die ihren Herrn erraten — weiser sich benehmen, als er in seinem Alltag, sind sie doch Geisteskinder seiner höchsten Stunde; aus Phantastisch-Schöpferischem und dem Regulativ technischer Klarheit in wägendem Gefühl ans Licht getrieben. Wissen um die Struktur, um das Geheim- und Kristalleben der Materie; Marmoräderung, Holzflader, Reflex oder Biegsamkeit der Erze und Erden: dieser Komplex von Geist-Zucht-Wissen-Können ...; die Gleichung all dieses: ein Torsturz — eine Fensterbank — ein Leuchtkörper.

Etwas vom Stil der Atriden.

Von der mächtigen bronzenen Milde Chinas auch.

Doch wiedergekehrt aus den Jahrtausenden in Abgeschliffenheit, Vertiefung, Beseeltheit und Präzision. Wie hindurchgegangen durch das Wesen der Newton, Lagrange, Helmholtz und Poncelet. Wiedergeboren aus einem höchst geistigen Äther: aus der gleichen Mühsal, Tapferkeit und Kraft, die den Bug einer Jacht, Kurve des Klüvers, der Wanten, einer Helice — Nieten am Dampfkessel — Drill des Rohres herausgeschliffen aus dem Amorphen.

Ähnlich all diesem. Artverwandt. Mit dem geschwisterlichen Zug jener Elite der Dinge, deren Mutter die Echtheit ist.

Atridenstil an Glätte, Fugenlosigkeit und Größe. Ihm unendlich überlegen an Problemstellung — Lösung — Erfüllung — auch an später Einfachheit, die letzte Verwöhntheit ist.

 

Horus genoß diesen idealen Wohnleib und die Continuität seiner Stimmung von je wie das vertraute Gefüge eigner Glieder: natürlich und leicht erregt zugleich. Doch schien ihm vollkommene Gestaltung eines Wohnleibes zu den von selbst verständlichen Formen abendländischer Lebenshaltung zu gehören. In Struktur und Bestandteilen zum mindesten ebenso herübergesandt vom Genius der weißen Rasse wie reine Typen edler Mechanik: Werkzeug, Maschine, Instrument.

„Der Bau“. — Immer wieder war das Wort aufgestiegen dort im ganz Frühen, wo das Ich noch nicht recht zusammenhängt. Kein lückenloses Geschehen bleibt. Immer nur einzelnes aus dem Vagen ragt: eine rosa Torte — ein Klang, groß wie die Welt — das Gesicht der Katze als furchtbarer Magnet.

Zwischendurch aber war immer das Wort „Bau“ gewesen. Im Bungalow Tische, auf Reißbretter gespannt knisternde Bögen, groß wie Leinentücher, Mama mit wunderbar eckig-graden Geräten dran herabstreifend. Lärm, Leute, Lasten. Zu Wagen, zu Schiff. Dann geht man fort aus dem Bungalow in ein Großes, Lichtes, Liebes. Der „Bau“, was immer er gewesen sein mag, ist plötzlich weg, das Wort erloschen. Erst viel später weiß man langsam irgendwie, das Große, Lichte, Liebe sei eben der verschwundene „Bau“.

Vieles kam wohl erst später hinzu. Hing mit günstigen Kopra- und Teeernten, oder steigendem Ertrag der Graphitminen zusammen: so der Riesenrefraktor für Erasmus van Roy, das Laboratorium, der Instrumentensaal. Vielleicht waren noch Räume unvollendet. Er kannte nicht alle, hatte viele freiwillig nie betreten, wie manche Gemächer der Meditation. Denn jedem Bewohner des Hauses, auch ihm, auch Gargi seinem Liebesgespiel, war, östlicher Sitte gemäß, ein Raum zu eigen, den niemand als nur er betrat. Mit seinen Strahlen ganz erfüllt, lebendig von dem Fluidum seiner tiefsten Stunde: dem „kef“ des Orientalen.

Die Gemächer der Meditation hatten weder Schloß noch Riegel.

 

Hoher Mittag. Nach seinem solitären indischen Lunch schritt Horus durch die Bibliothek. Der mannigfache Raum ging über in Terrassen aus durchscheinendem Onyx. Auf ihnen breitete Weiches sich rundum hin — vor Luft und Meer — bereit, ein Buch im Niedergleiten aufzufangen, denn: der diesen Raum ersonnen, hatte wohl gewußt: im Freien liest man nicht, man hebt ein Schönes aus dem Buch und träumt ihm nach, bis es im Blauen groß wird und zergeht.

Luftmüde kehrte er in den Zentralraum zurück, der von Büchern ganz umgrenzt war. Schräg floß aus hochgelegenem breiten Fenster das Goldne nieder; ließ die gestuften Tafeln der ungeheuren Mahagonitische aufduften wie Tiefland. Es leuchtete von Geist und Stille. Ihn aber zog es zu ganz beschatteter Versunkenheit. Aus dem Niedren tat es sich auf wie Grotten: taube Alkoven, wo tief in Pfühlen die Körper ausgelöscht sind und die Gedanken sich befruchten, indes ein klar und zartes Licht als Hochzeitsfackel leuchtet.

Ein kultivierter Europäer hätte gar bald in dieser erlesenen Bibliothek etwas höchst Sonderbares entdeckt und in wachsender Betroffenheit die hartnäckige, ja manische Konsequenz seiner Durchführung bestaunt. Lückenlos stand als seelisches Riesenwerk das Ethos Asiens da. Wie es, hochaufgerichtet in den lebendigen Körpern seiner Rassen, noch in die Gebärde seines letzten ärmsten Sohnes ein Unbeschreibliches an weiser Anmut gießt.

Da waren die Veden, Upanishaden, Bhagavad-Gita, Gajatri und Upnekhad. Auch die Sutras mit dem Kama-Sutra. Die sieben großen Philosophensysteme Indiens, gekrönt mit dem Vedanta, verströmend im Buddhismus. Chinas Religion des „guten Bürgers“: das Wu-king Con-fu-tses. Lao-Tsu, das Buch vom quellenden Urgrund, die unvergleichliche chinesische Lyrik. Überdies fast der gesamte Formen- und Geistesinhalt Ägyptens, Kretas, Babylons, Persiens.

Auch Europas?

Hier begann das Sonderbare. Während die Großen im Reich der Naturwissenschaften in Originalen und einer Vollständigkeit, die jener des Britischen Museums wenig nachgab, vertreten waren; während Neues und Neuestes unaufhörlich in Fachschriften zuströmte, enthielt dieser offenbar tiefdurchdachte Geisterbau keine Zeile, aus der auf Geschichte, Religion, soziale Zustände Europas hätte geschlossen werden können: auf Sexualbräuche, Sitten, Jus. Die Unnaturwissenschaften fehlten gänzlich.

Die Existenz des Christentums war ignoriert und aus den großen Philosophen jene Teile ausgeschieden, die es — wenn auch in antithetischer Form — streiften. Auch das meiste aus den Werken der Dichter entfiel: Faust, die historische Mordfolge Shakespeares; nur wo Oberon Herrscher, Ariel Diener, Böhmen eine Insel war, das blieb. Es blieben auch Schillers ästhetische Schriften, Lessings Laokoon, denn hier wurde Zeitlich-Gegenständliches durch divine Behandlung aus passagerer Umwelt ins Durchscheinend-Verklärte gehoben.

Auch das Süßeste des Minnesanges blieb, als dem Weltwesen der Liebe zugehörig. Außer Globen, Stern- und Weltatlanten gab es auch Spezialkarten Europas: Geographie, geologischen Aufbau, Städte, Kanal- und Eisenbahnnetz erläuternd. Da aber jegliche Historie fehlte, konnten die abgegrenzten Flecke: England, Deutschland, Frankreich, Spanien, ebensogut die vereinigten Republiken von Europa, die Provinzen des Großmoguls der Schweiz: Fürsprech Brüstli, als den Aktienbesitz eines Wallstreettrusts bedeuten.

In die Bibliothek mündete der Orgelsaal, mit Flügel und Streichinstrumenten, enthielt auch die Musikliteratur, mit Ausnahme jener Opernauszüge, deren Text in die geächtete Zone ragte.

Bildhafte Darstellungen hörten mit dem Ägyptisch-Griechischen auf. Auch in der Baukunst. Das Letzte: der Parthenon. Aus sämtlichen europäischen Büchern waren die Porträts ihrer Verfasser sorgfältig entfernt.

Erwuchs hier ein begabtes junges Wesen, so war ihm eine Umwelt bereitet aus europäischer Wissenschaft, Technik und Musik, Asiens mystischem Ethos und allen freien, daher gepflegten Liebesformen des Gesamtorients als Morgengabe.

 

Tief in seinen Bücherschluf geschmiegt, rosenquarzgedämpftes Licht zu Häupten, griff Horus nach einem Band Pascal. Er war seltsam erregt heute. Alle Nerven lagen wehend wie in einem flüssigen Medium, das hinstrebte nach zwei Polen: dem Traum und dem Rhajputen. Wollte sich sammeln, beruhigen, oder falls das mißlang, die Erregung, wie oft schon, zu einem Stachel machen, ihn ins Geistige zu treiben — dorthin, wo die großen Zusammenhänge waren in dieser ganzen rätselhaften Raum-Zeit-Welt, zu denen ihn seit früher Kindheit heilige Gier immer wieder unter Schauern trieb.

Erinnerte sich dabei eines Ausspruchs, den Erasmus unlängst halb im Scherz getan:

„Die meisten Menschen bleiben dumm, weil sie feig, nicht weil sie unintelligent sind; es fehlt ihnen einfach der Mut, so lange zu denken, bis es weh tut! Doch dort kommen erst die Einblicke und Ausblicke.“

Seine Jugend war der Räude des Alltags fast ganz entrückt.

All den elenden Köterleiden, die in den schmierigen Augenblick herabzerren von einer Spanne zur andern. So blieb seine Seele feinhäutig und wach für die fruchtbare Qual der großen Fragen aller Kreatur, die ins Ewige ziehen. Denn nur zwei Wege tiefster Erschütterung gibt es, auf daß der Mensch außer sich gerate und über sich hinaus: den Weg der Qual und den Weg der Freude. Qual aber ist, je nach der sensitiven Stufe des Gequälten: für einen Heloten auch hundert Peitschenhiebe am eigenen Leib noch kaum, — für Gotama Buddha war schon ferne Ahnung, daß es auf Erden etwas wie Alter und Siechtum gäbe, Leids genug und erschütterte ihn in die Vollendung hinein.

Horus hatte längst — nicht nur aus van Roys Worten — auch traumhaft erahnt: „das Wesen aller Dinge sei die Zahl.“

Wenn dann aus dem dreifachen Reich der Natur das Mannigfaltige hervorbrach, ihm die Sinne sprengen wollte, trat er zurück in die reinen Raumgebilde des Geistes: Schemata alles Erschaffenen und alles Erschaffbaren. Vor denen — wie ihn gelehrt worden war — der pauvre Klumpen dieses Kosmos ganz ohne Importanz wird, versinkt, sind sie doch tiefer und weiter als er. Denn die Gesetze der Mathematik gelten für jede mögliche Natur, für alle physikalischen Universen, die Riemann sämtlich vorausberechnet hat, und von denen das Eine — Unsre, nichts als ein Spezialfall ist. Nicht aber gelten die Gesetze der Physik für Gegenden der Mathematik, denn: wo immer in der Natur eine bestimmte Zahl erscheint, gleichsam als Ursaite angeschlagen wird, da muß auch der gleiche Ton erklingen, muß gleiche Farbe, Gestalt und chemisches Geschehen sie begleiten. Die Zahlen und ihre Beziehungen sind Traversen der Welt, jenseits der Erscheinungen; wer in ihnen, ist in geheimnisvoller Weise auch im Baumeister aller Welten. Und van Roys Worte kamen ihm wieder:

„Was sind die kindischen und kläglichen Wunder aller Religionen, verglichen mit dem einen mathematischen Wunder der „harmonischen Teilung“, in Geometrie und Natur: dies Zueinanderstehen von Zahlen, aus dem die Proportionen der Musik und die Kegelschnitte sich gleicherweise erzeugen. — Das geisterhafte Schema, nach dem die Welt klingt und die Gestirne sich bewegen.“

„Wo sonst ist ein Erahnen so herzerschütternd großartig für das Hereinragen eines Außerweltlichen — geheimnisvoll Ordnenden. Wer da innen ist, durch den gehen die Fäden der erschaffenden Gesetze, der hängt gleichsam im ewigen Fadenkreuz und rührt an Grenzen des Unzerstörbaren.“

Da war es dem Knaben Horus oft, als ob ganz große Gedanken, die im Unvergänglichen dahinwehen, außen am Rand seines Erfassens vorüberstrichen, knapp an der dunklen Monade vorbei. Nur ein Weniges noch an sehnender Kraft, und er müsse ihrer mächtig werden, sie hereinziehen in das passagere Ich. Doch dies Vorüberstreichen schon rührte mit einem klar und magischen Glück an sein großpochendes Herz.

Daß er gerade heute Pascal zur Hand genommen? Vielleicht um des Wunders willen, daß dieser — ein Kind von sechs Jahren — mit einem Stäbchen im Sande spielend, die ganze Euklidische Geometrie aus sich entwickelt hatte. Mit winziger Kinderfaust dies Wissen von zwei Jahrtausenden erspielte, wie andre Steinchen halten. Horus schlug jene weltberühmte Abhandlung auf, von dem Halbwüchsigen — kaum älter, als er selbst jetzt war — der Akademie von Paris überreicht. Und er begann zu lesen:

„Über die Kegelschnitte“.

Doch die leuchtende Geometrie, der ätherische Glanzraum Pascals, schien ihm heute in eisige Phantastik seherhaft entrückt. Wo war in dieser Kristallwelt Durchdringung mit dem Warmen, das in ihm schlug: ein Vogelherz in harter Hand? Er ließ den Band sinken, blickte auf. Am andern Ende des Raumes war eine einfache Gestalt. Unnachahmliche Bescheidenheit lag als stiller Ring um sie.

Ein irgend Etwas an Haupt und Haltung ließ Horus fühlen, er störe nicht. Sei erwartet und willkommen. Drüben dann, in den weiten easy-chair hineingeschmiegt neben den alten Freund, erkannte er, daß dieser nicht, wie er zuerst geglaubt, ein Buch, sondern ein aufgeschlagenes Manuskript in den Händen hielt. Und Horus las:

„Die Hyperbel hat mir von jeher etwas Gespenstiges gehabt, ohne daß ich mir einen Grund davon anzugeben wußte. Ich fand ihn indes nachher in einer symbolischen Beziehung, die sich ihr unterlegen läßt, und ich bin überzeugt, daß alle, die sich unterlegen lassen, in dem ähnlichen Charakter zusammentreffen. Man muß sie aber gleich in bezug auf die übrigen Linien betrachten.

Der Kreis symbolisiert mir die Eigenliebe: den Egoismus.

Die Ellipse das Ideal der Liebesfreundschaft.

Die Parabel das der Liebe gegen das Unendliche, Göttliche.

Die Hyperbel das Ideal des bittersten Hasses.

Der Brennpunkt in jeder der angeführten Linien stelle eine Seele vor; die Strahlen, die von da nach dem Umkreis gehen, die Bestrebungen dieser Seele, wiefern sie nach außen (durch Handlungen) wirksam sind, und die Richtung der zurückgebrochenen Strahlen den Zweck, zu welchem die Bestrebungen auf das Äußere gingen. — Ich kann z. B. nach außen handeln, teils um meinetwillen, teils um eines andern willen. Wenn die Strahlen also, die von dem Brennpunkt ausgehen, die aktiven Bestrebungen der Seele vorstellen, so müssen umgekehrt — wenn wir das Symbol treu verfolgen wollen — die Strahlen, die von der Peripherie in den Brennpunkt fallen, die Gefühle und Empfindungen vorstellen, welche die Seele passiv von außen in sich aufnimmt. Wird daher ein Strahl, der von einem Brennpunkt an die Peripherie fiel, in einen andern Brennpunkt zurückgebrochen, so sind des letzteren Gefühle — nach dem Symbol — durch Bestrebungen oder Handlungen des ersten Brennpunktes veranlaßt worden.

Der absolute Egoist handelt nur um seinetwillen. Er läßt nur Strahlen gegen die Peripherie ausgehen, damit angemessne Gefühle in seine Seele durch die Rückwirkung kommen; er ist ganz in sich abgeschlossen. Was er auch tun mag, davon hat nichts auf eine Seele außer ihm Bezug. Der Strahl, der aus dem Mittelpunkt des Kreises kommt, wird ewig wieder in ihn zurückgebrochen.

Die Ellipse läßt sich als ein Kreis mit in zwei Brennpunkten auseinandergetretenen Mittelpunkten betrachten.

Eine Seele hat sich in zwei gespalten, und beide existieren nur mit- und durcheinander; jeder ist die Seele eines Freundes; jede wirkt nur, um in der andern angemessene Gefühle und Empfindungen zu erregen, denn welcher Strahl auch von dem einen Brennpunkt an die äußere Peripherie fällt, der nimmt seine Richtung nach dem andern Brennpunkt zu. Was der eine nur denkt und hat, das gießt er in des andern Seele aus. Um die Außenwelt bekümmern sich beide nur, insofern sie mittelst ihrer in bezug aufeinander wirken können; beider Gefühle ergänzen einander stets: alle gebrochenen Ellipsenradien sind gleich der großen Achse, die beide Brennpunkt-Seelen zunächst verbindet. Sie können jede einzeln nichts denken, nichts fühlen, was nicht mit des andern Gefühlen und Bestrebungen zusammenstimmte, daß es dieses Band darstellte: das Ideal der Liebesfreundschaft hat viel schönere Symbole — wohl kaum ein wahreres.

Nehmt die Hyperbel: beide Liebende sind durch einen ungeheuren Haß gespalten worden! Der eine hat sich von dem andern abgekehrt, jeder reißt seinen Brennpunkt heraus, hält ihn für sich fest und mag mit dem andern nichts zu schaffen haben. Sie fliehen sich in Ewigkeit — Nein, sie sind noch aneinander gebunden, aber durch die Bande des feindseligsten Hasses. Ihre Gesinnungen beben divergierend vor einander zurück bis ins Unendliche, aber doch bleiben sie hadernd einander gegenüberstehen, und daß jedes Gedanken nur von des andern Seele zurückfahren, sieht man daraus, daß die Divergenz der Strahlen ihr Zentrum in dem gegenüberliegenden Brennpunkt findet. — Was in der Ellipse das Band war: die große Achse ist in der Hyperbel in den Gegensatz übergegangen, und alle Strahlen, die von einem Brennpunkt in den andern fallen könnten, sind sich nur in der Differenz gleich.

Die Parabel ist ein erhabenes Symbol der Liebe zu einem Ideal, zum Übersinnlichen, zu jedem Großen und Schönen, was nur in der Unendlichkeit erreichbar, der Seele vorschwebt: alle Strahlen, die der Brennpunkt der Parabel aussendet, laufen in gleichförmiger Richtung nach dem andern Brennpunkt, der in der Unendlichkeit liegt; alle Bestrebungen und Gedanken sind nur dahin gerichtet. Umgekehrt kann kein Strahl in die Seele fallen, der nicht vom Unendlichen ausgegangen wäre. Alle Gefühle beziehen sich auf dieses.

 

Eine Liebe zum absolut Infernalischen — etwa im Gegensatz zur Parabel, dem absolut Idealen gibt es nicht: ja, das Symbol für sie ist sogar unmöglich! (y² = -px) Es müßte eine Parabel sein, die sich vom Brennpunkt, der in der Unendlichkeit läge, abkehrte und seinem Gegensatz zueilte, aber die Mathematik zeigt, daß es ein solches Symbol gar nicht geben kann.

Noch Schlimmeres als der absolute Egoismus ist also, soweit unsre Denkformen reichen, nicht vorstellbar. Er und sein Symbol: der Kreis, bilden den geometrisch größten Gegensatz zur Parabel, den der Geist zu bilden vermag.

Wie die Selbstliebe alles auf sich zurückbezieht, so ist alles, was die Parabel tut, ohne allen Bezug auf sich, denn der Strahl hat erst in die Unendlichkeit zu laufen, ehe er zum Brennpunkt wiederkehren kann; daher ist die Parabel zugleich das Symbol der Tugend, welche nur dadurch, daß sie für das All gewirkt hat, für sich und auf sich zurückwirken will, und das Symbol der Tugend fällt mit dem Symbol der Liebe gegen das Unendliche zusammen.

Denkt man sich einen unendlich großen Kreis, der das All befaßt, so ist — wie sich Extreme stets berühren und im Unendlich-Großen all unsre Symbole ineinander laufen — dieser Kreis zugleich das Symbol des absoluten Egoismus und der absolutesten Liebe gegen andre: ein Göttliches als Mittelpunkt des Allkreises kann sich nur selbst lieben, insofern außer ihm nichts ist, denn die Peripherie: die Welt gehört ihm wesentlich als Körper zu. Aber indem er sich selbst liebt, liebt er zugleich alles, was es gibt. Die Liebe gegen seine Geschöpfe ist ihm Selbsterhaltungstrieb und er mag nur sich erhalten, indem er alle seine Geschöpfe: Teile des unendlichen Körpers, erhält.“

Das Manuskript brach ab.

„Laß es mir,“ bat Horus, und da er des andern Zögern fühlte: „es ist wohl sehr kostbar,“ — dann dringender: „Nur für kurze Zeit; nur das über die Parabel.“

In ihn brauste der Traum zurück und das Traumlicht in jede Ader seines Hauptes, doch das war nur wie leichtes Zerrbild und heller Hauch, herausgeatmet aus dem reinen Mund des Hochschlafs. Nun floß es zusammen mit der Klarheit, in der sein Herz schwamm, als es der Rhajpute einen Pulsschlag lang nach einer andern Sternenstunde eingestellt.

Was jenseits jedes Wortes, jeder menschlichen Verständigung geschienen, kam nun aus gespenstigen Tiefen, als geisterhafte Beziehung reiner Lineargebilde zurück. Das ranzige Wort „Symbol“ wurde stark und schrecklich neu. So blendend, als wenn man einen Ätherstrom durch beide Lungen breit in sich hineinreißt, so steigernd riß ein Dunkles jetzt in ihm entzwei.

„Behalte es ganz,“ sagte Erasmus; „vergiß auch die Ellipse nicht.“

 

Als der Tag sich schon leicht zu neigen begann, waren Horus und Gargi auf der Schillerfalterjagd. Nach den Monsunen, gegen Abend — im schrägen Strahl ist das seltene Geschöpf zu sehen, wo tief in tropischen Hainen Feuchtes spiegelnd steht.

Bei jedem Schritt bricht eine Wolke warmer Narden aus brünstiger Erde. Stachlichte Früchte, schwer wie Säcke, hocken blattlos an Stämmen. Drüben schießen Jukkapalmen hinauf in die Freiheit. Bersten als Raketen in Büscheln von Leuchtkugeln auseinander. Dann wird es dunkelgrün, dicht, still. Tollgeformte Vögel auf behaarten Ästen zieht ein ungeschlachtes Horn im Kopf vornüber. In wahnsinnige Stellungen verhext, stieren sie dann aus kahlen Augenkreisen überquer ins Leere.

Auf hohen, sehnigen Beinen schleichen die beiden durch schlingerndes Grün: Bethel und Pfefferranken, dann längs des Wassers eine Schlucht hinan, bis wo auf kreisrunder Lichtung Klares rieselnd auseinandertritt, um feuchte, schiefrige Platten. Kauern heran, fahren flach nieder wie ausgegossen vor der Sonne; kein Schatten darf auf das Braun-Graue fallen, das sich eben aus der Luft dort niederläßt.

Köpfe schief, Augen wie Phosphorbänder, tasten sie nach richtigem Blickpunkt. Jetzt ein schräger Strahl, und das Braun-Graue geht in weißem Feuer auf als brennender Brillant, bricht in blendendem Äther über seine Ränder, wird zu einem kleinen Strahlensee, der auf sechs abgeknickten Fadenbeinchen sitzt, und während die atmenden Flügel sich glätten, gehen Adern aus Juwelenfarben durch sie hin. Zwei Lichtketten rinnen über die spiraligen Fühler: Antennen der Liebe, endend in einem großen Tropfen Licht.

Es sitzt und zittert. Spannung in den Flügeln steigt und steigt; zu tief erregendem Vibrieren ohne Pause: samtnem Elfenbrausen an. Da fährt ein zweiter kleiner Strahlensee im Gleitflug nieder zum ersten, und eine zarte Mythe hebt an: von Wesen, bei denen die Liebe zu einer Inkarnation für sich geworden. Wesen nur aus Organen der Wonne: ganz Auge, Flügel, Taster, Geschlecht. Keine Vorkehrungen mehr im Körper für diffamierende Funktionen: Kampf — Fraß. In einem Krampf von Stille, um Geschöpfe, die in der Liebe sind, ja nicht zu stören, schauen die Kinder das Weitergeben des Lebensfunkens in den atmenden Edelsteinen.

Unten im Tal saßen sie dann am Rand eines winzigen Beckens. An einem jener kleinen, brunnentiefen Trichter, wie sie der Fluß ausspült zwischen Felsen, deren Spiegel glatt sind und wo im Glasigen die Fische fließen. Gargis Füßchen spielten mit Staubgefäßen des rosenroten Lotos, der als Porzellan auf grünen Tafeln steht. Durchbrachen dann den lauen Smaragd und ließen sich schwimmend vom Strom dem Hause zutreiben; ließen sich fließen — tauchten — bildeten, eins ins andre verschlungen, seltsame Doppelwesen oder formten, die Beine verspreizt, aus ihren fast brüderlichen Körpern eine Art Kanu: Bug und Heck die Köpfe, Riemen die Arme.

Bei der „Höhle der weißen Träume“ suchten sie das Ufer, wateten durch Seichtes, Gargi voraus. Im schrägen Strahl blühten die beispiellosen Farben ihres Sonnenblutes auf: über grünlichem Dunkel ein silbriger Samt. Gleißend von dem Gleichen wie Panther und Orchis: dem, was von tief innen heraus zu Leben verbrannt magisch aus Fellen und Kelchen bricht.

Das selige Silber rann an ihr nieder, die Lustfurche des Rückens hinab, in der ein Wellchen sich brach. Lanzendünn blitzten die geisterfeinen Hüften.

Halb Fee, halb Knabe schien sie im Schaumschleier aus Licht und Wasser, leicht wie Schaum. Sie küßte zum Abschied die abfallenden Wassergewänder — das Verrieselnde von den Schultern, den glatten Kinderbrüstchen. Erschauerte einen Moment schmal und möwenhaft, warf dem Wind die Arme um den Hals und flog den Strand entlang.

Gut war das: die aus sich selbst bewegten Sprunggelenke spüren, ein Lebendes, Laufendes sein, das gehoben von Blut zwischen Himmel und Gestein dahinfliegt, die sich nicht bewegen können. Und hinter sich das andre laufende Leben. — Gut war das.

Denn ein Entflammter flog ihr nach.

Lange vermag ein wohlgebornes junges Wesen ohne Sexualität zu sein, wenn es die Liebkosung hat. Nur in nächtlich einsam eingesperrter Pubertät schwillt der primäre Trieb zu manisch-hündisch-hämischer Besessenheit: armselig, eintönig und roh. Ein Elend den Frauen, an denen er sich später vielleicht ehelich — jedenfalls weihelos entlädt.

Horus, frühzeitig einem holden Bettgespiel gesellt, stillte seine warme, junge Sehnsucht von je in feinerer Mannigfaltigkeit.

Das Leben war ihm — auch abgesehen vom Nur-Erotischen — so angefüllt mit Sinnenwonnen, daß er spät zur Zentrierung der Einen kam. So verweilte sich Eros lange auf allen Gliedern. War im Ozean der Tastempfindungen, irisierte vielgestaltig über die kleinsten Muskeln hin, die — winzige Zentren der Wollust — sich in zarten Schauern erlösten, und Liebe blieb ein süßer Grenzfall am Rande kühner Zärtlichkeiten.

Wird aber eines Tages der innre Lenker wach — wach über alles —, sieht er sich von der ersten Stunde Gebieter über ein erlesenes Heer von Wonnen: dem Gefolge im Märchen, das lang vor seinem Herrn erwachen soll, den Traumbann abtun, sich schmücken, festlich bereiten, dienend zur Stelle sein, wo es am Schönsten wird: bei seines Prinzen Auferstehen.

Als der Knabe Gargi den Strand hinauffliegen sah, in der jungen Herrlichkeit eines Pfeils, vom Bogen der Spannungen entsandt, trieb ihn erst reine Beutelust ihr nach, auch das Glück, von ganz nah die Sprungsehnen in den langen Kniekehlen spielen zu sehen, dort wo die Haut fast unirdisch wird.

Doch Reiz ist Schönheit in Bewegung. Sein Blut riß ihn über den Blick hinaus, begann nach den Flammen ihrer Anmut zu schwingen, wie am Morgen nach dem Atem des Rhajputen. Groß und unruhig wurde die Luft. Schwüle strich ihm um die Flanken. Schwoll durchs Adernetz. Sie halten — umschlingen — tragen — beißen, es war nichts, aus taumelndem Bewußtsein schrak er auf mit dem manischen Drang, ihre Stimme zu küssen, ihr Fliehen, ihr Leben: dort ganz dort. Auch ihm nur mit der Essenz seines Lebens erreichbar.

Vor ihm her strahlte sein Begehren. Leckte hinüber in ihr fliehendes Blut. Stahldunkel vor Gewalt, schoß es über sie hinaus. Da wurde sie zu einer einzigen flirrenden Linie der Flucht und genoß die Härte ihres kindlichen Schoßes.

Die Frau will die Erwartung — der Mann die Erfüllung. Lief wie sie noch nie gelaufen. Spürte an der Bestürzung ihres Herzens seine wachsende Nähe. Auf einem neuen Schauder kam er heran. Ihre Adern keuchten das weibliche: noch nicht — noch nicht. Ein manischer, wahndunkler Trieb: immer den gleichen Abstand zwischen sich und der Erfüllung wahren. Sei es um den Preis der Erfüllung selbst.

Nicht enden sollte die berauschende Angst.

Nie mehr enden die pulsende Not.

Und Freude an der Not.

Überhangen bleiben mit allen süßen Möglichkeiten.

Dauern in einem Weltenbrennpunkt unaufhörlichen Begehrtseins.

Lief wie sie noch nie gelaufen. Konnte nicht mehr. Brach zusammen mit geschlossenen Augen. Klammerte sich an die Wonne ihrer Angst. Preßte die spiegelnden Gazellenbeine herb aneinander — — zu einem langen Pfad der Verführung.

Ein Dämon der Inbrunst, war er über ihr. Sekunden perlten wie Champagnertropfen auf.

Dann: hart, langsam, gnadelos stemmte sich sein Knie auf ihre blaßgepreßten Schenkel. Der Block aus Bronze trieb die Zitternden ohne Schonung auseinander — so weit es ihm beliebte. Und gab sie frei. Leer, kühl strich Luft um ihren versiegelten Schoß. Nur über dem Haupt duftete noch das Glück seiner lebendigen Nähe. War sie verschmäht? Besiegt und dann verschmäht? „Er will seinen Willen, nicht mich,“ fuhr es durch sie hin. Es war nicht mehr zu ertragen.

Das Herz schlug ihr die Augen auf. Sah ihn nah. Wimper an Wimper besprangen sie die goldbeschwingten Panther seiner Augen. Neigten ganz in sie hinein voll Verheißung und Geduld.

Da flog sie an ihm auf wie ein angewehtes Blatt. Barg das wunderbar junge Haupt im alten Mantel seiner Zärtlichkeit. Er hatte ihr die letzte Süße geschenkt: Erleiden der Gewalt genießen lassen ohne Demütigung.

Seine Hände kamen. Widerstandslos nun, in wartendem Aufruhr, ließ sie sich an ihm entlangführen. Über seine dröhnend harte Violinenbrust langsam abgleiten, hineinreißen in die Höhle seines Leibes — hineinsaugen in eine Schale von Kraft.

Sie stürzen ineinander.

Horchend hingegeben dem geheimen Rhythmus, mit dem die Essenzen des Lebens in ihren tiefen Kelchen — kraft so vieler Liebkosungen — einander wunderbar entgegenfluten. Gesteilt — getürmt.

Sie verströmen in die verborgene Mond- und Sonnenspringflut: die Gezeiten des Eros.

Lang durch sie hin geht die selige Wehe.

 

Zur Stunde der Krähe, Tau im Haar, waren sie heimgekehrt. In wonniger Ermattung entschlummert, hoch oben auf der Terrasse aus rosigem Granit.

Inmitten der Nacht tauchte Horus aus dem Tiefschlaf. Heiß vor Wirklichkeit, ganz glücklich, wach zu sein — da zu sein.

War auch Gargi wach? Trunken taumelte sein Gesicht dem ihren zu. Vor dem Lichtjubel seiner Seele kreisten die riesigen Opale ihrer Augen, deren Wimpern wagrecht in die Schläfen schnitten, dem kindlichen Haupt etwas Durchleuchtetes gaben.

Sie erhoben sich vom weiten Lager, schritten — zu einem Wesen geschlossen — bis an die Brüstung, die das Halbrund der offenen Schlafterrasse umlief.

Dem Garten enthoben sich die Farben der Nacht. Über Blüten und Wegen stand strahlende Materie der Finsternis. Griffen tastend in Blumen, lehnten sich weit hinaus in den veilchenhaften Samt des oberen Abgrunds, aus dem Gestirne gehangen kamen, groß, frei schwebend: Kitalphar — Archanar — die Beteigeuze. Der Raum sog die Seelen an. Es war so schön, daß man nicht denken konnte — kaum fühlen — nur schauen.

Ihre Hände öffneten sich dem Astralschein: magnetischem Puls kosmischer Zentren. Die schlanken Finger streckten sich — Antennen — feinste Sender und Empfänger dem Äther und seinen namenlosen, unirdischen, alles lenkenden Wirbeln entgegen.

 

Fern aus dem Dschungl kamen, in Pausen, die Weltlaute reißender Liebe; schwimmend in einer Stummheit: Gepfauche auf Tatzen der Unrast — Brautgebrüll — Zischen — aus dem Ganz-schwarzen ein Blutschrei, kühn wie die Not.

Mitten inne zwischen Dschungl und Sternen stand, in machtvollem Aufriß, ruhend in seinen klaren Achsen, mit Toren aus lichtem Erz — das Haus der Elchos: Kristallform eines höheren Lebens.

Freiheit der Wildnis stieg an ihm auf mit tausend grünen Adern, zerbarst in Kelche, ward oben Duft am reinen Raum aus Zucht und Zartheit: dem kindlichen Ehegemach in rosigem Granit, dessen Kuppel wie der Sektor einer Sternwarte sich auftat in die bodenlos selbstblühenden Sterne.

 

Diana Elcho hatte an Gargis durchscheinendem Körperchen seit dem Frühlingslauf zur „Höhle der weißen Träume“ neue, heißere Male entdeckt: „die getigerte Wolke“ — „das Korallenband“ — „zackichte Krone“ — „Perlmuschel“ geheißen, in Indiens lächelnder und gönnender Sprache, die erlesene Liebkosungen in heiligen Schriften vermerkt.

Ohne Wort, ohne indiskrete Miene, wie von selbst und ganz einfach stellte sich alles auf die hohe Zeit der beiden Kinder ein. Frei von gierendem Wohlwollen. Auch das Haus: der Raumkristall wandte ihnen eine neue Facette zu.

Sie hatten bisher nicht alle Räume gekannt. Außer dem Halbrund aus rosigem Granit standen ihnen jetzt drei Schlafgemächer offen. Zwei einsame: licht, frei, glatt, — fast leer. In der Mitte ein Gemeinsames, das ohne Fenster war; eckenlos zu einer Ellipse geschlossen. Ozonisierte und durchduftete Luft erneuerte sich unmerklich in ihm. Es war nichts als ein immenses, hingebreitetes Pfühl — nur verschieden überhöht und durchtieft.

Linde Kurven aus dunkelglühenden Samten, schräge Lichter und Spiegel, da und dort, klarer wie Tag, eine Pore im Kelch der Liane rügend, oder mit einem Griff zu opalisierenden Nebeln verschleierbar — warteten. In Andacht. Ganz der Nacktheit und ihren Festen geweiht.

Denn Erotik des Auges: die feinste, holdeste, ist die verletzlichste auch. Immer echt unter Gräsern und Sternen: im zartweiten Nebel von Leben als Liebesumschlingung sein geballterer Kern.

Doch im Alltagsraum: Schon an der schutzlosen Haut beginnt die Fremde. Kein sinnlicher Zauberkreis hält da dicht. Kalt schaut ein Fenster zu. Möbel leiern hölzerne Litaneien taktlos weiter:

„Wasch dich,“ — „setz dich.“

Halbwesen, Unwägbare, tasten sich liebeleer herein in einen tiefen Schauder, verzerren ein leidenschaftlich in sich Geschlossenes zu ungewollter Exhibition. Daß im Liebesraum kein Ding, von Alltagstun noch trächtig — niederträchtig, die hohe Tugend der Wollust beflecke, hat das Fundament aller menschlichen Lebenshaltung zu sein.

Vom Kopf bis zu den Füßen in die „fließenden Wasser von Bengalen“ eingehüllt, betraten sie die samtne Tiefe, und die berühmten Musseline zitterten als plissierter Nebel um ihre Körper und um die Füße als lockiger Schaum. Fließen die „Wasser von Bengalen“ über ein schlagendes Herz, Beben einer Schulter, alles was pulst, verborgen schauert, nehmen sie da und tragen es herauf an den Schimmer ihrer Oberfläche. Wie im geheimnisvollen, hellen Bad, beim roten Schein der Dunkelkammer, ein Bild aus blinder Platte gehoben wird und sichtbar. Ganz scheu steht es dann — rührend und groß auf einmal.

Auch alle Liebesspiele kannte das Gewand und spielte mit. Warf seidne Arme um den Hals bei stürmischem Nahen, floh weich in die Senkung einer Achsel, wehte dann wieder als Flügel dahin, listig mit entwendetem Duft beladen. Endlich gab es sich besiegt, hing vielleicht noch schmal an einem Knie, fiel auf einmal wie Asche in sich zusammen und war überhaupt nicht mehr der Rede wert. Die befreiten klaren Körper: Frühlingsäste im japanisch Leeren aber nahm der ganze Raum voll Inbrunst in seine samtnen Arme. Selbst das weite, gönnende Hochzeitsgewand.

In ihm meißelten sie ihre eignen Statuen unter dem anklingenden Rhythmus der großen Gewalt.

Dann, nach Stunden, aufschauernd aus Umarmungen an den Grenzen des Lebens, erblickten sie sich selbst, erblickten ehrfürchtig, was Shiva, der Herr der Glieder, sich aus dem edelsten, dem lebenden Material herausgeglüht, auf daß es — ungleich dem sparsamen Werk der Kunst — gleich wieder zu noch heißerem Leben, noch wilderer Anmut zergehen möge.

„Das sind wir.“ — „So viel ist uns anvertraut.“

Glätte jedes Muskels, Feinheit jeder Phalanx, das Wunder des Knies, alles hatte plötzlich einen Wert ohnegleichen. Nur weil es so, gerade so, konnte der Gott es bespielen. Hoch über aller Eitelkeit beugten sie sich — heiß vor Verantwortung — Hüter zu sein von lauter Dingen ohne Preis. Dem Einmaligen, Heiligen, Unwiederbringlichen, das ein lebender Körper ist: Statue, die nie erstarren darf, weichglühender Kelch von Murano, dem edler Atem Tag und Nacht, von innen heraus, die immer leise schwankende, feine Form bewahren muß.

Jeder unreine Bissen, ein häßlicher Gedanke, eine unvornehme Geste droht schon ihn zu mindern, seine Einzigkeit zu trüben. Denn Vollendung ist freigewählte, unaufhörliche, lückenlose Zucht. So fühlten sie. Und das Licht, das Gewissen des Körpers, lächelte ihnen dabei zu. Und es lächelte sogar die Zeit, denn vom Anfang dieser Erkenntnis war sie noch einen weiten Weg mit ihnen, statt gegen sie.

Der Tag begann seine Form zu verlieren, weil die roten Wogen der Nächte über seine Ränder spülten, so daß letzter Schauer des Erinnerns mit dem ersten der Erwartung am hohen Mittag zusammenfloß. Noch viel zu viel Bedrängnis in der Entzückung. Hoch über dem Glück laufen ihre unerhörten Spannungen hin — zu Glück werden sie erst in der Erinnerung verblassen.

Menschen schienen zu nah und grell. Sie gingen zu Tieren und Musik. Beide Begleiter des Dionysos, des Herrn der Wollust, dem die Flöte heilig ist und der Astragalos: das Sprunggelenk des Panthers. Und das aus tiefen Gründen. Oft balgten sie sich stundenlang, wie große junge Katzen, mit dem Pantherbaby herum, das, ein Findling vom Rand des Dschungls, von der Leonberger Hündin gesäugt wurde. Das setzte sich manchmal, mitten im Spiel — kein Mensch wußte warum — plötzlich tiefernst geworden, auf seinen runden Schwanz und versuchte in den Zenith hineinzubeißen. Da mußte man es auf die trocken glimmernde Granulierung der Nase küssen, trotz seines empörten Protestes. Um den moosigen Mund lag das Hold-Fremdweltliche noch: Verschlafenheit alles ganz Jungen. Durch die Wolke von Milch und Babytum aber strich schon fahler Dunst walddurchstreichender Flanken, und die wunderbar blauen Augen, in denen das künftige Gelb in Goldkörnern schwamm, besprangen königlich alle Dinge, kraft ihres leuchtenden Rechts.

Solche Arme voll allersaftigsten Zuckerrohrs hatte Rama-Krishna in seiner hundertzwanzigjährigen Erfahrung noch nicht erlebt, als jetzt täglich, von vier jungen Händen gereicht, in seiner dummen Säuglingslefze verschwanden.

Er nahm es als karmische Fügung: man frägt nicht viel und lutscht. Leise schaukelnd. Seine beborsteten Augen, geäderte Billardbälle, weichen vorbei, immer ins Leere, nur die Rüsselspitze, hellfühlend, äugt nach mehr.

Vor siebzig Jahren war er Buddhist geworden, damals, als das Malheur mit der Herde passierte. Die „Affäre“ war zwar ohnehin verjährt, aber auch so — nein, er hatte sich durchaus nichts vorzuwerfen.

Wie etwa mit Benedek bei Königgrätz Anno 66 war es gewesen. Alle hatten das auch anerkannt und sich wirklich reizend benommen. Durchaus würdig. Keine Vorwürfe: „wären Sie nicht“ ... „und hätten Sie doch nicht“ ... „und sehen Sie, das kommt davon ...!“ — Nein, nicht einmal die Kühe hatten gekeift. Wie hätte er auch wissen sollen, daß der neue Vize-Roy, so einer von den fahlen Affen mit dem komischen Geruch, einen Kraal: Einfangen wilder Elefanten in heimtückisch kaschierter Umzäunung, anzusehen gewünscht?

Monate der Qual waren das gewesen: immer gescheucht, abgetrieben vom Wasser; wo man nur eine Quelle roch, fielen Schüsse, und Feuerbrände jagten die verdurstende Herde weiter. Die armen Babys, zum Schutze unter den Müttern laufend, wie unter einem galoppierenden Säulenportikus, waren schon ganz eingeschnurrt, mit verdorrenden Rüsselchen die saftlosen Brüste sehnsüchtig drückend. Da — endlich eine Nacht des Friedens, der Ruhe, auf dicht umhegter Lichtung Wasser. Einen Augenblick zauderte er: der Führer. Alles roch so verdächtig nach fahlen Affen rundum. Wäre er umgekehrt, die Herde hätte vielleicht noch gehorcht. Aber so—o—o— viel Wasser! Bis zum Bauch. Man war schließlich auch nur ein Elefant. Röchelnd vor Gier stürzte er sich hinein. Ihm nach die schwere, graugebuckelte Wolke.

Da schwang wie ein Tor der schmale Eingang der Lichtung zu, sie war nichts gewesen als umzäuntes Gehege, und ein Kranz von Geschrei stand plötzlich um sie auf, von Fackeln und Raketen, daß man an die elenden, mit Lianen umschnürten Pflöcke nicht herankönne, sie zu zersplittern.

Da hatte er noch einen Rüssel voll Wasser geschluckt — auf die fünf Minuten kam es auch nicht mehr an —, dann alles hinaus ins Zentrum der Lichtung beordert. Babys und Kühe in die Mitte, die Bullen ringsum: Rücken an Rücken, Stoßzähne und Rüssel nach außen geschlossen, zu einem verzweifelten Kreis. So erwarteten sie den letzten Kampf; in Disziplin und Selbstachtung. Die ganze Nacht stand man. Nichts geschah. Dann am Morgen geschah: eine Gemeinheit. Auf Gongs, Schüsse, Feuer, war man gefaßt gewesen, doch es kamen — Elefanten. In hoffärtigem Zug, und jeder trug auf seinem Haupt als Krone einen fahlen Affen mit Schlinge und Seil.

Sprachen durch die Rüssel in einem völlig vertrottelten Slang von „Kulturfortstrom“ — „Gliedpersönlichkeit“ — „individualistischer Irrlehre“. Schließlich blieben es aber die alten Hauer, mit denen sie erst die Schwächsten gewaltsam aus der Phalanx drängten, und die alte Hundsgemeinheit, mit der sie zuließen, daß ehrlich Kämpfenden von dem fahlen Affen oben hinterrücks eine Schlinge ums Bein geworfen wurde. Sofort packten die eignen Entartgenossen dann den Strick, schleppten den wehrlos Gewordenen zur Fesselung an den nächsten Baum.

Qualvoll schnitten die Riemen ins Fleisch. Tag und Nacht. Nie mehr ganz heilten die Wunden. Nach vierundzwanzig Stunden waren erste Bestechungsversuche genaht: Ananas, Kokosnüsse, Zuckerrohr. Aber die Bande hatte alles wieder an den Schädel retour gefeuert bekommen, daß es nur so krachte. Später freilich, wenn niemand hersah, hatte man wohl sachte — sachte mit dem Rüssel hinter sich getastet nach einer Ananas, sie im Kernschatten des geblähten Ohres zum Mund geführt, dabei aber möglichst umdüstert nach der andern Seite gestarrt. Ja — viel durchgemacht in diesen Tagen.

Später, als Rama-Krishna genug vom Leben verlernt hatte, um „gelehrig“ zu werden, trat er in den englischen Staatsdienst: ins Colonial Service mit Pensionsberechtigung nach dem hundertachtzigsten Jahr. Damit war es zwar wieder nichts, seitdem er zu Elchos gekommen, aber dafür galt man hier mehr als Freund und Ratgeber des Hauses.

„Liebes, großes Rüsselschwein, so sieh einem doch einmal in die Augen,“ und Gargi versuchte, durch Rama-Krishnas Sehfeld gleitend, seinen kurzsichtigen Blick zu fangen. Es schlug fehl. Da berührte eine schwebende Spitze ihre Schulter: die zweifingrige Rüsselmuschel, aus der es satt und lau duftete, wie aus einem Riesenfaß voll Met. Es war eine Liebkosung von überraschend zarter Weisheit, verklärtem Hedonismus. Aus flaumiger Nähe, die keusch das Berühren ins Ätherische hob, küßte er Arabesken aus Hauch über ihre Haut. Gargi verstand. Machte die Kinderarme knochenlos und muskelhaft geschmeidig, wie das Wunder des grauen Nasenarms vor ihr. Nun begann es in den Lüften: schwebendes Spiel dreier Schlangenkurven. Jede an jede funktionell gebunden, einander nie berührend, schufen sie reizende Raumgebilde aus unwägbarer, reueloser Lust.

Kurzsichtig oder nicht kurzsichtig, nein, mit so einem Rüssel ist niemand zu bedauern, und eine Elefantenkuh sein, muß auch seine Meriten haben.

 

Es kam naturgemäß die Zeit, wo zwei Körper der schöpferischen Phantasie nicht mehr genügen konnten. Auf einem Eiland von Frühling, ineinandergeschlossen zu einem Block von Glück, waren sie bisher gewesen. Unter ihnen trieb das Leben, daß sie wie auf Kelchen standen — blühte an ihren Gewändern hinauf bis zu verstreuten Sternen im Haar. Um sie keine Welt mehr, nur Gold.

Schritten sie jetzt Hand in Hand dahin, zuckte es allenthalben im Äther rundum auf. Frohe Flammen, die langhin durch ihre azurnen Adern gingen, leckten hinüber in andre Wesen, und Freudenfeuer grüßten zurück: liebe Helfer für die strahlenden Zwei. Ein körperlicher Liebeszauber ging von ihrem jungen Wandel aus, Entzücken für Menschen, befähigt, Empfinden sogleich in lebendige Anmut umzusetzen, und die, welcher Kaste immer zugehörig, der Essenz des Daseins mit so weisem Brauche zu huldigen gewohnt waren, daß vor jeder bindenden Vereinigung von Mann und Frau, ErIhr eine Banane, SieIhm einen Mango sendet; als Maß ihrer erotischen Wesenskerne. Ob sie zur Erfassung und Erfüllung für einander geschaffen.

In den westlichen Zimtgärten begegnete ihnen einmal eine Straßenkehrerin von solchem Wohllaut der Gliederung, daß sie trunken innehielten. Sonne fiel durch einen krokusgelben Sarong, in dem die Nahende als Docht in der Flamme stand. Sie schien fast ohne Schwere. Nur so viel der Last, als Kraft bedarf für ihre allerbesten Spiele. Unter den Sohlen ward ihr der Staub zu tragendem Sperlingsgefieder. Aus der Schmalheit ihrer Kniee ging sie auf Flaum dahin, im Klingen der Choorees: der Kupferspangen; nach rechts und links die Blätter von den Wegen fegend. Ihres Füßchens Ferse hinterließ keine sichtbare Spur; die erbsengroßen Mulden der vier Zehen — die kleinste berührte den Boden nie — aber waren so rührend abgetieft, so vollkommen gerundet, daß Horus niederkniete, die Innigkeit des Abdrucks mit dem Finger zu umlaufen. Und ihrer immer mehr wurden es: bei jedem Schritt fiel wieder so ein Feenhusch auf den Sand. Aus ihren Abständen, in den Raum hinauf, ersann man dann des Dreiecks süßen Scheitel sich hinzu, aus dem der Schritt entsprang.

Eine zahme Antilope ging ihr nach, in geschwisterlichem Anstand. Der sternigen Stirn des zarten Tiers entstieg klirrendes Gehörn. Messingamulette spielten um die Männlichkeit des sanften Hauptes, um eine Tönung höher abgestimmt als der Herrin dumpfere Kupferfesseln.

Es wollte Abend werden. Inne hielt die junge Frau, breitete ein dunkel- und weißgeflecktes Fell der Axishindin, wie einen privaten, kleinen Sternenhimmel, neben dem Brunnen aus. Begann in der Haltung der Sandalenbinderin am Parthenon den Staub von sich zu baden. Dann — einen Fuß noch gesteilter auf dem Brunnenrand — lag der Schenkel als Sehne dem Abdomenbogen an, der edeleingewölbt, sichelförmig hoch darüber hinging.

Und des Phidias selige Kore verplumpte, ward unmöglich daneben.

Tiefer beugte sich die Badende. Erfrischte eine Kette aus Tempelblüten, die lang vom Halse niederfiel, neben der hanfenen Schnur. Die Luft war von silbriger Feuchtigkeit. Steigernder Geruch lebendigen Zimtes, heraufgerissen durch Wurzel und Stamm, bis er lanzettscharf aus Blattspitzen brach, trieb kühne Abkehr jeglicher Erdenschwere durchs Blut. Als brauchte man nur blaue Adern ausspannen, um vibrierend an doldenüberstürzten Wipfeln sausend still zu stehen, wie die Honigvögel dort oben, wenn sie mit langen, gekreuzten Nagelscheren aus Gold tief hineingriffen in flammichtes, grelles, malvenkühles Geschlecht, daß duffer Fruchtstaub aufflog.

Nun wandte das Wesen am Brunnen auf sanftem Hals den diademgestirnten Kopf: aus ihrem Haarknoten, der auf dem langen Nacken schwamm, lockten sich winzige Flocken frei, umstanden als Fest und Feier die fünfkantige Stirn. Nun hatte sie das kindliche Paar aus dem Hause der „Beleberin der Herzen“, wie Diana Elcho bei den Eingeborenen hieß, erkannt.

Wie um eine Kostbarkeit bat Gargi um den Besen. Ging denn das an, aus einem Ding niedrigster Verrichtung ein Instrument solcher Anmut zu machen, solcher Augenweide?

Und die Diademgestirnte zeigte es: von Schulter zu Fingerspitze müsse es laufen, sei eigentlich nichts anderes als Freude, so fein fühlen zu können, daß die Enden des Besens immer nur Blätter träfen — nie Sand. Kein Körnchen dürfe auffliegen. Wie der ganze Körper mitschwingen müsse und etwas an sich haben von der Kunst des Rutengängers; auch sei es rätlich, seine Besen selbst zu binden. Fertiggekaufte taugten nichts. Gargi ward einer versprochen aus Pisangrippen mit federndem Bambusstiel. Dann sei es viel leichter. Denn es ergab sich, daß es nichts weniger als leicht war. Freilich, einfach Schmutz fliegen machen, rechts und links, das konnte jeder. Das war Sklavenfrohn. Dann sah man aber auch anders aus dabei.

Sie ruhten am Brunnen. Nun wandte die Diademgestirnte dunkle Augenblüten in klaren Schalen Horus zu. Sah ihn zum ersten Mal an. Ganz groß, ganz tief. Gönnenden Wissens voll. Er überküßte sie: mit aufreizenden und wieder beruhigenden Küssen. Plötzlich ganz neuen, niegewußten, während Gargi, die holden Füße der Fremden im Schoß, mit ihnen spielte, als wäre jede Zehe ein kleines Feenweibchen, auf Seidenkissen zur Liebkosung bereit. Nun legte er die Diademgestirnte auf seine Arme. Den linken ganz umspült von ihren Sprunggelenken und Gargis Glieder wie Schleier über seinen Rücken fließend, riß es ihn nach vor; den Kopf in der Fremden Schoß gewühlt, daß sein leichtes Haar wie eine Anemone auseinanderfiel, warfen seine Zähne Anker in der ewigen Bucht. Wo aber dies sein Haar warm im Nacken auseinanderfiel, entstand zwischen zwei gebräunten Sehnen aus betörender Männlichkeit eine winzig harte Mulde. Flaum silberte in ihr. Dort trafen sich in einem kleinen Gruß die zärtlich entrückten Hände beider Frauen.

Als ein ungemeines Glück empfanden sie die mächtige Potenz dieser immediaten Annäherung. Noch scheu, ganz steil heraufgerissen werden in Intimität mit Überspringung aller Zwischenstufen, nur der des Taktes nicht. Denn irgendwie blieb jene ehrfürchtige, diskrete Distanz, mit der man Fremdheit ehrt — auf die sie Anspruch hat — die blieb bestehen. Auf unbegreifliche, nur dem Takt begreifliche Weise standen noch Formen und Schalen makellos. Nur war aus jeder dieser gesitteten Menschenschalen deren tiefster Kern unwiderstehlich hinübergewallt in die geheimnisvolle Dimension der Wonne. Auch dort gesetzlos nicht — nur anders eben.

Dann nahmen sie die Diademgestirnte in ihre Mitte — Schwertlilien ihrer Schenkel spielten dahin — führten sie dem Hause zu: den Bäderhallen des Erdgeschosses, den Ruheräumen. Nur in die samtnen Wände führten sie auch diese nicht. Keinen von all den heißen Knaben- und Frauenkörpern, die durch ihre Arme gingen und die sie erkannten: im einzigen Sinn, da Erkenntnis zwischen Sterblichen für einen Augenblick möglich ist oder — scheint.

 

Kamen oft in dieser Zeit zu Ganapati Sastriar: dem Märchenerzähler. Immer wieder gut, wie im Schatten der Weltesche, ruhte sich’s in seiner machtvoll-breiten Unzüchtigkeit.

Hockend am Fuß seiner Träume, erzählte er. Verkaufte Früchte dazwischen. Aß, was er nicht verkaufte, selber. Lebte doppelt: vom Erlös und Nicht-Erlös zugleich. War so dick, weil er immer im Schatten saß. Kein Sonnenstrahl durfte ihm das Fruchtfleisch der Bananen wieder aus den Poren ziehen. Schien aus einem süßen, prallen Stoff gemacht. Manchmal blieb ein kleines, nacktes Kind stehen, steckte den Finger an ihn, meinend, er schwitze Zuckerharz gleich einer Palme; klimperte dann enttäuscht mit seinem Aramudhi, dem Lendenamulett, zwischen den Beinen davon. War Ganapatis Mehlsack: die Brotfrucht, weg — der Mango auch —, nicht die dünnste Ananas für ihn übrig geblieben, pries sein Mund jene asketischen Bräuche, vor deren Macht alle Götter zittern, dann sprühten aus seinem Schlund ungeheuerliche Kasteiungen der Sadhus, wie Kraft aus einem Krater, bis die drei Reiche erbebten vor seinem Mangel an Obst ... Oder seine Lippen funkelten von Dhruva, dem Polarstern:

„Der König Uttanapada hatte zwei Frauen, von jeder einen Sohn. Einst saß der König auf dem Throne, auf seinem einen Knie das Kind der Lieblingskönigin Suruchi. Das sah Dhruva, sein zweites Kind, und voll Sehnsucht nach gleicher Zärtlichkeit, versuchte es des Königs andres Knie zu erklettern. Doch die Lieblingsfrau wies es mit höhnischen Worten zurück. Scham schlug in sein kleines Herz gleich dem einsilbigen Blitz, stumm ging es hinaus, hielt die Tröstungen seiner Mutter von sich ab und sprach in seiner großen Empörung:

‚Ich will aus mir selbst so hohen Rang erreichen, daß des Königs Thron und sein Knie und auf seinem Knie mein Bruder Uttama tief unter mir liegen sollen, und das für immer, nur erreichbar ihrem Gebet; ob ich gleich nicht von Suruchi, der Lieblingsfrau, geboren bin, sondern von dir, und du, meine Mutter, sollst meine Herrlichkeit schauen.‘

Dann ging dieses Kind von fünf Jahren aus der Stadt bis in den Dschungl. Dort saßen sieben Munis auf schwarzen Antilopenfellen; von ihnen erbat es Rat.

‚Prinz, die Kraft deines Willens ist über uns,‘ sprachen sie und neigten sich ihm. ‚Wir müssen dir den Weg zum Ziele zeigen: er ist in dir. Tue alle äußeren Eindrücke, tue Sonne, Mond und Sterne von dir ab, tue den jungen Frühling aus deinem Herzen, die äsenden Antilopen aus deinen Augen, die süßen Gräser von deinen Lippen, die singenden Erze von deinen Ohren. Lösche alles aus und für immer. Die furchtbare Leere aber lege um dich wie einen Gürtel, bis du entworden. Dann versenke dich in das Eine Tag und Nacht: das „Seiende“, in dem die Welt ist. Presse dein Bewußtsein des „Seienden“ hinab, bis wo am Grund der Wirbelsäule, dreieckig zusammengerollt, Kundalini wartet: die schlummernde Gottkraft in allen Wesen. Auf sie laß die nach innen gedrehten Sinne wie ein Brennglas glühen, versenkt jetzt alle in das Eine, das „Seiende“, bis Kundalini sich aufzurollen beginnt und durch die Wirbelsäule steigt und steigt ... Hat sie endlich den tausendblättrigen Lotos im Haupt berührt, so zwingst du das Seiende, du selbst zu sein, aus ihm heraus aufs neue zu werden, was immer du willst. A. U. M.‘

Dhruva zog sich an die Ufer des Jumna zurück, tat, wie ihm die Munis geheißen. Tag und Nacht, ohne Nahrung, ohne Schlaf vibrierte sein ungeheurer Wille einwärts gewandt in ihm, erweckte Kundalini, verwandelnd seinen Leib, daß er durchsichtig ward wie ein Schatten und Vishnu zwang, in ihm offenbar zu werden. Als aber das geschah, ward er auf einmal so schwer, daß die Erde das Gewicht des winzigen Asketenschattens nicht mehr zu tragen vermochte.

Verstört suchten die unteren Götter auf jegliche Art Dhruva aus seinen Devotionen zu reißen. Umsonst. Da flehten sie zu Vishnu um Hilfe:

‚O Vasudeva,‘ klagten sie, ‚wie der Mond Tag um Tag an seiner Scheibe wächst, so wächst dieses unbezwingliche Kind, kraft seines Willens, in übermenschliche Macht hinein. Wir wissen nicht, wonach er strebt: ist es der Thron Indras, die Herrschaft der Sonne, oder sind es die Schätze der Tiefe, die ihn reizen. Erbarme dich, Herr, nimm den Alp von uns, mache, daß der Sohn des Uttanapada abläßt von seinem Tun.‘ Da stieg Vishnu in Person herab, mit Dhruva zu verhandeln und gewährte des Asketenkindes Wunsch: für immer so hoch zu stehen, daß nur Gebete ihn erreichen, indem er Dhruva zum Polarstern des sichtbaren Universums erhob.“

Manchmal wieder ward Ganapati Sastriar flammicht ritterlich in seinen Fasten, erzählte den strahlenden Haß der Prinzessin Amva von Benares:

„Um Bhishma zu vernichten, hatte sich die holde Tochter des Königs von Kaçi jahrelang den furchtbarsten Kasteiungen unterworfen, bis ihre Macht groß genug geworden, um dem Gott Mahadeva das Versprechen abzuzwingen: nach ihrem Tode solle sie ungesäumt als Krieger wiedergeboren werden, der den unbesiegbaren Bhishma schlüge. Mit dem Wort des Gottes ging die Lotosfüßige an die Ufer des Yamuna, häufte und entzündete einen Holzstoß, bestieg ihn sodann im Angesicht aller großen Rishis mit dem Ruf: ‚Zu Bhishmas Vernichtung‘.

Doch die Flammen bogen rundum aus vor ihr, daß sie unversehrt im feurigen Kelche stand, und es kräuselten sich die Lippen des Rauches und sprachen: ‚Oh, Lotosfüßige, wir wollen so Holdes nicht vernichten.‘

Da ließ die Prinzessin den reinen Haß aus ihrem Herzen flammen, entzündete eins ihrer Glieder nach dem andern an ihm und verbrannte aschelos wie ein Diamant. Stürzte ungesäumt ihre Seele in den härtesten Schoß, tauchte aus ihm als junger Kriegsheld, unter dessen gnadelosen Händen der sterbende Bhishma noch einmal in das Auge der Amva von Benares sah.“

Keine Scheibe der Horcher heute. Sie waren enttäuscht. Dann getröstet: „Oh, er macht ‚neti Karm‘, da wird abends seine Nase neu sein und seine Kehle freundlich.“ — Aus jedem Nasenloch hing dem Märchenerzähler ein gedrehtes Seil von ungesponnener Baumwolle; die andern gewachsten Enden, innen bis zur Nasenwurzel hinauf und hintüber durch den Rachen gezogen, kamen wieder beim Mund heraus. Wie Zügel hielt er alle vier in Fäusten, zog sie ab und auf, her und hin. Stunden dauerte die Reinigung.

Abends erzählte er wieder, um ihn die Scheibe der Horcher wie das Blatt um den Lotos: „Die Episode der tausend Jahre“:

„Unübersehbare Zeiträume schon hatte die Rivalenschaft in der Askese zwischen dem Kshatriyakönig Vismavitra und dem Brahmanen Vasishta gewährt. Schließlich hatte der furchtbare Kshatriya elf unerhörten Kasteiungen durch elf Jahrtausende obgelegen, aber immer noch hatte er die Brahmanenschaft, deren er zum Endsieg über Vasishta bedurfte, nicht zu erringen vermocht, seine Macht aber war bereits ins Unermeßliche gewachsen. So beschloß er, seinem Gegner wenigstens zum Tort, einen gewissen Trisanka, den die Priesterschaft in Bann getan, wie er da war in seinem menschlichen Fleische, unter die Himmlischen zu erheben.

Diese verweigerten seine Aufnahme. Da drohte Vismavitra in seiner Wut einen zweiten Indra zu machen — oder die Welt ganz ohne Indra zu lassen — ja, er begann bereits vor den erstaunten Göttern neue Gestirne und Sternkonstellationen aus sich herauszuschleudern. Da gaben die Entsetzten nach. Doch immer noch nicht zufrieden, kehrte der unermüdliche König auf den Himalaya zurück, um in der Triebkraft seiner furchtbaren Devotionen fortzufahren. Da erkannte Brahma, so könne das unmöglich weiter gehen, und er sandte nach Menaka, der allerbesten seiner Nymphen, sie möge den Meisterasketen ablenken und sein Karma zu beflecken suchen, auf daß der bedrohliche Berg seiner Verdienste dahinschmelze in Lust. Menaka erbat hundert Jahre Frist, um noch schöner zu werden, denn ob sie gleich allen ohne Fehl dünkte, erwuchs ihr eben aus der eignen Vollendung auch wieder um so höheres Wissen um neue Vollkommenheit.

Als die Goldgliedrige — endlich mit sich selbst zufrieden — vor Vismavitra erschien, verließ er sogleich alles, um mit ihr der sechsundsiebzig Arten des Liebesgenusses zu pflegen. Bald war ihre Liebe die des Hengstes mit der Gazelle: jene die Sehnen der Knie von rückwärts im Sprung Genießende. Oder es war die Bespringende des Löwen — die des Marders mit der Schlange — auch die der Schlingranken, Vögel und Dämonen. Doch niemals des Hasen mit der Elefantenkuh, weil diese Art der Liebe unter allen Umständen zu vermeiden ist.“

An dieser Stelle legte sich Ganapati Sastriar breit in die Sielen der Erzählung. Er hatte ausschweifende Gebilde aus elastisch dehnbarem oder auch herb stoßkräftigem Stoff ersonnen — nur spannenlange Zauberwesen, mit denen er die Vorgänge zwischen der Nymphe und dem König zu erläutern pflegte. Doch ließ er sie dazwischen oft lange ruhen, um von den wunderbaren Gesprächen der beiden zwischen der Liebe zu berichten. Denn ist eine Frau weise, dann schmeckt ihre Weisheit süßer als die Brahmas, weil der Speise ihrer Weisheit noch die entflammende Drogue „Anmut“ beigemengt ist. Das wußte auch der große Sankara Acharya, denn er unterbrach eigens einmal seine Inkarnation, um auf kurze Zeit den toten Körper des Königs Amru zu bewohnen und solchermaßen vorübergehend der Königswitwe Gatte zu werden, damit er in den Stand gesetzt würde, aus eigner Erfahrung mit Madana, der Frau eines Brahmanen, Zwiesprache auch über Liebesdinge pflegen zu können, dem einzigen Wesen, das er an weiser Rede nie zu besiegen vermocht.

„Du warst vorhin bei der neunundsechzigsten Art der Nymphe Menaka, den Sonnenschirm des Liebesgottes aufzuspannen,“ sagte Gargi.

Und Ganapati ging über zur siebzigsten und einundsiebzigsten ... „Nach der sechsundsiebzigsten aber waren tausend Jahre in Liebesekstase vergangen. Da verabschiedete Vismavitra die Nymphe sehr freundlich und sprach zu ihr: ‚Sage Brahma, ich danke ihm, daß er mir nur vom Allerbesten, was er besaß, gesandt, wohl wissend, daß einzig du, Goldgliedrige, mich von meinem Ziele abzulenken die Macht besitzen könntest.‘

Dann gab er ihr noch bis zum Rand des Mondes das Geleit, empfahl sich ehrerbietig, kehrte um, setzte sich wieder auf den Himalaya und begann neue Reihen noch nicht dagewesener Kasteiungen, so daß die Berge anfingen, davon zu glühen. Hielt seinen Atem an die tausend Jahre lang. Da stieg Rauch aus seinem Haupt zur großen Konsternation der drei Welten, denn alle Regionen fingen an durcheinander zu stürzen, kein Licht schien irgendwo mehr, und die Götter flohen in Angst zum Herrn der drei Welten:

‚Hilf, Mahadeva! Denn es hält sonst der Entsetzliche den Atem an, bis dieser an Länge gleich geworden dem Ein- und Aushauch Parabrahms, der die Schöpfung ist. Dann vermag der Entsetzliche mit einem Einhauch die Schöpfung und alle Götter in sich zu saugen und eine neue Schöpfung mit neuen Göttern im Aushauch aus sich zu stoßen.‘“

Da aber drehte Ganapati Sastriar plötzlich auf dem Absatz der Erzählung wieder um, denn er hatte noch eine vortreffliche Zärtlichkeit der Nymphe Menaka in der „Episode der tausend Jahre“ zu schildern vergessen.

 

Eines Tages zog Gargi sich von ihrem jungen Gatten zurück. Verlangte nach der Sitte indischer Damen von Stand an einer bestimmten Wende des Blutes nach abgesonderten Frauengemächern, die der Herr des Hauses bei Tage nie und auch des Nachts unangemeldet nicht betritt. Wo sie in Ferne und Geheimnis sich jedesmal für den Entbehrten bereitet, wie für einen fremden Gott. Pfauenäugiges Nachtgeschöpf am Zaubergewirk aus Trieben und Hemmungen: Bauherrin — Dichterin — Bildnerin am ohnegleichen Werk hoch über aller Wissenschaft und Kunst: Liebe. Des Nebeneinander entratend um des Ineinander willen. Sie durften sich ja jede steigernde und edle Künstlichkeit gestatten, ohne Furcht vor Entfremdung, Dank ihrer Kinderehe, die lang vor dem Zentrieren der Sinne sie zu Nachtgeschwistern versiegelt.

Denn es ist gewiß, daß unabhängig vom Nur-Geschlechtlichen, durch Schlafvermischung allein, aus einem tieferen Eros her ein Etwas kommt: unerforscht, verhangen mit Geheimnis, und doch, gewaltiger wie Umarmung, mächtiger wie Tag und Tat, die Wesenskerne der Bewußtlosen ineinander zu ketten vermag zu einem dunklen Zwiegeschöpf. Hat sich dieses erst einmal gebildet und fährt das Schwert eines Schicksals dann hindurch: bis zum Tode gehen die Entzweiten herum, wie mit einem Schnitt durch die Persönlichkeit, ja aus dem Schnitt heraus blutet neue Bindung: ein Band aus hartem Blut, stärker als Leidenschaft — länger als Gewöhnung.

Ohne dürren Instanzenweg der Überlegung, von dem die köstliche Glätte ihrer Stirn nichts wußte, hatte Gargi die Zeit ihrer Entrückung gewählt. Sie, nicht Horus, auch Diana Elcho nicht. Denn sie war eine asiatische Dame, somit für die Essenz des Lebens gebildet — nur für sie.

Wenn man will, ein rein weibliches Dasein.

Verstände sich darunter:

Generationenlang nie einer Trägheit nachgegeben haben und nie einer Gier. Um der Anmut willen viel getan haben an zarter Mühsal. Viel gelassen, um des Geschmackes willen.

Vom fünfzehnten Lebensjahre bis zum Tod nie zu-, nie abnehmen im Dienst geschmeidiger Glätte und nie eine derbe Speise berühren im Dienst des Duftes.

Mit einem durch Jahrhunderte geklärten und durchglühten Blut die Sehergabe des Schoßes erwerben. Als Hüterin des köstlichen Potentials zu entgleiten verstehen ohne Entfremdung, auf daß die süßen Wasser der Sehnsucht sich wieder sammeln.

Wissen, wie jener unentrinnbare Haß der Übernähe zu lösen, damit auch die Qual noch ihre Stelle unter den Seligkeiten finde. Die Abstürze kennen, zwischen: Liebe — Erotik — Orgiasmus — Ehe. Über sie alle hin mit fragilem Arm die kühne, junge Brücke schlagen, an deren Ende schon die Hand den Gefährten mit warmem Druck erwartet, und auf dem Frühlingszweig des Armes jubelt noch sein Kuß.

In den seltenen, vielgliedrigen Festen des Blutes nach Ergänzungen suchen, die sie selbst nicht bieten kann. Mit und an ihnen sich abschatten oder entflammen. Die Liebe über den Geliebten stellen, damit das Weltenkunstwerk des Entzückens sich vollende. Und erkannt haben, daß ein Eros, der dieses Namens wert, auf jedem Instrumente anders spielt, und daß die Flöte nichts der Geige raubt.

Ein rein weibliches Dasein: an der Feinheit der Polygamie frei — großartig — taktvoll — und weise geworden.

 

Im zweiten Jahr nach dem Frühlingslauf zur „Höhle der weißen Träume“ sah Horus nur einmal seine Frau bei Tag. Es kam so:

Diana Elcho lag flach auf dem Bauch in der Halle und spielte mit dem Spektrum.

Pendelte den Wasserspiegel im halbgefüllten Kelchglas linde vor sich auf und ab. In ätherischen Kanten schlug die Sonnenpyramide hindurch, schlug ihre winzige Farbengarbe auf die Hand der Frau. Ein Cabochon am kleinen Finger daneben verschleimte — ward unmöglich. Nur ein Edelstein: Licht, schon verunreinigt durch Erden. Sie streifte ihn ab. Auch die Hand nicht hell genug. Sie suchte nach anderer Foliierung. Wollte den Sonnenbruch ins schmerzhaft Herrliche heben. Papier — Seide — Porzellan? Suchte passives Weiß, nicht spiegelnd, nicht körnig, nur gleich und rein. Über Alabaster endlich wuchs — wie von flüssigen Brillanten getragen — das winzige Band zu solcher Intensität in einen Paroxysmus des Glanzes hinein, der betäubte. Sie spürte ihr Herz.

Die anderen kamen, kauerten herum, spielten schauend mit. Ein kleines Insekt aus der Luft knallte seine Chitindeckel zu, schlenderte zu Fuß verblüfft durch die flimmernde Wandelbahn von Purpur nach Violett; an der unstofflichen Wonne des Gelb lutschte es ein wenig. Sie nickte ihm zu, sah auf:

„Gut haben’s die Ganzkleinen. Schönes ist immer so groß für sie. Ihnen wachsen fugenlose Häuser aus elastischem, leuchtendem, duftendem Stoff, mir sieben Jahre Mühen, bis sich nur das Furnier der Bibliothekslambris restlos schloß. Der da aber geht gar in den sieben ersten ‚Taten des Lichts‘ spazieren. — Wir sind zu groß. Reines reicht kaum für den kleinen Finger; der Rest tunkt schon wieder rundum in den Sudel.“

Und dann bekam Diana Elcho langsam ihr großgewordenes Kindergesicht.

Van Roy lächelte Horus in die Augen:

„Das wird ein Nachspiel geben.“

Sechs Monate später lud sie beide in den neuen Annex am südlichen Park. Umplankt von freiwilliger Diskretion, war sein Inhalt Geheimnis geblieben. Passierten das Atrium, glitten auf eine Rundbank in der lichtlosen Apsis aus silbrig-finsterem Labrador. Die dreht sich mit ihnen langsam hinein in ein alabasternes Riesenei: nur Raum, strahlender Materie voll bis zum Rand. Wabernde Spektra, dick wie Wildbäche, stürzen in ihn und lautlos zueinander, von äußeren Spiegelreflektoren durch Prismenbänder längs der Wände rundum hereingebrochen in das lebendigweiße Ei. Eiskalter Staub von süßem Wasser fängt die Spektra in der Luft — hält sie schwebend im Raum. Kühlt zugleich.

Doch es ist zuviel. Die Blicke werden hart, erstarren in einer Lichttrance zu Stein. Der Reiz dieses leeren, beziehungslosen Glanzes steigt zum Bersten an; schreit nach Zentrum — nach Kern.

Da kommt aus dunkler Zwillingsapsis gegenüber die Erlösung. Durchsichtig wie Libellenschatten. Zittert vor Sonne. Legt opalisierende Hände weich vor sich auf die Farben, wie trinkende Vögel. Kommt auf langen, zarten Schenkeln durch die fließenden Edelsteine gewandelt bis in die Mitte des Raums: steht nacktklar im gewalttätigen Licht. Schräg schlagen Flimmersäulen von Purpur bis Violett hart durch den feinen Körper, durch Hals — Herz — die fingerdünnen Weichen hin: ein junger Büßer steht gepfählt an ein geheimnisvolles, sehr wonniges Martyrium, das er auf weißen Lidern trägt.

Dann weicht die Luststarre allmählich holder Ungeduld und magischem Sang der Glieder. Was rhythmisch wechselnd von Strahl zu Strahl durch die Farben gegangen, ist jetzt ein neues, ganz liebliches Gemüt — dem Licht nicht mehr entgegen. Es wiegt und spielt sich, löst sich ganz, zu schwingen, heller wie Geist, in strahlendem Äther, wie die gleitende Welle im Leib eines diaphanen Meergeschöpfs: Sylph vom fließenden Licht.

Es schaute der Knabe Adorant. Und die zerfallenen Hälften der Welt: die voll feurigen Atems unten — die zeitlos ätherische oben, schlossen sich in ihm zu einer Vollendung. Denn was durch das Auge eingeht, wandert den Weg der Entzückung ins Geschlecht — den Weg der Entrücktheit zu Geist. Im Auge aber sind sie eins.

Ein Etwas um Diana Elcho ließ Erasmus sich ihr zuneigen:

„Was ist, ‚Beleberin der Herzen‘?“

Ihre Wimpern wiesen vor sich, stürmischer Sieg stand auf in dem jünglinghaften Gesicht:

„Jugend soll unaufhörlich Feste feiern! Jugend ist das Leben. Welcher Wahn, welche Torheit, sie in Vorbereitung auf das Leben verschwenden, also auf etwas, das mit ihr selbst erlischt. Alles den unlädierten Wesen. Es lebe die Immatura.“

„Falls die Erziehung vor der Geburt vollendet war, dann“ — er verbeugte sich leicht gegen sie — „mögen die Feste in Freiheit kommen.“

Sie nickte. „Wissenswertes läßt sich ja so nicht lehren, nur gebären, das ist: unbeirrbarer Sinn für das Echte. Er, aus dem die unbeweisbare, allmächtige Prämissenbildung aller Urteile erfließt. Das geht nicht von Mund zu Ohr, nur von Blut zu Blut. Die wahre Alma mater aller Fakultäten, Fähigkeiten bleibt ewig die Plazenta.“

Ihr Auge weidete auf den Farbensäulen, in die sie das Licht zerbrochen, so groß sonst nur als unfaßlich freie Glorie über Wolkenrändern — hier von einer Frau in ihr Gemach verdichtet, gezwungen, es zu füllen bis zum Rand.

„Bildung“ — eine Welle rann unbewußt durch ihre Hand und wie eine Erhellung in die Luft hinüber — „alles liegt schon im Wort — ‚gebildet‘: was von innen heraus ringsum ausgeblüht, sich planmäßig Gestalt erzwang: Struktur. Im Gegensatz zu dem, was noch amorph ‚ungebildet‘: ein Haufen Schlauheiten — Meinungen — Instinkte — Urteile bestenfalls. Erbmassen, durcheinanderkollernd wie Schrotkörner in einem schlaffen Beutel, an den Schwanz eines kopfscheuen Affen gehängt.

Nein, Bildung ist keine Angelegenheit des Großhirns, — ist Puls, Haar, Haut, Geschlecht — das — das.“

Und ehrfürchtig, fast zaghaft, fast ein wenig errötend, nahm sie, wie etwas über die Maßen Köstliches, Gargi in ihre Arme, die lautlos in die halbdunkle Apsis zurückgeflogen kam und mit Füßen — schmal wie Schwalben — durch die Fesselringe in ihre Sandalen aus weißem Antilopenleder. Bückte sich zugleich nach dem Stück silbergesäumter Seide am Boden; drei, vier unbegreifliche Griffe: ein Sarong. Vor Sekunden noch nacktklarer, halbdurchscheinender Sylph, stand Gargi nun: ganz Dame wieder und bekleidet ohne Fehl.

 

„Die Erziehung eines Kindes hat vor seiner Geburt vollendet zu sein.“ Diesem chinesischen Lieblingssprichwort treu, hatte Diana Elcho sich zwar stets bemüht, ihrem Sohn die besten Lebensgelegenheiten zu schaffen, es aber völlig ihm überlassen, wie er sie verwende.

Stets erreichbar, wenn er sie brauchte, war es gerade ihr Stolz als Mutter, möglichst wenig gebraucht zu werden, es sei denn in bewußtlosem Wohlgefühl organischer Nähe. So genossen beide gesegneter Freiheit voreinander, die der älteren ermöglichte, ihr schwieriges und vielfältiges Leben restlos auszuwirken.

„Denn,“ — hatte sie einmal zu Erasmus geäußert, — „wer sich nur als Durchgangsglied empfinden will, wird auch nur Durchgangsglieder hervorbringen. Wer nicht den langen Atem hat, über die Elternschaft hinaus an der Linie eigener Vollendung fortzuwirken, wer sich unter irgendeinem Vorwand ‚aufgibt‘ — ‚aufgeht‘ in seinen Kindern, wie er das beschönigend nennt, belastet mit verschleiertem Bankrott die eigne Nachkommenschaft. Wie der fette Alp auf Sindbads Rücken hocken seine ranzigen Träume — sein fauliges Versagen — als ungetaner Lebensrest auf ihrem frischen Dasein: seiner Seele totes Gewicht, weil er sich ihnen ja ‚geopfert‘. Nein, diesen Mütter- und Weibertrick macht ein Mensch mit Selbstachtung nicht mit.“

Die besten Lebensbedingungen. Neben der Schöpfung des Hauses Elcho war Gargi zu seiner ersten Frau zu gewinnen die schwierigste gewesen. Hatte Hilfe gesucht bei der Rani von Travankor, der jahrelange Freundschaft sie verband.

Die Rani zog die langen Augen schmal zu einem Phosphorband, dann mit fernem Lachen in der Stimme, auf alles gefaßt: „Eine Brahmanin?“ —

Die andre neigte „nein“. Wußte: es war unmöglich. Und wäre es selbst denkbar gewesen, aus einer der vierundsechzig Stufen, in die — nach Reinheit des Blutes — die Kaste zerfällt, Horus ein Wesen zu gatten, ihr eigenes Gewissen hätte verwehrt, daß planvollere Blüte des Menschentums, als ihrem Sohn zu sein vergönnt, durch ihn gemindert werde an emotioneller Lebenshaltung; betrogen vielleicht um seine köstlichsten Reaktionen: jenen nur an letzter Wechselwirkung entflammbaren, die nur der von Schauern ganz erfüllte Weg ans Licht zu treiben vermag. —

Daß eine Kette zerriß von solcher Verzartung, Verdichtung, Verglutung der Instinkte: Kette, der jede Generation in Selbstbezwingung bis in den Schlaf hinein, an Wahl der Nahrung, in Atmung, Gedanken, Gebräuchen ein Glied hinzugefügt, — daß so etwas zerriß; ihr einziger Sohn war es nicht wert. Sie hatte zuviel Ehrfurcht davor. Es war zu kostbar: hatte Jahrtausende gekostet.

Sagte leise: „Entsetzlich, zu denken, wieviel die Frau in der Liebe riskiert.“

Die Rani sah den Weg des Worts zurück, daß er frei von Anmaßung, spürte das Menschliche, wurde milder.

„Also eine Kshatriya? — Suchen Sie — als mein Gast —, man wird sehen.“

Sie suchte inbrünstig und lang. Fand ein Wesen vom Typ der kindlichen Prinzen auf persischem Elfenbein: unter Agraffen Augen der Antilope, den grünlichen Libellenkörper dem seidnen Galoppsprung ihres Hengstes unbegreiflich lind und kühn vermählt. — Hingerissen, umfühlte, umwitterte, verglich sie jetzt eignes Blut mit jenem. Erkannte, wie und wodurch in seltenen Fällen sich der Spitzentypus Europas: das Normannisch-Angelsächsische mit der Kshatriya-Kaste berührt.

Hier erst schien Ehe möglich: jene Anziehung, die sich aus den Wesenskernen zweier Menschen immer wieder erneut. Polare Wesen, parallel geboren, denen die „lendemains“ erspart sind, weil sie gleichen Ranges, und die purpurnen Nächte beschieden, weil sie Pole des Ausdrucks. Denn jedes Geschöpf will ja soweit aus sich herauslieben wie nur möglich, damit das Gefälle der Lust — der Bogen der Spannungen wachse, dann hineinstürzen in eine Erlösung ohnegleichen. „Fall in love“: in die Liebe fallen; doch wer möchte in die Ehe fallen? Das Wunder über allen Wundern; daß die ewigen Fremdlinge: Mann-Frau in prästabilierter Harmonie die gleiche Lebenslinie wandern; wie unverantwortlich, dieses fast perverse Wagnis einem schauerlichen, vielleicht verspäteten Zufall auszuliefern. Nur Menschen, die in ihrem Frühling sind — fremdartig — gleichkastig, mag vielleicht ein gütiger Eros das Helle mit dem Heißen, Tag und Traum, Licht und Blut in einer Schale reichen. Und wenn es mißlang! Sie haben von der Morgenröte im Aufgang getrunken — kein Gott kann ihnen das mehr rauben.

Entflammt jetzt, machte sie das Unmögliche möglich. Mutterrecht erleichterte. Das war in diesen kleinen, von Mohammedanismus verschonten Reichen Südindiens nie ganz erloschen. In Travankor erbte sich sogar die Krone in weiblicher Linie fort, und lagen die Weltgeschäfte auch in des Rajah Händen, Bräuche straffer wahren, oder leise lockern, einfach durch innere Haltung, das wehte von der Rani aus wie Schleier, Rauch der Harze aus ihren Gemächern, aus ihren Gärten Staub der Fontänen. Endlich durften alle Abgründe als zur Not überbrückt gelten. Nach Kautelen, Garantien aller Art: Bräuche, Erziehung, Lebenshaltung ordnend — eventuelle Rückkehr auch. Als Gepränge und Zeremoniell der Scheinehe vorbei waren, brachte sie Gargi — zehnjährig — heim.

Ihren Schoß erzog Agai, ihre Glieder Sigiria, die Tempeltänzerin, Erasmus ihren Geist, und alles Diana Elcho. Hatte sie durchdrungen, bis Seele durch jede Zelle wie Saft in Pflanzen stieg, jedes Gefäß geschmeidig zu Geschmeide, bis alles Anmut geworden, Takt und Licht. Hirn, Becken, Darm, Zehennägel, Atem, Stimme — ebenbürtig eins dem andern; zusammen freie Diener jenes Unbegreiflichen, nie zu Erklärenden, nur zu Fühlenden: Harmonie, Persönlichkeit.

 

Agai, „die Gewalt der Brandung“, hatte jetzt ausgesorgt. Hockte gleißend schwarz herum. Fletschte Wonne, beschenkt und stolz. Wartete auf ein Schiff in die Heimat, von einer ganzen Mädchengeneration zwischen neun und dreizehn dort im Schulhaus erwartet. Freute sich auf die Männer — nach drei Jahren. Unter allen Tropenstämmen verstehen die Suaheliweiber sich am besten auf die glühende Kunst: frei sein. Auf das Frauenrecht: Mutter aus Wahl — nicht Zwang, Herrin, nicht Sklavin der Generation. Und das durch Überhöhung, nicht Hemmung der Hingabe.

Atmen des Schoßes. Das Schließen und Spannen, Entgegenschwellen dem noch Unbekannten. Die verborgenen jungen Innenwände geschmeidig übend so zu erstarken, daß zu den Gezeiten des Eros aus ihnen die Mondwelle sich der Sonnenflut entgegenwerfe, sie — fort- und überspüle an trunkener Kraft. Nach jedem Liebesstrahl wie mit inneren Zauberzangen den blumenglatten Ring zurückschließen in Unberührtheit.

Das alles hatte Agai, „die Gewalt der Brandung“, gelehrt.

Mit dem Frühlingslauf zur Höhle der weißen Träume endete ihr Amt. Sie heulte und grinste Abschied — leckte tierhaft hingegeben die Fersen ihrer jungen Herrin, kniete dann auf und übergab einen erbsengroßen Mondstein dem inneren Griff der geschmeidigen Schließkraft:

„Agai denken — immer halten — bei Tag.“

Gargis Arme kamen um ihren Hals geflogen: „Agai“.

Doch die dunklen Handflächen hoben sich nach außen gespreizt bis zur gesenkten Stirn, wehrten ab, wie ein verkehrtes Gebet.

So schritt sie voll Würde in ihren Grenzen langsam hinter sich und durch das Tor der Bäderhallen hinaus, über denen geschrieben stand:

„Welche Schmach, zu altern, zu sterben, ohne die ganze Herrlichkeit, deren unser Körper fähig ist, kennen gelernt zu haben.“

Dann bog der Rolls-Royce mit Agai aus dem Park. Der japanische Chauffeur brachte sie zwei Tage weit nach Trinkomali, der nächsten Anlege.

 

Kraftanlagen wurden nötig: eine Niederdruckturbine in die Mahaveliganga — eine Hochdruckturbine in den Wasserfall eingebaut. Genügten nicht. Man schloß mit einer Firma in Jokohama ab. Gelbe Ingenieure kamen, redeten aus Notizbüchern in Differentialgleichungen, überwachten später die Montagen. Horus lebte nur noch im Maschinenhaus. Zum ersten Mal vor dem Gehäuse der Dampfturbine, stand er wie unter Ätherrausch. Ein Liniensturz, an Geschlossenheit unbekannt in der organischen Welt; von einem geraderen Willen erschaffen als höhere Ordnung der Dinge. Ein Liniensturz, erzwungen von dem Gaswesen in ihm und es bezwingend zugleich. Aus Hunderten haardünner, metallner Schaufeln im Innern — jede einzeln, jede anders voll Genie in den Druck geneigt, erfloß hier ein neues Kurvengeschöpf; wie das Gesetz es befahl. Das Wort „Continuum“ kam aus dem Magischen herab — ward Grenzfall von Schaufel zu Schaufel, fast greifbar — unbegreiflich.

Eine Ader auf der Stirn, stand er im Ozon des stillen Kraftsaales: Hörselberg nüchterner Phantastik. Stummgeladne Weite, vibrierend von Spannung, ließ seinen Speichel metallisch zittern, hob ihn an den Nieren hoch — durch alle Isolierung hin. Ein Rund aus riesigem Tod, der draußen — transformiert — das Dasein leicht machte, hell, Mühsal abnahm.

Ging dann wie abbittend hinüber zur alten Dampfmaschine. Konnte ganz versinken in ihre achsenglatte Wucht — das Anschwellen einer Nabe — die Wunderform der Welle, wenn Reibung Fortbewegung ward.

Und wie schön, daß dies alles diente: dem Leben untergeordnet als Zweck, wiewohl übergeordnet als Form.

Latentes brach jetzt aus, langhin vorbereitet durch Werkzeuge, Jacht, Rolls-Royce. Er fieberte nach Schöpfung; nicht ohngefährlichem Wissen — saloppem Verstehen, wie bisher. Selbst Schöpfer werden in dieser reineren Nebenwelt aus Zweck und Zahl.

„Gut — aber mindestens fünf Jahre Arbeit.“ Van Roys Mund konnte sehr hart werden. „Keine Edelspielerei, keine Rosinen aus dem Kuchen.“ — „Intuition —? So, da ginge es vielleicht rascher. Meinst du? — Nun, man kann Höhen erfliegen oder ersteigen. Erflieger kennen vier Quadratfuß Gipfel. Ersteiger den ganzen Berg. Schritt um Schritt. Von jeder Spanne Rechenschaft ablegen können — den Weg besitzen — Möglichkeit, ihn immer wieder zu gehen, ist Wissenschaft. Gauß hat einmal gestöhnt: ‚Das Resultat hab ich, wüßte ich nur schon, wie zu ihm gelangen‘. Kepler sah in einer Art Kristallvision sein drittes Gesetz: sah die ersten fünf regelmäßigen Körper ineinander eingeschrieben als die mittleren Planetenabstände von der Sonne: eine kosmische Beziehung als Klumpen Stereometrie. Sehr schön, aber wertlos noch, ohne Beweis. Ein abgerissener Tropfen Genialität im Leeren.“

„Nein, ich werde dir nichts schenken. Denn: bleibt irgendwo unten, auf einem Seitenpfad, auch nur die kleinste Lücke, unvermutet aus der Höhe wird eines Tages deine ganze Weisheit gerade in dieses Loch fallen, wann es dir am wenigsten paßt; ja, dieses spezielle Loch wird plötzlich überall vor dir sein, und du wirst aus allen Himmeln steigen müssen, es zu stopfen — oder ewig Dilettant bleiben.“

„Aber dann — nach fünf Jahren — werde ich auch vor weißen Meistern bestehen können?“ und erbleichte schon der eignen Ungerechtigkeit. Stand ja hier vor einem weißen Meister. Große Namen unter Widmungen — wüßte er es sonst nicht — zeugten dafür.

Erasmus schien belustigt. Dann, einen langen Weg in der Stimme: „Wenn ich dich einmal auslasse, kannst du getrost deinen Dr.-Ing. in Charlottenburg machen.“

 

Eines Tages stieg aus dem Drillbohrer eine Frage und wuchs in eine wundervolle Vision:

Wie mögen Wesen aussehen, die das erdacht? Wenn bereits dies geringe Werkzeug hier: etwas, das nichts als ein Loch in ein Stück Ding zu machen hat, mich so mit Entzücken schlägt, wie erst die Herren solcher Diener. Die weiße Rasse: wohl Wesen, wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig. Ganz frei geworden an den gleitenden Erzgeschöpfen ihres Haupts und ihrer Hände in ein ohnegleiches Cherubtum hinein! Ihr Dasein eine ganze solche Welt. Arbeit: Schöpfung — nicht Erschöpfung mehr. Was ihn so hinausriß über sich, waren ja erst Abfälle ihres Lebendigen — leeres Gehäuse — das wie Muschelschalen kam, an seinen Strand gespült.

Oder diese Gelben mit ihren Notizbüchern: gleich Gesandten aus Wunderländern, Märchenboten mit Kostbarkeit: da greift einer in die Tasche, etwa nach dem Taschentuch, streut dabei zufällig ein Vergessenes mit heraus, ein Dortiges, achtet’s gering. Und wie da ein Staunen anhebt, alles sich sammelt um das Niegesehene: so wenig wußte er ja noch. Hatte allerdings damals ein bißchen gehofft, auch europäische Ingenieure würden kommen. Das war wohl anmaßend gewesen; gerade ihm, Horus Elcho, sollten weiße Herrn der Welt höchst persönlich ein Kraftwerk bauen! Dazu waren Hilfs- und Schülervölker da. Auch mochten ihrer wohl wenige sein. Der lebendigsten — adeligsten Geschöpfe sind immer wenige. Nur Träges wirft drauf los ohne Hemmung: Karnickel, Schweine. Ihr Wurf die Beute aller. Wer durch Kühnheit und Weisheit ungefährdet geworden im Äußeren, darf inneren Stimmen horchen, selten zeugen — in lebendigsten Augenblicken nur — aus feinster Wahl.

Nicht ganz unebenbürtig fühlte er sich hierin der weißen Welt. In diesem ihr ferner Sohn, kein Fremder. Wenn sie alle auch gewiß weit schöner, an der hohen Luft ihres Lebens vollkommener geworden als er. Vielleicht war höchste Sprosse hier unterste dort? Oder überhaupt alles ganz anders. Anschauung fehlte eben.

Warum? wieso fehlte sie?

Stieß zum erstenmal gegen das Sonderbare in seiner Erziehung — blieb perplex.

Kannte nur Wissenschaft, Technik, Musik der weißen Rasse. Nicht ihre Körper, noch den Geist ihrer Körper: Bräuche — Sitten. Also nichts. Warum? Schwieg dazu. Hatte zu oft die Köstlichkeit des Schweigens erfahren. Ihm schien, er hätte durch die Unzartheit der Frage schon volle Befriedigung aus der Antwort vertan. Hier lag ja offenbar ein feiner, höchst komplexer Plan zum grunde; fragloser Einweihung allein war volle Freiheit, Weite gesichert, nur sie befriedigte ganz, weil nicht von vornherein in den Engpaß einer Frage gezwängt.

Und dann wurde er langsam sehr glücklich, denn er meinte verstanden zu haben.

Hatte sich oft vor Gargis Augen, oder auch manchmal vor nichts Besonderem: einem Zweig, eines Zweiges blauem Schatten, was man so „nichts“ nennt, in einen jungen Löwenwurf hineingeträumt, den eine dünne Haut noch von der Lichtwelt trennt. Das saugt, tappt herum, atmet, glaubt sich schon ganz geboren, und dies sei nun eben alles. Da reißt die Eihaut des Auges, in unerhörte zweite Lichtgeburt. Und welche Chance, daß unter allen Europäern gerade ihm — als erwachtem Menschen — solch zweite Lichtgeburt in die weiße Welt sollte vorbehalten sein. Durch seine Mutter. An allen Nerven überflutet werden, wie nur ein Entblendeter überflutet werden mag, in den erster Sonnenaufgang hereingebrochen kommt: diese ungeheure Freude hatte sie ihm gönnen wollen, weise aufsparen für sein erwachtes Herz.

Wann? Bis er reif, würdig geworden. Fähig, es ganz zu genießen.

Arbeitete von nun an so, daß Erasmus meinte: „Vier Jahre nur — vielleicht.“

Da suchte Horus nach einer Wendung, wiegte sich, funkelte in ihr — wagte es schließlich doch — sagte schüchtern, etwas zögernd, zum erstenmal: „Wir — wir Europäer.“

Dies ungeheure weiße Dasein, von ihm gebildet aus dem Hellsten, das er kannte: hohen Violinen — gleitendem Nickel; geisterhaft ging es immer mit, durch alles Tun, ragte ätherisch herein; ihm straffte er sich entgegen, durch jeden Alltag hin. Doch gab es Lieblingsstunden, da nahm er es träumend vorweg, meinte sich ihm nah. Etwa an der Orgel als brausender Gott: Demiurgos in Person, wenn er mit einem Griff den Wald in der Hoboe erschuf, sumpfiges Grunzen der Büffel im Kontrafagott, und zu diesen das schrille Silber stieß aus den flimmernden Registern. Eisblaue Knabenstimmen dazwischen aus mutierendem Metall. Nun trat sein Fuß mit dem Starrsinn seiner Ferse aus dem Tiefen wuchtendes Gesetz: jenes, nach dem die Gestirne und die großen Herzen wandeln. Das stampfte ins Silber hinauf, rüttelte an waldigen Schultern, bis alles umschwang in die Doppelfuge seines Tierkreiswillens.

Jetzt durch alles hindurch, ließ er ein Wehen anheben auf der dritten Klaviatur, schlingerndes Pfeifen, das zum „grand jeu“ wuchs, Klanggischt an die Wände warf, aus Ertönen Ergreifen machte — den Raum ergriff, wie jene grenzenlose Hand aus Hauch sein Herz, um es nach einer andern Sternenstunde einzustellen. Ortlos, ein Scheinwerfer aus dem Unendlichen, stand es wieder als Blick auf ihm — brach ihn auf — blühte ihn auseinander. Da wußte er sich im Sehfeld des Aschenauges — stark, wehrlos und geborgen. —

Durch geschlagenes Glas fiel die Oktave des Lichts in den erschütterten Raum, und nun vermeinte er Newton zu sehen — als Kind, wie es zum erstenmal in den Klang der großen Orgel tretend aufsah, glaubend, nur aus der Farbenrose oben könnten diese Stimmen kommen.

Da neigte er sich dem kindlichen Schemen tief. Schloß die Orgel.

Nüchterner gestimmt, zog er zuweilen Resümees: was er wußte, erschloß Neues daraus. Nach eigner Meinung sachlich kühl. Das war dann Reiz und leichte Qual. Wie Streichen um den verhangenen Geburtstagstisch früher Jahre. Hätte ja sogleich eine Ecke lüften können, das Auto nehmen und in zwei Tagen Orte erreichen, wo — er wußte es wohl — Europäer lebten oder durchreisten. Als verstreute Fremde in fremder Umwelt. Nein, so nicht. Hatte vor einem Jahr noch weiße Ingenieure erhofft, ehe er diese Feengabe seiner Mutter: diese lebenslang vorbereitete, köstlich einzigartige Erschütterung, die seiner harrte, recht begriffen. Jetzt nicht mehr. Blind bis zum Sonnenaufgang. Nur Vorfreude träumen, aus Vorzeichen bauen, sich bereiten — für dort.

Mit den vier großen Sprachen Europas war er von Kind auf vertraut. Wundergefüge, aus unbegreiflich schwebendem Geist, wie alle Sprachen. Doch Schößlinge nur, sogar weniger breit gewurzelt und fein in der Krone wie der Mutterbaum: Sanskrit. Er konstatierte das gerne; bewies sich Objektivität damit. Europäer redeten eben außerdem in neuen Sprachen — über dem Wort: in Gleichungen und Musik. Euler, Beethoven waren ihre Grammatiker. Auch er, Horus Elcho, sprach europäisch: vor dem Reißbrett in der Gleichung der Lemniskate — vor dem Cello im Cis-Moll-Quartett.

Ging dann in den Abgußsaal. Blieb nicht mehr vor den Ägyptern wie früher; blieb vor dem zeitlich Letzten dort: den Griechen. Wenn die weiße Rasse schon vor zweieinhalb Tausend Jahren — in ihren Outsiders — so wohl geraten: in dieser kleinen hellenischen Provinz, die wie eine Seeanemone ganz unten vom Rand des eigentlichen Kontinents abwehte; von da in gerader Linie, ungehemmt, ansteigend, wie verfeinert, in Anmut ganz gelöst mochte sie heute schon sein? Sich zu jenen verhalten wie etwa eine Schwebekonstruktion zu einem Pfahlbau. Waren doch die blumenäugigen jungen Rehmenschen Indiens an Linienblüte, Adel des Aufrisses über den griechischen Kanon vielfach hinausgewachsen, besonders die Frauen, und lebten doch noch erdgebunden nach alter Art.

Eigentlich nur hellenische Köpfe — jene wenigen aus bester Zeit — beglückten ihn echt, durch Unzerrissenheit, Wohllaut, mit dem sie in den Leib hinüberlebten. — In dieser schwierigen Süße, heimgekehrten späten Schlichtheit Lysippscher Häupter sah er sie gerne wandeln: seine lieben Herrn des gleitenden Erzes.

Konnten sie denn überhaupt noch das Weltwesen vor Jahrtausenden auch nur begreifen, etwa ihrer homerischen Vorvettern, die noch Kriege geführt, sich Spieße in den Leib gerannt, sie, deren kühne Not — Siege — Leiden in transzendenten Schlachten, auf Geisterpfaden sich erfüllten! Auf dem wundervollen Abenteurerweg der Physik, dem verwegensten Weg! Eroberer, die das Heranschleichen kannten, gespanntesten Sinns, zitternd und eisig zugleich, der Erscheinung den Lasso überzuwerfen, um sie als Strahlen, Kräfte, Elemente umzugießen in Ungeheuer aus gebändigtem Geist.

Wie ihre Frauen wohl aussehen mochten? Gewiß Gargis Linien in den Farben Diana Elchos.

Ihr Wesen: aus dem der Pallas und Nausikaa gemischt.

Und das alles stand ihm noch bevor; das alles aber hatte er auch einer Frau zu bieten, die ihm angehörte. Dachte froh bei sich: „Und sie weiß noch gar nicht, was ihr da blüht.“ Sagte zeither auch zu Gargi: „Wir — wir Europäer.“

 

Am Anfang seiner technischen Ekstase, verbohrt in Exzentergetriebe, Turbogenitoren, Ventilsteuerungen, konnte sich Horus oft erbosen, schlenderte er mit Erasmus durch die Pettah. Nicht über die edlen Maße ihrer epischen Menschen — das mochte hingehen. Auch war er mit ihnen allen in einer Art dauernder Liebeshellsichtigkeit, sorglos, ohne manischen Zwang der Lustvollendung, dank seiner Kinderehe. Der gleichsam genießende Gang des Schikari Aditja gefiel ihm in seinen Augen, wie das Geruhsame in Ganapati Sastriar, zu dem er immer noch gerne ging. Doch die Dinge — die Geräte, das gehörte sich nicht.

„Warum ist so ein dummer alter Brunnenrand so schön, wie kommt er dazu?“

„Nur weil er so alt ist,“ tröstete Erasmus, der sofort wußte, um was es ging. „Dinge, beschlafen von der Zeit, zerbrechen in ihren Armen oder gebären eine Art Vollendung.

Diese dunkle Glätte an Bolzen, alten Stalltüren, an Trögen, Brunnenrändern: warme Griffe — Tiermäuler ohne Zahl haben sie ausgekurvt ins Endgültige. Vielleicht scheinen uns die wenigen antiken Torsi so edel, weil die Zeit — ein unbestechlicher Kritiker — unerbittlich entfernte, was gegen den Geist des Materials. Was daran überhaupt abbrechen konnte, war eben falsch. Der verbesserte, endgültige Kontur: der Ewige ist, was wir bedauernd ‚nur‘ einen Torso nennen.“

„Dann vermag aber die Zeit doch lediglich weg zu nehmen?“

„Allerdings. Darum vermöchte sie allein wohl nie, durch bloßes Abschleifen, die Vollkommenheit einer Helice zu erzeugen, weil ihr hiezu das Konstruktive fehlt. Aktive Schönheit der bloß passiven gegenüber. Diese wird primär von innen heraus vollendet, — sekundär, von außen hinein — jene. Echt aber sind sie beide. Und wie echt zu echt stets paßt, so deiner Mutter Haus, bei aller Verschiedenheit im Konstruktiven, zu dieser Pettah — zu diesen Brunnen, Trögen, Türen, Bolzen.“

Horus erstaunte. „Ja, gibt es denn auch auf der Welt ‚unechtes‘ Gerät? — Wo? Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Etwas eigens für etwas machen, zu dem es nicht taugt. Ungeratene Geräte!“

Er lachte. War’s aber im übrigen zufrieden. Gab nun im Vorübergehen Brunnenrändern ab und zu einen aufmunternden Klaps in die läuternde Zeit hinein, sich ja fleißig von ihr aussparen zu lassen, da ihnen nun einmal das Glück versagt geblieben, aus dem Geist europäischer Technik entsprungen zu sein.

Erasmus aber sagte schnell etwas Falsches — etwas ganz und gar Banales; hatte schon zu viel besser gewußt heute. War auch je und je auf der Hut gewesen, sein Axiom zu verraten, auf welche Art ein Mensch das Höchste aus sich zu ziehen vermöge: mindestens zwei, von einander so weit wie möglich abliegende Wissenschaften betreiben und dazwischen versuchen, in einem Sport der erste zu werden. Er ließ Horus selbst darauf verfallen.

„Du hast immer einen so wunderbar durchbluteten Geist,“ meinte dieser eines Tages. Er war ins Laboratorium gekommen, Erasmus zum Bade abzuholen. „Woher das kommen mag?“ Er hatte ihn in vorzüglicher Stimmung getroffen.

„Weiß nicht. Vielleicht, weil ich faul bin. Ich ruhe mich immer so schön frisch aus: vom einen beim andern.“ Sie liebten beide, wo es anging, kindliche Diktion. Schätzten den Charme gepflegten Vorsichhinblödelns zuweilen.

„Und dazwischen schwimmst du wie toll, besser sogar wie Aditja — so gut wie die allerbesten Krokodile. Aber das wird es eben sein: erst da denken — dann ganz wo anders und dazwischen gar nicht — nur leben, die Nerven entlang das letzte herausholen für etwas, das so vornehm ist, keinen Zweck mehr zu brauchen.“

Eifervoll entwickelte er nun alle Vorzüge polarer Interessen rechts und links von einem Sport. Da Erasmus zu zweifeln schien: „Du glaubst mir nicht — an mir selbst will ich es dir beweisen.“

Nach einem halben Jahre kam er dann und klagte ein wenig:

„Es scheint mir manchmal, als gebe es gar keine ‚weit auseinanderliegenden‘ Gebiete. Ich wenigstens kann keine finden. Immer dort, wo es wirklich interessant wird oder wichtig, scheinen sie zu konvergieren, und im Ganzaufregenden, da schneiden sie sich sogar.“

„Schade,“ meinte Erasmus, „also ist der Kosmos zu pauvre geraten, als daß man im Auf und Ab an ihm einen — wie hieß es — ‚gutdurchbluteten Geist‘ bekommen könnte. Somit fällt die ganze schöne Theorie dahin.“

„Aber du selbst bist doch gegen deinen Willen mein lebender Beweis, und ich werde noch der deine werden. „Diesen senilen Starrsinn aber,“ — — er kniff ein Auge ein, — „muß man brechen.“

 

Unentstellt — wie ein kühnes Tier, eine Gazelle aufkniet hinter der entgleitenden Geburt — so schloß sich Gargi hinter ihrem Sohn. Jetzt achtzehnjährig. Doch schon am Morgen ihrer Mädchenschaft hatte sie zu ringen begonnen um diese neue Jungfräulichkeit, jenseits des Kindes.

Ihr und aller indischen Damen scheinendes Ziel: jene Sultana Mumtaz i mahal, die ihrem Gatten mit jedem Knaben sich selbst als Mädchen wiederschenkte. Und Schah Dschehan wertet es weit höher als eine gewonnene Schlacht, denn hier ward durch Zucht, List, Mühsal, Mut, Hingabe das Glück zurück erobert, — enthauptet sogar die Zeit, von dem zarten und zähen Willen, der aus jeder Geburt sich eine neue Unberührtheit für seinen Herrn erzwang. Sieben. Die Achte wurde ihr Grab — und: der Tadj-mahal. Denn in seinen Kuppeln standen leuchtend die sieben harten Marmorkelche ihrer Jungfrauschaften wieder auf. Nicht als Bauwerk zu werten, noch Kunst: der Tadj-mahal ist die Sehnsucht des Mannes nach dem Kelch des Glücks.

Und so groß war Schah Dschehans Sehnsucht nach der Heimat dieses Kelches, daß er durch Blumen und Flammen seines immer erneuten Harems hindurch ging wie ein Schwert, dreiundzwanzig Jahre lang, und nicht müde wurde, die Weiße des weißesten Marmors zu prüfen, gegen das Gold und Grün der Lasuren, ob sie seine Weiße erhöhten. Ließ plötzlich die Flanke eines Berges auseinanderreißen in der Hoffnung, seine Tiefe sei heller noch, ähnlicher im Adergang.

Die eckigen Wasser aber, in denen alle Weiße sich spiegeln sollte, ließ er noch auf ihrem Grund mit geschmolzenem Silber ausgießen, und aus seiner unzerstörbaren Sehnsucht preßte er die Erinnerung an ihren Duft, ließ das Geheimste aus den Korollen und die Drüsen aus den feurigsten Tieren reißen, und manchmal meinte er, das Laue in der Luft sei es und warf die Arme darum, bis endlich — endlich die Alchymisten Arabiens, die Sanjassins Hindostans aus dem Fruchtfleisch der ganzen Welt es ihm erpreßten.

Da stieg die Essenz des Duftes als sieben Quellen aus dem Spiegelbild des Marmorkelches in den eckigen Silberwassern. Weiße Nachtigallenmännchen, deren Flügel in Netzen aus Rubinen lagen, tranken Trunkenheit daraus, daß ihnen der fließende Duft klingend aus den heißen Herzchen barst zum Preis der sieben Jungfrauschaften, die sieben süße Kinder waren.

Das ist zu Agra das Grab der Mumtaz i mahal: das Grab der Krondame. Als es vollendet war, ging Schah Dschehan noch einmal ein in ihren tiefsten Kelch, und das für immer. Seine Asche ergoß sich ihr.

 

Im siebenten Jahr nach dem Frühlingslauf zur „Höhle der weißen Träume“ brachte Horus aus China eine zweite Gattin mit, als seine erste legitime Nebenfrau. Seine Mutter, Gargi und er hatten die Regenzeit zu einem Besuch jener südchinesischen Provinz benutzt, deren Statthalter damals vorübergehend Lady Dianas alter Freund Li-Hung-Tschang war.

Wieder ostwärts, auch diesmal, statt nach Westen! Seit der weiße Kult von Horus Besitz ergriffen, war es schier zum Staunen, wie Hindernisse förmlich aus dem Nirgends her sich niederschlugen wider seinen Wunsch. Nicht von Menschen kommend. Warum auch? Wo alles ihm so wohl wollte — insonderheit seiner Mutter keine Mühe je zu groß, kein Preis zu hoch erschienen, galt es etwa Beschaffung eines neuen Instruments für ihn aus Glasgow, aus Jena. Wie edler, körperhafter Gruß der weißen Rasse, war jedes durch das Medium ihrer großen Liebe in seine ehrfürchtigen Hände überliefert worden. Nun aber, als Schüler von Erasmus längst entlassen, als Mitarbeiter — Ebenbürtiger, fühlte auch er sich würdig, nach dieser weisen, planvoll steigernden Gewöhnung, die Klarheit solch einer ganzen Welt zu atmen.

Stillschweigend schien all das ja längst geordnet — beschlossen. Einmal aber hatten technische Verbesserungen am Graphitwerk: seine Erfindung, die halbe Regenzeit verschlungen — andre Jahreszeiten kamen wegen der wichtigen Kopra- und Teeernte nicht in Betracht — dann wieder war unbegreiflicherweise fast in letzter Stunde ein schwerer Schraubendefekt an der Jacht entstanden. Jetzt diese Einladung Lis!

Gargi hatten die Tänze der Königsfrauen erst nach Siam gezogen: zartschultriger Kult perverser Cherubim mit Schlangen und Ranken. Die äußern Behelfe: Stachelhelm, rieselnde Schnüre, irre klirrendes Metall, von Silberflöten durchküßt, wurden ihr Gastgeschenk. Dann verließen sie das Land der grünlichen Frauenblüten; nicht zum wenigsten bereichert um je ein Pärchen Tempel- und Palastkatzen: den zweierlei siamesischen Spielarten; silberbraun beide mit saphirblauen Augen, Tiere, die sich halten wie ägyptische Götter und einfach sind wie ein ganz großes Kunstwerk.

Wie immer auf Diana Elchos Reisen, wurden alle Hafenstädte gemieden, in denen ein entraßtes Esperanto des Vordergrundlebens den Lack hätte zerkreischen können um diese Porzellan- und Seidenwelt. In entlegener Bucht warf die Jacht Anker. Riksha-Kulis, Reit- und Tragtiere geleiteten die bald Vertrauten in das schwerfällig-milde Reich des Mitten-Innestehens, und seines Herzens Spruch!

„Mach süß ihre Speise

Und schön ihre Kleidung,

Freundlich ihre Wohnung

Und fröhlich ihre Sitten.“

Gern als Gäste in Häusern, die Lis Empfehlungsbriefe auf langen Seidenblättern ihnen öffneten, lernten sie die Verschlingungen des treuherzigen Drachens: Höflichkeit. Er sperrt sein Maul auf, und die Zeit fällt hinein — gar nicht abzusehen, bis wohin.

So übten sie die Zeremonie des Reichens und Empfangens — Kult des Grußes, des Dankes und des Abschieds. Versuchten sich auch bald in den Lauten der großgewordnen Herzenssprache: glattgeschliffene Jade- und Onyxkugeln rollen lose ihre Silben, jede eine runde Anschauung: größten Inhalts, bei geringster Oberfläche; ebenso reibungslos gegen einander verschiebbar und sich verschiebend, wie die wimmelnden blauen Menschen selbst, von deren Lippen sie fallen. Daß diese Menschen glattrasiert an Körper und Köpfen sind, bis in Nase und Ohren hinein, scheint irgendwie auch seelisch keinerlei Widerborstigkeit aufkommen zu lassen. Gibt ihnen etwas Keglig-Spiegelndes, läßt eben noch freies Durcheinandergleiten zu. Stellte dagegen einer dem andern ein Bein, würde irgendwo etwas verfahren, verspreizt, verquert — China müßte sofort zu einem kompakten Leuteblock verfilzen. So aber gleitet das fast haßlos umeinander, in starken Bahnen einer Zivilisation der Übervölkerung:

„Sie scheint nur zwei Imperative zu kennen“ — meinte eines Tages Diana Elcho — „diskret sein und ausweichen. Dieses verbürgt ein friedlich wechselndes Geschehen überhaupt. Wichtiger aber scheint mir jenes: Diskretion allein garantiert da dem Einzelnen die unerläßliche Einsamkeit, muß wenigstens versuchen, ihm Ersatz zu sein für kostbare Raumtiefe, gefressen von der Art.“

Noch nie hatte Horus so ein Gewimmel gesehen. Menschen, wie sie im fließenden Wasser warmer Quellen schliefen, einen Stein als Kissen unter dem Kopf, einen zweiten auf dem Bauch, um nicht bewußtlos ins Tiefe gespült zu werden; Menschen, die nicht wagten, mit ihren schlafenden Leibern Erde brachzulegen, auf der Reis wachsen konnte.

Hatte beobachtet, wie im Morgengrauen unbegreiflich arme Menschen aus Kanälen herausgekrochen waren, rotblinzelnd ins Licht, eine halbzerkaute Ratte zwischen den Zähnen. Die gleichen rattenblutigen Lippen aber klangen bald von einem reinen, kindlich frohen, überaus gepflegten Gruß, weil auch sie von dem duftenden Geist des Li-tai-po und Thu-fu geschmeckt hatten und skandierend seine edlen Maße über regengelbe Ströme hinsangen, wo halbnackte, vor Kälte zitternde Kulis, den kupfernen Fahrlohn ins Ohr geklemmt, Antwort gaben in Perlmutterworten sehnsüchtiger Kaiserinnen, wenn sie Fächerdüfte dem Sohn des Himmels in den Thronsaal senden. —

Und immer noch schossen Melonenköpfchen in allen Größen — blanke Mausaugen drin — in die kargen Spatien zwischen den sanften Großen — ihre Mühsal zu mehren — die Welt zuzuleben, alle Natur in sprossende Chinesen umzusetzen. Horus hätte abwinken mögen: „Schon gut — genug. Dem Ahnenkult ein einziger Sohn.“ Warum übte diese sinnenreiche Rasse, im Sexuellen vielerfahren, nicht, was primitiven Stämmen Afrikas weder Geheimnis noch Problem? Warum speiste nicht auch hier das lebendige Wasser im uralten Zier- und Wundergarten des Geschlechts samenlose Feuerlilien, die seinen Strahl zu glühendem Duft verbrennen?

Doch eines Abends unterlag auch er dem Charme der Paganinis: der Kinder.

Tief im Innern des „südlichen Blütenlandes“ war ein Fest: Teebuden, Bücherstände, Shuo-Shu-Tis: Geschichtenerzähler. Massen stauten sich, Sandalenklappern verstummte, Feuerwerk begann. Horus überragte fast um Kopfeshöhe die kürzeren Südchinesen. Da stahlen sich geräuschlos von Frauenhüften, Männerhänden, eins nach dem andern kleine Wesen, schlossen um den Fremden lautlos einen Kreis. Berührten ihn nicht. Belästigten ihn in keiner Weise. Die Mündchen, klein wie Knopflöcher, blieben geschlossen. Doch eine freundlich unentrinnbare Suggestion ging von dem Babykranz aus: etwas, weit zwingender, weil taktvoller als Worte. Etwas, das unmittelbar zeigte, wie dunkel und ganz zugemauert von Hosen es da unten bei einem selbst war, während um den Kopf des älteren Bruders oben Feuerräder schnurrten, Leuchtkugeln ihm nur so aus beiden Ohren spritzten: violett aus dem linken — golden aus dem rechten; Preis dem großen älteren Bruder.

Der ältere Bruder hielt sich wacker, nach eigner Wertung erstaunlich gut sogar. Dann mit eins zog es ihn — Gegner oder nicht Gegner der Übervölkerung — zu seinem heiteren Erstaunen tief herab, wie man zu einem zärtlichen Kätzchen sich niederbeugen muß, und er hob den kürzesten dieser komischen Kegel sich auf den Kopf, einen zweiten auf die rechte Schulter, einen dritten auf den rechten Arm. Freiwillig trat der erste — nach einigen Minuten Höhenrausch — den Abstieg vom Gipfelkopf, diesmal über linke Schulter und Hüfte an, damit andre von rechts nachrücken könnten. Und es begann ein Continuum von Paganinis pyramidenförmig über den großen Bruder hinzuziehen. Eirunde, immer wechselnde Köpfchen säumten ihm den Kontur. Eine Bergprozession gelblicher Lampions, jeder mit zwei schwarzen Lichtern drin und einem Knopfloch. Das krönende Paganini oben aber hielt stets die seidenglatten Beinchen so, daß dem gastfreundlichen Kopf ja nichts von dem großen Funkel im Himmel verdeckt würde; sah auch manchmal selbst nach dem Rechten, umspannte das fremde Lotosgesicht mit seinen kleinen Händen, um es besonders grünen unter den stürzenden Leuchtkugeln zart entlang zu führen.

Eine Art gedämpfter Vertraulichkeit begann sich aus der ganzen Situation zu entwickeln. Aus Knopflöchern hüpften Kugelsilben, um vieles heller, komischerweise um die Hälfte kleiner als bei Erwachsenen, doch herübergelebt aus gleicher Höflichkeit des Herzens. Liebes und Tiefes: weltgültiger Anstand in der Freiheit stand um diese Babypyramide wie ein junges, bezauberndes Fluidum. Versuchten die Frauen später aus ihm herauszuschmeicheln, was die Kleinen zu dem großen Kopf gesprochen, wurde er nur ausgelassen, spitzbübisch und unbändig heiter; schwur, einzig Rama-Krishna — weil er so schon alles wisse — dürfe auch das noch erfahren.

 

Sprache, Schriftzeichen, Schmuck: zu diesen dreien vermochte Horus vom ersten Tag ehrfürchtig das große Du zu sagen. Nicht daß er an Bauten, Bronzen, Keramik deren Echtheit verkannt hätte, ihren Anspruch auf Stil — das ist: die Dinge aus ihrem Herzen heraus mit neuen Namen nennen.

Doch seelisch an den Pythagoräern, geistig an Newton und Lagrange, optisch am Haus Elcho erzogen, sah er in jeder planlosen Weitschweifigkeit, Gewölle von Zufall an den Dingen mit Recht einen Mangel an kritischem Ideal: jenem, so heiß, so ernst vor Leben, daß es nicht Ruhe finden kann, bis auch der letzte Gegenstand, den es erschafft, zu einer neuen Reduktion der ganzen Welt auf wenige, gerade für ihn entscheidende Linien und Flächen geworden. So war er es gewohnt: jeden Türgriff, jede Sohlbank, jeden Leuchtkörper werten zu dürfen mit der Härte ganz großer Liebe — von heimlicher Surrogatempfindung frei, in jubelnder Sicherheit restlos beglückt zu bleiben. Bis zu den kritischen Spaziergängen mit Erasmus in der Pettah hatte er all das unbewußt in seinen wachsenden Organismus aufgenommen, an solchem Maß natürlich sich geformt. Von da ab genoß er seinen Wohnleib auch geistig, wie etwan ein Mensch durch anatomisches Studium seinen Körper ein zweites Mal zum Geschenk erhält.

Am besten besprachen solche Dinge sich immer mit Lady Diana. Beider Wesenskerne waren so verwandt, und doch lag, durch Altersunterschied, auch wieder genug schöpferische Zeit zwischen ihnen, daß sie hoffen durften, fast aus jeder Diskussion irgendwie belebt hervorzugehen. Hat es doch stets nur Sinn und Zweck, mit jemandem, der gleicher Ansicht ist, zu diskutieren; auch da ergeben sich antagonistischer Kanten noch übergenug, aus ihnen lebendige Funken zu schlagen. Polemiken aber aus unharmonischer Empfindung heraus oder gar verschiedener Unterscheidungskraft für Echtheit degenerieren, werden bitter, lang und steril.

Er resümierte: „Chinesische Gegenstände sind mir zu geschwätzig. Dinge des Gebrauchs haben nur gefragt und in ihrer Fachsprache zu antworten. Da ruhe ich in einem Kissennest. Nicht daß es vom „ruhen machen“ nichts verstände, aber statt vollauf damit beschäftigt zu sein, mir das Sitzen zum Nirvana zu machen, erzählt so ein Polster nebenher meiner rechten Schulter eine lange Geschichte in Blau und Gelb von einem Fuchsdämon und einer Drachentochter; mag ich dazu aufgelegt sein oder nicht. Schon um acht Uhr früh. Schon beim Frühstück. Form ist hier oft nur versteinerte Laune und Schöpfung: phantastisch-träges Hinzufügen.“

„Weglassen ist aber auch noch nicht Vollendung,“ meinte Diana Elcho, „da hat Erasmus recht. Das wäre leere Einfachheit, nicht jene aus verdichtetem Leben, deren Anblick allein, wie mir scheinen will, Beruhigung im Endgültigen gibt. Es ist, als habe diese schwierige Schlichtheit etwas von den ewigen Ideen auf sich herabzuzwingen vermocht, weil sie erst einmal unbeirrbar, phrasenlos und rein den Zweck zum Grund sich gab. Der war ihr Fundament: Isolator gegen schlammige Saloppheit — versandetes Ohngefähr. Erst auf dieses reinliche Piedestal kann ein Geheimnisvolles, das wir ‚Schönheit‘ nennen, sich dann senken.“

Li-Hung-Tschangs großes, glattes Gesicht hatte höflich aufmerksam zugehört. Nun ließ er — in graue Seide gehüllt, mit Mandarinenketten umschnürt — zwei gewölbte Bronzegefäße aus der T’ang-Dynastie hereintragen, Lady Elcho zum Geschenk.

Sie zitterte vor Freude. Etwas von der Leere des tönenden Erzes aus der neunten Symphonie war an ihnen. Einem schauend Entrückten mochte scheinen, als könnten hier — nur hier — aus dem dunklen Adel dieser Mulden die tauben, unfaßbar außerweltlichen Nebengeräusche des ersten Satzes fahl heraufgezuckt sein, aus einem verhangenen Drüben.

Horus war hingerissen wie nur vor den wenigen Sienit- und Liparit-Gefäßen der Pyramidenkönige, deren Abbilder er kannte. Nun erst fiel ihm auf, wie sehr der großartige alte Chinesenkopf vor ihm eigentlich selbst dem eines Pharao glich. Dasselbe flächenhafte Lächeln, breitabrollend von dem Monolithgesicht. Einfach wie ein Dioritgott saß er da, flache Hände auf den Knien, freute sich der Freude seiner Gäste.

„Heute abend wird er mir die Hand reichen,“ dachte Horus.

Es war einer der sichern, täglich wiederkehrenden Genüsse, die fernrassige große Hand ebenbürtig auf die seine zukommen zu sehen, nach europäischer Sitte, Horus zu Ehren, — Lis Finger zu spüren und die übertriebene Wölbung seiner vollkommen geschliffenen Nägel mit den halbkreisförmig gezüchteten Perlmuttermonden, deren Bett das ungebrochene weiße Häutchen elastisch, losgelöst und rein umlief.

Dieser sichern, täglich wiederkehrenden Genüsse aber gab es noch mehr. Zur Stunde der Krähe klangen jenseits der Kamelbuckelbrücke, im Pavillon aus Flötenholz und aus Lasur, des Vorhangs gläserne Falten auseinander, und Lis jüngste Nebenfrau erschien, für ihn und die Gäste den Tee zu bereiten.

Hieß Jü-Chuan: „geflügelte Perle“. War erst vor wenigen Monaten an die Stelle einer Dame getreten, die Li mit unerbittlicher Höflichkeit zurückgeschickt, weil sie nicht nur absichtlich den Tee verdorben, sondern — es waren seine eignen Worte —: „ihn behandelt hatte, als wäre er der Schwanz des Hauses statt sein Kopf“. Die Teebereitung ging stets mit dem ganzen Zeremoniell der Meister aus der Sung-Schule vor sich. „Geflügelte Perle“ brachte in den Pavillon eine Privatregion mit, in der nichts zu Boden fallen konnte, das Menschenohr geborgen war vor Scherben und Gekreisch. Ein Zaubervogel mit wohlfrisiertem Damenkopf in Perlengehängen, schlüpfte sie, zutraulich getragen durch ein Dickicht von Hin und Her, machte sich schmal wie eine Meise oder spannte auf einmal feierliche Flügel im Teeduft; erfüllte den Raum mit Wehen und Weiche.

Sprach die Vogelfee, fielen aus ihrer Kehle Silben als Regen von Pfirsichblütenblättern — jedes mit einem Jaspistropfen beschwert — in Herzen hinein. An sie wandte sich stets der Hausherr, kam die Rede auf Dichter und Philosophen, und mit kleinen flächenhaften Bewegungen, ohne je aus unsichtbarem Rahmen zu treten, begleitete sie dann ihre Worte, den zitronenblassen Kopf ein wenig schief. Wenn aber die heiße Blume vollendet vor jedem in einem Doppeltäßchen stand, jeder, die blaulazurnen Ränder gegen einander verschiebend, aus dem Spalt den ersten Schluck getan, verbeugte sich die Vogelfee dreimal, sank in sich selbst nieder, wie in ein Nest von Seide, und sang.

Ließ dabei überaus vorsichtig von den Libellenflügeln ihrer Nägel zehn Goldhülsen gleiten — barg sie in der Schale von Prasem. Nun erst begann mit geblähter Kehle in ihrem Arm ein dickes braunes Instrument zu singen wie ein Nachtigallenmännchen. Eine Grille — ihr winziger Bambuskäfig hing an einer Scharlachschnur in den Nebel von Teeduft — geigte mit. Überzüchtete Tiere, pagodenhaft hochgestellte Fische mit goldenen Krötengesichtern zogen indeß lange rote Fäden hinter sich durch Wasser, das sich kuglig aus dem Kristall der Schalen bog, mündeten, naiv und weise lasterhaft, irgendwo wieder in den Dienst des Geschlechts.

Menschenhäupter und Träume aber schwebten über den ruhenden Körpern in einer zweiten, verklärten Heimatwolke, gewoben aus dem Arom von Quitten, Opium, Sandelholz und Ingwer.

Immer häufiger baute die Vogelfee ihr Seidennest inmitten des fremden jungen Paares. Als die Zeit der Abreise gekommen war, hatte Li seine Ehe bereits in aller Ruhe gelöst, und Jü-Chuan war, nach Erfüllung der Bräuche, Horus Elchos legitime Nebenfrau geworden. Aus einer weiten Milde her waren nur wenige, wohltuend menschliche Verständigungen zwischen den Beteiligten getauscht worden. Dieser große chinesische Herr war Verschwender in allem Glanz des Menschentums, doch sparsam an überflüssigem Weh.

„Meine Ärmel wären mir nicht mehr getrocknet in meinem Leid, hätte das erhabene Lotosgesicht das südliche Blütenland verlassen ohne Jü-Chuan,“ sagte die Vogelfee zu ihrem neuen Gatten.

Er war erregt in seiner tiefsten Lebensneugierde. Beugte sich gerührt zu der lieblichen Form, die ihm die Essenz des Seltsamen der großen Rasse bieten wollte, — so berauschend fremd von einem Liebeswirbel ihm in den Schoß geflogen kam, mit kleinen Zügen, eingeritzt in die Schale eines Taubeneis, nur mit hellen Wimpern zu bestreicheln.

„Bangt dir nicht, mit einem Fremden so in die Ferne zu gehen, seidnes Wesen? Was weißt du denn von mir?“

Ihr ganzer junger Körper war sanftes Erstaunen. Vor Erstaunen fielen die Schleppen ihrer Ärmel in Trichtern zurück von Vorderarmen: rund und durchsichtig, als wären es Röhrenknöchelchen ganz leichter Vögel.

„Da mein älterer Bruder schön, klug und gebildet ist, wie sollte er da nicht auch gütig, gerecht und vertrauenswürdig sein? — Jü-Chuans Dank —“ sie wurde ernst und bebte ein wenig; dann mit geheimnisvoll wollüstiger Verwöhntheit ohnegleichen:

„Ich will meinen älteren Bruder das ‚Geheimnis des Fußes‘ lehren und meine ältere Schwester ‚das Geheimnis der Blume Lan‘.“

 

So kam „geflügelte Perle“ in das Haus der Elchos.

Wie jede chinesische Dame mit Dichtern und Philosophen aus drei Jahrtausenden ihrer Rasse blutvertraut, zeigte sie sich beglückt, all diese in der Bibliothek des neuen Heims wieder zu finden. Neben Übersetzungen auch in der Ursprache.

Horus und Gargi kannten nur erstere. Sie baten:

„Lehr’ uns die Kugelsprache. Doch nicht nur die hölzernen der Kulis, auch die aus Onyx und Elfenbein reihe auf für uns.“

Nun hob Jü-Chuans Vogelkehle aus jeder Silbe den inneren Lautwert, bestimmt, die Schwebungen des Herzens aufzufangen, und aus der Tusche ihres Pinsels kroch über Seide zugleich wie ein Geschöpf das Schriftbild aus, halb Raupe halb Kristall, in breiten Kurven, doch unsichtbar umeckt von solch konziser Kraft, daß sich das Leere rundum an ihm kantig stößt und wie ein Würfel steht. Nicht Urnen, Dämonen und Drachen, Chinas Plastik ist die Schrift. Erst Bild und Klang, verzweigt mit Rhythmus und Grammatik, faßt diese Sprache ganz; man muß sie sehen, um sie ganz zu hören, weil in ihr alle Künste sind und Geist geworden.

Wenn solchermaßen die seidne Vogelfee aufflog in einen tönenden Märchenbaum und aus der Krone seiner Weisheit sang, dann, nicht wie ein Gatte und Liebender nur, gern wie ein Schüler auch, wie ein Vater und Bruder, empfand Horus zu ihr.

Überaus leicht faßlich erschien Jü-Chuan, an chinesischem Maß gemessen, was die beiden andern als Tausch und Dank zu bieten hatten, doch etwas primitiv, um nicht zu sagen tölpicht auch. Nur die Chöre der griechischen Tragiker fanden Gunst vor ihrem winzigen Ohr, das als Quittenblüte am Lack der Haare saß. Nur hier war das Biegsame, das, zart und aderreich wie Geist, in unirdischen Lungen flutet, rot von Leben und stark nach Gesetz.

Gern verglichen sie die „Religion des guten Bürgers“ oder das „Tao“ mit Gotama Buddhas achtfachem Pfad und dem Vedanta.

Hier gab Jü-Chuan meist neidlos zu, daß „Sanskrita“ mit Recht „die Vollendete“ heiße, denn wo andre Zungen immer nur wieder hilflos das Wort „Seele“ vor sich hin zu stammeln vermögen, steigt hier aus tieferer Versunkenheit die Fülle.

„Es ist an dem,“ meinte Horus, „daß die Inder sich als eine lebendige Siebenfaltigkeit zu empfinden gelernt haben, an der jede Stufe fast kontinuierlich in die andre überleitet, wenn auch nur Ahnungen zu ihren drei letzten führen, mehr als Richtlinien, in denen die innere Entwicklung zu gehen hat.

Außen und zuerst ist nur ein aus Nahrung bestehendes Selbst. In diesem steckt wie in einer Kapsel das „Odemartige“, in diesem das Emotionelle: Liebe und Haß erzeugende, dann das manas- oder erkenntnisartige Selbst. In diesem endlich als Innerstes die drei Stufen des wonneartigen Selbst, von dem es heißt: „Fürwahr, dies ist die Essenz. Denn wer die Essenz erlangt hat, den erfüllet Wonne. Wer möchte atmen und wer leben, wenn in dem Weltenraum nicht diese Wonne wäre. Denn wann einer in diesem Unsichtbaren, Unkörperlichen, Unaussprechlichen, Unergründlichen den Standort findet, dann ist er zum Frieden eingegangen. Wenn er hingegen in ihm — wie in den vier ersten noch eine Höhlung — ein andres annimmt, dann hat er den Unfrieden. Es ist der Unfriede, der sich weise dünkt.“

„Ist dieses ‚wonneartige Selbst‘ ein Teil der Weltseele?“

Er stand auf, nahm ein Buch. Oft gebraucht, schlug es an rechter Stelle auseinander.

„Nein, geflügelte Perle, es heißt, das Innerste jedes Menschen sei nicht eine Emanation, ein Teil des ‚Brahman‘: der Weltseele, sondern voll und ganz dieses selbst. Wer das erkannt hat, für den gibt es weder mehr eine Wanderung der Seele, noch eine Erlösung. Er ist schon erlöst, wenn Erlöstsein bedeutet: Befreiung von der Notwendigkeit des Wahns, immer und immer wieder zu sterben.“ Und er las weiter: „Das Fortbestehen der Welt und des eignen Leibes erscheint ihm nur noch als eine Illusion, deren Schein er nicht heben, die ihn aber auch nicht weiter täuschen kann ...“

Des Lesenden Stimme wurde tief und ganz ruhig: „... bis nach Dahinfallen des Leibes er nicht wie die andern auszieht, sondern bleibt, wo er ist, was er ist und ewig war: das gestaltlose Prinzip alles Gestalteten, das seiner Natur nach ewige, reine, freie Brahman.“

„Dann haben eure Saddhus und Büßer,“ meinte Jü-Chuan, „wiewohl sie Beherrscher innerer Kräfte zu sein vorgeben, das ‚wonneartige‘ Selbst noch nicht gefunden, denn die Sage geht, ‚sie strebten ihren Leib zu vertausendfachen, um in den einen Gestalten die Sinnendinge zu genießen und zugleich in den andern ungeheuern Kasteiungen obzuliegen‘?“

„Gewiß, der Jogi erstrebt das ‚tat twam asi‘: das bist du, die Befreiung vom Kerker des Ich, nicht in der Essenz, sondern noch in der äußern Illusion. Dieses Ringen der Meisterasketen mit den Göttern um Macht, daß Vismavitra droht, einen neuen Indra zu schaffen, es spielt sich alles noch im Schein ab. Sich vertausendfachend, will der Jogi das ganze Weltgespinst der Maja zugleich sein, leiden und genießen, alle Dus in seinem Ich vereinen. Versucht auch den schmerzlichen Druck jener Kette, die Karma heißt, dadurch zu verteilen.“

„Was ist Karma?“

„Von jedem Geschöpf sei wohl anzunehmen, meint hier der Vedanta, daß es in einem früheren Dasein viele Werke angehäuft habe, die zu erwünschten und unerwünschten Früchten gereift. Der ganzen Welt Geschehen in jedem Augenblick sind eben diese Früchte. Das ist Karma. Da nun der Jogi in die machtvoll erweiterte Schale seines Ich die Herben und die Süßen vieler Leben zugleich preßt, stumpft er mit der Süße der einen bittres Gift der andern, das sonst vielleicht unvermischt auf ein blindes, kleines Einzelleben gefallen wäre und es ganz zerfressen hätte, wie ein Tropfen Säure eine Ameise. ‚Joga‘ scheint mir in manchem ein mystisches Dju-Djuzu: Jongleur-Trick, sich den karmischen Druck zu erleichtern. Vom wahren Wissen aber steht: ‚es verbrennt die Werke und den Samen der Werke‘.“

„Welches sind die Vorbedingungen für das Studium des Vedanta?“

Etwas befremdet sah er sie an: „Natürlich die gleichen wie beim ‚Tao‘ eures Lao-Tsu, oder dem achtfachen Pfad des Gotama Buddha: Verzicht auf Genuß des Lohnes hier und im Jenseits.“

Sie schwiegen. Dann bekam er sein glitzerndes, ganz junges Spitzbubengesicht. Neigte sich zur winzigen Quittenblüte im Lack:

„Die geflügelte Perle möchte nichts übereilen. Erst wer sich völlig ausgeliebt — ausgehaßt, ausgeglaubt — ausgezweifelt, kann den Weg des Vedanta beschreiten.“ — Dann mit einem fast väterlichen Wohlmeinen: „den Morgen seiner Inkarnationen genießen, dann als Grihasdha das Amt der Generation auf sich nehmen, erst das letzte Drittel des Lebens dem eignen ‚Brahman‘ weihen: mit Mantel und Schale in den Wald gehen, ein golden Geschlechtsloser, vollkommen Erwachter, Leidverlöschter. So befiehlt der Vedanta.“

„Befiehlt?“ — Aus dem Lotossitz, in dem sie wie ein zarter Buddha gekauert, erhob sich Gargi, die Hände im Schoß. Erhob sich aus sich selbst, wie ein wachsender Halm. Stand vor ihm. Sie hatte manchmal eine Art, vor Menschen zu stehen, das Haupt zu neigen oder ein klein wenig zu schütteln, wenn sie nicht ganz einverstanden war, mit geschlossenen Lidern, die lächelten. Um das zu sehen, widersprach er ihr bisweilen.

„Der Vedanta befiehlt nie, er belehrt nur.“ Sie zögerte. „Seine Worte sind wohl viel zu groß für meinen Mund, doch möchte ich ihren Sinn nicht meinem kleinen Zufallsausdruck überliefert sehen. Ich glaube, es heißt dort: ‚Der Vedanta befiehlt nicht, er belehrt nur: ähnlich wie bei Belehrung über eine Sache dadurch, daß man sie dem Auge nahebringt. Darum werden alle Imperative, auf die Erkenntnis des Brahman angewendet, ebenso stumpf wie ein Messer, mit dem man Steine schneiden will. Denn das ist unser Schmuck und Stolz, daß nach Erkenntnis des Brahman alles Tun-Sollen aufhört, sowie alles Getan-Haben‘.

Wer in sein wahres Selbst einziehen will: das Seiende, Unzerstörbare, muß seine guten und bösen Taten draußen lassen.“

„Seine guten und bösen Taten draußen lassen, wie schön. Meine ältere Schwester soll weiter sprechen,“ bat Jü-Chuan.

Und Gargi fuhr fort; so einfach, als kämen ihr eigne Worte, doch in jener unnachahmlichen Haltung wie zuvor.

„Weise und ohne Falsch und frei von Begier in dem Gewoge steht er als Schauender und ohne Zweiten, er, dessen Welt das Brahman ist.

Wahrlich, dieses große, ungeborne Selbst, das ist unter den Lebensorganen jener aus Erkenntnis bestehende selbstleuchtende Geist. Hier im Herzen inwendig ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls — der Gebieter des Weltalls — er wird nicht höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke; er ist der Herr des Weltalls, er ist der Gebieter der Wesen, er ist der Hüter der Wesen, er ist die Brücke, welche diese Welten auseinanderhält, daß sie nicht verfließen.

Wer solches weiß, den überwältigt beides nicht, ob er darum, weil er im Leibe war, das Böse getan hat, oder ob er das Gute getan hat.

Ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan hat.“

„Wie aber verbreitet sich das Gute in der Welt der Sinne: des Scheins, die doch seiner noch bedarf, haben die Erleuchteten es längst vergessen?“ frug Jü-Chuan.

„Dadurch, daß sie sind. Wie beim Mangobaum, den man der Früchte wegen pflanzt, Schatten und Wohlgeruch daneben herauskommen, so kommen bei Entfaltung der Seele die nützlichen Zwecke in der Körperwelt daneben heraus.“

 

Die jungen Frauen hatten die Bibliothek verlassen. Horus zögerte noch. Ihn drängte, ein paar Bücher an ihren Ort zurückzustellen. Wie barbarisch abgehackte kleine Glieder kamen sie ihm vor, so quer und verloren hingestreut, und der lebendige Leib der Wand verstümmelt ohne sie.

Wie er so lieb mit ihnen hantierte, über das Korn des Leders, die braunen Rücken, gewölbt vor Klugheit, strich: getastetes Plaudern, bis jedes wieder in seinem Häuschen stand, fiel ihm von ohngefähr an entlegener Stelle ein unbekanntes Buch in die Hände. Verwunderlich schien das keineswegs. Erasmusens und seiner Mutter Interessen waren zahlreich und verschieden genug, um ihn selbst noch kaum berührt zu haben. Er öffnete es eigentlich auch nur, weil es so schwarz, dick und auf dem Rücken ohne Titel war. Durchblätterte mechanisch lange, dünne, engbedruckte Seiten. Erstaunlich bösartige, ja flegelhafte Sentenzen stießen allerorten wie unsaubre Fäuste nach ihm: „Der Herr wird dich schlagen mit Feigwarzen, mit Grind und Krätze, daß du nicht kannst heil werden.“

Er staunte: „Ich weiß zwar nicht, was Feigwarzen sind, aber es wird schon danach sein.“

„Der Herr wird dir die Pestilenz ...“ nein, weiter —

„Der Herr wird dich schlagen mit Darre, Fieber, Hitze, Brand, Dürre, hitziger Luft und Gelbsucht und wird dich verfolgen, bis er dich umbringe ...“

Instinktiv hielt er das Buch weiter von sich ab, als zum Lesen unbedingt erforderlich.

„Verflucht wird sein die Frucht deines Leibes, die Frucht deines Rindes, die Frucht deiner Schafe verflucht ...“ Eine ganze Seite lang. Aber wozu der ganze Gallenerguß? — „Der Herr wird unter dich senden Unfall, Unruhe, Unglück, bis du vertilget werdest und bald untergehest, um deines bösen Wesens willen und daß du mich verlassen hast.“ —

Ja, hörte denn dieses offenbar senile Keifen nicht mehr auf? Wer war überhaupt dieser dubiose „Herr?“

„Und des Herrn Zorn ergrimmte zur selbigen Zeit, und er schwur und sprach: ‚... ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott‘.“

Wie? — Ein Gott? — Mit schlechten Manieren, der fluchte — bad language gebrauchte? — Es gab also einmal irgendwo eine Barbarenhorde, die sich ihren Gott so vorgestellt? — Wie aber war es denn, wenn sie ihn nicht „verließen“, ihm „folgten“? Das mußte doch auch bisweilen vorkommen. Er suchte und fand. Nun ward es ethisch aber noch bedeutend anrüchiger:

„Wenn dich der Herr, dein Gott, bringen wird in das Land und geschworen hat, dir zu geben: große und feine Städte, die du nicht gebauet und Häuser alles Guten voll, die du nicht gefüllet hast, und ausgehauene Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinberge und Ölberge, die du nicht gepflanzt hast ...“

„Ah — da staun’ ich,“ dachte Horus belustigt.

„Und sie führeten das Heer wie der ‚Herr‘ geboten und erwürgeten alles, was männlich war. Dazu die Könige der Midianiter erwürgeten sie samt ihren Erschlagenen und nahmen gefangen die Weiber der Midianiter und ihre Kinder. All ihr Vieh, all ihre Habe, all ihre Güter raubeten sie und verbrannten ihre Städte, all ihrer Wohnung und alle Zeltdörfer. Und nahmen allen Raub und alles, was zu nehmen war: Mensch und Vieh. Darum bringen wir dem ‚Herrn‘ Geschenke, was ein jeglicher gefunden hat an goldnem Gerät, Spangen, Ohrringen ... Denn die Kriegsleute hatten geraubet ein jeglicher für sich ... und brachten’s zur Hütte des Stiftes zum Gedächtnis ... vor dem ‚Herrn‘.“

So?

Völker aber, die ihre schönen Städte selber bauen konnten, belegte diese kleine Zuchthäusler-Tribus regelmäßig in wegwerfender Weise mit einer Art verächtlichem Sammelnamen: „Heiden“. — Horus amüsierte sich. Also dann waren Con-fu-tse, Pythagoras, Buddha alles „Heiden“, von denen es da hieß: „Also sollt ihr an ihnen tun: Ihre Altäre sollt ihr zerreißen, ihre Säulen zerbrechen, ihre Haine abhauen ...“

Welch gewalttätige Borniertheit, Anmaßung, Bosheit und Intoleranz!

Gelegentlich schien der „Herr“ wieder eitel einen guten Eindruck auf diese „Heiden“ zu machen. Als er — zum wievielten Mal, war nicht ersichtlich — drohte, sein Volk um den versprochenen Länderraub endgültig zu prellen, überlistete ihn einer durch die Erwägung, es wäre doch blamabel vor den „Heiden“; die würden sich am Ende darob mokieren. Das leuchtete dem Gott ein. Horus las nur so mit den Blickspitzen, machte Stichproben. War denn hier keine Spur von Natursinn? Entzücken an edlen Tieren und der beseelten Landschaft? Darum diese dürre, klägliche Angst; das Sich-als-lebendige-Welle-fühlen, das fehlte eben. Nie wurde hier die Schönheit der Welt zum Gottesbeweis, immer nur Krätze oder wie hieß das andre? Richtig: Feigwarzen.

Da war ein auserwählter König: David. Von dem stand: „Er führete aus der Stadt sehr viel Raubes, und das Volk drinnen führete er heraus und zerteilete sie mit Sägen und eisernen Dreschwagen und Keilen.“ Als er später eine Volkszählung vornahm, schien das dem Gott aus rätselhaften Gründen nicht recht, wiewohl er selbst dergleichen doch wiederholt selbst anbefohlen. Zur ‚Strafe‘ sollte nun der König wählen: Teuerung, Flucht vor dem Schwert seiner Feinde oder Pestilenz im Volk.

Traun, er möchte gehorsamst um Pestilenz für sein Volk gebeten haben. „Da ließ der ‚Herr‘ Pestilenz in Israel kommen, daß siebenzigtausend Mann fielen.“ — Völlig Unschuldige also, an der Sache Unbeteiligte. Gleich darauf sahen Gott wie König auch ein, das Ganze habe keinen rechten Sinn gehabt. Über den Mord an den siebenzigtausend regte sich aber keiner der beiden weiter auf.

Da ekelte es Horus zwar, aber lachen mußte er doch.

Gegen Ende des Buches machten die Leute einen ziemlich reduzierten Eindruck. Ein einziger kleiner Anführer schien ausschließlich das Wort zu haben. Auch die Diktion hatte sich erheblich vermindert, die alte Barbarei, doch quasi um ein Stockwerk tiefer. Kleineres Keifen hub an:

„Und des Menschen Sohn wird seine Engel senden und die Bösen von den Gerechten scheiden und werden sie in den Feuerofen werfen, da wird sein Heulen und Zähneklappern.“ — Dann wieder: „Ihr Schlangen und Ottergezücht, wie wollt ihr der ewigen Verdammnis entrinnen.“ — Ja, eigentlich wo immer man es aufschlug: „Wer aber ärgert einen dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäufet würde im Meer, wo es am tiefsten ist.“

Komisch. Der junge Mann behauptete von sich, er sei „sanftmütig und von Herzen demütig!“ — Dann umblätternd: „Und wird sagen zu denen zur Linken: gehet hin von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist den Teufeln und seinen Engeln ... und sie werden in die ewige Pein gehen, aber die Gerechten in das ewige Leben.“ — Er schlug ein paar Seiten zurück. Schon wieder: „Da wird sein Heulen und Zähneklappern.“ Jetzt zum fünften Mal. Er gähnte.

Ein Welterlöser, ein Gottessohn mit dem Leitmotiv: „Na wartet, ich werd’s dem Vater sagen!“ Eben immer noch die gleiche, schlechte Kinderstube. „Es scheint in der Familie zu liegen,“ dachte Horus.

„Wehe dir, Bethsaida. Wären solche Taten zu Tyrus und Sidon geschehen, als bei euch, sie hätten vorzeiten im Sack und in der Asche Buße getan. Doch ich sage euch: es wird Tyrus und Sidon erträglicher gehen am Jüngsten Gerichte, denn euch ... und du, Kapernaum, die du bist erhoben an den Himmel, du wirst bis in die Hölle hinuntergestoßen werden ... Und wo euch jemand nicht annehmen wird ... so gehet heraus von demselben Hause oder Stadt ... wahrlich, ich sage euch, dem Land der Sodomer wird es erträglicher gehen am Jüngsten Gericht, denn solcher Stadt.“

Nicht annehmen — warum? Ja richtig: gerade vorhin hatten sich ja alle gesitteten Leute mit Recht beschwert, daß diese Rowdies sich nicht einmal vor dem Essen die Hände wuschen.

„Strafe — Verdammnis — Sühne — Sünde — ewige Pein.“ — Er griff sich an den Kopf. Dieser ganze pauvre-brutale Vorstellungskomplex war ihm bisher an Religionen gänzlich unbekannt. Als Symbol gewertet aber schien das alles ausschließlich dem Niveau kretinisierter Sechsjähriger angemessen, wobei noch sehr zu fragen war, ob nicht gerade Kindern solche Zuchthäuslersymbolik unter allen Umständen fernzuhalten wäre. „Steinzeitbarbaren eben.“ Das tröstete. Mitten inne diesem kindischen Gekeif stand ab und zu etwas wie ein Druckfehler: „Liebe“. Ja, wahrhaftig. Liebe wie Geifer vor dem Mund.

„Ich aber sage euch: liebet eure Feinde ... denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner?“

— — Also auch hier — selbst hier noch das ehrwürdige Wort! Alt und süß wie die Welt! Allen Söhnen der Sonne eingeboren mit dem ersten Hauch. Da stand es: Sturmbock in Vordersätzen — als Kontraimitation der Zöllner — oder gar prostituiert mit „Lohn? War das noch Liebe? Alles Warmblühende, Taumelnde, Sternenkühne dahin, als wäre das ewige Wort in einen Mülleimer gefallen, aus dem Bucklige mit schiefen Fingern einander damit bewürfen. Seine klare Keuschheit war irgendwie dahin, das von selbst Verständliche: somit Anmut — Weite — Würde. Selbstgefällig, aufgeblasen, mit Protzerei, ja Schadenfreude fletschte es seine Zähne, dieses: „Liebet eure Feinde“. Ausschließlich um strahlende Sieger zu belästigen, wie es schien: „So — jetzt habt ihr auch nichts davon.“ — Liebe als Antithese: aggressiv statt schöpferisch.

Louche,“ — fühlte er, „schlechthin louche.“ Und wie kam es, daß hier immer nur vom „Nächsten“ — vom „Feind“ als Objekt der Liebe die Rede war? Wo blieben Tiere als Ebenbürtige? Wo Blumen, Wellen, Sonnen? Wenn Erkenntnis das Ich aus seinen Rändern reißt ins grenzenlose Tat-twam-asi; wenn in die wogende Fläche des Geistes: den Träger der ganzen Erscheinungswelt, die Iche stürzen und sich erkennend zergehen: was soll da klein und futil herausgeeinzelt der „Nächste“, der „Feind“? Das Wort ist sinnlos geworden. Welche Präpotenz dieses kleinen Volkslehrers, dauernd so zu tun, als habe er die Liebe erfunden. Überdies: Kein Wort vermeidet doch ein Mensch von Feingefühl so sehr wie eben dieses. Er spricht es nicht — schweigt es aus. An ihm wird die Zunge ein dunkler Vorhang voll Scheu. Doch hieß es nicht irgendwo in einem grotesken Sprichwort: „Wer keinen Schnaps hat, spricht wenigstens von ihm.“

„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden.“

„Heiden“. Also immer noch die alte Arroganz aus Ignoranz. —

Nun, der Mann schien selbst nicht eben wenig zu sprechen. Da waren Dutzende der ermüdendsten Tautologien: Gleichnisse, unanschaulich aus dem ewigen Mangel an Natursinn, einige dezidiert verunglückt: „Das Himmelreich als das Größte unter dem Kohl ...“ — Auch eine Predigt war da: gegen die Bildung, wie es schien. Überhaupt komisch, diese Wut gegen alles Wohlgeratene; dieser Hang zur Kontraimitation mit gehässiger Tendenz: „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden. Viele werden die Letzten sein, die die Ersten sind, und die Ersten sein, die die Letzten sind.“ Keine schöpferische Idee. Nur aggressiv: „Ihr sollt nicht glauben, daß ich kommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht kommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert.“

„Und weiter sage ich euch: es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme.“

Was hatte denn Armut oder Reichtum: äußere Zustände mit dem mystischen Aufbrechen der Lotusse in den Ganglien zu tun? Diese allein durften doch das „Reich Gottes“ heißen, sofern es für Erwachsene Sinn haben sollte.

Doch genug. Noch immer peinlichen Befremdens voll, schob er das Buch an seinen alten Platz. Schloß dann die Augen — hob das Haupt zurück in die goldne Wolke des Vedanta:

„Hier im Herzen inwendig ist ein Raum, darin liegt er, der Herr des Weltalls, der Gebieter des Weltalls: er wird nicht höher durch gute Werke, er wird nicht geringer durch böse Werke. Denn das ist unser Schmuck und Stolz, daß nach Erkenntnis der Seele als Brahman alles Tun-Sollen aufhört, sowie alles Getan-Haben.“

„Wer in sein wahres Selbst einziehen will das ‚Seiende‘, Unzerstörbare, muß seine guten und bösen Taten draußen lassen.“

„Weise und ohne Falsch und frei von Begier in dem Gewoge, steht er als Schauender und ohne Zweiten, er, dessen Welt das Brahman ist.“

„Ihn brennet nicht, was er getan und nicht getan.“

Die lange Welle des großen Atems — wie so oft — ging wieder durch ihn, und rein, als etwas, das irdisch nur dem lebendigen Glockenbrausen in einem Bienenschwarme sich vergleicht: unantastbares, geflügeltes Glück aus Glocken und duftendem Gold.

Wusch die Hände. Während der Strahl über seine glänzenden Nägel sprühte, kam noch einmal unangenehm das Staunen zurück:

„Ethnographie in Ehren. Aber ist es denn wirklich nötig, den Privatfetischismus jeder kleinen Barbarenrotte, die je gelebt, zu registrieren und zu bewahren?“

Und dann vergaß er es. Denn er wollte mit den Frauen noch unter die Frühlingsgestirne in den Garten spielen gehen.

 

Vor dem letzten Rasthaus schwingen im Mondlicht die schlafenden Elefanten.

Durch den Silbernebel der vier ragenden Massen geht lautlos ein Riesenrhythmus lebendigen Traums. Schwereloses Schlingern und Rollen vor und zurück, die Tonnenflanken und das gehöckerte Haupt hinauf; von Kautschuksäulen elastisch aufgefangen — wieder rückgeleitet zu dem stillen Herzen, das voller Sanftmut mitten inne steht.

Jenseits der kleinen Lichtung schwingen noch leise die Luftwurzeln der Banjanbäume mit, aufgeweht vom Wind der Fächer-Ohren, wenn sie um die geschlossenen Augen streichen. Ewig wache Rüssel aber umtasten wie in leiser Orgiastik die silberne Schwerelosigkeit der Nacht. Da reckt Rama-Krishna den seinen weit — mit dem schönen Schwung eines weisenden Frauenarms. Steht still. Hat träumend die Herrin erfühlt. Und die zu Tragende erwartend, bricht er lautlos in ein mächtiges Knie — das andre zart gespreizt und vorgeneigter Schulter —: leichte Leiter für die leichte Last, die er so manche Tage nun schon über Land getragen; und endlich hier herauf die duftenden Terrassen bis unter den Gipfelkopf des heiligen Bergs.

Daß es jetzt zu steil würde für ihn, zu schmal für seinen Bauch, daß er und die andern Reitelefanten bei dem Mahaut mit dem Ankus zurückbleiben sollten, das konnte er nicht wissen, wiewohl er ein Weiser war unter den Weisen.

Gargi, die ihn so dienen — knien sah, schlang die Arme um seinen Hals, steckte ihm ein Lianensträußchen hinter den Ohrenfächer, ein langes Zuckerrohr aber in die ganz und gar dumme Säuglingslefze. —

Dankend schmeichelt die Rüsselspitze — wie eine Hand voll Geist — um ihre unbegreiflich edeln Arme. Ein Wink heißt Rama-Krishna sich in die Höhe richten, dann nimmt der Banjanschleier die Herrin auf; Luftwurzeln rinnen hinter der Diaphanen zusammen. Nur vom Zuckerrohr, dem saftsüßen, ist noch ein Stückchen da. Und wie es zergeht, zergeht auch die Persönlichkeit, an der die Welle des großen grauen Traums sich brach. Wieder einfallend in den Riesenrhythmus lebendigen Schlafes, schwingen im Mondlicht die vier wartenden Elefanten.

Zwischen drei Fackeln steht der Schikari Aditja. Zwei brodeln grün aufwärts in die Mangroven. Drunter hängt sein weißer Turban: eine phantastische Ampel im Schwarzen über schwebenden Elfenbeinäpfeln: den Augen. Der dritten schräggesenkter Schein beleckt einen Klumpen metallner Eheringe an den Wurzeln seiner ausdrucksvollen Zehen. Jeder Ring ein ineinandergeflochtenes winziges Paar: das Männchen Messing, das Weibchen Silber. Jedes eine neue Liebesverschlingung; alle von grandioser, übermenschlicher Unanständigkeit. Zwischen Turbanampel oben, Zehenringen unten ahnt man, als Schweifendes, den sehnigen Jägerkörper aus verdichteter Nacht.

Sie steigen ins Steile — jeder mit seiner Leuchte; der Schikari voraus auf trocken schmalen Sohlen, fegt Flammen ins obere Dunkel, aus dem, treibt Hunger sein Eingeweide, der Panther sich zuweilen auch auf Menschen niedertropfen läßt. In Pausen stößt aus Aditjas Kehle etwas wie gezischter Vogelschrei: verwildertes, gleichsam bewaldetes: heiii — — heiiiiii! Damit die Giftwesen unten rechtzeitig zur Seite schmelzen können, was durchaus in ihrem eignen Interesse gelegen ist. Denn wozu schwer nachzuschaffenden Betriebsstoff an Beute verschwenden, bei der ein so dickes Ende nachkommt, daß an gedeihliches Verdauen doch nicht zu denken ist. Kein realer Fond in der Unternehmung. Mit steigender Höhe wird der Boden härter, Aditjas „heiiii“ schütterer, bis es ganz erlischt.

Stille hängt — ein schwarzer Kessel — über den Dschungl gestülpt. Lautloses Schicksal geht suchend durch die Finsternis mit phosphoreszierenden Lichtern. Niemand schläft, niemand gibt Laut. Nur dumme Papageien dösen irgendwo oben vor sich hin. Manchmal ratscht ein Halbwüchsiger aus seinem Angsttraum eine Formel herunter, oder ein ganz Alter, der es an der Leber hat, versucht mit dem Nachbar unzeitgemäße Betrachtungen: dann ein Hacken Horn auf Horn. Und immer muß er recht behalten. Auch gegen die Wildkatze. Unten räumt man ihm schon den Bauch aus, und oben spricht er noch. Endlich ist sie im Menü so weit, beißt ihm das letzte Argument in die Kehle zurück, und alles atmet auf.

Wieder steigt Stille im Dschungl bis zum Bersten. Schweifende Formen entschälen sich dem Dunkel, schmelzen zurück, treten ins Blut; einbezogen, zugehörig wird der Mensch auf göttlichem Umweg Tier.

Kleine, harte, vielgestaltete Herzen klopfen nach innen hinauf in die gesteigerte Stunde des Lebens vor dem Tod. Wollüstiger Irrsinn der Angst, Seherschaft der Angst, seidne Pracht des Sprunges und der Flucht: Kuß, Biß, Hunger, Mord, Liebe, geballt wieder zu einziger, zitternder Intensität. Täter und Leider: Genießer beide. Worte erhalten Ursinn zurück als wilde Krone: Gegen—stand, Hingerissenheit — Besessenheit.

Es lauert aus den Nieren der Dinge.

Unter dem Gipfelkopf rasten sie, vogelhaft eingehüllt in Grün. Pflanzen lecken ihre Hände mit fleischigen Zungen. Irgendwo aus einem Felseninnern kommt dunkles Dröhnen, vage Erregung vieler Körper. Als zitterten Metalle und Menschen im Berg. Aditjas spitze Ohren zucken auf, wie bei einem träumenden Schakal. Dann, sein flimmerndes Gebiß entblößend:

„Rhodias Sahib. Es ist die Nacht der Shivatänze.“

Horus erhob sich, angesogen von ziehendem Tumult. Fühlte sich nicht gehen, eher gleiten als Nadel ins magnetische Feld. — Ließ es geschehen. Denn es lag im Gefüge seines Karma, an nichts vorbei, durch alles hindurch zu streben aus einer hochgemuten Art heraus, denn: Gargi und das Haus Elcho hielten ihn, zwei Polen gleich, blanker Sohle zu schlendern durch die Willkür jedes Sudels.

Bog Schlingranken vom Eingang. Ihre Laternenblüten, weich wie Kinderhaut, bestäubten ihm Schulter und Brust. Trat ein. Die Gongwelle schlug ihn fast um. Fackeln in Ringen atmeten gelbwehendes Messing über die Felsenwände. Doch blieben dort und da quecksilberne Lachen von Nacht, in die des Jasmins wächserne Ketten als Senkblei verschwanden. Ihr Duft überredete gleich einer Frau. Mit den Armen schwamm er hindurch.

Fiebrig Männliches aus geröstetem Hanf traf seinen Atem. Bläulicher Aasgestank stieß von irgendwo in den Ritus. Auch das Saure von Metall, anliegend Menschenkörpern. Wie Meer gekrümmte Rücken wogten ringförmig um ein Piedestal. Ring in Ring, Welle hinter Welle: ölig — nackt. Die Gesichter unsichtbar, bodenwärts zugekehrt einem Zentrum: Shiva. Schneeweiß, entrückt, ascheübergossen hockte der Gott. Neben ihm sein Stier Nandi. Vorn, aufgereckt aus Palmenmark: Durga, die fischäugige Gattin. Durch ihren herrlichen Tigermund geht querhin ein wagrechtes Schwert voll Blut.

Horus fühlte einen Atem aufrecht neben sich. Mit hochausgeschnittenen Zügen, ein schöner Ephebe, wohl Fremdling so wie er in dieser Höhle, sah auf die gierbereiten Rücken aus Augen, blauschwarzer Gedanken voll. In Sehnsucht und Verachtung. Jetzt stiegen die Gongs zu einem Taifun. Auf seiner Spitze brach ein Riß durch die Rückenwellen, als wirbelten Trichter aus Fleisch: jeder zweite konzentrische Ring warf sich um seine Achse herum. Rücken sog sich nun an Rücken fest, zu einem obszönen Bogen. Obszön, denn es war kein wählendes Auge an ihm. Jeder Mund verbiß sich in einen Mund, der nicht zum Leibe gehörte, mit dem er in blinde Vermischung fiel. Hanf, Jasmin, Aasgestank trieben durch die Nüstern Unzucht miteinander. Eine Pause, und aufgetrieben von metallenem Geheul, warfen die verfleischten Ringe sich aufs neue blind herum. — Aus dem Schweif des Auges erkannte Horus, daß der schöne Knabe mit den hochausgeschnittenen Zügen nicht mehr an seiner Seite war. — Jetzt, inmitten der Orgie, sah er auch die Köpfe der outcasts: der kastenlosen Rhodias. In rassigen Tierkörpern allerhand rasselose Menschengesichter, schlechte Nasen, schief, flach — noch von keinem edlen Atem hochgewölbt. Outcasts eben, die das züchtende Joch der Kaste auf sich zu nehmen unfähig geblieben.

Mit kalter Schulter drehte er dem Ausgang zu. Unerregt, kaum angeekelt, so fern diesen in seinem klaren Blut. Ein Queres vor dem Eingang ließ ihn stocken. Da lag der schöne, leidend stolze Knabe der Schlingranke vermählt. Erlöste sich in einen ihrer fleischig zarten Kelche, indes sie: eine androgyn Geliebte, aus drei Blüten sich ihm in Mund und Hände als golden-mildes Mehl ergoß. Sanft — fast andächtig stieg er über ihn hinweg.

Feiner Schauder der Frühe erhob sich gipfelwärts. Kleiner, intensiver wurden alle Dinge hier oben. Greller, herber. Gerannen zu Klumpen Herzblut an den Rhododendren. Nur Deodar-Zedern stiegen noch hoch auf, und abgeplattet im Himmel lagen die ringförmigen Federsterne der Araukarien.

Es roch nach der Essenz Gottes.

Leichte Schritte lebten auf, verdichteten sich aus allen Richtungen der Pyramidenspitze des heiligen Berges zu. Ein Pilgertag. Stimmen silberten in Lachen, das ein tönendes Lächeln war. Aus Büschen streifte ein Nachtpfauenauge hervor oder das Samtgesicht einer Frau. Von überall feine Wesen, ein Kind auf der Hüfte, waren die ganze Nacht gestiegen und doch wie unbeschwert auf ihrem Sandalenfächer, der nach den Zehen wunderbar abgestuft, die erste übertrieben von den übrigen schied, so daß Spitze, Ballen und Innengeburt der Ferse eine Gerade zu bilden gezwungen waren. Neben Schmäle von Schenkel und Knie das Geheimnis tropischen Frauengangs.

Noch ein paar Sprünge aus dem Moosigen ins Kahle und in den Tag. Denn schon trug hier oben die süße Brust der kleinen Vögel des Nestes Rundung entbunden durch die Luft.

Da erschuf sich mit Eins riesenhaft aus dem Leeren ein saphirner Kegel — hing durchsichtig: wie geisterhafter, tiefblauer Kristall, an zwanzig Vollmonde groß, frei im Raum; den ganzen westlichen Himmel erfüllend. Blendend, beängstigend und unbegreiflich, als hätte ein sehr aparter und eigenholder Djinn geruht, sich einen Leib aus Äther und aus Stahl zu bauen. Schwebte ohne Ort — hart, doch unirdisch, fast mit Händen greifbar und auch wieder an den Grenzen der Erdatmosphäre zugleich; stahlblauer aus-sich-selber-seiender Gott.

Bis, wie von Glanz befiedert, ein Büschel goldner Pfeile von der schwirrenden Sonnensehne her quer durch die Welt brach — und in seinen Leib. Da, nach rückwärts auseinander weichend in immer weiteren, eisgraueren, durchsichtigeren Kegeln, schwand er, bis der letzte so groß war wie das Nichts.

Leicht aufschauernd sah Horus in das zerplatzte Juwel. Es war nur der Schatten des Gipfels gewesen, auf dem er selber stand, von der östlichen Sonne in seinem Rücken auf eine trübe Dunstbank geworfen, die jetzt zerrann. Nicht mehr fasziniert von dem westlichen Phänomen, merkte er sich auf einmal abgekehrt, arrhythmisch, in seiner Blickrichtung allein, denn alle andern neigten dem Lichte zu.

Da wandte sich auch er. Und im Augenblick des Querstands sah er die Menschen, alle flimmernd vor Aufgang, wie noch nie. Sah die ätherischen Lichtbündel von drüben in ihnen endend als Figur. Fühlte: so stehen können in freier Ehrfurcht ist alles. Ununterjocht von seinen Gliedern, in Gewändern edel und belebt. Begriff die Ränder der Dinge, begriff: wie sich etwas gegen alles andere, gegen das Gestaltlose abgrenzt, macht seine Berechtigung aus, da liegen Wert und Unwert der Persönlichkeit; und zu dem der Kontur jedes Wesens redet, der ist lebendig geworden an seinen Augen, der geht den Weg des Auges in das ewige Licht.

Sah Männer — Frauen — Kinder: jedes in geheimnisvoller Sonnenschrift mit dem Ende des Strahls auf ein Stirnblatt von Stoff geschrieben. — In freier Würde, nobler Folgsamkeit gegen ein hoch über seine Einsicht hinausragendes Kräftespiel, glitt jedes an die gewiesene Stelle: reiner Buchstabe, gehorsam seinem Ort, auf daß mit seinem Leib das verborgene Wort aus unerschöpflicher Tiefe her sich bilde; auch jederzeit bereit, weggelöscht zu werden von der Tafel jener großen Sonnenschrift.

Ohne würdeloses Zappeln. Denn er hatte sie sterben sehen, diese Wesen aus dem Blut der Sonne — wie oft: in Pest und Hungersnot. Wie sie die edelbewahrte Persönlichkeit, den wundervollen Kontur verließen, um lächelnd im Tod alles andre wieder werden zu können, und doch wuchsen ihnen kühne Paradiese hinter den schmalen Stirnen, und aus ihrer Mitte traten Gewaltige heraus, auf deren Wink die Zeit gerann — zitternd stand — oder zerfiel.

Er sah in diesem Sonnenaufgang an ihnen das tropisch schwerelose Mühen und Sterben als untrennbares Kontinuum gelebt. Sah in das wallende Gespinst aus Laubkronen, Vogelflug, Sonne, Küssen, Quellen, Atem den leuchtenden Todesfaden geschlungen: Ariadnefaden in die Freiheit; jederzeit wieder alles sein zu können: Blume, Tier, Licht. — — —

Wahn des Tuns fiel ab von ihm:

„Vielleicht ist Arbeit Sünde.“ — Der mit dem Aschenauge: sein verborgner Führer, wußte es gut: nichts berühren, was aus Arbeit stammt. Nur dort leben, wo die schöpferischen Wellen vieles Lebendigen durch uns gehen, das magische Fluidum aller freien Geschöpfe uns erfüllt und trägt wie zeugender Äther. Verwoben all diesen war er mit dem Blutnetz seiner ganzen wundervollen Jugend. Wußte es wie noch nie in diesen Tagen des Abschieds, da er reif und frei, auf festlich erhöhtem Deck, endlich hinübergleiten sollte zu den Wesen wie aus Schnee und Gold, in ihre weiße Welt.

Einen Augenblick sprang sein Herz an das Gitter des Entschlusses. Doch er hielt. Würde — mußte halten, auch bei anderm Abschied noch: Erasmus.

Die Elefanten drehten heim. Da warf er sich aus dem Palankin von Gargis Seite flach nach vor — nichts mehr vom Abschied sehen — preßte das Gesicht zwischen die Stirnbuckel Rama-Krishnas, verging dort im Geruch von Met und Sand. Wie Tafft rauschten die zerfransten Ohren auf. Im luftigen Wiegen des Elefantenganges kamen und fielen rhythmisch in ihn die Jahre vor seiner Mutter Tod. Waren ein unaufhörliches Fest gewesen, als fühle jede Stunde sich gedrungen, ihre ganze Wahrheit auszujubeln. Fließende Steigerung, klarer Rausch schien auszugehen von den silbrig erweiterten Augen — dem Schatten verhohlenen Drogengeruchs um die Nasenflügel der Nicht-Kranken, Nichts-Leidenden, nur immer Zarteren, als verwehe sie in Dekoktionen von Halmen und Gräsern, zwischen Ausbrüchen ihrer kindlich frohen, burschikosen, purzelbäumigen Lustigkeit. Es war etwas so Menschliches: dies Über-allem-Stehen, gab ihr den zeitlos-alterlosen Charme: — hatte ihn gegeben. Nun lag ihre Asche im Fundament des Riesenrefraktors eingeurnt.

Langsam stieg er zum Kuppelraum und seinem Flügel auf, den Erasmus selten mehr verließ, seit dort, über Diana Elchos zerfallenem Herzen, das große Auge in den Raum wuchs.

Wie lang so eine Wendeltreppe war: ein ganzes Leben lang. Er stieg sehr still, denn viel kam er zu bitten. Ihm war, als zertrete er Geist mit jedem Schritt.

Kam, den großen Freund niederzuzerren aus dem Reich, wo man, der niedren Sorgen frei, „vermittelst eines unzerstörbaren Erzgefäßes aus den fünf Brunnen schöpft.“ — Auch hemmte ihn Erinnerung an etwas in van Roys Gesicht vor seiner Mutter Tod. So, als wöge ihn dieser mit den Augenschalen, ob er „es“ wert. Irgendeinen verborgenen Preis wert, — vielleicht war es Einbildung gewesen? Die Herzlichkeit im Geistigen hatte niemals nachgelassen — Erasmus zog sich nur auf ein großes, jahrelanges Werk zurück. Duldete außer Gargi niemanden um sich. —

Horus trat ein. Etwas wie Glas und Schnee lag in dem stillen Kopf über der elastischen Gestalt. Sterngraue Augen sahen in seine goldnen. Sahen den Abschied. Er frug nicht, wie lang.

„Sei meinem Kind, was du mir warst. Solange ich fort bin.“

Erasmus wies um sich: „Ich habe noch so viel zu tun und vielleicht nicht mehr viel Zeit.“

„Sei Gargis Sohn, sei meiner Mutter Enkel, was du mir warst.“

„Geht Gargi mit dir?“ — Sah die Augenbrauen des Erstaunens, winkte lachend ab. Dann resigniert: „Es soll geschehen — ich werde alles tun, so gut ich es nur irgend weiß und kann.“

Noch hatte er an Gargi nicht die Zumutung gestellt, um seinetwillen ihr Kind so lange allein zu lassen. Besonders, da Jü-Chuan, von der er Liebe, doch niemals Kinder so fremder Rasse sich gewünscht, nach China heimgekehrt war, um eines Jugendfreundes erste Frau und Mutter seiner Erben zu werden. —

Da nahm sie die Pein des Wortes von ihm. Dem ungeheuren weißen Dasein endlich so nah, war er in seliger Versunkenheit zu den Kraftanlagen, dann durchs Haus der Elchos gewandert, vom Orgel- bis zum Statuensaal. Blieb, das Wesen der Pallas und Nausikaa im Blute, wie grüßend vor einer Kore stehen: „Bald werde ich dich leben spüren.“

Da rührte ihn eine Stimme an — ganz zart:

„Darf ich sie suchen helfen?“

Er beugte sich über ihre lange Hand: „Meine liebe Gazelle.“

Zweites Buch

Europa nahte.

Durch schweren Nebel pflügte sich die Jacht Marseille entgegen. Nur draußen vor Aden hatte sie Kohlen eingenommen. Orient zum letztenmal.

Wie losgelöste Stücke rotbrünstiger Klippen, waren ihr von der Steilküste nubische Knaben entgegengesprungen in eine kobaltblaue See; zwischen den Lippen Dolche und auf ihre feuerfarbnen Schöpfe festgebunden Amphoren aus buntem Strohgeflecht, gefüllt mit lieblich freien Dingen handwerklichen Spiels. — Man hatte die Knaben beschenkt, doch nicht jäh entlassen, so dankten ihre Körper durch Tanz auf der Violinenbrust des Decks; warfen aus blanken Gliedern empfangene Freude den Spendern zurück.

In der Reeling spiegelten sich, metallisch ins Messing gewölbt, breite Nilaugen, wie nasse Kastanien braun und weiß, und Hennarot schroffer Schöpfe.

Ganz nah um das Schiff stürzen pausenlos, in goldbraunen Ellipsen die Falken von Aden. Ihre schrägen, jähen, stets geschlossenen Kurven scheinen ein neuer, rotierender, geisterhafter Körper im Raum, als dessen milchweißes Herz die Jacht steht. Geruch durchsonnten Gefieders steigt und sinkt mit ihnen: paradiesisches Zimt, verbrannt auf Flügelaltären hundertfach.

Schwingt am Seil des Lichts einer der großen Körper schräg um den Bug, dann — auf Armesabstand — wendet der Blau-Bekrönte aus göttlichen Schultern heraus ruhevoll das Haupt. Sieht lidlosen Auges golden in das Auge der Menschen.

Dann steht sein Flug und in ihm die Zeit. An einem Faden Licht hängt er vom Scheitelpunkt der Ewigkeit herab, mit gebreiteten Schwingen aus stillem, schwerelosem Stein.

So also: hellgesäumt, sich myrtenblättrig überlappend steigt das Gefieder auf von Hals zu Haube. Zweihundert Federchen — dreihundert — dreihundertvierzig. Nein, nur genau. Noch einmal zählen. — Da schlägt ein Augenlid die Zeit. Schwächlich, menschlich.

Hochmütig und befremdet ab kehrt sich der starke Vogelblick. Schräg ins Geschehen schlagen wieder Schwingen und verschwinden.

Die Flugbahn eines mächtigen Sperbers war immer wieder vor dem Bugspriet knapp an Gargi vorbeigestrichen, die, von mondsteinfarbnen Schleiern umweht, ungeblendet im fließenden Licht stand. Jedesmal in Herznähe wandte sich der große Vogel, sah grell in den unbegreiflich sanften Samt ihrer Augen. Sie rief ihn an. Bog das nächste Mal ganz sich ihm entgegen; warf ihren Schleier nach seinem Hals. Das erschrockene Tier hackte zu, durchstieß mit Schnabel und Kopf das dünne Gespinst, und so, umwallt von dem Schleier der Frau, stieg es und trug ihn, sich steiler und steiler schraubend, immer neue Sphären aufreißend, in einen lotrechten Trichter von Licht.

Sie sah ihm nach, verzückt zurückgeworfen. Hochgereckt zum Flug: auf federndem Zehenfächer ein befiederter Pfeil.

Da griffen gewalttätige Hände von rückwärts um sie.

„Man streut Mythen aus!“

Hart und geschickt senkten sich zärtliche Fangzähne um die Knöchelchen ihres langen Nackens. Dann — sanft schnurrend — eine Pranke auf der Beute, löste Horus seinen Biß aus dem Schmelz von Gargis Haut. Dort blieb die zweiunddreißigzackige „Perlmuschel“: sein Privatsiegel.

Im Roten Meer ließ er sich den Kapitän kommen:

„Sie vertreten mich, bis der Kanal passiert ist. Port-Said, Suez, nur den nötigsten Aufenthalt. Sind wir im offenen Mittelmeer, so melden Sie es in meine Kajüte. Dann täglich das Logbuch, sonst nichts bis Marseille.“

Der Japaner nahm die Papiere, verbeugte sich. Er aber schritt — ehrfürchtig fast — die leichtgedrehte Treppe abwärts. — Der Geburtsweg! Treibt es mich das nächste Mal aus diesem milchweißen Bauch, ist es in unerhörtes zweites Leben hinein, wie es wenig Sterblichen vergönnt. Dann reißt mir die Eihaut des Auges vor der weißen Welt. Ganz und auf einmal. Kein gottverbotenes: „allmählich“ für mich — — ho ho, nicht für mich.

Er schlug den Blick zurück: jugendwärts; küßte mit den Wimpern die Erinnerung, Diana Elcho. Wand sich genießend langsam die Treppe hinein, wie in eine Schraubenmutter. Von Holz zu Holz, dem starken, reinen, messinggesäumten, sank er; aus seinem Herzen aber stieg es noch immer wie ein Faden Licht, hing ihn an den innersten Trichter Gold, den unbeirrbar aufkreisend der Sperber, von Gargis Schleier umwallt, lotrecht über ihm in den Scheitelpunkt der Bläue eingekerbt. Als letztes Bild aus dem früheren Dasein wollte er dies hinübernehmen mit sich in die neue Verkörperung.

Versiegelte dann seine Sinne für alles Droben und Draußen, sammelte sich in Ehrerbietung der ungeheuren, weißen Freude entgegen. Das Werk für diese äußersten Tage lag längst bereit. Er schlug es auf: A. Einstein, „Zur Elektrodynamik bewegter Körper.“

 

Die Maschine stand.

Ächzen der Taue von einem starren Drüben. Die Eingeweide der Jacht schoben sich schief. Noch ein paar Schraubenwirbel nach rückwärts. Sie lag Europa an. Die Schenkel hatte er sich auf den Stuhl niedergepreßt, mit Griffen wie Klammern, diese letzte halbe Stunde, jetzt flog er hinauf, sprang hinüber: alles zu erleben mit ausgebreiteten Armen.

Stand in Europa.

Fühlte sich an diesen liebeeröffneten Armen beiderseits gepackt. Fahler Gestank nach toter Haut unter schweren Stoffen traf ihn aus den Ärmeln zweier Geschöpfe heraus. Sonst staken sie bis zum Kleinhirn fest in hartem, schmutzigdunklem Gewebe und vielen Metallknöpfen an der Leber. Auf dem Kopf stand ihnen ein zweiter Kopf aus finsterem Blech mit Schild und einer Nummer.

„Halt — verboten. Erst die Hafenpolizei, — zurück!“

Irgendwo schlug es Mittag. Da barst über der Erde ein Geheul, johlend vor böser Länge — klagender Wut. Es war wie das hoffnungslose, tote Geheul, mit dem ein Unding sich selbst bejammert.

Ganze Beete von Sirenen vomierten ihre schrillen Trichter in eine Wunde aus widerwilliger Luft. Die Arme sanken ihm. Er blickte auf. Dunkle Schwaden schwimmenden Kotes hingen in der Atmosphäre. Die Technik benützte den Himmel als Kloake der Zivilisation. Kanalisierte ihre Exkremente verkehrt in ihn hinauf — reduzierte sein Blau zur Latrine.

Zurück eskortiert, stieg er noch einmal in den reinen Leib seiner Jacht hinab, hinter den zwei Blechköpfigen drein. Jetzt nur kein Nachgrübeln, was denn diese beiden unter Europäern zu suchen hatten, deren Rasse sie doch nicht angehören konnten; lieber gut anschauen. Eigentlich war da nur ein Streifen Haut im Nacken übrig; wo der harte Stoffring dran rieb, hatte der eine ein aufbrechendes, der andre ein abheilendes Furunkel. Sonst war rückwärts nichts Lebendiges an ihnen frei sichtbar.

 

Der Japaner hatte alles geordnet, man durfte da sein.

Diesmal schob sich draußen an Land ein amorpher Lebenshaufen umher.

Stumme Klumpen hatten sich von ihm gelöst und vor der neuen Jacht mit ihrer rein asiatischen Bemannung gestaut — in merkwürdig vag geballter Mißgunst.

All diese Wesen schienen es noch zu keinem einheitlichen Körper gebracht zu haben. Sahen irgendwie aus, als trüge jeder die ausrangierten Gliedmaßen eines andern auf: fremde Beine in eignen Hosen, und diese wieder unpaar. Sammler von Organteilen ebenso gemischter als einwandvoller Provenienz. Auch an Kolorit: bräunlich, gelblich oft, manchmal violettgesprenkelt, meist aber wie mit fahlem Eiter statt Blut gefüllt, erschien die Haut.

Wer mochten diese mißfarbigen Barbaren sein?

Sie schienen sich ihres trüben Baues jedoch keineswegs bescheidentlich bewußt, zergafften vielmehr mit hämischer Überheblichkeit das rhythmische Arbeiten der gelben Matrosen. Als jetzt die beiden morgenländischen Gestalten auf dem Landungssteg erschienen, brach der Haufe, ohne ersichtlichen Grund, in ungezogenes Gebaren aus. Der Japaner näherte sich, und hinter dem gelben Tarnhelm seiner Gesittung hervor:

„In Port-Said mir erlaubt, Nötiges für erhabene Ankunft besorgen. Sir und Lady zu schönes Gewand. Risken Insult. Wenn aber insultiert worden, Sir und Lady dafür eingesperrt.“

Dann mit kaum merkbarer Ironie vor des andern blanker Miene, die zu fragen schien: „Was geht es Menschen an, wenn andere Menschen anders gekleidet gehen?“

„In der erhabenen Heimat von Mob mißhandelt werden verboten — für Mißhandelten. In der erhabenen Heimat das heißen: öffentliches Ärgernis erregen.“

Jetzt war er endlich ebenso töricht, kläglich und schmerzhaft gekleidet, wie der amorphe Haufe drüben. Nun, im Inneren der weißen Welt konnte man das ja alles wieder abtun. Um viele Weihestätten gab es üble Gasgürtel von unbegreiflicher Pest; in unmenschlicher Vermummung mußte der Sucher: der Zu-Prüfende, hindurch.

Unbeirrbar im Wohllaut seiner Pulse — unangreifbar in seinem eignen Kraftfeld schritt er — Gargi auf den Armen seiner Seele — in den Ring aus fahler Mißzucht hinein.

Nur einmal zuckte es doch in ihm auf: irgendein Kerl, Fäuste in Hosentaschen, hob auf gespreizten Fersen, mit vagem Hohn Gargi seinen Geschlechtsteil entgegen, pfiff durch Lippen, an denen jeder räudige Hund genagt:

Oh la la — les petites fesses!

Die weiße Glorie ließ ihren Saum auf grauenhaft raffinierte Art behüten.

Hinter dem gestauten Haufen längs des Kais zappelten oder trollten andre Massen aufgelöst nach allen Richtungen in gemörtelte Zeilen hinein, deren einzelne Bauglieder nicht organisch — nur durch eine Art zäher Räude — endlos aneinanderklebten.

Gegen das Zentrum der Stadt riß diese zähe Räude öfter zu Plätzen auf, und dazwischen ragte groß aufgedonnertes Gerümpel, rattenhaft angeknabbert von allerhand Stilen, und an ihm irgendwo ganz draußen stand meist: liberté — fraternité — égalité. Auch ein Gasometer mit Apollo kam. Den Eingeweiden des Gebäudes entquoll es figural. Bruchbänder aus Marmor hielten das dann alles wieder leidlich um seinen Bauch zusammen fest. Oft vor solchen Bauhaufen — wohl an großen Kreuzungen auch — standen bekleidete Männer aus Bronze, denen unbekleidete Frauen Kränze, Partituren, Pinsel und Wagen hinstreckten. Oder das Auge erwischte, gerade noch, ehe sie auf dem Pflaster zerschellen würden, über Postamenten metallne Gäule, sich ein Eisenstäbchen in den Huf tretend und hinten auf etwas, halb Stützschwanz, halb Kaskade, gebäumt. Von ihren Rücken herab schwangen Wilde in Affenjacken Säbel gegen die elektrische Straßenbahn.

Nicht Luft, nicht Landschaft, noch gemörtelten Zeilen, Bauhaufen, noch Verkehrsmitteln lebendig vermählt, lagen diese Bildwerke: Trümmer von Stilen, als unverdaute Bronzebrocken im Straßendarm umher.

 

Und nirgends Europäer. Immer noch trollte es sich am Fuß der aneinanderklebenden Räude in dieser sonderbar geballten Mißgunst, keuchenden Freudlosigkeit. Immer noch staken Wesen bis zum Kleinhirn in falschen Hülsen von der Farbe verwesenden Schmutzes, hatten, wenn auch ohne Schild und Nummer, den doppelten Kopf: senkrecht über dem Kopf noch einen. Dafür keine Zehen, keine Füße — und darum keinen Gang; ja, sie gingen ohne Gang in harten schwarzen Lederklumpen: Einhufer, doch unecht auch als solche.

Das — überall dazwischen — sollte wohl „Frauen“ vorstellen? Aber es kam so verschieden vom Manne, wie von einem andern Ende der Säugetierreihe, daher. Schien aus den verreckten Überresten aller Reiche zusammengestoppelt, als hätte es sich auf dem Schindanger der Natur ausstaffiert: tote Hinterteile zerfetzter Vögel staken auf dem Doppelkopf, um den Hals hingen gegerbte Raubtiere mit Glasaugen und Schnauzen aus Pappe. Kleidung behauptete Organe, die es doch zum Glück gar nicht gab, oder nur ganz wo anders, und auch dort viel unauffälliger. Ein hölzern übertriebener Versuch, niedre Lebensstufen zu imitieren, auf denen das Weibchen derart ungetüm, verkehrt, unwahrscheinlich und auffallend wirkt, wie einer andern Art zugehörig. Für die Männchen höherer Organismen ist das dann nicht mehr nötig — die merken’s schon so.

All diesen Überkleideten, ob Männer ob Frauen, war eins gemein: ihre Körperteile schienen nicht recht ineinandergeschmolzen vermittelst jener feinsten Übergänge, als welche allein das Ebenmaß zu wirken vermögen: anmutbewegtes Leben. Jedes Glied hatte etwas an sich, als wäre es nach einem doppelten Bruch irgendwo ein wenig verkehrt zusammengeheilt, wisse nicht mehr in seligem Fluß durch Gewänder hindurchzuschwingen.

Doch auch zum Herdenrhythmus hatten diese Wesen es noch nicht gebracht. Das überstieß sich unaufhörlich oder zuckte zurück vor Straßenbahnen, Autobussen, Elektromobilen. Dieses anders bewegte Tote trieb seine Rhythmen als Keile quer in den Puls der Menge hinein, streckte — staute — zerriß ihn. Alle atmeten ja wie verstörte Frösche.

Zu Hause im großen Äther war das nie gewesen, doch hier schien Lebendiges in seinem Kreislauf so verarmt, daß es sich masochistisch duckte und wand, vergewaltigen ließ, oder floh vor dem fremden Tempo der zugleich untoten und unlebendigen Zwitter. Daß Benzin dem Blut befahl!

Und da war etwas im Blick. In diesen verknoteten oder zerronnenen Gesichtern war ein Blick: sauer und hölzern, der nicht sah. Als würde die ganze Umwelt absichtlich in den gelben Fleck der Netzhaut gerückt. Vielleicht um die Bauhaufen nicht sehen zu müssen, die räudigen Zeilen, die verwickelten Bronzeklötze im Straßendarm, die trippelnden Schindanger, sich selbst, oder die Kilometer unbegreiflich aggressiven Krams, mit dem das gläserne Unterteil der Häuser ausgestopft war. Warum das auch noch hinter Durchsichtiges rücken, statt in die Dunkelkammer?

Und dann lächelte er doch wieder durch Unbehagen hindurch, wie ein Geburtstagskind, wenn es regnet.

Das war ja alles noch der üble Gasring — die Schranke der Schrecken —, nur unbeirrt weiter im eignen Kraftfeld schreiten, durch alles hindurch, über alles hinweg, bis man zur weißen Rasse kam.

Es konnte nicht den ganzen großen Geburtstag verregnen. Und dann zuckte er doch zusammen — zum zweitenmal heute. Er hatte die Stellung der Europäerin gesehen: Fäuste in die Hüften gestemmt, mit vorgetriebenem Birnenbauch, Gekeif vomierend — hemmungslos. Und der begeiferte Mann, wiewohl furchtbar von Gebiß, mit von Saublut beschmiertem Schurz und breitem Messer, schlich eingezogenen Gesäßes vom Grünkramladen weg. Selbst seinem harten Ohr ward übel.

Fäuste in den Hüften: diese Megären-Stellung der Frau war Indien und China unbekannt. Zorn erfand dort andere Gebärden.

Über das zerhackte Gezappel des Lebenshaufens floß es plötzlich als großer Bronzeton Asiens hin — Chinas. Oh, Glocken. Wie warm. Er sog die tönende Welle tief in seinen Leib, ging ihr nach über einen Platz — über Stufen — durch ein braunes Tür-Kissen in den Duft von erkaltetem Orient hinein und einen großüberkuppelten, menschenleeren Raum. Flammicht verschroben war alles an ihm: schraubenförmige Säulen, als wollten sie jeden Moment, wahnsinnig rotierend, sich in den Boden einbohren und verschwinden, entließen oben Wolken aus steinigem Eiter; aus allen Ecken quoll es, bauschte sich grau, mit grellen Papier-Rosen behängt.

Gewesene Menschen schlurften die Nischen entlang, knicksten vor einem schlechten, angenagelten Akt. Reste von Weibern waren in triefäugiges, klangloses Plärren vor ihm versunken. Nein, versunken nicht: ihre Rattenaugen funkelten dabei aus dem Halbdunkel ganz nüchtern gegen die beiden freien und stillen Fremden. Er wischte sich die Schleimspur dieser Blicke vom Gesicht.

Aus graumarmornem Schaum und winselnden Gebärden, aus schrägem Gehimmel gemalter Posen, von überall kroch es flammicht um den schlechten, angenagelten Akt.

Um ihn schienen die versteinerten Unluststoffe einer ganzen siechen Welt zu Prunk geballt. Als hätte ein riesiger und bleicher Buckliger mit schiefen Leichenfingern sich eine überladene Apotheose eigner Dekrepidität an diesem Raum geschaffen. Doch warum waren die wonnigen Glocken und Asias Duft gerade an diesen welken, eigensinnig verschrobenen Ort für erloschene Menschen gebunden?

Am Tore suchte er nach einem Anhalt, wo er eigentlich gewesen, fand über dem Portal etwas von „Jesu“ oder „Jesuiten“. Es klang ihm wie fernes Befremden ums Ohr. Hing das nicht mit dem Privatfetischismus jener kleinen Barbarenhorde, den entlaufenen Sklaven der Ägypter und ihrem seltsamen „Herrn“, zusammen, in deren Chronik er einmal geblättert? Hatte so ähnlich nicht der kleine Volksführer mit seiner Predigt gegen die Bildung, der so viel sprach und den „Heiden“ Plappern vorwarf, geheißen, jener, der sich auch noch gerühmt, Sohn des polternden „Herrn“ mit den schlechten Manieren zu sein.

Ach ja, wie hatte das doch geheißen: „Denen wäre besser ... Mühlstein um den Hals, wo es am tiefsten ist ... ersäufen.“ — „Da wird sein Heulen und Zähneklappern“ ... „Und werden sie in den Feuerofen werfen“ ... „Denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig“.

Ja, ja, richtig. Also das gab es auch noch; nicht nur in historischen Fachbibliotheken für ethnographische Kuriosa? Die aggressive kleine Horde lebte demnach bis heute, hatte hier auf europäischem Boden sogar eine Zweigniederlassung ihres barbarischen Fetischismus mit seiner Saat von Bosheit, Anmaßung und Intoleranz.

Draußen auf der Treppe schwankte ein stoßender Klumpen Kinder hin und her, hieb und spie gegen eine aufheulende rosa Masche. Unter der rosa Masche kratzte und biß es zurück. Umsonst. Aus dem Zopf gerissen, verschwand der grelle Fetzen in einer Schmutzlache. Aus viereckigen Mäulern pfiff die Gemeinheit. Dann riß ein Bengel aus der Rotte ein Holzgewehr an seinen grindigen Schädel, und sie spielten „totschießen“.

Vor einem Haus lehnte ein großer Wagen, leinenumspannt, „Möbeltransport“ stand darauf. Er war durch eine Nabelschnur von Dingen mit dem Leib des Hauses verbunden. Wacklig, schief, freudlos und irrsinnig hing es aus ihm heraus, stand noch: künstlicher Unrat, auf der Straße, bis unter das Tor und eine falschgebogene Treppe hinauf.

Bis unter das Dach hörte man Schleppen und Poltern schwerer Gegenstände. Damit ward nun die schiefe Räude vollgestopft. So sah es also da drinnen aus — und da drinnen lebten wirklich Leute mit solchen Sachen den ganzen Tag zusammen.

Das Haus Elcho enthielt nicht den zehnten Teil Gerät, denn es war erfüllt mit dem Wohllaut des dreifachen Raumes.

Und plötzlich vergaßen sie alles, stürzten zu dem Wagen hin, und Gargi hing am Hals eines lebenden Wesens. Ein Pferd — endlich ein Tier, etwas Lebendiges; welche Erlösung! Xbeinig wie eine alte Kuh, aber das machte gar nichts. Es war ein Geschöpf mit Geschöpfaugen, trug seine eignen Glieder in edler Folgsamkeit und war schön in ihnen wie ein Gott. Und dieser Wiesen- und Steppengott mußte geschändet werden, nur um solchen Narrenkram von Ort zu Ort zu zerren? Eine grenzenlose Verlassenheit lag um das einsame Pferd mitten in dem gemachten Wust, der mitsamt dem angenagelten Akt, den Bronzeklötzen, Bauhaufen, und inklusive „fraternité — égalité — liberté“, kein einziges Haar aus seinem Schweife wert war.

Zucker — Brot mit Salz! Vielleicht war das irgendwo aufzutreiben. Sie suchten noch den Laden, da hieb schon eine Mißgeburt mit einem Peitschenstiel dem Gott auf die Augen, schräg sprang der Möbelwagen über das Pflaster los, verlor dabei hinterwärts ein kastenartiges Ding mit Aufsatz, mehrfach profiliert, auf vier gedrechselten Beinen; auch dieses Ding verlor wieder etwas aus seinem Innern; als es auf das Pflaster schlug, schwang eine Tür an elenden Scharnieren, und ein topfartiges Henkelgefäß, unbekannten Gebrauchs, doch unsagbar kläglich anzusehen, zerbarst am Stein.

Die Mißgeburt zerriß deshalb dem Gott den Mund, daß er sich beinahe überschlug und der Wagen ihm ans Kreuz fuhr, dann torkelte sie vom Bock herab, holte langsam genießend weit aus und stieß ihren künstlichen schwarzen Huf mit aller Kraft dem zitternden Gott in den Schoß.

Doch selbst das schien bei den übrigen in den gelben Fleck des Auges zu fallen, während sie in diesem ewig verfließenden finstern Zustand vorbeizogen, ausschließlich beschäftigt, einander vage zu stören. Das dazwischen — was „Frauen“ vorstellen sollte — hatte außerdem immer mit dem doppelten Kopf zu tun: daß er stets in einem bestimmten Winkel über dem ersten bleibe und so, denn das Wetter hatte sich verschlechtert, war stürmisch geworden vor Morast. Nun setzte gar Schneeregen ein, und der doppelte Kopf ward völlig ambulant. Die indischen Fremdlinge hatten erst gemeint, er diene zum Schutz jenes Wellblechs, das statt Haar unter ihm lag, nun aber spannte sich erst recht zum Schutz über den Schützer ein Schirm. Der stand nun schon als vierter Wahnsinn über dem ersten im Urkopf selber.

Jetzt endlich, nach Stunden, gab er alles auf, warf sich wund in den harten Fußschachteln, voll leidenschaftlicher Müdigkeit, mit ganz ausgeweidetem Herzen, in ein Auto, nannte sein Rasthaus. Dort war eitel Beutelust im Frack. Die Fürstenappartements bereit, wie für einen Rhadja. Funkspruch, Jacht, Dienerschaft hatten gewirkt. Der Rasthaushälter schmolz herbei, gerann aber säuerlich, als Mr. Elcho erklärte, den Nachtexpreß nach Paris nehmen zu wollen. — Nein, danke, er brauche nichts — jetzt nur ein Bad, und, da sie schon bereitet waren, die Fürstenappartements, bis der Zug ging.

Ganz still saß er später in dem grellerleuchteten Bazar des Irrsinns — stundenlang still. Er hatte noch nie ein Tapetenmuster gesehen. Und dann geschah es, daß er aufsprang, und es kam diese, eigentlich ganz nebensächliche Entladung. Er begann nämlich an all den verklemmten Schubfächern zu zerren, die unter Spiegeln und überall rechts und links in allem Möglichen staken, rüttelte wie ein Besessener an ihnen, wie ein Berserker, bis sie es aufgaben — aufgingen — Inhalt vomierten: lauter Stückchen. Abgebrochenes. Leisten, Ecken, Aufsätze vom Leib des Muttermöbels waren in ihnen aufbewahrt. — Da klopfte es — die Rechnung. Eine Uhr schlug irgendwo Mitternacht. Der große Geburtstag war eigentlich soeben aus.

Lange Illusionen aber kennen nicht Geburts-, nicht Sterbetag — nur Sterbejahre.

 

Den Sonnenaufgang feierten also auch die Europäer mit einer Devotion, leiteten mit ihr den eignen Tag ein. Es wunderte ihn nicht, beruhigte ihn vielmehr wieder.

Gleich am Morgen im Ritz sah er jeden einem mächtigen weißen Blatt voll Schrift sich neigen und — noch ehe er Tee eingoß — ganz darin versinken, wie in Gebet. Die Devotionalien selbst aber mußten — das gefiel ihm besonders — immer leuchtend frisch gereicht werden. Abgenütztere wiesen alle jedesmal mit Zeichen des Abscheus weit von sich. Zweimal täglich, so um Sonnenauf- und Untergang herum, spielte sich dieser Vorgang ab. Auch auf Straßen, in Cafés; war also wohl ein verwandelter, dem Stadtleben angepaßter Naturkult: die großen Blätter Sonnenhymnen, Gebete zum Seelenaufgang gleich dem: o mani padme A. U. M., mit dem der Hindu seinen Tag beginnt. Sie lauteten in allen großen Sprachen, wie es schien. Eine allgemein europäische Andacht somit.

Auch er ließ sich andern Tags im Ritz eine Morgenhymne reichen. Sie war französisch: „Le Matin“. So hatte er denn richtig vermutet.

Und hub an:

„Von günstigen Winden gebläht, segelte das Ministerium munter von dannen ... doch ungeheure Erregung hat sich seit gestern des ritterlichen französischen Volkes bemächtigt und droht ... falls nicht Frankreichs berechtigte Interessen im nahen Orient ...

Der deutsche Harn:

Dem eminenten französischen Forscher M. Forest ist es gelungen, die seelische Minderwertigkeit der deutschen Rasse auch chemisch nachzuweisen. Der Deutsche, der nämlich dem subdiaphragmatischen Typus angehört, einen Quadratschädel, kurze, grobe Hände und Plattfüße hat, führt auch in seinem Blut mehr weiße und weniger rote Blutkörperchen als der Franzose. Derart ist es kein Beispiel zivilisierter Nationen, das ihn ändern kann, denn wie sollte dieses auf Hyperchesie und Bromhydrose, die ihn kennzeichnen, und auf seinen außerordentlich toxinhaltigen Urin Einfluß haben?“

Er überschlug ein paar Spalten.

„Gerichtssaal: Exbräutigam klagt auf Rückgabe des Hochzeitsgeschenkes: eines neuen Gebisses für die Braut, weil diese die Verlobung gelöst. Die Beklagte verweigert die Rückgabe mit dem Hinweis, das Gebiß sei ein Geburtstagsgeschenk aus der Zeit vor der Verlobung. Letztere habe sie aufgelöst, weil der Kläger mit der fünfzehnjährigen Nichte der Beklagten ... Das Gericht beschließt ... neue Zeugen ...

Bridge-Tee am Dienstag bei Mrs. Payn-Whitney ...

In dem reizenden Appartement der Rue X ... anwesend waren ...

Der Doppelmord in der Rue Cambon.

Grauenhafter Fall von Kindermißhandlung.

Kasseneinbruch ... Vergiftet aufgefunden ... Die Prostituierte Madeleine B. ... Explosionskatastrophe.“

Er griff nach einem deutschen Blatt:

„Wenn auch das Ruder des Staatsschiffes in allzu nachgiebigen Händen ... so wird doch der deutsche Aar ... wehe ... mit der tiefgehenden Erregung des deutschen Volkes zu rechnen ... falls nicht die berechtigten Interessen des Reiches im nahen Orient ... Schwere Degenerationserscheinungen in der französischen Rasse ... Geburtenrückgang.

Der Raubmord in Moabit ... Das Martyrium der kleinen Luise. Kasseneinbruch ... Erhängt aufgefunden ... Die ledige Dienstmagd ... Magazin in die Luft geflogen ...“

Er nahm ein Italienisches:

„Endlich mußte das Ministerium die Segel streichen ... die noble lateinische Rasse ... in heiligem Egoismus ... tiefe Erregung ... falls nicht Italiens berechtigte Interessen im nahen Orient ...

Wegen Urkundenfälschung verurteilt: Ein österreichischer Staatsangehöriger. Der Fetthändler Kovacs mit zwei italienischen Geschäftsfreunden forderte in einem Champagnerlokal der Galleria Vittorio Emanuele weibliche Gesellschaft. Sie ließen die junge Artistin Gilda Degrassi aus der Wohnung ihrer Mutter holen und verfielen während des Gelages darauf, die Jungfräulichkeit des Mädchens zu versteigern. Der Fetthändler Kovacs trug schließlich den Sieg mit 5000 Lire davon. Er stellte auch gleich den Scheck aus und übergab ihn dem Mädchen. Damit dieses aber „nachher“ das Geld nicht beheben könne, fügte er dem Datum eine falsche Jahreszahl bei. Das Mädchen bemerkte dies am nächsten Morgen, korrigierte selbst die Zahl und behob das Geld, worauf Herr Kovacs gegen sie die Anzeige wegen Urkundenfälschung erstattete ...

Vater, Mutter und vier Geschwister erstochen! ... Lustmord an der sechsjährigen Emilia O. ... Bankraub per Automobil ... Mit aufgeschnittenen Pulsadern fand man.

Kesselexplosion! ...“

Jetzt das große Englische:

The government’s position ... unable ... great nation ...

Der australische Tennischampion in London ... Prime minister’s Golf ... Beethoven II, die Blüte englischen Pferdefleisches ... versagte ... allen Freunden des edlen Rennsports ...

King’s bench division: Lady Sarah Sackville gelingt es, zwei Ohrfeigen ihrem Gatten nachzuweisen ... Zeugen sagen aus ... his Lordship ... decree nisi ...

An einem Schweinsdarm im Hofe erhängt aufgefunden: Aus Furcht vor Züchtigung versteckte sich der vierzehnjährige Schlächterssohn Harry S. hinter einem Faß voll Därmen, und als Entdeckung drohte, griff er, in Ermanglung eines Strickes, nach einem Darm und erhängte sich an einem Nagel. Er hätte an diesem Morgen sein erstes Kalb schlachten sollen, zeigte aber von je eine ganz krankhafte Abneigung gegen seinen künftigen Beruf. Durch vernünftige Strenge hoffte der bedauernswerte Vater dieser kindischen Verstocktheit (stubbornness) und Schwäche Herr zu werden. ‚Ich wollte eben einen Mann aus ihm machen,‘ sagte er unserem Berichterstatter, ‚wo käme die Nation hin ...‘

Der Raubmord in Sussex.

Im Hydepark verhungert aufgefunden: ein alter Mann mit einem Zylinder ...

Deutsche Greuel an afrikanischen Eingebornen vor dem Reichstag ... stock exchange ... liver pills ... beecham’s pills ...

In die Luft geflogen ...“

— — — — — — — — — — — — — — —

Sir Osmond Cadogan reichte ihm das „Echo de Paris“ herüber.

„Vielleicht interessiert Sie dieser Artikel anläßlich der heutigen Reprise in der ‚Renaissance‘ ... falls Sie die große Tragödin in dieser Rolle noch nicht gesehen haben. Oh, es ist sehr wunderbar“ ...

Dann versteifte sich der rosa Greis, stand steil und fassungslos. Was war denn diesem goldäugigen Exoten auf einmal geschehen, dessen Allüren, ihn gestern so getroffen, daß er eine Anknüpfung gesucht? Grüner Ekel sah ihn ja da an, doch wieder viel zu groß, um noch persönliche Beleidigung zu sein. Solche Leute von Übersee, trugen sie auch, wie dieser, einen noch so guten Namen, letzte Kultur und Gesittung ließen doch immer ein wenig zu wünschen übrig. Zur Beruhigung griff er seinerseits nach der „Morning Post“, die jenem entfallen war. Bald kehrte ihm altes Behagen zurück:

„Lady Sarah Sackville gelingt es, zwei Ohrfeigen ... An einem Schweinsdarm im Hofe erhängt ... deutsche Greuel ... Golf ... liver pills ... In die Luft geflogen ...“

 

Abends fuhr er allein zur Vorstellung. Place Vendômerue de la paixrue des petits champsavenueboulevard — schiefes Zick-Zack — wieder boulevard: straßenlang aneinandergelehnte hilflose Unfähigkeit, mit ihren Kilometern unbenützbar angequetschter Balkönchen, holperte gesimseschief die Autoscheiben entlang. Der Träumer seines weißen Traumes umformte — hinter gesenkten Lidern — mit seinem Raumsinn indessen das Problem: Theater.

Er kannte bislang nur die antike, von Süden vereinfachte Lösung: ein Ring aus kristallinischem Stein, geschlossen gegen das bröcklige, pfützenweiche, amorphe „Draußen“ und was dort sich abzappelte, abschmatzte, anspie und verreckte, noch ohne Stern — Achse — Persönlichkeit — Schicksal. Drinnen: konzentrische Marmorrillen, glatt, nur schauender Augen voll, in einem Eierstab lebendiger Köpfe. Drüber: offener Zenith, querdurch zuweilen Vogelflug, sich abbildend im Inneren des Ringes als springender Schattenball oder dunkler Strich von nichts zu nichts. Im innersten Ring ein kleiner Marmormond für sich: der Chor — Mittler zwischen Menge und Mensch. Auf der Bühne, durch Maske und Kothurn entrückt, die dramatische Person: Verdichtung ins Ungemeine von zehntausend Einzelleben, wie Blutwasser aus zehntausend roten Rosen über Feuer erst zu einem Tropfen Essenz gerinnt. Und das Drama: da ballt sich aus dem Leeren, in dem der Nichtige ungefährdet treibt, gegen den starken Ungemeinen das Trikymion auf: die dreifachen Brecher des Geschehens steilen sich ihm lautlos, wie einem Mond, entgegen.

Schon schwebt er über dem Ersten und in ein trügerisch gläsernes Tal. Dann siegend über den Zweiten — glatte Weite blaut auf einmal vor ihm auf mit Glanz von Paradiesen; die Welt scheint auszusetzen, atemlos. Nur Persönlichkeit und Schicksal bleiben brütend gegen einander überhangen. Durch diese Pause im dramatischen Geschehen rast jetzt, als Satyr-Zwischenspiel, das Chaos; metallne Phallusse klirren, aus rotem Tieratem tauchen: elfenbeinerne Triangel, die leichten Schultern der Flötenspieler. Mit Huf und Horn galoppiert es, noch leerer Trieb, vorüber ins Leere.

Und abermals hebt das Drama an. Sammelt sich in seiner letzten Schwärze. Des Trikymions dritter Becher steigt auf, gleichsam herangesogen von dem Ungemeinen, das ihm entgegensteht, wird ein Turm — ein Trichter — ein glasig verdauender Mund — und der geheimnisvolle Spiegel, den eine wundervolle Persönlichkeit durchbrochen, schließt sich wieder über ihr.

Das wußte er vom Drama, vom Haus des Dramas. Wie mochte es in Europa sein? Bruchstücke von Werken, die er kannte, ließen Außerordentliches hoffen. Doch vor allem: wie war das Raumproblem nordisch erfaßt, seine Vielfalt von Zweck und Geist; schon die trivialen Erfordernisse: Überkleider ablegen — dann gleichsam die Glieder ablegen: jedes störende Körpergefühl. Die Lösung all dieses mußte — das eben ist ja Architektonik — gleich aus solcher Tiefe herkommen, daß sie sich wie ein Monolith über alle Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse zusammenschloß zu organischer Einheit.

Der Wagen hielt. Nachher, in einen Bock aus gepreßtem Samt geklemmt, sah er aber immer nur den Eisenhaken, eigentlich nichts als die beispiellose Niedertracht dieses Eisenhakens vor sich, an dem, mit schmutzigem Strick zusammengebündelt, sein Pelz jetzt draußen hing. Zwischen schiefen Goldleisten aus Holz, rotem Papier als Damast, Tünche als Marmor, Marmor als Schlagsahne hatten sich armselige Höhlungen aufgetan voll Eisenhaken und abortfrauähnlichen Weibern. Letztere rissen ängstlich gestauten Männerhaufen ringsum Kleidungsstücke aus den Armen. Frauen wimmerten leise um einen geknickten Vogelsteiß auf durcheinandergeworfenen Hüten.

Dieser Haken aber verstörte, ja ängstigte ihn bis zur Übelkeit. Das andere hatte doch reichlich Stoff zu Mißbrauch und Verderb gegeben. Mit Holz, Marmor, Farbe, Stuck, Stein — falsch verwendet — ließ sich ja immerhin etwas ausrichten. Aber dieser Haken: ein gebogenes Stück Eisen mit einem Porzellanknopf, sonst nichts. Wie mit so wenig so viel Gemeinheit erringen?

Vielleicht zerging der Haken, wenn man um sich sah. Das vorne schien ein verwachsenes Rudiment antiken Chors: aus zwei ungelösten Eckproblemen heraus wand sich ein mannsdicker Wurm und versuchte unter Krümmungen seine eigenen Warzen aus rotem Plüsch zu verdauen. Hinter ihm, in geschwungener Stuckbadewanne, saßen bekleidete Leute im Gehrock vor Geigen. Faustdicke Symbole klatschten im Abstand von Froschsprüngen durch alle Ränge bis zum Boden, wo sie sich in zwei formidablen Haufen von Harfen, Masken, Schwänen und Fehlgeburten gestaut hatten. — Ein Musentempel. Merks, Cretin.

Säulen trugen nichts, der Logenring über ihnen war ja schon in sich selbst geschlossen. Zum erstenmal im Leben sah er eine — Halbsäule. Welcher Plumpsinn, die nicht luftumspülte Kurve in eine Wand hineinzupappen, mit deren Ecke sie zu einer üblen Figur zusammenfließen mußte, wie ein grades Bein mit einem krummen. Ja, sahen denn die Leute hier nicht? Sahen nicht, daß, wo Maße nicht stimmten, Bauglieder fehlten, Fugen klafften, sich nur irrsinnig gewordener Dreck beschwichtigend darüber pappte. Kein Quadratmeter Ruhe. Zum Schluß geriet er auch noch ins Tapetenmuster der Logen, sprang über kopfstehende Rhomben, immer hin und her, schließlich heraus, um beinahe, am Fußboden, sich doch noch in einer plötzlichen Darmschlinge aus Lorbeer zu fangen.

Langsam stieg leiser Wahnsinn in seine reinen Nerven.

Etwas mußte geschehen. Er warf den Kopf nach rückwärts und hinauf. Oben war ein großes Loch gemalt: Sommerhimmel und Wolken. An einem Haken mitten aus der blauen Luft kam ein viele Zentner schwerer Metall-Lüster gehangen, als Strafgericht über alles.

Nun sausten mit einemmal die neun Musen in die Höhe, welche, bisher straffgespannt, die Bühne verhangen hatten.

Hub das Drama an? Auf weißer Fläche — groß wie der Bühnenrahmen — hockte an Stelle der Mythologie jetzt ein etwa sieben Meter hoher Affe und scheuerte sich mit gewaltiger Zahnbürste das Maul aus; der Schwanz schrieb: monkey puzzle toothbrush unequalled. Blieb fünfzig Sekunden. Flitzte ab, und es erschuf sich: „van Houtens Cacao is de beeste gekoopste“. Flitzte ab und es ward Frankreichs Präsident: ein erweiterter épicier, krummen Bratenrocks, mit Knien in den Hosen: „regardez cet homme“ — stand vor seinem Bauch — „pas nécessaire d’avoir l’air comme cela — habits élégants complets depuis 49 frs chez Gaston Mandelstamm.“ Flitzte ab und es erschuf sich ...

Ganz witzig, aber dazu war er ja nicht hergekommen. Er schloß die Augen. Jetzt roch er den Europäer um sich her, seinen Porendunst: gestaute Schärfe nach übel verdautem Fleisch; seit Marseille Grund für ihn, Ansammlungen Weißer vorsichtig zu meiden. Daneben roch es noch auf zwanzigerlei Art falsch nach Chemie, die Blume sein wollte. Trockenharte Gerüche, im Laboratorium gezwungen, auf kurze Zeit zusammen Duft zu sein, doch mit heimlichem Hang alsbald wieder in feindliche Einzelgestänke auseinanderzufallen. Gleichsam durchzuriechen war das.

Jetzt verschlang — aus dem Boden getrampelt — eine Wolke morschen Staubes alles, und Handschuhe knallten wie Ohrfeigen.

Horus schlug die goldenen Sperberaugen auf.

Im Bühnenrahmen stand eine Greisin in weißen Lederhosen, den Kopf voll roter Wolle. Fingerdicker Ruß hing um die kahlen Augen, ein Klumpen Saccharin zerging im Mund zu Lächeln, während sie Küsse um sich streute mit verwesender Hand. Kokett schleifte das linke Bein nach.

Was war das?

Er erinnerte sich des erläuternden „Echo de Paris“ in seiner Tasche, entfaltete es. Richtig, die gefeierte Tragödin verfügte über ein neues Kunstbein. Hier war es abgebildet, neben dem Abgeschnittenen, und dort war der Stumpf; erst für sich, dann mit der Prothese, Bild des großen Operateurs, wie er gerade operiert, Bild des großen Dichters, wie er gerade dichtet. Es stand, wieviel die Operation gekostet, wieviel dadurch der berühmten Tragödin an Spielhonorar pro Minute entgangen, wieviel hinwiederum (pro Minute) die amerikanische Tournee eingebracht. Dann kam der Genius Frankreichs. „Gloire“ stand in den vier Ecken, und eine Trikolore flatterte über alles mit Stumpf und Stiel.

Das Drama selbst handelte aber gar nicht von Kunstbeinen, sondern hieß „L’aiglon“: der junge Adler. Die grauenhafte Greisin war der junge Adler. Nun krähte sie gebrochen auf.

Oh les cloches d’or“, und an drei verschiedenen Stellen des Parketts rissen auf einen Wink kurze Männchen mit schwarzen Bärten begeistert an ihren Adamsknorpeln; wieder knallten Handschuhe, und ganze Wolken weißen Schmutzes stoben aus den Frauen. Man snobte Tobsucht und starrte einander dabei, mit bösem Eis übergossen, roh und hart in die Kleider.

Nach einer Weile versuchte die grauenhafte Greisin schlimm zu sein — so recht bubenhaft und ein wenig pervers schlimm: spannte Glacéhöschen in den Augpunkt, saß rittlings auf Stühlen herum, kapriolte schließlich rasselnd über ein Sofa. Die Prothese knarrte, und das Publikum schrie: „vive la France“.

Zum erstenmal drang ein Gefühl durch die Augen in ihn — oder war es ein Zustand — etwas, für das er noch keinen Namen hatte, das, durch die Augen eingeschlichen, ihn von innen würgte, das er hätte herausspeien mögen aus diesen seinen Augen. Ekel vor dem Alter? Er fühlte sich doch frei von jenem Männchendünkel, Wirkungen, weil sie von einer Frau kommen sollten, ausschließlich nur mit einem Körperende werten zu wollen und höhnisch gestimmt zu sein, blieb dieses stumpf; wußte: was begreift ein Glücklicher vom Glück — ein Gequälter schon von der Qual? Liegt ihre funkelnde Essenz nicht vielmehr erst im Alter und auf der andern Seite des Vergessens, bereit für eine welke Auserwählung, eine, die, über ein langes Leben gebeugt, aus ihm erst den Rhythmus nachzuschöpfen vermöchte etwa einer Kassandra, wenn sie vom geschleiften Ilion herab — bekränzt und fackelschwingend — mit jauchzenden Flüchen in die Schändung getanzt kommt; orphisch entrückt die Wirbel des Untergangs in das verhaßte Königshaus hineintanzt.

Nein, am Alter lag es nicht.

Das eine Ohr der Tragödin begann jetzt zu tropfen. Ihre Kapriolen über das Sofa nebst den restlichen Leibesübungen machten, daß Rötliches und Fettiges von ihm absickerte. Unter dem abgemagerten Kopf hing ihr ein Kuheuter zwischen Vatermördern herab. Gut. Doch was war mit dem fettgewordenen Leib geschehen, das ihm dies Unmenschliche geben konnte?

Einen Kontur, wie ihn kein Gebrest, kein Geschwür, keine organische Entartung je zustande brächte, denn diesem Leutnant wuchs — stahlhart — eine schiefe Ebene vom Abdomen in den Raum hinaus, so, als hätte er eine gespaltene Pyramide verschluckt, ohne sie richtig verdauen zu können. In dies schräg abstehende Korsettgerüst vor dem Magen hatte man nun von oben die Brüste hineinversenkt und verteilt, von unten hinwiederum die Eingeweide hinaufgeschraubt; beides wohl um des Knabenhaften willen.

Aber auch daran lag es nicht, das Namenlose.

Das dramatische Geschehen selbst wurde von Sekunde zu Sekunde alberner — jetzt war es neun, Ende vor zwölf stand auf dem Programm — doch man konnte ja weghören; schließlich blieb auch das futil.

Nein, es mußte wohl aus dieser Art kommen, wie sie sich vergaichten alle auf der Bühne, aus dem, was sie da begingen mit ihren Gliedern, Rümpfen, Mündern, Mienen. Anfangs hatte es ihn eine utrierte Zeichensprache für taubstumme Idioten gedünkt, ehe er schließlich darauf verfallen, das alles solle Empfindung vorstellen — Bewegung gewordene Empfindung; wirklich das, was auf andern Kontinenten atmende Geschöpfe tun, wenn sie leben.

Hastig, passiv, unbehütet, hatte er es ohne Widerstand in sich hineingeschaut, tief hineingelassen in seine klaren Nerven und ihres mahnenden Unbehagens zu wenig geachtet. Herausbrechen hätte er es sollen aus seinen unbefleckten Augen zu rechter Zeit. Jetzt begann in ihm leise angespanntes Verschrobensein, dessen er sich nicht mehr recht zu entledigen vermochte: wie wenn sonst manchmal eine Zehe in Krampf verfällt, sich verkehrt nach unten durchbiegt wie eine gebäumte Raupe — am ganzen Körper war das jetzt so.

Übel verstellt schien sein Herz. Atmen, wie machte man das — Atmen? Steifes Grauen kam langsam herauf, und Zelle um Zelle gerann an ihm zu infernalisch ungekanntem Eis.

Schutzsuchend warf er seine fliehenden Augen in den halbdunklen Menschenraum. Hier aber hing das Namenlose ganz — im Bühnenspiel war nur sein Abbild gewesen — hier lauerte es herein, hier war dieses, was schluckte, immer schluckte: Leben, Glieder, Haare, Steine, ganze Marmorwände schluckte es — alles was echt war, wirklich war.

Und dann: wie durch einen bösen Doppelspat gebrochen, verzerrt, kündete sich wieder aus diesem Lauernden, Namenlosen heraus eine Art infernalische Wandlung alles Seins an. Diese Wandlung selbst war noch nicht da — nur ihre Vorzeichen: Vorzeichen, dieses Vergaichte, das einmal Rhythmus gewesen, dieses Zerbrochene mit abbröselnden Enden auf Frauenköpfen, durch Brillantine wieder zu einem Scheinleben mesmerisiert, dieses planlos Zerstückelte auf allen Körpern, das einst edler Samt, holde Seide gewesen, nun aufgehört hatte als fließender Stoff zu leben, ohne Gewand geworden zu sein. Aus all diesem: eisernen Haken, Abortfrauen, verkritzeltem Marmor, der Greisin in Lederhosen, den Blumen aus Chemie lauerte es herüber.

Ihm war auf einmal, als könne es nie wieder für ihn einen Wald geben — Schwalben. Vogelflug!

In einem der ungelösten Eckprobleme war der Rest eines halb weggefegten Spinnennetzes hängengeblieben und in ihm ein ausgesogner Fliegenbalg. An diesen klammerte er das Bewußtsein. Unsäglich liebenswert schien ihm auf einmal diese winzige Leiche; wie unverdiente Gnade traf ihn die Wahrheit ihrer kleinen Form. Sie war das Einzige. Zerfiel sie jetzt, blieb er fast ganz allein.

Er und die Prothese: weises, ehrliches Stahlgeschöpf, verdeckt zwar durch alberne Maskerade, aber er wußte es doch da. Kunstbein und Fliegenleiche, die beiden einzig Echten hier, schützten ihn vor dem Namenlosen, wenn es durch den üblen Doppelspat entleibter, entherzter, entseelter Dinge hereingebrochen kam, und vor dem in ein platzendes Aas sich hineinzuretten Reinheit schien, reinliche Fäulnis.

Eine fahle, lange Angst begann ihn zu drosseln, jede Blutader einzeln in ihm abzudrosseln wie einen Wasserhahn. Ersticken dürfen — wie einem wirklichen lebendigen Wesen zu ersticken vergönnt — Wohltat mußte das sein. Er betastete seinen Fuß: fremd, hart und so weit weg.

Doch hätte er nicht zu sagen vermocht, was es denn war, das Namenlose; höchstens, was es nicht war: nicht Hohlform, ist sie doch Abdruck noch eines Leibhaftigen, nicht Negativ, dem zum Grunde Positives liegt, auch keine aufgeblasene Nichtigkeit, denn auch ihr, selbst ihr noch lebt ja im Innersten verquollener Anmaßung ein Korn Sein.

Er schauerte zurück, wich hinter sein erschrockenes Herz, wich weg von dem verjauchten Jetzt, wieder in die reine Frühe seines Morgentraumes über dem nachtblauen Reich mit den kristallnen Achsen.

War damals unter den „Kegelschnitten Gottes“ — in dem Manuskript, das ihm Erasmus gezeigt — nicht etwas gewesen, ein von sich selbst Abgekehrtes, aus sich Verstülptes Fünftes, bisher Unvorstellbares, weil es im Gegensatz zur göttlichen Sucherin: Parabel, sich vom Brennpunkt alles Seins abzukehren hätte, um seinem Gegensatze zuzueilen? Ein schlichthin Infernalisches, dem selbst die Mathematik — die über allem Stehende — das Symbol verweigert?

Ein Unsein. Dieses Unsein.

Da brach er aus, zerbrach das üble Joch der Hoffnungslosigkeit, trat, stieß, riß wie ein süperbes Tier sich einen Weg durch keifende Reihen, an schiefen Goldleisten vorbei, hinaus unter die Sterne. Mit freiem Haar, ohne Überrock ging er nach Hause. Noch einmal umkehren, seinen Pelz, vom Eisenhaken herunter und mit schmierigem Strick umschnürt, wieder aus den Händen der Abortfrau empfangen — nein. Riß sich im Ritz auch noch die restlichen Kleider herab, ballte alles zu einem Bündel, warf es aus dem Fenster auf das rußige Glasdach des „Wintergartens“, bürstete unter dem brennheißen Strahl im Badezimmer sich fast die Haut vom Fleisch — reinigte Kehle und Mundhöhle — sog Unreines zu tiefst aus den Lungen herauf — stieß Frische hinab; in vier Spiegeln stand sein blendender Körper.

Aber es wich nicht. Und ihm fiel ein: durch die Augen war er vergiftet worden. Lehnte seinen Kopf an Gargis Tür — lange. Riß sich zusammen, klopfte, trat ein. In einem fernen, zarten Gewand des Ostens sah er sie wie durch kannelierten Rauch. Sie kauerte auf Kissen und spielte ein wunderschönes Spiel mit ihren Armen. Der Hals, weich auf die Luft gelegt, trug über sich im Haupt eine Wage voll Köstlichkeit. Unter der Stirnagraffe: dem Zünglein aus Rubinen, schwebten weit und wagrecht Augenschalen voll flüssiger Magie.

Sein zerrütteter Kontur ließ sie aufgleiten, ihm zu.

„Geh auf und ab. — So. Nimm ein Glas. — Stell es wieder hin. — Schlag ein Buch auf. — Blättre um.“

Auf dem Diwan sitzend, die Ellenbogen auf den Knien, die Schläfen in den Fäusten, trank er jede Bewegung mit den Augen aus, bis zur Neige. Wie ein Vergifteter Milch durch seine arme Kehle rinnen läßt, so schluckten seine Lider. Und sein Blut ward süßer, denn ihr Verstehen war bei ihm; erriet im voraus den Durst seiner armen Augen. Bald wurde sie Ärztin und Arznei zugleich, verließ seine planlosen, aus hilfloser Angst in der Irre tastenden Befehle, und nun sah er sie auf sich zukommen wie die Genesung im März, mit der edlen Entschiedenheit eines Tieres und über allem der Blumenmensch mit durchleuchtetem Haupt, und die Wahrheit ihrer Gebärde ging durch ihn hindurch wie ein Schwert.

Vorsichtig zwischen seinen Füßen kauerte sie auf den Teppich nieder — rührte ihn nicht an — seine Haut und hinab die gewaltigen lichtlosen Sinne brauchten sie jetzt nicht; am höchsten Sinn, aus dem die Welt erfließt und die Vision, war er verunreinigt worden. Sie ruhte im Lotossitz der arischen Asiaten in erlöster Ruhe, die alle Bewegung erfahren hat, und das als Herr.

Etwas von Musik, Akrobatik, vegetativer Verklärung! Es war die Essenz magischer Kraft. Langsam füllten sich die Augen des Mannes mit ihr. Tränen kamen ihm, als er seine Hand erkannte — wieder eine liebe Hand haben und sie rühren können wie ein lebendiges Wesen. Das angespannte Verschrobensein am ganzen Körper wich, ausgetrieben über die Ränder seiner Glieder, wie über den Brunnenrand ölig Gestautes aus schmierigen Lefzen verspritzt unter starkem Strahl. Schön wußte er sich wieder, wie ein Marmorbecken, klaren Wassers voll.

Bis zum Morgengrauen blieb sein zarter Arzt zu seinen Füßen. Eine beispiellose, eine unerhörte Sinnenkraft stand als unsichtbare Glocke um die aufrecht kauernde Gestalt. In ihr waren die Knospen und Früchte aller Bewegungen und das Magische ganz freier Tiere, das Rieseln der Gräser und der Ströme, das war doch alles, alles nur für diese Mulde zwischen Weiche und Schenkel da. Tausend Spannungen liefen an ihr hinab und tausend Entzückungen stürzten über die jungfräulichen Schultern und den Flaum der Wirbel. Endlich schlossen sich seine zögernden Augen, ganz zaghaft, wie zur Probe. Er blieb rein. Da hob er den hammerschmalen Kopf aus den Fäusten langsam hoch und weit zurück. Hell lagen die breiten Lider in der gebräunten Haut, wie von innen durchlichtet, und langsam floß wieder die alte Sonnigkeit in das starke Gesicht voll Geist.

Aus einem durchsichtigen Schlummer heraus, mit der lindgebrochenen Stimme des Wunden, wenn königliches Morphium über seine Qual streicht, bis sie zu schrumpfen beginnt — schrumpft — noch mehr — jetzt nur noch ein Stecknadelkopf ist — dann — fort, und wie er über diesem „fort“ erst ganz flach nur zu atmen wagt: mit der lindgebrochenen Stimme solch eines Eben-Erlösten flüsterte er: „Wohl, wohltun.“

Das kunstlose Wort, unbeholfen und lauwarm wie der Körper eines ganz kleinen Kindes, schien ihr die erlesenste Liebkosung, die sie je in ihm erweckt.

 

Sie kamen wieder einmal von den beiden Vitrinen mit ägyptischer Kleinkunst im Erdgeschoß des Louvre. Nach allen Leichenfeldern des Ungeschmacks, inbrünstiger Barbarei, Monomanie oder Geziertheit befreiten sie sich andachtvoll vor den zwei Dutzend Schalen, Salbgefäßen, Schmuckstücken. Diese zeigten der Natur, kühn und lieb zugleich, wie sie es etwa zu machen hätte, fühlte sie je das Bedürfnis nach Schalen, Salbgefäßen, Schmuckstücken, denn sie waren vollkommen ohne die Banalität des Nur-Schönen, kühn ohne die Kurzlebigkeit des Originellen.

Heute hatten Horus und Gargi den Louvre durch ein anderes Tor verlassen als sonst und gerieten da schon wieder in eine weitläufige Masse gemischten Stils, die: „Louvre“ hieß und erst von ihnen für einen neueren Trakt gehalten worden war. Dieser schien sich jedoch eines viel regeren Interesses zu erfreuen als die anderen. Er sog vor allem Frauen aus den Straßen heraus und in seinen Leib, dem wieder bepapptes, totes, schiefes, gemeines Gerümpel zu allen Poren herausbrach, hing und flatterte.

Die Damen in seinem Bauch aber rissen einander behängte, bestickte, verkritzelte Lappen aller Art mit verglasten Augen aus den Händen, wenn bestimmte Zahlen darauf standen: etwa 29 Frs. 95. Also Frauen, gerade Frauen: Trägerinnen des Lebens trugen diese toten Fehlgeburten geschändeter Maschinen aus, in lauter Paketen hinaus, infizierten die Welt damit. Und Maschinen: seine Halbgötter, dazu wurden hier die herrlichen Stahlwesen mit den dampfenden Rüsseln mißbraucht? Statt das Leben zu befreien, zwang man sie, unaufhörlich lebensfeindlichen Mist aus sich herauszuschleudern, das Leben mit toten Mißgeburten einzumauern, deren es nicht bedarf, die es hemmen, ersticken, eindorren, vergaichen.

Er fiel von einer Abteilung, einem Bazar des Irrsinns in den andern: Orfèvrerie, Galanterie, Bijouterie. „Aus was für Knollen im Hirn eitern solche Sachen?“ sann der Erschrockene.

„Wer ersinnt — wer entwirft — wer macht — wer bestellt sie?“

Und leiser Verdacht durchschauerte ihn, eine allmächtige Horde unsichtbarer Irrer unterjoche einen blinden Kontinent.

Bösartige Irre — es gab keine andere Erklärung. Vor den ersten Klavierbeinen und Kleiderständern hatte er gemeint, die Usurpatoren seien irrsinnige Drechsler, die alle Drehbänke Europas an sich gerissen, dann gewaltsame Glaser, Vergolder, Weber! Doch nein, das alles hatte nichts Menschliches mehr, war von der überpersönlichen Infamie dieses aus sich selbst verstülpten, unfaßlichen Unseins.

Sie suchten den Ausgang, gerieten in eine Abteilung: Wandschmuck. Wozu ein sich selbst Erfüllendes, wie es die edlen Maße einer Wand sein sollen „schmücken“? Die noblen, weiten, notwendigen Flächen verkleinern, durch Ornament unterbrechen, immer wieder verkleinern — man unterbricht doch auch einen Sprechenden nicht, wozu den Wohllaut des dreifachen Raumes unterbrechen, dessen Ganzheit eben ist, was er zu sagen hat. Und ist er fehlerhaft, warum ihn mit einem zweiten Fehler bekleistern, statt das Geld zur Ausmerzung des Ersten verwenden: Doppelschund statt einfachen Anstandes. Warum immer das Pferd beim Schwanz aufzäumen? Warum?

Am Anfang der Zeiten, schien es, hatten die Menschen nur das Allernötigste — jetzt, am Ende, nur das Allerunnötigste.

„Wie kommt es,“ sann er, „daß jedes Ding in Europa, das für Luft, Wasser, Eis, Dampf, Stein gehört, herrlich gerät, wie noch nie, alles aber, was für diesen allmächtigen Herrn über Luft, Eis, Dampf, Stein selbst gehört — kläglich — ‚unherrlich‘ wie noch nie?

Wie kommt es, daß, seit die Welt steht, die Leute es sich nicht so freudlos, teuer, verkehrt und schlecht eingerichtet haben, wie diese Europäer im goldenen Zeitalter der Technik?“

Auf die großartige Einseitigkeit einer mechanistischen Formenwelt wäre er noch eher gefaßt gewesen, leichter bereit, auf sie resigniert sich einzustellen, wiewohl auch die reinlichsten Einfamilienställe vor ihm wie nichts gewesen, wären sie nicht von einer Seele für eine Seele erbaut, darin sich zu entfalten. Doch nicht einmal das. Dafür dieses zusammengelogene, heterogene, räudige oder aufgeblasene Gerümpel: europäisches Stadtbild genannt! Keine Säule untadelig, kein Eckproblem reinlich gelöst, ja das Problem nicht einmal empfunden, eine optische Saloppheit an diesen hingesudelten Palastbuden, und hier — das hier: einer der tausend Speicher, mit dem sich das Draußen anfüllte.

Wenn er nur an diesen Schlafwagen von Marseille nach Paris dachte: der Samt des Sitzes längsgestreift, die gepreßte Ledertapete in Darmverschlingungen, braun gold, grün, am Vorhang eingewebt stehende Rhomben, die Bodenbespannung innen in Karos, außen mit Blumenbordüre; sinnlos alles, ruhelos wie ein Affenhinterteil.

Sahen denn die Menschen nicht, daß die Dinge alle nichts taugten, das, worin sie wohnten, womit sie bekleidet waren, was sie aßen?

Jetzt war nur noch die Parfümerieabteilung zu überstehen, da hielt Winifred Cadogan sie an:

„Oh bitte, Mr. Elcho, wie sagt man: Eau de Cologne auf französisch?“

Ach, man sagte auch auf französisch so. Wie, sie gingen schon. Ob sie nicht einen Augenblick warten, dann mit ihr und mommo zu Callot, Cheruit, D’Oeillet fahren wollten? Um dort Geld ausgeben zu können, müsse man eben manchmal hierher und sparen. Sie erlegte dabei tugendstolz an der Hauptkasse 400 Frs. für einen üblen Turm von Dingen, die weder Mensch noch Vieh zur Lust.

Ja richtig, eine Gesichtscreme brauche sie noch.

Die Verkäuferin frug, welche.

„Irgendeine, von einer guten Firma. Ja, auch einen Puder dazu. Ja, auch ein Toilettewasser, ganz gleich welches, nur nach sweet-pea müsse es riechen. Ja, einen Lippenstift. Ja, Haarwasser, aber ein gutes, sie verlasse sich da ganz auf die Verkäuferin.“

Über seinen ganzen Körper hin spürte er jetzt Gargis Erstaunen, dieses Verschweben der wissenden Dame in mitleidige Ferne, und ärgerte sich, daß er über die fremde Europäerin sich ärgerte. Was ging das schließlich ihn an, wenn hier die mehresten Frauen faniert aussahen, mit einer zersetzten Haut, von Metallen und Säuren schwammig angefressen?

Was ging das ihn an, daß sie nicht einmal die chemische Zusammensetzung kannten von dem, was sie hineinrieben in das köstlichste, verletzlichste, persönlichste Gebilde: die Haut. Zu faul, fahrig und unwissend, die ihr allein wohltätigen Dekoktionen aus Harzen und Blüten sorgfältig zu erproben, deren Bereitung selbst zu überwachen?

Was ging es ihn an, wenn sie, statt die Anmut aller Tiere, aller Ranken und Wellen in sich zu bilden, auf daß der Mann an ihnen die ganze Schöpfung auf einmal streicheln könne, vermeinten, den Liebreiz eines Tieres zu ergattern, indem sie ihm das Fell über die Ohren zogen? Ja, es ging ihn an:

„Pallas und Nausikaa“ im Warenhause.

Die nächsten drei Wochen waren Gargis europäischer Ausstattung bei den großen Coutüriers gewidmet, und er lernte mancherlei: daß die eine Hälfte der Frauen immer die andere Hälfte verachtet, weil sie entweder zu viel oder zu wenig tote Vögel auf dem Kopf hat. Daß eigener Wahn und fremde Aktiengesellschaften mit ihrem ungeheuren Apparat die Europäerin zwangen, jedes halbe Jahr Milliarden auszugeben, damit ja kein Stil an ihr sich bilden könne, denn Stil braucht, wie alles Organische, zum Entstehen — Zeit. Mode: Todfeindin des Organischen, aber hatte zu wechseln als das, was sie sein sollte: anregender Fausthieb auf die Netzhaut für den optisch Impotenten, dem man alle drei Monate ganz verdreht den Frauenkörper um die Sinne klatschen muß, auf daß er merke: das sind Frauen. Fausthiebe aber bedürfen steter Erneuerung, um gespürt zu werden.

Und er erkannte: außerhalb Europas, wo eigener Kontur gestattet, vermag auch die Ärmste als Dame zu wirken, in Europa die Reichste — kaum, denn man kann wohl modelos — uneingekleidet —, doch niemals schlechtgekleidet eine Dame sein, die Eleganz Europas aber blieb stets ein ungeheuer kostspieliges „trotzdem“: trotz Reihersteiß auf der Stirn, — immer irgendwo zu lang, irgendwo zu kurz, nicht allzu grotesk zu wirken.

Für fünf, sechs erlesene Frauen hieß „elegant“ sein, sich jeden schiefen und toten Wahn gestatten können, wie ein Hindernis ihn nehmen, immer noch scheußlicher, immer noch höher! Alles überwinden durch unzerstörbare Rassigkeit der Anlage. Wenigen Frauen — Zufallstreffern aus Blutmischungen — gelang es halbwegs. Sie balanzierten dann auf einem schmalen Streifen Seligkeit ihre labile Auserwählung zwischen Abstürzen ins Lächerliche dahin. Die aber in Europa solcherart elegant sein wollten, konnten außerdem nichts anderes sein.

Lachend meinte er einmal zu Gargi: „Die Hälfte an Energie würde genügen, einen neuen Indra zu machen, wie es der König Vismavitra konnte, hier wird ein neuer Hut draus.“

Nein, er wunderte sich nicht mehr, daß Winifred Cadogan nie Muße und Kraft gefunden, zu erkennen, „Eau de Cologne“ sei französisch und wirklich das, was sie ja immer schon „Eau de Cologne“ genannt.

Er verdachte es ihr nicht. War zu sehr Mann dazu, orientalisch empfindender Mann, wußte: jeder Defekt an der Frau ist nur Gradmesser des erotischen Tiefstandes ihrer männlichen Umwelt.

Als Gargis Trousseau vollendet war, zogen sie sich fast ganz auf ihre Zimmer zurück.

Es war ja alles voll gemeiner und irgendwie unreiner Personen und voller Genüsse für Sträflinge auf Urlaub — für zu früh Freigelassene oder zu lange Eingesperrte. Das Ganze ein bengalisch beleuchtetes hündisches Hinliebeln an jeden weiblichen Prellstein mit Tam-Tam-Begleitung; von allem zu viel, nur von einem zu wenig: Takt.

„Sie scheinen extrem anspruchsvoll,“ sagte Sir Osmond verwundert, „Paris ist ja allerdings nicht mehr, was es war ... diese vielen Südamerikaner. — Kommen Sie doch lieber nach St. M., da finden Sie jetzt die besten Leute von hier und drüben.“

 

Der 1912te Jahrestag der Geburt Christi: des europäischen Heilands.

Somit waren heute wieder die Trabrennen auf dem tiefgefrorenen See des sehr mondänen Winterkurorts 1800 Meter über dem Meere eröffnet worden.

Horus hatte sich, seiner heimischen Gewohnheit treu, auf seinem Appartement allein servieren lassen: Brot, Reis, Honig, Früchte und Milch. Gargi, erregt, fast entzückt von dem milden Eis dieser neuen Luft und hingegeben der ganzen, ihr so fremden Weiße der Welt, blieb in einen Chinchillamantel gewickelt auf dem offenen Balkon allein. Ihr Gefährte ging, sie nicht zu stören. Er wußte: nun würde sie zum erstenmal in Europa die tiefen und heiligen Spiele ihres wundervollen Atems in der Firnenstille erproben, sich mit der Kraft aller Sehnsucht bis ins Innerste zu reinigen versuchen von der Minderung an Kaste, an der sie, seit der Ankunft in Marseille, stumm litt.

Die Welt war wie ein Negativ. Alle Helle stieg aus dem Boden. Die Erde erleuchtete sich selbst und das Firmament.

Er wanderte an dem schneegebeugten Campanile vorbei und immer auf flaumigen Kristallen hinauf einen gläsernen Berg. Ihm fielen die schönen Namen der neuentdeckten Metalle und seltenen Edelgase ein: Ytterbium, Palladium, Thorium, Argon, Neon, Tantal, Praseodym. Praseodym; stumm hörte er es sich noch einmal an, zwischen Mund und Ohr: das Körnig-Kühne.

Manchmal löste sich eine weiße Last schwer aus den gebeugten Lärchen, stäubte lautlos nieder in das ganz große Weiß, und der befreite Zweig schwankte leise die Sternenbilder auf und ab.

Endlich kehrte er ins Astoria zurück. Das Gedränge in den Gesellschaftsräumen ließ das Vestibül von Gästen leer, nur eine kostspielig aussehende Dame schritt ruhig und ahnungslos zum Lift. Hinter ihr drein, mit einverständlichem Gaunergegrinse gegen die Portiersloge, macht der Zimmerkellner blitzhaft eine Geste von geradezu infernalischer Gemeinheit, die jene Dame geschändet zurückläßt. Ein Tritt mit den Augen gibt ihr den Rest. Seine gründreckige Fratze voll Gier, Hohn, Schadenfreude bemerkt jetzt eine fremde Gegenwart, und alles ebbt ins ölig-tückische zurück. War es überhaupt gewesen?

Er ging lautlos auf seinen Schneeschuhen weiter in die Garderobe. Einer der Lungerknaben vertauscht mit affenartigem Geschick Börsenaufträge und Rendezvous-Billets aus verschiedenen Überziehertaschen miteinander, zwei gemauste Habannazigarren zwischen den vorderen Zahnlücken. Der Gast. In einem Augenaufschlag die gleiche Wandlung wie vorhin: ein devotes gedunsenes Kind aus Messingknöpfen hilft dem Herrn Pelz und Überschuhe ablegen. Er ordnet die Frackkrawatte — hinter seinem Rücken erscheint im Spiegel phantomhaft wieder der andere Aspekt: angefressene Finger prüfen, zynisch bis in jede Phalanx hinein, die Qualität seines Mantelfutters.

Die gleichen Finger flechten ihn mit sadistischer Beschleunigung in die Drehtür, als wärs aufs Rad, und er steht in der Hall. Aus ihr schlägt die Grellhölle. 1500 Glühbirnen à 75 Kerzen, alle just in Augenhöhe. Überdies läuft noch jeder der imitierten Marmorsäulen um die falsche Entasis ein metallener Serviettenring aus geschnörkelten Lichtspritzen. Alle schießen sie mitten ins Gesicht.

Keiner der oberen Vierhundert scheint das zu sehen, wiewohl die meisten blutige Fasern in Augäpfeln haben, die tränen.

Drei Orchester durchfetzen gleichzeitig die Luft. Hier in der Hall bei dem großen Rotbefrackten zerrt eben das Fagott in der einen — die Geigen in der andern Ecke — mit viel Tremolo oben und unten heftig an je einem Bein des Themas, so daß es in der Mitte, gerade über dem Kopf des Dirigenten mit einem Knall in den eigentlichen Puccini zerplatzt. Da ertrinkt für einen Moment sogar das Arrageschrei der Amerikanerinnen. Rechts hinein johlt ein pfiffig schleifender Foxtrott aus dem Tanzsaal nebenan; was von links die Zigeunerkapelle aus dem Restaurant winselt, ahnt keiner. Sie hat — gleich den Stymphaliden — schlichthin ins Essen hineinzu ... musizieren.

Dem Entsetzten beginnt das Herz zu hinken in diesem hahnentrittigen Trippelrhythmus, während lange Kakophoniefäden quer durchs Gehirn fatal von Ohr zu Ohr ziehen.

Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu hören.

Aus den Fräcken italienischer Kellner, aus ihren Manschetten, wenn sie Whisky-Soda servieren oder theatralische Viktualien, steigt der faulige Geruch muffelnder Schlafkammern, in denen ihre ungepflegten Körper die Servierdreß über verwesende Wolleibchen ziehen.

Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu riechen.

Horus hatte innerhalb der Aura eines Mittelmeerkulis den Atem angehalten und versuchte nun wieder an anderer Stelle Luft zu schöpfen, sie war jedoch in diesem gegen die äußere Reinheit mit allen Machtmitteln der Mechanik abgedichteten Raum schon völlig verbraucht. Rotierende Windmotore fegten nur immer die Lungenexkremente der einen den andern in den Schlund.

Keiner der oberen Vierhundert scheint es zu fühlen.

Es war nach dem gemeinsamen X-mas-dinner zur Feier der „geistigen Wiedergeburt des Menschen“, wie europäische Schriften behaupten:

Royal natives
Consommé des rois étoilés
Mignonettes de chez elles à la Nazareth
Entrecôtes à la Sainte Vierge
Délices de fois gras Getsémaneh
Chapons à la Broche St. Jean
Parfait des Mages

Frivolités.
— — — — —

Besonders Johannes der Evangelist war als Kapaun überaus fett gewesen.

In kleineren Sälen, für Privatgesellschaften reserviert, ging die Theophagie noch weiter. Jemand, mit einem Banalitätstumor im Gehirn, sprach irgendwo rastlos Toaste. Im Spielzimmer saßen gewesene Menschen seit vorigem Mittwoch beim Bridge. Die große Hall aber füllten die eigentlichen Ortswechsler von Beruf — „die Auslagenarrangeure ihrer selbst“ — krampfhaft bemüht, immer im Lichtkegel des Scheinwerfers zu bleiben, von Florida bis Kairo. Eine irrende Horde, ewig im Umkleiden begriffen; mit hundert Kilometer Stundengeschwindigkeit eilend von einem Ort, wo sie nichts verloren — zu dem andern, wo sie nichts zu suchen hat.

Horus wäre gerne ganz in das wabernde Schmalz des Puccini geflüchtet, als Schutz gegen die Qual der Triplekakophonie. Es stand aber eine Phalanx dazwischen. Nicht zur eigentlichen Gesellschaft gehörig, heraufgespien von den Trabrennen: aus allen Angeln gedrehte Lebekommis, muskulöse Herren auf „esku“ aus der Pariser Affenoase mitten in der wilden Walachei, denen sehr schwarze Haare aus sehr weißen Manschetten stachen, ethisch völlig ausgeweidete Semiten aller Gegenden und Zonen, erfolgreiche balkanische Bandenführer im Smoking — das Nationalkostüm, größtenteils aus einem Nachthemd und zwei Pistolen bestehend, trugen nur mehr ihre Könige bei Photographen, junge Börsenbrut, von Angesicht, als habe eine Hausse in Trebern sie eben auf den Lebensmarkt geworfen, und der Kaufherr aus Braila, dessen gerundete Handbewegungen immer noch die Qualität der Schweinsbohnen liebevoll abzuwägen schienen, während seine Äuglein wie Läuse über alles hinkrochen.

Da vorbei schien unmöglich. Wenn sie in ihrem kabbalistischen Jobberslang von „Abstammung und geleistete Arbeit“ sprechen für gutes Abschneiden, und von „satteltief“ sich unterhielten, ohne daß man je sicher war: meinten sie ihre Rosse oder ihre Weiber — das vertrug er noch nicht. Lieber an den amerikanischen Müttern vorbei, um die ganze Hall herum.

Wie er so stand, versank ihm die Menge im Raum. Er fühlte für den Augenblick nur dessen zudringliche Saloppheit, die noch so unbeherrschten Machtmittel des Architektonischen am „Wohnleib“ Hotel, und sich darin als Transvestiten.

Der ganze bedrohliche Kasten war, wie alles „neueste“, im Gegensatz zum räudigen Tragantstiel kleinerer Börsencoups der achtziger Jahre, ganz auf Südamerika berechnet, somit auf den natürlichen Ungeschmack des Romanen, zum Exzeß gesteigert durch Reichtum und Hitze: Stil des Tropenkollers ausgebrochener Sträflinge und nachmaliger Präsidenten von Republiken.

Gleich rechts vom Eingang saß schon einer: der alte Porphyrio Pães. Sauer war es ihm geworden, endlich seine dreißig Millionen ins Trockene zu bringen. Einmal war er der „Rebell“ gewesen, dann wieder der andre; ewig wechselnd. Oft auf der Flucht, hatte er sich schließlich aber doch darauf verstanden, daß im kritischen Moment immer seine Gegner von ihm abgeschnitten wurden „in Bezug auf die Köpfe“, wie es im spanischen Satzbau gebräuchlich ist.

Neben ihm hingen Sir Osmond Cadogans Beine als Schwebebrücken über die Hall zum fernen Kamin; der Verkehr wickelte sich unter ihnen klaglos ab. Seine schimmernden Pumps, offenbar heliotropisch, suchten so automatisch das Feuer, wie die Blüte das Licht. Er saß — die Schultern auf dem Sessel — nur der rechtwinklig abgebogene Kopf stand einsam in die Lehne hinauf und gab ihm das Aussehen eines sehr soignierten Jahrmarktautomaten — gleich würde er Lotterienummern zu spucken anfangen. Der ganze Sitzvorgang war bei ihm gleichsam um ein Stockwerk verlegt.

Die Hall barst von Stimmen. Unwillkürlich horchte Horus hin.

„Genia, waren wir schon in Rom?“

„Rom? — Oh mommo, das war doch dort, wo wir die hübschen seidnen Strümpfe zu 14 Frs. 75 gekauft haben,“ und Genia Waanebeeker wechselte zum Kamin, das kühle Gelee ihres Temperaments erzitterte leise, denn dort zerfloß schon allzulange Linda Bordone neben dem schönen Archangelo Cavadini.

14 Frs. 75, das ist doch 3 Dollar 5 Cent, oder verwechsle ich es wieder mit Fahrenheit — aber meine Liebe — bei Debenham und Freebody bekommen Sie doch first class hosiery für eleven six pence, das ist nur 13 Frs. 90! — überhaupt London: da haben Sie Harrod’s und Jay’s und Selfridge — und ... Aber ein Gegenchor stand auf: nein, es gibt nur ein place for shopping: die Galeries Lafayette — die Transformationen dort, die „blouses“ und alles versank endgültig in dem Rachen des großen Pofels.

Er war sehr begehrenswert, sehr anders, wie er im makellosen Abendanzug durch den Saal schritt, sogar die Mütter tauchten einen Moment aus den „Galeries Lafayette“, wo es am tiefsten ist, und berieselten ihn gierig mit ihren Lorgnons.

Er fühlte: eine stilisierte Sehstörung in Brillanten an einer byzantinischen Nabelschnur. Wie kann man etwas für jedes halbwegs gesunde Empfinden so Beschämendes, wie einen Defekt am edelsten Sinn: dem Auge, noch durch Edelmetalle und Steine unterstreichen — wie kann man sich mit einem Körperfehler schmücken? Da bemerkte er, angewidert und belustigt zugleich, daß ja auch manche Lorgnons in Fingern ruhten, die Ringe an Gichtknoten trugen.

„Warum hängen sich die alten Frauen in Europa nicht lieber einen Scheck in gleicher Höhe um den Hals, wäre das nicht optisch erfreulicher, als Perlen über häutige Hälse holpern zu lassen?“ Und die traurige Frage ward groß in ihm: „Werden die Menschen im Alter um so viel häßlicher hier, weil sie sich selbst ähnlicher werden?“

Getrennt von der kompakten Trabrennhorde trieb sich ein scheinbar wildlebender Jobber: Drilling aus Roßtäuscher, Schmierenkomödiant und Galopin ständig in der Nähe der Separées herum. Träufelten dann Privatgesellschaften heraus und zerflossen in die Hall, versäumte es die Gastgeberin fast nie, gerade diesen etwas von oben herab — und doch wieder ängstlich — in ein Gespräch zu verwickeln. Als Horus vorbeiging, stand eben eine Dame, nach dem Kanon des Öltanks gebaut, bei ihm:

„Prinz Strasyboulos Argyropoulos führte die Hosteß Mrs. Beermann aus Chicago, die in einer höchst kleidsamen Kreation von Cheruit besonders faszinierend aussah. — Nein, schreiben Sie lieber: Der Marqueß of Kar and Kinstone führte die Gastgeberin Mrs. Beermann aus Chicago, die ...“ Ganz am Ende kam noch eine Reihe wohlklingender Gäste.

„Kein Mr. Beermann — keine Miß Beermann anwesend?“ Der Drilling frug es mit sardonischem Grinsen.

Sie zauderte. Sollte diese makellose Dinnerfassade durch weitere Beermanns Abbruch leiden? „Nein,“ entschied sie, „die Liste ist vollständig; aber daß es sicher morgen im Herald erscheint.“

Und die so jäh dem Schoß ihrer Familie Entbundene versuchte sich mit gnädigem Nicken zu entfernen.

Da sagte der Roßtäuscher von der andern Fakultät, dort wo sie schon an Kunst und Literatur grenzt: „Bedaure, wir sind mit Notizen ‚aus der Gesellschaft‘ für eine Woche komplett. Wir mußten schon Lady Cadogan zurückstellen. ‚Lady Eveline,‘ sagte ich zu ihr, ‚es ist mir nicht möglich, selbst einer so alten Freundin ...‘.

„Ich werde Ihnen sofort Mr. Beermann schicken, um das zu regeln.“

Und Mrs. Beermann jagte ihren über das ganze Hotel ausgeronnenen Gästen nach. Nur Mr. Beermann stand noch da und schielte zum Erschrecken in seine eigene Brieftasche hinein. Mit Bedauern und Geringschätzung sah Lizzie Beermann zu ihrem eisblonden Tischherrn hin, nun saß er wieder, sichtlich befreit, bei seiner eigenen „set“. Wie eine verpflanzte Blume war Lizzie zwischen den bleckenden Stiefeln, den Schlachthäusern und goldenen Gebissen Chicagos syrisch ausgeblüht, litt und zersehnte sich nach dem, „dessen Kehle süß und der ganz lieblich ist.“

Am Ende des Abends ergab sich aus dem Notizbuch des Drillings, daß der Marqueß of Kar and Kinstone im ganzen acht Hostesses und Prinz Strasyboulos Argyropoulos deren sieben heute zu Tisch geführt hatte.

Horus glitt an lungernden Baronen, an Epheben von den Aasfeldern der Zivilisation vorbei, quer durch den Raum zum Kamin, wo Linda Bordone wie hingeweht saß, neben dem schönen Archangelo Cavadini.

Die gebauschte Gaze ihres Kleides strebte in Flatterschlägen eines jungen Huhnes an ihm hinauf:

„450000 Tausend bar, mehr kann ich von Onkel Barnabas nicht herauspressen,“ und sie versuchte in der trockenen Spannung dieses eisigen Schlußschachers nach vier verpürschten Saisons ihrem armen Stimmchen das arglose Zwitschernde zu wahren, zu dem jungfräuliches Dahinblühen, eine noch aufrechte Forderung aus der verflossenen Generation her, sie verpflichtete.

„Die Differenz ist ja nur 50000,“ ihre hübsche zitternde Hand berührte leicht seinen Arm.

Wie eine gereizte Maus ließ er seinen Bizeps unter ihren Fingern aufschnellen. Dann fiel ihm ein, wie er das hier doch eigentlich gar nicht mehr nötig gehabt hätte. Verschwendung. Aber er konnte es nun einmal nicht lassen.

„500000 bar,“ und seine Stimme war um so kälter und härter.

„Als angehender Politiker,“ fuhr er fort, „wäre es überhaupt für mich vorteilhafter, noch nicht gebunden zu sein — aber sollte ich mich entschließen — wir, die wir für ein größeres Italien kämpfen, für den Genius der Rasse ...“

„Ist denn Genia der Genius der Rasse,“ zischte sie plötzlich kalt wie Metall.

„O, wie töricht sind unsre Männer, immer auf diese Fremden hereinzufallen. All ihr Geld brauchen sie für sich allein, der Mann darf nicht einmal das Auto mitbenützen, und raucht er im Schlafzimmer eine Zigarette, so lassen sie ihn verhaften.“

„Quadrupedescu hat gestern nacht beim Bakkarat Monseigneur 200000 Frs. abgenommen,“ meldete Genia Waanebeeker. Von den Raeburngirls lange aufgehalten, denen ihre Eile verdächtig gewesen, hatte sie erst jetzt den Kamin zu erreichen vermocht.

„Welch bezauberndes Kleid — wo ist es her?“ Und sie verschob dabei mit zärtlicher Hand ein ganz klein wenig die Garnierung, die in Lindas Rücken ein Feuermal verdecken sollte.

„Callot sœurs,“ und Linda erhob sich, um in die Garderobe zu gehen. Ohne Doppelspiegel konnte sie das im Rücken nicht richten, und ihr Lächeln war auch schon ganz durchgewetzt. Einen Augenblick zischten sie maskenlos gegeneinander an; das latent Megärenhafte, heraufgespien in ihre jungen Gesichter: zwei fletschende Gorillaweibchen mit schleifenden Vordergliedern unter Talkumpuder — bekleidet von Callot sœurs.

Wie Linda hinausschritt, betrachtete Horus die gerühmte Toilette. Sie schien ihm eine überaus verzwickte Angelegenheit: vorne schief, rückwärts gewickelt, mit der halben linken Brust auf der rechten Schulter und einer gestickten Geschwulst ohne ersichtliche Existenzberechtigung um den Nabel; es sei denn, das Ganze stilisiere einen verwachsenen Knaben im fünften Monat einer Gravidität.

„O, Callot“ — Genia sprach es Kéllo — „ich gebe meinen untersten Dollar bei Kéllo aus!“ Daß auch Europäerinnen in Paris arbeiten ließen, fand sie eigentlich anmaßend.

Sie trug den Kopf sehr hoch. Teils als Bürgerin der „grandest nation of the world“, teils der leisen Drohung des mütterlichen Doppelkinns sich bewußt. Sie mußte sich beeilen, ehe Linda zurückkam:

„Eine Rente; Kapital zahlt dad nicht heraus, aber er ist eine Million Dollar wert, und da mommo sich sicher scheiden läßt, bin ich einzige Erbin. Dads Leber ist auch gar nicht in Ordnung.“

Archangelo wandte langsam die schweren Spiegeleieraugen nach der Richtung, wo Josua Washington Waanebeeker, rosa und springlebendig, Ohren und Hände vital behaart, nicht einmal Whisky, sondern das bekömmliche Selters trank.

„600000 bar,“ sagte er. „Wir, die Nachkommen des alten Rom — die wir für ein größeres Italien kämpfen — für den Genius der Rasse ...“

Ihr Stolz bockte auf — „Von einem Mann ohne Titel verlangen wir Amerikanerinnen mit Recht, daß er sich selbst erhalten könne, übrigens entspricht meine Rente kapitalisiert ...“

Horus ging weiter. Tief herauf aus der Gegend der Privatkomptoirs: Apisgräbern mit Safes, drang „machtvoll dreischlündiges Bellen“. Schüchtern schienen Beteuerungen, Beschwichtigungen ihren Diplomatenschleim drüber streichen zu wollen. Elihu Lincoln Rosenbusch, einer der gefährlichsten Aasgeier von Wallstreet, mit einem kalten Cherubkopf, hatte eine Flasche Gingerale im Werte von sechzig Centimes zu viel auf seiner Wochenrechnung gefunden.

Alle vier Direktoren hatte er sich daraufhin kommen lassen, sein eigener Privatsekretär — er hatte den Irrtum übersehen — zerfloß in Schlotterschweiß, und nun ging der Alte daran, gewaltige Abzüge herauszuschinden. Dafür war er berühmt. Einer der wenigen so Reichen, daß sein Name nur mehr in Anfangsbuchstaben in den head lines der Zeitungen zu erscheinen brauchte, gab sein als Sport betriebener Geiz in persönlichen Ausgaben fast jede Woche den Journalisten Stoff zu Überschriften:

„E. L. R. erwirbt eine rosa Unterhose bei Giles und Smallweed um zwei Dollar 5 cent. Findet einen Webfehler, fordert Schadenersatz, gleicht sich aus, indem er das Warenhaus übernimmt, verkauft die rosa Unterhose in eigener Regie weiter, trägt nun wieder seine alte Gelbe auf.“ Oder:

„E. L. R. verdient an der Instandhaltung seines Golfplatzes jährlich 7680 Pfund Hammelspeck! Schickt Gärtner und Mähmaschinen fort, läßt die greens von Schafherden kurzfressen.“

Pausierte denn der Schacherkrampf nie und nirgends? Und wo er nicht in den Worten, da zog er sich unter der Haut hin, durch Blut, Herz, Hirn und Traum. Dabei war ihm vieles aus diesen Gesprächen, noch mehr an den Sprechern, unverständlich geblieben. Welchem Kulturkreis, Kasten gab es ja nicht, wie er erfahren, konnten etwa diese beiden Mädchen angehören? Er begriff es nicht. In Joshivara, der Luststraße Tokios, war er gewesen, in den Freudenhäusern Ispahans — kannte die Courtisanen von Madura und Travankor. Aber die letzte Pariafrau des letzten Hafenbordells Ostasiens hätte ihr erotisches Niveau nicht so gedrückt, selbst um ihren Preis zu feilschen. Bei den freien Prostituierten ordnete der Mittler oder eine Dienerin die pekuniäre Frage; in den öffentlichen Häusern wurde gleich beim Eintritt schweigend ein Betrag erhoben, dann erst erschien, unter Wahrung jeder Illusion, das Objekt der Liebe selbst: ein höflicher, sanfter, zwitschernder Traum. Anders hätte es die erotische Verwöhntheit eines Kuli nie ertragen.

War vielleicht das ganze Hotel ...? Doch nein, er erinnerte sich nicht, auf seiner Wochenrechnung einen derartigen Posten gefunden zu haben. Auch hätte es ja, den Reden nach, ein öffentliches Männerhaus sein müssen, wie jenes, das er in Paris besucht.

Er fühlte wohl, daß da, rätselhaft noch in ihren letzten Ursachen, eine Sexualnot ohne Gleichen schrie aus solcher Depravation. Die beiden Frauen aber hatten auf alle Fälle aufgehört, es für ihn zu sein: Erreger seiner schöpferischen Phantasie. Und dieser romanische Ephebe: wodurch wurde dieses Männchen mit seinem eisig lümmelnden Gockeltum, das jede asiatische Dame abgestoßen hätte, zu einem Wertgegenstand?

Er lief mit den Augen über Hall, Salons, Bar. Endlich in soviel Geiz, Grelle und Gier das erste glückliche Gesicht. Der frohe Mann ruhte, einem friedlichen Engerling gleich, hell und fett mit dem Ausdruck verklärter Dankbarkeit gegen Gott und die Welt in einem easy-chair. Sein einziges Kind war hier im See ertrunken, und so war es auch der einzige Ort, den seine Gattin mied. Hier war er sicher. Überall anders hin reiste sie nach, nahm mit stürmender Hand Freudenhäuser, in denen sie seine Anwesenheit vermutete, überschüttete ihn dann mit tätlichen Insulten, Ehebruchsklagen; scheiden ließ sie sich nicht. „Bis zum Tod“ war die Devise ihrer zähnefletschenden Treue.

„Margot — Margot.“

Widerwillig löste sich ein leuchtendes Mädchen aus der Gruppe College boys auf Weihnachtsferien. Wie Enden des jäh abgerissenen Flirts wehte es hinter ihr her. Die Knaben wachten auf aus ihrer Freude, empfanden wieder die eigenen Bernhardinerpfoten überall um sich im Weg und wurden knurrig.

„Jeder ein Shiva mit siebzehn Ellenbogen,“ dachte Horus erheitert, dem Plumpheit — ungeschlachtes Wesen — an Jugend etwas ganz Neues war.

„Margot — Margot,“ die wenig elegante Frauensperson in seiner Nähe winkte das leuchtende Mädchen immer energischer zu sich. Dieses erlosch. Man sah förmlich, wie das Glück in ihren Nerven stockte.

„Was ist denn wieder — was störst du uns?“

„Sind das vielleicht Epouseure? Was treibst du dich mit solchen Buben herum? Sind das Aussichten?“

Sie hatte, gereizt wie sie war, so wenig leise gesprochen, daß Horus erst jetzt aus dem Bereich ihrer Worte herauskam. Dafür sah er Margot Chenal mit ihrer ganz verzerrten Miene die Antwort nicht schuldig bleiben.

In seinem Hotel zu Paris war ihm die auffallend rassige Südfranzösin öfter mit dieser Frau, einer Tante aus Rouen, wie er erfuhr, auf der Treppe begegnet oder im Lift, ohne daß die beiden jedoch Gäste des Hotels gewesen wären. Sie verschwanden immer entweder in den Zimmern der Mrs. Ralph Waldo Cushing, einer der Töchter Rosenbuschs, oder anderer, sehr reicher Amerikanerinnen.

An dem Mädchen, dessen Temperament ihm imponierte und angenehm auffiel, trotz etwas hilfloser Direktheit, war ihm zweierlei nicht entgangen: das pauvre, schlechtgeschnittene Tailormade und die außerordentlich eleganten Lackschuhe mit ihren kostbaren Schnallen. Immer das gleiche Kostüm, immer verschiedene neue Schuhe. Nur mühsam schien dem Kind das Gehen, und eine Falte des Unbehagens rann ihr dabei zum Kinn, und doch stieg sie oft und oft die Treppen auf und ab, oder lief rund um die Place Vendôme. Einmal erkannte er ein Paar besonders falsch gebauter Sämisch-Leder-Pumps, die große Zehe lag in der Mitte des Schuhes, an Mrs. Cushings Füßen wieder. Sie machte gar kein Hehl daraus. Es sei in Newyork Sitte, sich diese immer etwas schmerzhafte Schuhpremiere zu ersparen, die Chaussüre von jungen Personen, die man dafür bezahlte, erst ein paarmal weichtragen zu lassen, es schonte doch sehr.

Hier war Margot Chenal ebenso kostspielig, reizlos und irrsinnig gekleidet wie die übrigen, nur trug sie am Abend ausnahmslos das gleiche, offenbar durch Alter reichlich geweitete Paar weicher Seidenschuhe.

 

Bei Porphyrio Pães und Sir Osmond saß nun auch Dr. Hafis. Horus mochte alle drei nicht ungern um ihres trockenen Witzes willen, und weil sie — in Pausen — von Geld sprachen. In der Hoffnung auf solch eine Pause gesellte er sich ihnen zu.

Von Porphyrios Hals schlich eine brüchige Vene den kahlen Schädel hinauf, bog rechtwinklig am Ohr ab und mündete auf dem Scheitel in eine überhängende beerenschwere Warze. Beim Kauen oder Sprechen geriet die Vene jedesmal in Bewegung wie eine Klingelschnur, und oben bei der Warze entstand ein Moment atemloser Spannung: wird sie läuten?

Er sprach: „Peru hat Peruaner. Japan hat Japaner. Warum hat die Schweiz keine Schweizer?“

„Es muß doch welche geben,“ meinte Sir Osmond, „existiert da nicht ein Präsident?“

„Wie heißt er?“ Niemand wußte es. Der erste Nachtportier, der Barkeeper, fünf Lungerknaben, der Manager, alles wurde gerufen. Keiner wußte, wie der Präsident der Schweiz hieß.

„Sehen Sie wohl,“ triumphierte Porphyrio, „es gibt so wenig einen Präsidenten als ein Schweizervolk; dies haltlose Gerücht wird aus Reklame oder Gott weiß weshalb von der ‚International Alpenglühen limited‘ ausgestreut.“

Dr. Hafis meinte:

„In grauer Vorzeit muß es aber doch welche gegeben haben. Es werden eben jene zwei fremden Leute aus Bronze sein, die in jeder Stadt des Landes stehen. Entweder: ein Lackel im Nachthemd mit Eispickel in Kreuzform und drunter liest man: Zwingli; oder: ein Greis mit Basedow belästigt ein Kind: Pestalozzi. Welchen Zweck könnte es für die ‚International Alpenglühen limited‘ haben, einen Lackel im Nachthemd und einen Greis mit Basedow über das Land zu streuen? Sie erhöhen seinen Liebreiz nicht und verzinsen sich nur ungenügend.“

Aber mit greisenhafter Starrköpfigkeit ritt Porphyrio seinen ersten Einfall tot:

„Überhaupt ein europäischer Präsident,“ knurrte er, „das hat ja bloß drei Funktionen. Erstens: alle verbündeten Kaiser-, Königs- und Fürstenkinder zu Weihnachten mit Puppen zu versorgen. Zweitens: in allen zeitgenössischen Monstreskandalprozessen restlos verwickelt und auf das Schwerste kompromittiert zu sein. Endlich mindestens einmal in der Woche für das Kino bei strömendem Regen, mit triefendem Schirm und Zylinder, hinter einem berühmten Leichenwagen herzustapfen. Das ist ein Präsident — in Europa,“ fügte er mit der Miene eines Tigers, der ein Kipfel ausspuckt, hinzu.

Archie Payne schlurfte, Fäuste in den Hosentaschen, herbei. Glatt hinausgestrichen war das albinobleiche Haar aus dem eiskalten Hexengesicht des Neunzehnjährigen. Er wäre der erfolgreichste Snob Newyorks, also der Welt, geworden, hätte ihn seine explosive Frechheit nicht zuweilen wieder betrüblich zurückgeworfen — den restlos Bedientenhaften, den Geist ihrer Umgebung stets mit der Gewissenhaftigkeit von Chamäleons Widerspiegelnden, zum Gewinn.

Mit geheimnisvollem Sphinxlächeln raunte er den andern zu:

„Es gibt sogar noch heute lebende Schweizer, aber verraten Sie die armen Dinger nicht.“

Er schien mit Bardenhänden in eine imaginäre Leier zu greifen und machte Märchenaugen:

„Hark! In seltenen hellen Nächten — um die Mitternachtsstunde — da kommt es bisweilen im Mondlicht hervorgehüpft und heißt etwas, das klingt wie ‚Rüdisütli‘. Doch schon stürzt sich die lauernde Horde der Weltkommis mit Blitzlicht, Büchse und Selbstknipser, ‚hurra‘ aus dem Hinterhalt brüllend, drauflos, und mit einem Pfeifen der Angst verschwindet es, gleich dem Murmeltier, wieder hurtig im Gestein.“

„Nun versuchen Sie’s doch einmal mit einem Schmetterlingsnetz oder einer Zauberformel, Archie,“ meinte Sir Osmond. „Ich zahle jeden Preis und den doppelten für das lebende Exemplar.“

Der Marchese Strondoli wartete. Er wartete seit sieben. Jetzt war es halb elf. Seit vier Uhr machten die beiden Friseure Schichtarbeit, desgleichen die erste und die zweite Kammerfrau. Die strategische Leitung lag in den behaarten Händen des zahmen Russen vom Moskauer Ballett; Entwerfers der Kostüme und Garderobiers.

Im kleinen Drawingroom nebenan wartete auch die Gastgeberin: her grace of D. mit den übrigen Gästen. Strondoli aber hatte jene Dame, auf die alle warteten, in der Hall zu empfangen, als der erkorene Begleiter. — Vermutete man mehr, so lehnte er geschmeichelt und kraftlos ab. So einfach aber lagen die Dinge durchaus nicht.

Vor einer halben Stunde war gemeldet worden, sie stehe schon auf dem Korridor. Auch daraufhin blieb er innerlich noch immer mit untergeschlagenen Beinen sitzen — wußte: force majeure, was einer Dame im letzten Moment noch alles an Kosmetik einzufallen vermag.

Da bemerkte er im Spiegel das Fräulein Erika Unbehagen, Erzieherin im Hause Beermann, eine Faust im Mund, sich käseweiß in die Wand des Foyers einkrallen: nun war es Zeit.

Der gläsernen Keimzelle des Lift entstieg die Principessa Dango: „la princesse macabre“. Der zahme Russe streute noch knieend den riesigen Dogaressamantel aus Kolibrifedern hinter ihr aus; von viertausend Vogelbälgen waren nur die rostgoldenen und rosigen Federchen eingestickt in ihn. Einen schrägen Fächer aus denselben leuchtenden Leichen hielt ihr starrer Arm hinter dem Haupt hoch, aus dem waberndes Henna hervorbrach, zu einem Adlerhorst auseinander toupiert.

Sie schien ein Wesen aus zitterndem Silberdraht.

Blutige Binden von Rubinen lagen ihr um den bläulich harten Totenkopf, und in Rubinen blutete es immer weiter über karfiolfarbene Windelgewänder herab und bleiche Arme — Herztropfen all der Kolibris — bis nieder zu den Händen, an denen lilablasse gewölbte Nägel gleich Magnolienblüten groß an kahlen Fingerzweigen ragten.

Sie wand sich vorwärts, als wäre sie erblindet von dem kobaltblauen Pulver in den mächtigen Augenhöhlen. Prachtvoll schnitt in den fahlen Kopf das Schwert ihres langen Mundes — querhin durch Taubenblut gezogen: der Hyänenprinzessin Mund, wie er ein viergeteiltes Reiskorn bei Tag — bei Nacht Leichen aus Juwelengewändern frißt.

Der Marchese war gezwungen, ihr den falschen Arm zu reichen, denn hochaufgerichtet hielt sie noch immer mit der Linken den schrägen Kolibrifächer über das wabernde Henna. Die Vision von Büßern stieg auf — den lebenslang Bewegungslosen an den Ufern des Ganges, und von verdorrten Gliedern, in denen die Vögel nisten.

Sie wand sich in den Fesseln ihrer Exklusivität dahin zwischen Inseln von gezischtem Schweigen; ein Kielwasser von Entsetzen, Bewunderung und Mißgunst hinter sich lassend. Lorgnons beschlugen sich mit Rauhreif vom todkalten Haß der Blicke, aber hier hieß es, sich ducken. Sie war eine zu hohe und weltbekannte Mondäne. Europas Spießer, noch feucht vom Brodem des Beisels, wären wohl nicht zu bändigen gewesen — hätten eine solche Erscheinung unter veitstanzähnlichen Symptomen niederzujohlen versucht. Diese hier waren immerhin wenigstens schon Snobs.

„Hohe Rasse,“ dachte Horus, „edel im Aufriß — schade, daß der letzte adelige Flügelschlag hinauf in schöpferische Vereinfachung offenbar versagt hat. So bleibt es raffinierte Barbarei. Immerhin, ich will sie kennen lernen.“

Sie interessierte ihn zu wenig, als daß seine Willkür hier ehrfürchtig beiseite getreten wäre, die geheimnisvolle Bahn ja nicht zu kreuzen, in der, nach tieferem Gesetz, jene sich begegnen sollen, die bestimmt sind, einander bis zu einem bedeutsamen Grade Schicksal zu werden.

Ein button-boy grinste eine Botschaft. Spuckte dabei die ihm unverständlichen Fremdworte unter Ekelerscheinungen aus, nachdem er ihnen den Sinn abgebissen — alles zwischen Tür und Angel von Dummheit und Frechheit — bereit, bei strafferem Zugriff sofort in unzugängliche Verblödung, gestützt auf einen natürlichen Kropf, zu versinken.

Endlich verstand Horus. Es handelte sich um eine spiritistische Séance bei Lady Cadogan mit ganz erstaunlichen Resultaten unter strengster wissenschaftlicher Kontrolle. Man bat ihn, hinaufzukommen, zur Verstärkung des Kreises.

Oben, in einem zu Tode langweiligen Zimmer, war es hell und leer. Aus dem geschlossenen Nebenraum — er schien schwer von Menschen — erschollen gedämpfte Fragen — tropfende Buchstaben antworteten endlos. Manchmal schienen die Fragen mit den Buchstaben unzufrieden, dann begann es wieder von vorn. Schließlich schlich sich eine Stimme auf den Zehen bis zur Tür und meldete breitgequetscht vor Rührung:

„Neieschte Nachricht aus der Hell: Der Nero fangt ebe aan zu bereie.“

Friedolin Eisele, Präsident der Theosophischen Gesellschaft zu Bopfingen, stand im Salon und zog Horus durch einen Spalt ins verdunkelte Sitzungszimmer, aber auch dort flammte es jetzt auf; die Herren verlangten eine Pause. Man rief nach Whisky-Soda.

Um den ovalen hölzernen Tisch des kleinen Raumes, Lady Cadogans Ankleidezimmer, von dessen Fußboden der Teppich zurückgerollt worden war, saßen Knie an Knie etwa acht bis zehn Personen. Eben fiel die geschlossene Kette ihrer Hände, die bisher wie Polypen die Platte umspannt gehalten, auseinander.

„Wir haben heute Tiefergreifendes erlebt,“ begrüßte ihn die Hausfrau, „es war direkt eine Eingebung von mir, after dinner den heiligen Abend noch der Geisterwelt zu widmen. Das mit Nero haben Sie ja schon von unsrem lieben Adepten Eisele erfahren, aber auch ganze Schwärme andrer Seelen verdrängen einander heute förmlich aus dem Tisch. Einer sprach so komisch, wir dachten schon, es sei vielleicht Buddha. Darum ließ ich Sie heraufbitten, uns sein Sanskrit oder Pali zu übersetzen — denn,“ fügte sie zögernd hinzu, „vielleicht fällt ihm das Englische schwer.“

„Unsinn, Eveline,“ verwies sie Muriel Hitchcock, sich die Nase pudernd.

„Wenn es doch Nero konnte und ohne einen einzigen orthographischen Fehler zu klopfen, the darling, so rührend zerknirscht er auch war. Habe ich nicht recht, Monseigneur?“ wandte sie sich an den zwergischen Franzosen ihr gegenüber.

Monseigneur aber hatte nicht zugehört; er versuchte so angestrengt, mit Gloria Rawlinson, die gleich einer wunderschönen, nie angezündeten Lampe, weiß und golden dastand, ein Gespräch in Fluß zu bringen, daß ihm der Schweiß ausbrach. Er war vom Typ jener kleinen, instinktschwachen Rattler; überall, wo es mondän zugeht, wandern auch sie von Schoß zu Schoß, ohne daß man wüßte, wem eigentlich zur Lust sie gezüchtet werden. Sein Adjutant: Aquetil du Perron, von Schädel halb Birne, halb Schaf, massierte still seine weißverkrampften Finger und ließ sich von Winifred Cadogan mit petit Fours füttern. Madame Bavarowska, voll und wild, siebenarmige Leuchter in den Ohren unter der Carmenfrisur, erzählte unterdessen von einem sensitiven Kind, das sie einmal in der society of psychical research in London zur Beobachtung gehabt.

Sonst ein liebes Kind, aber — wie Kinder schon einmal sind — nachlässig eben, immer ließ es beim Spazierengehen seinen Astralkörper hinten hinaushängen. Ununterbrochen hieß es da aufpassen und hinterdrein sein, um ihn, wenn nötig, zurückstopfen zu können. In Oxfordstreet sei es einmal deshalb fast zu einem Skandal gekommen, denn das Publikum — in Astralkörpern wenig erfahren — vermutete etwas Unsittliches und bohrte die Regenschirme hinein.

Man beklagte den noch vielfach herrschenden Skeptizismus der Zeit, wo es doch jedem Gebildeten offen stünde, durch Auflegen der Hände auf den Tisch sich von dem persönlichen Fortleben nach dem Tode einwandfrei zu überzeugen.

Friedolin Eisele widersprach, lobte gerade die wachsende Beseelung der Zeit, und wie sie dem Wunder immer zugänglicher werde. Erschlug schließlich jeden Widerspruch mit dem jubelnden Argument:

„Mer havve schogar scho myschtische Bankdirektore.“

Er glich dem freundlichen Seepapagei: ein kugelrunder Anfang, und dann war es gleich ganz aus mit ihm — gar der Rede nicht mehr wert. Ein mystisches Furunkel aus gestanztem Blech wuchs in seiner Krawatte, und auf dem Zeigefinger der Rechten trug er den Siegelring der Blavatzky als einer der sechsundsiebzig, die sich rühmen, den echten von der großen Adeptin eigenhändig auf dem Totenbett erhalten zu haben. Auf der Reise zu einem Kongreß nach Bern war er — Lady Cadogans Gast — auf ein paar Tage in dieses ihm fremde mondäne Milieu verschlagen worden.

Verklärt hingen der Gastgeberin waschblaue Seheraugen an ihm. Da er geendet, wandte sie sich Horus zu:

„Und ist auch Ihnen, Mr. Elcho, der Sie zum erstenmal in Europa sind, diese mystische Atmosphäre, diese wachsende Macht der Magie an unsrem Kontinent aufgefallen?!“

„Bisher, offen gestanden, nur an Kellnern,“ lächelte dieser, „die mir als einzige in Europa über außernatürliche Kräfte zu verfügen scheinen, vermögen sie doch, wie durch Fernwirkung, Messer, Löffel und Teller von scheinbar ganz entfernten Tischen auf den Boden schmettern zu lassen.“

Man lachte oder entrüstete sich, beschloß aber, nun endlich die unterbrochene Séance wieder aufzunehmen und räumte den Schnaps weg. Die Lichter wurden gelöscht, alles rückte zusammen und umschloß aufs neue mit gespreizten Händen von oben die Tischplatte, wobei die kleinen Finger sich berühren mußten, um, wie Horus staunend erfuhr, jedem die wissenschaftliche Kontrolle über den andern zu sichern, und somit einwandfrei die Echtheit der Phänomene.

Und das alles im Zeitalter des „Nicholsonschen Versuchs“ — des „Raumgitters“ — der „Berechnung des Strahlendrucks“! dachte der Befremdete.

„In demselben Europa, dem meine ganze Sehnsucht und Begeisterung galt, um seiner wissenschaftlichen Gewissenskraft willen; das unaufhörlich in Tausenden von Publikationen, die seine Adelsbriefe sind, über die Erde hin kündet von Genialität und göttlicher Verbissenheit ohnegleichen, kündet von Hilfskonstruktionen, Präzisionsapparaten, Sicherungen und Gegensicherungen, damit ein einziger Nebenversuch um ein weniges verfeinert werde und sich einordne jenem lauteren, herben, lückenlosen Geisterbau, der selbst nichts soll als einen neuen Annäherungswert an das Geschehen ermöglichen — und gerade durch diese Beschränkung an Gewalt und Tiefe des Einblicks alle Intuition andrer Kulturen weit hinter sich gelassen hat?“

Wie war solcher Abstand im Kritisch-Geistigen unter Menschen der gleichen Rasse, der gleichen Zeit überhaupt erklärbar?

Durch das Fenster kam blaues Schneelicht und zeichnete jedes Einzelnen Kontur mit einem Meßband aus vergastem Metall. Einige Minuten herrschte erwartungsvolles Schweigen. Nun wollte jemand eine wandernde Flamme unter dem Tisch bemerkt haben. Sie erwies sich jedoch als silbernes Zigarettenetui, das du Perron mit den Füßen Monseigneur auf den Schoß hinüber zu praktizieren versuchte. Diese triviale Auslegung des Phänomens fand wenig Anklang. Man solle sich nie durch solch scheinbar einfache Erklärungen beirren lassen.

Ursprünglich sei es doch eine Flamme gewesen. Der magische Kreis ermangle eben noch der nötigen Kraft zu dauernden Materialisationen. Das hätte das Flammengespenst gerade noch rechtzeitig gemerkt, um seinen Rückzug auf scheinbar natürliche Weise durch das Zigarettenetui zu decken, dessen Überreichung in diesem Moment durch magische Einwirkung auf du Perrons Unterbewußtsein erfolgt sei. Nichts schien einfacher.

They are sooo smart“ — sie sind ja so gerieben, bestätigte Lady Eveline.

Also den Kreis verstärken: Monseigneur und Quadrupedescu, Glorias Nachbarn, vertraten die Ansicht, intensiverer physischer Kontakt zwischen den Teilnehmern würde die Phänomene wesentlich fördern. Doch man heischte Ruhe, wartete wieder. — Nun knackte die Platte deutlich. Alles glimmerte vor Erregung, nur Muriel Hitchcock blieb ruhig, das graue Papiergesicht voll Herablassung seitwärts einem Unsichtbaren zugelehnt.

„Es ist Alastair. Ich spüre ihn schon die ganze Zeit hinter meinem Sessel. Nie versäumt er eine Gelegenheit, mir nahe zu sein.“

Sie war aus Philadelphia, trotz wurmiger Haut hübsch, hypersmart, und gab sich, da sie ein wenig hinkte, gern für eine etwas beschleunigte Reinkarnation der Lavallière aus. Das mit Alastair aber ging, wie man nun erfuhr, schon viel länger; seit sie eine wunderschöne griechische Hetäre zu Alexandrien gewesen und er, als Säulenheiliger, aus Leidenschaft zu ihr sein Gelübde gebrochen hatte und für sie gestorben war. Durch diesen gewaltsam frühen Tod waren sie seitdem immer um eine Drittel-Inkarnation auseinander — very trying indeed — und konnten sich nur mehr oder weniger durch Tischplatten hindurch angehören. Jetzt wollte keine der Damen in Astralflirts zurückstehen. Eine Art makabren Erotelns hub an, und es ergab sich, daß alle schon einmal wunderschöne griechische Hetären gewesen. Madame Bavarowska aber schoß den Vogel ab mit einer extra Fleißinkarnation als Pharaonentochter. Es bedarf wohl der Erwähnung nicht, daß sie auch in dieser Gestalt von einem Liebreiz war, der vielen zum Verhängnis werden sollte. Nun begannen die Damen zu erörtern, was sie jedesmal angehabt, und die Sitzung drohte in einer Modediskussion zu verenden; die Weiber zerschnatterten alles, als der Tisch deutliche Zeichen von Ungeduld gab, Friedolin Eisele um Ruhe bat und die Leitung der Séance wieder übernahm.

Es wurde mit dem Tisch vereinbart, ein Klopflaut bedeute — „ja“, zwei — „nein“, damit man in zweifelhaften Fällen wisse, ob richtig buchstabiert worden sei. Nun begann Eisele langsam immer wieder das Alphabet herunterzusagen, wie Horus es schon vom Salon aus vernommen. Der Buchstabe, bei dem es klopfte, galt, und so setzten sich mit der Zeit Worte zusammen. Der Tisch war gerade bis Mia gelangt und wollte fließend weiterreden, da warf sich Madame Bavarowska mit einem Aufschrei über ihn.

„Mia — c’est pour moi — für mich, so heiße ich!“

„Sie heißen doch Natalie,“ widersprach es aus grollender Runde.

„Aber Mia ist mein Kindername. Maman, bist du’s? ... Sag, soll ich Rio Tinto kaufen?“

Der Geist der Mutter bejahte.

„Zu welchem Kurs?“ Der Geist der Mutter nannte einen exorbitant hohen. Dann verschwand er. Der Tisch fing etwas Neues an. Bis dais kam er. Da sprang wieder Madame Bavarowska vor und verteidigte ihn, wie eine greise Leopardin ihr letztes Junges.

„Daisy — c’est pour moi! der Kosename meines ersten Gatten für mich. Bogumil, was hast du deiner Daisy zu sagen?“

Bogumil sagte einiges. Später, als es „pip“ klopfte — die Dame zum drittenmal aufzuspringen und auch so zu heißen Miene machte, wurde es Winifred Cadogan zu bunt. Sie gab dem Tisch mit dem Knie einen Stoß, daß er gegen die Namenreiche flog, und nur das außerordentlich starke straight-front Mieder verhinderte ernstlicheren Schaden.

Madame Bavarowska war ganz entzückt:

Ça pèse — ça pèse ... welche Kraft der Materialisationen, welch eine Sitzung.“

Winifred platzte aus.

„Und da könnt ihr scherzen, mais mes enfants, nie wieder werdet ihr so eine Séance erleben“ ...

Der Tisch puffte weiter in sie hinein, bis endlich du Perron und Quadrupedescu Winifreds Knie gebändigt hatten.

Der Beobachtungsgabe der übrigen schienen diese Vorgänge andauernd zu entgehen.

Schließlich war man ja auch nur der Klopfphänomene: der harten kleinen Schläge im Inneren der Platte, wegen da, die niemand mit Knieen und Beinen hervorbringen konnte. Auf der Oberfläche des boxenden Tisches aber spannten sich, weithin sichtbar, von kleinem Finger zu kleinem Finger, immer noch die Hände aller Teilnehmer im blauen Schneelicht.

Mit der Zeit meldeten sich auch Goethe und Napoleon zu Wort. Ersterer unterhielt sich auf das Angeregteste mit Lady Eveline über die Verwerflichkeit des Dumpingsystems neudeutschen Handelsbrauchs, und so wickelte sich der Verkehr zwischen Lebenden und Toten klaglos ab, bis urplötzlich Verwirrung entstand — geradezu heilloser Unfug. Viertelstundenlang wurden immer tollere, sinnlosere Worte geklopft, Fragen in einem bejaht und verneint, bis Eisele die Geduld verlor:

„Saumäßig schwätzet se daher,“ fuhr er Napoleon an, den er heimlich im Verdacht hatte. Es half. Die Antworten ebbten wieder ins Verständige zurück. Was hatte sich ereignet? Horus war es bei dieser seiner ersten Séance schon nach drei Minuten klar geworden, die Klopflaute müßten sich durch Spannungen im Holze der Platte willkürlich erzeugen lassen: gleichmäßiger, dauernder, geschickt verteilter Druck ruhender Fingerspitzen den Flader entlang und dann wieder plötzliches Nachlassen dieses Druckes, würden wohl genügen, um bei dem gewünschten Buchstaben ein leises, kurzes Krachen zu erzwingen.

Nach einer Weile riskierte er diskret den Versuch. Der gelang sofort. Nun war es ihm eine Erheiterung, dem Phänomen konstant die Pose zu verpatzen; in jedes Wort irreparable Buchstaben hineinzuklopfen. Nach Eiseles Zuruf hörte er auf. — Die Methode war ergründet, jetzt hieß es nur noch den eigentlichen Klopfer herausfinden, und ob sein Ziel schlichthin idiotisches Gesellschaftsspiel in after dinner Mystik bedeutete oder Zweckhafteres vielleicht.

Die Damen — sie hatten wohl in ihrem Leben noch nie einen Flader am Holz bemerkt — schieden allesamt von vornherein wegen geistiger und manueller Minderwertigkeit aus, desgleichen Monseigneur. — Friedolin Eisele? Nein — ein Rindvieh voll Lauterkeit. Es war eben ganz einfach nicht mehr zu leugnen, Horus hatte eine Schwäche für ihn gefaßt, seit Eisele nach der lauten Auseinandersetzung mit Napoleon noch leise leise, nur Luchsohren vernehmbar, auf den Korsen den großen Fluch seiner Tribus geschleudert:

„Daß di’s Meisle beischt.“

Es dünkte ihn der herzigste Fluch, den er je gehört: das Ärgste, was ja überhaupt passieren konnte, war, daß er eben in Erfüllung ging ... schließlich schien das Malheur dann noch immer nicht gar so groß.

In die engere Wahl kamen somit du Perron, das Birnenschaf und Quadrupedescu: Deponens von Clubmann und Hundedresseur.

Sensation! Im Tisch erschien Moltke, nannte den Namen eines osmanischen Prinzen und prominenten Heerführers, der eben jetzt im Balkankriege gegen Bulgarien im Felde stand. Aller Augen wandten sich Lady Cadogan zu. Man wußte, daß sie, seine langjährige Freundin, auch ihn durch fast unbegrenzten Einfluß zum Spiritismus zu bekehren vermocht. Totweiß über den Tisch gelehnt, ganz benommen vor Stolz über die eigene Bedeutung, harrte sie weiterer Botschaft. Warnung kam: wenn bestimmte Armeekorps, ihre Nummern wurden genannt, die gegenwärtig für den soundsovielten bestimmten Bewegungen ausführen würden, fiele Adrianopel in Feindeshand.

Ungeheure Erregung. Lady Eveline nahm jedem Teilnehmer das Wort unverbrüchlichen Schweigens ab, ehe sie nach einem Telegrammformular hinausstürzte, in der nur ihr und dem Prinzen bekannten Chiffrenschrift das vom Geiste Moltkes ergangene Verbot unverzüglich zu drahten. Die Sitzung fortzusetzen, fiel niemandem mehr ein.

Madame Bavarowska stieß plötzlich aus allen Körperöffnungen schwarze Schleier aus, hatte ein Stück schwarzes Fließpapier — kein Mensch wußte woher — vor sich auf den Tisch gebreitet und zog aus ihrer juwelenbesetzten Goldtasche ein Paket Spielkarten von geradezu phantastischem Schmutz.

Ob man sich weissagen lassen wolle? Den ekelerregenden Zustand der Karten begründete sie durchaus plausibel damit, jene stammten aus einer Kaperbeute ihrer Vorfahren mütterlicherseits, die alle berühmte Seeräuber im Schwarzen Meer gewesen. Andre Familien behaupteten solches zwar auch, von der ihren sei es aber dokumentarisch nachweisbar.

Horus entkam im allgemeinen Wirrwarr. Schon einen Augenblick vorher hatte Quadrupedescu, sein blaurasiertes Lächeln wie mit Schmieröl übergossen, den Clowntorso aus der Tür gedreht.

Horus beutelte sich: ein Glück für euch, daß Geistergrenzen fester versiegelt sind, als after-dinner Mystik sich träumen läßt. Welche Astralhaie müßten im Kielwasser solchen Seelen folgen. Was müßte aus dem Unsichtbaren her, solchem Ruf gehorchend, an der Schwelle einer Horde lauern, die blind, taub, flirtend, gierend, gerade ihren christlichen Schlangenfraß mit Whisky-Soda wieder aus allen Poren dampfen läßt? Hielte die Schranke nicht, in die Hände welch ultravioletter Fallotten würden diese Nekromanten nach dem Gesetz der Korrespondenz wohl fallen?

Und gedachte der vornehmen indischen Dame, deren Gatte zu sein er die Ehre hatte, dort oben auf ihrem bestirnten Altan. Sein Herz ging aus zu ihr und strebte zurückzukehren in die Heimat ihres Kusses, denn „es drängt zum geliebten Wesen die Begierde, gerührt zu sein“.

 

Unten im Foyer bestieg eben die Principessa Dango wieder die gläserne Keimzelle des Lift. Noch immer hielt ihr gereckter Arm den Fächer aus leuchtenden Leichen über das wabernde Henna. Strondoli vervielfältigte sich um sie in Brunstbewegungen. Alle Facetten seines Männchentums waren in Rotation — ganz schwindlig konnte einem dabei werden.

Sie sagte nichts als: „Impossible“.

„Um elf Ski-kjöring nach Sils. Bleiben kaum zwei Stunden Schlaf. Impossible.

Strondoli riß die Uhr heraus. Beteuerte mit Blicken, Lippen, Haut, Haar, wie früh es noch sei, indes sein markiger Arm das „elf Uhr“, ganz weit draußen, platt an den Rand der Ewigkeit gestemmt hielt.

Vergebens. Rundum abgedichtet mit Durchsichtigem, entglitt sie am Draht des Lift, der lose in seinem Nabel kreiste, durch den Plafond nach oben.

Der Marchese zog seinen edlen Leib ein — wurde konkav vor Enttäuschung; pfiff dem Boy und frug nach Mademoiselle Fifi.

Bei der Loge des Nachtportiers stand Quadrupedescu, übergab ein dichtbeschriebenes Formular als dringend zu drahten. Auch diese Depesche war, gleich der Lady Cadogans, chiffriert, bis auf zwei Worte: Bestimmungsort und Adressat. Berne und irgend etwas ... de Bülgarie. Also darum, nach verhüllenden Mätzchen, Präliminarien: Moltkes Geist samt „Warnung“. Es hatte sich eben darum gehandelt, eine für Bulgarien gefährliche Operation des türkischen Heeres zu verhindern, und das hatte dieser geriebene Agent auf so primitive Weise erreicht, daß kaum ein Botokudenpaar darauf hereingefallen wäre. Von solchen Vorgängen also hingen europäischer Völker Schicksale im zwanzigsten Jahrhundert ab.

Morgen hieß es, bei Lady Eveline Moltkes Ansehen sanft untergraben, nicht etwa sein Erscheinen leugnen, das hätte ihre Eitelkeit nie zugegeben, nur einfach ihren Jingoismus gegen sein Deutschtum aufstacheln. Vernunft: wenn zwei entgegengesetzte Dummheiten gerade gleich stark sind. Ja, er hatte in diesen wenigen Wochen im dunkelsten Europa schon viel gelernt.

Einen Blick noch warf er in die Grellhölle, wo die ruhelosen Barbaren, von drei Orchestern durchbohrt, violettgesprenkelt vor Schnaps und schon völlig verwildert, immer noch in ihrer eigenen Kohlensäure fatal herumwateten.

Hier, von oben gesehen und durch die Rauchschichten hindurch, war das Ganze einem infernalischen Aquarium nicht unähnlich.

Er dachte: vielleicht ist es hier wie mit den niederen Tiefseetieren: nähme man plötzlich den ganzen ungeheuren Druck von ihren Sinnen, unter dem sie zu leben gewohnt sind, hübe sie ins Leichte, Freie, in höheres Element — ob sie sich dann auch selber zu vomieren begännen ... auf einmal die Gallenblase nach außen, und überhaupt alles vornüber gestülpt?

Aber wozu leben sie unter diesem, alle Empfindung erschlagenden Sinnendruck?

Warum verwechselt der Europäer Grelle, Lärm und Gestank mit Freude?

Ja warum?

Er hatte damit zum erstenmal an ein Grundproblem gerührt — aber er wußte es noch nicht.

 

Plötzlich war Europa herrlich.

Dieses „ausgefranste Hundeohr am Kontur Asiens“ hatte eben die beispiellose Chance, daß Schnee drauf fiel — auf Barbarei und Irrsinn über Nacht bestirnte Reinheit wuchs.

Horus, von Pitz Nair kommend, lag in seinem brennheißen japanischen Bad — neben sich Tee und knusprig nachbrodelnde Muffins — in Händen ein edles Buch, mit dem man durch tausend Reiche fliegen konnte — vor sich Schlaf, eine runde Nacht voll, ausgeflaumt wie ein Vogelnest — die Wand hinauf aber lehnte, ganz nah im Schmeichelkreis seiner Finger, die neue grande Passion: Skier.

So ruhte er, ein köstlich zerbrochener Sieger am Fest des blauen Raumes, und genoß: auf der Haut schäumende Nadeln — im Herzen Ozon — im Blut Eis und Gefunkel. Lächelte gerührt den beiden gestreckten Schneeflügeln aus schwingendem Hickoryholz zu: schwarzes Schneeschilf, weiß gerippt, träumte an ihm seinen tiefen Tag zurück. Grüßte erst das entzückend linsenförmige Anschwellen der Spitzen, durchlocht wie Ohrläppchen, nahm jene klare, von der Bindung gekrönte Kantengruppe mit dem Finger in seinem Organismus auf: Verschneidungskurve zwischen dem mechanisch wirksamen Profil und der idealen Oberfläche des Skikörpers; so vollkommen fast wie jene, die an der Helice der Nabe zuschwillt. Vom Schneekiel, der Rinne an der Unterseite, in einem Myrtenblatt verstrahlend, mochte man gar nicht erst sprechen, direkt einen neuen Raumsinn schuf er in den Sohlen und war über Lob schlechtweg erhaben.

Jetzt fuhr er mit den Augen den Ski entlang, bis wo dies einfachste und freieste Gerät sich aufbäumt und aus dem Planen löst nach oben. — Sein Herz schlug — er glitt los zum Sprung; immer rascher hinein in ein Vorwärts ohne jede Wahl. Hinein ins Ducken, Abschnellen, dann Hinausgerissenwerden in den Raum. — Dort endlos im Nichts hängen, im Nichts Richtung halten müssen — die Arme zu Propellern geworden — das Bewußtsein in den Sprunggelenken, ganz dem Aufprall entgegengespannt und dem hirnwirbelnden Schuß. Das Unbegreifliche dieses Aufpralls, dieses Schusses trieb dem Entrückten das Herz ins Hirn vor Blut und Eislust. Seine Hände fand er an den Rand der Wanne wie an einen Starkstrom hingekreuzigt, und kalte Sterne sprühten hinter seiner Stirn.

Erst in den mildernden Wellen des Geländes, als schon bremsende Hügel dem Schuß in sein Rasen gefallen, vermochte er die duffen Finger der Rundung des Emails abzureißen. — Atem stürzte wieder in ihn, doch er wußte noch nichts Rechtes mit ihm anzufangen; es donnerte sein Herz.

Bei Auto, Flugzeug, Motorboot — immer ist noch etwas eingekeilt zwischen Mensch und Schnelligkeit. Auf diesem Zwischengliede hockt er dann: ein beherzter und recht lobenswerter Affe. Einzig auf Schneeschuhen: veredelten Sohlen, sind sie endlich ganz allein miteinander, die Geschwindigkeit und er. Schräg über sanfte Kristalle stürzend, wird der Mensch da selbst zum Alpha und Omega der Bewegung — auf diesen seinen zwei federnden Sohlen hinausschwingend über sich und in ein neues Maß.

„Und da sagen die Leute so schlichthin: ‚Bretter‘,“ dachte Horus, „für ihre verrotteten Klim-Bim-Gasometer und hingehudelten Prunkbaracken aber erfinden sie Ehrfurchtnamen: ‚Musentempel‘ etwa oder ‚Palais‘.“

Und Leute — Leute trifft man da oben. Angeschossen kommen sie mit verglasten Augen aus dem Nirgendwo: wasserdichte Flügelwesen, prachtvoll ruppig, mit ungeheuren Eiszapfen an der Nase, und künden von firnen Ruheplätzen, wo sie das kristallne Huhn mit dem Hammer gegessen und die Suppe als Biskuit.

Geht man ihnen dann in ihre Passantenhotels nach, trifft man sie meist schon aufgetaut zu kleinen Philistern vor einem Schweinsbraten sitzen, die Seele nikotinisiert und dreier Vorstellungen nur mächtig: Windharsch — Pulverschnee — feucht-salzig ... oder sie stoßen über Daumenknorpel rechteckige Löcher in bandenlahme Billards und wollen es dann nicht gewesen sein.

Da sind sie trübe wie Lachen zerschmelzenden Schnees. Null Grad ist ihre kritische Temperatur — eher etwas darunter.

Halben Weges wuchs dann diese Wächte dem Berg aus gläserner Flanke, war aber unschwer zu umfahren gewesen. Schweizer Offiziere, die hier ihre Übungen abhielten, hatten es soeben getan. Nur als Letzter — der junge Leutnant tauchte grade über ihr auf, unschlüssig-lüstern und vorgeneigter Silhouette, bis auf das reglementmäßige Rhomboid aus grauem Filz auf seinem Kopf; das bockte schräg nach hinten in den Äther und war offenbar dagegen. — Die andern Offiziere lachten und winkten ab. Von hier unten, gegen der Wächte überstehend, sah man deutlich, sie hing ein Stück frei in den Raum.

„Ischt ja wie’s Schterbe,“ sagte der junge Leutnant, dann glitt er los.

Das Rhomboid aus grauem Filz sollte aber recht behalten. Drei Sekunden später saß es irgendwo — — schräg wie immer, doch ganz allein auf dem Schnee, indem sein Besitzer sich einem Kopffüßler gleich gebärdete.

Doch oben über der Schneebrücke aus gestirnten Kristallen zuckte jetzt eine zweite Silhouette aus dem Nirgends her: die Ganz-Weiße, Lanzenkeusche, neigte sich langsam wie eine Rakete vom Zenith ihres lichten Stiels.

Horus hielt den Atem des Erinnerns an. — Nein, noch nicht, immer noch nicht. Doch allzulange, allzu künstlich schon hatte er der Erscheinung gewehrt; Berge, Leute, blaue Fröhlichkeit dazwischen gehäuft, damit ihr Kommen daure — denn ihr Dasein war nur ein Augenblick.

Nun brach sie — ein Dämon der Anmut — durch den süchtigen Geiz seiner Vorfreude, hing über dem Sturzweg, halb Luft, halb Eis, stand niederfahrend einen Augenblick als Sturm an seiner Schläfe, goß sich in eine Kurve hinein — war ganz unten auf dem Schneefeld, nur eine blanke Nadel noch am Faden einer feinen Spur.

Hinter ihr nach glänzte der Weg.

Gargi aber hatte in auffliegendem Entzücken, in jenem lieblichen Sich-Auslöschen an einer reinen Freude, die sie ganz enthielt, feierlich — fast priesterlich gesagt:

„Ein Elf von einem großen Stern.“

Unter den Schweizer Offizieren hieß es mürrisch anerkennend: „Die fremde Dame“.

„Ein Elf von einem großen Stern.“

Gargi — Gargi hatte das Wort gefunden. Er sprang auf ins Nebengemach zu ihr, alles ihr mitzuteilen — mit ihr zu teilen. Ein Läufer in dampfenden Nebeln. Sein Torso gleißte. Lachend fielen sie einander in die Arme. Tropfen stoben.

In dieser Nacht ward Gargi ganz zur Fee Peribanu. Das Orchis- und Perihafte schöpfte sie ihm aus ihrer Duft gewordenen Tiefe. Jaspisgeschöpfe mit Teeblütenfingern — Götzen mit goldenen Nägeln der Wollust — umstanden sein Herz die ganze Nacht.

Wie, was androgyn-vollkommen, ausschwingt in weiterer Amplitude der Anmut, so hätte Gargi hinschwingen können in dieser Nacht bis hinüber in das Lanzenkeusche, Unumarmte: auch dort noch sie — sie selbst auch dort noch: des eignen Iches andrer, silberner Rand. Doch war es noch nicht an der Zeit.

Hüterin des köstlichen Potentials, wahrte sie der Phantasie des Mannes — aufduftend als Asien in seinen Armen — die Weite eines ganzen Kontinents zum Reiz, an dessen Ende nicht mehr stand — noch nicht mehr stand — als auf Kristallen eine blanke Nadel am Faden einer feinen Spur.

 

Son Altesse Imperial le grand duc Wladimir Michailovics
et suite

La Princesse Helena Petrowna Karachan
et suite

las er in der Liste des Astoria als neue Gäste. So sollte er Helena Karachan begegnen, seiner Mutter Gespiel, jener einzigen Europäerin, von der sie je gesprochen. Tochter aus der morganatischen Ehe eines Großfürsten mit einer kaukasischen Prinzessin, hatte ein wilder und prachtvoller Ernst einen Teil ihres Wesens zur Medizin hingerissen, sie schon damals — ganz jung — zu einer der ersten Ärztinnen gemacht. Eine Hobby, die man der großen Dame gerne nachsah, schränkte sie doch hochdero Zeit für noch Bestürzenderes ein, denn gefaßt war man auf alles.

Früh verwaist, galt sie von je als Lieblingsnichte eben jenes Großfürsten Wladimir Michailovics, ihres Vaters einzigen Bruders. Vordergrundsdaten. Eigentliches wußte er um sie aus einer Klangfarbe in seiner Mutter Stimme: dem glücklichen, tiefübergoldeten Gong, der nur Ebenbürtiges einzuschwingen pflegte — so lebendig seinem Ohr, daß auf diesen fast körperlichen Wellen die entblätterten, toten Züge zurückkamen, sich aufrichten durften — faserfein — als ganzes Antlitz wieder um diesen Kern von Klang, als Glockengesicht — das silberzüngige Orgelgesicht, wie er es im stillen für sich nannte.

Nun war Helena Karachan da, ein Wesen aus Diana Elchos ihm unbekannter, früher Welt, und er sollte sie sehen. Eine kaukasische Prinzessin: geschmeidedurchrieselte Flechten langniederfallend auf milchweiße Fesseln, azurne Schleier und klare Knaben, die Türkise ihrem Weg streuen.

Zum dinner kam er ausnahmsweise in den Grillroom, schmeichelte für diesmal sogar Gargis Widerstand, solchen gemeinsamen Anfängen der Verdauungstätigkeit auch nur als Zuschauerin beizuwohnen, hinweg, ließ sich ein Tischchen anweisen, an dem die Fürstin vorüber mußte, das auch den Blick durch Glastüren in einen ihr reservierten kleinen Saal frei ließ.

Nein, der Großfürst sei noch nicht eingetroffen, berichtete der maître d’hôtel, vorerst die Prinzessin et suite.

Nun kam, zwischen aufgerissenen Flügeltüren, sie selbst.

Der schwabbelige schwarze Kaftan, durch den sich wilde Formen wälzten, war glitschig von Bratensauce und Eigelb; darüber hing, bis zu den Knien, eine Märchenkette nußgroßer Perlen von kaum abzuschätzendem Wert. Die Füße staken in karierten Schlapfen.

Sie schob sich in merkwürdigen Kreissegmenten sehr schnell vorwärts, offenbar hatte man die ungeheuren Schenkel bandagiert, um ein Wundreiben zu verhindern. Von den Armen hingen ihr zwei Reticuls — schwer wie Rucksäcke — der eine mit Konfekt, der andere mit Tabak gefüllt. Die großen längsgerunzelten Ohren waren mit Antiphonen abgedichtet gegen jeden Lärm, vor den Augen trug sie eine Autobrille mit gelben Scheuklappen.

In ehrerbietigem Abstand folgte ein flohbraunes Lemurenmännchen, das diese äußerlich erzwungene Distanz durch eine keineswegs fundierte Familiarität den übrigen Anwesenden gegenüber ins betulich Zirkusmäßige zu zerwitzeln offenkundig bestrebt war. Ein zweites Männchen, ebenfalls von polnisch-semitischem Typ, begleitete seine Herrin nur bis zu ihrem Separée und erhielt seinen Platz unter den übrigen Hotelgästen angewiesen.

Doch auch an den Flohbraunen richtete die Fürstin während der Mahlzeit kaum das Wort — füllte die Pausen der Gänge, indem sie aus dem Rucksack zur Rechten Bonbons verschlang, dem Rucksack zur Linken unaufhörlich Tabak entnahm und zu Zigaretten drehte, die kaum angerauchten aber spie sie sofort wieder weg.

Aß dann wie ein Oger. Mit tadellosen Bewegungen der langen, edel gebliebenen Hände. Das Embonpoint der Fürstin schien nicht an ihrem Kaftan enden zu wollen, war irgendwie ein respektloses — ein anarchisches Fett, evaporierte vielleicht heimlich, um sich, ganz weit weg, plötzlich auf einer firnen angelsächsischen Hemdbrust mit einem Klatsch niederzuschlagen; ganz gut zuzutrauen war ihm so etwas. Lag dergleichen in der Luft? — Bis zum vierten Tisch in der Runde, und trotz Glastüren, begann der maître d’hôtel immer wieder nervös über Gabel und Messer zu fahren, als kröchen dort Ölflecke aus.

Nach dem dinner, unausgesetzt kauend und rauchend, ging sie ins Spielzimmer. Der kleine polnische Jude wartete bereits vor einem Schachbrett. Unterdessen war im großen Musiksaal ein Wohltätigkeitskonzert ausgebrochen — die Neujahresrechnungen der Couturiers drohten. Irgend jemand plärrte bereits Patschuligebete von Gounod.

Eine Lady Patroneß näherte sich mit dem irrsinnigen Pferdegrinsen europäischer Gesittung dem Schachtisch: „Wollen Sie nicht zu unserem Konzert kommen, Fürstin?“

„Ja, es ist entsetzlich, wieviel Dreck einem unaufhörlich in die Ohren getutet wird.“

Und ohne auch nur aufzusehen, schob die Karachan mit hörbarem Knall ihr Antiphon wieder in das Runzelohr:

„Manasse, Sie sind am Zug.“

Es waren ihre einzigen Worte an diesem Abend.

Wie man einem bockenden Nilpferd achselzuckend ausweicht: „It’s the nature of the beast,“ so entfernte sich die Lady Patroneß.

An einem der nächsten Tage kam Manasse und forderte Horus zu einer Partie Schach auf, wie er durchblicken ließ, auf Geheiß der Fürstin. Im übrigen ignorierte sie ihn genau wie den Rest der Gesellschaft. Nur zu markanten Persönlichkeiten — Menschen mit etwas wie Köpfen: dem vercherubten Aasgeier Elihu Lincoln Rosenbusch, auch Archie Payne, kam regelmäßig Manasse, um sie dem Schach zu gewinnen, denn er war ein faszinierender und außerordentlicher Lehrer.

Horus, der all seine Zeit auf Skiern verbrachte, hatte nach einigen Partien weiteres Spiel abgelehnt. Da ließ sie ihn sich vorstellen.

„Ich habe die Freßsucht,“ und auf den kleinen Lemur deutend, „das ist mein Darmlakai — oder heißt es Internist, kurz einer, der eine Lebensrente dem einmaligen ‚großen Schnitt‘ am Patienten vorzieht.“

Der also Eingeführte rutschte nervös hin und her — warf überquer allerhand Angelhaken nach Einverständnis.

„So hat Manasse versagt, Sie einzufangen,“ fuhr die Fürstin fort, „schade, Sie sehen begabt aus. Wissen Sie denn noch nicht, daß bei dieser heillosen Rasse eben alles zum Unheil ausschlagen muß — auch die Intelligenz — vielmehr gerade diese. Da sperrt man sie noch am sichersten ins Schach. Dort ist sie wenigstens unschädlich; eingekapselt wie eine Trichine.“

Und Horus sah zum erstenmal, daß dies Gesicht als schmaler Docht in seinem eigenen Talg stand, daß da vielleicht eine hohe Seele sich hinter einem Sack voll Eingeweide verschanze, hinter Autobrillen und Antiphonen, Tabak, Zynismus und Fraß.

Ihm schien, als wäre er hier zum erstenmal in Europa auf einen Menschen gestoßen, zum mindesten auf menschliche Überreste. Doch woher solcher Verfall — solcher Ruin? Er fühlte: diese blutigen Fleischstücke, diese Fisch- und Fettgerichte ohne Zahl — eigentlich fraß sie an ihnen immer nur wieder ihren Harm in sich hinein, wurde daran noch gelber, fetter und böser. Manchmal schien sie am Ziel: alles in pausenlosem Speisebrei breit animalisch zu ersticken. Litt dann augenscheinlich nicht mehr, verdaute ihr Leid, nur die beispiellose Brutalität des Ausdrucks — die auserwählten Gemeinheiten der Worte bei dieser wahrhaft großen Dame — lagen als erstarrte Schlacken einer einst feurig-flüssigen Qual immer noch im stumpfen Heute herum.

Mit offener Verachtung gegen die ganze Gesellschaft einzelte sie nur Horus heraus und Gargi, die sie Peribanu nannte, sprach aber auch mit diesen beiden manchmal tagelang kein Wort. Nie war Diana Elchos erwähnt worden, als wolle sie an nichts aus der Zeit ihrer jungen Höhe erinnert werden. Doch wußte sie, wessen Sohn er war. Er sah es deutlich am gierig gequälten Blick, der die Bewegungen entlangfuhr, in denen er seiner Mutter glich. Einmal, bei einer weiten, impulsiven Wendung aus den Schultern heraus, hatte die Fürstin, eine von Lorgnons starrende Umwelt völlig ignorierend, jäh seinen Kopf gepackt und ihm zärtlich, zornig in die Augen gesprochen:

„Nicht, Baby, nicht.“

Was sie, aus deren Herz das große Auge in den Raum wuchs, wohl empfunden hätte bei diesem Wiedersehen. Verse kamen ihm von einem, der ihr an Wort und Art wie ein früher kindlicher Bruder glich:

„Die meine Gespielen waren, die sind träge und alt.“

Oft, nach tagelangem Schweigen, wieder ein Strom von Hohn: „Ich stehe nämlich unter Kuratel: Freßsucht — verminderte Zurechnungsfähigkeit. Das bedeutet: zwei rechtskräftig bestellte Konsortien von Dieben, eins in Petersburg, eins in Tiflis, mit den dazugehörigen Paragraphenfallotten, versuchen, jedes gleich heftig, mein Geld auf die Seite ... auf seine Seite zu bringen, so daß es gerade über mir schweben bleibt. Krepieren darf ich nicht, sonst fällt das Vermögen aus ihren vormundschaftlichen Klauen heraus, darum ist der Darmlakai offiziell bestellt, die Diät zu überwachen — verkauft mir das Pfund Konfekt zu hundert Rubel und läßt sich mit der gleichen Summe bestechen für jeden Extragang.“

Doch auch der Flohbraune, er hieß Sobelsohn, suchte Vertrauen:

„Was soll ich Ihnen sagen! Unausbleibliche Folgeerscheinungen eines vor fünfzehn Jahren vorgenommenen operativen Eingriffs,“ erläuterte er sachlich anerkennend. „Totalexstirpation. Nu, Sie begreifen — keine Libido mehr, keine innere Sekretion — der Gesamtausfall an Leben bei einer so temperamentvollen“ — er grinste — „so hochgespannten Persönlichkeit, bei andern Frauen merkt mans oft kaum ... Unsere Wissenschaft jedoch,“ ein gockelhafter Rausch ließ seine Stimme sich überkollern, „schreitet selbstredend so glänzend — nu, so phänomenal glänzend vorwärts, daß heute kein Fachmann mehr daran denken würde, im Fall der Fürstin — es handelte sich um eine relativ geringfügige Sache — gerade diesen Eingriff auch nur vorzuschlagen! Von Stufe zu Stufe eilend, in rastlosem Forscherdrang, auf jeder gleich lichtvoll, gleich bewundernswert ...“

Er schrak ein wenig zusammen, unter dem Taumel der Fachbalz war die Fürstin unbemerkt herzugetreten.

„Pariser Hutmoden? Ach so, die chirurgischen. Unmöglich eine andere als die momentan moderne Operation zu bekommen, lieber Elcho. Wie bei der ‚Modiste‘ mit den Hüten. Wer den Schwachsinn des Augenblicks nicht mitmachen will, wird von der Clique der Interessenten mit dem Bannstrahl belegt.

„Nur daß man den vorjährigen Hut heuer nicht mehr zu tragen braucht, die vorjährige Operation leider stets. So trägt die Weiberherde immer eingeschnitten Marke und Datum des jeweiligen gynäkologischen Pferchs. In jedem Dampfbad können sie an Art und Lagerung der Schnitte die ärztlichen Moden der letzten Generationen studieren.

„Jahresringe der Wissenschaft am Bauch der Frau.

„Wir Alten tragen die machtvollen Spuren der Totalexstirpation, aus Zeitläuften, wo man das fröhlich machte, ohne süßes Ahnen, daß Gesamtverblödung, Schwund der Persönlichkeit erfolgen müssen. Kurz, was jeder Vollsinnige sich eigentlich ohne Experiment hätte sagen können, daß, wenn man einem Sexualwesen, wie der Frau, ihr zweites Ich, ihr großes Ur-Ich ausreißt, dies ihr immerhin schaden dürfte. Darauf waren sie aber dann besonders stolz, feierten es als höchsten wissenschaftlichen Triumph, herausgefunden zu haben, ihre Operation trage Ursach am Zugrundegehen des Patienten.“

Eine Zigarette nach der andern drehend, sprach sie wie im Fieber fort:

„Der vorletzte Wurf weist als Uniform der Verunstaltung den queren Blinddarmschnitt auf, die ganz jungen Frauen aber erkennt man an der Marke: Eierstockzisten. Da wird es wieder so zwanzig Jahre dauern, bis an den feineren Karnickelreaktionen, Versuchen an temperamentvollen Lurchen sich die desaströsen Folgen erweisen und Frauen in der Zeitung lesen können, welche Sinne ihnen damals eigentlich weggesäbelt wurden.

„Die ganze Chirurgie lebt ja von Verstumpfung, Vergröberung, sinnlicher Verarmung einer Menschheit, die gar nicht mehr von selber draufkommt, daß eine Reaktion entfällt, schneidet man ihr Organteile heraus. So haben es die Leute jahrzehntelang nicht gemerkt, wie sie zu Kretins werden, entfernt man ihnen die ganze Schilddrüse, wie sie vergreisen, wo die Generationsdrüsen fehlen. Begreifen Sie, Elcho: einfach nicht gemerkt, welche Edelrasse! Erst an den Ratten hat sich dann der ganze Betrieb als unhaltbar erwiesen; die drüben von der Biologie haben das Geschäft verpatzt, eine Verlegung der Finanzoperationen nötig gemacht.

„Und ihr Internisten,“ sie fauchte gegen Sobelsohn, „ihr seid die Lanzettfischchen dieser Schwerthaie im Ozean der Verstumpfung. Da hat man Eisen, Phosphor, Schwefel, organisierte Minerale, Verbindungen und Aberverbindungen aller chemischen Elemente in einer Feinheit und Variation im Körper, die organische Chemie noch lange nicht darzustellen vermocht.

„In diesen zartesten Chemismus der Welt — fein, daß an ihm subtilste Reaktionsmethoden noch versagen, schüttet ihr nun — damit ja nichts auf dem Kehrichthaufen der Farbfabriken verkomme, deren Aktionäre ihr seid — eure Medikamente relativ tonnenweise hinein, wo die Natur nur in homöopathischen Dosen regulieren kann und soll. Da wird mit Hilfe eurer scheinbar harmlosen Hydrogauner in Bädern und Sommerfrischen dem Publikum erst einmal der Unfug der Unselbständigkeit angezüchtet. Daß einer erst einen Arzt fragen muß, was er essen soll — der es ebensowenig weiß — noch als Erwachsener seinen Leib: den Kern der Sinne so wenig empfinden gelernt hat; so etwas war ja seit Anbeginn der Kreatur noch nicht da — außer vielleicht bei einigen Arten degenerierter Raubameisen, die sich im Bau eigenes Geziefer halten müssen, weil sie ihr Futter nicht mehr allein zu finden imstande sind.

„Hier mörtelt sich der Sonderschwindler, pardon: Spezialist, dem Gefüge ein. Hier kommen die Alchimisten der Medizin zu Wort. Eigene Lehrstühle werden errichtet zur Überleitung eines Gebrestes ins andere — daß nur nichts verloren gehe. Man muß es ihnen lassen: die Transmutation der Krankheiten ist lückenlos gelungen. Fundament aber bleibt stets die natürliche Schlechtrassigkeit; auf dieser wird durch falsche Pubertätshygiene zuvörderst Bleichsucht gezüchtet, aus dieser durch Überfütterung Fettsucht — aus dieser im reifen Alter durch Sarkomdiät: Diabetes. Dann sagen sie: Koma — und kommen sich weise vor.

„Sterben aber darf einer noch lange nicht — oh, das kostet noch Tausende. Adrenalin, Theobromin, noch ein Stich in die arme zähe Haut und noch eine Injektion.

„Schon will der letzte Atemzug in die Erlösung schlüpfen, da spießt ihn wieder eine neue Spritze irgendwo auf.

„Daß die Leute einmal in Frieden sterben durften, wie vergessenes Paradies klingt es ums Ohr. Aber auch in ihrer Krankheit dürfen sie nicht Ruhe finden. Daß der gleiche Mensch sein Leben lang nur ein Leiden habe — es wird nicht gern gesehen. Verpatzt die Statistik. So treibt man eine Krankheit mit einer andern aus, läßt ein Organ durch das andere einschweinzen, und aus jeder Abteilung wird der Patient geheilt entlassen.“

„Nu, was soll man denn tun mit ihm? Man muß doch lernen. An wem soll man lernen? — Die freie Wissenschaft wird doch noch probieren dürfen,“ ereiferte sich Sobelsohn.

„Gewiß — was aber mich, die in eine falsche ‚Frühlingsmode‘ Gekommene, empört, ist diese Bonzen- und Unfehlbarkeitspose für jeden Humbug des Augenblicks. Muckt aber einer aus dem Pferch auf, habt ihr so Abrakadabra-Worte wie: Eiweißzerfall — und schlotternd bricht der entsprungene Laie wieder ins Knie.“

Sie wurde infernalisch suav:

„Im übrigen verschließe auch ich mich den mancherlei Vorteilen des Wechsels nicht: wer sich zum Beispiel eines Kindes entledigen will, braucht nur ein ihm passendes Jahr abzuwarten, dann einen Kinderarzt extremer Moderichtung — irgendeinen rabiaten Eiweißianer oder Blinddarmentzünder beliebiger Observanz — kommen zu lassen und — wirklich zu tun, was er vorschreibt.“

„Wie bringen Durchlaucht dann den immerhin vorhandenen Prozentsatz lebender Kinder mit der Vorschrift, ärztliche Hilfe anzurufen, in Einklang?“

„Durch die rettende Fahrlässigkeit des Dienst- und Pflegepersonals, Sobelsohn. Sie vergessen, ich sagte ausdrücklich: tun — tun müsse man, was er vorschreibt. Ich, die in den Spitälern halb Europas gearbeitet habe, kann Ihnen sagen, daß noch nie eine Anordnung genau so ausgeführt wurde, wie der behandelnde Arzt geglaubt. Darum sind eure Statistiken falsch. Fachbehandlung, gemildert durch Schlamperei.“

„Nu, und die Asepsis, Fürstin — wollen Sie auch nörgeln an unsrer Asepsis?“

„Nein, denn sie ersetzt den Juden den Katholizismus. Man muß das nur gesehen haben, was ihr da treibt, ihr profanen Pfaffen des Leibes — bei einem der hohen Infektionsfeste: etwa Scharlach. Was da für ein hieratisches Zeremoniell entfaltet wird: die weißen Weiberröcke der zelebrierenden Ärzte — das Lysolopfer — der Bakterienexorzismus — die symbolischen Waschungen. Wie Ostern in Rom.“

„Ist Ihnen sonst noch was nicht recht an uns, Durchlaucht?“

„An euch.“ — Die Drehung ihrer Schulter war verächtlicher als je ein Wort. —

„Über Mißbrauch und Verzerrung eines Amtes, euch zu Unrecht verliehen, wer möchte da richten, wiewohl ihr’s etwas reichlich treibt. Doch eine Menschheit richtet sich selbst, die, instinkt-irr und salopp, das oberste Amt der Art: das Amt des Arztes, so wenig achtet, daß sie wahllos über ihr Schicksal hinwimmeln läßt, was Geschäft oder Drang oder Zufall eben erst heraufgespien aus jeder Tiefe, hin zu Jus, oder Schmieröl, oder Medizin oder Knoppernhandel: ungereinigt — unerprobt. Das oberste Amt der Art: das Amt des Arztes:

Aus Sinnenzartheit und Sinnenschärfe, aus Kraft, Anmut und Vitalität den Erzengel der Erde erziehen, pflegen, hüten helfen, das dürfte nur nach Proben, furchtbar und herrlich, in die Hände jener überantwortet werden, die ringsum ausgeblüht in langen, edlen Mühen — weisere, feinere, lichtere Organe sich selbst errungen, als uns Armen vergönnt.“

Helena Karachan hatte die letzten Sätze fast ausschließlich an Horus gerichtet, der, wie benommen von ihrem Schicksal, wie er es nun begriff, erschüttert und schweigend allem weiteren gefolgt war. Nun schien es ihm Zeit, in Leichteres unbemerkt zurückzulenken.

„In China,“ lächelte er, „ist es Sitte, den Arzt nur so lange zu honorieren, als man gesund bleibt.“

„Wie entzückend,“ rief die Fürstin, „wie weise auch. So lernt er etwas von Gesundheit verstehen — bei uns versteht der Arzt im besten Fall etwas von Krankheit.“

Sobelsohn aber hörte schon lange nicht mehr; vergnügt bis zu den Weisheitszähnen, memorierte er das mit dem „Erzengel der Erde“ und den „lichteren Organen“. —

Spaß würde das geben mit den Kollegen bei der nächsten Naturforscherversammlung. Für die „zwanglosen Zusammenkünfte“ war es gut, immer so Geschichtchen auf Lager zu haben, die großen Tiere lachten dann — wurden aufmerksam auf einen.

Was war das für ein Hallo gewesen das letztemal, als der kleine Fekete Attila aus Budapest plötzlich gefragt hatte:

„Wollen Sie meinen Sohn sehen?“

Und aus der rechten Rocktasche ein kleines Einsiedeglas mit einem Embryo in Spiritus hervorgezogen hatte.

Kaum schien das Gelächter abgeflaut:

„Wollen Sie meine Tochter sehen?“

Und nun war aus der linken Rocktasche die gleiche reizende Überraschung gekommen. — „Ein emsiges Bürschel.“

 

Es hatte schwer geschneit — fast grau. Föhn über den Höhen wühlte böse blaue Trichter in einen löwengelben Dunst: danger of avalanches stand auf breiten Tafeln in den Hallen der Hotels.

Genia Waanebeeker hatte die Scheidung ihrer Eltern flotter betrieben, seit Linda Bordone durch Demütigungen aller Art dem Onkel in Bologna doch noch die fehlenden 50000 zur Mitgift zu entwinden vermocht und nun mit Archangelo Cavadini verlobt war. Genia störte das wenig. Er hatte eine verrottete Art, die Hand zu geben, und eine perfide, sie um eine Reitpeitsche zu ballen.

„Ich kaufe den Gauner,“ entschied sie.

Eine böse Wärme war an ihr herabgehaucht aus der Haut dieses der Amerikanerin neuen Typs: südliches Männchen, das auf Weibern lebt. Ihre eminent praktischen Nerven — wiewohl noch unerfahren — rieten zum Geschäft. Und Genia war fünfundzwanzig Jahre alt. — Die up-town und down-town clerks zu Hause: — das wurde automatisch am week-end aus einem city-block: so einem Kubus dummer Kraft, herausgeschossen, selbst ein kleinerer Kubus aus Homespun, endend in Stiefelkuben aus Leder; gab die Pfote kunstlos wie ein Bernhardiner und nahm die Reitpeitsche zum Reiten.

Heiratete man, blieb eigentlich alles gleich: Kleider, Hüte, der jährliche „trip to Paris“, Haufen von Geld. Genia kam sich sehr ins Ideale gehoben vor, daß ihr das nicht genüge. Nein, zum Geldverdienen waren die Eltern da — nicht nur dad, auch mommo hatte noch Verpflichtungen. Da war ein Jugendfreund in Minnesota. Genügend alt jetzt und vermögend ... auch hatte sich der Gynäkologe ihrer Mutter, auf Genias Erkundigung, durchaus beruhigend hinsichtlich etwa drohender Geschwister geäußert. Selbst wenn mommo so perfid hätte sein wollen. Daß dad nicht mehr heiratete, dafür mußte natürlich gesorgt werden; Archangelo aber würde bei der einzigen Erbin zweier Vermögen sich schon vorläufig mit einer Rente begnügen.

So hatte sie spielend, es war vor vier Tagen, eine Szene zwischen den Eltern in Gang gebracht. Hoffentlich die letzte. Mit blutgesprenkeltem Blick war dad zum Telephon gestürzt — hatte aus dem Dorf Giuseppe Piatti bestellt — sich in Skidreß geworfen, und war fort mit ihm. Erst zur Hütte, dann irgendwo hinauf; sein Gepäck solle man nach Zürich an die Adresse seines Anwalts schicken; direkt führe er nach der Tour hinunter.

Heute war Tango-Tee im Palace. In der Frühe des Nachmittags stoben Gerüchte auf, vor drei Tagen sei in der Suvrettagruppe eine Lawine niedergegangen, Spuren führten in sie, aber nicht mehr heraus. Man depeschierte an den Züricher Anwalt, bis jetzt war keine Antwort eingetroffen, noch konnte man also zum Tango-Tee. Abends lastete dann allerdings die ganze Verantwortung der Situation auf den beiden Frauen. Genia war tief erregt:

„Du kannst doch nicht Crêpe tragen, solange die Leiche nicht gefunden ist — eine Woche kann man verschüttet in einer Lawine leben.“

„Ich will doch nur das Korrekte tun.“ Mrs. Waanebeeker entrüstete sich — „aber man hat ja kein Beispiel. Nie noch war jemand aus unsrer „set“ verschüttet.“

„Dunkel, aber nicht Crêpe,“ entschied Genia.

Bis tief in die Nacht hinein war ein Hin und Wieder auf den Korridoren. Waanebeekers verhandelten mit der Rettungsexpedition. 30 Frs. pro Tag und Mann? — Das war ja horrend. Gut, fünf Mann sollten gehen.

Die Leute lachten. Die Lawine war durch die Talsohle gegangen, die andere Bergseite hinauf — hatte die Verunglückten vielleicht weit mitgerissen — auf zwei Kilometer, wenn nicht auf vier, mußte gegraben werden.

„Also dann sieben Mann. Aber um Himmels willen, es gab doch noch Piattis — der Andrea würde sich doch nicht bezahlen lassen, feilschen, wo es die Rettung seines Bruders galt. Piatti müsse noch gratis mit. Also mit Piatti acht.“

Der nächste, ein kalter und klarer Tag, klang voll Schellen. Archie Payne hatte zwanzig Schlitten bestellt zu einem Champagnerpicknick nach der Unglücksstelle. Man würde auf der Lawine selbst frühstücken.

Es war eben eine jener Eingebungen, die ihn so populär machten. The right man in the right place. Er triumphierte. Die Principessa Dango fuhr in seinem Schlitten, sie, die ihm bisher kaum den Fuß gegeben — geschweige die Hand. Zwei Schneeleoparden hatten sich um ihren Hals verbissen, das Gesicht war ihr mit einer köstlichen, handgeklöppelten Krätze aus Brabant bedeckt. Rankenwerk stieg aus der Nase, und Gruppen kleinerer Tiere aus feinstem Zwirn überliefen die Wangen. Ein Leopardenembryo saß als Toque im Henna. Archie fürchtete sich ein wenig, er hatte sie noch nie so nahe gesehen, der Snob im Herzkästlein aber strahlte ihm licht, denn Strondoli mußte ganz rückwärts zu Madame Bavarowska steigen.

Gloria Rawlinson, wunderschön in weinroter Affenhaut, wie es dann im „Herald“ hieß, fuhr mit her grace of D. und Monseigneur. Auch die Cadogans waren dabei, du Perron, die liebliche Margot, Quadrupedescu, Muriel Hitchcock, die Raeburn-Girls. — Horus war nicht dabei, wußte nichts von dem Picknick, hatte sich in der Nacht der Rettungsexpedition angeschlossen.

Die Damen Waanebeeker — dunkel, doch nicht in Crêpe — erwarteten unterdes auf ihren Zimmern die Ankunft des Anwalts aus Zürich.

What a beautiful boy,“ sagte die Principessa Dango — als Italienerin von Rang sprach sie meist englisch, hob das neronische Einglas aus Smaragd in die Richtung des pauvren Fadens der Rettungsmannschaft, die, jetzt ganz nah, sich mit ihren Schaufeln in den Lawinenkegel einzuwühlen versuchte; so aussichtslos für diese Wenigen, denn zerrissene Bäume und Geröll mischten sich überdies den Schneemassen.

What a beautiful boy,“ wiederholte die Princesse macabre.

„O, Elcho — — hallo, Elcho!“ und Archie winkte mit der Serviette —

„Principessa kennen ihn noch nicht? Berüchtigter Sklavenhändler aus dem dunkelsten Osten oder so was. Eigne Jacht — first rate. Gar nicht so jung, wie er sich macht. Steht mit seiner Schwester oder Tochter in Beziehungen, die das Gesetz nicht gerne sieht, gibt sie daher für seine Gattin und indische Prinzessin aus, streicht sie auch olivenfarben an, das verwischt die Ähnlichkeit. Sperrt sie im übrigen meist ein, mit einem chinesischen Drachen als Wache, und gibt ihr nichts zu essen; die arme Puppe hat noch kein geradegewachsenes europäisches dinner zu kosten bekommen.“

„Es ist etwas dran, sie sehen sich irgendwie ähnlich,“ mischte sich her grace of D. wohlig angeekelt ins Gespräch, „wie skandalös — ein Familienzug in den Bewegungen — auch die leichten langen wagrechten Augen, nur daß seine hell und ihre dunkel sind oder scheinen sollen, wissen kann man es ja nicht genau, bei diesen lächerlichen Wimpern.“

„O, die Wimpern,“ jubelte Archie. „Sir Osmond, erzählen Sie doch die Geschichte mit den Wimpern.“

Der schmunzelte: „Keine Geschichte — ein Wort höchstens. Nun, Sie wissen ja, wie Madame Bavarowska ist — scharmante Frau — nur ein bißchen Steinzeitpersonnage. Wir waren alle zusammen in dem gleichen Hotel in Paris. Madame Bavarowska sitzt neben dieser jungen Prinzessin oder Miß Elcho oder Mrs. Elcho, wie Sie lieber wollen. Plötzlich greift sie nach diesen berühmten Wimpern — zupft ein wenig daran, besieht ihre Handschuhe auf Koholspuren, findet keine, fragt ägriert:

„Wie macht man das.“

Da sagt dieser väterliche oder brüderliche Geliebte ganz ernst — ganz sachlich:

„Angeklebte Fliegenbeine aus den Galeries Lafayettes in Bagdad, das laufende Meter zu einer Zecchine six pence.“

„Doch recht brav für so einen Wilden,“ rühmte Archie — jetzt ganz Manager und Impresario.

„Und nichts war ihnen in Paris gut genug,“ erinnerte Winifred Cadogan Lady Eveline — „weißt du noch, bei Callot, bei Cheruit, bei der Chanel. Die Leute schwitzten Blut, wollten aber die große Bestellung auch nicht verlieren — alles mußte neu entworfen werden, kein Modell fand Gnade — und man sollte doch meinen, solch asiatische Provinzler ließen sich alles anhängen.

„Das Resultat war allerdings stunning. Der Manager von Martial & Armand versicherte, käme der Mann wegen Inzest ins Kriminal, er engagierte sie vom Fleck weg als Mannequin — so hätte ihm noch niemand seine ‚Creationen linear entwickelt‘ — was immer das heißen mag.“ — Winifred hielt nichts von Fremdworten.

Die Principessa Dango aber reagierte nicht — hörte nichts von diesem indirekten Angriff, war doch schon in ihrer Gegenwart von andrer Eleganz zu sprechen Sakrileg. Er war jetzt ganz nah — in Greifweite ihrer Augen. Taub für Zurufe und Einladungen, ignorierte er die ganze Picknickpartie völlig, schien mit irgendwelchen Messungen beschäftigt. Sie sah ihn hier zum erstenmal. Im Astoria war es schwer, in ihre Merkwelt zu gelangen; am Abend, weil das kobaltblaue Pulver auf den Lidern eine gewisse Starre der Blickrichtung forderte, nur was unmittelbar im Sehfeld lag, konnte aufgenommen werden — bei Tag, weil der Einfallswinkel des Hutes stets größere Teile der Umwelt ausschloß. Hier, in der Schlichtheit ihrer Schneeleoparden mit Brabanter Points, war es unbehaglich frei und weit, voll neuer Gesichter auf einmal.

Warum begrüßte er niemanden — welche Affektation — gab nur mit dem Fuß einem Champagnerkorb einen formidablen Tritt, der gerade im Wege stand. Eigentlich war er auch gar nicht hergekommen, vielmehr das Picknick ihm allmählich in sein Arbeitsfeld gerutscht. Erst hatte man sich an der Stelle gelagert, wo die Spuren verschwanden, dann aber war jeder der Damen alle paar Minuten gewesen, als vernehme sie irgendwo aus der Tiefe Seufzer oder Gestöhne. Natürlich wanderten hierauf Flaschen und Sandwichschüsseln den unheimlichen Lauten nach — immer weiter auf die schon konsolidierte Lawine hinauf.

Als Horus, wieder bei seinen Leuten, zur Schaufel griff, fühlte er etwas wie eine entschuldigende Haltung hinter sich:

„Kann ich irgendwie von Nutzen sein?“

Er wandte sich und sah in Sir Osmonds Gesicht. Das alte englische Herrengesicht, zwischen weißem Schnurrbart und weißem Haar, füllte sich langsam mit einem hellen Rot.

„Eine reizende Eigenschaft angelsächsischer Epidermis,“ dachte er. „Eine Art prästabilierter Harmonie zwischen ihren Taten und Vasomotoren“ — und er gab ihm eine Hacke zu beliebigem Gebrauch.

Dann entstand Aufsehen: die Principessa Dango erklärte plötzlich, sie wolle zur Rettungskolonne und schaufeln. Drei Schritte war sie schon gegangen. Strondoli hinter ihr sagte nichts als:

Impossible. Um zehn Uhr Kostümball im Carlton — jetzt ist es halb zwei, impossible,“ dann geleitete er sie hinunter zum Schlitten.

Doch der Sensationen sollte kein Ende sein. Auf einmal bog um die Talnase ein endloser Zug an Menschen und Vieh: Kolonnen von Pionieren — hundert — zweihundert — fünfhundert Mann, Lastpferde daneben. Sie behaupteten, erst die Vorhut zu sein — Bergbauingenieure aus dem Rheintal seien telegraphisch herauf beordert, noch heute Nacht würden Schneepflüge eintreffen. Mürrisch fraß peinliche Anerkennung um sich. In etwas gestörter Stimmung erfolgte der Aufbruch. Um zu glossieren, daß nichts geschehe, war man doch all die Stunden heraufgefahren; wie kam man jetzt dazu?

In der Hall des Astoria fand Archie Payne ein artfremdes Wesen, einen Regenschirm mit ungeheurem Horngriff zwischen den Beinen. Es wartete scheinbar auf den Omnibus zur Bahn. Archie lud es zu einem „maiden’s blush“ in die Bar, denn er vermutete in ihm den Anwalt aus Zürich.

„Leicht zu liquidieren?“ frug Payne, auch Cavadini war hinzugetreten. „Man spricht von einer Million bar für jede der Damen?“

„Vorläufig keinen Cent,“ und der Fürsprech strich mit dem Horngriff seines Regenschirms den Schnaps im Schnurrbart glatt.

„Nicht — einen — Cent, ehe die Leiche gefunden und einwandfrei agnosziert ist, sonst gilt er für das Gericht lediglich als verschollen, und die Todeserklärung, nebst Freigabe des Vermögens, erfolgt erst nach drei Jahren. Im Frühling aber, bei plötzlicher Schmelze und Hochwasser, können die Reste leicht fortgeschwemmt werden ... es ist riskant.“

Archie, Fäuste in den Hosentaschen, warf sich hintüber und biß in den Plafond vor Lust.

Am Abend hatten Waanebeekers ihre frühere Beliebtheit in vollem Umfang wieder erlangt.

Um sieben, vor der Abreise des Fürsprechs, war es noch etwas peinlich geworden. Die Wittib Piatti kam in jener unerträglichen Haltung europäischer Mittel- und Unterschichten bei Schicksalsschlägen. Nicht aus Mangel an Herz — aus mangelndem Instinkt für natürliche Gesittung fallen sie in jene greinende Kinogeste, die das echte Leid überlügt und zwecklos entwürdigt. — Flucht oder Brutalität — ein drittes ist da schwer.

Es ergab sich, daß die Wittib Piatti vor Schmerz zuvörderst nicht sitzen konnte; sie schleifte ein wildfremdes Kind rastlos im Zimmer herum und schüttelte es drohend gegen die Damen Waanebeeker, ließ hilflose Posen mit erpresserischen abwechseln. Endlich kam es heraus: den Führerlohn für die Tour wollte sie ausbezahlt haben.

„Den Ganzen?“

„Natürlich.“

Nun war Mrs. Waanebeeker oben auf:

Die Katastrophe hätte sich doch beim Aufstieg ereignet, die Spuren zeigten es unwiderleglich ... also höchstens halbe Taxe, aber höchstens. Hier gab ihr der Anwalt voll und ganz recht.

Die Witwe Piatti schäumte durch die Gänge, brach just vor der Bar zusammen und mußte gelabt werden. Sie lag in einer Lache ihr widerfahrenen Unrechts, und es wurde immer größer. Auf dem Heimweg frischte sie auf; Mr. Waanebeeker hatte im Dorf schon die halbe Taxe als Angabe vorausbezahlt — davon aber konnten die im Hotel oben nichts wissen.

 

In diesen Tagen und Nächten aß Helena Karachan zum Entsetzen. Ja — auch in den Nächten. Verweigerte ihre gewohnten Schlafdroguen. So saß sie bei gelöschten Lampen im Mondlicht, den Kaftan aufgerissen und schlang in Verzweiflung, bis fahles Frühlicht um die grauen Reste der Schüsseln lag. Keine Stunde Ruhe mehr den müden, entstellten Organen, als wolle sie sich von innen heraus zerreißen um jeden Preis.

Es war da nämlich noch eine Person vorhanden, die darauf sah, daß keine Betäubungsmittel, gegen der Fürstin Willen, den Speisen beigemischt würden: Ithnan, ihr georgischer Diener. Auf seiner ganzen Haut empfand er jeden Wunsch der Herrin. Ließe sie ihm den Kopf abschlagen, Hände und Füße dienten ihr noch nach. Manasse und Dr. Sobelsohn achtete er unreinen Tieren gleich. Letzterer verdiente Unsummen in dieser Zeit, ließ aber doch den Plan, sich ein zweites Konto in der Schweiz eröffnen zu lassen, weise und resigniert fallen. Stand eben von früh auf dem Boden der Tatsachen, seinem einzigen Heimatboden, wußte: bald versiegte der Segen. Die Fürstin sollte geheilt werden.

„Geheilt?“ frug Horus ungläubig-froh.

„Von der Freßsucht, ja — dafür steh ich gut.“

„Warum ist es dann nicht längst geschehen?“

Er wurde erregt:

„Wie soll es geschehen sein, wo sie sich wehrt wie me ... närrisch,“ verbesserte er, „und bis jetzt mit Erfolg, — Gewalt? — Nu, ma scheut vor Gewalt. Unter Kuratel? Gewiß Kuratel. Solang aber nicht unmittelbare Lebensgefahr besteht, was hat man davon? Keine gesetzliche Handhabe. Jetzt endlich, bei der fortschreitenden fettigen Degeneration aller Organe, hat er ein Machtwort gesprochen, der Großfürst. Kommt herauf mit einem berühmten Operateur aus Deutschland. Jener wird es machen auf seiner Klinik. Aber erst soll die Kapazität sagen — sie wird schon sagen,“ fügte er resigniert hinzu.

„Und warum ist denn die Fürstin so verzweifelt dagegen?“

„Nu, Sie kennen doch die Voreingenommenheit der hohen Frau gegen unsre Wissenschaft — rein pathologisch zu werten natürlich; wie soll man noch auf ihre Meinung geben über Medizin, wo sie doch ganz degeneriert ist durch die Totalexstirpation? Hätt’ sie sich wenigstens den Eierstock von einer Ratte einsetzen lassen, könnt man noch reden — aber so! Sehen Sie mich an; reg ich mich auf bei ihren Gehässigkeiten? Konträr! — Objektiv bleib ich als Fachmann. Nu, die Heilung: sind da Details, an denen der Patient selbst sich manchmal ein bissele stößt. Die Fürstin, sie kennt sich aus, man kann ihr da nichts vormachen, wie sonst aus Humanität geschieht. Aber eine glänzende chirurgische Leistung — ich sag ihnen glänzend,“ er wuchs immer höher, ein ferner Schein fiel auch auf ihn, den schlichten Internisten.

„Sie sind Laie, also Ihnen populär gesagt: der Magen wird künstlich verengert und gewisse Nervengruppen in der Weise gereizt, daß künftig keinerlei Speise — zu deren Aufnahme der pathologische Hang drängt — mehr behalten wird, sondern unter dauerndem Ekelempfinden erbrochen; das ist das Entscheidende,“ fügte er triumphierend hinzu. „Der Patient ist somit dauernd geheilt und wird von nun an künstlich ernährt.“

„Falls er es nicht vorzieht, sich zu erschießen.“

„Gegen das Erschießen haben wir allerdings noch keine Operation — aber es handelte sich doch um Freßsucht — von der ist er geheilt.“

Verdruß mit den Laien. Gar nicht einlassen sollte man sich mit ihnen — außerhalb der Ordination.

Nun sollte zur Stunde des dinner, gleichzeitig mit dem Großfürsten, die Kapazität eintreffen — Untersuchung und Gutachten blieben für den nächsten Vormittag anberaumt. Die Fürstin war zum besten. In einer heitren Wut an Grenzen ins Hell-Bacchantische. Sprach auch wieder, zum erstenmal seit Tagen. Der schwarze Kaftan wurde vor aller Augen auf dem Balkon mit Benzin gereinigt, die karierten Schlapfen geklopft; Ithnan mußte sogar den Coiffeur des Hotels holen, mit dem sie lange verhandelte. Er verließ ihr Appartement, eine Perle an der Krawatte. In Kugelwellen ging Begeisterung vor dieser sonst so glättenden Personnage her: „In der Tat, eine wahrhaft vornehme, eine durchaus seigneurale Gönnerin;“ da wisse man, wem man diene und wofür. Er schien wie in Brillantine getaucht und ward nachmittags beim Rennen gesehen.

Lange vor Abend erschien — ganz gegen ihre Gewohnheit — Helena Karachan in der Hall. Querhin, bis ans andre Ende, stieß ihre Stimme lanzettscharf:

„Elcho, bringen Sie schnell Peribanu fort — der Gynäkologe kommt und findet sich hier ein, ‚interessierter Laie‘, der gern ihren Uterus genauer von innen besehen möchte — legt er sie direkt auf die Bar. Allerdings, jetzt vor dem dinner, mit leerem Magen, vielleicht geht es nicht einmal letal aus.“

Sie hatte französisch, somit allgemein verständlich, gesprochen; wie eine zweite Schicht im Saal stand die Luft plan in allen Lungen hoch.

Zum erstenmal verlor Sobelsohn an betulichem Gleichmut, versuchte fast, sie aus der Hall zu drängen. Beim ersten Schritt schon hatte ihn Ithnan am Genick, trug ihn mit spitzen Fingern hinaus bis in eine ferne Besenkammer mit hoher Lichtluke, sperrte von innen ab und schwang sich oben hinaus — den Schlüssel zwischen den Zähnen. Sobelsohn hörte ihn wie eine Echse von Gesims zu Gesims rascheln, dann, es war aus Stockhöhe, einen dumpfen Sprung in den Schnee. Drei Minuten später stand Ithnan mit gekreuzten Armen hinter seiner Herrin wie zuvor.

Sie saß nun neben Horus, Gargi hatte sich entfernt, während die übrigen Damen fluchtbereit, doch hingegebenen Ohres die beiden umflatterten.

„Was, Sie kennen unsren Simon nicht, unsern Geheimrat und seinen letzten Triumph? Durch alle illustrierten Zeitungen ging doch der Gelehrtenkopf mit dem Denkerbart. Daß die Wissenschaft souverän sein und bleiben müsse — — er hat es glorreich bewiesen. War da eine mechante Chose: durch die Stadt, deren Frauenklinik er leitet, reiste jüngst ein Prinz. Der wußte — es regnete grade — mit seinem Vormittag nichts Rechtes anzufangen. Kino — nischt, Museum — Quatsch. Aber dem Lysolonkel könnte telephoniert werden, man möchte gern wieder mal ’nen Damenbauch von innen sehen. Ça fait toujours plaisi-i-i-r. Leider war keiner parat. Der Gelehrte, geschmeichelt durch das wissenschaftliche Interesse des hohen Herrn, pumpt behende einer Frau den Magen aus und läßt sie, trotz ihres Sträubens, narkotisieren, in Erwartung irgendeines Botokudenkreuzes für Kunst und Wissenschaft oder sonst eines mittleren Hundssterns. Die Frau stirbt natürlich in der Narkose infolge des flüchtig und ungenügend ausgepumpten Magens. Man hat vor Laparotomien, wie sattsam bekannt, vierundzwanzig Stunden zu fasten.“

Horus war, sehr blaß, aufgefahren. „Sparen Sie mit ihren Emotionen, Elcho, jetzt kommen doch erst die Pointen, die Hintergründe, die weiteren Perspektiven.

„Weltfremde Angehörige der toten Frau verklagen die Kapazität, verklagen einen europäischen Arzt, dem doch das Doktorat schon Freibrief ist für — wie heißt es doch drüben beim Jus, wenn’s einer nicht gelernt hat? — Richtig: für vorsätzliche schwere Körperverletzung mit Todeserfolg.

„Also, das war aussichtslos von vornherein. Es sterben ja auch sonst Leute in der Narkose — sozusagen selbständig — und unmittelbare, eindeutig nachweisbare Ursache des letalen Ausgangs ist ja immer ‚nur‘ — Herzschwäche.

„Aber da war ein andrer Punkt, in dem Richter und Geschworene, verschüchtert in ihren wirren Hundeseelen, um Belehrung, Unterweisung durch ‚Sachverständige‘ winselten. Und jetzt steht der ganze Schleim der Clique auf aus den Kanälen: aus Akademien — Universitäten — Kliniken und deckt die kriechende, verbrecherische Krapüle. Inkorrekt? — Nicht daß sie wüßten, vom Standpunkt der Wissenschaft sei durchaus nichts dagegen einzuwenden, daß ‚interessierten Laien‘ die Anwesenheit bei einer Operation gestattet werde.

„Begreifen Sie, Elcho. Wenn also ein beliebiger Schweinkerl die Geschlechtsorgane einer bestimmten Dame, ohne ihr Wissen von innen und praktisch mit Spiegeln erleuchtet sehen will, genügt es bei diesem wunderschönen Brauch, sich als ‚interessierter Laie‘ zu gebärden.

„Statt nun die Kollegen des saubern Herrn, wenn sie als Zeugen solches für ärztliche Usance erklären, schleunigst zu einem Bankwechsel aufzufordern — hopp, hinüber zum Angeklagten — bricht die instinktfremde Herde von Richter und Geschworenen auf den zuständigen Körperteil zusammen: die Herren möchten doch nur entschuldigen, man wisse in Fachdingen eben nicht so Bescheid — kenne die Bräuche nicht genügend ... aber nach so lichtvollen Ausführungen ... kurz: Freispruch mit Speichelfluß. Die weltfremden Angehörigen aber fliegen wegen Verleumdung ins Loch. Im Triumph kehrt der Edeling als Leiter in seine Frauenklinik heim, wo hundert ihm geweihte Ehrenbäuche lorbeerumwunden seiner harren.“

„Fürstin, verhält sich das so — auch nur annähernd so?“

„Die Verhandlungsberichte — im Stenogramm — stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung, falls Sie den Zeitungsnotizen nicht trauen. —

„Das Frechste ist aber doch dieser Sachverständigenunfug mit Ausbeutung der Stumpfheitskonjunktur durch die Medizinmänner. War es je noch erhört, hatte ein Bock etwas ausgefressen, daß dann seine ‚Mitböcke‘ als Sachverständige einzusetzen seien über den im Garten angerichteten Schaden? Nein, über den werden wohl die Geschädigten gefälligst selbst bestimmen. Nur die allergrößten Kälber liefern sich dem Metzger selber.“

„Aber die Männer. — Sind denn europäische Männer so weit unter jedes Vieh gefallen, daß der adelige Schauder, sich schützend vor die Quelle des Lebens — für die Quelle des Lebens — zu stellen, ihre Herzen nicht mehr treibt? — Wie geborgen in der Männlichkeit, wie behütet ist die Frau bei uns. Wohl kommen erotisch sadistische Verbrechen vor — auch Gewinnsüchtige, wie überall; erwischt man aber das Schwein, so wird es in der Luft zerrissen. Den östlichen Menschen möchte ich sehen, der sich das, was Sie mir hier erzählt haben, diesen schlechtrassigen Zynismus von einer Fakultät als ‚korrekt‘, als ‚wissenschaftliche Usance‘ aufschwatzen ließe.“

Seit Marseille, seit ihm zum erstenmal das europäische Kotwesen durch das Auge an die Seele gespritzt war, hatte er nicht dies deprimierende Grauen mehr empfunden.

Die Fürstin grinste infernalisch: „Ja, das europäische Männchen. Für das sind solche Dinge schlichthin begähnenswerte Banalität. Gott, denkt es in seiner erotisch-ethischen Verstumpfung, ist’s eben wieder einmal beim Aufschlitzen schief gegangen, und trägts ansonsten mit der gleichen Standhaftigkeit, die es bei verzweifelten Entbindungen an den Tag zu legen pflegt — alles gesteigerte Feingefühl für den eigenen Schnupfen wahrend. Betrachtet sich eben hier ausschließlich als ‚interessierter Laie‘. In dieser Eigenschaft stellt es sich allerdings nicht ungern — wie sagten Sie doch — ‚vor die Quelle des Lebens‘. Aber einen ‚adeligen Schauder‘ dabei ...?“ sie lachte, daß ihr die Zähne zitterten.

Orgiasmus an Verachtung trieb ihr Worte aus, von abstoßender und doch wieder hinreißender Brutalität. Sie erinnerte ihn da irgendwie an Ganapati Sastriar und die Weltesche seiner machtvoll-breiten Unzüchtigkeit, wenn so der Geist: sein ‚guter Dschinn‘, über ihn kam — nur daß dieser ein Geist der Lust war, nicht der Empörung.

„Da gibt es nur Selbsthilfe der Frauen,“ die Fürstin jauchzte förmlich vor Hohn. „Die Gynäkologen boykottieren, bis jede Gepflogenheit, gegen die ‚nur‘ wissenschaftlich nichts einzuwenden wäre, fällt.

„Aus ist’s dann mit den Konsilien von drei Professoren und einem Stückchen Traubenzucker für die Analyse. Nota: 10000 Frs. — Mark — Kr. Im Abonnement 10% Rabatt. Nichts da. Schluß. Wir kehren zu den treuherzigeren Praktiken weiserer Völker zurück. Uns alle können sie ja dann doch nicht ins Zuchthaus sperren wegen lauteren Wettbewerbs.

„Denn darauf sah man in Sachverständigenkreisen von je und streng: der ‚unerlaubte Eingriff‘, der hatte auch unerlaubt zu bleiben. Sonst kamen ja Höchstpreise, behördlich kontrollierte Tarife, fatale Beschränkungen finanzieller Art. Da aber die Unterwerfung unter einen solch barbarischen Paragraphen alljährlich für viele Hunderttausende von Frauen den sozialen — ökonomischen — oder das Bitterste: erotischen Ruin bedeuten mußte, war es Juristen im idealen Zusammenfluß mit Medizinern stets ein Leichtes, ihn, als ‚dem sittlichen Empfinden des gesamten Volkes entsprechend‘, dauernd aufrecht zu erhalten — und freier Wucher treibt Früchte wie noch nie — ab.“

Mit Möwenschrei und gebreiteten „Sorties“ wandten sich die Frauen jetzt im Gleitflug zur Flucht; die jungen Mädchen aber waren schon längst nicht mehr zu halten gewesen, umdrängten Horus und die Fürstin, hätten sich, allem zum Trotz, am liebsten großäugig zu ihren Füßen gelagert — weit weg von der erquälten Naivität dieses zerdehnten Jahrzehnts.

Auf immer weg von einer Naivität, mit der sie hatten herumtasten müssen an dem abweisenden Gehaben der „Epouseure“ — immer wieder hingetrieben von säuerlichem Staunen — gesteigerter Mißbilligung ihrer Lieben im abgestandenen Heim. — Nur weg — gleichviel zu wem; nur es endlich anders haben, anders machen dürfen, als in dieser verwesenden, übergaren Mädchenstube neben dem krassen Elterngemach, an dem sie niedriger, unzarter sich werden fühlten von Jahr zu Jahr in abscheulichem Wissen. Hangend an Geräuschen. Ernüchtert ohne Rausch. Der Illusionen bar und bar der Klarheit.

Horus begriff. In diesen hemmungslosen Sekunden taten sich ihre Gesichter für ihn auf. Nicht geschlossene, strahlende Jungfräulichkeit, von Wildernis geheiligt, stand ihnen als freies Blau im Blick, vielmehr eine süßelose — hartabgedrängte strich in grünschwarzer Furche am Auge vorbei — bettete es in gar üble Kissen der Einsamkeit.

Ihm ward leid um sie — herzzersprengend leid, er fühlte: Welche fahrlässige Roheit einer Gesellschaft, ihren Jungfrauen demütigendes Herabsteigen in die sexuelle Arena aufzubürden, in deren nüchternem und weihelosen Dunst sie aus jedem Mann den möglichen Gatten sich erwittern müssen, in uneingestandenem, wie oft vergeblichem Versuch. Diese Schamlosigkeit — dies Crude bleibt jungen Wesen im Osten erspart.

Ja, das ist wohl der Sinn unseres obersten Gesetzes aller Vaterpflicht: zu sorgen, daß die Geschlechtsreife keines seiner Kinder unvermählt: hilflos finde und bedränge. Nichts darf gezeugt werden, dem nicht seinerseits das elementarste Recht der Kreatur: ebenbürtige Liebe, verbürgt ist, und zu rechter Zeit.

Und Glück! Soweit Glück überhaupt vorherzusehen in diesem rätselvollsten Chemismus, den erst das Letzte offenbart, hat es bei uns nicht, aller menschlichen Voraussicht nach, mehr Chance durchzubrechen: in zwei unlädierten jungen Wesen — parallel geboren — von hoch erotischer Kultur, ist nur die sinnliche Feinheit des Knabe-Liebhabers reich genug, erblich gepflegt genug, der kleinen Braut gerade das zu wecken, was sie sucht: ein junger Prinz im ganzen Reich der Liebe, befähigt, ihr die innere Heimat zu richten, wo sie will, denn alles ist ja sein.

Nur bei Rassen von ungepflegter Sinnlichkeit scheint für die Frau die Wahl so wichtig — der Irrtum eine Katastrophe.

„Freie Wahl.“ Seit Cavadini Genia durch das Lasso ihrer Rente geschlüpft, war diese Faselphrase öfter im Kreis um Miß Waanebeeker aufgetaucht, und die jungen Damen taten dabei fern und wunschlos unbekümmert.

Er überlegte. Wohl waren ihm noch wenig Orte bekannt, galt aber nicht dieser als Zentrum internationaler Geselligkeit? Und doch: die gleiche kleine „set“ wie früher in Paris, und sie schien sich von London, von Baden-Baden, von Kairo aus zu kennen; schwamm als winzige Blase von Klima zu Klima mit geschlossenem Oberflächenhäutchen. In der schmalen Spanne ihrer hohen Zeit — kaum zwanzig bis dreißig Männer kamen für diese Mädchen in Betracht. Von diesen zwanzig oder dreißig wollte die eine Hälfte offenbar überhaupt keine Ehen, die andere Hälfte schied aus pekuniären oder anderen — ihm noch viel rätselhafteren — Gründen aus.

Und das war die „große Welt“. Wie mochte es um individuelle Wahl erst in kleineren Orten — kleineren Verhältnissen bestellt sein.

Wenn Gargi solch lange Erniedrigung hätte leiden müssen, ehe sie seine Arme fand — wie eine Blasphemie wies er das schmutzige Bild ab. — Und gedachte des lieben Alters — ihm verschmolzen: des besonnten und bestirnten Märchens ihrer und seiner dreizehn Jahre, des nie zu Vergessenden.

Keine Kinderehe! — Ihm schauderte vor der Armut dieser Leute. Vor der Verarmung an Leben, an Glück, insonderheit an Frauenglück. Bedauernswerte Frauen, denen auch noch das Wunder jener wenigen Monde sinnlos verwelken muß, da es jedem Wesen, in bescheidenem Maße wenigstens, vergönnt ist — reizend zu sein. Wie viel ging hier unwiederbringlich — ungenossen — in Leere, zugrund: das Zarteste, Holdeste.

Oder verwechselten diese weißen Barbaren Eheschluß mit Ehevollzug. — Zuzutrauen war es ihnen schon. Kannten vielleicht überhaupt die Abstürze zwischen Sinnlichkeit, Erotik, Sexualität, Zeugung und die schwebenden Nervenbrücken über sie hin nur wenig oder roh. Anders konnte er sich die eisige Verlegenheit schon beim ersten Wort, das jene Sitte seiner Heimat streifte, nicht erklären. Und gar Sobelsohn. — In ein ganz leises Erinnern, mit Gargi halblaut getauscht, spie jüngst unaufgefordert sein infernalisches Grinsen. Gefragt, was er damit meine, ward er streng, und seine Stimme brodelte plötzlich im Schmalz der Würde:

„Die Wissenschaft brandmarkt das alles als der Rasse schädlich.“

Woher die Wissenschaft die Erfahrung habe, wenn es hier nie Sitte gewesen?

Das gebe einem der gesunde Sinn. —

Was sich der ‚gesunde Sinn‘ denn eigentlich vorstelle unter ‚dem allem‘?

Nun kam etwas heraus wie das Liebesleben eines geilen Pavians, nur mit weniger Sachkenntnis — zu widerlich für Worte. Massig entrüstetes Behagen, als ob da Gewicht reifer Mannheit auf ein Kind losgelassen würde, statt daß gleiches Reis: Weidengerte — Weidenrute, sich im Frühlingswind verzweigen.

Und so etwas maßte Urteil — maßte Richteramt sich an.

Nie mehr vor einem Europäer von feinen Dingen sagen.

Die Fürstin hatte damals einfach die Achseln gezuckt:

„Die Sobelsöhne haltens nicht für zuträglich. Sie leuchten der Rasse ja mit ihren Leibern voran. In deine Hände, o Herr ...“

Dann wollte er alles wieder auf die schlechte Kaste dieses promovierten Schimpansen geschoben wissen. Auch die Rhodias, die outcasts auf Ceylon, waren ja von den inneren Vorgängen der höheren Schichten getrennt.

Aber da gab es noch anderes. Woher die furchtbare Abhängigkeit der weißen Frauen: der Herrinnen der Erde, von Gynäkologen, also Männern, in ihrer eigensten Frage, ja der Frauenfrage überhaupt, selbst von Suahelinegerinnen längst gelöst?

Er gedachte Agai’s: der „Gewalt der Brandung“, und ihrer Stellung im Hause Elcho.

Es gab doch auch in Europa Erzieherinnen. Da war gleich dieses Frauenzimmer bei Beermanns. Wozu hielt man das? Doch nicht etwa nur zur „Schule der Geläufigkeit?“ Zu diesen scheußlichen Klavierübungen mit der Jüngsten, wie sie diesem Kinde und allem Lebenden in der Runde jede Lust am Klang zerhackten auf lange hinaus? Da, mit Ausnahme des Fräulein Erika Unbehagen, fast alle Erzieherinnen Französinnen waren, hatte er eben gemeint, diesen sei in Europa die Funktion der Suaheli anvertraut.

Und dann die Männer? Junge vermieden offenbar überhaupt, Ehen einzugehen. Aber die bereits Verheirateten. Warum nahmen die nicht das eine oder andere dieser armen Mädchen noch in ihren Harem? Mehrere Frauen hatten sie ja so schon, für elementare Beziehungen zwischen den Geschlechtern war ihm der Sinn untrüglich. Mochten die Frauen eines Mannes noch so kühl zueinander tun oder, wie die zweite Mrs. Beermann, gar in einem anderen Hotel wohnen.

Doch frug er nie. Hatte die Scheu des orientalisch erzogenen Mannes vor allem privaten Leben, vor allen Dingen der Innerlichkeit. Was sich ihm nicht — wie heute — optisch unwillkürlich bot, ließ er unbefragt an sich vorbeistreichen, sah auch wohl mit Absicht weg.

 

Eine Stille weckte ihn aus sich. Er fühlte seine übergeschlagenen Beine und eine Wange in der Hand. Die jungen Damen waren fort, und Helena Petrowna verschwand eben am Arm eines greisen Riesen aus der Hall. Hinter ihnen ging ein zweiter Herr in gut sitzendem Abendanzug und vielen Orden. Jetzt wandte er sich um. Der Riese war offenbar der Großfürst. Vom andern sah man nicht eben viel — auch jetzt en face. Scharfe Brillen über den Augen und von diesen niederrieselnd in dunkelblonden Wellchen ein überaus wohlgepflegter Denkerbart. Die Stirn schien einmal schlecht zusammengefaltet worden zu sein. Die Büge wie in der Mitte zerbrochen, und die zweite Hälfte setzte dann immer um ein Stückchen höher ein. Arme Fürstin.

Die Fürstin aber schien an diesem Abend gar nicht arm. Nein, ganz große Dame, Kaftan und karierten Schlapfen zum Trotz.

Man speiste ausnahmsweise zu dritt im Grillroom auf Helena Karachans Anordnung. Keine Glaswände dichteten die Herrschaften ab, und ihre Worte gingen, ohne von submissesten Grenzen gleich wieder in sie selbst reflektiert zu werden, rundum weg von ihnen, wie bei andern Leuten.

Zum ägrierten Staunen Eingeweihter verlief das dinner annähernd klaglos, mit Ausnahme eines passageren Zwischenspiels: man sprach von Musik. Zu Ehren des Großfürsten — eines Getreuen aus dem alten Bayreuther Kreis — verfiel Simon plötzlich in leicht gesteigerte Diktion:

„Mir und meinen Fachgenossen gilt Parsifal im wesentlichen als Symbol des heroischen Kampfes der Wissenschaft gegen die Lues, ja, wenn ich so sagen darf, handelt es sich bei dem Weihefestspiel ausschließlich um das Mysterium dieser Lustseuche, wie sie Amfortas sich unvorsichtigerweise, an verrufenem Ort, bei Tänzerinnen und Blumenmädchen geholt hat. Letztere gehen ja auch, wie sie selbst zugeben müssen, in kürzester Zeit an ihrem Beruf zugrunde: Im Herbst pflückt uns der Meister.

„Wenn nun auch die eigentlichen Symptome von Wagner — der eben doch nur Laie war — am Patienten nicht einwandfrei geschildert werden, immerhin, daß sich die Wunde absolut nicht schließen will, gibt zu denken. Natürlich,“ er lächelte nachsichtig, „sind laue Bäder da völlig zwecklos. Aber sehen Sie wiederum die treffliche Symbolik des Speeres: die Wunde heilt der Speer nur, der sie schlug — Serumtherapie. Parsifal muß von den Infizierten selbst das Heilmittel bringen, sozusagen musikalisch die Lymphe, wobei man den Speer als primitive Form der Spritze mag gelten lassen. Das Ganze ist natürlich nur als musikalisch-dichterische Vorahnung zu werten, die glorreiche Erfüllung der Vision war hier wie immer den Leuchten der exakten Forschung vorbehalten.“

„Noch eine musikalisch dichterische Vorahnung der glorreichen Erfüllung haben Sie vergessen, Geheimrat Simon,“ der Fürstin Ton war bezaubernd, „daß Amfortas noch während der Heilbehandlung den Geist aufgibt.“

„Durchlaucht belieben ungerecht zu scherzen. Störende Nebenerscheinungen, die der Laie zu überschätzen geneigt ist, sind zuweilen unvermeidlich.“

„Gewiß, gewiß, und da Sie uns so treffend, auch frei von der üblichen verschwommenen Mystik, die Serumbehandlung aus dem Geist der Musik erläutert haben, gestatten Sie mir, Ihnen zum Dank, die modernste Gynäkologie bis in ihre kleinasiatische Heimat an der Hand der Bibel nachzuweisen. Denn schon Evangelium Marci V, 25 steht geschrieben:

„Und da war ein Weib, das hatte den Blutfluß zwölf Jahre gehabt und viel erlitten von vielen Ärzten und hatte all ihr Geld darob verzehret und half sie nichts, sondern vielmehr ward es ärger mit ihr.“

Der Großfürst schmunzelte. Und es schmunzelte noch weit über die Tische hin und wieder zurück zu Simon. Da war es aber schon etwas in Gärung übergegangen. Und es gor:

„Wart, altes Beast. Hab ich dich erst unter dem Messer gehabt, sollst du mir für den Rest deiner Tage so schön jede halbe Stunde in dich hineinvomieren, daß dir keine Zeit bleibt, verdiente Männer mit deinen Niederträchtigkeiten anzuspeien.“

Und von nun an summste er devot ausschließlich um den Großfürsten herum.

Versöhnlich reichte sie ihm nach aufgehobener Tafel die Hand, und als er sich darüber neigte:

„Also darf ich Sie morgen pünktlich um elf Uhr zur Untersuchung erwarten; ich sehe Ihrem Urteil mit so viel Ungeduld als Vertrauen entgegen.“

Dann auf Ithnan hinter sich weisend: „Sie haben keinen Diener bei sich, darf ich Ihnen den meinen für morgen anbieten?“

Simon nahm dankend an. Es war ihm heute genant gewesen, etwas ungepflegt sogleich nach der Reise vor dem Großfürsten zu erscheinen, da dieser viel auf Äußeres gab, ja Leuten, deren Physiognomie ihm nicht paßte, einfach den Rücken zu drehen nicht ungewohnt war. Simon wollte Stirnbinde und Ohrenklappen auf alle Fälle heute Nacht anlegen.

 

Restlos durchlichtet wurden die Ereignisse dieses nächsten Vormittags nie.

Der Coiffeur beteuerte jedem, der es hören mochte, seine Unschuld.

Ein unseliges Mißverständnis — bedauerliches Versehen, wenn man so wolle. Für zehn Uhr sei er durch Ithnan zum Herrn Geheimrat bestellt gewesen, wie er verstanden habe, um diesen zu rasieren. Natürlich glatt, wie er es eben durch die vorwiegend amerikanische Klientel des Hauses nicht anders gewohnt sei. Die Zeit drängte sehr, und so erbot sich Ithnan — während er, der Coiffeur, unten beschäftigt sein würde — oben das etwas gelichtete Haar des Gelehrten mit Bayrum zu behandeln. Fürsorglich, daß nichts in die Augen rinne, habe Ithnan dem Herrn die obere Gesichtshälfte mit einem Tuch bedeckt. Nur so sei es zu erklären, daß diesem das tief bedauerliche Mißverständnis unten nicht rechtzeitig in seiner ganzen Tragweite augenfällig geworden sei.

An dieser Stelle griff meist der Zimmerkellner ein und pflag der weiteren Erzählung.

Gepoltert habe es drinnen und dann geschrien: „Freiheitsberaubung, Hilfe.“

Ein umgeworfener Stuhl, und auf ihn losgaloppiert sei plötzlich ein wehender Mensch mit einem halben Gesicht, habe aber bei seinem, des Kellners Anblick, sozusagen auf allen Vieren in der Luft kehrt gemacht, sei mit einem Tigersprung zurück ins Zimmer, um vor der zugeschmetterten Tür nur einen Fluch lotrecht stehen zu lassen.

„Alles herunter jetzt,“ war von innen als gebrüllter Befehl vernehmbar geworden. Mehrere Minuten Lautlosigkeit ... dann ein Wutschrei und Klirren, als ob der Toilettenspiegel zu Pulver zerkrache.

Hier, als Relais, legte sich das Fräulein aus dem Frisiersalon in die Sielen der Geschehnisse:

Aus Zimmer 560 hätte der Chef wie rasend angeklingelt — nach den Ersatzteilen gerufen — Transformationen — Bärten. Alles herauf.

Im ersten Schreck sei sie mit einem Gretchenzopf am blauen Band in der Faust angestürzt gekommen; außerdem habe man noch auf Lager gehabt: einen eisgrauen zweiteiligen „Knecht Rupprecht“ vom „Nikolo“ her und ein Reserveexemplar jenes Haarkranzes für den Marqueß of Kar and Kinstone zum letzten Kostümball, auf dem seine Erlaucht als „Krao, das Affenweibchen“ durch das Lied:

I like a wow-wow

very good a chow-chow

einerseits, andrerseits durch eine fulminante Buntheit allgemein entzückt hatte. Besagter Haarkranz war dazu bestimmt gewesen, sich mit Hilfe dünner Kautschukfäden über der örtlichen Buntheit zu schließen oder, nach Bedarf, als gesträubte Gloriole zu öffnen. Mancher Mühe und Probe hatte es dazu bedurft. Aber der Herr Geheimrat wäre ganz dagegen gewesen.

Indes sei es später und später geworden. Ein ums andre Mal hätte die Fürstin herübergeschickt, besorgt anfragen lassen, warum denn der Herr Geheimrat noch immer nicht zur Untersuchung käme; auch seine kaiserliche Hoheit warte mit Ungeduld des Resultats.

Kern und Wesen des Ganzen aber wußte natürlich wieder Archie Payne zu berichten, der auf dem frischgefällten Aas jedes Tratsches als erster: ein Weißkopfgeier, saß. Knapp vor der Abfahrt des Mittagszuges sei in der Richtung nach dem Bahnhof in einem Schlitten das bartlose Profil des Geheimrats Simon an ihm vorbeigejagt. Mancherlei wußte er über dieses Profil auszusagen, denn er selbst hatte einen recht gutgeschnittenen Kopf.

Wie jedes Erlebnis durch wiederholte Darstellung Neigung zeigt, erst steil zu einem Zenith der Stilisierung anzusteigen, dann aber teils durch Hypertrophie der Bilder, teils durch Verdrängung ins lustlos Unscharfe zu verquellen sich anschickt — so auch dieses. Der relativ reinsten Periode entstammte noch das Bild:

„Halb Hyäna-Schnauze, halb abgetropfte Kerze.“

Dem Großfürsten und der Fürstin meldete das hinterlassene Billett, eine dringende Depesche hätte den Herrn Geheimrat nach Deutschland berufen, es handle sich da um Tod und Leben, darum hätte er nicht zögern dürfen, im Interesse hoher Menschlichkeit, die er als edelstes Vorrecht seines Berufes stets zu betrachten gewohnt sei, den so ehrenvollen Auftrag seiner Kaiserlichen Hoheit vorläufig an zweite Stelle treten zu lassen. Indem er für die ihm erwiesene hohe Auszeichnung alleruntertänigst danke usw. usw.

 

Helena Karachan erachtete die ganze Episode als gar der Rede nicht wert. Gab sich, nach dem letzten Aufflackern ihrer Wut ins Hell-Bacchantische, nur mehr der Erfüllung ihres Schicksals hin. Mutig, scheußlich und wahr. Höheres Menschentum durfte ihr nicht mehr nahen. Sie wurde bös und stumm. Winkte Horus verzweifelt weg:

„Fort mit Ihnen, Sie machen mich wieder — denken, und Peribanu macht mich wieder — fühlen. Ich will nicht mehr.“

Wenige Tage danach reiste sie mit ihrer ganzen Suite grußlos ab. Noch vor Saisonschluß war es Archie zu melden vergönnt:

„Die alte Karachan ist in Nizza mitten in einem Evans-Gambit endgültig explodiert.“

 

„Mein Karma behüte mich davor, je in Europa als Schwester neben Schwester reinkarniert zu werden,“ dachte Horus. „Zur Bestie würde es mich machen, und die Arbeit von Jahrmillionen wäre glatt umsonst gewesen.“

Es waren natürlich wieder die Raeburn girls.

In Paris, wo Mrs. Raeburn mit ihren Töchtern zwar das gleiche Hotel bewohnte, doch einen andern Flur, war ihm gleichsam zwischen Tür und Angel lediglich aufgefallen, wie von diesen völlig gleichgekleideten Mädchen immer, je nach Schnitt und Farbe des jeweiligen Kostüms, die eine oder die andre übellaunig vor sich hinzumaulen und Tränen nahe schien. Die jeweils Unglückliche sah, wiewohl sonst nicht häßlich, auch an diesem Tag immer bis zur Karikatur unvorteilhaft aus.

Sie waren von entgegengesetztem Typ. Nicht nur an Größe und Gliederbau, auch an Haut und Incarnat. Hazel: bread and butter girl, frisch, plump, hochfarbig mit braunem Haar, Gwen: müde, käsig, hatte feine Hüften und elegante Beine. Was der einen stand, entstellte naturgemäß die andere, und stimmte es einmal halbwegs im Schnitt, so war es dann in den Farben umso desaströser. Hüte krönten die Katastrophenstimmung. Mrs. Raeburn aber schien, was immer geschah, von eiserner Zufriedenheit. Dies waren seine Pariser Eindrücke gewesen.

Seit hier im „Astoria“ die Raeburn girls ihr gemeinsames Zimmer neben seinem Appartement hatten, wußte er mehr von ihnen, als ihm nach zehnjähriger Ehe gut gewesen. Die zwangsläufige Vielliebchenschaft an Kleidern, Mänteln, Hüten, seit Jahrzehnten auch noch im gleichen Schlafzimmer gipfelnd, hatte eine Hemmungslosigkeit in der Erbitterung gezeitigt, die dem unfreiwilligen Nachbar, bei gesellschaftlicher Fremdheit, genante akustische Intimität aufzwang — jäh und voll Pein. Einen Erfolg ihres sonderbaren Familiensinnes jedoch konnte Mrs. Raeburn niemand abstreiten:

Die Schwestern haßten einander jetzt doch noch mehr als ihre Mutter. Sonst wäre es vielleicht anders gewesen. Aber diese pausenlose Gleichheit Tag und Nacht reizte die eine gegen die andre als unmittelbares Objekt zu sehr, als daß sie sich gefunden hätten gegen die wahre Urheberin.

Man hätte es bei Mrs. Raeburn beinah für Überlegung halten sollen, da es nicht Geiz sein konnte: dieses Doppelzimmer kostete ja durchaus nicht weniger als etwa zwei Kabinette. — Es war aber nur Dummheit.

Heute, am Tag des großen fox-trott match, war, was aus diesem Doppelzimmer drang, phonetisch von einer Qualität, daß er es vorzog, den Rest des Nachmittags — bis seine Nachbarinnen angekleidet sein würden — in der Hall zu verbringen.

Nach einer Weile schreckte ihn aus seinem easy-chair kleines pausenloses Wehen. Mrs. Raeburn jagte durch die Seiten ihres Romans, blätterte fieberhaft nach der Liebesnacht und der Leiche. Er wußte, wie aussichtslos das sei, weil Hazel diese Teile soeben oben laut las, beide Ellenbogen in halbe Zitronen aufgestützt. Als Sportdame litt sie an roten Armen, und wenn auch bestimmt worden war, daß heute die weißen Kleider mit den halblangen Ärmeln getragen werden sollten — zu Hazels Freude — es grellte doch durch das Gewebe hervor.

Nun schlenkerte Gwen mit feinen langen Beinen durch die Hall auf ihre Mutter zu. Bald wußte diese um Verbleib von Liebesnacht und Leiche. Mrs. Raeburn tat so empört, daß es Gwen ein Leichtes war, ihr doch noch die bananenfarbnen Ärmellosen für heute abend abzuschmeicheln.

Wie zur „Feier der Heraufkunft des Geistmenschen“, so gab man sich auch heute vor dem großen fox-trott match gegenseitig endlose Essereien. Elchos waren einer Einladung der Principessa Dango zu Früchten und Nachtisch gefolgt. Hier konnte Gargi beruhigt sein, denn der Gastgeberin selbst — ganz Hyänenprinzessin, mit scharfer Trennung von Tag- und Nachtdiät — durften lediglich rohe Gurkenscheiben auf Rubinglas und Eis serviert werden. Von diesen schnitt sie wieder Segmente rundum ab — aß also eigentlich nur die Differenz zwischen dem Kreis und der Ludolffschen Zahl, auf daß der chinesische Lack der langen Lippen nicht springe, die, querhin wie durch Taubenblut gezogen, den superben Totenkopf wagrecht orientierten.

Da leider keine Antiphone gereicht wurden — o weise Helena Petrowna, dachte Horus —, steigerte sich dieser Auftakt des Festes ins Unerträgliche. Zu Ehren Monseigneurs und her grace of D. hatten Payne und Quadrupedescu — letzterer schwamm seit der Geisterbeschwörung in Geld — eine berühmte Zigeunerkapelle von weither kommen lassen; dazu noch ein paar andre verdächtige Erscheinungen mit rotgetupften Schlipsen, Kastagnetten und Okarinen.

Der Zigeunerprimas stand hinter dem Ehrengast, winselte diesem, infernalisch falsch, eine Art getretner Katzenschwanzweis bis tief ins Ohr. Jede Blatternarbe an ihm grinste einzeln. Monseigneur lehnte aufatmend immer tiefer zurück — ganz in den Geigenbogen hinein — und genoß, wie man es ihn für solche Fälle gelehrt hatte.

„Erstaunlich,“ dachte Horus, „was der Organismus dieses Häufleins äußerlich Gewaschener innerlich an Dreck nicht nur verträgt, sondern direkt zu fordern scheint.“ Da traf den Primas das Auge seiner Bande:

„Du bist nicht mit diesen Idioten allein,“ schien es zu sagen, „wir verbitten uns das.“ Fürchtend, die Kapelle würde meutern, gab er nach.

Im großen Tanzsaal stand der Ball nun in seinem Zenith. Staunend sah Horus auf diese erotische Friktionsgymnastik. Nicht daß sie häßlich gewesen wäre, durchaus nicht. Es traf ihn nur etwas unvorbereitet, diese jungfräulich erhaltenen Damen der besten Welt plötzlich, wie auf Verabredung, mit ihren Körpern die Sprache südamerikanischer Prostitution mehr oder weniger begabt nachahmen zu sehen; als eine Art Esperanto des Berufs war sie natürlich auch in Asien bekannt. Etwa jener Wink mit dem Abdomen, wie er vor Hafenbordellen dem Zuhälter anzuzeigen pflegt, die Kundschaft sei abgefertigt. Über solchem Gebaren von der Taille abwärts standen nun oben, wie allein gelassen, hilflose Ladygesichter: gequält und unbeteiligt.

Dann wieder trieb der Gentleman-Zuhälter, ganz in sie gewühlt, das Fräulein mit langen glatten Stößen vor sich her durch den Saal, von einer Ecke in die andre, wo das Ganze jedesmal in einem verlotterten Bockssprung erlosch. Oder hinter sie schlüpfend, stieß er ihr von rückwärts das Knie unter den Schoß, warf sie ein wenig in die Luft, um die Wehrlose im Herabgleiten dann seinem Körper hart und zielstrebig entlangzuführen — immer wieder.

Was mochte das bedeuten? Offenbar erotisch zu verarmt, um einen neuen Eigentanz selbst zu schaffen, hatte man im Warenaustausch gegen gedrechselte Klavierbeine oder Biskuitgruppen oder Konfirmationsbecher außereuropäische Bordellwerte eingehandelt: Hafenware natürlich. Doch auch als solche an ihrem Ort gewiß voll Reiz, Berechtigung und Wahrheit; wertvoller als das Tauschobjekt auf jeden Fall. Doch was sollte man hier damit ... so wenig oder so viel, wie dort mit den Konfirmationsbechern.

Korrekt und ohne Tadel machte soeben Gloria Rawlinson, weiß und golden wie immer, nacheinander diese lebhaft verdauenden Bewegungen, wie sie ihr Machado Magalaes, der Tangomeister, zu hundert Frs. die Stunde, beigebracht. Nun und dann, am Ende dieser komischen Bewegungen, würde wohl heute Mr. Rawlinson noch in ihr Zimmer kommen. Warum man das eigentlich alles machte, wußte sie nicht recht — man machte es eben mit, wie ein Picknick über Verschütteten oder eine spiritistische Séance — the correct thing to do.

 

Unter Preisrichtern und Zuschauern stritt man indessen, was eigentlich die Principessa Dango heute anhabe. Es war von der Farbe Turnerscher Nebel, ganz erlesen, ganz pretiös, bestand aber aus keinerlei bisher irgendwie bekannten Kleidungsstücken. Sie selbst, ihre Haut blieb unsichtbar wie immer. Sonderbare lila und schwärzliche Flecke in seltener chinesischer Lacktechnik standen auf der mit Silberpuder überstreuten Herme. Ja, Herme. Was dann kam, nicht Kleid nicht Körper war es; am ehesten noch ein fließender, nach unten keilförmig sich verengender Gazeblock.

Man drängte um die Archäologen: ratbedürftig.

Dr. Hafis meinte schließlich versonnen:

„Gott straf mich, aber es ist doch eine Hose. Eine Hose, die bis zum Dekolleté hinaufreicht.“

Murren entstand. Wer rede denn vom „hinauf“. — Beim „hinunter“ beginne doch erst das Problem.

„Wissen Sie denn, was eine Hose ist?“ frug Horus.

„Nun, wissen Sie es?“ klang es zurück.

Er überlegte: „Mir scheint eine Hose ihrem Wesen nach aus drei Teilen zu bestehen. Zwei Röhren und einem Verbindungsstück. Dieses Verbindungsstück will offenbar hier fehlen, die beiden Röhren scheinen lediglich durch ein im Fadenkreuz schwebendes Feigenblatt aus Mondsteinen einander fragil anzuhangen. So fragil, daß es dort ganz ohne Reißnägel wohl nicht abgehen dürfte. Es sind also auch Märtyrermotive in die Toilette verarbeitet. Ein Drittel Kreuzigung etwa auf zwei Drittel Hose.“

„Was folgt daraus?“ gab Hafis ungerührt zurück.

„Daß es unanständig ist,“ entschieden die Damen, und enteilten mit diesem Urteil wie mit einer Köstlichkeit — rasch, ehe ein neuer fachlicher Gesichtspunkt Revision erzwänge. Sie irrten schwer. Unanstand fiel in ein so anderes Reich — vor der Princesse macabre verlor es jeden Sinn.

Sie tanzte wundervoll, in fast schmerzhaft geschlossener Vollendung. Nur mit Machado Magalaes, dem professional und hors concours. Sie tanzte weder um Gottes, noch um des Mannes, noch um des Tanzes willen. Nicht einmal mehr — narzißhaft — für sich selbst. Auch periphere Sehnsucht hatte sich ihr von den eigenen Gliedern gelöst, hinüber in das Gewand. Für dieses tanzte sie — entflammte sich an ihm; verzehrt von seinen ewigwechselnden Ansprüchen an Leib und Seele, wie von dem launenhaftesten Geliebten. Nach kläglichen Versuchen zur Untreue — zu ihm kehrte sie stets als ihrem vielseitigsten, raffiniertesten Gebieter zurück.

Biegsam, einsam und auserkoren, hatte diese grande passion „die Mode“ sie gemacht, sie herausgeeinzelt aus der faulen Herde, die gar nichts wollen konnte und voll Schrecken auf sie sah, wie etwa ganze Ballen dieser hopsenden College-Boys. Eine ratlosere junge Männlichkeit hatte Horus nie und nirgends noch gesehen; im Querstand aller Glieder suchte das mit eigentümlich taubem Holzgebein die Schlangenwindungen des großen Triebes in eigene Plumpeckigkeit zu übertragen. Erwarb auch wohl mit rotem Ohr, hier beim Tango, eine erste, verspätete Materialkenntnis an instinktlosen leeren Stengeln, die — längst mit Chemikalien und Säuren gegen das Leben abgedichtet — nur dem Schein nach menschlicher waren als die Principessa, weil sie, ungleich jener, der großartigen Konsequenz, der stilbildenden, ermangelten.

Quadrupedescu — du Perron — Cavadini: romanische Kenner, doch viel zu bequem, um wie Strondoli auf rare Abstürze der Principessa, herunter von ihren hohen Abwegen, zu warten, widmeten sich heute ausschließlich jungen Mädchen. Schlängelten sich in ihre Nerven, griffen in ihr Blut, rissen es an sich und hin, wo es ihnen beliebte — umspielten den Gattungsakt in immer engeren, gesteigerten Brunstbewegungen. Schließlich waren sie wohl selbst erregt in ihren Körpern, doch über diesen stand wie immer ein Boshaftes, ein Spöttisches auf den gar so selbstsicheren Gesichtern.

Die jungen Mädchen wanden sich im Tango wie Würmer an unsichtbarer Angelschnur, die von den Lorgnons der Mütter hing. Knapp vor dem Allerletzten schien diese Schnur immer mit einem Ruck anzuziehen, und die Begattung ging fehl.

Konnte das klaglos so weiter funktionieren? Immer schwerer und gejagter wurde die Luft; alles trieb einer Erlösung entgegen. Schon klebte Talkum-Puder von den Damendekolletés drüben als bläuliche Milch auf den Fräcken der Gentleman-Zuhälter, oder war mit den fettigen Wassern, die als Fixativ gedient, im Rücken breiig geronnen. Oben auf den Wangen zerfiel trockenes Pulverrot, wurde eingesogen in schwammig erweiterte Poren. Ganz drüber aber knickte schief und hilflos etwas, das nicht mehr Wellblech schien und noch nicht wieder Haar geworden. Etwas, das zu leben verlernt hatte — verlernt, in Kraftlinien liebliche und geheimnisvolle Gesetze eigenen Falles zu bilden. Und die Toiletten: schon in der Ruhelage an den Grenzen des Grotesken, weil anorganisch verbunden, hingen sie jetzt als verschobene Körperteile in ganz hoffnungslos untalentierter Weise um die glücklosen Frauen. — Dieser ganze, Milliarden verschlingende europäische Modebau, in dem sich nicht sitzen, liegen, gehen und leben ließ, dessen einziges, offen verkündetes Ziel sexueller Anreiz sein sollte: bei der ersten sinnlichen Welle, statt nun in seinem wahren Element, die Trägerin zu entfalten, desavouierte er sie — ließ sie lächerlich und entstellt im Stich. Denn nicht stammte er aus liebenden Sinnen, aus lebendigen Menschen — nein, Aktiengesellschaften hatten ihn zusammenkreiert — hadernd und amorph als Kontraimitation seiner vorletzten Erscheinungsform.

Da sagte Gargi auf einmal ganz leise, ganz sanft, ganz unerbittlich:

„Gestatte, daß ich mich entferne. Ich darf der Vermischung von outcasts nicht anwohnen.“

Das Weihelose dieser eisigen Affenhausgesten — der Mangel an Achtung vor dem Orgiasmus — das Zynische in den Mannsgesichtern stieß sie bis zum Ekel ab, sie, die unbedenklich im Haus der Elchos nackt durch die Farben getanzt — sie, grauenhaftester Verwöhntheit demütig und kühn gewachsen.

„Meine weise Gazelle hat recht,“ dachte ihr Gefährte. Es muß doch wohl wie bei den outcasts: den Rhodias im Felsentempel, so auch hier bei diesen zu einer Art Orgie der Shivatänze führen. —

Doch nichts dergleichen geschah. Die Scharen der Tänzer begannen sich sogar merklich zu lichten, während der Damen nicht weniger wurden. Immer mehr Männer verschwanden spurlos auf geheimnisvolle Weise, herausgesogen aus den Armen ihrer Partnerinnen. Öfter fiel aus einem vorbeieilenden Trüppchen mit etwas speichelnden Lippen das Wort „Sguerdo suleijl“.

„Kommen Sie mit, Elcho,“ sagte Archie. „Gar nicht weit. Gut eingeführter Betrieb. Filiale des Pariser Hauses,“ er nannte die Firma. „Diese Woche frischer Import.“

„Danke,“ sagte Horus, „ich kenne das Stammhaus. Die Versuchungen sind gering. Es ist einer der wenigen Orte, wo man leicht in Ehren ergrauen kann. Dazu sind wir doch etwas zu verwöhnt — danke.“

So also, mit Relais wurde das gemacht.

„Frisch gepudert werden sie jetzt dort wenigstens sein,“ sagte Cavadini mit bezeichnender Handbewegung ringsum. Er blinzelte du Perron zu. Der aber — Margot, die Glückliche, Glühende zwischen den Schenkeln — verneinte. Sie waren das siegende Paar im fox-trott. Erst mußte er mit ihr zur Preisverteilung, dann sollte der Triumph noch mit ein paar cock-tails begossen werden.

Vor der Bar staute sich indessen eine freudig erregte Menge und verfolgte die Vorgänge in dem kleinen Raum. Würde man — würde man wirklich zwei ganz große Damen raufen sehen? Her grace of D. und donna Maria de la concepción Jimenez de Monserrat y Garcia waren, jede aus einem Separée kommend, an diesem Abend erst hier in der Bar zusammengetroffen und hatten mit Bestürzung, dann wachsender Empörung bemerkt, daß sie beide die gleiche Creation von Lucile trugen.

„Sie müssen meine Vendeuse bestochen haben,“ rief her grace außer sich, „ich hatte das alleinige Recht darauf.“

„Dann haben Sie eben die Vendeuse vorher bestochen, es andern zu verheimlichen,“ höhnte Donna Maria.

„Das Haus verkauft eben seine Modelle jedem gern, der sie bar zahlt.“

Her grace pflegte lange schuldig zu bleiben.

„Wechseln Sie das Kleid sofort — die Idee ist mein Eigentum,“ kreischte her grace.

Donna Maria lachte bloß.

Plötzlich sprang alles mit einem Schrei zurück. Hoch sprühte es auf, wie ein Geysir. Her grace hatte den Hahn einer vollen Syphonflasche gespannt und ihren Inhalt in Donna Marias Dekolleté gespritzt — senkrecht durch, daß es in den silbernen Abendschuhen nur so plätscherte.

Wütend wie eine nasse Henne stürzte die Spanierin hinaus. Kam nach zehn Minuten zurück, in einer zweiten trockenen — her grace erstarrte zu einem Block Wut — der vorigen ganz gleichen Toilette. Her grace gab sich besiegt. — Vielleicht hatte die Gegnerin noch ein halbes Dutzend in ihren Koffern, da konnte man die ganze Bar vergeblich verspritzen.

Von neun Uhr abends bis drei Uhr früh war der Kaufherr aus Braila mäuschenstill in einer Ecke gesessen. Hatte kein Auge von den Tanzenden gelassen. Jetzt erhob er sich seufzend, schritt zum Foyer, sah hinaus und murmelte resigniert:

„Glatteis. Aber was will me machen.“

Ja, da ließ sich eben nichts machen. Es war ein zu exklusives Hotel; Frauen, in der Lage, ausschließlich von ihrem Liebreiz zu leben, wurden hier nicht geduldet.

 

Längst lagen die Säle leer: eingefressene Löcher, schwarz im Hotelleib. All ihre Lichtchen, die erst wie in eine Versenkung gesprungen schienen und dann irgendwie fortgelaufen, gleichsam durch schwarze Adern, durch innere Stollen, um auf einmal, jedes einzeln, in einer Zimmerzelle einer Einsamkeit gute Nacht zu leuchten — auch sie waren größtenteils erloschen.

Das Dunkel aber war falsch und schwieg ungern.

Durch Türen, Korridore entlang strich eine manische Ruhelosigkeit wie von eingesperrten Katzen.

Knisterndes Fluidum gelöster Haare, durch die gereizte Finger wie Nervenkämme fahren. Vages und Erbittertes aus ratlosen jungen Körpern stand in Herzhöhe durch das ganze Haus.

Aus dem Zimmer der Raeburn girls war erst greller Hader zu Horus herübergeschrillt. Die Ursache gar der Rede nicht wert: ein verwechseltes Stück Seife, dann ein Disput, wer morgen den Toilettetisch zuerst benützen dürfe. Hazels Stimme:

„Ich will nicht immer deine ausgegangenen Haare in meinem Coldcream finden.“

„Und ich nicht deinen ekelhaften Puder auf meinen Bürsten! Nützt ja doch nichts — schau nur, wie deine Nase wieder glänzt.“

Schließlich waren beide in hysterisches Weinen ausgebrochen. Hazel schluchzte aus den Kissen:

„Ist es jetzt nicht ganz — ganz egal, daß du heute mommo die Ärmellosen abgeschwindelt hast?“

„Satt hab ich’s — ich gehe zum Kino.“

„Wo man deinen Sprachfehler nicht merkt — na ja hübsche Beine hast du ja. Die in ‚Sguerdo suleijl‘ haben gewiß nicht so hübsche, man soll sie sich dort immer rasieren — vorher.“

Nun wiesen die Stimmen aneinander auf dies und das hin; wurden heißer, gieriger daran — kaum liebevoller. Der Haß blieb in ihnen, nur kicherte er jetzt und kam ganz nah, erlöste sich in Not und Verachtung.

„Hatte es nicht geklopft? Da, noch einmal!“

„Wer ist es,“ zischte Gwen — „ein Mann?“

„Mach auf!“

„Ja — auf!“

Die Tür ächzte leise in den Angeln.

„Ich bin’s,“ sagte Linda Bordones mühsames Stimmchen.

„Ich sah Licht bei Ihnen, o, bitte, können wir nicht noch ein wenig plaudern und ... und,“ sie zögerte — „zusammenbleiben?“

Linda stand da in voller Balltoilette. Die ganze Nacht hatte Cavadini fast ausschließlich sich um sie gewunden, in ihren Nacken geatmet, dann aber, kurz ehe er mit den andern nach ‚Sguerdo suleijl‘ ging, sich jäh, wie durch einen Schnitt, aus der Verschmelzung mit ihr gelöst, und ziemlich kühl angedeutet, er führe auf einige Zeit nach Paris, um den Damen Waanebeeker bei der Ordnung ihrer Verlassenschaftsangelegenheiten an die Hand zu gehen. Sie möge ihn nicht allzubald zurückerwarten und indessen lieber mit dem Onkel nach Bologna heimkehren. Eine Szene im Ballsaal, davor hatte ihr gegraut. Ein Handkuß, perfid und lang, dann war er, höchst angeregt, verschwunden.

Seitdem fürchtete sie sich derart vor dem Alleinsein, daß sie durch das Hotel gewandert war, bis zu diesen fremden englischen Mädchen. Hatte erst an Winifred, ihre Zimmernachbarin, gedacht. Aber das kannte man. Nach Tangonächten klang sofort stumpfer Schlafatem durch Winifreds Tür, eine Flasche Kognak, heimlich, von ihrer Mutter bridge-fond angeschafft, half ihr zu dieser sicheren Ruhe.

Hazel und Gwen waren unterdessen zu einem Doppelblock Wohlanständigkeit erfroren.

Oh I beg your pardon,“ sie waren so erstaunt, so ins Mark erstaunt, daß es die arme kleine Linda nur trieb, ins Niegewesene zu zergehen. Ein paar vage Entschuldigungen und sie hastete zurück durch all diese Korridore — Röhren der Unrast, in die es aus den Komfortpferchen mündete: verzerrte Kälte oder übelberatende Not und gieriges Bellen des Stoffes — Sattheit aus einigen — aus keinem Glück.

Bei Hazel und Gwen löste sich der Haß der Übernähe nun in gemeinsame Entrüstung.

Nein, diese foreigners — man konnte eigentlich als Lady nicht mit ihnen verkehren — nicht proper waren sie — keine. Allein in der Nacht im Hotel herumlaufen. Fremde Damen aus dem besten Schlaf wecken. Sicher wollte sie wo anders hin und sich hier nur ein Alibi verschaffen. Nun, mommo würde Sorge tragen, daß man dieser verdächtigen Südländerin von nun an allgemein mit gebührender Zurückhaltung begegne. Sie entrüsteten sich bis zu Zärtlichkeiten, die erst das Frühlicht schied.

 

Lizzi Beermanns Zimmer stieß an das Gemach ihrer Eltern.

Sie preßte die Polster vor die Ohren. So — so war man also entstanden. So behäbig hingesudelt in eine träge Weite, gleich nach dem Disput über die letzte Hutrechnung, und vor dem ersten Gähnen verdrossener Abkehr.

Da lag man, gedemütigt in seiner ungetanen Jugend, die es so ganz anders wissen und wahrhaben wollte. Lag hilflos heiß auf planen, toten Laken; in Empörung gegen ein weiheloses Nebenan.

Aufspringen hätte man mögen, Türen aufreißen, drauflosschreien:

„Da — das ist der ‚Kinderschlaf‘ meiner dreiundzwanzig Jahre, an den eure Faulheit zu glauben vorgibt. Ja ihr — ihr, zu träg in euren salopp gewordenen Körpern, um auch nur ein Glied selber zu straffen — anregen laßt ihr euch von dem Blut in unsren obszönen Tänzen, die wir am Schnürchen machen dürfen. Dann fragt ihr: ‚Nun Kleine, gut unterhalten? So, jetzt aber brav ins Bett‘.“ — O, wie widerlich — welch ein verlogener Käfig, dieses ganze Leben. Aber ausbrechen? Nein, zu riskant. Lieber behalf man sich noch bis zum korrekten Ende.

Manchmal gelang es wohl und man vergaß ganze Teile von sich — sank dann wie an eine fremde Wärme — an sie hin. Da waren zum Beispiel die Arme: ferne Gliederwesen, die frei spielen konnten, wo sie wollten. Aber Kopf und Lippen blieben leider immer allein und zu weit weg von allem Wesentlichen. Wie gut es die Raubtiere, überhaupt die Tiere hatten: von nichts an sich waren sie getrennt; Kelch und Gegenkelch durch eine wunderbar bewegliche Wirbelschnur biegsam verbunden. Schon als Kind hatte man im Zoo immer davon träumen müssen, wenn „miß“ vor den Käfigen die Zahnformeln repetierte. Was sich da alles machen ließe.

Und die Träume gingen bald in Geschichten über — etwas beschämende Geschichten, an denen sich ein zweites, häßlicheres Ich mästete — zu vampirhaftem Leben erweckt von unbedenklicher Hand. Die arme junge Hand wußte nicht, daß sie das Glück entwurzelte in ihrer Not. Wie es dann, am Tag der Erfüllung, heimatlos sein würde am abgelenkten Quell.

Aber es waren in diesen gefährdenden Jahren eben immer wieder nur die Zahnformeln repetiert worden, und etwa: wann und unter wem Sizilien an das Haus Anjou gekommen — dann noch etwas Eckiges mit einer Hypotenuse, aber das hatte man nie recht verstanden.

Natürlich wußte man, das „andere“ sei wohl improper. Es war aber außerdem so viel „improper“, gar nicht zu leben wäre gewesen, hätte man sich überall daran gekehrt. Wie also Sinn von Unsinn am „improper“ scheiden, da die Erklärung, erhielt man sie, ja doch gelogen war und immer weithin sichtbar falsch.

 

„Oh wann — wann wieder.“

Und im langen saut-du-lit hing Margot abschiedtrunken mit gelösten Gliedern um du Perrons Hals.

Dieses rührende und entzückende Bild bot sich zwischen Tür und Angel von Mademoiselle Chenals Hofzimmerchen einem Trupp heimkehrender Herren, als sie in der Dämmerung auf Zehenspitzen jäh um einen Korridor lugten. Von der andern Seite hatte schon längst der Zimmerkellner verborgen geäugt, der, so lange nicht nach ihm geschellt wurde, die göttliche Allgegenwart „love“ zu schlagen pflegte.

Ob die Herren von dem Bilde entzückt gewesen, war schwer festzustellen — gerührt wohl kaum, denn es gab einen ungeheuren Skandal. Ganze angelsächsische Tribus erklärten abzuwandern mit ihrer Brut, mutete man ihnen die Gesellschaft einer solchen Person noch weiter zu. Man sehe ja so über manches hinweg, zum Beispiel — und nun wurden alle erdenklichen sexuellen Querstände nach der Variationsrechnung durchgeprobt —, aber eine Tochter neben Töchtern. Das war zu viel. Die übrigen jungen Mädchen indes blühten an diesem Tage argloser wie je in den Klubsesseln herum: es war das reine Konzert-Blühen, sahen mit etwas umränderten Kinderaugen süß und leer um sich.

Gegen Mittag ließ die Direktion Madame Chenal mitteilen, man bedaure unendlich, aber durch ein fatales Versehen seien die Zimmer der Damen telegraphisch an neue Gäste vergeben worden, auch habe man leider gar nichts anderes für den Augenblick verfügbar, ob vielleicht an ein anderes Haus telephoniert werden solle? Auf alle Fälle sei der Gepäckschlitten um vier Uhr bereit.

Die darauffolgende Szene zwischen Margot und ihrer Tante schrie durchs Mark des Hauses. Madame Chenal erbrach wie rasend nach einander alle Opfer, die sie der Nichte von der Wiege an gebracht, und wie nun das mühsam gesparte Geld für die Lancierung zu dieser kostspieligen Saison hin sei, und alles Schmach und Ruin. Keine Heiratchance mehr. Und was ihre bedauernswerte Mutter nur sagen würde, und nach Rouen könne sie überhaupt nicht mehr zurück. Sie selbst ziehe jedenfalls ihre Hand von der Deklassierten und enterbe sie.

Dann eine Atempause der Hoffnung. Madame Chenal ließ Aquetil du Perron zu sich bitten und erklärte ihm, sie gehe wohl nicht fehl, wenn sie ihre Nichte, nach dem Vorgefallenen, als mit ihm verlobt betrachte.

Du Perron wurde ganz Gentleman und so korrekt, daß einem das Atmen verging. Er höre wohl nicht recht. Männer von seinen Grundsätzen und seiner gesellschaftlichen Stellung pflegten wohl nicht eine junge „Dame“, — er lächelte Gänsefüßchen — die sich nach einer Ballnacht gleich einem quasi Fremden an den Hals werfe, zur Mutter ihrer Kinder zu machen.

Und als Madame Chenal etwas von Vergewaltigung und gerichtlicher Klage anfing, schnitt er ihr kurz das Wort ab:

„Ganz nach Belieben, er habe ja Zeugen genug dafür, ob der Abschied nach Gewalt von seiner Seite ausgesehen — oder eher anders herum.“

Tiefverschleiert schlichen sich die beiden Frauen durch einen Seitenausgang des Hotels zu ihrem Schlitten, ignoriert von den Hotelgästen. Dafür bildete das gesamte Personal, dem keine Abreise noch je entgangen war, auf dieser ungewohnten trace Spalier. Aus allen Korridoren quollen button boys, sonst gewohnt, sich auf der Freitreppe pompös zu entfalten. Dieses Spießrutenlaufen, bei dem die Verurteilten noch jeden ihrer Quäler zu beschenken hatten aus der mageren Tasche — es war zu viel. Endlich beim letzten Lungerknaben angelangt, brach aus Margot — der Beschimpften, Verhöhnten, Getretenen — der erste Strahl Menschenwürde. Als dieser glücklose allerletzte Lungerknabe, schon beim Schlitten, nicht nur die Hand, sondern auch — und gar nicht wenig — die Zunge vorstreckte, klappte sie ihr zwei Frankstück in die Börse zurück und gab ihm eine schallende Ohrfeige.

Aber eigentlich war dieser Skandal von weniger nachhaltiger Wirkung gewesen, als man hätte meinen sollen, denn ein neues, tieferes Zittern schwoll durch das Haus. Wie stets zur Zeit der Äquinoktien, war, gleichsam über Nacht, die Hutbrunst ausgebrochen und die bewegten und beunruhigten Frauen sammelten sich zum Zug nach Paris.

Schon vor Wochen war es Horus aufgefallen, daß die Neuangekommenen merkwürdig anders gebaut zu sein schienen als die Winterfrauen, besonders die Partie zwischen Schulter und Ellenbogen strebte offenbar immer mehr dem Schenkel eines Schweines nachzueifern, und so wähnte, was noch Frauenarme besaß, sich allzusehr im Nachteil. Und die Zeichen mehrten sich. Letztarrivierte sahen schon so vollkommen verkehrt aus, daß man ganz verzagt wurde.

Die Principessa Dango — als Sturmvogel der rue de la Paix — war längst fort mit ihren Hutkoffern: eine Art Löwenkäfigen mit Saugnäpfen, letztere bestimmt Toques — Cloches — Canotiers: alles pneumatisch — nadellos an den Innenwänden festzuhalten.

Als Elchos ihr Kupee bestiegen hatten, fiel Horus ein Herr auf, in englischer Reisekappe, und an dem nagelneuen Überzieher Nähte, wie die Nieten eines Dampfkessels. Wo hatte er den Mann schon gesehen? Eben schob er jene kostspielig aussehende Französin in einen Waggon erster Klasse, hinter der drein der Zimmerkellner am ersten Abend blitzschnell eine Geste von geradezu infernalischer Gemeinheit gemacht.

Wo war der Dame sonstiger Gatte — oder Begleiter? Glich nicht der Mann in der englischen Reisekappe auffallend besagtem Zimmerkellner? Wen-Kiün, Gargis Dienerin wußte Bescheid. Sie haßte den Zimmerkellner.

Ja, dieser „große Kerl Gauner“ hatte beim Rennen gewonnen und der Master der Dame hatte verloren. Und so war der Master ohne die Dame abgereist, und ohne die Rechnung zu bezahlen. Und so hatte der Zimmerkellner die Rechnung beglichen und die Dame für die Begleichung der Rechnung behalten.

„Warum auch nicht,“ sagte Horus zu Gargi, „hier, wo es keine Kasten gibt: sondern nur einen Pöbel mit verschieden viel Geld. Schließlich in einem easy-chair lümmeln, das bißchen Eßmanieren, die paar Redensarten! Leicht ist es da, Herrenbräuche erfüllen; gälte es, einer östlichen Teezeremonie gewachsen sein oder den Begrüßungsformalitäten zweier chinesischer Kaufleute, das wäre etwas anderes, das müßte gelernt werden. Aber europäischen Gentleman spielen — welchen Könnens bedürfte es da.“

Er lächelte Wen-Kiün zu in heiterer Erinnerung. Dieser Zimmerkellner war der Chinesin Privatfeind. Einmal standen um den ganzen „Astoria“-Block jene eigentümlichen Schnatterlaute, wie sie Chinesen in höchster Aufregung eigen:

„Du verkehrt gezeugtes Schildkrötenei, die Hund is eine Gentleman, nur noch nicht fertig. — Du fertig und nie Gentleman.“

Der Zimmerkellner hatte auf zwei Hunde, die sich im Sonnenschein zu paaren versuchten, wie das hier so Brauch, unter Zoten und Gelächter losgeschlagen.

Von ihrem Master scharf zurechtgewiesen wegen solch unziemlichen Fluches, hatte sie mit der Unbeirrbarkeit eines Kindes, das noch keine Kompromisse anerkennt, gesagt, demütig, und doch wieder mütterlich ihm überlegen an uralter Würde:

„Wir tüchtig im Unten Sein ... diese aber nirgends tüchtig.“

 

Die Gondel der Principessa Dango floß auf den ponte della paglia zu.

Silberbrokat schleifte breit im Kanalschlamm hinterdrein. Faulende Tomaten, ein paar Kohlblätter, zogen auf seinen harten Metallfäden mit. Zwei hypnotisierte Barsois, mit Silberpuder bestreut, flankierten steilen Profils die Principessa, schnitten, ihren unbegreiflichen Hut zwischen sich, wahnsinnige Dreifalt ins Blaue.

Jetzt stieg sie langsam zwischen ihren lebendigen Wappentieren hindurch, gegen den Dogenpalast an. Hinter dem Eckpfeiler mit dem betrunkenen Noah lauerte es ihr entgegen, duckte sich, stürzte vor: Strondoli. Eine ewige Sekunde wies der klotzige Browningfinger krachend auf die Niederstürzende.

„Abdrehen!“ schrie Archie Payne dem Mann am Apparat zu, und, Fäuste in Hosentaschen, zur Principessa:

Oh! drat it ... was fällt denn Ihnen ein!“ Keine Spur Snob-Devotion lag mehr in seiner Stimme.

Mitten im Todeskampf hatte sie plötzlich das Lorgnon erhoben, ließ ihr Sterben liegen, ging an Regisseur und Filmstab vorbei in eine Gruppe Zuschauer hinein:

Beautiful boy.

Und sie hielt Horus Elcho den Mund des Handschuhs zum Kusse hin.

Impossible.

Schon führte Strondoli sie höflich-fest zurück. Aus Archies Stimme aber pfiff nackt die Impresariopeitsche; die „princesse macabre“ wurde Schulden halber von ihm verfilmt: ihr Palazzo — ihr grandioser Totenkopf mit Toque — ihre Windhunde — ihr Foxtrott, alles war diesem Raubepheben von Übersee hörig geworden, der in Schmieröl und Champagner spekulierte, einen Rennstall, eine Bar in Verbindung mit einem Kunstsalon betrieb, ein Filmunternehmen gegründet und nun unter der Hand ihre Wechsel aufgekauft hatte.

Also schnell den Todeskampf noch einmal; die anschließende Szene, bei der Lord Byron in Schwimmhosen aus zehn Meter Höhe per Kopf in den Kanal zu springen hatte, drängte sehr, denn schon zog Ebbe die Wasser von der Stadt zurück, wie wenn Speichel sich zurückzieht von einem entfleischten gelben Gebiß, die geschwärzten Ringe der falschen Kronen auf verfaulenden Wurzeln bloßlegt. Der schöne Archangelo, im Bademantel als Lord Byron, erklärte, den Sprung heute kaum noch riskieren zu können. Indessen umfeilschten er und Genia Waanebeeker bei dem Antiquitätenhändler an der Ecke des San Sovino einen römischen Sarkophag, den wollte er als Toilettetisch zum Rasieren und für seine englischen Reiseflacons im neuen Heim verwenden. Halb St. M. wirkte hier „im siebenfachen Mord an der Seufzerbrücke“ mit. Seine Darsteller — es war Archies Clou für „drüben“ — sollten Mitglieder der „Gesellschaft“ sein. Taten auch jetzt untereinander sportlich-heiter, amateurisch-unbeschwert, nach der eiskalten Wut, mit der jeder um den Vertrag gerungen, Vorschüsse heraus, Vorteile hineingekniffen und seine Fußangeln heimlich durchgenagt hatte.

Archie bereute. Diese Amateurverdiener, von kaufmännischen Usancen völlig unbeschwert, hielten im Geschäftsverkehr einfach alles für erlaubt, waren stumpf für Grade innerhalb merkantiler Unanständigkeit und von uferloser Beutelust.

Zuweilen gab es ja Spaß, wenn etwa Gwen Raeburn ihm mit ihren hübschen Beinen beinah die Schlafzimmertür einrannte, zu allem bereit, damit er sie nur ja nicht mit Hazel gleich einkleide zu einem venezianischen Pagenpaar.

Die Erschießung der Principessa Dango aber hätte sich auch besser in St. Peter gemacht, während der Papst die Ostermesse zelebrierte. Wie bei dem Schuß die Kardinäle gehüpft wären; first rate, so eine echte Panik. Wenn man Glück hatte, gab’s wirkliche Tote. Ein Fehler, daß er sich nicht direkt mit dem heiligen Vater ins Einvernehmen gesetzt. Lord Byron in Schwimmhosen konnte ebensogut von der Engelsbrücke springen.

Hätte ihm nur dieser goldäugige Sklavenhändler seine Reisefrau für die Film-G. m. b. H. verkauft. Er hatte Gargi einmal in den „fließenden Wassern von Bengalen“ überrascht, wie sie mit ihren Armen spielte, die — zwei Schlangen — aus ihr erwacht, fortglitten, Milch aus Schalen tranken, dann aufgereckt, rosige Opale auf den schmalen Köpfen, ihren bösen Schwebetanz begannen um eine zitternde junge Antilope, die ein zarter Frauenschenkel war. Mit eins hatten all diese Zauberwesen sich dann aufgerollt und dahin wie Wolke am Boden, die langsam steigt, sich loslöst aufwärts in eine andre Dimension. Was Opale in Schlangenköpfen gewesen, stand nun hoch, zwischen Schleiernebeln, zeitlos: ein Sternbild über einer weiblichen Säule, gleich Rauch.

Tausend Prozent.

Auf was wartete dieser asiatische Wucherer denn noch? Dort schritt er über die Piazetta — schien immer über alles hier wegzuschreiten und trat es doch nicht nieder dabei. Diese Höflichkeit gegen seine Sklavenprinzessin! Kein Zweifel, entweder sie hatte das Geld oder wußte eine ganz üble Schweinerei von ihm. Jetzt nahmen sie einander gar bei den Fingerspitzen wie Kinder im Märchen. Perverse Sache.

 

Ja, sie gingen Hand in Hand, wie einst zur Schillerfalterjagd, auf hohen, schlanken Beinen in die Goldhöhlen von San Marco hinein. Gargi um Weniges voraus. Hier in der Insel von Byzanz, schwimmend auf gestohlenen Säulen des Ostens, blühten wieder die unerhörten Farben ihres Sonnenblutes auf, glänzend wie Blätter; über Silber ein grünlicher Samt. Als Ampel, auf magischer Spur, leitete sie den Mann an hingekreuzigten Tieren, toten Engeln und Goldadern entlang, in lieblichem Triumph einem noch Dunklen zu — vor Freude ernst. In der Apsis, hinter der malachitnen Schlachtbank für das Meßopfer, hob sie den schweren Ledervorhang — ließ ihn schauen:

In den Raum der pala d’oro.

Durch seine enge Nacht hing leuchtend die morgenländische Altarplatte aus Gold und aus Lazur. Gebuckelte Juwelenbeeren trieben blasig aus ihr und um die erzenen Engel ihres Grundes. Auf diese Engel fiel von oben Honigschein einer Kerze hoch aus der Hand eines neuen Wesens. Einer Frau?

Es stand wie wehender Springbrunnen — wie Lebenskraft fabelhaft aufgeschossen zu einem einzigen verwegenen Strahl. In eine Natürlichkeit kühneren Ranges hinauffließend — schwerelos.

Der Elf von einem großen Stern.

Die blanke Nadel am Faden einer feinen Spur.

An dem Zittern der Wasser seines Lebens hatte er sie schon hinter dem Ledervorhang erkannt, jetzt von rückwärts an den Sprunggelenken. Kühn und scheu hielt sie die Kerze einem dunkelhäutigen, eher kleinen Mann — wie beglückt, ihm so Schönes weisen zu können, und glich an Haltung ganz jenen Cherubim aus Niello und Opal, die ihr wie fernes Geschwister entgegen zu wandeln schienen aus dem goldmilden Grund. Des dunkelhäutigen Mannes Blicke schwollen wie Beeren. Aufsaugend gingen sie von jenen zu ihr, füllten sich mit dem Gewonnenen. Dann glitzernd, schmeichelnd, leise:

„Mein pala d’oro-Wesen.“

Dann noch leiser, wie eine Inkantation, ein feuriges Gewebe, jedes Wort kennerisch setzend und genießend:

„Mein nobles, langes, schlankes, schlangenanmutiges pala d’oro-Wesen.“

Horus ließ den Ledervorhang fallen. Schied sich diskret von dem Stromkreis drinnen.

„Falsch,“ fühlte er.

„Nicht pala d’oro-Wesen. Denn noch niemals konnte sie da sein. Ihr Kanon erfließt aus einer kühneren Ordnung der Materie, aus eignem eigensinnigem Gesetz. Erst seit der Planetengeist durch Schwebebrücken, durch zart ragenden Stahl zu uns spricht, ist sie als Körper auch nur möglich, die Weißeste der Weißen, die schlichthin Neue: St. Elmsfeuer aus den Spitzen alles Bisherigen. Fern ragt sie auch über die Schönheit weg, die noch nicht bis zu ihr gelangt, sie noch nicht einzuholen vermocht.“

Und er blies wie reifen Löwenzahn das Wesen der Pallas und Nausikaa von seiner Seele. Ganz Geburtstagskind wieder. Und tat — als ein Wissender — jedes Wollen und jede Willkür von sich ab. Er würde sie nicht suchen; hatte zuviel Ehrfurcht vor dem großen Finden. Das sollte vom Rang jener Dinge sein, die hoch über Einsicht und Bestimmung des Einzelnen hinaus, einem geheimnisvollen Kräftespiel überantwortet zu bleiben haben, oder sie sind nichts. Nur den Vorhang berührte er noch einmal mit jeder Pore seines Körpers und war irgendwie getrost. Hatte ja die Fee Peribanu zur Lieblingsfrau, und eine Fee ist lauter Gabe und deshalb so überaus mächtig, weil frei von Furcht, daß man ihr etwas raube; wer aber könnte das, da sie ja selbst lauter Gabe ist?

 

Als Mittagssonnenstaub in den schmierigen kleinen Waggon auf der Strecke nach Padua hereinbrannte, kam von nebenan eine Stimme. Die Stimme. Erst wortlos leuchtend. Jünglinghafter Vogelton über einem dunkelerregten Grunde. Auf eine Frage hin zitterte sie zu Klarheit, setzte Worte wie Kristalle an; ward ein kleiner Bericht — Alltagsvorgänge nach einer Trennung — vielleicht in einer deutschen Stadt — Besuch eines „Zoo“. Die Stimme griff Tiere heraus, ründete Bilder mit jener neuen Kinderkraft am andern Ende des Wissens, wie sie Diana Elcho eigen gewesen. Er horchte all seine Adern entlang. Ganz verspielte Worte kamen getanzt auf seinem Blut, einten sich, flossen honigfarben dahin: ... „und es war sommerlich warm zur Stunde der Löwenfütterung — ganz sonnig — die lieben Großen draußen in ihrem dreigeteilten Raum. Die schöne, starke Löwin schmachtete hinüber zu dem jungen afrikanischen Löwen mit der etwas pauvren Hinterhand; aufrecht stand sie am Gitter, kratzte kläglich und ununterbrochen. Da kam er ganz nah, legte und preßte sich gegen die Drahtmaschen, so daß sie ihn wenigstens streicheln und ein bißchen durchlecken konnte — auch seine intimeren Teile — und hub ein gigantisches Geschnurre an, daß der Boden zitterte; prachtvolle Sehnsuchtslaute dazwischen, daß einem das Herz schlug! Wenn man sich dagegen so eine christliche Ehe vorstellt!

Das Publikum starrte verständnislos die seinem Instinkt so fremden Vorgänge an. Von Mitgift war auch nichts zu sehen, so schwoll der allgemeine Unwille: ‚Die grauslichen Bestien — die Falschen!‘

Und auch die rotznasige Brut echote schon zwischen Trenzen und Nägelkauen zur Wonne der Alten:

‚Die grauslichen Bestien — die Falschen‘.

Da ging ich.

Von rückwärts ins Raubtierhaus, wo auch Affen, Schildkröten und weiße Mäuse sind. Mit mir trat der Wärter ein. Kaum witterten ihn die drei Herrlichen draußen, kamen sie hereingestürzt. Der mittlere Löwe steht still im Tor, zwischen seinen Beinen den untergehenden Sonnenball, und die Mähne von rückwärts durchleuchtet, daß sie förmlich knistert vor Gold.

Da hab’ ich ihm alles abgebeten, auch das mit dem ‚Giletteapparat‘ zum Geburtstag. Jetzt weiß ich ja erst, was eine Mähne sein kann und wie sie gesehen gehört.

Ruhig hielt der Wärter seinen ganzen Arm in den Käfig. Da legte sich der Herr der Mähne genau so auf den Rücken, streckte die Beine zum Himmel und den Bauch unter die liebkosende Hand, wie unser kleines rosenpfotiges Kätzchen seinerzeit in Chamonix — gepriesen sei sein Andenken.

Und dann zwängte der Wärter seine Wange durchs Gitter und der Herr der Mähne leckte sie inbrünstig und schmiegte seine Wange daran ... und so blieben die zwei.“

„Und so blieben die zwei.“ Eine tiefsaugende Männerstimme fing die Worte, trank sie nachschmeckend, schwoll warm am Gewonnenen — schwieg dann. Durch die Stille ging jene Umschichtung der Luft, als würden nebenan lautlos Plätze getauscht, Lebendiges anders verteilt. Nun lag einen Augenblick die dunkelhäutige Wange der Ganz-Weißen an. Wie mit Seidenfäden eine gespannte Marionette, hing Horus am Drüben: wußte alles durch den gebogenen Plüsch der Lehne — durch Wand — und wieder Lehne strahlengrad hindurch.

In Padua riß der Schaffner einen Augenblick die Nebentür auf. Nun sah er als Bild, was jedes Glied ihm einzeln längst ins Aug gesagt: reiherschmal, ganz in silbergrau, saß sie langhin eingeritzt in ihre Ecke, daß Raum blieb für die quergestreckte, schlummernde Gestalt, deren Kopf in ihrem unfaßbar schmalen Schoß — schmaler wie er — gebettet war. Ganz große, fremde Dame, trotz scheinbarer Formlosigkeit einer Situation, der Hitze und Einsamkeit auch so das Befremdliche entzog, doch mehr noch die geschlossen scheue Ferne, mit der die Mondstrahlen ihrer Schenkel, die langen Hände in den grauen Schweden an diesem Männerkopf vorüberflossen, als wäre er Statue und Stein. Nur ihre Züge aus Eis und Honig waren unbehütet geblieben. Die einsamen Augen legten sich über ihn, weideten götterfrei auf dem dunkelhäutigen Greifengesicht, das sie betreuen durfte, voll rührend befiederter Erwartung eines namenlosen Glücks.

Geisterhaft unhaltbarer Duft nie wiederkehrender Einzigkeit war um diesen seligen Augenblick. Hellrunder Tropfen Gottes hing er aus allem grauenhaft Verfließenden herausgeschöpft und leuchtend da. Durch ihn: das Keusch-Einmalige seines wolkenlosen Glanzes hatte er: der Fremde, mehr Teil an dieser Fremden als durch die Liebe des zwillingsbrüderlich Geliebten eines ganzen Lebens.

Der großgewellte Greifenkopf in ihrem Schoß aber floß draußen in Schlaf an dem ewigen Augenblick vorbei — in sich versteint — war nicht mit in dem, was an ihm entstanden war.

Horus blieb auf dem porösen Bimsstein-Perron der kleinen Stadt zurück. Abends würde sein Weg wieder die Schleife nach Süden ziehen. Nordwärts an ihm vorbei fuhr der Wagen mit dem Elf von einem großen Stern.

In bitterem Bedauern ging die Fee Peribanu in Padua an den Giottos vorbei. Nur sie hatte gesehen, daß zwischen den langen, spiegelnden Lenden von edelster Enge ein Kind wuchs.

 

In Rom sagte der verblüffte Dr. Hafis, getroffen in seinem Europäerdünkel:

„Man muß sich eben historisch einstellen auf Werke der Kunst.“

„Einstellen,“ das hieß: sich immer ein bißchen wilder, oder schäbiger, oder ungerechter, oder einfältiger gebärden müssen, als man wirklich war.

Hieß: auf einer Seite ganz klein geduckt, sich auf der andern gleichzeitig einen Buckel tolerieren.

Hieß: irgendwie Barbarei — geleckten Kitsch — prahlendes Ohngefähr, wohlwollend übersehen zum Genuß.

Hieß: irgendwo besseres Wissen — klarere Einsicht — größeres Empfinden trüben; nicht Distanz, eine Froschperspektive gewinnen, um schätzen zu können, denn es gab hier nur partiellen Rausch.

Er fühlte: es ziemt mir nicht oder besser: es ziemt meiner grenzenlosen Ehrfurcht vor der Kunst nicht, daß ich mich limitieren müsse — in sie kriechen — statt mich zu recken in ihr Maß. Daß sie Stil werde durch das, was fehlt: durch irgend Irrsinn, Unreife, Fetischismus oder Leere. Nicht durch ungeheuren Runddruck der Vollendung, ihr nur eigner zarter oder machtvoller Verdichtung der Welt. Stil: lediglich Überlappen nach der einen oder Schrumpfen nach der andern Seite, und hätte doch Erschütterung des Betrachtenden aus seinem Maß heraus zu sein, auf daß er alle Kräfte überspannen müsse nach dem Unsäglichen hin, es ausblühend rings zu umfassen.

„Man muß immerhin bedenken ...“ Dr. Hafis machte die fade „tout comprendre“-Geste des vor Wisserei Verblindeten.

„Ich ‚bedenke‘ ja gerade, was Sie, Herr Doktor, mir in diesen Wochen an europäischer Kunstgeschichte zu lesen gaben, und darum sehe ich erst recht das Menschenfresserische dieser Renaissance-‚Pracht‘ ein: ihre optische Unreinlichkeit bei aller Reißbrettkälte, die billige Art, wie Übergänge, Fugen, Ecken als Probleme einfach ignoriert werden: diese ganze Kulissenreißerei an Sonnenuntergänge gelehnt; sehe ihre Palazzi ein, als das, was sie sind: Parvenuebuden für soldateske Raubbankiers à la Medici — optisch zu unerzogen, um sich ihre Künstler zu ziehen — ohne Sinn für Heimkultur, und sich in ihren Wohnstätten eben begnügend mit Menschenfresserprunk, weil sie ja nebenbei an einem Vormittag immer noch drei Kardinäle zu vergiften hatten und einen Kaiser zu betrügen.“

„Durch Versailles, die Möbellager aller Louis im Louvre ging ich jüngst noch fassungslos. Jetzt sehe ich auch den französischen Barock ein: Stil der auf ‚Mätresse‘ erzogenen Hausmeisterstöchter. Die Herrenkaste, durch Irrenbräuche, Raufhändel und Seuchen zu müd, um noch auf Wertungen zu halten: Noblesse — Gemeinheit, alles gleich. Ließ ihr Seigneurales überklatschen vom Luxusbegriff der proletarischen Bettweibchen aus den Kloaken, für die viel Überflüssiges haben — ‚vornehm‘ sein bedeutet.

Das sehe ich alles ein. Was ich aber nicht einsehe, ist, daß Privatdozenten daherkommen, Kunstkenner, Snobs und als ‚höfisch feine Blüte‘ bestaunen, was Paradigma dafür, wie sich eine europäische Straßendirne den Reichtum vorstellt. Eine europäische, wohlgemerkt, weil — und darunter leiden wir Asiaten hier am meisten — der Akzent gepflegter Armut fehlt: Armut als selbständige, formenschöpferische Qualität; so bleibt auch Reichtum in Europa immer nur eine glücklose Blase über Seelenschmutz.“

Und da geschah es, daß Gargi auf einmal ein ganz klein wenig zu lächeln begann und Horus überaus rot ward. Er hatte zum ersten Mal seit Jahren wieder „wir Asiaten“ gesagt, nicht mehr: „wir Europäer“.

Er lenkte ein:

„Meinen Sie bitte nicht, ich sei blind gegen die verzeichnete Anmut etwa der ‚dame à la Licorne‘, für den falschen Galoppsprung des Rappen auf Carpaccios Drachenkampf, auch sehe ich, wie etwas, sie nennen es Gotik, aus verworrenen Wurzeln seinen gigantischen Clownismus gegen den Geist des Steins durchtrotzt, denn warum sollte einer verworrenen Seele nicht auch gestattet sein, sich verworren auszudrücken? Sie hat ein Recht auf die Fehler ihrer Echtheit. Was aber der Renaissance abgeht, ist diese Inbrunst im Danebenhauen. Sie macht es mit dünnem Zirkel in Architektur, in Plastik mit kaltem Muskel — und in Malerei: nun, ich fürchte, in wenig Wochen schon so gut zu sehen, daß ich einen echten Raffael nicht mehr von seinem Öldruck werde unterscheiden können.

Wo eben in Europa die Verworrenheit endet, fängt schon der Gähnkrampf an. Kann sich die Seele hier denn immer nur als Wahn betätigen? Pausiert aber der Wahn, bleibt eine gewaltsame, unsolide und leere Freiheit irgendwo am Grund der Lenden, wo bisher gehetztes Irrsein schwoll.

Nie noch sah ich hier den Finger des Geschlechts frei auf die Seele weisen. Nie: Ethik von unten. Aus den Zellen der Generation geboren, somit Basis der ganzen lebendigen Pyramide. Immer Glassturz aus der Höhe über einer ewig rebellierenden Masse aus Blut und Gestank oder — Hoffart, Leere und Langeweile.

Als hätten stets nur begabte Krüppel — irgendwie zu lang Eingesperrte und doch wieder zu früh Freigelassene — alles Wichtige Europas, so auch die Kunst in Händen gehabt.“

Gargi meinte:

„Doch auch bei uns, auch im Osten sind Tempel, Statuen, Bilder barbarisch, unwert unsres Lebens.“

„Eures Lebens, ja — glücklicherweise. Denn ihr braucht nicht Kunst zu eurer Rechtfertigung. Braucht nichts aus euch hinauszustellen als steinerne, hölzerne, ölige Sehnsuchtsprojektion. Übersteigert euch selbst zum Kunstwerk, in euren ganz beseelten Körpern. Wenn ihr einander einen Mango reicht, ist darin alles, was hier als Trümmer durch alle Galerien liegt. In eurem Ruhen, Schreiten, Grüßen, Danken erzeugt sich Unerschöpfliches: lebt sich Erlösung aus, denn in ihm ward das Geheimnis des Zugleichbestehens von Freiheit und Notwendigkeit lebendig offenbar. Indiens Kunst ist für seine untersten Schichten da, die Höchsten bedürfen ihrer nicht mehr.“

Er sah Gargi wieder vor sich im Museum am Kapitol. Wie sie, belustigt über gellend falsche Ergänzungen an Bildwerken, das leuchtend Wahre aus ihrem Leib herausgeschöpft; den marmornen Moment der Statuen aufgerollt hatte vor und zurück in ein Band Bewegtheit.

Und Krumbichler, der große Krumbichler vom archäologischen Institut, war ihr sodann vorausgehumpelt zum kapitolinischen Wagenlenker. Hängend in seinen Beinen, wie in unsichtbaren Krücken, wies die Autorität auf den kühnen steinernen Spielfuß der Figur.

„Ei, meine Dame, wie käme aber diese Haltung zustande? Haben die Kollegen und ich sie doch fürwahr, als dem Experiment nicht stichhaltig, des öfteren erprobt. Überzeugen Sie sich selbst,“ er schob eine Samtbank dem Lenker parallel, „nun besteige ich den Streitwagen.“

Aus seinem Oberkörper, der bis in die Beine lief, hob er ein Restchen Hose und schlich damit hinauf, der andre Zugstiefel strich indes die Schleimspur einer Schnecke hinten nach durch die Luft.

„Sie sehen“ — Krumbichler äugte über die Brille an seinen Hosenknollen abwärts, unsichtbare Zügel in Baumwollfäustlingen. Da aber beschlich ihn Schwindel auf seinem Bänkchen und er kroch auf den Rockschößen eilig erdwärts.

Es hatte wirklich keinen Moment mit dem Epheben oben übereingestimmt, und man bestätigte es ihm gerne.

„Steigt man so auf,“ er wies kopfschüttelnd auf diesen eigenholden Spielfuß. „Steigt — vielleicht nicht.“ Gargi sammelte sich am Ende des Saales. Ein Nebel von Gliedern schoß daher, wehte an Krumbichlers Nase vorbei, landete hoch im Aufsprung, nachgegossen dem Marmor neben ihr.

Wie wollte so einer die Welt spüren: Zu Kunstwerk verdichtetes Stück Welt, der nicht erst gelernt, seinen eignen Körper spüren. Daß er sich überhaupt unter diesen Antiken ertrug! Erster Befähigungsnachweis hätte doch — der Selbstmord zu sein gehabt! Und das verwaltete hier oben in baumwollenen Fäustlingen die Kunst ...

Unten die gutgegliederten Epheben, die Cavadinis, die Strondolis aber sprangen lieber mit einem „evoe“ und beiden Beinen in die aufspritzende Senkgrube der Politik: Goldgrube der Advokaten. Ja, es war ein Geschlecht von Advokaten, Politikern, Kommis und Chauffeuren, das da den ganzen Tag aufgeregt lungerte in Kaffeehäusern, zwischen seinen historischen Reißbrettkulissen, überspien mit dem Eintagspapier der großen Rotationsverblödungspressen, aus dem alle bis in die Nacht hinein mit eingespeichelten Brocken, vorgekauten Phrasen von Gier, Gräuel, Lüge, Demagogie um sich warfen. Andre zogen wieder mit aufgeregten Händen eine Schleimspur von Privat-Skandal von Tisch zu Tisch durch die Saat gierig gesenkter Papierfetzen: wie Tintenfische, die einen dunklen Schlamm um sich verbreiten, mit dem sie alles in der Runde bekleckern, um dann selber darin spurlos zu verschwinden.

Fremde kamen und gingen. Die Männer bestellten jedes Getränk von Bier bis Whisky; die Frauen sagten, sowie man hinhorchte: „oh Giorgione“ oder „oh Pinturicchio!“

Dann zog Archie Payne jedesmal den Hexenmund lang und die Knie bis zum Kinn, blinzelte seinem Kunstkuli Dr. Hafis zu:

„In sechs Monaten werden sie alle nur mehr ‚oh Gecco Pintaccio‘ sagen.“

So hieß irgendein Nebenseiter dritten Ranges aus dem spanischen Barock, in dem Archie momentan spekulierte. Bei Erweiterung seiner Newyorker Bar in Verbindung mit dem Kunstsalon hatte seine eisig freche Unwissenheit sich gerade mit dieser Marke — warum wußte er selbst nicht — stark eingedeckt. Nun sollte von Europa aus die hausse einsetzen und beteiligte Fachkreise, Hafis an der Spitze, bereiteten sich, demnächst den Gecco Pintaccio in seiner epochalen Bedeutung für den modernen Expressionismus neu zu entdecken. Man schnupperte nur noch ein wenig in der Peninsula herum, eventuell hier flottierende Werke rechtzeitig aufzukaufen, damit der Ring geschlossen sei, ehe mit den ersten Artikeln, Gegenartikeln, Polemiken, Hü und Hott des Metiers, die Preistreiberei in dem aufgespeicherten Artikel einsetzen konnte.

 

Seit dem Erlebnis mit der grauenhaften Greisin in Lederhosen ging Horus nur mehr zu Opern und genoß dort, geschlossenen Auges, das bisher in Europa einzig zu Genießende: Musik. In der großen Galavorstellung hob er nun einmal zu früh die Lider, als eben unter schmalzigen Sequenzen der Vorhang: ein gemalter Frühling aus Blech, tangential zu den Bäuchen des talgüberrieselten Heldenpaares niederging. Da kam ihm urplötzlich die Einsicht, wie er hier unter Kolosseen, Kommis und Kulissen: draußen wie drinnen, edle Zeit vertat.

Natürlich daran lag es. Er hatte sich einfach bisher in einer falschen Schicht dahintreiben lassen, vermeinend, Hotels und Logen „ersten Ranges“ enthielten auch die korrespondierende Menschheit. Zwar was anderwärts herumwimmelte, schien nicht eben besser — optisch formal noch unerfreulicher: doch wie man seine Illusionen liebt und deren Minderung fast manisch ablehnt, so flog doch immer wieder all seine weiße Sehnsucht, Liebe und Verehrung strahlengrade vor ihm her in ein noch Unbekanntes, dem Schnee von Paradiesen zu. Überall, wo er noch nicht gewesen, dahin warf er die Erwartung wie in ein Fort.

Wer solche Kleider, Möbel, Wände, Kellner, Tenöre, Kaufhäuser ertrug, war etwas, das er einfach nicht wahr haben wollte als weiße Rasse. Konnten es nicht vielleicht in Verfall geratene Ureinwohner sein, gleich den Weddas auf Ceylon? Ausgebleichte, irgendwie herabgekommene Papuas, die mit mechanistischen Abfällen der echten: wahrhaft Weißen, instinktirr und kläglich herumhantierten wie ein Affe mit einem Sextanten.

Die echten Europäer aber, die lichten Herrn der Welt, in lässig larger Achtung vor den territorialen Rechten dieser Urbevölkerung, hatten sich lächelnd unnahbare Wohnplätze geschaffen auf eine ihm, dem Fremden, vielleicht noch nicht begreifliche Weise: am Ende gar mitten inne allem Wust und totem Geheul?

Was war den Schöpfern der Weltgleichungen unmöglich?

Hatte er doch noch keinen Vertreter jener Gebiete getroffen, die er als typisch „europäisch“ anzusprechen gewohnt gewesen.

Ihr Wirken aber kannte er: Wirklichkeit mußten sie also sein, diese Geschöpfe wie aus Schnee und Gold in ihrem ohnegleichen Cherubtum; die Sternenklaren, Bestirnten, Newtonhaften, die süperben Glücklichen, und das Gefüge ihrer Glieder ebenbürtig den köstlich gleitenden Erzwesen ihres Hirns und ihrer Hände. Irgendwo mußte es sie geben, dort vielleicht, wohin der Elf von einem großen Stern entschwunden war.

So taumelte ihm das Herz doch wieder in seinen heißesten Lieblingstraum. Gegen alle Vernunft. Trotz allem. Ja, gerade die singenden Bäuche, der gemalte Frühling aus Blech, zwangen das Pendel seiner Stimmung, zurückzufahren, daß es sich beinahe überschlug.

In diese verborgene Welt der Ganz-Weißen aber würden van Roys weltgültiger Name, seine Empfehlungsschreiben dem Schüler, dem bescheiden Nahenden, den Weg bereiten. Eine Persönlichkeit, frei, kühn, bizarr, deren Primzahlengesetz, deren Knotenexperimente, die vierte Raumdimension betreffend, ihn erst kürzlich entzückt hatten, zog ihn dort vor allem an. Wie hatte er es nur ertragen können, diesen Besuch so ins Unbestimmte zu verlegen für eine Zeit, wenn ihm Deutschland etwa gerade in den Weg käme? Bei der Einheit und Höhe an Mensch und Ding, wie sie ihm einst als Merkmal des ganzen Kontinentes vorgeschwebt, galt es ja berauschend gleich, wem und was er zuerst begegnete.

Morgen würde er fahren. Und er fuhr. Gewiß, auch in Italien oder Frankreich gab es Namen genug, zu denen es ihn mit dieser neuen Hoffnung gezogen hätte, aber er schämte sich ein wenig seiner Aura. Wie, wenn das wirklich nur kastenlose, verwilderte Ureinwohner, unter die er ahnungslos geraten? Wäre es ihm etwa eingefallen, aus dem Körperdunst von Rhodias kommend, einen Brahmin hoher Kaste aufzusuchen? Nicht, daß etwa unliebenswürdiger oder gar verächtlicher Empfang gedroht hätte. Ärgeres. Die höfliche und feierliche Gestalt mit hanfner Schnur auf dunkelblasser Brust saß, tat, lächelte dann wie immer. Doch die Poren der Persönlichkeit blieben zu. Man merkte das erst beim Sprechen. Lieblichste Einfälle — tot wie Steine plumpsten sie vom Mund einem senkrecht vor die Füße — und da blieben sie liegen. Zum Schluß saß man oben auf einem Schotterhaufen eigner Weisheit mit ganz ausgeweidetem Gehirn. Das verborgene Sonnengeflecht von Geschöpf zu Geschöpf, des Fluidums magischer Faden, auf dem Worte als Weberschiffchen hin und her fliegen, spann sich nicht an.

Eine Pause demnach und etwas wie reinlicher Zwischenraum.

Er nahm ein Auto, lenkte es selbst und fuhr mit Gargi und Wen-Kiün über die Alpen. Das brachte ihn zum ersten Mal mit Europäern, außerhalb der großen Städte, in Berührung.

Auf dem Brenner zwang eine Panne zu längerem, unfreiwilligem Aufenthalt unter Eingeborenen. Es schien ein wilder Völkerstamm, im Besitz von vier deutlich unterscheidbaren Lauten: „Hüüüaaahhh — sell woll — Sakra und Teifffi.“ Ersteres zur Verständigung mit dem Vieh. Zweites zur Verständigung mit dem Fremdling. Drei und vier: orgiastische Erregungszustände mit fetischistischem Einschlag andeutend.

Die ausgewachsenen Männchen trugen entwurzelte Fangzähne wilder Tiere an Schnüren vor dem Nabel, und als Hauptschmuck grasgrüne Kegel, an denen die ausgerissenen Rückenhaare einer kleinen Zweihuferart büschelförmig angebracht waren. Die Lenden bedeckten gegerbte Felle der gleichen Tierspezies. Die nackten Beine zeigten durchweg natürliche und dichte Behaarung. Die heranwachsende Brut pflegte artfremde Geschöpfe aus dem Hinterhalt unter aufgeregtem Geschnatter mit allerhand Unrat zu bewerfen.

Doch richtig: noch über einen fünften Lautkomplex verfügte der Stamm. Unmittelbar vor der Abreise sollten es die indischen Gäste erfahren. Horus kurbelte bereits den Motor an, da schlurfte mit hängenden Vordergliedmaßen, endend in schwarzen, zerquetschten Klauen, ein halbwüchsiges Männchen vorbei und spie etwas aus: halb Kautabak, halb „gelobt sei Jesus Christus“ — ging zwanzig Sekunden weiter — duckte sich und schmiß einen Stein. Die Bewegung, bei aller hämischen Wut, war aber von so wasserbüffelhafter Langsamkeit — bis eben das Tief-tückische durch die Borke heraufbrach — daß Horus unschwer das spitze Stück Schotter vor seinem Ziel: Gargis Schläfe, mit erhobenem Arm abzufangen vermochte.

Dann, als der Wagen mit dritter Geschwindigkeit den Grenzen dieser Weideplätze zustrebte, bemerkte er, den schmerzenden Arm am Volant:

„Ob ein gewohnheitsmäßiger Zusammenhang zwischen Gruß und Steinwurf besteht — überhaupt noch eventuellen andern Stammeseigentümlichkeiten nachzuspüren, bleibe unerschrockeneren Forschern bei einer künftigen Durchquerung des dunkelsten Mitteleuropa vorbehalten.“

Drittes Buch

Fünf Eingänge hatte die Mietskaserne. „Aha, die unnahbaren Wohnplätze,“ er mußte lächeln. Im vierten Stock trug endlich die Tür einer Hofwohnung den gesuchten Namen. Auf einer Visitenkarte an vier Reißnägeln in Fraktur: Dr. Oskar Samossy, außerordentlicher Professor für Mathematik. Eine Weibsperson öffnete. Sie war von jenem saloppen Kleidungsstück umschlampt, das Europäerinnen für einen Kimono zu halten schienen, da sie es also benannten. „Nein, nicht zu Hause; botanisieren sei der Professor gegangen.“

Unter einem vermodernden Vogelnest aus Haar sahen vertrocknete Holunderbeeren den Besucher frechverlegen an. Lockeres Fleisch der Arme schaukelte mit, während das Weibsstück ein goldnes Kettenarmband mechanisch die lange klebrige Hand auf und ab gleiten ließ.

Horus übergab seine Karte und Erasmussens Brief an den einstigen Schüler, jetzt großen, ebenbürtigen Kollegen. Die Person öffnete den „Kimono“, legte Karte nebst Kuvert horizontal vorn auf eine gelbliche, rechteckig hinaufgepreßte Masse. Schloß die Tür. Grußlos, grob.

Innen mehrmaliges Aufstoßen des Besens, und unter dem Türspalt hervor versuchte die grauporige Zungenspitze eines nassen Lappens etwas Spülicht gegen den mutmaßlichen Standort des Besuchers zu spritzen. Endlos stieg er wieder die idiotisch konstruierte Treppe hinab. An jedem Absatz reckte ein Gasarm, von blecherner Blumenranke sadistisch unter der Achsel gekitzelt, seinen zerfetzten Glühstrumpf durch ein tulpenförmiges Glasgeschwür in die gefleckte Trübe des Zylinders.

Beim Eingang vertrat ein andres Weib mit einem Wasserkopf am Schürzenband ihm jäh, aus einer Glastüre heraus, den Weg. Hinter ihr her brach Brutwärme Kleinen-Leute Geruchs: nach eisernem Ofen, scharfen Männersocken, süßlicher Säuglingswäsche. Im Türausschnitt erschien die Lehne eines geschweiften, grünen Roßhaarsofas, ein Brautkranz unter Glas, verstaubte Bierflaschen, eine Rute an rotem Band, die Mutter Gottes und säuische Ansichtskarten fächerförmig über die Tapete genagelt. Ein Jegliches stank für sich.

Das Weib geiferte: was er wolle, wen er suche. Sie sei die Bordiööös Gattin. Habe auf Ordnung zu halten. Hätte gesehen, wie er am Gashahn geschraubt. Jetzt sei der Strumpf zerrissen. Sie fordere Schadenersatz. Der Wasserkopf am Schürzenband versuchte indes dem fremden Herrn auf die Stiefel zu spucken, und der Geifernden grimmer Birnenbauch drohte schon wieder neuen Wurf. Jetzt plärrte der Wasserkopf los, weil sein Speichel im Gleitflug versagt hatte; tröstend wurde er an die keimende Hoffnung gequetscht und Wutblicke schossen gegen den herzlosen Kinderfeind.

Der Kinderfeind blieb kalt. So verlegte sie sich aufs Winseln, begann die Gebreste ihrer Familie herzuzählen, hielt Tor und Hand vor ihm offen. Draußen traf den Enteilenden unerwartet ein Bild wie aus einer Haschisch- oder Meskalwelt.

Etwas Eckiges kam die leere Vorstadtstraße herauf, eine Art Gespensterheuschrecke im frock-coat. — Das hagre Pferdeprofil von einem ausgefressenen Ziegenbart umdreieckt, den Zylinder weit aus der prachtvollen Stirn gestoßen, pendelte der große Körper daher. Aus seiner Rechten schleiften etwa drei Meter Strick voll seltsamer Knoten im Straßenschmutz nach — „seine Knotenexperimente zum Beweis der vierten Raumdimension“ — schoß es dem Beschauer durch den Sinn. Die Linke trug, mit Riesenkraft über den viel zu engen Salonrock geschultert, eine junge Tanne mit erdigem Wurzelballen. Um den Wipfel brauste ein Bienenschwarm. Das Ganze bewegte sich unter einem Sturz undurchdringlicher Geschlossenheit dahin. Diesen versunkenen Wandel mit der Trivialität einer Ansprache stören, — nein. Voll Achtung trat er zurück, vergnügt, als wäre ihm eben ein Tarnhelm bedingungslos geschenkt worden; ließ den Ahnungslosen an sich vorbei in die Zinskaserne biegen. Die junge Tanne brauste durchs Tor, die Bienenpyramide gereizt ihr nach —.

„Und sticht den Wasserkopf an“ — dachte der „Kinderfeind“. „Zuchthausstrafe auf jede weitere Lebendgeburt für eine Frau, die so etwas aus sich herausgehudelt hat: Ein taktloses Kind schändet ja die Welt mehr als tausend Verbrecher — ein Dutzend davon, und die ganze Rasse ist gerichtet.“

Andern Tags kam eine dringende Einladung, auf den weißen Rand einer abgerissenen Zeitschrift gekritzelt.

„Gleich“ stand zweimal unterstrichen und schnitt in teilweise erhaltene Annoncen für Schmieröl und ein Berliner Bureau zur Vertiefung des Familienlebens.

So machte er sich abermals auf den Weg quer durch die fremde Stadt. Nicht mehr suchend, diesmal gemächlich schauend. An seinem Schritt glitten zahllose Buch- und Kunstläden vorbei. Überall hinter Glas stand auf Pappe: „Der schöne Mensch“ — „Schönheit des Ganges“ — „Rhythmische Körperkultur“ — „Die Kultur des Wohnens“ — „Heimkultur“ — „Künstlerische Bekleidungskunst“ — Stil, Schönheit, Rhythmus — wo man hinsah aufs Papier. Dann wieder zahlreiche Glasscheiben, blechgolden, schräg verkritzelt mit „Konditorei“. Dahinter alles voll käsiger Frauengesichter unter irrsinnigen Hutgeschwüren, die von gehäuften Tellern faden Kram in sich hineinstopften. Wie hieß doch all das Zeug? Richtig: „Schillerlocken, gefüllter Bienenstich.“

„Einst Stier — Schwan — Goldregen. — Hier müßte sich der Gott wohl zu Schlagsahne wandeln, um einen begehrten Schoß erzittern zu machen,“ sann der Fremde belustigt.

Dann stieg er wieder am Windeldrachen vom grünen Kanapee vorbei die idiotisch konstruierte Treppe hinauf. Fand diesmal die Tür nur angelehnt. Schellte vergeblich, trat durch eine Küche, die nach Abort stank, in den speckigen Arbeitsraum; nein, zwei Räume — drei. Durch alle drei lief ein schier endloser Papierstreifen. Stellenweise war er mit Nadeln, Haarnadeln, Streichhölzchen und Zahnstochern immer wieder angestückelt worden. Buchstaben, Zahlen, Zeichen bedeckten ihn: ein Zaubernetz, über und über. Fern im dritten Zimmer lag Samossy in seinem Salonrock flach auf dem Bauch, schrieb weiter an dieser einzigen, ungeheuren Gleichung.

Entzückt und gerührt, mit einem heißen Gefühl von Heimat vor diesem schmierigen, geflickten Band stand der Herr des Hauses Elcho zwischen Abort- und Küchengeruch. Bog ein Knie, und mit aller Anspannung sich sammelnd auf das Faszinierende zu seinen Füßen — spontan hineingerissen in seine Magie — lag nun auch er, Raum und Zeit verloren, auf dem Fußboden; einem geisterhaften Schema, nach dem die Welt geschah, über Haarnadeln, Zahnstochern, Zündhölzchen hinweg zu folgen. Da nur Resultate zu durchlaufen waren, fand er sich, ob nach Stunden oder Minuten, blieb so ungewiß wie belanglos, neben Samossy. Nun verweilten beide, parallel eingestellten Geistes, hingegeben an ein klareres Sein, bis in der Dämmerung jeder Überblick erlosch.

Dann begrüßten sie einander. Samossy raste zum gedeckten Teetisch, sich am Tischtuch enthusiastisch den Staub von den Fingern zu wischen. Zerknüllte dabei, eh man’s versah, mit affenartiger Behendigkeit alle vier Ecken wie Papier. Sein Gebaren hatte etwas Gaulhaftes: ein durchgegangener Klepper, wie er von hohem Schiefgalopp herab blindes Feuer und erschrecklich weißen Wahn aus blutigen Augenbällen kegelt.

Des Gastes Aufmerksamkeit hatte er nach den ersten Bemerkungen gewonnen, denn untrügliches Merkmal überlegener Menschen: sorgliche Wahl, flüssige Placierung auch des scheinbar untergeordneten Wortes, war sein — wenn er wollte. Jetzt wollte er. Des Gastes Herz aber ging aus zu ihm, nach der ruhigen Verbeugung seiner Stimme vor van Roys Werk und Wesen. Dieses: seiner ersten Jünglingsjahre Erlebnis — Begleiter seines ganzen Mannesalters: Jenes.

Nach einer angenehmen Weile wandte sich das Gespräch, und der Gast bemerkte beiläufig:

„Es scheint ein recht glückliches Land, dieses Deutschland. Nach Annoncen, Inseraten, Plakaten ist ja hier alles zu haben gegen Einsendung von fünfundsiebzig Pfennigen in Briefmarken an eine G. M. B. H. oder sonst einen, mir unverständlichen Lautklumpen. Da bekommt man ‚postwendend‘ die ‚Welträtsel‘ gelöst in Monismus, Schutzmarke: ein Griff, ein Bett; den ‚Wälsungenring‘, ‚völlig geruchlos‘, oder verwechsle ich das mit: ‚keine Schweißfüße mehr‘. Auf Mystik scheinen Rabattmarken zu gelten. Ihrer zehn — ‚beigebogen in der Falte‘ — was immer das heißen mag, ergeben gratis: ‚das Bauchschnellen oder Sonnengeflecht und Schicksal‘ von der Lichthortvertriebsgesellschaft.“ — —

Hier drang vom Flur schmetternd das Siegfriedmotiv.

Samossy sprang auf. „Treudeutscher Männerpfiff, Sie entschuldigen,“ und seinem Gast wie einem Verschworenen zuzwinkernd, galoppierte er die Gleichung entlang, bis zu deren Ursprung im ersten Zimmer. Dort blieb er türmend über ihr, spreizbeinig wie der Koloß von Rhodos. Keinen Moment zu früh. Man hörte es durch die Materie trampeln, und zwei Körper prallten von Samossy ab; die Gleichung aber blieb heil.

„Höppla,“ sagte der Eine.

„Da brat mir eener n’en Storch,“ der andre.

Der mit dem Storch hatte viel Gesicht, aber nichts der Rede Wertes drin. Nur ein Zwicker saß irgendwo hineingekniffen in den Speck. Der hingegen „höppla“ gerufen, der wallte: vom Haar bis zu den Hosen, über Schillerkragen und lockichtem Bart zu beiden Seiten der slawischen Knöpfchennase hinab. Ganz Bizeps und Sonnigkeit, entbot er den Gruß mit Schlagring: „Professor Dallmeyer.“ —

„Sogar Ordentlicher — für Biologie,“ ergänzte Samossy aus infernalischen Nüstern.

Der mit dem Storch riß jetzt auf absonderliche Weise seinen Speck vor dem Fremden zusammen, begann dabei mit dem Fuß am Boden zu scharren, ähnlich den ältesten jener Huftiere, die sich notdürftig eben erst aus der Mischgruppe oberhalb der Beuteltiere gelöst hatten:

„Hans Horst Krause.“ Das Scharren klappte zu.

Beide barsten vor Fachklatsch. Es spritzte förmlich aus ihnen.

„Ob Samossy schon das Neueste in der ‚Affaire‘ des Kustos Pappla vom Museum wisse?“

„Lassen Sie mich — lassen Sie mich,“ schrie Dallmeyer, als der feiste Student ihm zuvorkommen wollte.

„Ein beispielloser Skandal. Bei—spiel—los.“ Er rang jubelnd die Hände.

„Die reine Meteoritenbörse hat er eingerichtet. Das war ein Getäuschel und Getue, angeblich fürs Museum Meteoriten gekauft, Preise in die Höhe getrieben, dann wieder nach London verkauft; keine Sau hat sich mehr ausgekannt. Aber direkt nachzuweisen ist ihm wieder nichts — und wenn auch — ich bitte Sie, Schwiegersohn vom alten Mehmke: Präsident der Akademie.“

Samossy wieherte bei dem Namen auf, als stäke ihm eine brennende Lunte unter dem Schweif.

„Mehmke rast übrigens gegen Sie, seit der Geschichte in der geographischen Gesellschaft neulich.“

„Also ist es wahr?“ Krause verlor vor Interesse den Zwicker und blieb völlig als Uhr ohne Zeiger übrig. „Onkel hat heuer als Rektor so viel zu tun, konnte leider nicht dabei sein; ich weiß also noch gar nichts Authentisches.“

Dallmeyer begönnerte:

„Natürlich ist es wahr. Nach zwei Stunden welken Blödsinns hat der Alte endlich ausgekohlt, da spricht unser Professor hier dem berühmten Ehrengast für die ‚lichtvollen Ausführungen‘ den Dank aus und schließt wörtlich:

‚Es ist mir zwar schon früher nicht unbekannt gewesen, daß Wasser bergab fließe, ich freue mich aber aufrichtig, es nun von solcher Autorität bestätigt zu hören.‘“

Dallmeyer lachte mit schönem Tenor, wie er dem Manne wohl ansteht — dann lauernd zu Samossy:

„Ich fürchte nur, werter Kollega, es wird Ihnen bei den nächsten Akademiewahlen — wieder — schaden.“

Der bockte gereizt: „Der Alte hat rechtzeitig umzustehen, sein dritter Schlagfluß mit doppelseitiger Lähmung ist längst fällig. — Haben Sie übrigens den Angriff gelesen? ...“

Das Wort Angriff schien eine magische Wirkung auszuüben. Sie steckten die Köpfe zusammen und begannen aufgeregt zu schnattern. Angriff — Polemik — Angriff. Immer war eben einer erschienen oder im Begriff zu erscheinen. Eifrig hockten sie, ganz eng, wie drei große alte Affen, die zwischen sich immer einen ganz Kleinen lausen. Der ganz Kleine schien die Wissenschaft. Samossy, mit allen Fakultäten gehetzt, stak offensichtlich von Mittelpersisch bis zur Numismatik, von der projektiven Geometrie bis zur oberen Trias in Intriguen, Tratsch und Hetzereien. War das noch derselbe Mensch, grotesk aber groß: der wilde Träumer mit den Knotenexperimenten, Herr der transzendenten Gleichung, Entdecker des Primzahlengesetzes, und geiferte, trunken von Klatsch, mit knochig boshaften Gebärden seiner Bordiööösgattin, während beide andern, verhohlen lauernd, von jeder Injurie sich heimlich Notizen zu machen schienen — nicht ruhend — bis der ganze Mann ein einziges Gedankenfletschen war, aus dem spitze Argumente, gleich Reißzähnen, sich in die Weiche jedes guten Namens gruben. Auf Personalien und Details horchte Horus kaum hin, was ging ihn Privatgeifer zwischen Fachbarbaren an; dazu hatte er nicht nach den „unnahbaren Wohnplätzen“ der Ganzweißen gestrebt.

Wie dieser Krause dasaß. Die speckig obszöne Talentlosigkeit, wenn so ein Europäer nur einen Froschschenkel über den andern schlug.

„Fängt der auch noch an über Frauen zu reden, so geh ich,“ dachte der Beschauer. Nein, der Andre fing an.

„Wissen Sie schon, wo Margrinchen Mehmke sich jetzt kneifen läßt?“

„Vermutlich in die Waden,“ grölte Samossy.

„Da hätte es doch korrekt heißen müssen: wohin —“ feixte Krause dazwischen. „Nein, bei ihm — von ihm — in seinem Institut; ist mit sechs andern Jungfrauen von uns Chemikern weg, hinübergewechselt zur Biologie.“

„Ja, seit dem Drüsenrummel weiß ich mir vor Frauenzimmern keinen Rat mehr.“ —

Dallmeyers befiederte Lockigkeit brauste auf, wie an einem zürnenden Schwan.

„Jede will Hoden transplantieren — egal — den ganzen Tag. Der Verbrauch an Ratten und männlichem Ungeziefer auf meiner Abteilung steigt ins Ungemeßne. Und schlampig sind die Luder. Wird es ihnen zu fad, oder winkt der Konditor, lassen sie ihre angeschnittenen Versuchstiere herumfahren, wie eine Häkelei. Wär’ nicht der Laboratoriumsdiener, tagelang spazierten mir noch halbe Krebse durchs Institut.“ —

Er hielt mit einem Ruck; etwas so Starkes ging plötzlich von der lebendigen Ruhe dieses schweigenden, eleganten Fremden aus: stumme Reaktion des gesitteten Orientalen auf den ersten Einblick in die Beziehung des Europäers zur Kreatur.

Der Ruck — die Strahlenohrfeige hatte rundum eingeschlagen; Klatschnebel zertropfte. Da saß ja, bisher ignoriert, ein ganz Fremder zwischen ihnen. Das Hemmungslose gerann, ward tölpicht hölzern. Auch bei Samossy; er hatte allzureißend Niveau verloren gehabt. Mit einem ungeheuer schiefen Galoppsprung startete er jetzt die Konversation falsch. Gab das Signalement seines Gastes, taktlos wie eine Behörde. Die Andern aber atmeten auf. Nur so ein Hinterwäldler, von wo der Pfeffer wächst. Na also — wozu die Aufregung. Krause, ein Bein über das andere geschlagen, begönnerte schon:

„Inder — n’gutes, aber n’schlappes Volk. Nich forsch. Sollen erst mal die lausigen Engländer rausschmeißen — aber schlapp eben. Nee, so Lotusonkels — nich in die Lamaing.“

„Ihnen gesagt,“ bestätigte der wallende Germane.

Zartfühlend sein, niemanden verletzen, war Horus wie Herzschlag — doch auch Anmaßung nicht zu dulden; und der Herr des Hauses Elcho sprach:

„Ich bin zwar nur der unwissende Bewohner einer wilden und abgelegenen Gegend, aber gestatten Sie mir dennoch die Frage, warum Sie dieses Rowdy-Dogma logischerweise nicht auch auf den Heiland Palästinas anwenden; dem man hier so viel Tempel errichtet hat, ihm vorwerfen, daß er kein Preisboxer war, sich nicht mit einem wohlgezielten ‚undercut‘ die Kreuziger vom Halse gehalten hat.“

„Na nu, Christ sein heißt doch lediglich: kein Jude sein,“ belehrte Krause. „Es sind eben die zwei einzigen vom Staat anerkannten Religionen. Was geht mich modernen Menschen der olle Mumpitz sonst an.“

„Schmonzes,“ bekräftigte der wallende Germane.

„Warum erklären Sie sich dann nicht von jeder Religion frei?“

„Er meint konfessionslos,“ jappte Dallmeyer und erschauerte bis ins Gebein.

„Unmöglich, Verehrtester, das sind erst recht nur Juden. Auch schadet’s der Karriere. Im übrigen kann mir, als modernem Forscher, alles transzendente Geschmuse restlos gestohlen werden. Kraft und Stoff, sonst gibt’s nichts für mich. Das einzig Sichere ist die Beobachtung der Materie, die kümmert sich nur um reale Dinge und liefert daher untrügliche Tatsachen. Tat-Sachen.“ Sein Speichel ward groß in ihm.

„Was ist ein reales Ding, eine Tatsache?“ frug Horus.

„Dieser Tisch.“ Er nahm besagtes Stück Hausunrat gestreckten Armes, um durch den Krach des Niederstellens dessen „Realität“ sinnfällig zu erhärten.

„Viechskerl,“ dachte Horus, „so ist dir wirklich noch nicht einmal aufgedämmert, was an Transzendentem alles nötig ist, damit ein ‚Gegenstand‘ in der Anschauung möglich werde; das, was du, unpräziser Analphabet: ‚reales Ding‘ nennst? Dein Tisch ist doch, wie alles Ausgedehnte, eine dreifache Mannigfaltigkeit von Punkten, die erst in der Anschauung restlos durchlaufen werden müssen, damit etwas über dieses Mannigfaltige ausgesagt werden könne. Während aber z. B. eine Tischkante durchlaufen wird, müssen die schon durchlaufenen Teile als weiterexistierend hinzugedacht — aus dem Fluß sinnlichen Geschehens — herausgehoben werden. Der ‚Gegenstand‘ Tisch ist somit gar keine ‚Beobachtungstatsache‘ — sondern etwas zur Wahrnehmung lediglich Hinzugedachtes: bedingt ein Nichtsinnliches, außerhalb der Zeit Stehendes, an dem die Wahrnehmungen vorbeifließen, und in dem sie sich räumlich erst ordnen. Was aber außerhalb Raum und Zeit steht, ist notwendig als ‚transzendent‘ anzusprechen, da es niemals Objekt der Erfahrung sein kann, ist das ‚Erkennende‘, ‚nie erkannte Subjekt‘. Nur insoferne also der Tisch — als ein Hinzugedachtes — an diesem Transzendenten teil hat, ist er Realität. — Viechskerl! Die Grundfrage nach der Möglichkeit aller Erkenntnis lautet demnach: wie ist Erfahrung überhaupt möglich. Für mich jedoch lautet die Grundfrage:

„Mußten dazu süße Tiere zermartert werden, um dein Gesamtniveau zu erreichen; notabene hundertdreißig Jahre nach einem gewissen Kant? — Viechskerl.“

Laut aber widersprach er nur soweit, als es die aufgeklärte Ignoranz des Fachmannes zu ergründen galt.

Es ergab sich, daß auch Dallmeyers naturwissenschaftliche Bildung hauptsächlich darin bestand, nichts von Philosophie zu wissen und daß er stolz darauf war. Schon das Wort schien Schande. Er streifte es voll mitleidigen Ekels ab wie eine halbtote Schmeißfliege.

Probleme gab es nur noch im Detail. „Geist“ war eine störende Nebenerscheinung der Materie, alles übrige „Schmonzes“ und langweilte ihn unsäglich.

„Beobachtungstatsachen — Beobachtungstatsachen,“ schrie er ein ums andre Mal.

„Hab’ ich aber das Bedürfnis nach dem endgültigen Überblick, lese ich: Häckels ‚Welträtsel‘ oder: Machs ‚Analyse der Empfindungen‘. Denkökonomie ist die Hauptsache. Sich’s vereinfachen.“

„Dann haben wir wohl zu wenig Gemeinsames für eine Diskussion,“ meinte Horus, um höflich zu Ende zu kommen.

„Denn ich wiederum mache gerne einen noch so halsbrecherischen Umweg, schärft oder vertieft er mir die Einsicht nur um ein Weniges, und diese, hoffentlich nur vorläufig letzte Einsicht besagt, daß die Welt den Spezialfall aus zwei Scheingleichungen darstellt.“

„Nur keine Mathematik,“ wehrte Dallmeyer beängstigt ab, „oder mathematische Physik, da verliert man den Boden der Tatsachen. Der Samossy ist auch schon halb meschugge mit seinen Knotenexperimenten.“

Und höchst ägriert über die Störung im Fachklatsch — der Besuch hatte doch so anregend begonnen — entbot er wieder Gruß mit Schlagring. Krause scharrte am Boden, knallte die Hufe zusammen, und die Türe schloß sich hinter den beiden.

Aus Samossys weitem Roßhaupt begann es zu kichern. Es hatte das unbegreiflich Irre des Pferdes in allen Zügen, bis zur nüsternen Nase, wenn sie — eine ganze Landschaft für sich — weichgehöckert, aus Mulden von großporigem Moos, überraschend Hauch ausstößt. Wenigstens ein ganzer Gaul, statt dieses Dallmeyer, der — slawische Knöpfchennase oben — Pöbelbeine unten — außenherum wallender Germane und innen ein Rindvieh war.

Das knochige Kichern aber klang nicht angenehm, kam aus einem viel engeren Wesen. Er grinste diabolisch und mit großeckiger Bewegung hinter den beiden drein, wieder hinreißend in ihrer Art — hub er an, genießend zu pointieren:

„Mitnichten könnte erhofft werden, dem Halbgebildeten stünde ja annoch frei, so sukzessive 3/44/59/10 ... schließlich ganz gebildet zu werden. Daran aber hindert ihn die unausrottbare Arroganz eben dieser verdächtigen Halbheit, ihr vages ‚weiß schon‘, gierig träge Hast, nur bedacht, in jeder Tiefe eigne Flachheit zu spiegeln, die edle Demut der Unwissenheit verloren — edle Demut des Wissens nie erworben hat. Da aber so ein halbgebildeter Sensationsdeflorateur, so ein all-round Kommis auch noch mühelos in alles dreinschnauzen will und die Welt von seinesgleichen überfleußt, erstanden ihm, wie in prästabilierter Harmonie, avancierte Oberlehrer und frohe Greise, denen man nicht gram sein darf, denn sie sind bieder und wissen es wirklich nicht anders. Die lieferten ihm Taschenphilosophien für Minderbemittelte, und weil er das Fertigfabrikat stets neu liebt, lieferten sie ihm modernen Schöpfungstratsch statt des Mosaischen. Schutzmarke: ‚ein Griff ein Bett‘, wie Sie vorhin sagten, denn er hat nicht eben viel Zeit für dergleichen — gerade ein Maul voll von allem genügt. Und weil er keine Zeit hat, sind die Monistengreise und avancierten Oberlehrer immer zugleich ‚Esperantisten‘, um das ‚Unökonomische‘ auch in der lebenden Sprache zu ‚bereinigen‘.“

„Weg damit,“ schnoddert begeistert der all-round Kommis, der nur Hauptsätze nebeneinander stellen kann und will, ohne feineres Bedürfnis nach kausaler Überblickung durch Ko- und Subordination, denn: den Spannbogen des Gedankens ermißt man an der Syntax. Hochcharakteristisch nun, wie monistische Sonntagsprediger und avancierte Oberlehrer, weil sie nicht einmal philosophisch den Begriff der Kausalität noch erfaßt, und sich daher rühmen, ihn abgeschafft zu haben, gierig eine künstliche Unbildungssprache propagieren, der alle Geisteswurzeln ausgerissen sind, in der niemand je einen Gedanken weder zu fassen noch auszudrücken vermöchte.

„Was ist ein Esperantist?“

„Einer, der sich eigens ein Idiom zusammenstellt, das keines zu sein braucht. Einer, der freiwillig wieder weit hinter den Affen retourmarschiert, denn dieser hat ja — nach Garner — schon Ansätze zu etwas wie einer lebendigen Muttersprache: jenem mystischen Meer, in dessen suggestiver Lösung Gedanken wachsen, wie glasklar fließende Geschöpfe genialen Lebens. Zum Wachsenlassen aber hat der all-round Kommis keine Zeit. Auch die Kofmich-Lautklumpen, deren Sie vorhin schaudernd erwähnten, kommen davon, daß er eben nie Zeit hat.“

„Ja, um Himmels willen, warum hat er denn nie Zeit?“

„Weil er immer schnell noch einen übers Ohr hauen muß.“

„Sensationsdeflorateur — Monist — Esperantist — all-round Kommis: doch letzten Endes Einer, der den Vertrieb schädlichen Schundes besorgt, nicht? Einer, der das Leben mit falschem Schleim überziehen hilft? Doch Dallmeyer, bei seiner stillen Gelehrtenlaufbahn, könnte wohl Zeit haben, etwas zu lernen.“

Samossy johlte: „Stille Gelehrten-Laufbahn ist gut, wenn man mit fünfunddreißig schon Ordinarius und kriechendes Mitglied der Akademie sein will! In wieviel gewisse geheimrätliche Körperteile, glauben Sie, muß man da nicht nur geschlüpft sein — nein, in diesen Organteilen direkt überwintert haben? ‚Stille Gelehrten-Laufbahn‘!“ Er wand sich vor Wut.

Der Gast tröstete.

„Aber Sie sind ja auch längst wohlbestallter Professor?“

„Wohlbestallt?“ — mit doppeltem Armschwung nach Küche und Abort — „das ist der Stall, den ich mir leisten kann.“

In die letzten Worte war merklich ein Unfreies gekommen, geduckte Zerstreutheit, als schöbe sich ihm ein Keil quer zur Gedankenrichtung. Das Weibstück stand im Zimmer, trug heute keinen „Kimono“, sondern war „angezogen“: der Körper grundlos halbiert, in etwas schwarzweiß Gewürfeltes unten, Gestreiftes oben. Das horizontal Hinausgepreßte vorn stand noch eckiger weg wie das erste Mal: beängstigendes Toppgewicht gegen schräggestellte Lackhufe unten.

Das Niveau sank stumm und unbegreiflich schnell. Hoch und leer hing die Konversation noch darüber. So oft die Person am Teetisch zu hantieren begann, klirrte das goldne Gliederarmband und sie schob es die klebrige Hand auf und ab. Samossys Blick fing sich daran. Wurde hämisch, irr, hilflos, dunkler Süchtigkeit voll. Er ignorierte sie und schien doch seit ihrem Eintritt an allen Organen verschroben.

Der Gast ging.

Schon war Licht angesteckt hinter den Glasscheiben voll käsiger Frauengesichter, vor ihren Tellern gehäuft mit fadem Kram.

Das war also des weiß-goldnen Traumes neueste Wandlung:

Pallas und Nausikaa: Dallmeyers Hörerinnen. Nicht geschürzte Korybanten etwa im Brunstschweif eines Gottes, Hindinnen anspringend und zerreißend, entrückt von ihrem tanzenden Blut. Nein, Pallas und Nausikaa: inskribierte Mänaden im Laboratoriumsschurz, mit spitzem Gelüstchen und spitzerem Skalpell in den Geschlechtsteilen gemarterter kleiner Tiere herumschnitzelnd, bis der Orgiasmus zu dreimal Apfelkuchen mit Schlagsahne gerann. Jetzt glitten die andern Glasscheiben wieder vorbei und hinter ihnen auf Pappe: „Der vornehme Mensch“ — „Stil“ — „Kultur“. Dann Ladenschluß. Blindes Blech rasselte über die Rachen der Geschäfte.

 

Samossy lud ihn zu seinen Vorlesungen, auch andre Professoren. —

Jugend saß hier herum, ruhte gründlich sein überfressenes Gedächtnis aus. Nur die vor Rigorosen standen, mußten wegbleiben. Auch Krause.

„Keine Zeit auf die Universität zu gehen,“ quäkte er gereizt, „der Mensch muß ja schließlich doch mal was lernen — promoviere heuer.“

Die Übrigen aber räkelten süß das Hirn. Ihr Dionysisches schien sich mehr in den W. Cs. zu konzentrieren. Auch das Rassenideal war dort wie zu Hause. Bunte Etiketten mit: „Juden hinaus“, klebten an allen Pissoirwänden, neben mit Bleistift festgehaltenen Vorgängen aus dem Geschlechtsleben. Unter diesen stand wieder mit andrer Hand:

„Und das sind die Arier.“

Man konnte der andern Hand nicht so ganz Unrecht geben. An Technik und Niveau vermochten diese Darstellungen analogen Steinzeitfunden, auf Renntierknochen geritzt, keineswegs das hier zuständige Wasser zu reichen, trotz ihres Fundortes, der im Technisch-sanitären sie wieder zweifellos als dem zwanzigsten Jahrhundert zugehörig zu datieren zwang. Der Pithecanthropus war erotisch schon weiter; europäischer aber schien dies, in seiner eigentümlich zwinkernden Verquickung von Liebe und Pissoir mit Glaube und Hoffnung, es sei eine Schweinerei.

Diese eigentümliche Verquickung blieb auch in der schmatzenden Verliebtheit an den Kaffeehaustischen, wo abends sich alles traf, Rudel halbwüchsiger Mädchen hereinlärmten, jede Geste ein: hurra, wir sind defloriert; Ordinärheit mit Temperament verwechselnd. Manche jugendhübsch und doch: lendemain auf den ersten Blick, weil diese irren Barbarinnen nicht wußten, daß der Takt eines ganzen Lebens in der Liebesgebärde zu gipfeln hat. Ab und zu kam eine Dämonin, totschwarz, entblößte einen goldnen Raubzahn, snobte auf Morphinistin, aß aber dann doch mit Behagen zweimal Schlackwurst mit Kraut. Eines Sonettes über Fruchtabtreibung wegen war sie bei den Literaten angesehen.

Dort sprach man ausschließlich von Prozenten. Nur ab und zu sah einer vom Tisch, wo sie die erste Nummer einer Zeitschrift zusammenstellten auf und frug, ob man „sehr“ mit „h“ schreibe. Oder Jemand rief: „aus—ge—schloss—en—!“

Ein Rudel Russen: fanatische Nasenbohrer, redeten in einer Ecke endlos über Kommunisierung der Frauen; trugen alle Knochen aus ihren schlacksigen Leibern ins Gesicht gehäuft eckig unter den Augen.

Sonst hockten rings durchs Lokal Klumpen dickhäutiger Gelassenheit um Bier, wie Kröten um einen Edelstein. Diese Klumpen ohne Güte hatten eine unsäglich hämische Art, die Pfoten über ihr ausschließlich aus Nahrung bestehendes Selbst zu kreuzen. Grinsten — ewig Ungefährdete — aus den strohwarmen Hundshütten ihrer Belanglosigkeit zu allen menschlichen Mühen und Qualen, Streben nach Besserem; hatten dafür ein Leibwort: „wird’s schon billiger geben“. Wußten denn diese unerschütterlichen Nullen noch nicht einmal, daß es ein Andres ist, wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren, als ihn nie verlassen haben?

Vor diesen Quallen aus neunundneunzig Prozent Quatsch graute ihm haßvoller fast, wie vor der Umwelt der Greisin in Glacéhöschen.

„Samossy,“ frug er einmal fassungslos, „wie geht denn das zu? Jedes Wesen ist doch irgendwann zu irgendwas gut, oder könnte Wert haben, oder man denkt, es könnte — aber das da!“

Der schüttelte die Roßkiefer vor Lust:

„Das da — oh, das hat Wert als moralisches Lackmuspapier!

Läuft bei irgendeinem Reformvorschlag der Spießer blau an im Gesicht vor Wut, ist die Sache was nutz, man wird ihn sich in einer künftigen Gesellschaftsordnung als Cyanometer für „Moral“reaktionen erhalten müssen!“

Fast zärtlich sah er um sich. Wer Samossy Gelegenheit zu einer Bosheit gab, den liebte er beinahe.

Durch die verhockten Massen sentimentalte verträumt die sandhelle Kellnerin dahin; verschüttete von Zeit zu Zeit Kaffee. Eine aufbrüllende Kanaille, ein blaurotes Tier, stürzte dann der Manager jedesmal herzu. Die Roßdiebsvisage versank fast bis zum Balkanscheitel im Hals, so schwoll ihm der Schlächtertorso vor Wut.

Einmal war bei den Literaten der Doyen der Ästheten erschienen, hatte in einer Sprache — von Krause als „gepflegtes Galizianisch“ bezeichnet — ein Räsonnement gehalten, anscheinend über die Grenzen des Stehlens oder wie er es nannte: „das Schöne aus der Vergessenheit heben.“ Und er deutete mit zarter Würde an, der Menschheit diesen Dienst öfters geleistet zu haben.

„Bei Plotin oder dem Kusaner würde sie es weder suchen noch fassen.“

Nach einem Blick auf die Hosenbeine hatte Horus beschlossen, es doch lieber bei Plotin, wenn überhaupt, zu suchen. An diesem Abend ließen sich die Übrigen gleichfalls ethisch los. Ein Längst-Arrivierter dozierte:

„Nur immer in Russen machen, so kleine feine Züge à la Dostojewski — sind ja billig genug — im Buch verstreuen, wie Ostereier in Salonecken, damit der verblödetste Kritiker sie noch finden muß; das freut ihn dann so, daß er den Kneifer verliert.“

Ein Eben-Arrivierender warf mit dem Ende des Eckzahns Offenbarungen und Tips unter die minder erleuchteten aber zahlreicheren Glieder der Zunft:

„Nur immer Galopp schreiben. Transitive Verben. Intransitiv gebrauchen. Vorn. Hinten. Überall. Alles weg.“

Erläuterte an Beispielen.

Das Resultat schien Horus eine Art „Pidgin“-Deutsch analog dem „Pidgin“-Englisch: Hafendialekt wie ihn Kulis und Nigger sich aus aufgeschnappten Brocken zusammenläppern, die Sprache dabei, um eine Dimension verstümmelt, in die Froschperspektive rücken, statt Klavier etwa sagen:

„Großer Kerl Kasten Master haut ihn er zu viel schreien.“

Nur daß bisher Niemand in Asien gefunden hatte, der Begriff: Klavier sei in diesem Kraut- und Rüben-Ausdruck konziser geworden, weil der Kuli die Artikel weggelassen.

Schließlich endete es wie immer an hohen Geistesfesten hier: alle pfauchten Kultur durch die Polypen ihrer Nase oder stelzten auf den Eiszapfen ihrer Phrasen einher, bis Scheuer-Weiber, aus Spülicht gezeugt, Kübel voll Grauen durch ein Lokal erbrachen, das vor Entsetzen Kopf stand auf Inseln aus Kaffeesud und Tabak.

Der Fremde sann: Da sind sie so stolz; weil alle hier Lesen und Schreiben können, und können doch nicht stehen, schreiten, ruhen, grüßen, danken, also: leben. Somit eigentlich doch auch wieder nicht „lesen und schreiben“, insofern „Lesen“ Erfassen fremden Lebens — „Schreiben“ Lautform des Eigenen ist.

Professoren traf man selten im Café. Nur eines Platzregens wegen war Dallmeyer flüchtig hereingetropft, mit ihm eine dunkle, eher feine Person, und drei slawisch-germanisch-semitisch gewürfelte Kinder. Beim Anblick Bekannter wehte der Lodenkomet samt Schwanz eilig von dannen. Krause, gleichfalls im Fortgehen, grüßte nach, schlug sich auf die Froschschenkel: „Familie Dallmeyer.“

„Daß ein so rabiater Antisemit eine Jüdin zur Frau und, wie es scheint, gar Kinder mit ihr haben mag,“ meinte Horus.

Krause verteidigte den Gönner:

„Oh, das ist nur eine Gewissensehe. Er kann sie jederzeit ruhig sitzen lassen.“ — Krause betrachtete wohlgefällig seine Couleur durch die Regenhaut hindurch. — „Die Kinder illegitim, da braucht er so wenig zu zahlen — nein, das zählt wirklich kaum.“

In seiner zerstreuten Verblüffung griff Horus nach dem Blatt, das der Enteilende zurückgelassen. Seit jenem ersten Morgen in Paris hatte er keine Zeitung mehr berührt. Schon eine Tatsache auf diesem Weg erfahren, schien ihm, als solle er seinen Durst mit Wasser aus einem Kamelmagen stillen. Was er jetzt in Händen hielt, war eine akademische Fachschrift: Deutsche Korpszeitung stand darauf: ja, war er denn irrsinnig geworden ...?

„Und die Möglichkeit des Vieltrinkenlassens ist auch notwendig. Verbieten wir das Resttrinkenlassen, so kann jederzeit jeder trinkfeste Fuchs jeden weniger vertragenden Korpsburschen in Grund und Boden trinken, und die Autorität ist hin oder aber, wir schaffen die Bierehrlichkeit und damit die Grundlage jeder Kneipgemütlichkeit ab. Verbieten wir das Vollpumpen, so geben wir ein Erziehungsmittel aus der Hand. Die Kneipe ist für uns, was der vielgelästerte Kasernenhofdrill, der Parademarsch für den Soldaten ist. So wie dort das hundertmal wiederholte ‚Knie beugt‘ nacheinander Faulheit, Wurstigkeit, Trotz, Wut, Schlappheit und Ermattung überwindet, und aus dem Gefühl hilfloser Ohnmacht und völliger Willenlosigkeit vor dem Vorgesetzten die Disziplin hervorgehen läßt, so bietet bei uns der ‚Rest weg‘ dem Älteren vor dem Jüngeren immer Gelegenheit, seine unbedingte Überlegenheit zu zeigen, zu strafen, Abstand zu wahren, die Atmosphäre zu erhalten, die für das ständige Erziehungswerk des Korps unbedingtes Erfordernis ist, wollen wir nicht Klubs werden. Der ‚Rest weg‘ ist nicht immer, nicht bei jedem angebracht, aber es muß über der Kneipe schweben ...“

War er denn irrsinnig?

Auch Samossy versah ihn mit Fachlektüre. „Vielleicht interessiert Sie das,“ — es waren Korrekturfahnen zu Dallmeyers neuem Werk, einem breitschultrigen Band über: Periodizität im Organischen. Dann nach einer Woche, mit erwartungsvollen Nüstern: „Nun?“

„Der eigentlich beweisende: der mathematische Teil strotzt ja von kindischen Fehlern.“

„Das Rindvieh,“ jubelte Samossy ein ums andere Mal. „Und das Rindvieh merkts nicht, die Fachkollegen merkens auch nicht und andre lesens nicht. Also Niemand merkt’s. Das ist der Segen der Spezialisierung.“ Er duckte sich zu einem Knäuel funkelnder Bosheit zusammen.

„Dieser Teil ist nämlich von mir, und kommt es schließlich heraus, ist auf alle Fälle er der blamierte Europäer. Genannt hat er mich nicht als Mitarbeiter, müßte also nachträglich eingestehen, er ließe sich seine Bücher heimlich von Andern schreiben.“

Samossy spie Glück.

„So ein Mäuseschlächter, Drüsenkitzler, Vergifter kleiner Nagetiere. Quirlt einen Frosch und wird Dozent. Sperrt einen Ratzen in einen Labyrinthkäfig, schaut zu, um wieviel schneller das Vieh jedesmal herausfindet, wird dafür Professor. Und das packt plötzlich der Raps fürs Fundamentale; Eitelkeit ist ja doch die Hauptwelle im Betrieb, der übrige Schwachsinn rotiert nur blind drum herum.

Na, da hab’ ich ihn eben her—ein—ge—legt. Auch Freundchen Krause werd’ ich he—rein—le—gen beim Rigorosum. Weil der Alte in Remscheid Klosettpapier verkauft, glaubt man sich reif fürs Doktorat der organischen Chemie, und weil der Onkel gerade Rektor ist, glaubt man sich bei mir im Nebenfach sicher.

Wie das bei den Vorlesungen zugeht, weiß ja jeder. Der Vortragende schmiert vier Semester lang Zahlen an einer Tafel herunter, die man mechanisch kopiert, sulzt dann Formeln in sich hinein, von deren Konstruktion man keine Ahnung hat und die — weil nur gemerkt und nicht begriffen — vier Tage nach dem Rigorosum durchs Hirn gefallen sind, wie ein Pflasterstein durch Nebel. Der persönliche Erkenntnistrieb beruhigte sich ja längst bei der Variante: ich saufe, darum bin ich. Aber hereinlegen werd ich ihn, schmeißen werd ich ihn, den ‚Fernhintreffer der Taktlosigkeit‘.“ Er feuerte hinten aus vor spastischem Wutglück.

Horus war so leid um ihn, herzzersprengend leid. Dann, um abzulenken, auch in dem Wunsch, mit diesem Dennoch-Großen einmal andere Geistesgebiete, als die seines Faches, zu berühren:

„Für all diese jungen Leute wäre es eben rätlicher, statt der ‚Korpszeitung‘ lieber doch noch einmal: ‚Über Anmut und Würde‘ von Schiller nachzulesen.“

Und erschrak. Bei dem Wort: Schiller hatte sich Samossys mächtiges Gesicht auf einmal zu einem ganz kindischen Knoten hilflos diabolischen Hasses zusammengeschnürt. Es war so entsetzlich, so unbegreiflich, so schamlos und beschämend zugleich, daß der fremde Gast rasch die Aschenschale umwarf, die ganze Situation damit umwarf; Trivialitäten dazwischen warf, um nur ganz wo anders wieder beginnen zu können. Weg von dem bösen Infantilismus, der grünen Wut, die unbegreiflicherweise Schillers Name ausgelöst zu haben schien.

Da sagte Samossy unvermittelt, dranghaft:

„Kommen Sie mit über Pfingsten. Wir wollen auf einen hohen Berg steigen und Zarathustra lesen.“ Dann, hinterhältig, geheimnisvoll: „Man muß vom Weibe loskommen.“

Horus erwärmte sich. Seit dem Abschied von Asien hatte er keinen Sonnenaufgang auf einem Pilgergipfel mehr erlebt. Gut würde das tun. Endlich wieder.

Sie trafen sich am Bahnhof. In Deutschland sein erster. Überall auf Plakaten hingen, zwischen Ausrufungszeichen, an den Wänden lapidare Beflegelungen des Publikums und andrer Wesen: —

„Wandervögel benehmt euch!“ ... „Unterlaßt ... sonst ...!“ „Keine Kirschkerne ausspucken, sonst ...!“ „Wer unbefugterweise ... der wird nach Polizeiverordnung vom ...!“ —

Lauter hingeschnauzte Imperative. So geleitet fuhren die Leute in ihre Spiele und in ihre Muße hinein. Noch fuhren sie aber nicht. Barsche Götzen mit Schirmmützen und lächerlich doppelt zugeknöpft, hinderten vorläufig jeden, dort hinzukommen, wo er hin sollte und wollte. Erbitterte Menschentrauben hingen um zwei vergitterte Löcher, wo in Käfigen andre Götzen hockten und sich weigerten, Geld zu wechseln, oder plötzlich das Milchglasfenster ihres Käfigs den gehetzten Massen vor der Nase herunterknallten. War es endlich wieder offen, mußte jede zitternd abgequetschte Menschenbeere sich ducken vor dem Käfigloch, als kröche sie um Gnade; sie kaufte aber nur um ihr gutes Geld eine Fahrkarte, von einem, den sie dafür selbst angestellt und bezahlt hatte.

Genau wie vor dem Postamt neulich, mit seinem Bücherpaket für Erasmus! Auch dort vor einem Gitterkäfig die zuständige Sklaventraube: Männer mit Krampfadern, Frauen, Angst um anbrennende Milch in den Augen, Arbeitnehmer aller Grade, bei denen Qual marternder Langeweile mit hämischer Genugtuung, ihre Brotgeber um so viel schöne Zeit zu prellen, rang. Alle aber bekamen diese dunkelleere, geduckte Süchtigkeit im Blick, traf er den Käfig.

Endlich mit seinem Paket dem Götzen im Loch gegenüber, war dieser ans Gitter gefahren:

„Unvorschriftsmäßige Verschnürung.“

Also hieß es heimkehren, dann zurück, mit dem neuverschnürten Paket sich wieder anstellen. Diesmal stocherte der unrasierte Götze vermittelst einer Feder unter der schwarzen Nagelplatte des Mittelfingers mit dem rändigen Ring — äugte das Paket wie einen Todfeind, dann sich erhellend, grob:

„Siegel fehlen.“

„Bitte wo und wie viele?“

Der Götze blähte sich violett auf:

„Hier ist kein Auskunftsbüro, glauben Sie, ich bin da, mich mit Ihnen hinzustellen — — weiter.“

Er kam zurück mit drei Siegeln.

„Vier,“ spie es aus dem Käfig.

Er kam mit vier. Aus dem Götzenloch triumphierte es:

„Die Schnurenden sind nicht mitversiegelt.“

Schräg stand schon die Sonne, doch dies mußte ausgefochten werden, und er stürzte fort, zum fünften Mal wiederzukehren. Da winkte ihm ein alter Herr mit einer Pfundnase heimlich in eine Ecke beim Papierkorb. Er schien sie den ganzen Nachmittag nicht verlassen zu haben. — „Psh — Psh,“ sein Speichel glänzte vor ihm her. Dann hinter einem Paravent aus Wurstfingern:

„Da ham’s,“ er kramte eine Handvoll runder, gummierter Pergamentplättchen mit verschiedenen Monogrammen aus der Tasche —.

„I schau Ihner scho n’ ganzen Nomitto zu, und jetzt schau i no zu wie ‚er‘ — sein Daumen wies gegen das Loch — ‚zerspringt‘ — dös san nämli Verschlußmarken“ — er klopfte auf die Plättchen — „dö gelten statt Siegel, wanns ihm no mo net recht is, glei hinpappen — alleweil glei hinpappen, da kann er fei nix machen.“

Er duckte hämisch gegen den Götzen. Der aber mußte den Vorgang gemerkt haben, ließ bis auf zwei Vordermänner den neugerüsteten Feind an sich herankommen, dann klappte das Milchglasfenster einfach zu. Die wartende Masse ächzte vor Angst. „Abrechnen tut er,“ raunte es ringsum, und klägliche Blicke hingen sich an den Minutenzeiger, daß er nicht springe: vier Fünfersprünge und das Postamt schloß. Der Zeiger schüttelte die Augentraube ab und sprang zum ersten Mal. Das Milchglas rührte sich noch immer nicht. Die Herde knurrte bekümmert vor sich hin, bis oben voll geduckter Wut. Da wagte der Fremdling sich aus der Reihe, wand sich fechterglatt zum leeren Nachbarschalter, streckte den Kopf durch das Götzenloch und sah jenseits der niedren Zwischenwand den mit dem rändigen Karneol am Mittelfinger sich noch immer die schwarzen Nagelplatten ausstochern, während er einer kanariengelben Mitbeamteten aus dem Abendblatt vorlas. Da riß ihm die Geduld. Gut: diesem Lande Gast, hatte er sich seinen Bräuchen zu fügen, dies aber ging die Würde des ganzen Planeten an. Mit geballter Faust drang er gegen das Milchglasfenster vor, dem frechen Bureaukretin seinen albernen Scherben zerschmeißen; es war das einzig Gegebene. Welche Erlösung für die mißhandelte Herde, wenn es endlich geschah. Doch siehe da! Hatte er denn den Weltuntergang angezettelt? Die meisten flohen sofort, beherzte Männer voran, die früher am lautesten gemurrt.

„I muas nit von allm ham,“ kreischte der heimliche Obstruktionist mit den Verschlußmarken und weg war er. Eine Rotte erbitterter Weiber warf sich indes mit Megärengebärden auf Horus, nicht mehr Angst um angebrannte Milch gab es, keine Krampfadern, keine bespiene Menschenwürde, nur einen, der ihnen allen zu Hilfe kam: der gemeinsame Feind.

Ach so: sie liebten das also offenbar, bezahlten es eigens. „Pardon, ein Mißverständnis.“ Eben ganz wie in dem Masochistenbordell zu Paris. Sir Osmond hatte ihn der Kuriosität halber einmal dort eingeführt — Zuschauer beide — denn manche Kunden wünschten ausdrücklich auch Publikum zu dem etwas gewaltsamen Empfang, den sie sich bis auf jeden Handgriff genau, brieflich und um schweres Geld vorausbestellt hatten.

An jenem Abend hatte sich nun, der Himmel mochte wissen wieso, ein schlichter outsider hierher verirrt. Offenbar fehl am Ort und durchaus nicht im Bilde, war der brave Mann in heller Empörung einem Habitué zu Hilfe geeilt, als dieser, seiner innersten Neigung nach, schon an der Türe, nachdem er lange vergeblich gewartet, mit einer Flut von Injurien durch eine Beamtete des Unternehmens empfangen worden war. Der in seinem Vergnügen Bedrohte, an Ureigenstem verstört und gehemmt, zeterte nun seinerseits los:

„Wo die Ordnung bleibe — Wirtschaft —! Ob man meine, er zahle sein Geld für nichts? Sacré nom d’un petit chien marron! — Wozu unterhalte man denn sonst den ganzen Betrieb!“

Und nun begannen alle: Handelnde und Behandelte über den schlichten outsider herzufallen und warfen ihn die Treppe hinab. Sogar ein Ölreisender in Pyjamas war, wie aus der Kanone geschossen, plötzlich dabei und beteiligte sich unter Beteuerungen, daß er ganz normal sei, aber sicher noch seinen Nachtzug nach Lyon versäumen werde, an dem Strafgericht. Stürzte dann wieder zurück — — fait vite — fait vite — rief es aus dem Zimmer, machte bei halboffener Türe ein paar Griffe an seiner Dame, fuhr herein, heraus und in seine Kleider, fand zwischendurch noch Zeit, sich bei der Direktion über „cette grue“ zu beschweren. Frechheit, während seiner Liebe habe sie einen Apfel vom Nachtkästchen genommen, hineingebissen und die Kerne zum Plafond gespuckt, wie um zu zeigen, auch sie wolle eben ein Vergnügen dabei haben. Kränkend sei das! „Freche Hure“. Er spuckte aus und sauste mit zwei Musterkoffern die Treppe hinab. Vielleicht hatte er vor dem Tor gar den Hinausgeworfenen noch überholt und im Vorüberstürzen Zeit gefunden, diesen über den Grund des Treppenflugs sexuell aufzuklären.

Ein Mißverständnis eben. Nein, Horus würde in deutschen Amtslokalen nicht mehr „schlichten outsider“ zu spielen versuchen. Staunte auch nicht, als jetzt ein neues System teuflischer Netze den schäumenden Haufen, knapp vor seinem Ziel: dem Bahnsteig, abfing, daß er davor zu einem Block Unluststoffe gerann, dessen Lodenhülse unter dem Druck sich durch die Gitterstäbe spannte als platzende Ballonhaut. Drei Zentimeter jenseits, vor Himmel und Schienen, gähnten ein paar Götzen mit Zwickzangen im Leeren, vor der leeren, längst bereiten Zugsgarnitur.

Samossy, in die Ecke getrieben, bis an den Hals im Pöbel, starrte dunkel und süchtig hinüber. Hatte die Ohren zurückgelegt, spannte die Stirnhaut, röchelte dumpf und eingespeichelt glücklich. Dann wie zu schlechtem Gewissen erwachend:

„So ein moderner Verkehr hat doch etwas Imponierendes, diese musterhafte Ordnung, daß alles so klappt.“

Und sank wieder in träumende Starre.

Im Block unter der Lodenhülse aber brodelte Ärgernis: unerzogene Mütter trieben mit Püffen Anstand in ihre falschgebornen Kinder hinein, den diese wieder schreiend erbrachen. Männer rissen sich immer wieder viehisch Wege zu Büfett und Zeitungsstand. Den Raubmord von heute gierig schwingend, den Raubmord von gestern achtlos um den Leberkäs gewickelt, ritten sie dann, zurückgaloppierend, Schinkenstullen unter dem Rucksack mürbe.

Jeder Ankömmling aber stieß auf wutgerundete Rücken der Abwehr. Wieviel so üble Zweibeiner gab es denn noch, wie man selber einer war? Fassungslose Empörung! Man konnte das eigne Zahlreichsein offenbar noch nicht meistern, hatte sich schneller vermehrt als daß dem Einzelnen seine persönliche Gleichung gestattet hätte, sich dieser Verdichtung anzupassen.

Pöbeldichte ist das Infernalische hier, fühlte der Fremde; dieses geistig und leiblich einander auf die Hufe spucken. Pöbeldichte, nicht Menschendichte, denn diese schafft ja positive Qualitäten: etwa Chinas Rücksicht und Diskretion, kann doch bei Übervölkerung die unersetzliche Einsamkeit dem Einzelnen nur durch zarte und kultivierte Manieren der Vielen gewährleistet werden. Er träumte sich zurück in das südliche Blütenland, das „Land der Lebendigen“. Wieder stieg die Paganinipyramide auf, doch diesmal trug sie ihn durch Stunden und über diese ganze Fahrt hinweg, wie zum Dank für einst. Manchmal schrak er glücklich lächelnd auf, wog seinen Reichtum: „Wieviel war meiner Jugend beschieden“. Auch „geflügelte Perle“ kam.

„Ich will dich das Geheimnis des Fußes lehren und meiner älteren Schwester das Geheimnis der Blume Lan.“

Seidnes Wesen!

Sie hatte ihr Versprechen gehalten.

Aus der Zahnradbahn keuchte es jetzt, sich überrennend, dem Hotel unter dem Gipfelkopf zu, einer im Kielschweiß des Andern, Kinder und Rucksäcke schleiften nach. Im Tor schäumten Wirt und Pilgrime gegeneinander an.

„Zu fünft drei Betten — ausgeschlossen, da sorcht ja schon die Behörde jejen!“

„Aber Ludwig, ich bitte dich, Trude und Hans in einem Zimmer!“

„Bleibste in der Depandanxe — nöch?“

„Na, denn nich.“ — Und auf einmal ließ man das ganze Übernachten stehen, riß sich angstvoll um die Speisekarte — zu reservieren, was zu reservieren war. Familienväter bestanden auf fünf Kalbshaxen, Kinder grölten nach Apfeltorte; es ging um Tod und Leben, als eine Person mit angekettetem Kropf zwei graue Beete aus Krügen in den Männerarmen hereintrug.

Auf einmal waren alle Mehmkes da, samt Töchtern, Schwiegersohn und Enkel Fritz, von Krause flankiert. Dallmeyer blies schon Bierschaum in den Ausschnitt von Margrinchens rosa taffet Bluse über dem Lodenrock.

Samossy, gänzlich verwildert, umwieherte indes die Kellnerin. Doch ihre rotpunktierten Männerarme in den kalkharten Puffärmelchen waren jetzt frei und schützten sie erfolgreich ringsherum.

Langsam mit dem Speisendunst ging die Stimmung ins Breite, Qualm nikotinisierte den Verdruß. Schon war die Luft fast so dick wie zu Hause, und nahrhaft von vergastem Fett.

Jetzt hieben ein paar Tatzen voll Töne in den Brodem. Ein Auswendighämmerer begann Kraut und Rüben durcheinander zu hacken, riß dem Klavier die Stockzähne aus, schmiß sie der Dulliöh-Stimmung in den Rachen: aus einer Art Beethoven cake walk schmalzte er in ein Carmen-Meistersinger-Potpourri hinein, schlang diesem den Liebestod als Boa um und markierte dem wiehernden Saal die Glocken aus Parsifal, mit dem Gesäß auf der Klaviatur, landete dann mit einem Flohsprung mitten im letzten Satz der Neunten Symphonie, boxte sich durch bis an die Menschenstimme — — —:

„Nee, so was Gemütliches, nee so was Gemütliches,

Mir wackelt vor Lachen der Bauch,

Na siehste, dir wackelt er auch.“

Und die Sonnenpilgrime fielen mit der zweiten Strophe des Sensations-Schlagers der Saison ein:

„Vor Gericht zur Ehescheidung ist zur Sühne heut Termin.

Er in eleganter Kleidung, sie sehr schick, Hut voll Jasmin.

‚Wollen Sie sich nicht vertragen?‘ fragt der Richter ehrfurchtsvoll.

Als sie grade ja woll’n sagen, schreit ein Weib: ‚Paul, bist wohl toll!

Laß die alte Zicke türmen!‘ ‚Was, Sie Mensch!‘ schreit darauf die Frau;

Nun geht’s los mit Regenschirmen, alles schlägt ein’n Mordsradau.

Zähne, Zöpfe umherliegen und der Richter bietet Ruh.

Süße Schmeichelworte fliegen. Ekel, Lulatsch, alte Kuh!

Selbst der Richter kriegt zum Schluß im Gewühl eins auf die Nuß.

Nee, so was Gemütliches etc.“

Draußen — draußen standen irgendwo Sterne — groß und weit weg.

Um Morgengrauen barsten Wecker auf Tellern, kreischten spitze Trichter hinein. Ein finstrer Knöchel kam von Tür zu Tür, zerklopfte durch Holz hindurch Träume im Hirn. Das Hemmungslose der Aufstehgeräusche stand plötzlich mitten in fremden Zimmern. Durch Korridore schlurfte es ohne Kragen, in Hemd und Unterhosen. Wie ertrugen sie nur eine Tracht, die tagtäglich durch dieses entwürdigende Stadium hindurch mußte?

„So mach doch vorwärts — noch nicht fertig?“ — Dann wieder in seltsamem Hedonismus: „Na, freu’ Dich bis wir nach Haus kommen!“ Türen knallten; grün vom Fleisch und Bier der Nacht, stolperte es in karierten Plaids durch die silberne Frühe. Ein Pfahl im Schotterhaufen und eine Ansichtskartenbude markierten den Gipfel.

Jetzt war es so weit:

Ungezogenes Gebrüll verkündete das Herannahen der Sonne. Männer riefen: „Na also!“ Frauen: „Ach wie süß.“ Jeder rief irgend etwas.

„Ja, so ein Sonnenaufgang bleibt doch ein Sonnenaufgang,“ begann Fräulein Mehmke — dann ward es ihr bleich vor dem anämischen Hirn, sie hätte gestern nicht so viel Schlagsahne zu den Birnen essen sollen.

Dallmeyer stieß indes aus den Wolken seines Bartes die ersten Töne von Brünhildens Erwachen: „Heil dir, Sonne!“

Krause war dagegen:

„Nee, nee, lassen Se se lieber in alter Weise tönen.“

Und Margrinchen, die wieder funktionierte, ratschte weiter:

„In Brudersphären Wettgesang, und ihre vorgeschriebne Reise —“

„Reise“ — erinnerte sich Frau Geheimrat, im Rucksack kramend — „hast du am Ende das Reisebesteck vergessen? — Vater braucht den Pfropfenzieher.“

„Nun, Fritz, wie geht es weiter,“ examinierte Mehmke, „in deinem ‚Goethe für Jungens‘ hast du’s ja beinahe unverkürzt.“

Aber Fritz maulte: „jetzt is Ferien.“ Und er intonierte das Lieblingslied von jung und alt:

„Mariechen,

Du süßes Viechen,

Sie ist eine ne—te—te—te,

Diva von der Oper—e—te—te—te.“

Da es ihm seine Mutter oben verwies, quäkte er es um so lauter etwas weiter unten bei den Kühen, kam aber bald zurück, denn man leerte aus den Rucksäcken Konserven in die Natur, die Fransen von Mehmkes Plaid schwammen schon im Sardinenöl. Man kaute und schrieb zwischendurch Ansichtskarten. Männer entfalteten markig das Abendblatt; weise diesem zeitungslosen Sonnenaufgang entgegengespart. Es war voll der neuesten Pariser Sensation: dem Hosenrock. Seit Wochen flossen die Gazetten aller Parteirichtungen über von Bulletins. Würde er sich wirklich auch außerhalb Frankreichs als Mode durchsetzen? Unmöglich ... bei keiner anständigen Frau ... die Entrüstung war allgemein.

„Geiler, welscher Tand.“ Dallmeyer röhrte auf germanisch.

Margrinchen zeigte ihm, wie mühelos ihr eigner Rock aufzuknöpfen sei: entarteter Abkömmling eines verjährten Pariser Schlitzmodells, nur daß sein planlos Affenhaftes hier ins stockend Barbarische geraten war.

„Echt weiblich und doch praktisch,“ lobte Dallmeyer, „echt deutsch!“

„Auch malerisch,“ ergänzte ihre verheiratete Schwester, die den gleichen trug, und drapierte einen Batikschal über den Wettermantel und die auseinander geronnenen Hüften.

Wer ohne Zeitung, hatte anders vorgesorgt für die langen Stunden hier draußen, wo nichts los war: „Wollen wir n’en Skat dreschen?“ Und aus Handflächen sprangen karierte Blätter per Kopf auf gebreitete Lodenflecke ringsum. Manchmal zorniges Grunzen: „Rindvieh dappigs, so paß schon auf.“ — „Halts Mäu!“

Akademisch Gebildete spielten hier nicht Karten. Wußten, daß man in der Natur natürlich zu sein und sich in ihr zu lagern hatte. So lagerten sie erst angezogen, als Fremdkörper umher, begannen dann aber, als es wärmer wurde, auf grauenhafte Weise Bekleidung von sich abzustoßen, unter andauernd witzigen Bemerkungen über diesen Vorgang. Die Rhododendren hingen schon voll Hosenträger, und das schlurfende Stadium von den Korridoren war wieder erreicht; selbst halbe Akte tauchten vorübergehend auf, verschwanden wieder: nein, es war allerdings kaum anzunehmen, daß die Natur das zum sichtbarlich außen Tragen bestimmt haben sollte.

„Mal bißchen Natur kneipen.“ Auf dem Rücken liegend, hob Krause das Gesäß und klappte die Hufe in der Luft erlaubnisheischend gegen die Damen zusammen. Oben die Sonne wiederkäuend, buk er unten die gelbliche Riesensemmel seines Bauches gar, im eignen säuerlichen Speck. Der Geheimrat kraute mit dem kleinen Fingernagel seine grauen Achselhaare:

„Was Samossy, dieser Intrigant wieder ausgeheckt habe — ein Narr — ein gemeingefährlicher Narr, ob Dallmeyer den Angriff ...“

Aber Dallmeyer hatte die Stiefel ausgezogen und war längst Jung-Siegfried; dahin rollten die Stücke des morschen Speers, an Notung zerschellt. Keine Abfindung für die Schwarzalbin, jüdische Mitläuferin und was ihr entsprossen. Seine männische Kraft sollte eine reine Jungfrau erwecken ... nur wer durch das Feuer bricht ... als korrespondierendes Mitglied mußte er heuer noch in die Akademie hinein.

Kein Gruß aus der Kreatur klang in diesem Äther. Kein aufjubelndes Fluidum aus wilden, freien, vielgestaltigen Herzchen entzündete sein zeugendes Netz. Leergescheucht auch er: ein übler Doppelspat, auch er, durch den das Un-Sein hereingebrochen kam.

Kinder machten auf ein paar glücklose Kriechtiere Jagd, die nicht Beine genug gehabt, sich rechtzeitig einzugraben. Fritz kroch umher, kratzte aus dem Moos, was er an Fühlern und Flügeln erwischen konnte, brachte es in seiner scheußlichen Gymnasiastenmütze Margrinchen. Sie sonderte die männlichen Tiere aus, und er durfte sie in eine Glasflasche füllen, während das Fräulein ihr biologisches Besteck auspackte.

„Unten nicht so zerquetschen,“ mahnte sie, wenn seine Fingerstummel mit den verkehrt eingesetzten Nägeln ihr eine Kreatur nach der andern reichten. Dann sah er mit abstehenden Ohren zu, wie sie hineinschnitt.

„Immer fleißig,“ schmeichelte Dallmeyer. Er war endgültig durch das Feuer gebrochen und näherte sich bereits Margrinchen auf ihrem Fels: „Immer eifrig bei unsrer Wissenschaft.“

Vom Hotel herauf schellte es jetzt Mittag. Sie warf das angeschnittene Tier weg und begann ihre Frisur zu richten. Dallmeyer stöhnte in Stiefel hinein, Krause suchte nach Hosenträgern — Plaidfransen blieben an Uhrketten hängen, rissen Geld und Karten ins Gras, alles knöpfte sich zu — stob abwärts zu Hauf.

In die lange, neue Stille hob sich aus Gebüsch mit eins ein verschlafener Kopf, blinzelte ins Leere — begriff dann. Maßloser Schreck ging in seinen Zügen auf, er blickte wirr um sich, dann schreiend:

„Ist es schon losgegangen?“

„Wenn Sie die table d’hôte meinen, so glaube ich: ja.“

Der Europäer warf die Arme gen Himmel und wollte fortstürzen, da vertrat ihm Horus den Weg, packte ihn vor der Brust:

„Was ist das jetzt eigentlich für ein Fest heute?“

„Na, Pfingsten doch.“

„Was ist das: Pfingsten?“

Dem Andern wurde ängstlich, er klammerte sich an seine Brieftasche:

„Die Ausgießung des Geistes natürlich, oder so was Ähnliches.“ Riß sich los und machte im Lauf kopfschüttelnd vage Gebärden vor dem Hirn, wie er sie in irgendeinem verlogenen Theater gesehen.

Jetzt waren also endlich alle hinuntergeflossen, diese Ohne-Hunger-Esser, zu ihren dicken Suppen, die ihnen wieder ausbrachen als unmäßiger Schweiß, und der Gipfel tauchte frei empor; der getötete Äther um ihn aber trug keine Seeligkeit mehr. — Vielleicht das Moos? Er bückte sich: Enzian sah ihm in die Augen herauf, dann ein kleines Gelbes, das sehr keck schien, rötliche Röllchen rochen gut. Vielleicht enthielt die Erde für ihn die antäische Stärkung eines Grußes.

Wie einst zwischen die aufrauschenden Ohren Rama-Krishnas, warf er sich nach vorn, preßte das Gesicht ins Lebendige, fuhr auf und mit der Hand an die Stirn: dort klebte quer eine Wursthaut. Worin lag er da? Eine Bergwiese? — ein Kehrichthaufen? — ein Magengeschwür? — ein ungemachtes Bett? Zerwälzt ohne Wonne, in dem Frigidität, Geile und Feigheit aneinandergeklebt hatten! — War das noch Enzian oder schon ein Tintenklex, roch die zerknüllte Stanniolkugel da oder das Kohlröschen? Er suchte nach dem angeschnittenen Versuchstier der jungen Dame. Tötete das sich Windende rasch, fest, ehrfürchtig.

Samossy kam erst knapp vor der Rückfahrt aus einer Tür zum Vorschein, an der geschrieben stand:

„Nur für das Personal, Gästen ist der Eintritt nicht gestattet.“ Beim Abstieg rieb er äußerst animiert die knorpeligen Enden seiner langen Finger aneinander, als wollte er Feuer aus ihnen schlagen, wieherte in der Fistel:

„Ja — ja, man muß vom Weibe loskommen.“

Die Kellnerin hatte ihm aus kalkharten Puffärmeln mit einer roten Pranke nachgewunken, die kein goldnes Kettenarmband trug.

Zarathustra war ungelesen im Rucksack geblieben.

Abends entließ der Ostbahnhof die Ausflügler in fahle Vororte hinein. Aus einem politischen Keller stank eben strukturloses Gewölle breit in den Platz, jenem gleich, das im Hafen von Marseille, als Ballen von Mißgunst, das rhythmische Arbeiten der asiatischen Bemannung mit hämischer Überheblichkeit zu zergaffen versucht. Hier schien es in Fluß geraten, in stumme, maßlose Geschwollenheit hinein. Sah man näher zu, zerfiel es in einzelne, aus allen Angeln gedrehte graue Brocken, die torkelnd neben ihren Stiefeln gingen. Weiber hakten sich in Männer, reckten die abgebundenen Spitzbäuche, stampften auf kolossalen Füßen eine namlos verlogene Degagiertheit einher. Junge, mit wilden Papuafrisuren lachten wie aus Grammophonen. Allen stand käsiger Schweiß aus Wurst und dicken Phrasen um die eingetriebene Nase und den sackförmigen Mund.

Es waren die abstoßendsten Geschöpfe, die er je erblickt. Nicht so sehr durch das Übelgeratene selbst, nein, durch eine beispiellose Überheblichkeit weltgültigen Rüpeltums, mit der jeder gerade dies Übelgeratene, wie eine hohe Rechnung präsentierend, an sich zur Schau trug; Gesitteteren damit schadenfroh unter der Nase herumzufuchteln nicht müde ward, als wäre er das Unmaß aller Dinge.

Auch hier wieder der typisch europäische Blick: er, der nicht sah, als bliebe die ganze Umwelt dauernd in den gelben Fleck der Netzhaut gerückt.

Auf dem andern Gehsteig kam jetzt eine einsame Frau dem Haufen entgegen, strebte, dunkel gekleidet, unauffällig und still — etwas eilig auch — ihres Wegs.

Schon waren die Vorderbrocken blind über sie hinausgetappt: das ausrangierte Schachrössel mit der roten Schleife an der Spitze, einer der fanatischen Nasenbohrer aus der Russenecke im Café und ein kleiner Herr mit Zwicker von außerordentlich semitischem Typus.

Da erspähten zwei Halbwüchsige die Einsame, vertraten ihr aus der Flanke des Zugs heraus den Weg — noch probeweise — wie suchend vorerst, tänzelten von Bein auf Bein — endlich glaubten sie etwas gefunden zu haben:

„Mir scheint gar, dös is a Hosenrock.“

Und der eine blähte hämisch vorn seinen Latz, ganz wie die Crapule in Marseille vor Gargi getan. Der Unflat, der auf seinem Hals an Stelle des Gesichtes saß, stank ihm dabei aus den Augen.

Der andre, gebückt, Zigarettenstummel im eckigen Maul, tat, als inspiziere er streng von unten.

Die unscheinbare Frau hob sanfte Hände der Abwehr:

„Lassen Sie mich vorbei, bitte, ich muß nach Hause.“

Aber schon kreischte es rundum:

„A Hosenrock, a Hosenrock.“

Spitzbäuche und Papuafrisuren rissen die Mannsleute heran:

„A soa Weibstuck, a soa ganz ausg’schaamts, a soa Großkopfate!“

„A soa Madame.“

„Oin iebermietiger Adel und ein verrottetes Bürgertum“ ... begann das ausrangierte Schachrössel — —

„Eiterbeule am Pestleib des Kapitalismus“ ... fuchtelte der kleine Leitjude. „Schamlose Provokation des klassenbewußten Proletariats ... Genossen, setzt euch zur Wehr ... der gesunde Sinn des werktätigen Volkes darf nicht dulden ...“

„Geiler welscher Tand,“ röhrte es jetzt dazwischen aus dem wallenden Dallmeyer-Schädel, den Häusern angeklemmt im Trupp der Ausflügler.

Nur helleingesehene Unmöglichkeit, sich dorthin durchzuboxen, hielt Horus ab, sich gerade auf diesen reißend Verpöbelnden zu werfen, doch auch seine Glieder waren eingekeilt zwischen Mauer und Mob.

Einen Moment duckte sich Stille im Raum. Bogenlampen flirrten hoch darüber. Dann grellte ein Ton auf, dem sich in der ganzen Natur an Gemeinheit nichts vergleicht. Der infernalische Ton eines johlenden Europäerhaufens pfiff hinter dem hingespienen Zigarettenstummel drein, zwischen Fingerstumpen hinausgegellt als onanierende Niedertracht.

„Der Hosenrock muaß aver ... übern Hintern gspannt, ghörat er ihr, der Hosenrock.“ Ein Stierkerl mit Wurstpratzen hatte es gebrüllt. Temperamentlose Wut aus eiskaltem Schweinespeck gebar zuerst Moralsadismus. Die Weiber heulten Triumph. Das wieherte, spie, trampelte im Rudel heran um die weinende Frau. Unter gingen ihre Hilferufe im Gegröle des Mob. Von der Welle aus Feigheit in Frechheit hinübergespült, warfen sich die zwei Halbwüchsigen platt auf den Bauch, krochen ihr unter den Rock, hoben ihn rechts und links mit den Köpfen hoch, zerrten die Beine der Wimmernden auseinander, daß sie mit dem Gesicht platt in den Kot fiel ... Mit haßkrummen Pfoten stürzten sich die Weiber über die Liegende, rissen ihr die Kleider in die Höhe, die Hose auseinander ... der russische Nasenbohrer fanatisierte die Herde rechts und links, wie ein anspringender Hetzhund.

Vorn der kleine Leitjude kniff sich eilig einen zweiten Zwicker auf, reckte feixend den Hals, um besser sehen zu können.

Eine Megäre heulte wehleidig auf: „A soa Kanalli.“ Sie hatte sich an der Hutnadel ihres Opfers geritzt.

„Volksgericht ... Volksgericht,“ das ausrangierte Schachrössel zerriß sich fast in der Luft, doch keiner scherte sich drum. Eine Blase grüner Gier, schwoll die Pöbelgeile über ihrem Opfer, immer höher aufgetrieben von den fanatisierenden Sprüngen des slawischen Nasenbohrers.

Auf einmal stach ein Polizeipfiff die Blase an, feig und flach fiel sie zu einer Linse zusammen, gerann immer dünner, bis das Straßenpflaster aus ihr aufstieg, in dem ganz allein, in Qual und namenloser Scham, sich die gemobte Frau mit grellentblößtem Unterkörper wand.

Außer ihr fand die Wache eigentlich niemanden mehr zum Verhaften vor. Zwei Polizisten führten die Halbohnmächtige ab, ein Dritter bückte sich nach dem Hosenrock. Mit strenger Hand hielt er das „Ärgernis“ in sittlichem Ekel weithin von sich ab. Wies es anklagend rundum, begann plötzlich zu gluren, zu grinsen, und alle rings im Kreise grinsten mit. Man schlug sich auf die Schenkel vor Vergnügen.

Das war ja gar kein Hosenrock.

Auf die entleerte Straße schlich es sich jetzt hinter einem Häuserblock schlacksig heran, alle Körperknochen eckig unter die engen Augen gehäuft: der Hetzhund des Haufens warf sich platt nieder, windelweich auf einmal. Begann das glitschige Frauenblut aus dem Straßenschmutz zu saugen, umarmte das Pflaster, quetschte seine Seele wie einen verschnapsten Schwamm über den Brei aus Blut und Kot, in greinendem Gefasel, menschheitsduselnd aus.

Da stieß ihm Horus Elcho in sternblanker Wut den Fuß ins Rückgrat:

„Auf — Schwein — aufhören mit dem sentimentalen Dreck.“

„Bruderherz,“ harnte es flennend naß von unten herauf — „laß dich umarmen, Bruderherz, wir sind ja alle gleich, mein Seelchen, — alle, alle gleiche Menschen.“

„Nein — Gott sei Dank — nein!“

Und der goldäugige Exote schritt auf den andern Gehsteig. Der Erdradius war nicht so lang, als jetzt diese Vorstadtstraße breit war.

Viele Stunden lief er noch durch die milde Nacht, in den Anlagen Fluß auf und ab, mit heißen Adern. Als schwefelige Blitze standen ihm die Nervenfäden um das bewölkte Herz. Und dann trieb ihn Trotz unwiderstehlich, ein Stück Maskerade seiner Zugehörigkeit zu dieser weißen Köterrasse nach dem andern wegzuwerfen — einfach weg ... Erst die Fußschachteln in eine Wiese, den Rock ins Wasser, den albernen Stoffkopf hing er an einen Strauch, kam zurück, drehte ihn um zu einem Nest zwischen drei Astgabeln; vielleicht diente er so einem anständigen Vogel zur Brutstatt — tat es in vagem Trieb, süßes Leben als Gegengewicht zu fördern.

Ins silberduffe Gras auf die Flanken gekauert, überdehnte er dann die zehn Gliedspitzen wie ein gähnender Jaguar — wehende Halme streichelten den Stromkreis zu, leiteten das ausgetriebene Übel erdwärts, da löste es sich über die makellose Riesenkugel hin auf.

So mochte es zwei Uhr geworden sein.

„Das gibts nicht da. Das ist Vagabundage, — im Freien darf nicht übernachtet werden.“ Ein Ordnungsgötze voll Blech am Kopf türmte schwarz und lotrecht in die Natur.

Langsam drehte er sich auf den Rücken, sah was zwischen ihm und dem Polarstern stand, bekam einen gelachten Wutanfall.

„Also nur im Unfreien darf hier übernachtet werden? Jetzt sagen Sie, was darf man in dieser europäischen Dreifalt von Schlachthaus, Irrenhaus und Zuchthaus denn eigentlich? Leben verhunzen, was? Natur verhunzen! süße Tiere zermartern! Pöbel züchten! Bosheit mästen! Moralsadismus treiben? Kurz, auf jegliche Art ein Schweinkerl sein: das darf man. Will aber einmal der Arme eine Nacht lang Sterne statt Wanzen über seinem Kopf haben, so heißt ihr das Vagabundage. Oh eure Lügenworte. Eure schiefgemaulten Lügenworte! Da laufen Asphaltstraßen, rein wie Schnitte an einem Tortenüberguß durch eure glatte Welt. Was hilft’s, sind sie allesamt mit bürokretinistischem Sekret überzogen, nur im Härtegrad, nach den Ländern wechselnd, von Eisenbeton zu fromage de Brie: stinkender wenn weicher — drückender wenn härter; lebensundurchlässig alle.“

„Habt ihr denn so ganz des göttlichen Kontinents, aus dem ihr kamt, vergessen? Seine jahrelangen Straßen sind staubig und trockenen Büffelmistes voll, der in die Augen brennt. Über diesen Büffelmist aber schreiten mit Mantel und Schale Hunderttausende in die Vergottung hinein — frei und unbefragt. Hier an dem weißen Rand ins Nirvana tut jeder das herrlich züchtende Joch der Kaste von sich ab, das ihn herangeleitet, steigt aus der tiefen Farbenmulde seiner Art und verbrennt zu Gott, wandernd im Anhauch dieser freien Straßen.“

„Sie gehen jetzt mit,“ sagte das Triefauge des Gesetzes, noch uneins, ob das mit dem Büffelmist Amtsehrenbeleidigung oder nicht.

Im Polizeigebäude hingen an verwanzten Wänden schwachsinnige Zettel in Rahmen herum: „wir wollen helfen, nicht strafen“ — „nach eignem Sinne leben ist gemein“ und ähnlicher Fibelschund.

Daß er Seidenwäsche aber keine Stiefel trug, rettete die Situation. Auch das Pfingstfest.

„Nun ja, der Feiertag! total besoffen eben — aber sonst ein feiner Herr.“ So ließ man den kuriosen Fang nach Abnahme seiner Personalien gehen, machte ihn aber auf die Folgen eventueller doloser Irreführung der Behörden aufmerksam.

Europa hatte nur eben probeweise ein paar Maschen ihres Jusgarns ein bißchen um ihn zugezogen, so zum Spaß, nur um zu zeigen, was sie alles konnte. Ließ ihn dann wieder laufen, — weiter in gesenktem Netz, das über die klebriggespannte Ballonhaut dieser ganzen aufgetriebenen Welt schleppte.

Seit der „Hosenrock“-Episode begriff er mit eins den Geldkrampf aller. Ihre schlotternde Angst. Das an eignem oder andrer Geld Kleben, hemmungslos, zum Gemeinsten bereit, aber nur mitschwimmen dürfen im Oberflächenhäutchen, sich mit Dreck dort anpappen — oh, alles — nur nicht heruntergestürzt werden zu diesem aus seinem stinkenden Brodem aufschnappenden Mob.

Schicksal eines Beutetiers war Adel und Wohltat dagegen.

Hier hieß arm sein ja nicht in veredelnde Einsamkeit wandern, mit vollkommenen Tieren frei durch Flur und Licht spielen, die Diademgestirnte zur Genossin haben, bei Ganapati Sastriar hocken, mit dem Schikari schweifen, im sanften Gewimmel blauer Kulis unbelästigt leben oder sterben, unbeschnüffelt von der taktlosen Tyrannei behördlichen Humanitätsschnauzentums.

Ging es einem Hindu schlecht, umgab ihn immer noch Distinktion der Gebärde, Zartsinn, Niveau der Kaste, durch die das Individuum mehr — schon dem Typus nach mehr ist — als es aus sich selbst zu sein vermöchte. Arm sein hieß daher nur: Form der Gesittung tauschen.

In Europa aber hieß es, dank diesem sadistischen Wohnzwang, wirklich in der Hölle sein: bis zum Tod eingesperrt leben mit Roheit, Bosheit, Intoleranz und Gekeif, umlauert von hämischer Neugier. Hieß statt süßer Kinder falschgeworfene, verzogene, gröhlende Mißgeburten haben, hingesudelt im Fuseldunst, denn nie könnten klare Sinne den Ekel vor erotisch so ungepflegten Weibern, wie sie dem Armen hier einzig zur Verfügung stehen, überwinden.

Hier ohne Geld sein, hieß also für einen Menschen von nur durchschnittlichem Feingefühl: Selbstmord. Nicht Entbehrungen der Armut, des Niveaus der Mitarmen wegen. Denn so etwas wie einen entrassten europäischen Mob, das hat ja die Welt noch nicht gesehen, hat es nie und nirgends noch gegeben! Lag es an Löhnen? Lebenshaltung? Keine Spur. Gab doch das Volk hier nebenbei für Alkohol und Tabak täglich mehr aus, als ein Chinese für den Unterhalt einer ganzen Woche. Der kroch morgens aus seinem Kanalloch, eine halbzerkaute Ratte zwischen den Zähnen und war doch ein Wesen an Courtoisie und Herzenshaltung von den Höchsten seiner Rasse, einem Li-Hung Tschang etwa, nicht gar zu sehr verschieden, übte wie sie die Selbstzucht eines komplizierten Zeremoniells, lebte wie sie das „Buch der Riten“ und die „Religion des guten Bürgers“. Lag es an psychischer Qual? Beweis, daß diese europäische Masse nicht wirklich litt, war ihre Taktlosigkeit: erste Frucht des Leidens ist der Takt.

Eine unbegreifliche latente Bosheit bildete hier durch alle Schichten hindurch Knoten, um gelegentlich an der Stelle geringsten Widerstandes durchzubrechen: dem Sehen.

Aber warum sahen sie nicht? Warum waren alle am hellsten Sinn verkümmert, aus dem die Liebe erfließt und die Vision? Konnten Hose von Rock nicht unterscheiden, echt von unecht, Kunst von Kitsch, fielen und legten einander rastlos wechselseitig optisch herein.

Gargi, die nie Fragende, hatte einmal schüchtern gemutmaßt.

„Ist es ein Gelübde?“

Meinte den ersten Backenzahn, den die meisten golden trugen, neben vorderen Porzellankronen.

Nein, sie glaubten eben, man sehe das nicht, weil der Zahnarzt, der auch nicht sah, es beteuerte. Ein Blick hätte das Gegenteil erwiesen, aber es war eben kein Blick da. Anfangs konnte er in Paris immer wieder über die schleierlose Roheit erschrecken, mit der Menschen in Sehweite übereinander medisierten, vermeinend, das merke sich nicht, außer Hörweite zu sein genüge. Lang hatte er gebraucht, um an solch optische Verstumpfung faktisch glauben zu können. Alles was die Europäer in ihrer Biologie von den niedren Tieren behaupteten, war wirklich ganz richtig — auf die Behaupter selbst angewendet. Reagierten auch so automatisch mechanistisch, wie sie es den Amöben zuschrieben; auch ihre Fundstelle (das Heim) der einzig völlig reizlose Ort, wo sie ihr Futter fanden.

Hing mit dem flächlichen: oberflächlichen Sehen nicht auch die Überschätzung des „Malerischen“ hier zusammen? Welt der niederen Tiere, die sich in verschieden belichtete Flecke auflöst; noch nicht aufgestiegen in die dritte Dimension. Daher vor allem der Hang ihrer überkleideten konturscheuen Weibchen zur palettenumschweinzten Aura. Dieser ewige Kunstschwatz und in Bilderausstellungen Rennen der Europäerin, was sie gar nichts anging, statt was sie unmittelbar angehen sollte zu beherrschen: die Raumschöpfung des Heims. — Schaukraft fehlte eben: Durchschauung des dreifältig Gefügten: Architektur.

Ja, die Überschätzung des „Malerischen“ lebte von zerronnenen Weibern.

Nur konturreine Maschinen waren hier auch zu würdigen Behausungen gelangt. Er hatte sich die modernsten Architekturwerke kommen lassen, da herrliche Bahnhöfe, Silos, Fabriken, Betriebsstätten gefunden, dabei gedacht:

„Wäre ich eine Turbine, ließe ich mir mein Heim von Behrens einrichten.“ Auch Rösser und Exkremente hatten es gut. Ställe und Kanäle gelangen manchmal wunderbar. Nur Menschenheime im Sinn und Rang des Hauses Elcho fehlten, denn es fehlten die Menschen dazu. Langsam begann er die Leistung seiner Mutter zu begreifen. Diese jahrelange, zähe, unbeirrbare Treue zum Ideal. Das einzig im höchsten Sinne europäische Heim war am Herzen des Dschungls erschaffen worden.

Welche Selbstverlöschung, ihn in diesem Werk Europa anbeten zu lassen, statt sie. Wie weise lang hatte sie ihm die sprühenden Sporen dieser Illusion bewahrt, die ihn hinaufgebäumt aus goldner Sinnenmulde in die herbe Kraft lotrechter Geistigkeit.

Langsam drehte sich die ganze Kuppel an seiner Jugend Wunderbau in einen neuen Aspekt hinein. Manche Absicht klärte sich, überraschend gelöst — mehr noch blieb vieldeutig, doch war er ohne Ungeduld. Zog wie auf Wolken über diesen Kontinent dahin, unangreifbar in seinem Kraftfeld: fern, stark und unberührt als ein Schauender.

Seit der Hosenrock-Episode schnitt er Dallmeyer. Schämte sich zu sehr für ihn. Saß denn bei so einem kastenlosen, durch ewige Bastardierung Entzüchteten keine einzige Hemmung, keine einzige Qualität mehr generationenfest? Hatte man so einen Mischkerl allein, war er meist ganz leicht besserem Niveau zugänglich, schon seiner affenartigen Charakterlosigkeit wegen, mimte unter der Hypnose eines Vornehmeren Verständnis ohne Heuchelei, um sich dann, bei der ersten Probe, fiel Einzelverantwortung weg, der Masse: „dem Vieh ohne Großhirn“ gleich zu benehmen. Das erklärte dieser furchtbaren Vibrionen der Verpöbelung Virulenz und leichte Übertragbarkeit auf scheinbar Immune. Immer waren eben hier die wichtigsten Dinge einem schauerlichen Zufall, einem schamlosen Ungefähr ausgeliefert. Heiratete man etwa eine Frau, die einem gefiel, wünschte sich gleiche Kinder, krochen vielleicht Wechselbälge aus ihr, nicht von Hexen in der Wiege, von üblen Tanten im Mutterleib vertauscht, weil der Typus nicht feststand, die Frau selbst nur ein freundlicher Zufall war, aus einem qui pro quo gemischter Akzidenz zusammengewürfelt.

Natürlich hatten sie wieder aus ihrer torkelnden Planlosigkeit eine wissenschaftliche Theorie gemacht. Samossy versuchte ihm einmal so einen Humbug mit dem Ahnenverlust einzureden: da das Individuum die Summe aller Eigenschaften und Erfahrungen seiner sämtlichen Vorfahren sei, bedeute jede Inzucht: jeder Vater und Mutter gemeinsame Ahne eine Verminderung des möglichen Eigenschafts- und Erfahrungskomplexes: Mensch. Je heterogener daher an Stamm, Rasse, Kaste, Blut, Heimat, die Vorfahren, desto reicher die Nachkommen.

Da hatte er nicht mehr an sich zu halten vermocht:

„Mein Gott, was für ein Verköterungsschwindel! Auf Stoßkraft und Richtkraft der Erbmassen kommt es doch an, auf Qualität und Intensität, nicht auf einen möglichst hohen Kehrichthaufen von Anlagen und Erfahrungen, die, wenn nicht gleichgerichtet wie Eisenfeilspäne im magnetischen Feld, einander hemmen, schwächen, aufheben, und das Endglied ist dann schließlich nichts als eine ganz volle Null. Bei euren Pferden und Hunden wißt ihr doch recht gut, worauf es ankommt, wollt ihr hohe Geldpreise gewinnen aus gezüchteter Form und Leistung. Höchstens, daß fremdes Blut bei gleicher Kaste möglicherweise vielseitige und doch gleichgerichtete Erbmassen ergibt.“

Samossy hatte langsam das hilflos verschrobene Schülergesicht bekommen, wieherte dann wie erwachend manisch in der Fistel:

„Vorfahren, was Vorfahren! Der einzig vernünftige Fundort der Spezies Mensch ist doch die Drehlade. In einem Findelhaus aufwachsen!“ Dann schadenfroh geduckt sein Unvermitteltes:

„Man muß vom Weibe loskommen.“

Horus gedachte Lizzi Beermanns, der Raeburn girls, Margots; ihrer weihelos beschnupperten und doch versperrten Körper, jahrelang saumseligen Reflektanten von trägen Müttern hingeködert:

„Eltern haben ist ja höchstwahrscheinlich ein Unglück,“ bemerkte er, „keine haben aber ganz bestimmt eins. Auch soll ja das Heim eine Art Placenta für das geborene Kind bedeuten.“

Sagte es eigentlich vorbei an dem hohen Vierziger da, dem Kinderlosen; dieser Frage Brennen wohl zwiefach Fernen. Hatte er überhaupt Anverwandte? Wer stand ihm nahe? Wer war ihm Freund? Fachfeinde überall. Blieb das Weibstück mit dem Kettenarmband sein einzig menschlicher Verkehr? Vor Gargis Erscheinung wurde er linkisch, voll gereizten Unbehagens. Wußte mit ihr so wenig anzufangen wie ein Mandrill mit einer Kamee. Da frug Krause eines Tages aus kondolenzbeflissenen Mundwinkeln:

„Wie geht es Ihrem Vater?“

Samossy machte eine frivol hoffnungslose Geste:

„Von Tag zu Tag besser.“

Krause, mit verkniffenem Zwicker, bekundete Freude. Man habe Fälle gesehen, wo Wassersucht jahrelang fast stationär geblieben ... Das Geschäftsjubiläum würde also doch in der elterlichen Villa gefeiert. Und Horus erfuhr, daß dieser Vater Gründer einer seit fünfzig Jahren bestehenden Kattunfabrik und offenbar sehr wohlhabend war. Er gedachte jenes Armschwunges zwischen Abort- und Küchengeruch: „wohlbestallter Professor? Das ist der Stall, den ich mir leisten kann.“

Nun kam polternd und verlegen auch an ihn die Einladung zu dieser Feier im Vaterhaus.

„Man hat dort schon so viel von Ihnen gehört“ — dann halb entschuldigend: „nicht durch mich.“

Er lauerte, schülerhaft geniert, gelangweilt und wieder ängstlich um ein Ja. Schlug, als er es hatte, sein zerfahrenes Gewieher an und empfahl sich.

Der Mann war unberechenbar. Doch machte das den Verkehr nur ermüdender, nicht reicher, ließ nie schöpferische Kontinuität der Stimmung sich entwickeln, es sei denn in seinem engsten Fach.

 

Man stand leer herum in der großen Backsteinvilla. Wartete auf das Jubiläumsessen.

Manchmal beklopfte ein zugereister Geschäftsfreund, geneigten Ohres, mit dem Zeigefingerknöchel prüfend den bronzenen „Lauscher“ in der Ecke auf Metallstärke hin, oder versuchte Signaturen unter Ölbildern zu entziffern. Niemand saß. Unverrückbare Fauteuilarrangements hinter Tischen waren von vornherein dagegen, nur zwei Rollstühle an den Salonenden, um die wechselnde Gruppen sich stauten, schienen besetzt.

In dem einen ragte ein riesiger Greis aus Stein und Wasser.

Die Beine zu Blöcken geschwollen, trugen flach auf den Knien violette Hände, schwer wie Porphyr. Bis an die Hüften war er zu einem mit Wasser gefüllten Sarkophag geschlossen. Darüber kämpfte das harte alte Bauernherz zäh um jeden Zentimeter Leben, gegen das innere Ertrinken an. Ganz oben, aus blutigem Blauauge troff schon immer ein wenig Feuchtigkeit über, sickerte die fahlen Wangenfalten herab. Er biß in seinen weißen Bart vor barbarischem Starrsinn: da sein, nur da sein. Fuhr manchmal aus den schauerlichen Vorgängen in sich auf, zu wahnwitziger Eitelkeit über die eigne Zähe. Sah allen der Reihe nach in die Augen, trotzig, lauernd, wie ein erliegender Gladiator, im Gefühl drohend gesenkter Daumen ringsum.

War er vor Lebenswut hellhörig geworden an den schweren Birnenohren?

Seine blutigen Blauaugen drohten leuchtend hinüber zu dem andern Rollstuhl am Ende des Saales.

„Oh, er ist schon kalt bis zu den Knien,“ schmunzelte die greise Frau mit ruhiger Genugtuung Horus Elcho zu.

Ein goldnes Kettenarmband klirrte erledigend an der ganz verkrümmten Hand. Der restliche Körper hing: ein gerunzelter Strick, an den Enden mit Gicht verknotet, im Sessel. Hinter ihr stand ein erloschener Mensch mit geduckten Augen: der zweite Sohn und nunmehr Inhaber der Fabrik. Ihm schien auch die zerpatschte Frau daneben mit den drei kleinen Kindern anzugehören. Das älteste, einen schweren Bleichkopf im Phantasie-Matrosenkostüm aus Satin, hielt sie zwischen den Schenkeln aufgepflanzt, memorierte angstvoll etwas Gereimtes mit ihm und es zupfte an seinen Nagelwurzeln. Jetzt hatte es zu tief geschält, heimlich wischte der blutende Finger über den weißen Seidenslips.

Nun trollte sich Oskar Samossy, fast ebenso verdonnert wie das satinene Kind, hinter den Greis aus Stein und Wasser. Und beide Brüder schoben die elterlichen Rollstühle an die Têten der Speisezimmertafel.

Drei Menus wurden gereicht — nacheinander. Das erste wie es der Gründer der Fabrik anfangs gehabt: dicke Suppe, Erbswurst, Käse. Dazu Bier. Beim zweiten, dem 25jährigen Bestand entsprechend, erschien schon Fisch, Kalbsbraten mit Salat und eine süße Speise. Dazu leichter Mosel. Das dritte endlich zeigte voll und ganz, was man sich der heutigen Bilanz entsprechend leisten konnte, durfte und sollte. Begann mit Austern und wollte schier kein Ende nehmen an primeurs und durablen Weinen. Vom sechsten Gang mit Champagner aufwärts, stand immer jemand auf, der nicht stehen konnte, und sprach, ohne sprechen zu können: etwas, das man sich wohl würdig, witzig oder feierlich zu denken hatte. Manchmal wurde dazwischen „hoch“ geschrien, manchmal nur am Ende. Männer erhoben sich dabei halb. Frauen saßen ganz da; schienen einzig und ausschließlich zum Sitzvorgang geschaffen. Die Schwüle stieg. Eine Dame lüftete ihr Kollier.

„Perlen machen so heiß, besonders echte.“

Eben schloß ein Stehender:

„Nichts lobenswerter am Manne als recht reinliche Triebfedern.“

Über die Enden des Beifalls weg schnatterte es aus einer arroganten kleinen Person laut in ihren Tischherrn hinein:

„Und denn is mal so’n schmieriger kleiner Jude gekommen und hat gefragt, ob ich ihn heiraten will. Waschen Sie sich erst, hab’ ich ihm gesagt. Na, sehen Sie, dort sitzt er — das ist mein Mann.“

Der riesige Greis aus Stein und Wasser war unterdessen wieder ganz in die schauerlichen Vorgänge seines Inneren versunken, wies mit Grauen alles Getränk weit ab, würgte nur ein wenig Kaviar auf Zwieback hinunter, lauerte ihm schweigend nach. Langsam stieg Triumph in den blutigen Blaublick. Dann aber trieb die aufdrängende Flüssigkeitssäule das Kaviarbrötchen aus dem erstorbenen Magen in den Schlund zurück. Triumph im Aug oben zerfiel. Der Hausarzt näherte sich rasch — eben jener Mann, den die arrogante junge Person zu ihrem Gatten reduziert — öffnete ihm rasch das Frackhemd, bohrte eine Spritze mit irgend etwas: Kampfer oder Theobromin dem Aufstöhnenden unter die lederzähe Haut. Dunst, Schnaps und Schwatz hatten den Vorgang nahezu vernebelt.

Eben stand Dallmeyer da, spann aus seinem Bart heraus einen Phrasenstrang über das dreifache Festessen hin: wie der verehrte Gastgeber hier, erfolgreicher Mann der Arbeit, Leuchte modernen Handelsgeistes, unentwegt die Fahne des Idealismus hochgehalten, und wiewohl selbst geistig und körperlich noch ungebrochen — als zärtlichster Vater dem einen Sohn den Fruchtgenuß seiner Lebensarbeit überlassen: dem Nachfolger solcherart in selbstloser Weise ein frei fröhliches Schaffen aus dem Vollen gönnend, seinen Erstgeborenen hinwiederum auf das Großzügigste der hehren Forschung geweiht habe, gleichsam mit dem Öl seiner Bilanzen das reine Licht der Wissenschaft speisend. Und Dallmeyer schloß mit einem „Hoch“ auf seinen genialen Kollegen und der Hoffnung, daß dessen epochaler Bedeutung — in engstem Kreise längst neidlos anerkannt — endlich auch offiziell die verdiente Sanktion durch ein Ordinariat und Aufnahme in die geweihten Hallen der Akademie zuteil werden möge.

Samossy sah ihn an und er verschluckte sich.

Der greise Riese war unterdessen an der Injektion aufgelebt, stieg aus seinen Gebresten wieder empor, diesmal in eine Art erzieherischen Tropenkollers. Schüttelte herrisch das Haupt bei der Wendung vom „Fruchtgenuß“ und „Gönnen aus dem Vollen“:

„Sind froh, wenn sie trocken Brot haben.“

Er sah gerührt über die eigne Härte auf die Familie seines Nachfolgers, wie feindliche Erwachsene auf ein gedemütigtes Kind blicken. Und dann hub dieser Memnonsblock auf einmal an in greisenhafter Geschwätzigkeit zu tönen:

„Ja, der Idealismus“ — er konnte nur gradaus sprechen, doch galt es wohl Horus Elcho, dem exotischen Ehrengast an seiner Seite — „und dann immer möglichst billig kaufen und teuer verkaufen, das habe er den Jungens von früh gepredigt. Aber der Idealismus, der sei ihnen direkt eingebläut worden, fast von der Wiege an. Schon im vierten Jahr habe der Oskar die längsten Schillerschen Gedichte auswendig heruntersagen müssen, wo es besonders edel zuging: die Bürgschaft, den Drachenkampf, den Taucher. Ein einziges Steckenbleiben und er habe ihn jämmerlich durchgehauen.

„Das Lied an die Freude, das konnte er sich lang halt gar nicht merken.“ Der Greis lebte in Erinnerungen auf.

„Da durfte er schon gar keine Hosen mehr dabei anhaben, drei spanische Rohre sind für dieses einzige Gedicht draufgegangen. Mit fünf Jahren konnte er dann auch schon die ganze Glocke. Eine vorzügliche Schulung fürs Gedächtnis nebenbei, weil ja der Oskar ein berühmter Gelehrter werden sollte, so habe er es schon bei der Geburt bestimmt. Leider sei ja nur Mathematik draus geworden, darauf gebe er nicht viel, das entziehe sich seiner Kontrolle. Chemie, große Erfindungen wären besser gewesen. Philologie und so, das habe er von vornherein verboten.“ Der Greis hielt nichts von klassischer Bildung:

„Siebzig-Einundsiebzig war doch viel blutiger,“ sagte er mit Tränen des Stolzes im Aug.

„Wozu Griechen und Römer, wozu immer noch diese Lappalien bei Homer lesen, das kann man ja gar nicht vergleichen mit unsern modernen Schlachten.“

Zu Ende des dritten Menus wurde das satinene Kind vor den Großvater aufgestellt, reichte linkisch eine Rolle hin, die in zackichte Papierspitzen auslief: Glückwunsch stand vorn in verzitterter, übergroßer Schülerkalligraphie.

„Gradstehen,“ flüsterte die zerpatschte Frau.

Nun begann es, Nagelwurzeln zupfend, den Hymnus: „An die Freude“ aufzusagen. Angst rann ihm die Beine hinab unter dem blaublutigen Tyrannenblick des Alten. Einmal stotterte es, stockte ganz. Gierige Härte trat lauernd in das alte Steingesicht dort oben, gleichzeitig hob drüben die greise Gattin im Rollstuhl ihren Krückstock, als wolle sie ihn dem Manne hinüberreichen, dabei klirrte das goldne Kettenarmband, und sie schob es die ganz vergichtete Hand auf und ab. Es war nur ein Augenblick gewesen, wie aus uralter Gewohnheit heraus. Dann schrak sie zur Wirklichkeit zurück: ein Enkel — große Gesellschaft! Auch ratschte das satinene Kind schon wieder weiter. Horus aber hatte diese Sekunde lang, inmitten der Tafel zwischen den Rollstühlen, Oskar Samossys Gesicht geschaut: das Gleiche wie damals, als Schillers Name zum ersten Mal zufällig fiel: ein ganz kindischer Knoten hilflos diabolischen Hasses und doch vager Süchtigkeit voll.

Es war entsetzlich. Schamlos und beschämend. Der Goldäugige ließ eine Gabel fallen, bückte sich weg, tauchte fort aus dem Augenblick, bis die Gesichter oben wieder neu geworden waren. Hatte begriffen.

Gleich nach aufgehobener Tafel wollte er gehen. Im Rauchzimmer hielt ihn Dallmeyer an, vor öliger Schnapssüße hemmungslos:

„Was hat der alte Gauner gemurmelt, wie ich das mit dem ‚zärtlichsten Vater‘ und ‚Schöpfen aus dem Vollen‘ gesagt habe, Sie saßen ja neben ihm?“

„Etwas recht Unverständliches. Klang wie: ‚sind froh, wenn sie trocken Brot haben‘.“

Dallmeyer quetschte die Importen im Kistchen der Reihe nach wählerisch durch:

„Recht verständlich für den Eingeweihten, Verehrtester. Der Schnorrer von Sohn hat wirklich nicht Brot auf Hosen. Die Butter vom Brot hat sich der Alte selber reserviert; ihm das Inventar viel zu teuer angehängt, vorher fast das ganze Betriebskapital aus dem Geschäft herausgezogen, schließlich sich noch ein skandalös hohes Fixum jährlich ausbedungen, so daß der Nachfolger seit Übernahme der Fabrik abhängiger von ihm ist als je zuvor. Ab und zu, wenn er ihn die Kinder durchhauen läßt, darf er sich für sechs Hemden Kattun aus dem eignen Betrieb nehmen.“

„Warum ist der Sohn auf solche Bedingungen eingegangen?“

„Weil er ihn erst ein Leben lang mit dieser Nachfolgerschaft hingehalten, ihn verhindert hat, sich rechtzeitig eine andre Existenz zu gründen. Soll er jetzt mit fünfundvierzig und drei kleinen Kindern in der Fremde von vorn anfangen? Überdies droht dann noch Enterbung. Schließlich hat er sich gedacht: ein jährliches Fixum bei der Wassersucht? Warum nicht? Aber das alte Luder ist ja zählebig wie ein Krokodil.

Den meschuggenen Oskar hat er wieder anders am Hosenbund. Nährte in ihm von früh auf die Illusion, der väterliche Wohlstand gestatte es ihm, sich ohne Rücksicht auf den Mammon einer reinen Gelehrtenlaufbahn zu widmen, die ja auch der Ehrsucht des Alten schmeichelt. Jetzt läßt er ihn täglich seine Abhängigkeit fühlen, gibt ihm Taschengeld wie einem Primaner. Dabei — haben Sie bemerkt — grüßen sich die Brüder kaum, weil der Alte den einen immer glauben macht, er setze ihn auf den Pflichtteil zugunsten des andern. Famose Deckung übrigens, dieser Enterbungsschwindel für unsern Primzahler, um von seinem Frauenzimmer nicht zum Altar geschleppt zu werden. Die hütet sich jetzt, ehe der Sarg vom Alten nicht zweimal abgesperrt und der Schlüssel an ihrem Kettenarmband hängt — neben meinem verehrten Kollegen von der vierten Dimension, der schon lang dort zappelt. Betamte Goite.“

Dallmeyer war stolz auf jeden neuen Jargonausdruck, den niemand verstand.

„Warum handelt dieser Greis eigentlich so bestialisch an seinen Kindern?“

„Bestialisch? Der hält das für Ethik, Reckentum und Idealismus, und sich für ein musterhaftes Familienoberhaupt alten Schlages. Edelpatriarch: vor Weisheit streng, schirmt in verrotteten Zeitläuften Zucht und Sitte. Rauhe Schale, nobler Kern ... eh schon wissen. Jede Schäbigkeit geschieht aus Pflichtgefühl, denn er ist noch eitler als er geizig ist; Bauernklotz mit Schillerphrasen. Immer abwechselnd stolz und neidisch, daß es seine Söhne besser haben sollen als er.“

Dallmeyer leerte noch einen Likör und steckte eine frische Importe an. Horus staunte über solch ungewohnten Geist. Was Dallmeyer sprach, war immer teils klug, teils albern: klug was er über andre, albern was er selber meinte.

Man verabschiedete sich vom Herrn des Hauses. Dallmeyer wieder ganz Biederkeit, hielt eine lockichte Rede, schloß mit der Hoffnung, man werde sich in diesen gastlichen Räumen noch zum seltenen Fest der diamantenen Hochzeit treffen.

Der Greis aus Stein und Wasser schüttelte stiller Genugtuung voll das Haupt, dann mit erledigender Geste hinüber zu der Greisin zwischen Gichtknoten:

„Oh sie ist schon kalt bis zu den Knien.“

Oben troff wieder ein wenig Feuchtigkeit aus dem Auge über, sickerte die fahlen Wangenfalten hinab.

Es war das Letzte, was Horus Elcho von ihm sah. Eine Woche später schoß Oskar Samossy eines Abends aus der Telephonzelle des Cafés. Schrie auf nach einem Auto, er, der fanatische Renner.

Wie damals auf der Straße frug Krause:

„Wie geht es Ihrem Vater?“

„Mein Vater stirbt.“ Dann schlotternd: „Er darf nicht sterben, sonst bin ich verloren.“

Nichts glich der frivol hoffnungslosen Geste damals: „Von Tag zu Tag besser.“

Am nächsten Morgen fuhren Elchos nach England zu Sir Osmond und Lady Cadogan.

 

Sie gingen im milchblauen englischen Juli auf den Waldwiesen des Hydepark. Die milde Riesenaue gepflegter Freiheit um sie schien angenehm leer zu blühen, und barg noch vielerlei Leben. Ab und zu am Horizont, auf einem Sessel, steht ein Herr mit verdorrtem Zylinder und redet, um ihn die Scheibe der Horcher wie das Blatt um den Lotos. Einer erläutert das Gesundbeten — dem andern dünkt es im Patentamt faul. Carson läßt sich zu oft photographieren, und regiert wird man schon miserabel. Unbelästigt aber weiden die Schafe ringsum, und zwischendurch führt die Hundheit ein ganz glückseliges Leben für sich. Jeder darf sprechen. Keiner muß zuhören. Niemand ist an der Leine. Nicht einmal der Mensch. Vor dem Schilderhaus steht, siegellackrot, ein Mann der Garde. Das prachtvoll überflüssige Geschöpf trägt einen ausgestopften Bison auf dem Kopf, eine Sperrkette vor dem Gesicht, Edelmetall an der Leber und starrt von Gerät, vermutlich erbeutet in der Schlacht bei Hastings. Der praktisch Denkende hat das Gefühl: man kann den Mann ruhig mit einem Taschenmesser langsam abschneiden, er ist ganz wehrlos vor Uniformierung. Aber schade drum.

Plötzlich ließ es Gargi wie Schwalbenflügel über ihre Augen stürzen, sah zur Seite und begann zu laufen ... Er lachte:

„Keine Angst. Gar nicht so arg, mein Nervifein!“

Es waren die harmlosen vier dorischen Säulen am Serpentine lake. Sie hatte sich gewöhnt, drohten irgendwo Säulen, gar nicht erst hinsehen, rasch die Wimpern gesenkt und laufen. Denn wie an fein und freistehender Persönlichkeit geringer Fehl bereits schwerer erträglich ist, körperlich betrübt, so ließ Gestörtes an diesen empfindlichsten Baugliedern: den Säulen — eine zu tief sitzende Entasis etwa — ihr schon das Blut im Becken stocken. Beiläufig hatten sie erfahren, daß, um dieses Resultat zu erreichen, auf jeder Akademie vier Semester lang die moduli aller Säulenordnungen durchzuzeichnen, obligatorisch war. Nun, diese da wirkten wenigstens nicht aggressiv. Das meiste schien ja relativ harmloser hier. Nie so schlecht, wie das schlechteste in Paris, nie so gut wie bestes in Deutschland. Entweder die Architekten hatten zu keiner Zeit ganz übel gehaust oder ein klimatischer Überzug: dämpfende Berußung, verschmolz brutales Gebäu, beließ seinem Detail die Wohltat des Zweifels, seinem Kontur dauernd die Vorteile der Dämmerung, indes der Beschauer sich animalisch der Sonne freute und der vielen Wiesenzungen, die in der Stadt herumleckten, mit Schafen, Teichen und Blumen obendrauf.

Kurz, man konnte wieder ein wenig um sich schauen, wenn auch lieber ungenau.

At His Majesties“ — in Coventgarden — im „Globe“ saßen sie in einem Parkett von Leuten, die glichen Göttern, nein — Gipsabgüssen von Göttern, saßen an festlichen Tafeln neben der erfreulich lotrecht stilisierten Dame des Hauses, wenn sie auf den Schwingen ihrer Anmut über den Abgrund ihrer Interesselosigkeit hinwegglitt.

In Wroxton Abbey, Sir Osmonds Landsitz, hätten sie sich, über ein weekend, beinahe in einen entzückenden Jüngling verliebt, der an Höhe, Schlanke, Weiße dem „Elf von einem großen Stern“ ganz leise glich. Die kühnen Beine in rostfarbenen breeches, blond gegen die feurigen Tulpen ringsum, schritt er die Terrasse hinab, auf der Eichkätzchen von der Farbe seines homespun spielten. Sah in die jubelnde Frühe hinauf, über die zwitschernden Büsche der Wieseninsel hin und sagte ... ja was sagte da dieser vornehme Ephebe, angestrahlt von der Glorie der Welt, wie feierte er das Fest des Daseins? Was empfand er? Sie horchten gespannt! Er sagte:

What a fine day, lets go out and kill something[1].


[1] Welch herrlicher Tag, gehen wir etwas umbringen.

Andern Morgens: dem Sonntag dozierte ein schwarzrockiger Engländer aus einem dicken schwarzen Buch:

„Eure Furcht und Schrecken sei über alle Tiere auf Erden und über alle Vögel über dem Himmel.“

An diesem Morgen hatte man sich zwei Stunden lang in ein kellerkaltes Backsteingehäuse von zweckloser Nüchternheit gesetzt. Kern der fanatischen und eisigen Vorgänge dort, war ein für seinen Gliederbau fremdgekleideter Engländer, der zweitausend Jahr alte obskure Familienangelegenheiten einer kleinen semitischen Horde zu denen der Menschheit zu machen vorgab. Er donnerte Gebote aus seinem schwarzen Buch in die Anwesenden hinein, dessen ungeschlachten Ton Horus sofort wiedererkannte. Also auch hier? Wie kam dieser besseren Kreisen Angehörige dazu, auf einmal vor Damen so zu reden:

„Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes ... noch seines Ochsen, noch seines Esels, noch alles was dein Nächster hat.“

Gargi machte eine Gebärde, sich zu entfernen, bittend rührte er an ihr Kleid. Sah sich um. Keine Dame wahrte Selbstachtung: ging demonstrativ. Lady Eveline allerdings schien eingenickt; bis drei Uhr früh waren zwei gewöhnliche Spirits und ein Boddhisatwa in ihrem Tisch gesessen. Auch andre mochten nicht ganz klaren Sinnes sein, der Tangonacht wegen. Dieser, seinem Körperbau so fremdgekleidete Angelsachse dort oben aber hatte doch sicher irgendeine humanistische Schule besucht, vielleicht sogar die Universität. Dennoch sprach er vom Privatfetischismus jener fernen Barbarentributs wie dazugehörig. Wußte offenbar jeden Tag genau, was der „Herr“ wollte und was er nicht wollte. Behauptete, daß die Tiere keine Seele hätten, wandte sich gegen den Götzendienst der „Heiden“, der dem Herrn ein Gräuel sei, und empfahl seinen Zuhörern, rastlos Missionare auszurüsten, um ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Also immer noch die alte Arroganz aus Ignoranz! Vor dieser Verdammnis aber schienen nicht einmal jene ganz sicher, die Vater und Sohn in den Gebäuden mit den geschraubten Säulen dienten; nur in den Backsteingehäusen mit gar nichts drin war man, nach des Schwätzenden Versicherung, vor der Hölle so gut wie geborgen. Sein Gesicht: dieses starkknochige, nüchtern anständige matter of fact Gesicht, bekam einen unbeschreiblichen Ausdruck innen harter, außen geölter Verschrobenheit.

Lieder, die alle mitsangen, waren inhaltlich ungefähr der Predigt gleich. Und diese erfreulich weltgültig lebenden Menschen, an Wochentagen von allen Kulturen der Erde umspült, leierten nun zweitausend Jahre alten jüdischen, von Juden doch selbst verschmähten Nonsens nach.

Als alles vorbei war, schienen sie unsäglich befriedigt, sich zwei Stunden lang unbehaglich gefühlt zu haben, vermieden aber, über das Vorgefallene zu sprechen und so sprach auch er nicht über diesen, der restlichen Lebensführung fremden Zwischenfall. Vielleicht war es heuer wieder Mode, gleich dem Humpelrock oder Gecco Pintaccio, von dessen flammichten Skeletten unter braunen Teetassenaugen Dr. Hafis die ganze Saison in Konferenzen himmelte, als sei alle Kunst vor und nachher Affenschande. War heuer vielleicht sogar Polizeiverordnung, dieser Sonntagsvormittagsbrauch? Hatte Dallmeyer nicht etwas von Konfession und Karriere gesagt? Diese Europäer legten sich ja unbegreifliche Zwänge auf. Durften sie in einer Sommernacht nicht unter Sternen schlafen, warum sollten sie es nicht einmal in der Woche, vormittag von neun bis elf in einem kalten Backsteingehäuse müssen? In Piccadilly war er Hazel Raeburn begegnet, einen verkehrten Brotkorb mit Bindbändern unterm Kinn, die große Trommel schlagend und in einem Zug Gleichgekleideter durch London marschierend. Alle gellten im Falsett etwas hinaus. Verse:

„O Herre nimm mich Hund beim Ohr

Wirf mir den Gnadenknochen vor

Und schmeiß mich Sündenlümmel

In deinen Freudenhimmel.“

Hazel hatte erklärt, dies spreche am reinsten zu Herz und Seele des niedren Volkes und ziehe es aus stumpfer Verworfenheit ans Licht. Damen der ersten Gesellschaft seien bei der Heilsarmee, und nun ginge sie definitiv anders gekleidet als Gwen. Hier geschah es also eines Blusenschnittes wegen. Kompliziert aber harmlos.

Sonntagnachmittag beim high tea in Wroxton Abbey warf Sir Osmond einen chokierten Blick aus der „Morning post“:

„Furchtbar die Enthüllungen im Parlament über Deutsch-Ostafrika. Diese Greuel an wehrlosen Eingeborenen.“

Man sah einander voll Unwillen tief und edel in die Augen.

„Sind denn Kupferminen gefunden worden?“ —

Dr. Hafis, der einzige Deutsche, betrachtete interessiert seine Nägel. „Oder Silber? Richtig, beg your pardon, Kupfer, das war ja bei den Kongogreueln.“

I do not quite grasp ... ich verstehe nicht ganz.“ Sir Osmond versteifte sich rosenfarben. Hafis gähnte ein wenig.

„Nun, ich meine das seit fünf Jahrhunderten Übliche: gehört das Land mit dem Kupfer noch Eingebornen, dann erwacht das christlich-angelsächsische Gewissen, und ihr schickt so lange Missionare hin, um ihre Seelen zu retten, bis die armen natives sich schließlich Luft machen; laßt auf diese Art die Greuel an den Missionaren begehen und steckt, um die Missionare zu schützen, das Land mit dem Kupfer ein. Oder das Land mit dem Kupfer ist schon früher von andern Weißen gestohlen worden, dann laßt ihr wieder von diesen Andern die Greuel an den Eingebornen begehen und steckt diesmal das Land mit dem Kupfer aus Gewissenhaftigkeit ein, um die Eingeborenen zu schützen. Als es aber Gold war, da mußten dreißigtausend wehrlose Burenfrauen und Kinder dran glauben — an euer Gewissen.“

„In Südafrika ist auch die Blüte Englands gefallen.“

„Ohne jedoch die rechtmäßigen Besitzer des Landes besiegen zu können. Da machtet ihr sie mürbe, indem ihr die Frauen und Kinder von den Farmen fingt, in verseuchte Konzentrationslager pferchtet und die Totenlisten jeden Tag den Gegnern in die Schützengräben schicktet. Nach dem dreißigsten Tausend gaben’s dann die Buren auf, gegen ein so mächtiges Gewissen anzukämpfen.“

Mit allen war jetzt eine wunderbare Wandlung vorgegangen. Sir Osmond sah direkt verklärt aus:

„Wir hatten eben die moralische und religiöse Pflicht, uns der verlassenen Frauen und Kinder auf den Farmen anzunehmen. Dort mit der schwarzen Dienerschaft allein, wie leicht hätten Ungehörigkeiten — ja unsittliche Attentate vorkommen können. Darum wollte sie die englische Regierung in ihrem eignen Schutz wissen.“

„Und das gründlich — im Grab.“

Dann aber gab Hafis es auf. Da war nicht anzukommen gegen die Pathologie tugendsamer Litanei ringsum. Alle glichen mit Eins dem Schwarzrockigen am Morgen. Auch Sir Osmonds anständiges matter of fact Gesicht hatte den gleichen, unbeschreiblichen Ausdruck innen harter, außen öliger Verschrobenheit angenommen. Diese Leute waren unbesiegbar durch eine Art, statt rein und gradaus zu lügen, die Wahrheit aus ihrem ursprünglichen Bett unmerklich in Nebenkanäle abzulenken und so versickern zu lassen.

Die kurze Verzauberung war bereits abgefallen. Auf der Rückfahrt nach London, vorbei an den Kilometern von Lebertran- und Liverpill-Annoncen, die an Pfählen aus dem Grasigen stachen, sah er schon wieder. Auch die seelische Hartleibigkeit dieser Rasse. Ging durch die männlichen Stadtteile, deren Läden Hosenträger beherrschen und der klägliche Kragenknopf: alles dem üblen Mittelstadium der Bekleidung Dienende, sah, wie hölzern die hellbehaarten Hände dieser Männer waren, wie schwer die Kiefer mit stumpfen Zungen. Gut gepflegt wuchs ihr Gebein, abseits vom Geist. Schienen zu riesigen, über die Welt reichenden Verbänden: football, cricket, hockey geschlossen, mit dem fanatischen Ziel, ausschließlich das falsche Körperende zu entwickeln.

Durch die weiblichen Stadtteile, voll allen Narrenkrams der Welt, liefen Streifen wahrer Eleganz, schmal wie bondstreet. Auf ihnen sah er Damen den Autos entsteigen, schon auf dem Trittbrett, beim ersten Schritt, die Maschen ihrer Seidenstrümpfe zu weißen Leitern reißen, und wie sie gingen, neue kaufen, erneuend ihren mühevollen Liebreiz ohne Rast, in edlem Irrsinn. Sah auch, wie schmal der Streifen ihrer Anmut war. Gipsabgüsse der Vornehmheit auch sie, nicht genial variabel aus innersten Sicherungen heraus. Damen, mehr durch ihr Lassen, als ihr Tun. Feine Röhren weißen Zimtes, duftend ohne Saft. Die breiten Klassen, stolz darauf, urteilslos zu sein, waren ja reich genug, sich nur Weltgültiges kommen zu lassen. Da gab’s keine Blamage. Indische Dichter als Nobelpreisträger, alles, was große goldne Medaillen hatte: Gelehrte, Meisterboxer, Poloponies. Applaudierten frenetisch fremdartigen Wellenzügen rings um das harte Ohr, wenn sie berühmten Dirigenten unter den beschwörenden Armen aufrauschten. Vor diesem tauben Gejubel konnte Hafis in uferlose Wut geraten, zitierte dann mit Vorliebe Carlyle, der gesagt haben sollte, wie im großen ganzen das englische Publikum mit seiner ansteckenden Begeisterung ihn an nichts so sehr erinnere, wie an die Cadaraner Säue:

„Zuerst wühlen und grunzen sie ruhig und suchen nach Erdnüssen oder andrer Nahrung zu Unterhalt und Sättigung. Dann fährt plötzlich der Teufel in sie, werden unruhig, jagen davon und stürzen in einen Abgrund von Raserei, Verwirrung und bodenloser Verstörtheit.“ —

Nein, für ihren alten Reichtum waren sie nicht kultiviert genug. Nichts von überwältigender Vollendung. Kein Edelsitz, trotz seiner gehäuften Werte, den ein unbeugsamer Geschmack, glühend bis ins Letzte, ans Licht getrieben. Und doch erschien ihm die Anglomanie als eine Pubertätserscheinung des besseren Continentalen begreiflich. Haderte er von nun ab mit der weißen Rasse, immer wieder wurde sie unmerklich zu diesen hier, denn nur sie waren annähernd weiß und rassig, nur in ihnen war Europäertum zu etwas wie Gestalt geworden, etwas, woran man sich wenigstens halten konnte, war es einem nicht recht.

Auf dem Horst dieser Kalkklippen hatte sich immerhin ein Typus gebildet oder — erhalten, und waren seine Schwingen auch unbegreiflich hölzern, leblos und unbefiedert, hoben sie doch auf ihrer Kraft wie von selbst sogar die unbeträchtliche Persönlichkeit hoch über die eigene Grenze hinaus, wie aus seinem Gestrüpp dem Zaunkönig auf einem tragenden Adler der Aufflug in die Himmel gelingt.

Ende September traf in Wroxton Abbey ein schiefes Gekritzel ein: Samossy meldete der Eltern Tod, erbat sich Horus Elcho zum Trauzeugen. Nannte das Datum. Kein Name. Kein Wort weiter.

 

Er kam am Abend vor der Hochzeit an. Stieg wieder endlos die idiotisch konstruierte Treppe zur alten Wohnung hinauf. Fand sie halb ausgeräumt. Ein Bett auf Bücherkisten improvisiert. Ein Lavoir voller Kragenknöpfe, die eiserne Kasse offen und mit Schmutzwäsche angestopft. Am Schreibtisch, dem einzigen restlichen Möbel, Oskar Samossy selbst. Rings im Kranz standen, wie Spielzeughunde, Schemel voll Schriften und an Leinen, um nach Bedarf herangeschlittelt zu werden.

In der Luft eine wilde Stille. Hindurch schnitt der großeckige Arm. Dann, ohne aufzusehen, in einem neuen tieferen entgifteten Ton:

„Bis zur dreimillionsten Primzahl hat es gestimmt. Nach der Dreimillionundersten nicht mehr.“

Der Angeredete verbeugte sich in seiner Stimme: ohne Mitgefühl oder jovialen Protest.

„Ihr Gesetz wurde empirisch gefunden — seine Allgemeingültigkeit haben Sie selbst ja nie behauptet. Die neue Grenze innerhalb der es Geltung hat, präzisiert nur, mindert nicht seinen Wert. Wer hat es übrigens über die dreimillionste Primzahl hinaus verfolgt?“

„Ich selbst. Immer suchte ich nach einer deduktiven Fassung. Seine schäbige Empirie ließ mir nie Ruhe. Nun erfuhr ich, dieser Arbeit sei — als erster — der Preis aus der neuen ‚Samossy‘-Stiftung zugedacht — Vater hat nämlich meinen Bruder und mich auf den Pflichtteil gesetzt, den Stamm seines Vermögens aus schwachsinniger Eitelkeit der Akademie der Wissenschaft vermacht, damit eine Schenkung seinen Namen trage, — uns bleibt fast nur das Haus. Da packte mich wieder das Mißtrauen. Ich prüfte über die dreimillionste Primzahl hinaus und habe das vernichtende Resultat sofort rechtzeitig publiziert.“

Nun verneigte sich der Hörer auch im Körper:

„Und wer wird jetzt der erste Preisträger sein?“

„Dallmeyer für seine ‚Periodizität im Organischen‘. Er hat Margrinchen Mehmke geheiratet. Ist jetzt korrespondierendes Mitglied der Akademie.“

Die neue Stimme blieb tief und entgiftet.

„Es macht nichts — nichts macht mehr etwas. Ich habe zeither ein neues Gesetz gefunden: das Endgültige. Aus ihm aber folgt ...“

Und nun verließ er jene vage und lückenhafte Sprache, die zum Feilschen, Rechtsprechen, Dichten ausreicht, begann in der geheimen Zauberzunge aus Phantastik und Präzision zu reden, „in der das Buch der Natur abgefaßt ist“.

Nach Stunden kehrten sie wieder. Noch durchwellt von dem pausenlosen Blitz höchster Anspannung, trug Horus in sich belichtet alle Verzweigungen dieses Geisterbaus an den Grenzen des Faßbaren. Einen Augenblick lang schien ihm daneben alle Kunst, Musik — selbst das Schreiben der Neunten Symphonie hübsche, doch recht unerhebliche Beschäftigung. So entrückt lag er in der klaren Brunst des Geistes.

Schwieg lange. Schwieg sich wieder zurück zur Welt: der empfundenen Zahl: der tönenden, strahlenden, geschmeckten, allumarmten Zahl. Sagte in der Leutesprache:

„So ist durch Sie Minkovskys berühmtes Wort erfüllt: ‚Die Geringachtung der reinen Zahlentheorie wird aufhören, wenn man erkannt haben wird, daß zum Beispiel chemische Eigenschaften mit Teilbarkeitseigenschaften ganzer Zahlen zusammenhängen: der Schmelzpunkt eines Körpers von Zahlenwerten abhängt.‘ Dank Ihnen ordnet sich uns das dreifache Reich der wirren Dinge nach unerhört kühner Einsicht neu: je nachdem der ‚spielende Gott‘ aus seinem Würfelbecher ‚grad‘ oder ‚ungrad‘ wirft, wird eine andre Natur.“

Samossy lächelte:

„Die Ägypter meinten, die Genien der Welt wären mit Hilfe der magischen Zahlen des Pythagoras imstande, einander anzuziehen: durch mannigfaltige Kategorien von Weltketten. Vielleicht ist mein Primzahlengesetz solch eine Weltkette aus magischen Zahlkonstellationen.“

Sie sprachen und schwiegen. Die Stimmung dieser ganzen Nacht war von einer außerordentlichen und zarten Schönheit, die auf der Brücke gegenseitiger Ehrerbietung hin und wieder ging, geweiht mit vollkommener Weihung.

Das Fletschende des durchgegangenen Kleppers: „aller Starrsinnigkeit Freund, glasaugig und rauh um die Ohren“, das war alles von Samossy wie abgefallen ... Des Plato edles Roß: die erinnernd sich neubefiedernde Seele allein stieg und stieg, auf dem Rücken der Himmel stehend und zu dem wahrhaft Seienden das Haupt emporgerichtet.

Dann schloß Samossy einen Augenblick die Lider, lehnte sich vor und bat, die Stirn entspannt in ungewohnter Milde:

„Erzählen Sie mir von dem Kristallei, in dem Sie ausgebrütet wurden.“

Und Horus erzählte: vom Haus der Elchos. Von Menschen, Tieren und Liebe ... Und zum Dank für diese Nacht manches von Erasmussens letzten Arbeiten. Sollte er ihm auch von dem Führer sprechen, der nicht stets im Fleische war? Von dem Aschenauge, unter dessen Blick sein Wesen rhythmisch wechselnd eintreten durfte in immer neue schwingende Zahlen? Ihm andeuten, was es hieß, im Leib dieses Schwingenden sein und durch die Farben gehen? Doch nein, da war eine Grenze.

Das Licht wurde fad. Jene Schemel voller Schriften ringsum, die Spielzeughunden glichen, ließen auf einmal in der Dämmerung ihre Leinen hangen, wie über etwas ertappt.

Morgen. Wirklich am selben Morgen noch würde sich dieser Hirnstern in eine so schmutzige, unwürdige Hand gefangen geben. War diesem Gelehrten nirgends gelehrt worden, auf eine edle und mannigfaltige Weise nicht nur zu denken, auch zu lieben? Ja, ein Hirnstern. An dem hing nun der übrige Geschmackskrüppel: der Sinnenkrüppel.

Nur das Gehirn war ihm davongewachsen.

Er selbst blieb zurück, eingeschrumpft, eingegeilt zum Fetischisten, den Seim des Glücks an einziger armer Ekelstelle suchend, mit kläglich verknotetem Gesicht, voll Scham, Sucht und Wut, statt mit des mächtigen Eros ewigem Antlitz.

Zögernd stand der Gast auf.

„Bleibt es dabei — heute?“

„Ja, ja, um zehn.“

Das Wiehern in der Fistel kam Samossy wie ein Schluchzen wieder. Dann hämisch geheimnisvoll und jetzt so unsäglich deplacirt:

„Man muß vom Weibe loskommen.“

Gleich darauf mit ruhigen Augen:

„Aber mein Primzahlengesetz ist gefunden.“

„Soll ich Sie abholen? Treffen wir uns hier oben?“

„Nein — nein — gleich unten im Hof.“

Um zehn Uhr kam er vorgefahren. Sah es sich aufregen, gegen den Hof laufen, dort eine Linse bilden. Auf dem Pflaster lag Samossy zerschmettert. Der Hirnstern freiwillig aus seiner Schale geschlagen zu einem Brei aus Blut und Kot. Das Gesicht, weißäugig, glich auf einmal jenem zu Schiefgalopp gepeitschten Gaul in Marseille: dem armen geschändeten Gott.

Ringsum mißbilligte man die Tat. Mit untrüglichem Instinkt nahm das Volk gegen die Größe Partei. Lüsterne drängten, der Braut zu telephonieren: in die Villa vor der Stadt oder aufs Standesamt? Die Portiersgattin wiegte den grimmen Birnenbauch:

„Soa stattliche Person, ihre ganzen guten Jahr bei dem großkopfatn Narr’n falirn und jetzt war dös for nix gwen. A soa ganz Ausgschamter.“

Der Wasserkopf am Schürzenband hatte die bläulichen, hingespritzten Hirnstückchen an der Mauer bemerkt, nahm von dem trübe zittrigen Schleim, begann ihn sich an den eignen Schädel zu schmieren, der blaß war und weich wie ein Froschbauch.

Das Weib schrie auf:

„A soa Sauhaufen.“

„Und wer muß’ wegputzen? I.“

 

Es war in Wien.

Gleich nach der Ankunft sollte Gargi ihren Gatten im Restaurant des Hotels erwarten, das als mittägiger Treffpunkt angesehener Persönlichkeiten aus Beamtentum und Adel galt; letzterer pflegte auch hier abzusteigen. Es ergab sich, daß statt der Waschvorrichtungen in jedem Zimmer Weihwasserkessel eingebaut waren.

Der Speisesaal, ein weißlich-grauer, stellenweise geplatzter Darm aus Stuck, in dem vergoldete Putten mit durchgewetzten Nasen, staubiges Barockobst und andern trübseligen Kram gestreckten Armes von sich abzuhalten suchten, schien mäßig voll.

Als Gargi ungemein und fremd — in der fernen Tadellosigkeit ihrer Bondstreet- und Darjeeling-Atmosphäre an der Tür erschien, brach alles jäh ab: Schmatzen, lautes Verhandeln mit den Kellnern. — Man starrte, vagen Hohnes voll, aber noch unsicher. Da stand eine Stimme laut und vernehmlich in der Stille auf: „Wo is denn die auskummen?“

Der Bann war gebrochen. Weithinschallend setzte Austausch der Ansichten über jedes Detail an Körper und Haltung der Einsam-Fremden ein. Die von der Statthalterei streckten in den Falten brüchige Lackstiefeletten ein wenig in den Weg, wo sie vorüber mußte — andre, ironisch höflich ausweichend, markierten durch plötzlich übertriebene Schmalheit Furcht vor Berührung. Aus einer Gruppe zerronnener Frauen starrte der einzige Mann der Gesellschaft, da sie vorbeiging, ihr schamlos ins Gesicht. Seine Begleiterinnen lauerten, dann — in der Fremden Rücken irgendein erotisch-abfälliges Wort, das ähnlich wie: „Nix zum Anhalten“ klang.

Jetzt wieherte es befreit hinter ihr auf, spritzte förmlich tief aus erlöster Galle. Nein, Gott sei dank, der Trottel hatte also nichts bemerkt, oder es galt eben auch nichts bei Männern: dies Reinumrissene, Schmal-klare, vor dem sie alle sich einen Augenblick bedroht gefühlt in ihrem schwammigen Bestand.

Gargi, um die Marter abzukürzen, ging auf das erste freie Tischchen zu, doch des Kellners erotischer Typus: die Vally Feschak aus der „quo-vadis“-Bar und Tochter der Abortfrau, war eben ganz anders und so drehte er blitzschnell den Stuhl um: „beseeezt biede“. Beim zweiten, beim dritten Tisch das Gleiche. Alles blickte gespannt auf den beliebten Hofrat und Feuilletonisten. In seinem Ressort hatte er sich einen geachteten Namen erworben, als Vorkämpfer einer Verordnung, die Briefkästen zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh abzusperren. Im Nebenberuf goß er aus der Sulze seines Hirns in Förmchen erstarrte hors d’œuvres als Extrafraß für Sonntagsleser. —

Infolge des vorhergegangenen Doppelfeiertages aber war der Witzbold ausgeronnen.

Nichts kam heraus.

Der Saal war reichlich durchsetzt mit entrassten Semiten. Durch slowakische oder lokale Schutzfärbung schienen sie bereits stark an Virulenz und Beweglichkeit eingebüßt zu haben, während hinwiederum die stagnierenden Unarten der neuen Umwelt durch sie abgerundet und wärmer belebt wurden.

Über dem Ganzen lag etwas von der Schamlosigkeit typisch europäischen Familienlebens: dieses pausenlosen Beieinander in hemdärmliger Geringschätzung. Fremde gab es hier offenbar keine — oder doch? War das nicht der Herr aus Braila, dessen gerundete Handbewegungen immer noch liebevoll die Qualität der Schweinsbohnen abzuwägen schienen, indes seine Äuglein wie Läuse über alles hinkrochen? — Der war da.

Nun hatte er Gargi Elcho erkannt, zog höflich das Dessertmesser aus dem Schlund und erhob sich, ihr Platz zu machen. Der Kellner, er hatte nicht mehr Zeit gefunden, sein „beseezt biede“ herzumeckern, beeilte sich, ihr alle Speisereste vom Tisch in den Schoß zu wedeln und verkündete mit Genugtuung, daß Rindfleisch aus sei und Schlußbraten auch nur mehr ganz vom Schluß. Gargi bestellte Reis und Früchte, jedoch so leise, daß der Kellner erst von Tisch zu Tisch es melden mußte. Hierauf ging das noch immer lauernde Grinsen kugelwellig ins Hämische über. — Nebenan, in einer Art Ehrenecke, wurde plötzlich ostentativ französisch gesprochen. Vielleicht hielt man die Fremde für eine exotische Pariserin und wollte nicht verstanden werden. Denn es war das ein gar skurriles Französisch: Kreuzung aus Ollendorf und dem spanischen Erbfolgekrieg — untermischt mit „Jalousie“ und „Lavoir“ — lauter Bezeichnungen, seit zwei Jahrhunderten keinem Franzosen mehr geläufig.

Der andern Ecke gab ein Rennhabitué aus Ungarn viveres Kolorit. Er aß schon mit den Händen, stahl aber offenbar noch mit allen vieren.

Neben ihm stülpte ein bestialischer Herr mit roten Streifen längs der Hosen Spargel ganz tief in das Vorderende seines Verdauungstraktes — einen Augenblick schien es, als vomiere er — dann aber taten sich die Kinnbacken seines Antlitzes auf und nur ein Gewölle von Spargel, an seltsam singenden Fäden, entzog sich wieder dem Schlund. Noch eine kleine Nachgeburt aus Schleim — und mit der nächsten Spargelstange fing alles wieder von vorn an.

Gargi schräg gegenüber saßen drei Personen. Das fast beinlose, madenförmige Geschöpf, hineingeknallt in eine braune, reichlich mit Flöhen gesprenkelte Sache: Foulard genannt und den obligaten Reihersteiß auf der Stirn, hatte nur einmal den großen Krötenblick auf Gargi geheftet, wandte dann den Kopf mit jener empörten Gleichgültigkeit ab, die durch unfreie Haltung ihr Gegenteil verrät. Unter dem Tisch preßten die Badeschwämme ihrer Knie die Hose eines ganz verfaulten Oberleutnants. Der schluckte oben Schnaps in seinen Leib. Über dem seltsam rotierenden Mund ließ das kälberne Schnurrbärtchen die verwesten Hauer frei. Auch das Nasenbein fehlte fast ganz. Dazwischen saß der Bourgeois-Mann, ein rülpsendes Neutrum, und zahlte alles.

Er entfernte sich für einen Augenblick, da steckte der Oberleutnant die ganze Schachtel Zigaretten wortlos ein. Das Weib aber war am Ende ihrer Hemmungen ... konnte einfach nicht mehr; den Kopf schief, stieß sie ihn zärtlich an und nach der Fremden blinzelnd:

„Sag’ megst du mit der da?“

Der gänzlich verfaulte Oberleutnant schüttelte sich von oben bis unten. Sie girrte entzückt, und noch einmal mußte er sich schütteln und zeigen, wie er es mit „der da“ nicht möchte.

Gargi bestellte eine deutsche Zeitung, um anzudeuten, sie verstehe die Sprache.

Doch unbeirrt fuhr die „Fesche“ fort:

„Das G’stell und no so aufgedonnert dazu!“

Gargi trug ein schwarzes Trotteur von Creed, kleine schwarze Toque und war völlig schmucklos.

Die reichlich mit Flöhen gesprenkelte Mondäne vermochte eben außerordentlichen Stil zwangsläufig nur als außerordentliche Bekleidung zu empfinden, da ihr ungebildeter Körper noch der Anschauung entriet: Eleganz sei eine Funktion des Skeletts.

Nun brachte der Kellner das Bestellte. Es war wie ein Signal. Dumpf diffuses Lauern im ganzen Raum, salopp nur und obenhin von Geschnatter unterbrochen, hing sich jetzt vampirhaft an jede ihrer Bewegungen, hockte als vierzigerlei Grinsen auf jedem Bissen, ging mit vom Teller — auf die Gabel — durch die Luft — bis in den Mund. Wenn sie eine Frucht teilte, zum Glas griff, instinktiv gierend danach die Unbefangenheit, die schwierige Schlichtheit dieser Ungemeinen zu stören. Vielleicht ließ sie dann die Gabel fallen, verschluckte sich, irgend etwas Positives geschah, an dem man das dumpfe Unbehagen rächen konnte. Man würde dann so tun, als berste man vor Lachen und zugleich, als ersticke man aus Wohlerzogenheit dieses Lachen, das einem gar nicht kam, doch keineswegs so vollständig, als daß nicht die Fremde in ihrer Blöße es durchhöre; daß es sie treffe und beschäme. Selbst der Stumpfsinnigste bekam plumperdings eine Art zweiten Gesichts, ging es gegen das, was ihn in seiner Herzensfäule störte. Die meisten waren ja optisch zu ungeschult, um an dieser geisterfeinen, stillen Dame sich über das Edel-Fremde in Bau und Haltung Rechenschaft zu geben. Nur ein vag unbehagliches Erinnern kam sie an, von Sälen in Museen, wo man durch mußte, um zu den Doppelsternen im Baedeker zu kommen. Man lief da immer sehr rasch, denn erstens war man nicht verpflichtet und dann sah es übertrieben aus, fad und steif. Nun — in Stein und Bronze, und weil’s weit weg und lang her war, mochte das hingehen, aber in Wirklichkeit; wie ungemütlich:

„Das fehlert, daß des einreißen tät, da hätt ma ja nit einmal mehr seine Ruh beim Essen,“ war so der Nukleus, um den gallertige Rachgier Blasen trieb.

Zwei Bürger, Gargis Nachbarn zur Linken, der eine mit einer Pfundnase, der andre mit einem Abdomen auf Flaschen abzuziehen, brüteten seit ihrem Eintritt in dumpfer Wut — Biergischt im Bart — vor sich hin. Abreagieren mußten sie sich, so ging das nicht weiter. Es fiel ihnen aber gar nichts ein, genau wie dem ausgeronnenen Witzbold. Endlich, als Gargi in nie gesehener Anmut eine Orange zerteilte, gebar die Wolke den Blitz.

Der mit der Pfundnase hatte eine trouvaille gemacht.

„Die wer mer scho außi lahnen.“

Zwinkerte er rundumher — nahm den Mund voll und blies ihr tief den beizenden Stank seiner „Virginia“ in beide Augen. Es war der Gemeinderat Pogatschnigg, Ehrenpräsident des Vereins zur Hebung des Fremdenverkehrs.

Gargi rief vor sich hin das Pantherbaby und die Diademgestirnte, Ganapati Sastriar, Erasmus, die Welt der Elchos und den Palast von Travankor, und der Anstand der Gebärde im letzten Bettler ihrer Heimat half noch den Schutzwall um sie schließen, daß nichts aus der gerotteten Jauche dieser Entrassten in sie dringe. Wie Lanzen starrten ihre Nervenenden um sie aus — ganz aktiv — Schützer der Kaste. Doch welch grauenhafte Anspannung all diese Monate, seit Marseille; immer in einen Block von „Selbst“ geschlossen — belagert von Gemeinheit, nie verströmend an ein Ebenbürtiges ausruhen dürfen: arglos, müd und froh — im großen Ihresgleichen.

Jetzt regte sich, zum erstenmal, auch etwas gegen den Gefährten in ihr. Wie durfte er eine indische Dame, an der Gesittung Asias erwachsen, in solche Mißzucht zerren?

Da war er selbst — — hatte mit einem Blick die Situation erfaßt und seine Haltung ließ kaum einen Zweifel, daß er in gradliniger Betätigung zu blendenden Handgreiflichkeiten ohne Verzug überzugehen gewillt war. Sein Gesicht sah aus wie eine konzentrierte und höchst vermeidenswerte Tracht Prügel. Alles verebbte in Unschuld; treuherzig sah man einander in die Augen, und aggressive Zudringlichkeit flaute sichtbarlich ins Unterwürfige ab. Er staunte. Hier gedieh offenbar eine besondere Spielart europäischen Rüpeltums: das Knieweiche; immer feig bereit bei festem Zugriff als „Gemütlichkeit“ wieder ins Verantwortungslose zu zerrinnen. Ein verwester Käse, den eine scharfe Klinge trifft.

Nun wuchs aus dem Plüschläufer plötzlich der Hoteldirektor heraus — in kriechendem Salonrock und weißer Atlasbinde — letztere immer neu aus dem alten Brautkleid seiner Frau geschnitten, und verteilte in falscher Hausväterlichkeit die Mittagsration Banalitäten von Tisch zu Tisch. Horus Elcho wisperte er so ungefragt als wichtig zu, die Herrschaften in der Ehrenecke seien ihre fürstliche Gnaden die Durchlaucht W. und ihre Gesellschaft — der melierte Herr in der Pepitahose neben der Fürstin, Exzellenz Graf X., lenke die äußere Politik des Landes. Am Tisch der Durchlaucht meldete er wieder, die Fremden da, die Neuen, hätten chinesische Dienerschaft mit und kämen gar aus Indien. Die „Fesche“ atmete herablassend auf:

„Na also — a Murl is.“

In der Ehrenecke war man indes vom Französischen endgültig abgekommen, nachdem das Wort „Kokotte“ wiederholt und deutlich gefallen. Offenbar sollte damit gemeint sein, was in Paris „femme entretenue“ heißt. Nun wandte sich das mit Kose- und Eigennamen reichlich durchsetzte Gespräch irgendeinem alpinen Jagdunfall zu:

„Und wie er aus die Wänd scho beinah heraust war,“ berichtete die melierte Exzellenz, „is a Steindl wie eine Erbsen oder wia Haselnuß von ganz oben kommen, das hat ’n am Kopf erwischt und aus war’s.“

„Aber geh, Ferdi, plausch nicht,“ tadelte die Durchlaucht und wiegte den winzigen Straußenkopf.

„A so a kleins Steindl kann do net an Menschen erschlagen!“

„Na, wanns von so hoch kommt.“

„Was is da für a Unterschied — — was sein das wieder für neumodische Sachen.“

Der Minister sammelte sich in seiner letzten Erkenntnis vom Theresianum her:

„Wann’s von weit fallt, nachher wird’s schwerer, a jed’s mal,“ fügte er, nachdenklich geworden, hinzu. Doch die andern drängten, daß man das wissenschaftliche Gebiet endlich verlasse, um zu leichteren Gesprächsthemen zurückzukehren.

„Hast scho g’hört — — der Rudi hat an H-Hahn g’schossen?“

„Ah geh, der Rudi hat an H-Hahn g’schossen — jetzt außer der Zeit.“

„Ja, hast net g’hört, Mittwoch hat ern g’schossen.“

Horus stand auf, nach Wen-Kiün zu sehen, ob man ihr ungeschälten Reis gebracht und Fisch, wie er bestellt. Kaum war Gargi allein, als wieder ein Schnuppern begann, saloppes Zusammenrotten, um den Moment der Wehrlosigkeit einer Dame nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Jene „Fesche“, die Gargis Rasse mit so tiefer Einsicht vermerkt, stand eben auf, mit ihren Begleitern den Darm des Saales durch einen perforierten Appendix zu verlassen. Gedrängt — gleichsam hingespült von allem Abschaum — vielleicht auch nicht mehr ganz nüchtern, murmelte der gänzlich verfaulte Oberleutnant im Vorübergehen Gargi ins Gesicht:

„Sie gefollen mir aber schon garrrrr nicht.“

„Behalten Sie Ihre erotische Meinung für sich, nach der Sie nicht gefragt worden sind und entschuldigen Sie sich augenblicklich bei der Dame“ — Horus stand vor ihm. „Wird’s ... drei Sekunden gebe ich Ihnen Zeit.“

Sollte er nicht doch lieber kneifen? Aber schon hatte es sich hinten an den Fremden herangeschlichen — die gesamte jeunesse dorée des Lokals — und eine Traube von Ministerialbeamten hing plötzlich an seinen Armen — hielt ihn von rückwärts fest. Nun riß der Krieger seinen Säbel heraus, schrie etwas von beleidigter Ehre, rief alle zu Zeugen auf und machte sich unter den anfeuernden Rufen von Damen und Herren daran, einen völlig Wehrlosen mit blanker Waffe zusammenzuhauen.

Leider wies es sich, daß eine lediglich an Ohrfeigen erzogene Jugend intelligenteren Formen der Brutalität gegenüber versagt. Durch eine ungeahnte Drehung aus Schulter und Hüfte des Gefesselten barst die trübe Traube, kollerte abgerebelt beerenweise auseinander. Ein Griff, und die Rechte des Oberleutnants lag krumm geschlossen auf dessen Rücken. Quer durch den ganzen Saal flog der Säbel — gerade in den Spucknapf, wo er als zuständige Waffe zitternd stecken blieb. Und dann — der Unterkörper seines Gegners lag in einem Leg-Lock festgeschraubt — ganz langsam, ganz ruhig in dem Panzer seiner Wut, tastete sich Horus an diesem krummgeschlossenen rechten Arm entlang — verschob ihn erst ein Weniges in den Gelenken und immer mehr — — Der Krieger winselte um Gnade, dann mit einem kurzen Ruck, brach er dem halb Ohnmächtigen den Knochen, knapp über dem Ellenbogen, ab. Überlegte: sollte er ihm zu mehr offensichtlicher Erinnerung das Nasenbein eintreiben? Aber das hatte ja bereits sein Vorleben klaglos besorgt. Ließ also die Arme sinken und wartete ruhig auf seine Verhaftung. Wußte: Notwehr hatte er weit überschritten und sich schwerer Körperverletzung schuldig gemacht. Gewiß verständigte schon der bestialische Herr mit den rotgestreiften Hosen die Polizei, denn er war — kaum flog der Säbel in den Spucknapf — zwei Spargel im Mund, in der Flaggengala seiner Serviette mit Linksgalopp zur Tür hinaus.

Doch nichts geschah. Und seltsam — hub da nicht ein Wedeln an, als wäre es an ihm — als lägen Gnaden in seiner Hand? Der Hofrat fand zuerst Worte:

„Bittsi, bittsi, Sie wern do nicht eine Anzeige machen.“

Und der Hoteldirektor meldete: Exzellenz Novotny von Eichensieg lasse auf ein paar Worte ins Nebenzimmer bitten.

„I hab von nix was g’sehn,“ begrüßte ihn der Feldherr.

„Wie bitte?“

„No ich meine halt, Sie werden doch nicht einen verdienstvollen Offizier um seine Karriere bringen am End!“

„Davon kann keine Rede sein — es ist ein einfacher Bruch und in sechs Wochen ohne Folgen geheilt.“

„Aber nein, aber nein“ unterbrach die Exzellenz ungeduldig, „net wegn em Armbruch — ich meine die Velöötzung — sondern do weils ihn ihm brochen haben, wird er g’spritzt — verabschiedet, vastehn S’!“

„Aber wenn nur Sie die Anzeig net machen täten — mir ham nix g’sehn. Nacha geht sie sie no gut aus.“

„Und hätte ihr ‚verdienter Offizier‘ mich, den Waffenlosen, obendrein niedergemacht, weil er vorher meine Lieblingsfrau angeflegelt, wäre es dann, nach Ihrer Ansicht, auch noch ‚gut ausgegangen‘?“

„Na hin wern S’ halt gwest,“ grinste die Exzellenz gemütlich.

Man darf doch die Beobachtungen der Alten nie leichtfertig ablehnen, dachte der Fremdling — nach Aristoteles soll es Ochsen geben, die einen Knochen im Herzen haben.

Gäste waren nachgedrängt, besonders jene, an denen die stagnierenden Unarten der neuen Umwelt ausgerundet und wärmer belebt schienen. Mit abschnellenden Handgelenken schleuderten sie einander ihre Argumente wechselseitig ins Zwerchfell, nahmen dann plötzlich wieder den Nukleus der Sache, sozusagen als Kügelchen, auf die fünf geschlossenen Fingerspitzen wie eine erbeutete Laus, um dem Widersacher damit vor der Nase auf und ab zu wedeln. Ratlos sah er um sich:

„Ein Dackel, ein Pintsch, ein Mops — gut! Sie beglücken mich als Typen nicht; doch gut und zugegeben. Aber diese Kreuzung hier aus Dackel, Mops und Pintsch — nein, das geht nicht. Dachte: als ich im Recht war, wollten sie mich niedersäbeln helfen, da ich im Unrecht bin: jemanden schwer verletzt habe, flehen sie mich an, nicht nach der Polizei zu schicken; wie wenn ein bösartiger Irrer das alles gemacht hätte.“ Am Schwersten war der Hofrat loszuwerden, witterte einen raren Fang für „jours“. Endlich an der Tür seines Appartements wandte sich Horus zum erstenmal direkt an den Betulichen:

„Ich wünschte Ihren Landsleuten so sehr Kolonien — das ist, scheint mir — was sie zuvörderst brauchen.“

Der Andre dalberte entzückt etwas von Gemütlichkeit, leichter Musik und alter Kultur verbreiten.

„Sie irren: ich meine, daß durch fortgesetzte Berührung mit Anmut, Anstand und Takt — sagen wir der Botokuden, sich schließlich auch der Standard ihres Landes heben lassen müßte.“

Dann schloß er die Tür. Packte gar nicht erst aus. Zog um. In eine Pension.

„Lassen Sie wenigstens ab und zu die Leute mit Ihnen reden,“ riet die Inhaberin, eine erfahrene Person, „wenn Sie schon fremdartig leben, ich weiß mir keine Rettung mehr, sonst besticht man das Personal, schleicht sich hinterrücks in ihre Zimmer und der Tratsch und Gierberg begräbt uns noch alle.“

„Haben denn die Leute hier ein so pauvres Dasein, daß sie nur durch schleimiges Abtasten fremder Erlebnisse sich befriedigen können? Entrüstete Neugier als Brunstersatz brauchen?“

„Ja,“ sagte die erfahrene Person.

„Und zu tun haben sie sonst gar nichts?“

„Nein,“ sagte die erfahrene Person.

Die Weiber erwürgten langsam ihre Tage mit fortwährendem Lauern: auf das neue Modeheft — die Manicure — die Sommerreise, allem zum Grund: ein vag erotisches Lauern. Schon am Morgen begann es mit Rudeln von Schlafröcken um den Fernsprecher im Korridor, bis die junge Frau „in Scheidung“, — sie trat jeden Tag ein Kind per Telephon ab, — mit ihrem Advokaten fertig war; ihm für den Prozeß alle Arten unnatürlichen Verkehrs geschildert hatte, zu denen ihr Mann sie angeblich gezwungen. Der am andern Ende des Drahtes schien als Frager emsig und gewissenhaft, doch nicht eben leicht zu befriedigen.

Dann kam für die übrigen das Lauern auf die Börsenkurse. Ließen sich mit Stellen verbinden, die sie neckisch oder betörend „Herr Spitzer“ oder „Herr Neustein“ anredeten, girrend nach Tips für „Prager Eisen“, „Rima“, „vereinigten Gummi“. Alles in merkwürdig breiigen Kretinlauten; galt es doch in dieser Stadt offenbar für unweiblich, einen korrekten Satz zu sprechen, die Männer fanden das gespreizt, witterten für sich Unbequemlichkeiten, winkten ab.

Nun erschien meist das Stubenmädchen im Korridor, um sich laut zu beschweren: Nacht für Nacht müsse sie bis ein Uhr wachbleiben, um dem Fräulein von Nummer acht, der sozialdemokratischen Führerin, noch die Bluse hinten aufzuhaken, wenn sie aus den Versammlungen in Ottakring nach Hause käme. Jetzt gehe sie zur Direktrice kündigen.

Mit den frühen Nachmittagsstunden begann jenes Lauern, das die Frauen „Ordination“ nannten oder „den Professor konsultieren“. Es bestand offenbar darin, daß ein indifferenter Mann, durch Entgegennahme von Geldeswert bewogen wurde, ihre intimsten Teile täglich längere Zeit hindurch — wenn auch ohne sonderliche Freude — eingehend zu betrachten, und dort womöglich operationsreife Geschwülste oder krankhafte Entartungen zu konstatieren. War dieses Ziel erreicht, wisperten die Arrivierten, glitzernd aufgeregt, nur mehr über ihren Unterleib, der von nun an auch in der Konversation den breitesten Raum einnahm. Gebrauchten schleierlose medizinische Ausdrücke: Uterusbespiegelung — Auskratzung — Eierstockzisten gleich Aphrodisien. Durfte man ihrem Gehaben trauen, war so ein Operationstisch das reine Lotterbett.

„Ich bin es meiner Gesundheit schuldig,“ eiferten sie, wollte der Mann das viele Geld nicht hergeben. Daliegen und mit Instrumenten an sich herumstochern lassen, galt für Pflege; sonst hatten sie nur eine nachweisbare Tätigkeit: Zu- und Abnehmen.

„Fünf Kilo hab ich schon abgenommen, seit Sie da sind,“ sagte die Dame mit der Auskratzung und machte Märchenaugen, „mir scheint, Sie sind ja für Magere.“

„Doch nicht für Abgemagerte.“ Dann höflich belehrend: „Eine Frau darf nach dem fünfzehnten Lebensjahr ihr Gewicht nie mehr verändern, sonst ist durch Spannung oder Schlaffung ihre Oberfläche nicht mehr kindlich zart genug, feinste Entzückungen zu geben und zu empfangen. Muß doch, wo immer man eine Frau hinküßt, ein winziger Muskel den Kuß erwidern können.“

Von da ab galt er für eine Art ästhetischen Ogers, hatte aber Ruhe vor den Weibern.

Manchmal erlustigte er sich zu staunen, wie dies alles schon mit differenzierten Organen protze. Ließen sie sich denn wirklich nicht mehr beliebig durchschneiden wie niedre Lebewesen? Gerannen nicht doch wieder irgendwie zu einer amorphen Masse, die „Fritschi“ oder „Lentscherl“ hieß?

Nach der Ordination wurde von vier bis sechs „bridge“ gespielt, dann ging man in eine Schubertposse mit Gesang oder den Tristan.

Dieser unaufhörliche Musikbetrieb gab ihm zu denken.

„Der Blinde hört gut,“ fiel ihm ein. An Stelle des verkümmerten Sehens scheinen die mehresten Menschen eben mit etwas musikalischem Schwachsinn behaftet. Auch ist ja insofern Musik die bequemste Kunst, als in ihr Reproduktion bereits die Illusion selbständiger Schöpfung gibt. Schließlich gilt es schon beinahe als eine Art Leistung, in einem Konzert gewesen zu sein. Er dachte: schlappschenklig sitzen, dösend rezipieren, ohne daß die dicken Augenlider dabei aufgehen müssen oder sonst etwas, das ist bei übriger Denkfäule und Stagnation noch eben möglich. Hatte aber etwa ein Fremder hier noch nicht jedes Musikwerk und in jeglicher Bearbeitung gehört, wich man vor ihm zurück wie vor einem Aussätzigen, kam sich maßlos überlegen vor.

„Daß Sie irgendwelcher Rezeption — man könnte auch fragen: warum gerade dieser — solche Bedeutung beilegen mögen?“ Erkundigte er sich erstaunt.

„Mir scheint bei Schätzung von Menschen wichtig, wie eigenartige, irgendwie wertvolle oder erfreuliche Gesamtexemplare sie sind. Wie großer Schwingungen, welcher Erregung oder Bewegbarkeit fähig, welcher Verläßlichkeit und Verständnisfülle, welcher Intensität in ihren Leistungen, welcher Hingabe an irgend ein Werk, eine übernommene Verpflichtung.“

„Sie reden ja wie ein Preuß’,“ hieß es dann hämisch, und man nahm die hier zu allem übliche, zerwitzelnde, breiig zynische Haltung an. Denn nichts haßten sie so sehr wie Größe. Und immer waren sie geistreich: Merkmal schlechter Rasse. Ein Pack Ansichten und Erfahrungen höchst gemischter Pedigree, noch nicht zu einer Persönlichkeit einmalig und eindeutig verknüpfbar, lag wie Kraut und Rüben in ihnen, konnte aber, weil nicht organisch verwachsen, durch kaleidoskopartig wechselnde Anordnung in verblüffender Reihenfolge etwas wie Witz vortäuschen; ranziger Ironie voll, doch ohne Leuchtkraft im Ernst. Relativ Erfreuliches war nie aus unbeugsamem Geschmack, bestenfalls aus beugsamem Ungeschmack heraus, entstanden.

Der kleine Dr. Eskenasi nahm ihm den letzten Glauben.

„Musikstadt?“ Er schwenkte die melancholischen Augen in dem langen Emmanuel-Kant-Köpfchen her und hin, dann, die winzigen, schlaffvenigen Hände ineinandergepreßt, um sie am Dreinreden zu verhindern, noch einmal:

„Musikstadt! Lesen Sie doch nur die einschlägigen Biographien. Immer das gleiche: erst Massengrab, dann Ehrengrab. Mozart hineingeschmissen — Fidelio ausgepfiffen — Wagner zergrinst — den alten Bruckner bis aufs Blut gequält — Hugo Wolf hungern lassen — Mahler vertrieben. Jedes Urteil eine Blamage: zweiunddreißig — vierundsechzig — hundertzwanzig Weltblamagen. Von der Wiener Musikzeitschrift 1787 und Sarti angefangen, der über Mozart schrieb: „Die Musik müßte zugrunde gehen, wenn Barbaren von Mozarts Art sich einfallen ließen, komponieren zu wollen,“ an Hanslicks Definition des Rheingold als: ‚Hurenaquarium‘ vorbei, bis in die neueste Zeit. In der Allerneuesten möchten sie zwar auch noch, trauen sich aber nicht mehr so recht, feiern dafür Kuschorgien. Wedeln erst einmal zur Sicherheit jeden Kitsch an.“

Der Kleine litt an Kitschpsychose. Sonne, Frühling, Blumen, Melodien: alles was ihm wirklich gefiel, hatte er im Verdacht und wandte sich schaudernd ab. Mied auch das elterliche Palais, wartete noch auf Endgültiges, lebte bis dahin in der Pension, gleich seiner Schwester, jener sozialen Vorkämpferin mit den hinten und unzeitgemäß zu erschließenden Blusen. Doch verkehrten die Geschwister kaum, schämten sich einer des andern noch mehr als ihres Vaters, der, dem innersten Ring der Bank- und Börsenhaie zugehörig, dafür bekannt war, selbst dort die schmutzigsten, größten und anrüchigsten Brocken anstandslos zu schnappen. Beide Kinder gaben sein Geld unter Märtyrerallüren für einen Marstall von Steckenpferden aus. Betrachteten das wie eine Art Aufgabe, als solche auch zu werten und zu würdigen, nur daß einer des andern Methode übel fand. Er ertrug ihre vergröbernden Versammlungsgesten nicht — die schrille Stimme. Nannte sie: „Pöbelsklavin“. Sie ihn einen „aus der Zwiebel gezogenen Narziß.“

Er sagte: „Cäsarenwahn des Mob züchtet ihr, statt ihm zu sagen: anders werden, zuerst und vor allem um Gottes willen anders werden, dazu wollen wir euch helfen, aber da flögt ihr schön aus euren Mandaten heraus,“ und er zitierte:

„In diesen Zeiten war die Menschheit irre geworden durch Leute, mit denen ich nicht rechten will. Sie stellten sich der Masse gleich, um sie zu beherrschen, sie begünstigten das Gemeine als ihnen selbst gemäß, und alles Höhere ward als anmaßend verrufen.“ — „Jeder ein Kretin oder ein Schuft, der anderer Ansicht ist als ihr.“

„Wir sind eben der Fortschritt,“ sagte sie, „somit richtet sich jeder selbst, der nicht für den Marxismus ist.“

„Du vergißt, das hebräische Wort: „Fortschritt“ wirkt nicht auf jeden wie ein Fetisch.“

„Snob,“ sagte sie und verlor jede Selbstbeherrschung, „verächtlicher Snob.“

Horus nahm ihn in Schutz:

„Die andern hier sind noch nicht einmal das: ich würde sogar Kurse für snobs einführen. Erst scheinen wollen, was man nicht ist: ein Weg vielleicht, dereinst zu sein, was man scheint.“

„Ach was: Schein, — Sein, alles erst einmal in die große Arbeitsarmee eingereiht, dann hören sich diese Faxen von selbst auf,“ rief sie grob.

Er sah ihr mit solch warmem Wohlwollen in die Augen, nicht ohne Respekt und voll Humor. Sie konnte nicht widerstehen, wollte die Worte zu diesem Gesicht wissen:

„Legen Sie los, Sonnenprinz.“

„Arbeit? Was ist Arbeit? Der chinesische Weise Schun saß die größte Zeit seines Lebens unbeweglich nach Süden gewandt und lächelte. Da blieben die Jahreszeiten in ihren Grenzen, alle Gatten liebten einander, der Sohn des Himmels wurde erleuchtet und — alle Beamteten pflichttreu und unbestechlich.“

Wäre dieser kleine Doktor Eskenasi nur nicht so maßlos feig gewesen. Seinem Lebensüberdruß hielt panischer Schreck vor dem Tod die Wage. Die Jahre waren ihm pausenlose, fressende Angst, das Sonnensystem geriete auf seinem Flug durch unbekannte Welträume doch einmal unversehens in eine riesige Wasserstoffblase und dadurch in Brand. Jedes Wissensgebiet erschloß immer neue Gefahren. Endlich hatte er sich ganz auf die Malerei, als relativ unbedrohlich, zurückgezogen, fühlte sich: der zweidimensional Organisierte, hier unter Blinden, die gut hörten, schon als König; stieg manchmal sogar in die dritte Dimension auf und sagte dann: Palladiesk oder Brunellescesk. Angst, die ihn nie ganz verließ, nahm in der Kunst die Form der Kitschpsychose an, um manchmal an ganz unvorgesehener Stelle auszuschwären.

„Wäre der Durchschnitt: was man so in Kaffeehäusern und Gesellschaften trifft, wie dieser Herr von Goethe, den ich jetzt lese, ließe sichs in Europa leben,“ bemerkte Horus eines Tages, von der Farbenlehre aufsehend.

Eskenasi hob angeekelte Hände der Abwehr. War er beleidigt? Versöhnend frug Horus dem Kleinen in die Augen:

„Wäre das denn wirklich so viel verlangt? Ich meine natürlich als menschliche Persönlichkeit, von dichterischer Spezialbegabung abgesehen: ein heller älterer Herr von durabler Einsicht, weil das Auge ihr geleuchtet, mit gepflegten Umgangsformen, allem Wertvollen offen, leider mathematisch und musikalisch wenig begabt. Alles in allem: ein Vollsinniger. Einer, der Raum und Zeit hatte, ein ganzer Mensch zu sein, daher vielleicht das Aufsehen hier.“

Eskenasi drängte offensichtlich vom Thema Goethe ab:

„Die Wirtschaft kann sich das heute nicht mehr leisten, oder wie ein sehr Kluger jüngst schrieb: „An einem ganzen Menschen hätte sie zuviel Lagerverlust.“

„Ach so, ich verstehe: ein linker Hirnlappen, ein Paar Pratzen, jedes für sich, fügt sich besser, weil pausenlos, dem Betrieb ein. Bleibt die Frage: ist das Leben für die Wirtschaft oder die Wirtschaft für das Leben da? Mich amüsierte immer, wenn in Deutschland solch linker Hirnlappen, war er zumal technisch verkollert, sich glühend wünschte, ein Großer früherer Zeiten, am liebsten Goethe, weil er den für einen Monisten hält, kehrte wieder, er aber sei ihm Führer, vergönne dem alten Herrn den Anblick, wie herrlich weit man’s gebracht. Wie er dann schon beim Aussteigen am Gleisdreieck zu Berlin anfinge, den Faust umzuarbeiten, ihn gleich im ersten Teil Wasserbauingenieur werden ließe, statt erst am Schluß des zweiten.“

„Bitte nichts vom Faust,“ wehrte Eskenasi ab, mit einem Gesicht, ganz wie Samossy, das arme geniale Roßwesen, bei Schillers Namen.

„Dieser Schluß“ — er wand sich vor Ekel — „wie ein schlechtes Barocktriptychon komponiert: rechts und links als bewegliche Flügel die süßlich gedrehten, himmelnden Patres, erträglich nur der quere Durstrahl durch das Ganze: neige Du Ohnegleiche ... gnädig meinem Glück.“

„Glück ist gut — wenigstens dort ‚lustig im Fleck‘, wie wir Maler sagen.“

„Aber die fürchterlichen Putten ringsum: ‚fröhlich im Ringverein‘. Diese Engelriege, wie vom Turnvater Jahn einstudiert ... bitte, lassen wir das. Dazu ist mir der Barock zu heilig, ja ich habe in letzter Zeit Grund anzunehmen, daß sich in ihm das überhaupt Höchste, vielleicht das Endgültige manifestiert habe.“

Er schwieg geheimnisvoll. Verkündete dann ein paar Tage später seine Abreise nach Spanien.

Und nach einer Pause, da niemand frug:

„Ja, es sei für immer. Er übersiedle. Und zwar nach St. Esteban de Molar, dem Geburtsort des Gecco Pintaccio. Schon begännen die wenigen über Europa verstreuten Eingeweihten ihren Pilgerzug vor das Jugendwerk des Erleuchteten: den kleinen Fresko im Ziegenstall hinter des Meisters Wohnhäuschen. All das gehöre seltsamerweise einem Amerikaner: Mr. Payne. Nur durch Vermittlung und Protektion des begeisterten Gecco Pintaccio Entdeckers und Apostels Dr. Hafis sei es ihm, Eskenasi, dennoch gelungen, das Häuschen auf vorläufig ein Jahr zu mieten, allerdings zum Preis seiner Hitzinger Villa, doch mit dem Recht, die Stunde von neun bis zehn ganz allein im Ziegenstall verbringen zu dürfen, dann erst beginne die öffentliche Besichtigung. Gleich gehobener Stimmung wie er, sah die Schwester einem neuen Aufenthalt entgegen: dem Landesgericht; hatte es endlich erreicht, ernst genommen und wegen Aufwiegelung zu zwei Monaten Arrest verurteilt zu werden. Nämlichen Tags verschwanden beide. Der Exclusive jedoch nicht allein. Er nahm zur Weihestätte die Vally Feschak von der quo vadis-Bar, Tochter der Abortfrau und Typ des Speisenträgers aus dem Stadthotel mit. So war er für Horus gerichtet, denn im feineren Menschen decken sich ästhetisches und sexuelles Ideal. Same und Seele erstrahlen von dem gleichen Eros.

Doch warum zögerte er selbst noch hier: gerade mitten im Verköterungsherd Europas? Wartete. Gerade am Ort geringster Wahrscheinlichkeit erwartete er, treu einem ernsten, süßen und sehr geheimnisvollen Gesetz, dem Folgsamen hold. Und im Erfühlen dieses Gesetzes wußte er sich verstanden und gestützt.

Auch aus Gargis Einschlafen hatte es unlängst glücklich, wie in eine wachsende Nähe hineingeflüstert:

„Dann nehmen wir den ‚Elf von einem großen Stern‘ nach Haus und führen ihn in unsere samtenen Wände.“

Oft ging er, die Ringstraße: diesen Kranz übel gegründeter Erhebungen, von dem Tempel mit jonischen Säulen als Rauchfängen, bis zur Gotik für Gemeinderäte, ängstlich meidend, auf den stillen Josephsplatz, vor des Fischer von Erlach Bibliothek. Wie ihm schien, einem der schönsten Profanbauten der weißen Welt.

Barg sich dann halb hinter einem fetten Palast im trächtigen Kuhstil mit vier Renaissance-Trampeln als Karyatiden, um ungestört schauen zu können. Denn er hatte bemerkt: das Natürlichste: in der Stadt die Stadt anzusehen, fiel hier peinlich auf. Ihre Bewohner, ausschließlich damit beschäftigt, einander erst entgegen — dann an — dann nachzustarren, sammelten sich alsobald im Kreis, stierten eine Weile mit hinauf, frugen schließlich ägrirt, wo der ausgeflogene Kanarienvogel denn säße.

Dort aber stand er in Deckung vor dem wimmelnden Heute. Gegenüber der stumme Platz einer verschwundenen Menschheit, mit dem segnenden Reiterbild in steilem Empire, nicht eben gut, doch echt in seinen Fehlern. Dahinter stieg, unvergleichlich an Maß und Adel männlicher Anmut, des großen Saales steinerne Schale. Sein inneres Rund, wie leise hindurchgeatmet durch des Sockels breite Kantigkeit, hatte etwas vom Tier und vom Kristall.

Oben die fein verdrückte Kuppel. Er liebte Kuppeln, das Dreifache weisend in schwierigem und edlem Schwung, irgendwie verwandt dem Broncereifen der Ekliptik auf wundersamen Weltmodellen Tycho de Brahes oder auch einem überpersönlichen Haupt vergleichbar, durch das sich der Geist des dreifachen Raumes Gestalt erwölbt.

Als er diesmal den menschenarmen Platz betrat, sahen die Näherkommenden alle aus, als wäre ihnen etwas passiert. Verlegener Hohn in der Haltung; die ganze Atmosphäre wie um Gargis Erscheinung, ersten Tags im Speisesaal, nur noch manierloser, aggressiver. Gargi hier? Doch nein! Er ließ sie ja an diesem Ort nicht mehr allein ausgehen, seit vor ihm zwei junge „Herren“ auf der Straße — gleichsam als Promenadespiel — einander die möglichst niedrige Summe jeweils zugerufen, die jeder für den Geschlechtsakt mit den ihm entgegenwandelnden Mädchen und Frauen anzulegen sich bemüßigt fühlte. Das tiefste Angebot teilten sie sich dann immer grinsend, von den zehn Fingern pantomimisch unterstützt, über die Köpfe der Ahnungslosen hinweg, mit.

Die Principessa Dango? Wohl kaum. Als Archies Hörige war sie momentan am Tempelhofer Feld in einem Gecco Pintaccio-Film prostituiert.

Doch wozu die Lügen um sein Herz. An dem strahlenden Schauder wußte er, was — nicht weiße — noch schwarze — einzig die rote Magie intensiv wünschender Sehnsucht ihm, nach so vielen Monaten da zu erscheinen zwang. Es stand: eine lichte, leicht noch nachschwingende Lanze, wie in einer Steilrechten heruntergezückt, aus klarerer Heimat, ohne das Weichbild dieser Stadt auch nur berührt zu haben. Hob kritisch beglückt das Profil dem andern, steinernen entgegen, dort wo der Eckbau aus Pylonenbreite in einer höfisch feinen Kurve der Vollendung sich verjüngte.

Ganz langsam genießend kam er heran auf erhöhten Sinnen, seinem gewohnten Standort zu, unmittelbar hinter dem ihren. Selbst jetzt hätte er dieses ernste, holde und sehr geheimnisvolle Gesetz nicht durchbrechen, sich ihr in Willkür auch nicht um einen Schritt nähern mögen. Gerade deshalb war sie nun auf seinen Weg gestellt worden, in so viel verheißungsvollerer, weil freigeborner Weise „zufällig“, somit aus reinster Notwendigkeit.

Ganz in die Erblickung gestürzt, beobachtete er noch mit dem erleuchteten Saum seiner Sinne amüsiert den ganzen ranzigen Aufruhr: die mannigfachen Schreckphänomene aller Unreingegliederten dem Niegeschauten gegenüber. Hier, wo der Mob viel höher heraufreichte wie irgendwo anders, glaubte jeder Vorüberkommende sich berechtigt, durch Haltung, Miene oder erkünstelten Naturlaut eine Meinung, um die er nicht gefragt worden war, der Dame kund zu tun.

Frauen versuchten, voll höhnischem Mitleid zu erschrecken, zwinkerten um Solidarität hinüber zu wildfremden, achselzuckenden Männern. Andre, mit Kindern an der Hand, ermunterten diese, die nicht recht wußten weshalb, sich kichernd umzudrehen. „Pfuitterdeixel“ pfiff ein ganz ausgekegelter Schlosserlehrling mit O-Beinen, Überbeinen und Plattfüßen, in die Luft. Er nickte ihm zu: „So recht Crapüle, hätte sie bei Deinesgleichen Succzes, müßte sie sich doch erschießen“. Gleich bei jener ersten Szene im Restaurant hatte er ja für immer begriffen: nichts haßt und fürchtet der Kötermensch so sehr, wie den Stilbildner, der durch sein bloßes Dasein etwas zu fordern scheint, eine Anstrengung, das Niveau zu ändern. Weder Bescheidenheit noch Diskretion retten da den Ungemeinen. Erst wird man ihn mit boshafter Herablassung niederzugrinsen, dann mit aggressiver Infamie von sich abzutun versuchen, denn als „schön“ vermag der optisch Ungebildete nur den eigenen Komparativ zu begreifen, lediglich was einer zum größeren Grade als er selbst besitzt. Das in der Linie des leicht Erreichbaren gelegene allein gefällt ihm, sodaß im Wohlgefallen noch Faulheit und persönliche Eitelkeit befriedigenden Platz finden. Erst der sich selbst Erziehende, welcher Art er auch sein möge, wird Fremdes: daher Befremdendes sogleich optisch „vom Blatt zu lesen“ und zu werten vermögen.

Jetzt war er hinter ihr, auf seinem gewohnten Platz. Sie stand abgeschirmt mit unvergleichlich lässiger Verachtung. Schaute. „Die Wellen dieser zappelnden Gemeinheit sind viel zu kurz, um ihre langen Wogenzüge zu stören,“ fühlte der Entzückte, „können garnicht an diesen hohen Sender mit strahlender Antenne rühren.“

Sein Männerschatten beugte sich über. Da rief sie sich wie in eine bedrohte Festung zurück. Das unverweslich Herbe an ihr, diese steigernde Dissonanz des Reizes, vereiste sofort ins Abschreckende, absichtlich Abstoßende. Hochgemutes gerann zu Hochmut. Das war ihm neu! Eine Kultur des Hasses, kundig und erlesen.

„Kristallumpanzerte“ fühlte er. „Ganz Weiße. Fremdeste der Fremden hier.“

Sie einfach vom Trottoir wegheben, ganz in Zartheit wickeln und hintragen, wo er der Herr war. Ihr Wesen und ihr Ort trafen ihn wie eine Blasphemie von Gott aus; mindestens wie ein schwer zu verantwortender faux pas himmlischerseits. In des Schattens Haltung lag jetzt so viel Diskretion, wie er jede Berührung mit dem ihren mied, daß sie sich halb wandte. Die einsamen Sternsaphire sahen ihn zum erstenmal an. In Padua hatten sie durch ihn hindurch in die Erwartung des Glücks geschaut. Sahen jetzt statt eines Überlästigen, statt eines pöbelnden Männchens einen Menschen vor sich: einen brüderlichen Gentleman. Geschwisterlich gleichgerichtet, Seite an Seite flog von nun an ihr Genießen alle Linien des Baus entlang; einen Augenblick verschmolzen die Schattenkerne in Eins. Wann dieses Schauen auch zu klingen begonnen, wem zuerst Worte sich geformt, wußte er nie. Es waren Worte von jener scheuen, weil tiefsten Vertraulichkeit, die wie aus einem Abgrund der Zeiten herauf-, herübergetastet kommt in eine erste Begegnung voll seltener, unbegreiflicher Anziehung; lustvoll und furchteinflößend zugleich. Die Worte selbst? Das Geheimnis ihres Reizes? Daß einer vom andern alles vorauszusetzen schien: alles Wissen und alle Erkenntnis und daß es doch wie nichts war, kaum mit juwelenen Händen gestreift, um ganz draußen nur die Spitzen der Persönlichkeiten im Licht miteinander spielen zu lassen.

Jetzt wandte sie sich ganz, prüfte mit den Wimpern durch die Luft hin die Knabenglätte seiner großen Züge, das starke Kinn aus Stein. Verwundert, als wäre sie gewohnt, nur in durchackerten Gesichtern Saat von Geist aufgegangen zu sehen.

Die gelähmte Zeit stand wie ein ins Unerträgliche gespannter Bogen ausgestrahlt um ihn. So ganz nah, war sie von verwegener überwältigender Vollendung. Nicht nur ausgespart aus einer saloppen Umwelt. Der niegesehene Typus, jene neue Schlankheitsgrenze, hatte auch neue Gesetze der Anmut erfordert und erschaffen. Welch zähe Treue zum Ideal war hier bis in die letzten Lineamente offenbart. Hingerissen und sachlich zugleich, ingenieurhaft beinahe fühlte er dieser neuen Anmut: dieser Natürlichkeit höherer Ordnung nach. Ihre gepflegte Wahrheit kam aus einer solch adeligen Tiefe her, daß jede Bewegung sie ganz enthielt. Etwas von Tier und Seraph und gleitendem Erz.

„Alle Städte, durch die sie geht, müßte man vor ihr niederlegen,“ dachte er. „Denn keine paßt noch zu ihr. Sie aber ist im Recht.“

War seine Musterung indiskret geworden? Sie schrak auf aus holdem und tiefem Vertrauen. Verherbte wieder. Schlüpfte in einen schwarzen Block Abwehr.

Indessen hatte sich ein loser Halbkranz von Gaffern gebildet. Eine düstre Kuh mit Plattfüßen mißbilligte beide Erscheinungen. Andre starrten des Fischer von Erlach Meisterbau auf den entflogenen Kanarienvogel hin an. Ungeratenheit, die sich dreist machte. Noch einmal grüßten ihn die einsamen Sternsaphire ganz flüchtig, und die hohe Silhouette schwankend vor Schlauheit entwich in eine Nebengasse. Er sah den kühnen Gang ihrer göttlichen Beine durch das Kleid hindurchspiegeln, dann sog der braune Rüssel eines Durchhauses sie ein.

Gleichen Abends reiste er ab. Wußte: hier führte kein Weg mehr näher heran zum

„Elf von einem großen Stern“.

Viertes Buch

Zur Zeit als Horus ins Haus der Elchos zog, erwuchs auf der andern Seite der Erde ein kleines Mädchen gleichen Alters in einem sonderbaren Gebäude: halb Palais, halb Fabrik.

Täglich Punkt zwei bog die wenig stilvolle Equipage um das grasige Viereck im asphaltierten Innenhof, an den Statuen und dem alten Nußbaum vorbei, der Gärtner öffnete weite Torflügel unter der gewölbten Einfahrt, und man fuhr bis vier spazieren. Papa und Mama im Fond. Immer denselben Weg: erst durch ratternde Vorstadtstraßen voll anrüchiger Kramläden und Klaviergehacke, dann um den Ring herum. Die Beinchen reichten nicht bis zum Wagenboden und schliefen einem immer ein in den kleinen Prunellestiefeln. Baumeln durfte man nicht, reden meist auch nicht. Oben redeten die Eltern diese endlosen, gereizten Erwachsenensachen, bei denen man nicht stören sollte, obwohl es doch immer dasselbe war und so überflüssig. Manchmal hob Papa den Hut schräg weg und Mama nickte mit einem süßschiefen und entzückten Gesicht, wie sie es zu Hause nie hatte. Dann mußte man auch nicken und mit dem Mund knicksen, meist ohne Ahnung, wer die Leute gewesen, denn Besuch kam fast nie ins Haus.

Alles war fader, als es sich sagen läßt. Bis auf die Ecke mit der Ballonfrau. Da wurde man innen voll aufreizender Kugelchen. Bekam man ihn? Und wenn ... rot oder blau? Leider machte die Ballonfrau auch immer so einen Freundlichkeitskrampf im Gesicht, wie Mama beim Grüßen, während sie einem mit Händen voll gemeiner Fingernägel die leise aufwärts ziehende Kugel ums Handgelenk band. Plärrte dabei:

„Nein, a soa schöns blond’s Kind!“

„Aber recht eigensinnig und unfolgsam“ pflegte Mama zu erwidern, „gerade heute sollte sie gar nichts bekommen.“

Meist log Mama. An Ballontagen war zufällig nie das Kleinste passiert. Der Ballon aber war ein Wunder, obwohl er schlecht roch; denn er blieb aufrecht oben am Faden, während sonst alles unten an Fäden hing. Hatte auch am Bauch ein komisch verrunzeltes, herausgestülptes Knöpfchen, vor dem einem ein wenig ekelte, wie ein Schwein. Ein fliegendes Gasschwein ohne Flügel.

Jetzt begann die große Versuchung: heimlich die Schnur vom Handgelenk gleiten lassen, damit der Ballon frei hinauf könne, immer schneller und kleiner würde, schließlich wie eine Traubenbeere mit Schwanz. War er aber auch ganz weg, hinter ihm, das Loch im Himmel blieb noch lange, indes man Bestürzung heucheln mußte und gezankt wurde wegen der Unachtsamkeit. Es schien: Geschenke gehörten einem doch nicht recht. Nie durfte man mit ihnen Lustiges tun, meist nicht einmal sagen, was man tun möchte. Sie war im sechsten Jahr — eben bog der Wagen wieder einmal ins Tor heim — da vergaß das kleine Mädchen mit dem Mund zu knicksen, während Papa den Hut schief weg zog und Mama das Gesicht, denn: etwas Überwältigendes war geschehen und viel zu groß für Angst:

Sie wußte nicht mehr, wo sie aufhörte.

Da war die Hand; ihre Hand mit dem aufrechten Ballonfaden. Flöge jetzt die Hand mit dem Ballon davon, durfte dann der Ballon zur Hand „ich“ sagen oder die alleine Hand zu sich selber ich?

Wer ist Ich? fühlte das Kind. Sah über den Rand der Frage in ein Bodenloses. Streifte den Handschuh ab, spannte und entspannte jedes dünne Fingerwesen, ließ es tun — empfinden ...

„Wo fange ich an — wo ende ich?“ staunte immer weiter. Rann noch einmal mit allem Gefühl vom Herzen in die Körperspitzen, wollte ins Grenzenlose, konnte nicht weiter, war von diesem Augenblick an bewußt mit der Welt in Ich und Nicht-Ich zerfallen, das Wunder Dasein hatte fragende Augen aufgeschlagen, die sich erst im Tode schließen. Das Fremdlinghafte war da; für immer. Mit ihm: Persönlichkeit, Einsamkeit und Sehnsucht.

Das wußte aber die winzige Philosophin noch nicht. Vorerst ging alles in Staunen auf. Probleme spannten helle spitze Flügel, wollten durch sie hindurchbrechen, pfeilrecht und silbrig, die junge Seele erfüllen und tragen.

„Warum hast du nicht gegrüßt? Was wird die Frau Regierungsrat Dostal denken.“

Papas Augen und Stimme rissen durch den dünnhäutigen Kinderkörper hindurch. Die gestockte Zeit begann auf einmal heftig zu laufen. Der Wagen fuhr weiter durchs Tor. Alle Dinge taten wieder und man schrak auf in einem Abgrund von Verworfenheit, saß bestürzt mit einem Bums mitten in unübersehbaren Folgen: hatte zu grüßen vergessen. Das Herz schlug breit wie ein Fächer durch die ganze Brust.

„Weil du immer deine Hand angeschaut hast. Immer muß sie sich bewundern, der eitle Fratz,“ sagte Mama.

„Fratz,“ das war wie ein verzerrter Blitz und kreischte obendrein.

„Aber ich hab’ ja gar nicht ... bewundert,“ wollte das Kind beteuern.

„Lüg nicht, ich hab’ es doch selbst gesehen.“

„Ja, aber ...“ man stammelte, suchte gierig das mit dem „Ich“ und „Nicht-Ich“ zu erklären.

„Wirst du endlich still sein und nicht fortwährend nachmaulen.“ Papa machte seine aufgerissenen Glasaugen aus ungeheurer Macht, vor denen man immer sehr erschrak.

Noch einmal setzte das Kind zum Sprechen ein, wurde hilflos, gab es auf, denn am Vordersitz hub jetzt jenes aufgedonnerte Entsetzen an und didaktische „pour la galerie“-Reden, dem die kleinen Kinder ihre große Erwachsenenverachtung verdanken.

„So eine abscheuliche Rechthaberei, dieser Eigensinn, wo sie das alles nur her haben mag, von uns doch nicht.“

Und Papa wandte sich in seiner schlanken Länge Mama zu, schüttelte dabei edel und gebrochen den Kopf.

„Von mir gewiß nicht,“ himmelte Mama mit ganz verzuckerten Augenlidern, und beider Eltern linde Vollkommenheiten sahen einander schwergeprüft an.

Dem verworfenen blonden Wechselbalg am Rücksitz ballte sich das kleine Herz zur Faust. Alle echte Beschämung war weg:

„Vielleicht bin ich wirklich nicht ihr richtiges Kind? Welch Glück!“ Und den Gedanken weitertrotzend:

„Meine echte Mama trägt keinen Bauch unterm Korsett und mein wirklicher Papa ... nun aussehen tut er vielleicht wie Papa, aber er schreit gewiß nicht so häßlich in der Fabrik herum. Die Katze und das Reh nehm ich natürlich mit in mein Königreich, sonst aber niemand. Da stehen dann Papa und Mama voll Reue am Haustor und flehen. Aber erst ganz zum Schluß dreh ich aus dem Wagen heraus ein wenig den Kopf und sag: ‚Später einmal — vielleicht‘.“

Sie lächelte in das Königreich hinauf.

„Der Ballon,“ sagte Mama empört und hatte zwei hängende kleine Schrotsäcke in den Mundecken, alles Verzuckerte war auf einmal fort, „man sollte ihn ihr wirklich zur Strafe wegnehmen.“

Papa zog sein Taschenmesser, durchschnitt die Schnur. Wundergrad stieg der Ballon bis über den Rauchfang. Dann drehten ihm Krallen aus Gas den Hals um, er duckte sich, wutschte weg, schräg packte ihn ein Wirbel — sie hob entzückt die Hände, fühlte an ihren Rändern wieder das Problem eigenen Aufhörens. Dunkle Angst und Verantwortung, so ein ganz alleines Ich zu sein unter lauter fragwürdigem Draußen, überwältigten plötzlich das Kind. Es brach in Tränen aus.

„Das kommt davon, wenn man vorlaut ist,“ sagte Papa, dann tröstend: „aber vielleicht gibt es morgen einen neuen Ballon, den binden wir dann so fest, daß er gewiß nicht wieder fortfliegt.“

Voll Mitleid mit so viel dickhäutiger Begriffstützigkeit sahen die jungen Sternsaphire sich diesen desolaten Erwachsenen an, der obendrein ein Papa war.

Großen konnte man ja überhaupt nichts erklären, sie aber auch nichts fragen; wenigstens nichts „Eigentliches“. Mama sah dann aus starrgrauen Augen meist zur Seite, tat, als tauche sie eben aus einer überaus wichtigen Erwachsenensache auf, in die sie sofort wieder zurück müsse, nickte flüchtig und falsch zerstreut:

„Ja, ja, schon gut, aber halt dich grad.“

Papa ließ sich gern fragen, doch nie durfte man weiter wollen als er selber wußte, nannte die Frage dann albern und wurde heftig. Als ganz kleines Kind hatte sie einmal stolz von ihm gesagt: „der Papa weiß alles.“ Diese vierjährige Voreiligkeit sollte sich bitter rächen. Er hatte nachsichtig und doch wieder ehrgeizig dazu geschmunzelt, sich in seine riesige Rübezahlhöhe gereckt, so mit einer Haltung, als wünsche er, dies möge dauern. Darum tat man auch viel später noch oft so, ließ es hingehen, hörte widerspruchslos zu, redete er mit herrischen Bewegungen vag daneben, hatte man aus Versehen nach einem „Eigentlichen“ gefragt. Er roch ja doch so vertraut und gut, mit den graublonden weichen Wellen draußen über der Stirn voll trotziger Löwenfalten, und man küßte ihn fieberhaft gern, obgleich er jähzornig schrie und einen viereckigen Daumen hatte; überhaupt lang nicht so mit allem in Ordnung war, wie etwa Butz, die Katze, und Iblis, das Reh. Aber das waren ja die wenigsten. Bei den andern ließ sich stets ein „noch“ hinzudenken.

Was für ein „noch?“ Sie grübelte: „noch schöner? Nein noch nocher, ganz einfach.“

Da war zum Beispiel das Matterhorn. Alle hatten im Sommer davor so überwältigt getan. — War man aber schon ein Berg, hatte man doch eigentlich noch steiler zu sein, noch höher, mit noch eckigerer Schulter, und mit einer solchen Eisnase hinaufzustoßen durchs Blaue, daß es in Sprünge zerkrachte wie ein Glasdach.

Die Dinge waren eben irgendwie faul und nie bis zu ihren eigenen Enden gegangen. Das hatte aber durchaus nicht immer etwas mit „groß sein“ zu tun ... Butz und Iblis waren klein und doch bis in ihre Enden gekommen und ganz rundherum wunderbar, daß man nie satt an ihnen wurde vor Zärtlichkeit und Entzücken.

Das also war das „Noch-nocher“. Außerdem gab es das „Eigentliche“. Von dem aber mochte erst recht keiner was hören; auch ein paar Jahre später die Lehrer nicht. Versuchte man es zu begreifen, hieß es, man sei begriffstützig und halte die Fleißigen nur auf. Lange weigerte sie sich einzusehen, warum eine Flaumfeder und ein Bleistück im leeren Raum gleich schnell fallen sollten. Das Gerede mit dem Luftwiderstand war doch nur Nebenschein, tief drinnen aber lag ein Unbegreifliches. Überall lag ein Unbegreifliches tief drinnen: das „Eigentliche“ eben. Wie im Ich und Nicht-Ich.

Auch magische Worte gab es, wie „Masse“ und „Substanz.“ Sie erregten einen oft so, daß man den Kopf in die Waschschüssel stecken mußte, führten aber doch nur zu Konflikten, bis man es gleich den andern Kindern weghatte, Lernen von Verstehen zu trennen, alles so glatt zu wissen wie die albernste Gans; es auch nicht mehr beanstandete, daß die Welt Dienstag und Samstag von zehn bis elf in „Naturgeschichte“ Jahrmillionen zur Entwicklung brauchte, und auf ihr aus einem Schleimpatzen, einfach durch „Überleben des Passendsten“ einmal etwas wie ein Elefant wurde, ein andermal etwas, das die Neunte Symphonie schrieb oder den Tristan, je nachdem; während wieder alles, einmal der Woche von drei bis vier, beim Religionsunterricht, in sechs Tagen gemacht worden war, von einer heftigen älteren Persönlichkeit ganz plötzlich und ohne jede ersichtliche Veranlassung.

Als Kind eines eingewanderten deutschen Patriziers fanden die Religionsstunden, im Gegensatz zu dem gemeinsamen katholischen Unterricht der Schule, privat bei dem evangelischen Pfarrer statt. Man landete dort wie auf einer Insel von Gespreiztheit und durchgesessenem Plüsch, ohne recht zu wissen warum, schon allein durch die Art, wie Mama devot, verschroben und leer „Hochwürden“ sagte. Dann gab es Verse auswendig zu lernen:

Das Wort, sie sollen lassen stahn

Und keinen Dank dazu haben.

Er ist bei uns wohl auf dem Plan

Mit seinem Geist und Gaben ...

Sie hatte das nie begriffen. Da nicht, aber auch niemals später. Doch wozu diesen Greis, der so schon einen Stockschnupfen mit rotgewürfeltem Taschentuch hatte und einem — ließ man ihn in Ruhe — automatisch „sehr gut“ gab, durch Fragen entfesseln. Außerdem gehörte er ja zu den Leuten, die sterben. Schon als kleines Kind hatte sich diese Idee bei ihr festgesetzt: nur Leute, die zur Kirche gehen, sterben. So alte Weiber eben, die immer im Weihrauch lungern, mit Kerzen und Geplärr bei Leichenbegängnissen herumschlurfen. Ein gut und gradgebornes Wesen stirbt nicht. Wie könnte etwa Iblis, das Rehli sterben? Höchstens haaren. Dann bekam es eben ein noch glänzenderes Fell, und man grub das Gesicht noch lieber hinein, wenn man, die Arme um seinen Hals, mit ihm aus der Heukammer in den Garten sprang, bis unter die Fichtengruppe beim Neptunbassin, wo Iblis seine lackschwarze Nase in die Leberblümchen steckte, sie rupfte und fraß.

Und gar Butz! Wie könnte Butz je auch nur so wässrig aufdunsen oder knotig vertrocknen wie Begräbnisweiber? Sie warf sich flach auf den Boden und betete Butz an. Es war eine lichte und festliche Andacht: lebendige Adoration, steigender als Fieber, tiefer als Schlaf, mit der alle bewunderte Bewegung in den eigenen Körper herübergesogen wurde. Denn sie hatte entdeckt: war man auch ein ganz alleines Ich, vermochte man doch Dinge in sich hereinzulieben nach Wahl, denn da war eine Welt von außen nach innen und eine von innen heraus; durch den feinhäutigen, zartherzigen Kinderkörper osmosierten sie hindurch und man meinte, einmal müßten sie sich zueinander küssen.

Jetzt war Butz dran, hereingeliebt zu werden. Bald hatte der Kater den Schwanz um sich getan, saß mitten in ihm wie ein Turm mit Ringmauer, sah ganz oben aus zwei grünen Scheinwerfern in Lichtkegeln um sich; bald strich er, schmäler wie sein Schnurrbart, durch Türspalten, schwanzhoch, lässig und einsam. Oder man nahm ihn auf den Schoß, streichelte sich die Herrlichkeiten seines Lebens hinein.

Andern Tags ergab es sich dann richtig, daß man den deutschen Aufsatz total vergessen hatte mit seinen zwei Themen zur Wahl: „Hausmütterchen, der Sonnenstrahl im Elternhaus“ oder „Kleopatra“ (Richtlinie: schade, daß in einem so schönen Körper nicht eine ebenso schöne Seele wohnte) und auch in der Geschichtsstunde dem Faktum, daß durch Margarete Maultasch Tirol an das Erzhaus gefallen war, eher fremd, um nicht zu sagen lieblos, gegenüberstand.

Bald hieß es: „dieses ewige Herumschmieren mit den Tieren im Garten muß aufhören. Es lenkt zu sehr ab.“ Schien ein System: bei allem Erhabenen, Hinreißenden, Holden, es verbieten unter der Devise: „es lenkt ab“.

„Unverstand in idealem Zusammenfluß mit Malevolenz,“ wie sie ein paar Jahre später diese Bestrebungen innerlich zusammenfaßte. Zeigte man Freude an etwas, ward es zu Erpressungen ausgenutzt, seine Entziehung angedroht; verbarg man deshalb seine Neigungen, hieß es: „pfui, ein Kind und schon so blasiert.“

„Warum spielst du nicht mit dem schönen, teuren Spielzeug?“ frug Mama. „Andre Kinder wären froh und dankbar ...“

Hinter diesem schönen, teuren Spielzeug aber lauerte endlos und heimtückisch das Aufräumen. Gar noch zum Schluß, wenn man jedes Stück schon so satt hatte. Butz und Iblis bekam man nie satt, und sie räumten sich selber auf. Oh, nur rasch groß sein, erwachsen sein, frei sein. Nicht mehr bis in seine Spiele hinein gezwungen werden, die verkappte Plage waren! Diese Großen aber sagten:

„Sei froh, daß du noch ein Kind bist, immer sorglos und glücklich.“

Und wie war das mit der Margarete Maultasch, he? Und das früher: nicht mit den eingeschlafenen Beinen baumeln und nur gefragt reden dürfen? Und gar jenes andre, von dem man nicht sprechen mochte, nein, lieber sterben! Jenes: in der hohlen Nacht schiefgekauert vor Grauen, ganz allein im Schwarzen liegen, wenn es sich in den Ecken ballt ohne Gegenstand und man es anfleht, nur nichts zu werden! Wo man die übermüden Augen immer wieder aufreißt, denn sie sind das letzte, mit dem man das in den Ecken noch bändigen kann. Ist man aber eben eingenickt, sofort wieder zitternd heraus müssen im Winterdunkel, mit Nebel im Magen, um übel vor Hast zur Schule zu stürzen, übernächtig in Angstschweiß ... jeden Tag und jeden Tag, Jahr um Jahr.

Selber wußten sie allerdings kümmerlich wenig anzufangen mit der unermeßlichen Macht und Wonne ihrer Erwachsenheit, diese Wesen, überzogen mit Trübe, Zähe und Verdruß. Taten immer so, als täten sie: unausdenkbar Wichtiges. Dabei war es gar nichts. Lauter schäbige, träge, unreine, störende, überflüssige Dinge. Warum wedelte Mama, zerzaust und verzerrt, mit einem widerlichen Lappen in der Hand, den halben Tag zwischen den Möbeln herum, wo doch das Stubenmädchen und der Diener dazu da waren? Eine böse und schweißige Märtyrerin des schönen Hauses, statt lieber durch die weiten, hellen Räume oder den Garten zu galoppieren und Reif zu schlagen. Warum hieß es „Ernst des Lebens“, wenn Papa am Kontorofen lehnte, die Zeitung las und rauchte, während genau dasselbe vor dem Speisezimmerofen getan „Erholung“ hieß?

Einmal geschah etwas zum Zittern Ekles. Nie zu Vergessendes: während die Köchin appetitlich dasaß, in grünweißer Schüssel reizende rote Radieschen wusch, griff Mama mit ihrer Hand — der eigenen nackten Hand — griff sie ganz von selber, ohne daß sie doch mußte, einem blutigen Hühnerkadaver von unten in den klaffenden Steiß hinein, ganz tief bis in die violetten, stankgeschwollenen Eingeweide, riß an den glitschigen, daß sie herausspritzten. Oh, wie es dann unter ihren Nägeln aussah!

Das Kind ballte die Fäuste. „Wer das über sich bringt, ist keine Dame mehr.“ Und fast weinend vor empörter Reinlichkeit: „nein, lieber verhungern.“ Papa war dabei gewesen, hatte es auch gesehen und doch begann er ihr nach Tisch mit jener reuigen Gedrücktheit schmatzend die Hände abzuküssen, wie immer, wenn sie zerlechzt dasaß und in schweißiger Überbürdung schwelgte, denn beide schätzten Szenen sehr. Seither war er für seine kleine Tochter nie mehr derselbe, war irgendwie herabgekommen. Sie fühlte dunkel: es gibt Hände zum Hühnerausnehmen und Hände zum Küssen. Beides, nein! Schmiegte sich von nun an seltener in seine Arme und aß Hühner überhaupt nicht mehr, erbrach sich schweigend immer wieder, wenn man sie dazu zwingen wollte. Hatte Mama etwas geahnt? Sich hinter Papa gesteckt? Plötzlich hieß es:

„Du bist jetzt groß genug, es wäre Zeit, der armen Mama ein bißchen in Haus und Küche an die Hand zu gehen.“

Sie fühlte die schmutzige Schlinge. Mit zusammengebissenen Zähnen, gefrorenen Mord im Gesicht:

„Dazu sind die vier Dienstleute da, überdies Gärtners und Portiersfrau.“

Man nahm ihr die Geige weg, verbot Latein und Griechisch, die sie privat betrieb. Auftritt über Auftritt. Mama stülpte polternd Keller und Bodengerümpel um, sank dann erschöpft in Sessel, rückte eine ausgearbeitete rechte Hand mit zerbrochenem Zeigefingernagel anklagend in den Augpunkt töchterlichen Mitleids, während Papa dräuendes Düster aus knochenüberhangenen Augen hervorschoß, bis schließlich alles zu einem latenten Dauervorwurf gerann.

Oh, wie sie Szenen haßte! Szenen deckten ja alles auf, und es hieß doch schon so genug vertuschen, damit es nicht herauskam, wie minder sich die Großen benahmen. Das aber sollte nie offenbar werden. Lieber warf sie sich mit ausgebreiteten Unarten rechtzeitig dazwischen, um eine auftauchende Hemmungslosigkeit, unvornehmes Gehaben der Eltern vor Fremden ins Erklärliche zu rücken. Fühlte sich irgendwie für diese Eltern verantwortlich aus ihrem Tiefsten heraus: dem Drang nach Reinheit. Wollte wie aus klarem Bade gestiegen sein. Setzte sich darum oft vor sich selber knirschend ins Unrecht; keineswegs aus Liebe oder Güte. Von letzterer hielt sie vorläufig nicht viel. War noch zu jung, vertrug die Dummheit nicht, die vom Guten zweiten Ranges ausstrahlt, verwechselte Güte noch mit Sentimentalität.

Einmal galt es, nicht nur Unrecht —, bitterer noch: das Odium des Ungeschmacks fälschlich auf sich zu nehmen. Es war am zwölften Geburtstag, als Mama das mit der neuen Zimmereinrichtung verdrehte.

„Du kannst sie dir selbst wählen, heuer zum Geschenk,“ hieß es.

Kühne Pläne wurden geschmiedet. In der Tanzstunde riet die gedunsene Valerie:

„Nimm Eiche mit Gobelins.“

„Nein, blaue Seide mit weißem Lack, auch ein Bidet aus weißem Lack mit Goldknöpfen dazu,“ drängte Olga, die den finnigen Teint hatte vom vielen Käseessen.

Das beneidete Geburtstagskind aber hüllte sich in seliges Geheimnis: „nein, etwas ganz Neues, ganz anderes, ihr sollt sehen. Und zu mir passen muß es wie das Haus zum Schneck.“

Mama sah die Entwürfe. Ja, aber auf dem Boden liege noch ein bedruckter Kreton, der müsse für die Möbel verwendet werden, auch zwei Vorzimmerschränke sollten herein. Schließlich ergab es sich, daß alles schon bestimmt war, lauter vorhandene Reste. Nur die Form der Sesselgestelle unter dem scheußlichen Blümchenkreton blieb ihrer freien Wahl überlassen. Sie hörte gar nicht mehr zu, was der Tapezierer schwatzte. Aus. Kein Kompromiß. Mochten sie machen, was sie wollten. Alles oder nichts ... natürlich wurde es dann immer „nichts“.

Zum Geburtstag kamen die aus der Tanzstunde mit Buketts, rümpften die Nasen. Jetzt Zähne zusammen und Kopf hoch; dann leichthin:

„So sei es gerade recht, so müsse es sein.“

Und sie warf sich vor diesen Kreton, vor diese Vorzimmerschränke, als wären es elterliche Mängel.

Abends aber hieß es in ihre verdunkelte und freudlose Miene hinein:

„Nicht einmal bedankt hast du dich noch bei der armen Mama und hat doch solche Mühe gehabt mit deinem neuen Zimmer, hat sogar da wieder alles allein machen müssen.“

Samstag von fünf bis sieben war Tanzstunde im Institut Crombée-Wokurka. Schon die Ankunft im Vorraum, ein kleiner Triumphzug für jede der sechs Eliteschülerinnen. Vom Salonschreibtisch, vor den verschlossenen grünen Läden, erhob sich im Gaslicht Madame Crombée-Wokurka, und unter der Mahagoniperücke fletschte ihr wunderbar falsches Gebiß schmeichelhaft Willkomm. An der Tür des Tanzsaales aber stand Monsieur Crombée-Wokurka selbst und seine Beflissenheit teilte vor einem die hopsende Plebs auf dem Weg zur kleinen Privatgarderobe der Auserlesenen. Er schwebte dahin wie der Ballon ihrer Babytage, denn sein Bauch schien lauter Luft. Aus ihm hingen die Beine herab mit krummen Lackschuhen als Gondeln. Ein leichter Auftrieb nur, ein Zephir, und er stiege zum Plafond, dort entlang zu bumsen, noch immer mit den Füßen trillernd.

In der Garderobe aßen die sechs Bevorzugten dann selbstherrlich Orangen und Bonbons, indes das Anfängervolk draußen in seinen Niederungen schwitzte, bis man es für gut befand, zu erscheinen und die hohe Paradeschule anhub: unechte Sachen auf der großen Zehe, ein kastrierter Fandango, dann Polnisches, Russisches, Schottisches, Indisches, Lappländisches, Dionysisches für den Mittelstand.

Und doch war jeder dieser Samstage ein kleines Fest bis zum Tag des Skandals mit der Frau Binder um Ernas willen. Schon zu Hause mußte sich Dunkles und Empörendes bei Binders abgespielt haben, denn von den Schwestern kam Erna, die halberwachsene, die nußbraune, sonnige, ganz verweint an, während Mimi, das kleine Aas, triumphierend die Mutter umschwänzelte. Später ein Streit um ein Paar Tanzschuhe, Mimi, weil im Unrecht, quietscht um Hilfe, lügt während der Tanzpause alles heimtückisch und verdreht der Mutter vor; die schleift Erna aus dem Kranz der Tänzerinnen, ohrfeigt sie klatschend unter Gekreisch vor aller Welt, Erna, zerschluchzend in Scham, stürzt zur Garderobe, gräbt den Kopf in den Diwan, riegelt sich ein.

Mitten unter beschwichtigenden Müttern sitzt roh und feig das Binderweib. Oh, wie war diese Person widerlich! Als risse sie den ganzen Tag fanatisch Eingeweide aus Hühnersteißen. Und das sollte Macht haben über menschliche Wesen?

„Sag’ Erna, sie hat herauszukommen — sofort hat sie herauszukommen, bring sie her, hörst du, Sibyl?“

Eine Verbeugung, ein lässiges Gehen. Dann wiederkehrend, eine zweite tadellose Verbeugung. Dann eisklar vor Empörung — über alle angeborne Scheu begafftes Zentrum zu sein, hinweg — in die verlegene Stille hinein:

„Erna wird erst kommen, bis Sie, gnädige Frau, sich anständig betragen.“

Zu Hause erzählte sie, noch ganz im roten Nebel gerechten Zornes das Geschehene.

Da verschrob sich auf einmal wieder alles in dieser unberechenbaren Erwachsenenwelt, und sie saß — wie damals im Wagen — bestürzt mit einem Bums selber in unabsehbaren Folgen: in einem Abgrund eigener Verworfenheit.

Man schlug die Hände zusammen. „Nächsten Samstag wirst du öffentlich in der Tanzstunde Frau Binder um Verzeihung bitten.“

„Aber Erna war im Recht, wir waren im Recht.“

„Ganz gleich, ein Kind wie du hat sich kein Urteil anzumaßen.“

Also Erwachsene durften sich unkritisiert Kindern gegenüber das Gemeinste erfrechen! Nicht nur, daß man nie Recht bekam, hieß es auch noch sich knirschend, mit gesträubten Nerven gegen besseres Gewissen demütigen, denn tat man es nicht, wurden die Eltern schreiend und würdelos; das mußte jedoch um jeden Preis verhindert werden.

Sie wünschte Frau Binder oder sich bis Ende nächster Woche glühend den Tod. Oder ging vielleicht die Welt rechtzeitig unter. Jetzt blieb nur noch ein Tag — eine Nacht — ein halber Tag. Schließlich die Hinfahrt. Stürzte doch ein Pferd! Bräche der Wagen! Gasse um Gasse, Eck um Eck kroch der Moment tödlicher Schmach heran. Schon die Treppe! Kaltgrünes Eis stieg das Mark hinauf, bittre Wasser quollen im Mund. Jetzt noch drei — zwei — eine Stufe; das Vorzimmer. Noch ein Hirnblitz Hoffnung: vielleicht fehlten Binders heute? Nein, dort standen schon die Galoschen. Keine Rettung — aus.

Die Qual dieses Samstags verseuchte alle die früheren, frohen — alle ferneren auch.

Aber konnte denn das schon das Leben sein? Diese unharmonischen Brocken, aufgereiht an einem Faden Angst. Sie gewöhnte sich, alles als unwirklich zu empfinden, als Fehler und irrer Vorhalt nur: lebte wie von einer fernen Küste her, ganz in Silberdämpfen der Phantasie. Lernte sich auch immer reiner und herber abgrenzen gegen das Vorläufige. Züchtete sich ausschließlich dem Eigentlichen entgegen. Es hatte doch auch sein Gutes, so ein ganz alleines Ich zu sein, nur aus sich selbst heraus veränderbar. Da schloß man sich zu und liebte bloß nach Wahl herein.

Zum Beispiel einen Barsoi.

Beim ersten Anblick des unvergleichlichen Tieres, das fremd und resigniert hinter seinem wiener Herrn schritt, geriet sie in tagelanges Entzücken, bekam feuchte Augen vor der Harfe dieses Leibes, dem durchscheinende Rippen gleich Saiten anlagen, ruhte auch nicht, bis sie die eingezogenen Flanken des russischen Windspiels am eignen Körper lebendig besaß. Eine Übung war dazu besonders gut: auf dem Rücken liegend, den Leib sichelförmig einsaugen, und in die Mulde das Gefäß mit den Goldfischen ausgießen. Konnten die Fische dann in dieser Beckenschale, ohne Grund zu berühren, flossenschlagend umherschwimmen, war es in Ordnung und ergab am aufrechten Körper den heißerliebten Kontur! Wenn nicht, änderte sie Nahrung, Bewegung, Atem, bis es wieder ging. Eine Kontrollübung, nichts weiter.

Einmal bekamen die aus der Tanzstunde es zu sehen.

„Du bist übertrieben,“ hieß es.

War etwas halbwegs wie es sein sollte, nannten sie es immer übertrieben.

„Du bist eine eitle Egoistin“ und Olga, die trotz finniger Haut vom Fettkäse nicht lassen mochte, blähte sich: „Man muß für andre leben. Ich werde für die Idee der Menschheit auf den Barrikaden kämpfen.“

Sie probierte vor dem Spiegel eine Jakobinermütze aus rotem Seidenpapier ...

„Und überhaupt kommt es auf die Seele an.“

Sibyl, die Jüngste, zog sich scheu und völlig unüberzeugt in sich selbst zurück. Fühlte tastend: weil Olga zu schwach und faul ist, vom Käs zu lassen, drückt sie sich an sich selber vorbei ins Gemeinwohl. Weil sie nicht die Kraft hat, die Menschheit zuerst einmal am eignen Leib zu vervollkommnen. Eine Watschelgans bleiben und darauflos beglücken, wie billig; Seele? Eine saubre Seele, die noch nicht einmal imstande ist, sich eine reine Haut, edle Glieder zu machen.

„Ich glaube auch gar nicht, daß es den Männern gefällt,“ sagte die gedunsene Valerie.

Wollte sie denn damit gefallen? Nein, in Ordnung sein, ganz einfach: wie geputzte Zähne, polierte Nägel haben. Wozu deshalb Aufsehen und Getue? Merkte eigentlich immer erst an dem dumpf rindhaften Glotzen ringsum ganz jäh, wie wenig man dem nachfrage, was ihr wie Lebensluft: leicht und unentbehrlich.

Und verstummte dann meist; aus einem großen jungen Nebel von Scheu heraus, beinahe Scham. Mußte denn wirklich jede Wahrheit, die einem durch und durch ging, immer erst noch oben in diesem negligablen Schälchen Großhirn zu Argumenten gerinnen, damit sie gelte?

Waren Diskussionen nicht entweder vergeblich oder überflüssig? Spürte irgendwie beweislos, gleich einem Axiom: „so lang in meinen eignen Weichen noch ein Gran Fett, also: Träges und Gemeines sitzt, ist es einfach eine Frechheit, die Bürde der Selbstvollendung in Form von Gemeinwohl von sich abtun zu wollen.“

Seit dem Malheur mit dem deutschen Aufsatz war es mit den „ablenkenden“ Spielen im Garten bei Butz und Iblis ziemlich aus.

„Das schickt sich nicht mehr für ein so großes Mädchen,“ hieß es, „dieses Herumkugeln auf der Erde mit den Tieren.“

Niemand aber konnte sie hindern, dafür täglich beim Durchfahren des Hofes die Schultern des bronzenen „Eidechsentöters“, den Papa in der Fabrik hatte nachgießen lassen, inbrünstig in sich hereinzulieben. Das Jünglingsfreie, Feenfreie dieser Schultern, wie eines geflügelten Wesens, glänzte ihr jedesmal ins Herz, bis sie es auf geheimnisvolle Weise mitversponnen in ihr Blutnetz, durch eine Art von nun an das Haupt zu tragen, sich zu recken, wenn sie laut Pindar vor sich hinsprach.

Aber eigentlich war auch das noch nichts. Genau wie das Matterhorn konnte alles immer doch noch besser sein, sogar in seiner eignen Linie und: „in mir muß es besser werden“ ward zur Mission. Die harfenden Flanken des Windspiels, das Ruhen der Katze, das Äugen des Rehs, die Flügelschultern des praxitelischen Knaben; alles nur zu durchlernende Stadien, Mittel, um selbst das „Noch-nocher“ zu werden. Hieß „leben“ denn nicht einfach die Verpflichtung, eine neue Vollkommenheit in sich körperlich zu machen?

Alle seine Ideale direkt in die Materie zu säen!

Sich wie ein köstliches einmaliges Gefäß zu halten, dessen Schale nicht verbeult, dessen magischer Inhalt nie verunreinigt werden durfte.

Weit und breit tat’s ja keiner sonst, und um Himmels willen: endlich mußte doch etwas geschehen. So ward dieses junge Wesen, da es um sich keinen Idealtypus ausgebildet vorfand, gezwungen, die eigne Persönlichkeit überwertig werden zu lassen, beinah weinend manchmal in seines Herzens Andrang.

Die Eltern aber saßen Tag um Tag nach Tisch bei ihrem ewigen stumpfen Schach. Herausschreien hätte man sie mögen aus ihrem Schach.

„Ich, ich, ich bin noch ein unlädiertes Exemplar! Un—lä—diert —, hört ihr! Noch ist nichts verdorben! Nicht helfen, oh Gott, nur hindern sollt ihr mich wenigstens nicht! Bitte, bitte nicht!“

Alles in ihr bäumte sich auf gegen die freudlose Routine, die verfaulten und schauerlichen Kindereien der Erwachsenenwelt. Wie war das Alter widerlich und verächtlich. Ohne Selbststrenge in seinem mürben Fleisch! Ein Weltbeben — würde doch der Sirius einmal explodieren — mitten in den schwarzen Kaffee und mitten hinein ins Schach!

Die Eltern sahen immer ratloser diesem Giraffen- und Windspielwesen zu, das kerzengrad, erbittert, stumm und über die Maßen wunderbar von ihnen wegwuchs. Es selbst aber ward jammervoll herum geworfen zwischen Schwachmut und Hochmut. Denn nichts ersehnt ja ein feinerer Mensch inbrünstiger, als nur Ebenbürtiges um sich zu haben; mehr noch: sich hinbreiten dürfen vor etwas, das besser ist als er. Glücklich nur in einer Welt, die ihn zum guten Durchschnitt reduzierte. Denn der sinnlich Wohlgeratene mag auch nur wieder Wohlgeratenes um sich dulden, anderes tut ihm zu weh in seinen Augen. Wer dagegen die Inferiorität seiner Umwelt mit befriedigter Eitelkeit, statt mit Qual und Scham konstatiert, gehört ihr selber zu, und ein Überlegenes solange hämisch umlauern, bis man glücklich einen Fehler, eine Lächerlichkeit, eine Schwäche daran entdeckt zu haben meint, ist untrügliches Pöbelmerkmal.

So wehrte sie sich qualvoll immer wieder, ihr Anderssein als Höhersein werten zu müssen. Vielleicht war alles falsch? Vielleicht ließ es sich doch noch abgewöhnen, oder ein Schleier wuchs einem vor den Augen, den allzu klaren, man sah nicht mehr wie kalt, unrein und träge die Welt ringsum war.

Erst vor der Wahrheit ihres vierzehnjährigen Aktes sank jeder Zweifel dahin. Hohe zarte Beine wuchsen aus allen Kleidern heraus, hoben sie höher, immer höher über Morast und Mob, lange Schenkel spiegelten durch die Scheußlichkeit aller Moden hindurch. Voll Ehrfurcht stand sie im Springbrunnen ihrer Glieder: dem hüftenlosen Strahl aus Milch und Silber. Wo er an den Flügelschultern in die Arme niederfloß, dort oben spielten in ihm zwei winzig harte Kiesel, von paradiesischen Wassern hochgeschliffen. Das Mädchen-Kind aber trank sich, berauschte sich mit zitternden Wimpern an diesem verwegenen, makellosen Strahl, zu dem es „ich“ sagen durfte.

Und war von nun an nicht mehr gemein zu kriegen.

Aber warum, um Himmels willen, sollte man denn nicht so, ganz so, durch die Welt jubeln und alle rufen und ihnen diese ungeheure Freude immerwährend in ihre Augen schenken? Nicht einmal Papa sah es richtig und Mama verstand ja nichts davon.

Damals erweckte sie die erste grenzenlose Hingebung und beging die erste überflüssige Infamie.

In drei Zimmern, voll geretteten Strandgutes aus Lebensschiffbrüchen, wohnte Madame Paola Swoboda née comtesse de Noailles „leçons de conversation et littérature française“. Ölige Korkzieherlöckchen hingen ihr, gleich der Kaiserin Josephine, in die alternde Stirn. Aus dieser wieder hing an einem dünnen Stiel mit Zwicker eine gedunsene Nase herab. Groß, würfelförmig und unendlich einsam saß sie den ganzen Tag vor der einen Seite des Löschblattes. Auf der andern saß jede Stunde ein andrer Frischling dieser verachteten Tribus und zergrunzte die adorable Sprache Racines und Molières. Auf das Löschblatt selbst aber malte während der Lektion die schmale alte Hand mit dem Rotstift unaufhörlich Schnörkel, wie aus einer bessern Welt. Ganz aus dieser besseren Welt herübergerettet schien nur der kleine Finger mit dem wunderbar geschliffenen Nagel. Sie hielt ihn immer ängstlich weggestreckt vom Vierten und seinem Doppelreif der Witwenschaft, nach einem österreichischen Leutnant Swoboda aus Greislerblut. Eine romantische Seebad- und Entführungsgeschichte. Epilog: „leçons de conversation et littérature française,“ den ganzen Tag. Nur die Stunden vor und nach Sibyls Lektion blieben leer. Ein kleines Fest der Distanz zu Ehren der Lieblingin. Kein andrer Schüler durfte ihr Kommen kreuzen. Das bedeutete acht Stunden entgangenen Honorars pro Woche. Aber was machte es, saß nur dort wieder das Zauberkind mit den Zykadenbeinen und man durfte aus seinem Mund die eigne geliebte Sprache hören. Eine Blume, ein Bonbon bezeichneten stets die Stelle, wo weiterzulesen war. Später zerbrach sie sich ihren lieben alten Kopf, immer seltenere Proben der angebeteten Kultur aufzustöbern und war glücklich, wenn etwas davon, so so — la la vor dem hellen Giraffenkitz ihr gegenüber Gnade fand.

Dieses nahm der Madame Swoboda dafür ganz en passant den lieben Gott weg und schenkte ihr zu Weihnachten, an seiner statt, einen leider ganz verlausten Papagei. Die alte Comtesse hatte ihr Leben lang den lieben Gott geliebt und Papageien gehaßt. Nun gab sie klaglos Gott dahin, weil die Lieblingin sich einmal mißbilligend über die Unsterblichkeit geäußert und schloß das ganz verlauste Paperl mit Entzücken in ihr großes, zartes, brennendes Herz. Blusterte sich „Coco“, während der Stunde auf ihrer Schulter hockend, auf, streifte sein Brustflaum nur ihre Wange, traten ihr schon Tränen der Zärtlichkeit in die Augen: „chérie adorée“, und sie berührte sein Köpfchen mit den Lippen.

Eines Tages traf Sibyl die Französin recht niedergeschlagen. Eine Todesnachricht.

Mon oncle, qui était toujours si bon pour moi.

Nun entfiel der monatliche Zuschuß aus Paris. Zwar war sie im Testament bedacht worden, doch bis alles erledigt, konnte der Sommer vergehen, man saß da in der heißen Stadt, konnte ohne Bargeld nicht aufs Land, trotz der Erbschaft.

„Wie unangenehm,“ sagte Mama, „nun ja, wenn du dein Erspartes dafür hergeben willst? Ich werde es ihr anbieten, als käme es von Papa und mir.“

Im Herbst war noch immer nichts erledigt. Madame Swoboda erbot sich, das Darlehen in Form von Lektionen abzutragen. Die Eltern nahmen an, wiewohl es Sibyls Taschengeld gewesen. Immer bedrückter wurde es in den drei Zimmern. Die Miterben hatten das Legat angefochten. Advokaten fraßen den Rest. Malheur mit Schülern kam dazu. Noch einmal half Sibyl heimlich aus mit allem was sie hatte. Heimlich, denn daheim war Panikstimmung. Das bürgerliche Gespenst des Angepumptwerdens ging schlotternd im Hause um. Papa stand wie vor einem Abgrund, bewegte stumme Lippen gegen einen unsichtbaren Belästiger, schüttelte dabei geniert und sauer das Haupt. Bei Mama war es direkt ein kopfloses Grauen, ganz wie im Theater, um vor Schluß rechtzeitig die Garderobe zu erreichen. Noch bei offener Szene drängte sie da, wie eine Gejagte, zum Aufbruch. Von der Mitte des letzten Aktes an war an sorgloses Zuhören nie mehr zu denken.

Einer eventuellen neuerlichen Bitte um ein Darlehen vorzubeugen, wurden die französischen Stunden abgebrochen; Vorwand: eine Reise. Wie vom sinkenden Stein die fliehenden Wellenringe, zog es sich jetzt von Madame Swoboda zurück. Warum eigentlich? Diese tolle und bedrohliche Erwachsenenwelt war immer voll solcher Sachen. Einmal gab Papa etwas wie eine vernichtende Erklärung dafür ab.

„Sie muß schon vorher vom Kapital gezehrt haben.“

Das klang wie: „seine eigne Großmutter gefressen haben“. Oder wie die Sünde wider den Heiligen Geist: auf alle Fälle das einzig wahrhaft Unsühnbare je und je.

Dennoch — dieser Abbruch schien zu unanständig — schickte Sibyl nach einem halben Jahr ein paar höflich liebe Zeilen, versprach einen Besuch, verschob ihn dann immer wieder unter der latenten Suggestion, vergaß schließlich ganz. Nach Monaten kam ein Weheschrei:

„chérie adorée,

pourquoi me faire autant souffrir? Quel supplice que cette attente!“

Aus Scham zögerte sie nun erst recht. Scheute diesmal das Aufgebauschte der ganzen Situation. Wieder nach einem halben Jahr war Madame Paola Swoboda née comtesse de Noailles still, arm, einsam gestorben.

Die erste überflüssige Infamie. Das kam davon, ließ man sich von Erwachsenen auch nur halbwegs in etwas wie Beeinflußbarkeit hineindupieren und überhaupt: „vom Kapital zehren“ konnte gar nicht so wie etwa „die Großmutter auffressen“ sein, gleichen Jahres tratschten es die Leute in der Sommerfrische doch auch von Papa. Allerdings war das Mamas Tun. Frucht ihrer zitternden Andeutungen von dubiosen Bergwerksunternehmungen. Gedrückt und machtlos schlich sie dahin: eine hilflose Frau eben, mitgerissen in den Ruin des halsstarrigen Gatten.

„Ich darf ja nicht klagen,“ klagte sie der Tochter — dann bitter: „es ist ja sein Geld.“ Rächte sich so, halb unbewußt, durch Kleinheitswahn für die peinliche Überlegenheit des erfolgreichen Gefährten, statt die Vorteile seines Arriviertseins froh mitzugenießen. Meisterin nur in einer ehelichen Kunst: „l’art d’être martyre.“

Ja, er hatte wirklich Verluste gehabt, Bruchteile seines jährlichen Einkommens betragend, ließ es aber aus Ärger oder Schwäche schweigend zu, daß reine Sparorgien anhuben. Sibyl angesteckt, getraute sich kaum mehr zu essen. Es war ein stillschweigender Ehrgeiz zwischen Mutter und Tochter ausgebrochen, die Rechnung im Restaurant täglich zu verringern, auf ein lächerliches Minimum zu reduzieren; schließlich aß man nur mehr jeden zweiten Tag zu Abend. Die Sommergäste stutzten. In gleichen ängstlichen Wellenkreisen, wie vor Madame Swoboda, wich es jetzt vor ihnen zurück.

„Sie fürchten sich, wir könnten sie um Geld angehen,“ und Mama rang die Hände im Schoß, mit der Miene verschlagenen Jammers. Dann begann sie zu weinen.

Dieselben Leute waren später ehrfürchtig erstaunt, in der Stadt, anläßlich eines Blumenkorsos, in ein Privatpalais mit großem Park und angrenzender Fabrik geladen zu werden, mit Stallungen, Wagen und Dienerschaft. Auch Sibyl schöpfte wieder Mut: „das alles gehört doch Papa.“

Die Mutter, in der Not der fast ertappten Hysterischen, tat geheimnisvoll. Dann schadenfroh flüsternd:

„Im Haus ist doch der Schwamm.“

Der Schwamm! Sibyl meinte förmlich zu sehen, wie ihr Heim aufrechten Leibes verweste, eines schönen Tages aus den Grundmauern heraus zu stinkendem Brei zerfiel, vor dem man ratlos auf der Straße saß.

Durch den großen Organismus dieses Haushalts lief immer Geiz in Krampfadern. Im Licht von vierzig Glühlampen ward am Zündhölzchen gespart. Wunderliche Hemmungen im Hausherrn selbst. Starre, Schwäche, Wahn, ihm anhaftend aus enger Jugend, lag dem allem zum Grunde. Ein Kuß, ein Scherz, anmutiger Spott hätten diese Restbestände vielleicht lächelnd aufgelöst, so aber verbreiterte sie das karikierende Märtyrertum seiner Frau wie mit Scheinwerfern über das gemeinsame Leben. Schon stumme Duldung einer Ersparnis wurde zu stummem Befehl umgedeutet, dem man mit leidender Beflissenheit zuvorkam, wie um weit Ärgeres auf diese Weise eben noch abzuwenden. Seine intimsten Irrwege fand er solcherart immer schon vor seiner Nase zu Chausseen ausgebaut; was Wunder, daß er sie mechanisch weiterging.

Einer alten nordischen Stadt entstammend, war er als Erster aus der Geschlechterkette von Gelehrten, Staatsbeamten, Ärzten, erobernd herausgetreten, in der Fremde die langgezüchteten Fähigkeiten lukrativ als Erfinder und Unternehmer zu verwerten. Kulturell Patrizier, materiell Parvenü, blieb der reine Ruf seines Blutes der Kargheit zugewandt, sein starkes künstlerisches Sehnen aber brach sich am Weltpovel dieser ganz von Gott verlassenen siebziger und achtziger Jahre. So schnellte er auch aus Trotz zuweilen wieder in die Kargheit zurück.

Ein jähzorniger, steckengebliebener Weltherr, dessen mächtiger nordischer Same durch den nichtigen Leib seiner hübschen Frau hindurchgeschlagen hatte, als wäre sie Nur-Gefäß, um in einem einzigen Kind geheimnisvoll sehnsüchtig sich selbst zu „überzeugen“. Oder rührte die Entstehung dieses Wesens schon an das Geheimnis, wo die Natur plötzlich zu „springen“ anhebt: fecit saltus. Das Beispiellose aus sich heraufwirft in einer generatio spontanea als neue Art, wie es im Reich der Pflanze sich zu offenbaren beginnt? Maßlos für dieses Spätgeborne war seine Eitelkeit, seine Liebe und sein Unverstand. Gewaltsam, instinktirr, barbarisch und sentimental dilettierte er an ihm herum. Entfachte Diskussionen, um seinen Stolz in dem leuchtend frischen Hirn zu sonnen, zugleich mit seiner Tyrannei, denn nahm die Polemik eine andre Wendung als er vorausbestimmt, oder ward er gar selbst in die Enge getrieben, verbot er seiner Tochter einfach den Mund, und um so heftiger, je hohler der formale Vorwand:

„Genug — kein Wort mehr — ein junges Mädchen hat sich nicht so apodiktisch zu äußern, das wirkt unbescheiden und abstoßend.“

Wie sie als Kind nicht hatte weiterfragen sollen als er wußte, so jetzt nicht weiterwissen als er frug. Empört tat sie unter so unfairen Bedingungen nicht mehr mit, lehnte Diskussionen schweigend ab, oder gab ausweichende Antworten. Nun verfiel er darauf, sie bei Tisch, wo Flucht schwieriger war, systematisch so lange zu reizen durch hämische Angriffe auf große moderne Geister, die er nicht kannte, aber mißbilligte, bis sie in zitternde Worte ausbrechend, sich wieder fangen ließ; denn hier war das ja anders als mit denen in der Tanzstunde; Papa wollte man nicht so ohne weiters aufgeben, wenigstens nichts unversucht lassen, ihn doch noch zu heben, zu entwickeln. Hätte es nur nicht immer gerade bei dieser barbarischen, gemeinsamen Esserei sein müssen, mit ihren trivialen Vorwänden zum Unterbrechen:

„Die Leber vielleicht etwas brauner rösten, das nächste Mal ...“ oder:

„Nimm noch von der Paradeissauce.“

So trieb dieses verhaßte, nichtige Erwachsenengewäsch stets Keile quer in die Gedankenrichtung hinein: gerade wenn man mit glühenden Ohren im Kühnsten und Herrlichsten gewesen.

Reitstunden begannen. Der Pferderücken wurde Ziel ihrer noch diffusen jungen Sinne. Ein Gefühl kam sie da an von Göttlichkeit, wenn ihr liebkosender Wille allein, ohne Hilfen durch Ferse oder Hand, übersprang als schäumender Galopp in die große fremde Kreatur, die zitterte, bis das Fell der Kruppe zu glänzen begann wie reife Kastanien. Und der Sturm des Sprunges erst. Wie war das schön! Sein triumphierendes Arom nach Tier, Lohe, Leder, Hürde, nach verdichtetem Frühlingswind.

Man grinste: „Reiten! Natürlich. Will sich einen Grafen fangen, die kalte Streberin!“ Der Stallmeister verschwor sich, seit der Kaiserin Elisabeth sei so etwas an Begabung nicht dagewesen, drang auf hohe Schule, gab sein Bestes. Der väterlichen Eitelkeit jedoch genügten ein Dutzend Ausritte pro Saison, um in den großen Alleen angestarrt zu werden. Weitere Abonnements wollten erbettelt sein, gaben ihm dann das Recht, war er gerade schlechter Laune, zu rohen Anspielungen, die Kosten und dubiose Rentabilität einer Tochter betreffend. Da kam es wieder über sie wie am zwölften Geburtstag bei der Zimmereinrichtung: alles oder nichts. Kein Kompromiß. Und gab das Reiten auf. „Undankbar und unbescheiden“ nannte es Papa.

„Man sieht Fräulein ja gar nicht mehr zu Pferd?“ frugen die Herren aus dem Tattersall, freudig Unrat witternd.

„Es langweilt mich,“ log sie, dem Weinen nah, um Papas Schäbigkeit zu decken, preßte die Nägel dabei ins Fleisch vor Schmach.

Man schüttelte die Köpfe:

„Nein, was dieser Backfisch schon blasiert ist!“

„Und wie unerträglich affektiert,“ ergänzten die Damen. „Schauen Sie sich nur diese Bewegungen an.“

Und man schnitt mit triumphierendem Daumen längliche Biskuits von idealer Schlichtheit in die Luft. Optimisten meinten zwar: „vielleicht wächst sich das noch aus.“ Hielten sich mehr an Milch und Silber der siebzehnjährigen Blondheit, denn wiewohl sie abfällig gereizte Erregung auszulösen begann, gab man nichts verloren. Vielleicht ließ sich dieses unbequeme Phänomen, tat man ihm schön, doch noch meuchlings — schmeichlings — zu dem degradieren, was hier gefiel, oder das Unfixierte an ihm war wenigstens noch herunterzuretten ins Rasselose.

Fern wie ein Birkenwipfel sah das Mädchen-Kind über das alles hinweg, dachte nur erstaunt:

„Wozu ernähren sich eigentlich die Leute? Schade um alle die Engel von Kälbern, den herzigen Salat, von den Radieschen ganz zu schweigen. Das ist doch wie es liegt und steht bei weitem erfreulicher als der Zellhaufen: Regierungsrätin Dostal, oder Herr von W., oder Frau Dr. K., in den es sich dann umsetzen muß.“

Eines Tages erschienen ein paar Herren in Hof und Stall. Besichtigten alles, vermaßen alles; in der Mitte ein Ausgemergelter mit Geierschnabel und schöngebogenen, harten Krallen: Pferdegraf und Käufer der Realität. Zimmer, Statuen, Garten kümmerten ihn wenig, schlief und aß ja doch mit den Roßknechten im Heu. Aber ging es aus, im Hof die Viererzüge zu wenden, deren er vierzig hielt? Darum drehte sich alles. Ja, es ging aus. Mama schlich, die Faust an den Mund gepreßt, herum.

„Wenn er nur nicht dahinterkommt, daß der Schwamm im Haus ist.“

Nach Monaten noch konnte sie ganze Nachmittage unter Angst setzen, von Schadenersatzprozessen schwärmen, denn: „Schwamm bräche Kauf.“ Ihre ewigen Klagen über Kosten und Mühsal so großen Haushaltes hatten schließlich den Gatten vermocht, sich von dem geliebten Barockschlößchen Hildebrandts zu trennen. Nun konnte ihre Tyrannei der Schwäche den überragenden Mann und das viel zu herrliche Kind in eine Mietwohnung ducken. Schwammersatz würde sich schon finden lassen.

Sibyl, in verkrampften Nächten, gab sich zum ersten Mal ganz der Onanie des Leidens hin. Kein Eigenheim: also kein Reh, keine Katze, keinen Garten: keinen Fleck Leben mehr! Man grinste:

„Jetzt ist es wenigstens aus mit der ewigen Tierschinderei. Soll ja da eine ganze Menagerie gewesen sein.“

„Was, Sie wissen nicht? — Aber das ist doch stadtbekannt. Ins Wasser geworfen, gepeitscht, gebraten hat sie die armen Kreaturen ... häuserweit war’s ja zu hören ... und auch sonst noch ... Die Frau Regierungsrat Dostal, die doch danebenwohnt, hat erzählt ... na, ich sag’ Ihnen ... mit dem großen Hund ... Sie verstehen.“ Die Herren zwinkerten. Die Damen konnten es gar nicht fassen, ließen es sich denn auch immer wieder erklären und sinnfällig dartun.

Papa brummte, es wäre ihr ja freigestanden, weiter hier zu wohnen, als Herrin sogar. Der neue Besitzer hatte sie zu Pferd gesehen.

Da hob das Mädchen-Kind, statt aller Antwort, nur ein ganz klein wenig die Brauen, im unbesieglichen Hochmut einer Siebzehnjährigkeit, die sich nur von der Phantasie bespringen läßt. Dieser Roßmensch? Der fuhr mit seinen Viererzügen doch irgendwo ganz draußen, vor dem Leben herum! Gehörte noch gar nicht zum „Eigentlichen“, ein fehler und irrer Vorhalt, wie das Übrige.

Ihr unruhig schlafendes Blut aber träumte davon, alles Würdige zu umarmen: Götter, Tiere, Ideen, Taten. Einer Dreieinigkeit aus Dionysos, Buddha und Newton hob es sich springrot entgegen, mit Hilfe des alten „Noch-nocher“ aus der Babyzeit: noch höher, geschmeidiger, weiser, glühender, reiner werden. Dieser Trieb nach Reinheit, bis in die entlegenste Minute hinein, begann ihr etwas von einem jungen Gralsritter zu verleihen. Von diesem lichten Doppelgänger kam ein beflügeltes Schreiten, eine Schwerelosigkeit an den Grenzen der Flamme, des Schleiers, der Welle. Auch im Straßenschmutz sollte der Saum des Schuhs noch ohne Makel bleiben.

Doch sie war so ein ganz alleines Ich — nicht hilflos — aber ohne Hilfe und begann daher allmählich aus jenem vollkommenen Zustand der Gnade zu fallen, als welcher allein das reine Befolgen des Instinktes ist; wollte jetzt wissen, warum sie recht hatte, suchte nach Gründen, letzten Endes also nach einem Rechthaben vor der Welt, somit leicht angesudelt.

Es war eine Philosophie der Schlankheit, die sie sich da zurecht gelegt hatte: Das Wesen des Lebens sei Bewegung. Bewußte, aus Innervationen erfließende Bewegung, im Gegensatz zum Toten, das sich nicht bewegen könne ... Demnach müsse alles Dichte, was der Durchflutung mit Geist entgegenstehe, als fehl empfunden werden, vollendet hingegen jener Kanon der Glieder, der die leichtest zum Ziel strebende Bewegung ermögliche ... also Langbeinigkeit, Schlankheit (größte Übersetzung bei kleinster Speichendicke) ... Das Lebendigste, jenes, in dem der Geist als Anmut schwinge, wie im Wimpel der formgewordene Wind. Fett sei demnach eine schwere Erkrankung oder ein Charakterfehler. Im Wohlgeratnen müsse es unaufhörlich restlos zu Temperament verbrannt werden.

Nicht aus ihm, nicht aus wucherndem Bindegewebe wollte sie bestehen, sondern aus Tausenden winziger Herzchen: den Muskeln, deren jedes das Leben wirkt.

Der ganze Körper eine Herzprovinz!

Man grinste nicht mehr. Von nun an war sie irgendwie eine dauernd Angeklagte, begann wie Scheidewasser auf ihre Umwelt zu wirken: wer etwas Schönes hatte, mußte es ihr geben, der Gemeine sein Gemeinstes an ihr auslassen.

Mit gezückten Operngläsern setzte man sich vor diesem anhebenden Leben zurecht, wie im Theater vor einer Skandalpremière, hielt auf alle Fälle das Schamgefühl parat, in der Hoffnung, es gröblich verletzt zu finden.

Das Mädchen-Kind begriff nicht. Vor ihr war immer zwinkernde Beflissenheit, drehte sie den Rücken, flog es wie feige Bestien ans Gitter, sie fühlte das mit einer Art empörter Bestürzung, bekam etwas Steiniges und wäre so gern weich, sonnig und höflich gewesen.

 

Mama hatte keinen rechten Schwammersatz finden können. Suchte endlich in sich selbst, stöberte eine beginnende Stoffwechselerkrankung dort auf und begann sie mit Hingebung auszubauen.

Das Leben wurde zur Bühne der Dekrepidität.

Unkontrollierbare Schmerzen brachten Gatten und Tochter um den Schlaf ihrer Nächte. Die freie Hand über einen Stock verkrümmt, hing sie sich im schnellfüßigen, bewegungshungrigen Mann fest, machte ihn durch die gähnenden Gärten der Kurorte schleichen bis er, psychisch hilflos wie ein Bernhardiner und voll Engelsgeduld, sich jedes normalen Lebenstempos zu schämen gelernt. Auf der andern Seite trug Sibyl mit hängenden Flügelschultern Plaid und Luftkissen. Plötzlich klagte es vorwurfsvoll durch die wehleidige Öde:

„Heitre uns auf. Jugend ist zum Aufheitern da.“

Besonders hinfällig gestaltete sich stets der Eintritt in Speisesäle, mit Stehpausen aus verbissenem Schmerz. Scharf grün blieb ihr Blick dabei auf jede Miene des Gatten zentriert — wehe wenn er zuckte. Dann weinte sie oben der Tochter vor:

„Er geniert sich. Es ist ihm peinlich, mit einer Leidenden gesehen zu werden.“

Hinter dem Rücken des Einen verleumdete sie den Andern. Kam es heraus, steckte sie sich hinter den Arzt: „Was, einer Kranken Vorwürfe.“ Stets schlau bedacht, beides zu genießen: die Rechte der Vollsinnigen zugleich mit allen Vorteilen der Unverantwortlichkeit. Die Nachteile blieben den andern. Über jeder lebendigen Regung hing als Damoklesschwert die Herzlosigkeit, und nie hätte der Mann es wagen dürfen, sich der unappetitlichen Fron des ehelichen Schlafgemachs zu entziehen, in dem seit Jahr und Tag für ihn weder Ehe noch Schlaf war.

Sie kannte Sibyls Haß und Verachtung für Frau Binder, seit der erzwungenen Abbitte im Tanzinstitut, und es gelang ihr unschwer, sich in die manische Überzeugung hineinzusteigern, nur im Hause Binder könne sie gesunden. Man solle die edeln, gütigen Menschen um Gottes willen anflehen, sie auf ein paar Monate als Gast aufzunehmen — mit Sibyl natürlich — ohne ihr einziges Kind ginge sie zugrund. Dieses knirschte vor Verzweiflung, solch bornierten und anmaßenden Spießern zu Dankbarkeit verpflichtet zu werden für alle Zeit, sie, die von niemandem, den sie nicht mochte, auch nur eine Handreichung annahm, oder das Odium des Muttermordes auf sich laden!

Das alles geschah weniger aus Boshaftigkeit, als um der eignen Person gesteigerte Bedeutung zu erschleichen. Da sich die Effekte abstumpften, griff sie mit der Zeit naturgemäß zu immer bedenklicheren Mitteln, ihre Lieben in Angst und Friedlosigkeit aufgescheucht zu halten. Schließlich blieb nur noch die Todeskoketterie wirksam übrig. Eines Tages sagte sie Datum, Stunde und Minute ihres Hinscheidens genau voraus, arrangierte das Szenarium, wies jedem seine Funktion zu. Sibyl wurde, als die Zeit kam, mit einem Batisttüchlein hinter den Lehnsessel postiert, ihr den Todesschweiß von der Stirn zu wischen, doch eben im Begriff, sich in ein wohlgeratenes Herzkrämpfchen hinaufzusentimentalisieren, ergab es sich, daß man heimtückischerweise die Uhren falsch gestellt, sie um ihre Todesstunde geprellt hatte.

Endlich eines Nachts versuchte sie es mit Veronal. Sah schon die „scène à faire“ vor sich: andern Tags die zwei Bösen, Freien, zerknirscht vor dem Bett ins Knie gebrochen und sich selbst von den herbeigeeilten Ärzten gestützt, noch schwach aber unendlich rührend, die Lippen bewegen:

„Ich wollte fort. Ich bin euch ja doch nur zur Last.“ Und ohne Worte, nur mit stummem Blick, um die Übeltäter vor dem Personal zu schonen: „So weit habt ihr es glücklich mit eurer Herzlosigkeit gebracht.“

Sie vergriff sich aber in der Dosis — nahm genug. Der Vorhang hob sich nicht wieder.

 

Es war nach dem Trauerjahr, bei einer großen Teegesellschaft. Da trat ein Mensch zur Tür herein. Niemand kannte ihn. Um niemanden kümmerte er sich. Ging pfeilrecht mit nachtwandlerischem Lächeln auf Sibyl zu und blieb vor ihr stehen. Nicht wie einer, der etwas zu sagen, sondern zu hören kommt.

Er war jung, gradhaarig, schmächtig, doch von der verdrechselten Knorrigkeit van Eyckscher Engel, wie mit einem trotzigen Feigenblatt geboren. Aus der Haut einer Hostie sahen Augen des Illuminaten. Das Zahnbein war schlecht. Der Anzug unauffällig korrekt.

Johannes der Täufer im frock coat? Aber sie war verschüchtert, ja, erschüttert von dieser zähen Gradheit. Angelus: der Bote fiel ihr ein. Frug schließlich, als er unbekümmert weiter schwieg:

„Was kann ich für Sie tun?“

„Es wäre eher an mir, so zu fragen, da ich zu Ihnen entboten bin.“

Er sprach herbe schlesische Mundart. Die Silben kollerten als kleines Urgestein aus seinem jungen Mund, der dabei eckig anzusehen wurde. Dieser Fremdling stand da — wie aufgetaucht — beladen mit den Morgengaben einer unbekannten Tiefe vor ihr, als sei sie die einzig lebendige Seele in der ganzen Welt. Er klärte nichts auf. Manches ergab sich, erriet sich, andres blieb: ein dunkler Reiz. Sie sprachen durch Stunden. Die Leute ringsum zogen am Rand ihrer Sinne in einem ganz andern Medium dahin, wie in den Wasserwürfeln der Aquarien bewegter Schleim zieht. Er machte sie spüren, sie sei behütet, irgendwie auserkoren, von geistigen Führern erwartet. Er, deren Bote und Mittler nur. Worte wie Sterne fielen auf sie nieder, von herber dunkler Glorie. Sie fing ein Jegliches mit dem Herzen auf, denn ihr Hunger nach Seele war sehr groß.

Gabriel Gruner hieß der Fremde — nein: der Bote.

Wieder schossen die Silberdämpfe der Phantasie auf. In Tag- und Nachtträumen warf sie sich hinein. So gab es doch eine magische Brücke ins „Eigentliche“! Gab Schlüssel, die Reich auf Reich erschließen durch verborgene Kräfte im Menschinnersten selbst!

Mit seinen Holzschnittgebärden, mehr als mit Worten, hatte Gabriel Gruner an all das gerührt. Wie von fern, unnahbar der Rede, mystische Übungen angedeutet, die den Körper so von innen heraus verwandeln sollten, daß lebendige Zeichen am Fleische sich bildeten: Marksteine gleichsam auf der Vergottung Pfad. „Und sehen sein Angesicht, und sein Name wird an ihren Stirnen sein.“

Nie hatte sie Bibelworte so sprechen gehört. Seine Art ragte wie ein Magnetberg herein in den seichten Aufkläricht, die passive Intelligenz, den Unernst ringsum. Da sagte einer dies, der andre das — keiner sah aus wie das, was er sagte.

Endlich ein Ausweg. Loszukommen aus dem Leben ohne Tod. Ohne das heilige junge Gebilde zertrümmern zu müssen, das sie behüten durfte, und dessen Kniekehlen ihr verehrungswürdiger schienen als das Himmelreich.

Doch in welch eine Existenz war es gefallen. So voll Sonnigkeit sein und immer hinter innerlicher chinesischer Mauer, immer aus Notwehr in die Isolierzelle des Niveaus gesperrt bleiben müssen. Nur mit zusammengebissenen Zähnen war es eben noch zu ertragen gewesen. Aber konnte man denn anders? Läßt sich in kaltem Eiter atmen? Wo alle ihre verfaulten Jugendwünsche wie petrefakte Fötusse in sich herumschleppten, boshaft geworden an ihren feig verhaltenen Früchten! Fliehen mit dem geretteten jungen Seelenleib aus solcher Welt. Wie leicht mußte es sein, ganz auf sie verzichten.

Und Sibyl nahm sich Gott vor, mit Überspringung aller Zwischenstufen.

Sprang Gott an wie eine junge Löwin. Bei IHM würde man endlich in Reinheit geborgen sein, denn: „Da wird nicht hineingehen irgendein Gemeines und das da Gräuel tut und Lüge, sondern die geschrieben sind in das Lebensbuch des Lammes.“

Eigentlich wäre ihr ein andres Tier und Kraftsymbol lieber gewesen. Nun also gut: „Lammes.“

Hätte auch gerne den Boten befragt, warum das innere Wort, als welches die geistige Wiedergeburt des Menschen wirkt, trägt und vollendet, gerade hebräisch sein müsse? Dem fremden Buch einer fremden Rasse in fremden Gleichnissen entschöpft? Flottierte der verborgene Geist nicht frei und ward je nach der Menschenart anders in jeder offenbar? Doch klang das nicht wieder trivial, roh, vorlaut, undankbar? Endlich bewundern, vertrauen, gehorchen dürfen, wie war das schön. Sie forschte auch nicht, als eines Tages der Bote geheimnisvoll verschwand, wie er gekommen. Fühlte ja förmlich den Ort der mystischen Bruderschaft: deutsche Herbe, Enge, Handwerk, Wald, dort in Gabriel Gruners schlesischer Grenzheimat, wo der Vater Organist gewesen.

„Man muß den Schild der Armut über die Schätze des inneren Lebens halten,“ war alles, was er von sich gesagt.

Das gab es also wirklich! Auf demselben Gestirn mit Gasrechnungen, Ex- und Import, Hundesteuer und Leitartikeln.

Brief über Brief kam voll Weisungen für die jüngste Jüngerin. Es war ein Werben ohne Werbung. Aus verborgenem Licht schlug sich ein Regenbogen von ihm zu ihr. Seine manische Sicherheit war frei von Anmaßung, denn hinter ihm stand mehr als Sterblichkeit, und das süße große Du brach ihnen aus gemeinsamer Jüngerschaft als seine erste Knospe auf.

„Mein geschwisterlich Gemahl im Geiste — zeitlos atmen mit Dir,“ schrieb er einmal.

Noch andre Briefe kamen. An Papa. Mit Insinuationen. Das Auftauchen dieses Fremden war nicht unbemerkt geblieben. Eines Tages fand sie ihre Korrespondenz erbrochen; die widerlichste Szene folgte. Denn es ist eine indezente Wahrheit, daß die hoffnungslose Eifersucht von Vater zu Tochter, weil körperlich rein, um so gewissenloser mit allen psychischen Begleiterscheinungen der Ausschweifung, als da sind: Gewalt, Arglist, Betrug, Wortbruch, Verrat, in Form von Elternpflicht sich auszutoben sucht. Das jungfräuliche Kind steht nun empört, begreift nicht, weil kein grimmes Glück die Kette der infamen Nervenspiele je durchstößt und ihnen Sinn gibt.

Der junge Nebenbuhler wiederum kommt heil nur an dem leidenden Vatertier vorbei, befriedigt er maßlos dessen Eitelkeit, da wird es resigniert satt und still.

Über Sibyl aber ergoß sich nun eine ganze Marlittiade: wie Papa vermeint, eines Tages müsse ein Goethe, der zugleich Vanderbilt, englischer Herzog und französischer Botschafter, in einem Auto aus den Wolken fallen als sein Schwiegersohn. Die Tochter mochte bis dahin auf Eis liegen oder sonstwie Neutrum sein, wie es gerade für ihn am bequemsten schien.

Jetzt, bei der ersten Abweichung von diesem naiven Programm, beging er gleich das Allertörichteste: drohte, da sie minderjährig, mit der Polizei. Zurückbringen würde er sie lassen im Fall einer Heirat und den Mann wegen Entführung verhaften. Trieb Sibyls Selbstachtung damit in ein fait accompli hinein, wo bisher nur immateriell jungfräulicher Rausch gewesen.

All dies unwiederbringlich Zarte, das Edle, Einzige, Innige, alle Keuschheit erster Liebwerdung hing jetzt: ein abgehäuteter Seraph wie zwischen ausgespreizten Viehkadavern in einem Schlächterladen in seinen cruden Worten. Da sammelte sie sich in ihrer Trauer und Empörung, schwang sich wie eine Lanze — und traf — traf — traf —, den Menschen, den Vater, den Mann. Sagte, was sie nie gewußt, hellsichtig vor leuchtend intelligentem Haß, in Worten von leiser, blanker, tödlicher Mißachtung.

Und weinte und weinte dann auf ihrem Bett, fassungslos entsetzt über die Schöpferkraft des Hasses.

Zwei Jahre lang wechselten Vater und Tochter kein Wort. Am Tag ihrer Großjährigkeit ging sie aus dem Haus und ließ sich mit Gabriel Gruner trauen, war so erschüttert dabei, daß sie ihr eignes „Ja“ überhörte, es später nochmals stammelte, taumelnd von dem cherubinischen Hochzeitsflug: dem Flügel an Flügel durch die anwachsende Glorie fließen, ohne Trennung, ohne Tod, lotrecht auf den Fluten des Strahls — bis zu Gott. Das sollte die Ehe sein.

 

Ihre scheuen Knabenkörper kannten einander kaum.

Schwarzgekleidet bis zum Hals saß Gabriel in der Sonne und sagte:

„Es fehlt dir an Demut.“

Seine Macht war sehr groß; ging aus von der verborgenen Morgengabe hinter dieser breiten, bleichen Stirn. Sobald er sprach, lag ihre Seele quer über seinen Knien und die flutende Empfindung spülte jede Vision herauf, deren er bedurfte.

Bei diesem Wort: Demut aber stockte die schöpferische Hingabe. Langsam stand sie auf, wie ganz wo anders. Ihr Gesicht schwebte in die Höhe, kantig wie ein Windenkelch und plötzlich von heidnischer Eleganz.

„Demut!“ Das Wort mußte doch jedem Menschen mit Selbstachtung irgendwie widerstehen. Ja: hätte er „Ehrfurcht“ gesagt, das wäre etwas anderes gewesen. Demut ist Ducken, Ehrfurcht sich aufrecken zu Gott.

„Gut, gut, man weiß schon: „wir sind allzumal Sünder und sollen nicht wider den Stachel löcken.“ Und ich sage mindestens drei Lügen an einem einzigen Vormittag und verunreinige sie auch noch mit Wahrheit, daß es einen Sudel gibt, und da ist kein heiligster Augenblick, in dem ich nicht auch ein klein wenig an meine Frisur gedacht und kein Erkenntnisrausch, den das Wort „Jause“ nicht ganz freundlich unterbrochen und da ist kein geliebtester Mensch, dessen Tod ich nicht spielerisch ausgekostet und durchprobiert hätte. Aber das schießt alles wie Sternschnuppen rechts und links vorbei. Innen steh’ ich ohne Demut, bis in die Seelenspitzen aufgereckt in Sehnsucht nach dem Reinsten, und so sehr kann ich wollen, daß mein Herz aus der Brust greift und es sich nimmt.“

Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen. Gabriel Gruner bekam seine manisch hellseherische Knorrigkeit:

„Man darf nie etwas wollen. Wer nicht mehr will, zu dem kommt alles.“

„Dann braucht er es nicht mehr,“ sagten die zwei störrischen Sternsaphire oben in dem kantigen Windenkelch von heidnischer Eleganz.

„Nur solang ich mich danach zermartre, brauch’ ich’s. Nur solang jahrelange herzzersprengende Sehnsucht sich, fahl vor Ungeduld, an unsichtbaren Widerständen schluchzend zerstört: da mitten hinein hat die Erfüllung zu brechen oder sie ist nichts.“

Etwas Taubes war in seine Haltung gekommen. Das, was sie „das Feigenblatt vor dem Kopf“ nannte. Als wiche zur Strafe ihrer Störrigkeit die verborgene Verheißung hinter seiner Stirn weit von ihr zurück.

Nein, nur das nicht. Sie warf sich ihm nach. Gab alles Eigen-Sein, überhaupt alles Sein auf, übte Demut und versuchte die Sehnsucht zu verlernen.

 

Der geistige Führer war ein Doppelwesen. Hieß Scheible und Radinger.

Jeder für sich war nichts. Stiller, ländlicher Handwerker in schlesischem Walddorf. Zusammen bildeten sie ein magisches Zwiegeschöpf, dem Seherschaft eignete, inneres Schauen, Führertum. Ob ihre Körper dabei räumlich getrennt, blieb belanglos.

Im Alltag war Radinger: der Schreiner am Dorfplatz, weitaus der Bedeutendere: von intelligenter, schlichter Großartigkeit, dem Selbstporträt Dürers ähnlich, doch mystisch ohne Schöpferkraft. Das „in den Geist kommen“ hub stets in Scheible an, einem alten Flickschuster, von kläglicher Wortarmut, unbeholfen, auch bresthaft. Nur wenn diesen kleinen Greis — in seiner Werkstatt oben am Kirchenhügel, die er selten verließ — Starre und Traum befiel; wenn er, gleichsam horchend über den kreißenden Geistkeim in sich gebeugt, dasaß, dann begann es aus Radinger in Sturzgeburten zu reden, als das „innere Wort“. Das „innere Wort“ gab auch jedem Schüler den ihm eignen Geistnamen. Das Lebendigdenken dieses „wahren Namens“ sollte allmählich den Leib, den „alten Namen“ verwandeln zu Geist. Angeblich unverkennbare Anzeichen äußerer Art am Körper: wie Wundmale, Linien, Buchstaben begleiteten diesen verborgenen Werdegang. Markierungen auf dem inneren Pfad, vor jedem neuen Gipfel und Ausblick. Diese Vorgänge durch Übungen wecken, ihr Kommen voraussagen, den Schüler rechtzeitig lehren, wie er sie auswirke, durchlebe, überschreite, war des mystischen Führers Mission.

Geistnamen, Vorzeichen, Zustände, alles war eng christlich an Symbol und Diktion. Ging in den Sielen der Apokalypse.

Die kleine Gemeinde hatte sich hermetisch rein zu erhalten gewußt vor dem alles wissenden Schnüffel des Zeitgeistes. Da gab’s kein Dranhinriechen, kein Hinterbein zu flüchtiger chemischer Analyse dranheben, so einfach zwischendurch, im Galopp von Prellstein zu Prellstein.

In den vierzig Jahren seiner gemeinsamen Bahn hatte das innere Doppelgestirn kaum acht bis zehn Trabanten aufgenommen in seinen Wandel. Als Ersten Gabriel Gruners toten Vater: den Organisten. Ein alter Stich zeigte ihn von jenem grobkörnigen und süßstarrsinnigen Schlag, der als Herrnhuter, böhmische Brüder, Rosenkreuzer, Albingenser, Europa von je seine bockbeinige Elite gegeben.

Sibyl hatte das magische Doppelwesen noch nicht zu Gesicht bekommen, wußte nicht einmal seinen Ort, war Jüngerin durch Gabriels Mittlerschaft allein. Ungeheure Abweisung wehrte von vornherein jeder Frage, noch ehe eigener Takt sie verbot.

Ab und zu tropfte Einer aus dem geheimen Kreis herein, verwirrte sich ob ihrer Erscheinung, noch mehr als er entdeckte, wo sie schon hielt oder man fuhr plötzlich fünfzehn Stunden an einen ganz obskuren Ort, traf die Brüder einen Abend lang — fuhr wieder auseinander. Dabei wurde kaum gesprochen, das lagerte um den Tisch eines beliebigen Kaffeehauses, kühl und schwer wie Schlangen und verdaute Seele. Alle hatten etwas lind Versinkendes: Schiffe mit zu viel Tiefgang, schon die kleinste Welle überspülte sie. Dann wieder fing einer was an: eine Fabrik, ein Studium, eine Kunst. Nie wurde was Rechtes draus. Von Fehlschlag zu Fehlschlag nickten sie einander saturiert mit steinharter Genugtuung zu. Hatten ein Lächeln des Ekels für siegreich Unbeschwertes. Immer hing aller Mißerfolg mit dem „inneren“ Wort zusammen. Statt nun praktische Ziele ganz zu lassen, bohrten sie doch immer wieder weiter, halbherzig und sauer ahndevoll.

Gabriel Gruner war Quartalsasket.

Sein Geistname Matthias, als welcher nachträglich den Aposteln zugeordnet, mit ihnen ausgestreut ward in die Welt, gab symbolisch Veranlassung genug, sich plötzlich in Geselligkeit zu stürzen, die Geselligkeit ihrer Geburtsstadt noch obendrein. Gerade hier war es ihm gewiesen zu wohnen. Ganz in die Nähe zogen sie aufs Land. Blinkende und kleinliche Sachen trug er ins Nest.

Daran nahm sie kein Teil. Alles oder nichts. Entweder Herzog oder Anachoret. Mayfair oder die Wüste Gobi. Zu Palast oder Steinhöhle konnte sie „Heim“ sagen — zu einer Sommerwohnung nie.

Doch war das alles nicht leer und gleich? Hatte sie, Sibyl, sich nicht Gott vorgenommen mit Überspringung aller Zwischenstufen?

Sah sich manchmal ameisenklein, hierhin, dorthin rennen, in Vorortzüge krabbeln, und stieg dabei, inwendig riesengroß, in einen tiefen Bronnen, sah über sein erlöstes Rund noch einmal zurück nach dem fremden Flohzeug: sie selbst, das vielleicht gerade um seinen Platz rang, in der rollenden Streichholzschachtel auf ihrem steifen Stahl-Faden zum Spinnennetz Stadt. Was das Ameisige dort Klägliches trieb, war belanglos. Ihr Körper hob sich indes wie ein Gefäß wieder aus der Fülle des inneren Bronnens, und als solches blieb sein Umriß ihr teuer wie nur je.

Als ein Kind die mondweiße Mulde zwischen den Barsoiflanken beulig zu heben begann, nahm sie selbst stets genau soviel ab, als die Frucht schwoll, sog die feinen, harten Sehnen straff ein, ohne Erlahmen, von Willen übergossen.

„O das kommt schon von selbst wieder in Ordnung,“ sagten überlegene Mütter, bei denen es offensichtlich doch nicht wieder in Ordnung gekommen.

Von Monat zu Monat hoben sich zudringliche Lorgnons höher in der gestielten Erwartung: endlich, endlich „normal“.

Nein, die noble Mulde füllte sich nur eben aus. Ein planer Spiegel blieb die Grenze.

Die Lorgnons bebten entrüstet:

„Es ist nicht natürlich.“

Sie hob die Brauen stumm, leicht belästigt. Dachte:

„Hat man je gehört, daß eine Löwin vor dem Wurf die Figur verliert? Nein, nur das Mutterschwein. Ist ausschließlich dieses „natürlich“. Ihr, die nicht laufen, springen, tauchen, klettern könnt — nichts von der Natur könnt ihr, wie sie als Knüppel mißbrauchen, um jeden edeln Aufstieg niederzuhalten.“

Schon liefen anonym Anzeigen wegen verbotenen Eingriffs bei Gericht ein, da trieb ein Wirbel von Wehen das Ausgetragene springlebendig aus.

„Den Schild der Armut über die Schätze des inneren Lebens halten.“

Jeden Morgen gab Gabriel zehn Kronen für den Haushalt, um elf schon mußte das Mädchen ihm von dem Geld eine Schachtel Zigaretten zu acht Kronen holen. Sie lernte Bögen gehen um Eckladen, von Endsummen in Einkaufbüchern wegschauen, erst auf den zweiten, dritten Blick sich nahewagen, vor dem Kohlenmann in den Platzregen entweichen. Dabei glaubte man sie reich, den ländlichen Taubenschlag eine Inseparablelaune der einzigen Tochter aus vermögendem Haus. Sibyl merkte, wie alles sie langsam abzutreiben versuchte vom pfeilrechten Stolz, und blieben Geldfragen zwischen den Gatten auch ignoriert, zuweilen glitten Gabriels Augen des Illuminaten in der Haut einer Hostie doch so wartend erstaunt über sie hin. Wenn er nur nicht anfing, den Zauber nicht bräche. Überwand sich schließlich aus Angst, er könne es doch noch fordern, kam ihm zuvor, ging zu dem alten Familienanwalt, der sie als Kind auf dem Arm getragen:

Aber natürlich. Das kleine Vermögen mütterlicherseits war seit der Großjährigkeit fällig. Man würde die Herausgabe brieflich von Papa verlangen. Da kam er auch schon gekrochen, die starren Glasaugen aus ungeheurer Macht würdelos vor Einsamkeit. Aber es war zu viel, es war zu viel gewesen. Das, was man fieberhaft gern geküßt, mit den graublonden Wellen über der Stirn voll trotziger Falten, lag längst mitverkohlt im hellichten Haßstrahl von damals.

Was blieb: ein fremder alter Mann — sonst nichts.

„Komm mit,“ bat Gabriel, aus monatelangen Versunkenheiten aufschreckend zu seinem periodischen Anfall wahllosen Menschenhungers, und wies eine Einladungskarte.

„Ich kenne diese Hersons doch gar nicht. Übrigens, welch ein Name, — so heißt man doch nicht ganz von selber?“ Weder deutsch, noch englisch ist es.

„Dein hellsichtiger Hochmut! Immerhin, der Sprößling vom alten Leiser Herschsohn ist bereits in Eton erzogen: Gelehrter, Sportsmann, Weltmensch, gegenwärtig Professor in Cambridge — kann noch Vizekönig von Indien werden.“

„So,“ sagte Sibyl. „Dieser Ralph Herson.“

Der alte Bankier begrüßte jeden, ganz fahrig vor Glück.

„Mein Sohn ist zu Besuch!“ Und zitterte. Saß sonst mit einem schwarzen Seidenkäppchen auf dem Eierschädel und verachtete alle seine Gäste. „Wer schon zu mir kommt ...“ Spitzte höchstens ein Ohr, fiel irgendwo das Wort „Million“.

In der Bibliothek staute es sich heute interessiert, alle horchten, einer sprach: ein dunkler großgewellter Greifenkopf auf eher kleinem, überaus wohl gebautem Körper. Warmes Wogen ging in die Luft über von diesem Haar, durch das ein weißer Strähn, wie der Montmorencys silberte. Die Augen, gleich braunen Beeren, von denen das eine größer war, spannten sich in ewig wacher Vitalität.

Sibyl erschien in der Tür und es geschah wie immer: alles wandte sich und starrte. Auch aus dem Schwarm um Ralph Herson stieß es sich jetzt ab, und wie ein gesträubter Kometenschwanz ihr zu.

Einen Augenblick standen er und sie, von Augen umklammert an den zwei Enden eines leeren Luftstrahls. Man sah sein Herz im Halse. Dann war es, als nehme er seine ganze magnetische Vergangenheit zusammen, würfe sie über die Frau. Sie stand, mit seinem Fluidum übergossen. Es flutete an ihr hinauf, drang, zurückgewiesen, nicht ein, rann ab. Er senkte die mächtigen braunen Augen wie bestürzt, bewußt knabenhaft, dozierte weiter, ignorierte sie. Zog später Gabriel sehr höflich ins Gespräch, verneigte sich nur stumm vor ihr. Ließ alle Übrigen, lud das Paar zu sich in den ersten Stock, zeigte seine naturwissenschaftlichen Sammlungen, seine Bilder, das photographische Atelier. Bat kommen, Aufnahmen machen zu dürfen. Entzündete den großen Gaskamin, rückte Klubsessel, Kissen, arrogant und demütig zugleich, gab nicht Ruhe, bis er es endlich erreicht hatte:

Die jungen Sternsaphire sahen ihn an, prüfend und groß.

Er senkte den Kopf, den Wohllaut der Schultern. Hatte eine Art hinter blinden Lidern die Augen erst mit Wärme sich füllen zu lassen, dann warf er die zwei Schalen voll schwebender Minerale dem andern mitten ins Gesicht. Vor Sibyl aber ließ er es. Hob die Lider nicht mehr — leerte quasi seine ganze Macht vor ihr auf einen Gebetsteppich aus.

Nach korrekter Pause machte er seinen Gegenbesuch auf dem Lande, machte Meisteraufnahmen, ordnete Gewänder, demolierte die Wohnung, unter der schwarzen Schabracke des Stativs ein moderner fünfbeiniger Centaur. Schickte Separata seiner Arbeiten, trug seine überlegene Sinnlichkeit wie eine wabernde Toga, zeigte Menschen-, besonders Frauenmißachtung, zitternd vor Anspruch, unterstrich den Unarier, den Ungermanen, zielte wunderbar ebenmäßig gebaut auf ägyptisch-griechisch „made in England“.

Sein engeres Fach war das Tierexperiment. Er arbeitete gerade am lebenden Vogelauge, hatte nebenbei einen Python unter dem Messer, von Hunden, Katzen, Fröschen, weißen Mäusen zu schweigen, alles provisorisch in einem Pavillon des väterlichen Gartens untergebracht. Er lud sie zu einem besonders interessanten Versuch ein, wurde abgewiesen. Nahm es als Weibchenpose einer großen Fee. Sie hatten heftige Diskussionen. Sibyl leidenschaftlich, ging aus sich heraus. Er provozierte, genoß es als erlesenes Extraexperiment.

Sie blieb im Garten, angeekelt.

„Heil aus gemarterten Tieren muß letzten Endes Unheil sein. Ihr Vivisektoren vergeßt, daß Äskulap der Sohn Apollons ist. Fördert die Hartfühligkeit, wie kann da der delphische Mensch gedeihen: Einer, dessen Leib so sensitiv geworden, daß ihn schon ein Lorbeerblatt, in der hohlen Hand gehalten, hellwissend macht und heil. Lorbeermenschen brauchen wir!“

Er widersprach, hochfahrend gereizt, und unterwarf sich im selben Atem. Wer rede vom „Heilen“, das interessiere ihn nicht, aber ohne Sinnesphysiologie gäbe es kein Verständnis der tiefsten Dinge. Dazu sei die Vivisektion eine praktisch unentbehrliche Technik, genau wie die chemische Analyse, die ein Anhänger der Allbeseeltheit — er schüttelte sich vor Ekel bei dem Wort Seele, — dann allerdings auch unterlassen müßte. Er persönlich gebe zwar das Tierexperiment endgültig auf, sobald sein großes vergleichendes Werk vollendet. Laienhafte Sentimentalität dagegen wirke lächerlich. Nie hätten es Tiere in der Natur so gut, gingen so human zugrunde, würden so behandelt und gepflegt wie Versuchsexemplare vor und zwischen den Experimenten. Sie möge sich persönlich überzeugen, wie die Tiere an ihm hingen. Er pfiff. Aus dem Pavillon brach Freudengewinsel. Ein verbundener Köter kam herausgekrochen, leckte seine Hände. Er streichelte, wie das Schicksal streichelt:

„Nächste Woche kommt er wieder dran, aber er weiß es nicht — das ist die Hauptsache. Nur ich weiß es voraus.“

Er lächelte, gab dem Geschöpf, das ihn wedelnd umhinkte, einen Leckerbissen. Dann reiste er ab.

In einem großen Kuvert des Nizzaer Tennisklubs kamen als Überraschung Meisteraufnahmen von Baby und Gabriel — keine von ihr. Ein Brief dabei, zwölf enggeschriebene Seiten. Sie las kaum die erste. Er schrieb von den Bildern, freue sich, daß ihr die früheren einiges Vergnügen bereitet. Noch mehr freue ihn, da er sie über Phrasen erhaben halte, der Wunsch eines Wiedersehens.

Und weiter:

„Ich darf Ihnen wohl aus so großer Entfernung und ohne die Bitte um Geheimnis sagen, wie sehr gerne ich Sie gewonnen habe. Es ist gewiß nichts Seltenes, daß man Ihnen das sagt oder andeutet, aber es ist etwas außerordentlich Seltenes, daß ich das jemandem sage, daß ich es sagen kann. Ja, ich habe es wie hier, ohne den leisesten egoistischen Anklang, noch nie einer Frau gesagt.

Ihr ganzes Wesen, Ihre psychische Eigenart, Ihre noble Persönlichkeit, viel mehr noch als selbst Ihre Erscheinung — dies alles sprach mich gleich das erste Mal so an, daß ich fast zu allem ‚ja‘ sagen mußte. So oft ich mit Ihnen beisammen war, gewannen Sie, während die meisten Frauen rasch verlieren. Wo mich andere hundertmal verletzt hätten — ich meine natürlich sich selbst verletzend, ihr eigenes Bild trübend, — haben Sie mich nicht mehr als vielleicht zweimal verletzt. Ich hätte das gar nicht für möglich gehalten.

Sie haben mich arm und reich gemacht. Reich, weil ich meine ganze Vorstellung von der Frau erhöhen konnte, weil ich erfuhr, daß es doch Wesen voll Anmut und Noblesse gibt, die meinem klar geahnten Ideale nahekommen; arm, weil ich, seit ich Sie kenne, noch anspruchsvoller geworden bin. Weil ich die Frauen jetzt an Ihnen, nicht mehr bloß an einer abstrakten Sehnsucht messe, und kaum je eine finden werde, die Ihnen als meine Frau vorzustellen mich auch nicht in einem verborgenen Winkel meines labyrinthischen Inneren genieren wird.“

„Labyrinthischen Inneren“ — da brach sie ab und lachte. Ohne Bosheit, aber unbändig wie ein Bub. Nein, dieses „labyrinthisch“. Wie geschmacklos!

Nächsten Tags nahm sie den Brief doch noch einmal auf, wog ihn in der Hand, las diesmal nur die letzte Seite:

„Es fällt mir schwer, Ihre und Ihres Herrn Gemahls Gesellschaft zu missen. Ich bin Geselligkeit liebend und bedürftig, aber ich finde sehr schwer Menschen, mit denen ich auftauen, mit denen ich freundlich sein kann — ich bin es überaus gerne — oder die mir sogar Funken entlocken können. Ich danke Ihnen manche Anregung und freue mich, sie zu erwidern. Am schönsten wäre es, wenn wir uns einmal in England oder in Italien oder im Hochgebirge treffen, miteinander Sport treiben oder Kunst genießen könnten. Ich mußte immer allein oder mit gleichgültigen Menschen reiten oder reisen oder bergsteigen — vielleicht habe ich auch einmal die Freude, Sie beide als meine Gäste zu sehen, im Süden, wo ich mir ein Heim zu bauen gedenke.“

Sie antwortete kaum. Doch durch Monate, über Länder und Meere her kam es „hochachtungsvoll“ herbeigeströmt. Einmal auf Briefpapier der British Association, einmal mit dem Abdruck einer Gemme aus Syrakus. Dann wieder eine Anfrage, ob er ihr aus Paris etwas besorgen könne.

Sie antwortete gar nicht.

Nun schrieb er:

„Wenn ich jemanden gern habe, ehre ich seine Freiheit — wenn Sie just einmal keine Lust hätten, mich auf der Straße zu grüßen, ich würde nichts anderes denken, als eben dies.“

„Was will der seichte Jude!“ sagte Gabriel, mit der ganzen knorrigen Hoffart des Reformationspatriziers, als beim Frühstück immer die gleiche vergrößerte Schrift bewußt und wohlerwogen den Spiegel exotischer Kuverts plastisch durchmaß. Papier, Schriftbild, Verschlußmarke: ein zusammenstilisiertes Kunstwerk, stets variiert, doch gleicher Grundkraft, so daß sie sich gewöhnte, es um sich zu dulden als ästhetischen Genuß. Ein warmer Schauer von lauter viereckigen Ausschnittchen einer weiten und gepflegten Erde. Alles, was sie gelassen in Sehnsucht nach noch nicht dagewesener Überhöhung — im Spitzentrieb nach Äußerstem.

Dann sank eins ums andere aus dem Schwarm dahin in den Papierkorb, sah ihr von dort doch noch in die Augen — hartnäckig durch Wohlgestalt.

Auch sein Schweigen war Kotau.

„Ich hatte Ihnen aus Bonn und Heidelberg geschrieben, fand kein Ende, vielmehr, es gewann nicht die Form, in der ich Ihnen Geschriebenes gern sehe. So ließ ich’s ganz.“

Also keine „labyrinthischen“ Innereien mehr!

Um das Rätsel ihrer Ehe: dieser magischen Starre eines geschlossenen Systems, glatt gegen Angriff, strich er mit eingezogener Hinterhand, leise fauchend. Wagte keine Frage.

Alle Probleme des Wissens erörterte er mit ihr als Macht zu Macht. — Versuchte, sie zur Detailforschung herüberzuziehen, weg von den großen Grenzgebieten. Doch als Beweis, wie er auch hier zu Haus, verfaßte er eine Broschüre über „Scheinprobleme“ mit Anpöbelung aller mächtigen Geister von je bis ehegestern. Schrieb dazu:

„Wollen Sie diese kleine Studie als Ihnen gewidmet betrachten. Sie haben mir immer so wohl getan, daß ich Ihnen stets nur Angenehmes erweisen möchte. Mögen Sie dieses bescheidene Zeichen einer außerordentlichen Verehrung freundlich und freundschaftlich aufnehmen.“

Sie lehnte die Widmung ab, übte höflich schonungslos Kritik an dem Dilettantismus der Arbeit. Geübter, intensiver im letzten Zusammensehen, denn dies war ihr eigenstes Gebiet.

Er ging über die sachlichen Einwürfe hinweg, nahm es persönlich, wenn auch als milder Psychiater, schob alles auf Rassenunterschiede.

„Ich bin sehr schwer zu beleidigen,“ lief seine linde Entgegnung, „habe aber natürlich nicht länger als zwei Minuten — nicht zwischen den Zeilen gelesen — Absicht merken lassen und doch nicht merken lassen, das geht eben nicht, aber es hätte mich gefreut, wie alles, was Sie erhöht, wenn es auf so feine Art geschehen wäre, daß man ganz im Zweifel hätte bleiben müssen, ob eine verletzende Absicht vorlag. Das war Ihnen wieder nicht wichtig genug! Sie sind offenbar enorm reich! Ich ganz Alter vermag sogar die Frische solch scharfer Urteile zu genießen, die, wie fast alles, was von Ihnen ausgeht, eine besondere Anmut haben. Es erinnert an Jugend und Überschwang, fast Schnurspringen. Aber ich wittre etwas anderes dahinter, was neben der metaphysischen Narrheit — oder milder: Überflüssigkeit — in den allermeisten Ariern steckt, nämlich eine gewisse Not und Sorge, eine privilegierte Fasson der Erkenntnis und Seligkeit zu besitzen. Solchen paßt ein vorurteilsloser Standpunktwechsel nicht, sie häufen Scheinprobleme in Physik, Chemie, Biologie, umnebeln sich mit philosophischem Schwulst, der den einzigen Vorteil hat, daß ihn kein normaler Mensch versteht und man in ihm ‚unter sich‘ ist. In dieser arischen Intoleranz, diesem Bonzentum und Parteinehmen aber liegt etwas Armes, und es stimmt mir nicht zu ihren sonstigen Weiten. Mein Wesen ist zu sehr Vernunft, praktischer Idealismus und Güte — Güte und noch einmal Güte ‚bedingungslos‘.“

Immer, wenn er etwas Schönes sagte, was sehr rein, sehr vernünftig klang, zog sich ihr durch den Reiz ein leiser Widerwille, als hätte er so Richtiges zu sagen noch kein Recht.

Und diese dreimal hochgehaltene „Güte“! Als schwenke er sie — ein Gelegenheitskauf — frisch von der Auktion. Sie bohrte weiter:

„Zeigt die Begeisterung, mit der er von ‚bedingungsloser Güte‘ spricht, nicht gerade, daß ihm jede praktische Erfahrung in der Materie fehlt? Mir scheint, wer wahrhaft gütig, — noch traf ich keinen — ist es knirschend, abgewandten Gesichts, weil er nicht anders kann, trotz infamster Erfahrung, denn das ganze Maß menschlicher Gemeinheit kennt nur er, weil nur an ihm die Feigheit ganz sich loszulassen wagt.“

In diesen Monaten sumste es durch alle Türritzen in ihre siebzehnfach verriegelte Zurückgezogenheit: Geschmeiß, die Rüssel naß vom Aas allen Tratsches, der hinter ihm herstank. Nun rächten sich Gabriels Anfälle von Leutegier: flüchtige Vorstellung einst mit einem Nicken quittiert, ward zum Vorwand stürmischer Begrüßungen an Straßenecken, und nach drei Sätzen fiel der Name des Berühmten — Berüchtigten. Ungute Damen verwandelten sich in mütterliche Freundinnen, Lebekommis in ethische Warner. Man übergruselte sich gegenseitig mit Andeutungen der Wollüstlingslaunen dieses Verderbers der Jugend. Mütter beteuerten, ihre jungen Söhne nicht in seine Nähe zu lassen, ihre jungen Töchter aber warfen sie ihm alle nach, denn er war die große Partie.

„Rein de Thier mißt mer zusperren vor den Damen,“ sagte der alte Leiser Herschsohn, ganz angeregt, und rückte sein schwarzes Käppchen — sehnte sich nach einer Schwiegertochter, nach Enkeln.

War er wieder im Lande, sah Sibyl es sofort. Selbst die entferntesten Cousinen der Clique erschienen plötzlich mit Sportmützen aus Pardelfell, hielten Regenschirme wie Tirsusse, und schaute man hin, wandten sie sich ins Profil, mit einem fragwürdigen und grausamen Lächeln.

Sibyl amüsierte sich: der Arme — welch ein Evoe-Kitsch — das verdient er denn doch nicht. Zu ihr und Gabriel kam er stets am letzten Tag vor einer unaufschiebbaren Abreise, versäumte zwar den Zug, fuhr aber doch mit dem übernächsten. Ritt rauh, arrogant, störrisch seine Steckenpferde vor: Philosophie des Standpunktwechsels, Zuchtwahl, Eugenetik; gewaltsam, unpersönlich und heftig. Als Baby Charmion hereinkam, brach er ab, vor diesem Arielwesen beugte sich das zerrissene Greifengesicht andächtig über die rosigen Füßchen. Dann wieder brutal dozierend.

Jede phänomenale Frau müßte von Staats wegen mit sechs — sieben auserwählten Männern Kinder bekommen. Welch ein Versuchsmaterial das ergebe.

„Und wenn sie nicht will?“

Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Übermut, Grausamkeit, Verspieltheit, Wollust rann aus den Augenecken über das schöne Gesicht, und von seinen eigenen, dunklen, magischen, unerhörten Strahlen gehoben, mit einer glücklichen, brechenden Knabenstimme:

„Dann wird sie angebunden.“

Beim Abschied in die laue Sommernacht hinaus, vermied er sorgsam ihre Hand. Verbeugte sich nur bös und tief. Dann tonlos vor Erbitterung: „Sie sitzen hier in diesem Nest und die ganze Welt dürstet.“

Um Weihnachten, Gabriel war in Schlesien, ließ eine Dame sich melden. Ralph Hersons Empfehlungsbrief lag eine Visitenkarte bei: Lady Tatjana de Walden war unter weißem, dekorativem Wappengetier zu lesen.

Gleich darauf stand eine Frau im Zimmer, exotisch, robust, resolut und unfrei zugleich, die Arme voll Blumen, ein großes Kuvert in der Hand. Schaute und schaute in fast tierhafter Spannung mit schönen, grauen Augen unter allzu neugelbem Haar. Keine Engländerin. Das sah auch Sibyls großgewordene Kindlichkeit. Keine Fremde, eine Überfremdete nur. Sie sprach in vorsichtig ausgelaugtem Deutsch, das zu dem urwüchsigen Umriß der Gestalt nicht passen wollte. Über das angenehme, etwas breite Slavengesicht rann manische Devotion. An was erinnerte nur das? Richtig, Manege. An alles, was zu erhobener Dompteur-Peitsche auf Hinterbeinen steht. Die Dame war mit umständlich vereinfachter Eleganz gekleidet — sah aber doch aus, als hätte sie früher einen Ring am Mittelfinger getragen.

Als der Gast unter stürmischen Erscheinungen von Glück und Entzücken Abschied genommen, öffnete Sibyl das große Kuvert. Ihr eigen Bild: in Dutzenden von Auffassungen. Ein kleines darunter, leicht getönt. Wieder sie: mit bloßen Füßen, und über die trocken hellen Halme ihrer Glieder stürzte als bananenfarbener Regen alles Haar.

Mit dem Haar vermischte es sich: seine unverkennbare Schrift, doch so blaß, daß völliges Übersehen möglich blieb.

„Wer ist sie, der ich sie vergleiche,

Die schöne Freudenreiche?

Das müssen die Sirenen sein,

Die wie mit dem Magnetenstein

Die Herzen ziehn in ihren Bann.“

„So zog Yseult viel Herzen an,

Die sich vor der Sehnsucht Leid

Sicher fühlten und gefeit.“

Die Dame kam, verschrieb wappenreiches Briefpapier, schickte Blumen, verhätschelte Charmion. Und aus ihr sprach immer ein anderer. In ganzen Schnüren von Sätzen kamen seine Worte. Erschrocken stockte sie, hatte sich auch nur ein Adjektiv verschoben — fing noch einmal an, bis es originalgetreu saß. Diese Hörige schien resolut, zäh, schlau, doch alles Eigenwüchsige war ausgetrieben, nur die Vitalität hatte er ihr belassen, seiner eignen zur Verstärkung, wie es schien.

Als sie abgereist, schauerte ein Regen von Papier hintennach, wie blinkende Schnitzelchen aus einem Reklameballon. Auf einer der Karten stand:

„Dank, Dank, für alle Lebenssteigerung, die Sie, einfach durch ihr Sein, mir gespendet haben. Hoffentlich sind Sie so zufrieden und glücklich, wie Sie scheinen, und nur das Gute erfüllt sich, das in diesen vornehmsten aller schönen Hände für den Kundigen geschrieben steht. Und wenn Sie doch einmal einer Brangäne bedürfen, so rufen Sie mich.“

Von nun an unterschrieb sie sich nur mehr: „Brangäne.“

Ralph Herson selbst hatte während der Episode Tatjana geschwiegen. Nun schrieb er wieder:

„Lady de Walden dankt mir in einem begreiflich überschwenglichen Brief, daß ich ihr zu Ihnen, der früher nur aus Bildern Gekannten und danach schon Verehrten, einen Weg gebahnt. Es ist mir immer erfreulich und eine Art Ziel der Lebenskunst, wenn ich mit einem Schlag mehreren Angenehmes erweisen oder nützen kann, und so hoffe ich, daß auch Ihnen die Begegnung erfreulich war.“

Nein, ein Ende machen. Es war zu viel, dieses ruhelose Ineinanderspielen von Händen, dieser vorgeschobene Posten in glühendem Spionagedienst, dieser neue Trabant und Zwischenträger, Konduktor und Strahlenleiter und Wärmevermittler. Es war zu viel. Ein widerwilliges Herzklopfen befiel ihre Selbstachtung beim Kontakt mit dieser „Lady“, bei der alles fragwürdig bis auf das Sklaventum. So also dörrte er einem die Würde aus — dieser Samum. Entwurzelte Menschenzungen, dieser Vivisektor, pflanzte Papageienzungen dafür, auf daß sie einzig seinen Ton verstärkten. Nein, genug.

Da depeschierte er aus Genua:

„Lady de W. ist schwer, vielleicht lebensgefährlich erkrankt, ein paar freundliche Zeilen von Ihnen, die sie so grenzenlos und heimlich liebt, würden ihr im Innersten wohltun. Wenn irgend etwas Gemeinsames zwischen uns ist, erfüllen Sie meine Bitte, von der die Kranke natürlich nichts weiß, und senden Sie ihr, durch mich, einen Gruß. Es gibt Arzneien, die nicht in der Apotheke zu kaufen sind.“

Sibyl dachte an Madame Swobodas Liebe und Ende, an ihre erste überflüssige Infamie ... und schrieb. Auch hatte sie die Frau gern, ihre Kraft und Treue.

Er jubelte.

„Ich wußte, daß ich nicht vergeblich bitten würde, daß auch Sie der Liebe haben. Die arme Lady T. lag eine Woche zwischen Leben und Tod, trotz Morphium schlaflos in entsetzlichsten Schmerzen. Doch wenn Sie gesehen hätten, welche Freude ihr der Brief der ‚besten Ärztin‘, mit den gewissen langhebelbeinigen schlanken Zügen, bereitet hat! Ich danke Ihnen aufs innigste, daß Sie mir diese erlesene Mitfreude ermöglicht haben, der Brief trug gewiß zur Besserung bei. Ich wußte übrigens nicht, daß der Verkehr abgebrochen war. Warum, warum überflüssiges Leid zufügen? Ich habe allerdings die Empfindung, daß Sie eben noch nicht traurigste Erlebnisse hinter und unter sich haben, ja, daß das Leben noch nicht einmal sehr große Schwierigkeiten, Hemmungen, Enttäuschungen für Sie hatte. Das ist ein kleiner Defaut und läßt Sie vielleicht auch Verläßlichkeit, Treue, alles positiv Erfreuliche, nicht so sehr schätzen, wie Narbenbedeckte. Es gibt Ihnen aber andererseits etwas Erhabenes, Heiteres, Unberührtes, das ungemein edel, sonnig und erfreulich wirkt.

Möge Ihnen dies noch recht lange, ja für immer erhalten bleiben! Ich würde geradezu leiden, wenn Ihnen irgend etwas geschehe.“

So war sie wieder im Garn der Güte, denn auch die Rekonvaleszentin brauchte noch „Arznei“. Und was als Antwort zurückströmte: stumm eingesagt klang es von einem unhörbaren Mund. Schon diese Schrift! Als hätte er ihr vorzeiten jeden Buchstaben einzeln mit der Wurzel ausgerissen, um ihn frisch hineinzustecken in ein Schriftbild von seinen Gnaden; jetzt hing das Ganze steil hintüber, einer Frau gleich, die hinter dem Rücken etwas zu verbergen sucht.

 

„Es nimmt dich auf,“ sagte Gabriel nach seiner Rückkehr, ganz durchsichtig in den Zügen vor Ergriffenheit.

„Als erste Frau. Du wirst erwartet. Jetzt hebt erst unsere wahre Hochzeit an, denn nichts kann uns mehr trennen.“

Immer noch, seit dem ersten Tag, ging sie mit Gabriel die inneren Gänge ihrer Verbundenheit. Bisher war er Mittler gewesen für die Weisungen des Zwiegeschöpfs an sie. Nun sollte endlich ein wichtiger geistiger Vorgang dem Stadium der Reife sehr nahe sein, sich auch von innen her in einem Zeichen körperlicher Art auswirken: als Meilenstein am Weg. So war es angesagt worden.

Noch am Abend wollte Sibyl reisen, taumelte vor Erregung wie im Traume durch den Tag. Es flimmerte ihr so vor dem Herzen, daß sie sogar von der Leiter glitt. Kam da auf der Jagd nach einem Koffer eine uralte Tasche aus des toten Organisten Nachlaß vom Bord herunter, traf ihre Schulter, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte, gerade mit dem Handgelenk, auf ein seltsam graviertes Petschaft, das aus der verblichenen Tasche gerollt war. Der scharfe Steinschnitt grub in ihr Fleisch ein weinrotes Mal. Rasch wand sie ihr Taschentuch darum. Gut, daß Gabriel nicht dabei gewesen, er liebte nicht Gegenstände seines Vaters profan ins Licht gestreut. Nun, es war ja nichts Böses geschehen, die kleine Quetschung gewiß in einer Woche vergessen und heil.

Am zweiten Abend kam Scheible in den Geist. Saß halbstarr auf dem Strohsessel seiner dämmrigen Werkstatt — ferne schwebten die schönen Augen mit den Greisenringen in dem kleinen Gesicht. Knotige Hände, im Gegensatz zum blutlosen Schädel, mahagonibraun, lagen mit ihren eingewachsenen Rillen Pechs im grünen Schusterschurz. An der Wand, breit wie ein Baß, ragte Radinger mit seinen Holzschnittschultern. Gleich einem Block füllte Ruhe den Raum, bis auf des Schreiners unaufhörlich zitternden Kopf. Die südlich fremden Mandelaugen lagen geschlossen darin und man ahnte sie hinter den Lidern nach oben gebrochen wie einer empfangenden Frau. Der Mund war leer und wartete.

Sibyl saß auf der Ofenbank, sah Scheible ins träumende Auge. Zuweilen spannte und erweiterte sich die Greisenpupille, dann begann es aus Radinger zu murmeln, biblisch Klagendes oder Verzücktes, das sie nur vag verstand, ihr auch nicht galt. Etwa nach einer Stunde stützte sie den Ellenbogen aufs Knie, den müden Kopf in die Hand. Der Ärmel glitt zurück. Das Aufwachsen ihres lichten Armes ins Dunkle mochte Scheibles schwebenden Blick gefangen haben. Er sprang über, blieb wie ein Bläuling, ehe er sich auf eine Blume niederläßt, über dem Blutmal an Sibyls Gelenk in der Luft stehen, dann sog er sich langsam dran fest, und Freude brach aus Radingers dunkelgerundetem Munde: das Doppelwesen sprach die Quetschung an als das erwartete Zeichen. Sprach mit ihr von Dingen, die sie nun wissen sollte und nicht wußte, da doch das innere Leben zu dem Male fehlte.

Langsam kroch die grauenhafte Entdeckung sie an, vereiste ihre Haarwurzeln:

Das „innere Wort“ hatte geirrt. Wo Irren nicht möglich sein durfte, oder es sank herab zu — — Hysterie.

War das Doppelwesen auseinandergefallen, ganz gleich was dann zwei knorrig liebe, kreuzbrave, tiefgläubige und gütige Handwerker, ganz gleich, was sie da: Wachblinde, zu wissen vermeinten — doch als innerer Doppelstern! Hier Täuschung und der ganze Weg war falsch oder konnte falsch sein. Sie wartete in Todesangst, wie ein Verurteilter auf Gnade. Nichts Erlösendes kam. Das Murmeln hörte langsam auf. Starre wich von Scheible, von Radinger das Wort.

Im elenden kleinen Gastzimmer der Dorfherberge starrte sie vernichtet auf die leicht verschwimmende blaurote Stelle an ihrem silbrigen Arm.

Zwei Möglichkeiten gab es: Diese Quetschung glich äußerlich, sei es durch Zufall, sei es, weil die Sigille des alten Gruner wirklich jenes Zeichen darstellen sollte, dem wahren Mal, dann war der Irrtum für ihr Vertrauen tödlich, denn der Führer hatte mit innerem Gesicht das Wachstum ihrer Seele zu sehen: das Mal von innen an ihr zu sehen, nie durfte äußerer Stoß in die Haut ihn täuschen. Oder: und es war die letzte Hoffnung: das Zwiegeschöpf hatte tiefer in ihr gelesen, als sie selbst noch wußte. Das Zeichen war schon auf dem Wege sich zu bilden, die innere Knospe nur noch nicht ins Bewußtsein aufgesprungen. Nichts als eine leichte Verschiebung in der Zeit hatte stattgefunden und durfte es, denn das Geistwesen „sieht die Zeit wie durch ein Rohr: alles auf einem Haufen!“

Bald mußte es sich entscheiden, ob das echte Mal erschiene, das die Seher vorgeahnt.

Noch ein Drittes gab es: aber darauf ließe sie sich nicht mehr ein: Das „credo quia absurdum“. Nein, hatte man einen Bund geschlossen und sein Teil des Paktes gehalten, so hatte sich auch der Drüben anständig zu benehmen, und wär’s der liebe Gott. Alles oder nichts. Und gab’s einen Weg solch absoluter Demut, ihr Weg konnte es nicht sein, war sie nicht schon weit genug abgekommen von sich selbst?

Und Hysterie, ihr Kinderschreck, sollte wie die Jugend, so das ganze Leben an einer fremden Gehirnkrankheit zugrunde gehen.

War es nicht, als setzten die Brüder dieser mystischen Gemeinde sich in ein skurriles Geistesgefängnis, des perversen Ehrgeizes voll, daß ihnen alles fehlschlüge und einer dumpfen Hoffart gegen jedes Unbeschwerte, durch Freiheit Siegreiche.

Und man erfror vor Bedeutsamkeit bei ihnen.

Wo aber blieb jetzt der Sinn ihrer Ehe?

Nicht mehr Gabriels „geschwisterlich Gemahl im Geiste.“

Sie wartete mit aller Inbrunst auf das verspätete Zeichen des Lebens. Es blieb aus. Suchte an des Mannes Schulter um Rat.

Er glaubte ihr nicht. Daß ES geirrt haben könnte, schien ihm unausdenkbare Blasphemie, sie wolle ihn anstecken, vergiften, mit ihrem Zweifel die Saat, gesät in Geschlechtern, verrotten in seinem Blut.

Da kam — an Bord der „Titania“ geschrieben — viele hundert Seiten lang, ein Brief Ralph Hersons.

Wie brennende Schiffe trieben glühende Wortgruppen ihr entgegen und vorbei, abgelöst von irisierenden Wirbeln der Verheißung, rosig und leise dahinrotierend in dem endlosen Strom der Anbetung. Eine schmerzhaft konzentrierte Noblesse der Sprache, auch der Gesinnung wohl. Denn wie hätte es schon zu Beweisen, zu Taten äußerster Treue kommen können, so lang sie ihr Leben ihm nicht anvertraut. Nun schrie es aus ihm „in heiligster Not“:

„Wollten Sie meine Frau werden? Ich gehöre nicht zu jenen, die solches Wort leicht auf der Zunge führen — Sie sind die Erste und Einzige, an die ich je solche Aufforderung gerichtet“ — dann Prinzessin Augenweide ... und nun bot er ihr alles, was ein Mann einer Frau nur bieten kann. Und es kamen hunderte Bilder der Inbrunst, und sein verzücktes, verzweifeltes Begehren rann als maßlose Erhöhung durch ihr Blut.

Da ward ein solcher Brand nach Blüte in ihr, daß sie, nackt hingeworfen, alle diese Blätter über sich gelegt, mit jeder Pore, mit dem ganzen Sonnengeflecht die magischen und dunkel duftenden Ausströmungen der breiten Männerschrift in sich trank.

Der Brief schloß:

„Ein Kind von Ihnen wäre die Krönung meines Lebens — eine Tochter gar, die Ihnen gliche an märchenhafter Anmut — ich glaube, da würde ich toll vor Glück. Doch wüßte ich selbst, Sie könnten nie mehr Kinder haben, auch dann wäre mir Ihre bloße Nähe schon so wertvoll, daß ich nichts unversucht ließe, Sie zur Frau zu gewinnen. Nur hinter Ihnen hergehen dürfen ist mehr als jede Andere umarmen.“

Sie erbat Bedenkzeit. Das Beste von ihr war noch drüben in jener Ehe, die doch bis zu Gott hätte reichen sollen. Hatte aus ihrem Phantasiekörper sich ein Abbild Gabriels geschaffen in einer strahlenden Materie in den lichtesten Stoffen der Welt. Dieses Ikon konnte nicht so schnell verwesen. Sie hatte es noch nicht ausgeliebt — ausgeglaubt. Alles kam von den zwei Jahren der Verzögerung, und daß man die Erwachsene hatte einsperren dürfen in Minderjährigkeit. Jetzt hätte sich das Ikon bereits reif und leidlos aufgelöst gehabt. Wieder überstrahlte sie der erste große Haß gegen Papas verbrecherische Torheit.

Als sie Gabriel von Trennung sprach, vermochte er es nicht zu fassen, hielt alles für Wahn. Flehte: „Versuche es wenigstens noch ein Jahr mit mir.“

„Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt für mehrere Jahre,“ feixte Ralph Herson.

„Zeit: das Kostbarste vergeuden.“ Gleich müsse sie fort. Drang auf rascheste Scheidung. Er als Engländer liebe klare Verhältnisse. Nicht einmal sehen wolle er sie vorher. Lady Tatjana tauchte wieder auf, trug Sturm hin und her, schluchzte, beschwor. Ein Wortbruch — Sibyl hatte ihr Wort noch gar nicht gegeben — wäre ärger als Mord.

Aber gerade diese Lady Tatjana ließ sie auf einmal wieder tief zögern. Nein, es ging nicht.

Wem es gefiel, mochte der in freier Liebe leben, natürliche Kinder Unnatürlichen vorziehen. Nie hatte sie den Beziehungen der beiden nachgeforscht. Aber es ging nicht, der früheren Bediensteten im elterlichen Haus einen Scheinmann, seinem eignen Kind einen fremden Vater zu kaufen: einen verhungerten kleinen Beamteten, der es billig tat und Edler von Walden hieß. Es ging nicht, diese Frau dann — sie hieß Leopoldine Sedlaček — nach vertuschenden Reisen, mit vertuschtem Dialekt, vertuschter Schrift, unecht-wahr, als „Lady“ Tatjana de Walden einer Dame ins Haus zu schicken. Diese Fakten waren aus der Gerichtssaalnotiz einer Provinzzeitung ersichtlich — mit Rotstift gerahmt, ihr zugeschickt — denn der kleine Beamtete klagte endlich auf Zahlung der bedungenen Heiratssumme, ein paar Tausende im Ganzen. Man hatte ihn auch noch bei dem Handel zu übervorteilen gesucht, seinen Anspruch juristisch bestritten, weil solch ein Vertrag gegen die „guten Sitten“ verstoße. Den schönen Namen aber war die Dame andererseits nicht mehr herzugeben gewillt.

Sibyl verschwieg ihr Wissen, aus Scham für beide. Auch hätte er, sofort Edelanarchist und nur auf das Wesenhafte eingestellt, befremdet aufgeschaut:

„Das ist doch alles nur äußerlich.“

Schließlich: Jemandem die Brieftasche ziehen, war dann auch nur „äußerlich“, stak sie in der äußeren Rocktasche.

Ein edler Schwätzerkniff.

Sie zögerte tief — schloß dann die Augen in der nächtlichen Fieberkurve der Sehnsucht, ließ die geliebten dunkelsaugenden Strahlen über sich ein. Und alles war wieder gut.

Da drohte er mit — Heirat. Stellte ihr ein befristetes Ultimatum von drei Wochen. Jetzt solle sie sehen — jedes junge Mädchen könne er haben bis dahin. War es erwachende Reaktions-Prüflust des Vivisektors?

„Es gebe auch Leute, die man peitschen müsse, um sie zum Reagieren zu bringen,“ ließ er sagen.

Sibyl wurde zu Eis und Honig — wünschte viel Glück. Poldi Tatjana, die arme Hörige, irrte mit Botschaft zwischen ihnen hin und her, widerrief Drohungen, die sie tags zuvor gestammelt:

Nur kein Mißverstehen: da sie noch zögere, sei der Plan einer Zwischenheirat aufgetaucht, gerade ihretwillen, ihr Außerordentliches zu bieten. Der alte Leiser habe dem Sohn das halbe Vermögen — sofort zahlbar — als Prämie gesetzt für eine ihm genehme Ehe. Ralph war nicht mehr so jung, wie die eigenwillige Bronze seines Körpers es wahrhaben wollte, schon den zäheren Vierzig nah. Also Scheinehe, Scheidung, die junge Dame erhielt Freiheit und Mitgift zurück und man war unabhängig im größten Stil; die ersten Jahre sollten ja ein unaufhörliches Fest sein, ein goldenes Gewitter, eine Lebenserhöhung, wie sie wenig Sterblichen vergönnt.

Andern Tags war wieder Minotauros Pose: er brauche, rein physiologisch, alle drei Monate eine Jungfrau — dies sei die letzte Ration, ehe er sich einer fairy-queen verbände.

„Also war die junge Wegzehrung wohl schon gefunden?“

„So halb.“ Die Hörige, beflissen, ging in die Falle, zeigte weitgehende Bilder, die sie „im Auftrag“ von dem Fräulein gemacht.

Drei Wochen auf den Tag heiratete er. Schrieb am lendemain „der großen schlanken Ehestifterin“ einen seiner perfiden, verworfenen, verbotenen, ersehnten Briefe, als wäre nichts verändert. Dann reiste das junge Paar.

Und es war keine Ruhe.

Die Hörige, im Kielwasser der Lustfahrt, schmeichelte, flehte, klagte:

„Ahnen Sie nicht, spüren Sie nicht, wie nötig jetzt ein paar Zeilen von Ihnen wären? Ich fürchte, Sie haben noch immer keine Ahnung von der ungeheuren Liebe, die er für Sie empfindet. Fancy — — — come!

Dann wieder:

„Er hätte Ihnen so viel zu sagen. Aber wollen Sie denn hören? Sie haben ihm ja die Schleusen gesperrt. Vesta! Wie walten Sie des heiligen Feuers?“

Manches klang diktiert:

„Der Trotz, mit dem er diese törichte Scheinehe einging, ist mir beinah unheimlich. Es ist so komisch, die Menschen ihm dazu ‚Glück‘ wünschen zu hören. Es tut mir in der Seele weh, daß ihm nur Mesalliancen beschieden sein sollen. Ich liebe ihn und gönne ihm die einzige Erfüllung, die für ihn möglich ist. Oh, werden — werden Sie kommen?“

Immer lagen Kuverts mit verstellter Schrift bei und die Mahnung, nur diese zu benützen, denn:

„Die junge Frau hat keine Ahnung von Ralphs Stellung zu Ihnen, er hat noch kein Wort mit ihr darüber gesprochen.“

„Mein Gott, wie komm’ ich zu diesem Schmutz?“ Und Sibyl zerriß die falschen Kuverts bis auf eins, steckte die Schnitzel in dieses letzte — das schickte sie ihm zurück.

Doch auch in ihrer Ehe mochte sie nicht bleiben unter falschem Stern. Die Glut dieses Mannes hatte sie ruhelos gemacht, einsam und unfrei. Gabriel bewilligte die Probetrennung, hielt es für mystischen Urlaub nur. Behielt Charmion als Pfand. Das Arielewesen sollte nicht leiden, von nichts wissen, nicht in Heimlosigkeit gezerrt werden. Damit es sich ihr nicht entfremde, kam sie in Pausen immer wieder zu ihm. Bestimmte die Hälfte ihres kleinen Depots für seine Pflege.

Notre Dame du wagon-lit.“ Ahasvera jetzt. Sie war beinah arm. Und lieber noch jeden Tag eine andere Fremde als „Heim“ nennen müssen, war unter ihrer Art.

Arbeitete bei Kocher in Bern, bei van t’Hoff in Berlin, lernte den Skisprung bei Sarnström in Dalarne, hörte Bergson in Paris. Kam aber aus Europa nicht hinaus, um Charmions willen.

Das Glättende und ortlos Weltgültige im Stil war jetzt über die so sehr kindlichen Spitzen ihres Wesens geschmolzen, aber ihre innere Fremdheit wuchs. Der Vorfrühling ihrer Glieder blieb fixiert, duftete nach Birken und Erdbeeren. Es war da nichts zu ändern, nur Übergänge auszugießen, zu feilen, zu veredeln. Welchen Sinn hätte denn das Älterwerden je gehabt, wenn nicht: Schönheitsfehler verbessern und überhaupt etwas dazu lernen. Wie ein Virtuose auf Urlaub übte sie auf dem stummen Wunderinstrument ihres Körpers. Alles oder nichts, auch hier. „Narzissa“ hatte Ralph Hersons wissendes Begehren sie einmal genannt.

Und es war keine Ruhe. —

Über Länder und Meere her rann das Gefälle seiner stechenden Wärme in einer heißen Linie auf sie zu und hetzte ihr Herz. Ein Buch kam, ihm einst geliehen. An ihrem Geburtstag, unbekannt woher, ein Päckchen mit seiner Schrift, darin retourniert ihr Hochzeitsgeschenk an seine Frau. Dann wieder ein andermal hatte sich die Hörige bei Papa eingeschlichen, die Dienstleute bestochen, um Nachricht. Sie fühlte Spione um sich. Gerüchte zerstäubten vor ihrem Weg: die junge Frau ein Jahr nach der Hochzeit tot. Hatte sich in einem schottischen See ertränkt.

Er, das Opfer von Erpressungen, wolle Cambridge verlassen.

Es war keine Ruhe.

Aber warum gerade dieser? Was gab ihm solch brennende Macht?

Sie ließ das wissende Haupt sinken.

Sein Erbteil: Die purpurne Wärme Asiens. Sie ließ sich sinken:

Sweet Prince of darkness.

Aus Olympia zwang sie ein Telegramm zurück. Papa war tot, sie selbst nun wohlhabend, fast reich. Tratsch trieb das Erbe zu Millionen auf.

Da brach er durch die Schranken. Der Anlaß war hinlänglich — ja korrekt. Kondolierte vom ligurischen Strand, wo er sich angekauft. Und siehe! Auch Lady Tatjana wieselte wieder über den Weg, wo immer man ging. Schließlich geschah es vor des alten Anwalts Haus, der die Verlassenschaft führte, daß die Hörige, einen Affront riskierend, herzu trat, ihr Beileid auszusprechen. Unter der Mache aber leuchteten die grauen Augen froh und echt — wie erlöst. Sie redete nur von ihm — in seinen eigenen Sätzen und, wie Sibyl dies einst gewidert, so rührte gerade dieser Zug sie jetzt. Dachte auch über manches milder. Die unbestechliche Kinderhärte von ja und nein, dies Kompromißlose! Weil es ihr eigenes Maß, mußten ihm deshalb andere standhalten? Sie ließ das Haupt sinken:

Sweet Prince of darkness.

Prinz Augenlust.

Sinn der Erde.

„Wie, sie wolle auf ein paar Wochen nach Spanien?“

Wie gut sich das träfe, da könne man vielleicht gemeinsam bis Genua fahren, und die Hörige sprach von dem Heim, das Ralph Herson im Begriff war, sich am Meer zu bauen. In den nächsten Tagen träfe er übrigens zum Besuche seines Vaters hier ein.

Beim Abschied warf Sibyl noch halb unbewußt hin:

„Und — das, wie die unglückliche junge Frau zugrund ging (dachte dabei: durch ihn zugrund ging), ist es schon überwunden?“

„O, er hat ihr längst verziehen,“ sagte die Hörige pathetisch, „er ist ja so gütig.“

Dieser nachgesprochene Satz war schuld, daß Ralph Hersons Besuch nur in der Hotelhalle und mit den äußersten Enden der Höflichkeit angenommen wurde. So großäugig natürlich, so geistig gelächelt, so sehr leidlose Anmut war alles um Sibyl, daß die Magie in seine ungleichen Augen tief zurücktrat und alle kauernde Freude dazu. Er blieb und blieb. Ging zögernd, fast mutlos endlich, als sie den Lift bestiegen. Drehte, schon an der Tür, doch noch um, — war in vier Sprüngen wieder am Aufzugschacht — horchte in ihn wie in leere, letzte Erwartung; vielleicht, um ihren Schritt über der Stufe oben zu spüren. Der Lift hielt falsch, etwas zu hoch, dann wieder zu tief. Da hörte er lotrecht über sich die mädchenhafte Damenstimme sagen:

„Aber Sie fahren mich ja hinab, statt hinauf.“

Ein vogelheller Jubelton —. Eine gerührte Erlösung — ein beispielloses Entzücken: eine Hymne der Hingabe — an den Liftboy.

Ralph Herson neigte den großgewellten Greifenkopf. Zog die Luft ein in einem endlosen Atemzug, ging ganz langsam ins Schreibzimmer, entnahm der Brieftasche vor dem Herzen die eigens für ihn gebaute Feder von niegesehener Breite, verschrieb die halbe Nacht und den ganzen Vorrat an Hotelpapier. Faltete es. Sammelte sich noch zu den starken und kühnen Zügen der Adresse, wie zu einem Weitsprung. Hielt. Es blitzte in dem Geäder seiner Schläfe. Kleine Verstöße, die er begangen, kamen ihm peinlich wieder: ein deplaziertes Wort, eine rauh gereizte Bewegung, wegstrecken des kleinen Fingers von der Teetasse.

Gutmachen sofort! noch mehr: vorbeugen. Er entbreitete noch einmal das ganze Pfauenrad der Verzückung, schrieb darunter:

„Meine liebe Zauberin! Lächeln Sie über mich? Doch bin ich mit Ihnen, ist stets die Hälfte meines Geistes in Adoration verloren — Du kennst mich nicht, mein besseres Teil. Die Schüchternheit vor Dir — vielleicht die Letzte, die mir im Leben geblieben — läßt mich dann trivialer, törichter, rauher erscheinen, als mir wirklich zu Mut ist, ja ich suche manchmal nach irgendeiner albernen Bemerkung, manierlosen Geste, um die wirkliche Bewegung zu verbergen.“

 

Als sie kam, fuhr er ihr doch zur letzten Station entgegen, wider alle Verträge. Sprang vom Rad, lief die bremsende Expreßkette entlang, die Arme voll blühender Zweige, warf sie durchs Fenster, dunkle Strahlenbündel hintennach.

„Dem liebsten Gast!“

Sprang aufs Rad zurück. Der Montmorency-Strähn auf seinem Kopf silberte im Sonnenstaub.

Dann fraß ihn Oleander- und Lorbeergebüsch weg.

„Abrasieren sollte man die alberne Gegend,“ dachte sie.

„Nichts sieht man.“

Und die Sternsaphire leuchteten.

Sein Gast? Nein. Stieg in einer kleinen Pension neben seiner Besitzung ab.

Am Morgen holte er sie, zeigte ihr das provisorische Haus — die Stelle des künftigen. Kaufte immer noch Gut auf Gut, Ufer und Hügel mit Wein.

Die weltgültigen Anreden der Fremdheit: „Gnädige Frau“ — „Herr Professor“, tanzten auf dem Äther und Kokainrausch ihres gemessenen Nebeneinander. Jedes genoß sie als Verheißung:

So viel liegt noch vor uns.

Nur einmal, als er Baupläne erläuternd, von dem Hügel niederwies auf seinen Grund, da hielt er an im Sachlichen und Klugen. Und in die lange Pause brach es leis, mühsam, gerührt und rührend:

„So im stillen habe ich mir doch immer gedacht, daß Du einmal hier wohnen wirst.“

Die nächsten Tage ließ er sie büßen. Ward sie an seinem verzehrenden Werben warm, winkte er ab mit zärtlichem Hohn, posierte Vorsicht — gebranntes Kind.

„Ja, wenn ich so was sagte, das wäre was anderes. Ich verspreche nicht — ich halte.“

Einmal brach er los:

„Verehrter Energievampir. Zeitvampir! Zeit, das Kostbarste! Jahre hast du mich gekostet: Jahre der Sehnsucht und Leere.“

An einem Hauch Humor über ihre abgewandte Wange hin sah er, sie rechne nach, womit er diese Leere minotauroshaft und auch ansonsten recht vergnüglich ausgefüllt.

„Aber verlieben konnt’ ich mich nie mehr, seit damals.“

Am Abend lag ein Blatt in ihrem Zimmer:

„... und dachte: sieh, zu andern,

Laß Dein Begehren wandern

Und liebe, was sich lieben läßt.

Da hielt ihn stets die Schlinge fest.

Oft prüft er sorgsam Herz und Sinn,

Als spürt er eine Wandlung drin;

Doch fand er stets darinne,

Isolden und die Minne.“

Sie saßen in tiefen Stühlen, unterm Mond, auf der Terrasse seines alten Landhauses.

Die Ruhe ihrer Posen trog. Ruhe gab’s nicht bei ihm. Zeitvergeudung! Zirkus im Hirn war angesagt.

Im roten Frack festlicher Hatz stand er: Kenner, Liebhaber, Käufer, Dompteur, Publikum: alles in Einem. Ohne Peitsche, nur auf Zungenschlag ließ er sie getürmte Hürden nehmen, höher — höher, oder, indes billiger Erdenlärm schwieg, oben im Raum durch Trapeze stürzen und schwingen.

Seine stolze Wut nach Probe ihres Wissens, Erfassens, Durchdringens, Beherrschens, war ohne Maß. Nichts von Literatur, Kunst, Musik: dem Weiberschwatz. Er preßte sie ins Letzte, Ernsteste vor, drehte dann zäh wieder zurück ins Detail, verlangte einen Griff voll Fachwissen hier, einen dort. Genoß dabei das Luftgebäude ihres Tons in An- und Abklang, das Unsägliche am gepflegten Menschen, das um seine Worte ist. Erschöpft endlich vom bloßen Prüfen, Fragen, Hören, Folgen, fiel seine Gier die bessere Beute an, die langerlechzte. Bot ihr Champagner — er selbst, aus Angst um seine prachtvolle Konstitution, trank nie — doch am Andern schätzte er die rosenhafte Steigerung im Weine, und über alles den Griff der Grazie um den Kelch.

Sein zahmes Eichkätzchen, aus dem Schlaf geschreckt, hopste hinten auf den Stuhl, lief über Sibyl herab und nestelte in ihrem miederlosen Schoß; angenehm erstaunt. Sie bog das Bein ein wenig, legte eine Nuß aufs Knie, hob die schlanken Arme wie schneeige Äste, Früchte in den Fingerzweigen. Auf und ab, über sie hin schoß das fuchsrote Büschel den schwarzen Seidenstamm hinauf, entlang die nackten, schmelzend weißen Zweige und wieder zum Schoß zurück.

„Bist du am Ende Ratatöskr?“ frug sie den Kleinen, „der von der Weltesche? Ist das wahr, daß du, dasselbe Wesen, oben Gutes, unten Böses sagst?“ Es spitzte pfiffig das winzige Gesicht, lief an ihr, die aufstand, empor, und hinüber auf den Arm des Mannes, der sich ihm entgegenwarf.

Sein Schweif fegte ihre Haut zusammen.

Sie standen überschwemmt von ihrem Blut. Dann küßten seine Fingerspitzen sich, in streichelnden Bändern ganz langsam ihre Arme entlang, zu den Flügelschultern hin. Verweilten auf kleinen Inseln der Lust, umspielten die zwei winzigen Glockenblüten, die Brüste, rannen die Wege des Eichhorns entlang.

Sie stand nackt unter der zergehenden Seide.

Die Endchen der freien Rippen zwischen den Fingern, bog er in die glatte Sichel der Weichen ein. Da wurden beide Hände flach, bedeckten in einem rasenden Genießen den ganzen schleierschmalen Leib. Er stürzte in die Knie. Da lag der ersehnte dunkle Kopf endlich zum Greifen nah vor ihr. Sie hielt die Hände darüber, wagte nicht, ihn zu berühren, als ob er Flamme wäre. Trank seinen Nardenduft, vor Erregung fast besinnungslos. Und wieder flossen die küssenden Bänder seiner Finger, diesmal von den Fersenspitzen weise aufwärts, die edellangen, seidenschwarzen zitternden Beine in den Silberschuhen hinauf.

„Meine Zauberrappen,“ stammelte er — „aber eigentlich sind es Schimmel, und einmal werden wir sie ausschirren.“

Von der Schmalheit der Knie kam er nicht los. Da bog sie ein wenig das Bein. Er verstand. Die Fingerbänder rannen jetzt mit ihren kleinsten Muskeln um die Wette hinauf, stürzten in die Kniekehlen, umspannten hart die wundervollen Sprungsehnen, breit und rein wie Dolche.

„Zehntausend Entzückungen — — wie — wie soll ich dich genießen — ausgenießen!“

Dann taumelte er auf — stürzte fort, Tatjana aus dem Schlaf zu reißen:

„Das ist ja gar kein Wesen wie wir, was das für Knöchelchen hat, mein Hermelin vom Mars. Solche Lieblichkeit bei solcher Größe.“ Und er raste sich aus.

Etwas ruhiger kam er zurück — brachte sie, die zitterte, nach Haus, wie sie gebeten. Sie begriff, daß er alles aufsparen wollte für das, was sie „Noch-nocher“ nannte, und war stolz auf ihn in aller Qual. Stumm glitten sie nebeneinander über den Wiesenpfad. Vor dem Tor in der Mauer riß er plötzlich die Arme auseinander — weit, hing in ihnen wie gekreuzigt.

„Alles, was mir je geschehen, war nichts gegen das, was du mir damals angetan, als du nicht kamst, aber in diesen drei Tagen hast du alles gutgemacht — ja, es ist tausendmal aufgewogen und ich bin nur Dankbarkeit.“

Und wieder von diesen nur ihm eigenen magischen, unerhörten Strahlen gehoben, mit einer glücklich, heiseren brechenden Knabenstimme:

I love you immensely.

Da ließ sie ihre Hände durch die Flammen fallen und umfaßte den silberdunklen Kopf.

Es war zwei Uhr nachts, unter einsamen Sternen. Und sie hatten sich noch nicht ein einziges Mal geküßt.

Das war also der „berüchtigte Wüstling“ und „Materialist“, ihm hatte sie so lang mißtraut — seiner Rasse wegen.

Scham tropfte aus den jubelnden Sternsaphiren.

Noch ein böser Vorhalt kam: ihr schien in den nächsten Tagen, als miede er geflissentlich ihre Lippen — gewisse Berührungen. An ihrem Staunen zuckte er dann jedesmal hämisch und häßlich vorbei. Einmal, Gesicht an Gesicht, nahm er ihre Arme sich vom Hals, dann brutal:

„Kann ich dich denn so küssen, wie ich möchte? Was sich mir in solcher Weise bietet, muß ich dagegen nicht das größte Mißtrauen haben?“

Es war nur wie Auf- und Abtauchen im Strom endloser Anbetung gewesen. Sie wußte kaum, was sie gehört. Begriff es erst allein in ihrem Zimmer ganz.

Ihr — das. Er konnte glauben, daß sie — nicht nur widerlich verseucht, auch noch hierher gekommen, um ... ihn ...

Das kam davon: sie kannte doch seine offene Geringschätzung der Frau. „Ich, als Orientale,“ pflegte er zu sagen, und erhob damit jede Privatroheit zur „Weisheit des Ostens“. Der Kult ihrer Persönlichkeit: eine dünne Schicht Laune nur, die sie von der großen Weiberverachtung — so lang’s ihm paßte, notdürftig schied.

„Und wie war das gewesen, das andere? Was sich mir solcherweise bietet: anbietet.“

„Mein Gott, in welchen Schmutz bin ich geraten!“

Sie warf alles in die Koffer, frug nach dem nächsten Expreß — er ging erst in zwei Stunden, verlangte die Rechnung. Rache war es, heimtückische Rache, weil sie ihn damals abgewiesen. Hierher geschmeichelt war sie worden, aufgespart für diese Schmach.

„Brangäne“ erschien mit Botschaft, sah die Koffer, eroberte das Telephon, beweinte, beschwor das Mißverständnis ... hielt die Fliehende ... bis die Tür aufflog.

Der letzte Verbrecher habe noch das Recht, vorher gehört zu werden. Er bitte von vornherein um Vergebung, wiewohl er nicht wisse, worin er gefehlt.

Ein Wink und Brangäne verschwand.

Ach so. Das. Habe er geirrt? Niemand könnte dann seliger sein wie er. Sie selbst — so großes Kind wie Dame, wisse vielleicht nicht einmal, was ihr unbehütet geschehen. Daß sie, ohne ersichtlichen Grund und ohne doch zu ihm zu kommen, plötzlich ihren Gatten verlassen, habe bei ihm Verdacht — Pardon: Sorge erregt — — aber nein, vor diesen feindseligen Koffern könne er nicht sprechen, und er gab dem nächsten einen Tritt.

So galoppierten sie spazieren, den Weg des ersten Morgens hinan.

Er leugnete gar nichts. Wurde einfach vorurteilsloser Naturforscher. Ob sie, leider sehr unpraktisch erzogen, ahne, wie viel namenloses sexuelles Elend es gerade für die Vornehmsten gebe. Da sei Vorsicht nicht beleidigend, sondern einfach praktischer Idealismus. Doch mit einem Lachen — einem klaren Wort von ihr, wäre alles abgetan gewesen.

Ja, er kam so sehr ins Recht, daß sie nur beschämt gestehen konnte, sie sei es eben noch nicht recht gewohnt, weil bisher in Gesellschaft ihre Tischherren gerade diese Frage nie an sie gestellt. Und ließ den Kopf hängen.

Ein erstes, leichtes Funkeln von Humor erlöste ihre Seele schon. Und schließlich: nachdem sie durch Gabriel in eine Sackgasse des himmlischen Jerusalem geraten, nun zurücktastend, bei diesem hier den Sinn der Erde suchte, durfte sie sich gehaben, erwies er sich gröber, rauher, als der sterile Ätherpfad.

Da schrak sie noch einmal zusammen.

„Ja, aber das mit dem sich anbieten,“ und trotz aller Anstrengung brach die Stimme doch.

Er konnte sich nicht fassen vor entzückter Heiterkeit. Er — er hätte das gesagt, der seit Jahren zum Monomanen geworden — an ihr.

Und plötzlich ernst: ja doch, er habe so was gesagt: daß sich ihm eine solche Erfüllung doch noch biete. ... Mißtrauen gegen das Schicksal habe er gemeint, einfach Furcht, weil es doch noch nicht erlaubt sein könne, so glücklich zu sein.

Dann mit Bitterkeit: Also gerade im Zartesten, im Bescheidenen werde er verdächtigt.

Schließlich voll Trotz: „Warum soll nur ich immer der Rowdy sein? Weil man in England Erpressungen an mir versucht und meinen Namen durch die Schandpresse gezerrt hat? Jetzt glaubt man mir alles zumuten zu dürfen.“

Sie standen auf dem Hügel, er wies ihr, wie am ersten Tag, seinen Besitz:

„Und wo das doch alles für dich ist. Und wo ich dir so lieb sage: I love you immensely ... und wo ...“

Dann aber wurde er verschlagen und schmunzelte das Feinste:

„Gnädige Frau müssen ein sehr schlechtes Gewissen mir gegenüber haben. Aber, ich stehe turmhoch über Ressentiments. Fast bin ich froh über dieses kleine Mißverständnis, das dich — verzeih — Tränen gekostet hat, denn ich habe daraus ersehen, daß du doch endlich wenigstens zu ahnen beginnst, was dir da blüht.“

Vor dem alten Landhaus irrte die Hörige wie gejagt. Beim Anblick der beiden lebte sie auf. Er nickte ihr leicht zu:

„Ich habe das Reh wieder eingefangen und zurückgebracht.“

Am Abend erschien Sibyl noch einmal in Schwarz und Silber, und diesmal wurden die Rappen ausgeschirrt.

Sechzehn Stunden lang küßten sie einander, ohne Pause, ohne Schlaf. Tatjana, vermeinend, ein Unglück sei geschehen, störte sie endlich auf. Aber immer noch war ein Schwert zwischen ihnen gelegen.

Jetzt hieß es, die Abendrobe verhüllt, in geborgten Schuhen in die Pension zurück — am hellichten Nachmittag. Das erste Renkontre mit der „Welt“.

Ein rasendes Gebelle und Gekläff war plötzlich ausgebrochen in dem abgesperrten Raum unter Ralph Hersons biologischen Versuchstieren. Im schneeweißen Sezierkittel kam er pfeifend angelaufen. Dann mit spitzbübischem Gefunkel:

„Aufregung im Hundekotter, das Weibchen ist da.“

Und er sah mit Experimentier-Prüflust zu, wie sie es aufnehme.

Sibyl beeilte sich, Versuchskarnickel zu sein, gab eine so heitere und dabei verblüffende Antwort, daß er, in ruheloser Gier, sofort wieder den Hirnzirkus eröffnen wollte. In der Pension aber lag schon ein festlicher Brief für sie bereit und er begann:

„Wann wird uns beiden

Je wieder hier auf Erden,

Solch süße Stunde werden!

Vergesset mein um keine Not,

Süße, herrliche Isot.“

Andern Tags reiste sie — seufzend in die so lang vermiedene üble Stadt. Nun hoffentlich zum letzten Mal. Es hieß sofort ihre Ehe lösen, Ralph Herson Taten zeigen — diesmal. Ihr einstiges Schwanken gutmachen, denn er glaubte ihr noch nicht. Dieser Zustand war unwürdig, immer mußte ein Schwert zwischen ihnen liegen, ehe sie frei. Alles oder nichts, wie gut sie ihn begriff. Wie stolz es sie machte.

„Zeit, Zeit, das Kostbarste, wieviel meines Lebens wirst du noch vergeuden?“ hatte er gesagt. „Hätte ich dich doch mit fünfzehn Jahren gekannt, mit dir wäre ich sofort sogar eine katholische Ehe eingegangen, hätte ja gewußt, daß mir nie jemand besser gefallen könne, und besäße dich jetzt schon zum zweiten Mal in einem neuen großen, kleinen Mädchen.“

„Willst du denn ein Baby von mir?“

„Eins ist doch gar kein Ausdruck. Sechs will ich von dir haben — vorläufig.“

 

„Wie lang dauert eine Scheidung?“ frug sie den alten Familienanwalt.

„Ein Jahr. — Ist gar kein Hindernis (aber das gibt’s ja nicht) und schiebt man gewaltig an, ein halbes — vielleicht.“

Sie erschrak. Wußte, sehr weltfremd, in diesen Dingen nicht Bescheid.

„Welche Gründe übrigens? Falls Sie nicht auf Ehebruch besonderen Wert legen, der allerdings das Sicherste und Schmutzigste — auch Billigste ist, bleibt nur ‚unüberwindliche‘ Abneigung. Die muß aber bewiesen werden. Ich hoffe, Ihr Mann hat Sie vor möglichst vielen, einwandfreien Zeugen wiederholt angespuckt, blaugeprügelt — ärztliches Attest erwünscht — und mit den unflätigsten Ausdrücken belegt, ‚Hure‘ ist gut. Auch alle Komposita mit Sau ... Also bringen Sie mir das Material.“

„Niemals, wir sind doch zivilisierte Menschen.“

„Das Gesetz hat nichts mit dem zivilisierten Menschen zu tun.“

„Wenn aber zwei mündige Leute auseinander gehen wollen ohne Aufsehen, brauchen sie da nicht bloß ihren gemeinsamen Entschluß irgendeiner Behörde zu melden, und die Sache ist erledigt? Das Gericht hätte doch nur gefragt zu intervenieren, wenn es sich eben um Schlichtung von Streitigkeiten handelt, kurzum zu helfen, sollte man meinen.“

„Meinen Sie,“ sagte der Alte.

„Auch bin ich schon zwei Jahre von meinem Mann getrennt.“

Da belebte er sich. „Nie dazwischen in seinem Haus gewesen?“

„Ja, doch nur um meines kleinen Mädchens willen, damit dem Kind das Wissen um den Konflikt erspart bleibe.“

„Schade,“ sagte der Alte, „sehr töricht.“

„Aber“ — Sibyl war außer sich — „wenn drei Menschen ihre privatesten Privatangelegenheiten ordnen wollen: anständig, reinlich und ohne die einzige köstliche Spanne Glücks dabei zu versäumen — —“

„Ausgeschlossen,“ sagte der alte Anwalt, denn er war mosaischen Glaubens.

Sie schüttelte seinen ranzigen Jargon ab:

„Wenn also eine Frau in Yokohama von jemandem ein Kind bekommt, deren Mann in Berlin ist, und der in Yokohama, sowie die Frau bezeugen es beide, und der Yokohamaer will sein Kind haben und anerkennen, während der Mann in Berlin keinen Wert drauf legt — ist es dann automatisch durch Fernverkehr doch sein Kind — auf Jus?“

„Natürlich. Außer, der Gatte klagt auf Ehebruch, und dann wird im laufenden Verfahren schon ganz von selber eine großmächtige Schweinerei draus.“

„Welch prächtige Einrichtung,“ sagte Sibyl.

„Nun, dies eine Mal nur — dann mein Leben lang nichts mehr von Gerichten.“

Da setzte Dr. Lederer einen zweiten Zwicker auf, um sie mitleidig anzustarren.

„Jeder Tag ist verloren ohne Liebe,“ hatte er beim Abschied gesagt. Sie ging auf alles ein, nahm die Schuld „böswilligen“ Verlassens auf sich, trat durch Schenkung einen Teil des väterlichen Erbes an Charmion ab, Ralph Hersons Frau würde es entbehren können. Ihm Zeit ersparen war wichtiger. Gabriel, fanatisch und bigott verwildert, stellte immer bösere Bedingungen, nicht um sie erfüllt, um die Scheidung abgebrochen zu sehen. Ihm schien seine Frau, der gefallene Morgenstern — ein brünstig gewordener Seraph. Nur um Charmion rang sie mit ihm. Einen Teil des Jahres mußte ihr das Kind verbleiben. Er ging darauf ein mit einer Klausel: so lang ihr Wandel einwandfrei. Das ließ sich unterschreiben.

Ralph Herson traf sie in Paris, Venedig, Rom. Sein Heim mochte sie nicht als Gast, erst als Dame des Hauses wieder betreten. Warum er sich nicht lieber in England einen Landsitz errichte, als am ligurischen Strand?

Er wehrte erschrocken ab: „Unter solchen Gesetzen leben.“

Sie dachte an Wildes Schicksal, gab ihm recht.

Auch war das Land so wundervoll, auf dem er zu bauen gedachte.

„Ich hätte dich gerne gleich in ein fertiges Haus gesetzt, doch auch so ist es gut, nun magst du mitbestimmen.“

Hatte Bilder, Bronzen, edle Stoffe in vielen Jahren vorausgesammelt. Die alte Landvilla war vollgeräumt wie ein Museum.

„Daß ich jetzt nicht nach meiner innersten Art schenken kann,“ sagte er einmal trotzig, als sie durch die juwelene Rue de la paix gingen — „es demütigt mich. Da ich aber das schönste lebende Material verschmerzen mußte, verrannte ich eben meine Mittel in Totes —, und so wird es am Ende von mir heißen, daß ich geizig bin.

Wie — wie soll ich dich jetzt würdig genießen?“

Nun, so weit es an ihr lag, sollte auch der anspruchvollste aller Sinnenprinzen nichts zu vermissen finden. Sie bot ihm jenes letzte Zusammenspiel der Tadellosigkeit zu allen Stunden, das nur in Nerven anspannender Mühsal, um ein Vermögen bei den ganz großen Couturiers, erreichbar ist — für Wenigste. Fuhr manchmal eigens über den Kanal, um ein tea gown, einen Hut. Schade, daß ihre Mittel nicht so unbegrenzt. Doch nur ein einziges Mal versuchte sie zu sparen.

Es war in Rom. Am nächsten Abend sollte er eintreffen, ein Märchengewand, von Fortuny, lag schon bereit, da sah sie ihren Kontoauszug durch — und erschrak. Scheidung, Schenkung, Reisen, der vielfältige Luxus, den er als Ästhet brauchte zum Genuß, hatten mehr verschlungen, als sie geahnt. Was für Schuhe zu dem graugoldenen Nebelgewebe morgen? Roter Saffian, geschnabelt, und im Schnabel oben hängend, eine schwarze Perle. Der Kontoauszug. Sie seufzte, und verzichtete weise, doch bedrückt, auf die schwarze Perle.

Nach Stunden erschöpfender Pflege war sie pünktlich zur Minute — er liebte Warten nicht — im großen Vestibul: dem Treffpunkt. Wartete. Ging auf und ab. Ging ans Klavier. Spielte. Nacheinander gespannt, erregt, beflügelt, besorgt, enttäuscht, leer und namenlos zermartert. Drehte endlich mutlos der Treppe zu. Da kam er, verschlagen und selig, hinter einem Pfeiler hervor:

„Ich habe mir gedacht: erst schau’ ich, macht sie ein gar zu böses Gesicht, schleich’ ich mich wieder weg.“

Hatte unbemerkt in ihrer Art zu warten geschwelgt, und wie man ihn vermißte.

Sie umflammend, nahm er oben im Schlafgemach das Saffianschiffchen am Ende des feinen Seidenbeines an sein Herz, küßte die rote Spitze.

„Wäre ich reich, hier hinge morgen eine schwarze Perle — riesengroß.“

Dies: „wäre ich reich“, scherzend nannte sie es: seine irreale, hypothetische Periode. Doch das Festliche des Wiedersehens war für diesmal verdorben. Der nächste Kontoauszug blieb uneröffnet. Das Sparen hatte er ihr somit abgewöhnt und gründlich.

Wie sie ihn begriff, in der Ganzheit ihres Herzens, daß er den Anspruch höher trieb und höher: in die Grenzen des Unmöglichen hinein und, wenn ihr die Erfüllung doch gelang, wie war er voller Dankbarkeit:

„Endlich, ohne Surrogatempfindung lieben können, welche Erlösung. Wieviel Enttäuschungen habe ich schon an Frauen erlebt.“

Der Kult ihrer Persönlichkeit steigerte seine Härte gegen alle Anderen. Gern übertrieb er dann den Physiologen durch Kraßheit der Diktion:

„Jede Frau sollte man eigentlich, hat sie ihr Erstgebornes abgestillt, erschlagen, als für den Mann erotisch nicht mehr brauchbar und überflüssig für das Kind. Güte, Rücksicht, Großmut, Treue: alles Männerart, ob eine Frau einen wahrhaft liebt, weiß man ja erst, bis sie sich für einen umgebracht hat.“

Sibyl grübelte:

„Hat er das wohl auch seiner achtzehnjährigen Frau, der schwer hysterischen, gesagt, eh’ sie ins Wasser ging?“

Da ihnen die letzte Erlösung versagt war, übertrieben sie die periphere Lust. Glitt er nach endlos verküßten Nächten aus ihren Gliedern auf, stand ihm, dem Mann — ganz Rom — Paris — Venedig zur Erfüllung frei. Sie: die Dame, lag da, mit hilflos aufgewühlten Adern ohne Frieden, ohne Schlaf — nur Arbeit noch vor sich. Da warteten Werke seines engsten Faches neben dem Bett. Sie griff danach. Nichts gab es zwischen Himmel und Erde, über das er nicht plötzlich mit ihr zu sprechen begehrt. Dann schrak sie auf zum Morgenritt mit ihm, zu Dauerläufen durch Ausstellungen, Museen. Tage preßte er in Stunden — klagte: wir haben Jahre versäumt. Sein schnellstes Tempo ging er neben ihr: zur Probe, denn über alles beglückte ihn, was er die höherwesige Anmut ihres Ganges nannte, und dies auf Erden unbekannte Gleiten im kleinsten Schritt. Schlief er bei Tag, hieß es: sich umkleiden von Kopf zu Fuß, nach dem sechsfältigen Fächer täglicher Mondänität die Linien wechseln.

Als Physiologe studierte er den auserlesenen Organismus seiner Dame stolz, wie wenig Nahrung sie bedürfe — welch guter Motor sie sei —, wollte die Grenzen ergründen. Sie wußte kaum mehr, wie sie leben sollte.

Seine Gier, sie auszukosten, war ohne Maß.

Man trennte sich am Bahnhof. Nach letztem Abschied sank die Zerliebte tief erschöpft in ihr Kupee. Endlich Frieden, seliges Nachgenießen ohne getürmten Anspruch, Qual der Hast. Da ging die Tür. Heimlich war er mitgefahren, stand stürmisch, in Erwartung einer Freude — die nicht kam, in ihr erblaßtes Gesicht. Ein Augenblick Verstimmung nur, dann flog die echte Sonnigkeit drin auf.

Er scherzte:

„Du bist mich noch nicht los.“

Um seine Miene aber lag gekränkte Männcheneitelkeit. Dann aber war’s ihm wieder recht, erhöhte irgendwie den Wert der eigenen Glut und paßte in das Liebesspiel der beiden.

Sie spielten Faun und weiße Prinzessin, Pan, der die Pranken um den Mondstrahl schlägt. Er wollte jenen Schmelz an ihr aus Eis und Honig, und daß es mit dem Eis begänne. So überflog er seinen eigenen Brand, blieb alleiniger Herr des Feuers. Ihre Wärme, ihre Liebe aber neckte er hinweg:

„Du wirst doch nicht etwa ein Herz — so ein ganz gemeines irdisches Herz vortäuschen wollen, das, womit wir Menschen lieben. Auf den Mangel dieses Organs habe ich immer das entzückende Untergewicht meiner großen Fee geschoben.“

Er korrespondierte mit ihren Füßen, mit jedem Glied.

Seine Briefe schwollen jetzt zu Broschüren an, kamen zusammengeheftet und mit der Maschine geschrieben. Sie vermißte den stilisierten Eigensinn seiner breiten Feder. Damit, aus dem Papierkorb heraus, hatte es ja begonnen. Ihr war: geliebte Schrift in die Augen empfangen, sei ein sublimer Eros, und sagte es ihm auch.

Er bat: „Ich habe dir doch unaufhörlich Zehntausenderlei zu sagen — und endlich darf ich auch — die Feder ist viel zu langsam.“

Sie einigten sich. Den Inhalt gab sie der Mechanik preis, Nachschrift (eine mindestens) und Kuvert sollten der lebendigen Hand verbleiben.

Dafür bat er sich leihweise all seine Briefe aus, von jenem frühen, mit dem Antrag angefangen, damit er sie kopiere, fürs Archiv — um einst zu sehen, „wie alles ward.“ Wollte alles besitzen, was sich auf ihr gemeinsames Schicksal bezog.

 

Das „laufende Verfahren“ zog indes seine Schleimspur durch die Monde. Versöhnungsversuche, Verhandlungen, bei denen maßlos angeödete Leute in schwarzen Babykleidern schamlose Dinge fragen mußten, die sie nichts angingen, um Antworten zu erhalten, die notgedrungen Lügen waren. Es hieß „Erhärtung des Tatbestandes.“

Seit die Scheidung im Gang, wollte Ralph Herson nicht mehr ohne sie sein, fuhr einfach mit.

„Jetzt kann nichts mehr geschehen, vor einer Ehebruchsklage deines Mannes bin ich sicher.“

Angenehm war es ihr nicht, hetzte er sie hier, von allen gekannt, an seiner Seite durch die Straßen der Stadt.

Man klebte förmlich vor geblicktem Schmutz.

Ralph Herson staunte, wieder ganz Edelanarchist, über solch kleinliche Scheu bei einer so großen Dame. War auch sonst schwarz gelaunt und von wahnwitzig gereizter Höflichkeit. Sie befragte Tatjana.

Es sei um der Besitzungen bei Genua willen. Eben böte sich Gelegenheit, den Grund aufs Wertvollste zu arrondieren. Dann wäre man auf viele Kilometer im Umkreis für alle Zeit gesichert vor Fabriken, Lärm und Unflat. Doch müsse Ralph ihretwegen jetzt seine flüssigen Mittel für den neuen Bau bereit halten. Sibyl ließ sich die Summe nennen, bot sie ihm — war es doch für ihr künftiges Heim — diskret, fast en passant, als Darlehen an. Er brauste auf. Nach gutem Zureden ging es aber dann doch. Solche Gelegenheit kam ja nicht wieder. Er trug ihr einen Schuldschein an, die ganze Summe nach zehn Jahren rückzahlbar, die Zinsen zu jedem Quartal fällig.

Sie setzten es zusammen auf und lachten sehr.

Es ergab sich, daß der Millionärssohn in diesen Dingen ein weltabgeschiedener Gelehrter war, und gestand das auch freimütig zu. Da ihn dergleichen ekle, regle stets der Prokurist des Hauses Herschsohn alles Geldliche für ihn. Und so vergaß er denn auch richtig das mit den Zinsen hineinzunehmen. Sie mochte ihn nicht mahnen. War es nicht gleich? Die Flüssigmachung der Summe gelang nicht ganz leicht. Sie mußte Effekten ungünstig verkaufen, andere belehnen lassen, denn er brauchte die Summe gleich.

Rührend, wie chronisch er wieder sparte, an kleinsten Dingen, der große Herr, der Forscher und Ästhet, als wären sie von Belang. In Venedig hatte er mit dem Gondolier um eine halbe Lira einen Auftritt. Mitten im Kreis der Gaffer ließ er seine Dame stehen. In einer Wallung Zorn, Verachtung fast, griff sie bereits zur Tasche, dem Schiffer ein Geldstück hinzuwerfen und ihres Wegs zu ziehen. Da schoß ihr die Scham ins Gesicht.

„Es ist für mich — für unser Heim.“

Und wartete geduldig im Kreis der Gaffer, bis Fahrgast und Führer sich auf fünf Soldi geeint.

 

Endlich kam der letzte Verhandlungstag. Die Erniedrigung schien ausgelitten. Sibyl atmete schon auf, da stand plötzlich wieder ein neuer Jude da und sagte, er sei Ehebandsvertreter und von Staats wegen bestellt, auf alle Fälle dagegen zu sein. Nichts war ihm recht, nichts ließ er gelten. An „unüberwindliche Abneigung“ glaubte er so wenig, wie an böswilliges Verlassen. Riet im Gegenteil den anwesenden Parteien dringend zu neuerlichem Geschlechtsverkehr, von dem er sich viel erhoffe. Während sein eingespeicheltes Wohlwollen bewies, wie doch selbst so gewissenhaft geführte Verhandlungen gar nichts Trennendes zutage gefördert, das zu einer Scheidung berechtige, streifte Sibyl ganz langsam den Handschuh ab, betrachtete, Tiefes sinnend, die kleine Narbe am Gelenk, sah dem Ehebandsvertreter dann plötzlich mit solcher Kraft des Hohnes in den Mund, daß er zwar noch alberner wurde, von den dösenden Richtern jedoch nur ein Probejahr verlangte, statt zwei. Es nützte ihm aber nichts. Die Ehe wurde getrennt.

Also frei. Sie dankte ihrem Anwalt, sprach ihm, zum ersten Mal, von neuer Bindung.

„Ausgeschlossen,“ sagte der Alte — „erst in sechs Monaten — als Frau. Nur der Mann kann sofort wieder heiraten.“

Da verlor sie zum ersten Mal den Mut, stammelte:

„Und wann — wann dürfte sie ein Kind ...“

Der Alte kam ihr zu Hilfe, hatte dieses hohe, zartfremde Wesen lieb gewonnen, das da hilflos in seiner Kanzlei sich die Flügel zerstieß, und dem er als Baby einst das schmale Goldhaupt geküßt.

„Kommt das Kind ein Jahr nach erfolgter Scheidung zur Welt, gehört es der Ehe nicht mehr an, kann aber ohne weiteres durch eine andere Heirat legitimiert werden, die allerdings erst sechs Monate nach erfolgter Scheidung geschlossen werden darf.“

Sibyl war ganz perplex über die klare Antwort. Mochte der Inhalt auch Unsinn sein, man wußte wirklich, woran man war.

Wie zart, wie gut von Ralph Herson, daß er nie frug. Die ganze rechtliche Kloake vornehm ignorierte, durch die sie gemußt, um ans andere Ufer hinüber zu kommen, zu ihm, wie er gewünscht.

„Mein Wunderwesen vermag so wonnevoll leicht aus diesem trivialen Leben zu entgleiten,“ sagte er nur.

Und nach einer Pause:

„Daß wir sofort nach deines Vaters Tod uns wiederfanden, es ist, als hätte er dich irgendwie mir sterbend anvertraut, daß dir nur nichts geschehe.“

Sie sprachen nie von Täglichkeiten. Gewiß wußte er gleich ihr juristisch Bescheid. War die peinliche Wartezeit um, erledigte man eines Vormittages obenhin und möglichst in der Stille, was der Gesittung und der Kaste zukam.

So strichen noch drei Monate unter Qualen an den Grenzen der Erlösung hin, die heilige erste Flamme sollte erschaffen dürfen, nicht in Halbheit erstickt, verschwälen.

„Dir will ich meine ganze Liebe und meine ganze Zärtlichkeit auf einmal geben.“

Und ging aus ihren Armen zu Gleichgültigen. Konnte sie denn ein Jahr Askese von ihm verlangen — ja, nur wünschen?

Doch nun. Immer öfter, tiefer, sahen die mächtigen braunen Augen in ihr Herz und klagten:

„Begeisterung ist keine Heringsware, die man einpökelt für mehrere Jahre.“

Und die silberne Locke auf dem dunklen Greifenkopf im Spiegel angeseufzt, hieß:

„Ich bin nicht mehr so jung, wer weiß, wann die mächtige Flamme erlischt.“

Sollte noch mehr Leben und Glück vergeudet werden, um einer leeren Formalität willen, die ja in wenig Monaten nach Belieben nachzuholen war?

Und so geschah es. Manisch, brutal, nur einem Zwecke zu. Sie dachte:

„Daß er mich nicht nachher noch an den Füßen aufhängt, wie die Tartarenkhane ihre Weiber, ist alles.“

Er vertröstete: „Dann, ist das große Ziel erreicht, alle Orgien der Welt.“

Sie war wie eine Gefangene. Und doch tat er, als glaube er ihr das Kind nicht. Nur ein einziges Mal hatte sie davon gesprochen, wie eine Frau die Sekunde wisse, wann es in ihr um einen neuen Kern zu kreisen begänne, als du im ich. Wie das Empfinden da gleichsam blitzhaft zucke, her und hin, mit erstem Gruß und Gegengruß.

„Hysterische Faxen,“ hatte er gelacht, „mir, als Physiologen, macht man nichts weis. Sicher sind erst die Herztöne.“

Nun würde sie schweigen bis zu den Herztönen. Fuhr trotzig zu Charmion, das Kind mit sich in die Berge zu nehmen, verschmachtet nach Freiheit und Bewegung. Glitt auf Skiern ins Blaue über Wächten — da es ja doch nur „hysterische Faxen“ waren. Auch hatte er noch etwas gesagt, das sie verdroß und trotzig machte.

„Ich bin nicht mehr jung. Vom eugenetischen Standpunkt aus hätte ich eigentlich mit einer Sechzehnjährigen zeugen sollen.“

Sie hatte gelacht: „Recht aneifernd für mich.“

„Seine schöne Offenheit,“ fuhr Tatjana demütig dazwischen, „wie wunderbar objektiv er immer ist.“

Die Frau hatte ein hündisches Geschick, alle peinlichen Tatsachen um ihn zu verwedeln. So ertrug er — voll Sehnsucht nach Ebenbürtigkeit — doch kein freies Wort mehr, nur kritiklose Unterwerfung, unbewußt gewohnt, seine Umgebung ausschließlich von dem Gesichtspunkt zu wählen, sich ungestört überschätzen zu können.

An die „Krönung seines Lebens“ schien er wirklich noch immer nicht zu glauben, hätte er sonst von ihr, in diesem Zustand, Geld verlangt?

Natürlich nicht „verlangt“, eben nur angefragt, ob man nicht für ihren Baderaum jetzt einen Marmorblock kaufen solle — in Carrara sei ihm ein besonders schöner preiswert angeboten — käme sie aus den Bergen zurück, führe man zur Besichtigung hin. Auf alle Fälle möchte er die Summe als Scheck schon jetzt haben.

Sibyl wußte nicht so ganz genau, was ein Scheck sei, schämte sich, tief schüchtern, zu fragen, fürchtete Spott. Begriff nur, daß es sofort bares Geld bedeute, sagte nun zwar ja, später aber fiel ihr ein, er brauche die Summe ja nicht gleich, so könne sie neuerliche Belehnungszinsen bei ihrer Bank indessen sparen. Hatte Angst davor, seit dem letzten Mal. Diese ewigen Belehnungen zehrten zuviel auf, und Ralph hatte ja in seinem Schuldschein die Zinsen vergessen, so trug sie alle Lasten für ihn allein.

Ein bitteres Schreiben flog ihr in die Berge nach. „Geld“, als Wort, kam natürlich nicht vor. Er umschrieb es:

„Dein Benehmen gegen mich verschlechtert sich rapid. Du hältst Abmachungen nicht und bringst mich dadurch in peinliche Abhängigkeit. Hättest Du Deine Zusicherung aus irgendeinem Grund nicht halten können, es spielte gar keine Rolle, was wäre Finanzielles zwischen uns, nur in der Nicht-Mitteilung erblicke ich eine äußerst verletzende Geringschätzung meiner Person, um so weniger erträglich an jemandem, den man so sehr um guten Benehmens willen liebt, die ganze Natur hat sich da gleichsam so ‚gut benommen‘. Und all das — mir, der ich Dir eine Liebe entgegenbringe, wie sie nur noch im Märchen vorkommt.“

Ihn an die vergessenen Zinsen gemahnen: den wahren Grund des Aufschubs — niemals. So schickte sie zwar sofort die ganze Summe, doch kommentarlos, nahm lieber den Schein der Rücksichtslosigkeit auf sich, sein Gentlemantum zu schonen.

Wäre nur die erdenschwere Pein der nächsten Monate schon vorbei. Wie würde der Ästhet Entstellung ertragen? Was anderen fast verborgen, war für sein an Vollendung verwöhntes Auge bereits degoutant. Nie durfte der Vater Herschsohn nach Genua kommen, alte Leute duldete er nicht um sich, sein Kind mit Tatjana wuchs in Instituten auf, weil es unschön ausgefallen war. Das leichteste Unwohlsein schon galt als Schande. Welcher Jammer, als sie einmal die Spitze eines Fingernagels brach. Andern Tags kam er halb scherzend mit einem Formular von Lloyds angelaufen: „Wie Paderewski jeden Finger, so laß ich jetzt jeden deiner Fingernägel versichern.“

Oben kritzelte er etwas mit Bleistift, unten mußte sie wahrhaftig mit Tinte unterschreiben.

Man fuhr nach Carrara, nach San Gimignano, nach Ravenna, man fuhr, man fuhr ... Endlich war selbst er, der Unermüdliche, müde und die Zeit ihres freiwilligen Exils von seinem — ihrem Heim zu Ende.

Nur mehr wenige Wochen dort, als sein Gast, ein „gravider Gast“ allerdings, dann: Dame des Hauses. Alles Falsche, Schiefe, der Kaste unwert, war überwunden.

Endlich ein Heim haben. Sie fühlte, wie sich Tränen in ihr erzeugten, während der staubige, kleine Waggon gegen Padua holperte. In ihrem Schoß lag der dunkelhäutige Greifenkopf, den sie betreuen durfte, in tiefem Schlaf. Götterfrei weidete ihr Auge auf ihm in befiederter Erwartung eines namenlosen Glücks. In einem dichten Lichte schwamm ihr Herz. Ergriffen sah sie auf. Da, gleichsam geformt aus diesem Glück, zogen vor dem großen Glaswagen zwei wundervolle Menschenangesichte langsam und lautlos an ihr vorbei, wie eine ungeheure Erweiterung der eigenen Seele.

 

Die Versuchstiere waren fort aus der alten Landvilla, als sie ankamen. Wie lieb. Sie dankte ihm.

„Ich sagte dir ja vor Jahren schon, eine Zeit käme, wo ich das Tierexperiment zeitweise entbehren könnte.“

Hinter seinem breitweggerollten Mund lagen die schöngesetzten Zähne fest aufeinander.

Sibyl war morgens beim Arzt gewesen, hatte sich die Herztöne bestätigen lassen, nun waren es keine „hysterischen Faxen“ mehr. Nachmittags fuhr er in die Stadt zu seinem Anwalt. Kam spät nachts zurück. Ließ sie zu einer Unterredung in sein Arbeitszimmer bitten. Er liebte Form. Schon im Nachtgewand, kleidete sie sich nochmals sorgfältig an, wie zu einem kleinen intimen Souper, trat ein. Er rückte einen Klubsessel beflissen zum Schreibtisch, das undurchdringliche Gesicht lässig neugierig gespannt über der kerzensteifen Hemdbrust. Nahm dann eine frische Feder, prüfte die Spitze, legte sie ihr hin wie zu einer kommenden Unterschrift, entfaltete ein Dokument. Begann zu lesen. Es war ein Ehekontrakt.

Nein, eigentlich mehr ein Scheidungskontrakt. Ihr Vermögen und ihr künftiges Kind verblieben auf alle Fälle ihm, während er das Recht haben sollte, sie jederzeit entschädigungslos auf die Straße zu werfen. So ungefähr klang der verschleierte Sinn hindurch.

Sie saß ganz still. Alle Wirbel begannen zu zittern. Tief innen zuckte sein Kind.

Er erläuterte:

„Es war recht schwierig, das in rechtsgültige Formen zu bringen. Nach diesen lächerlichen gynäkokratischen Ehegesetzen, denen ich mich niemals unterwerfe, hätte ja meine Frau bei einer Trennung den Anspruch auf den vierten Teil meines Vermögens. Gegen solche juristische Attentate auf meine materielle Freiheit muß ich mich zu schützen suchen, und mit etwas gutem Willen und einem guten Advokaten läßt sich viel machen, also bitte zu unterschreiben. Es ist das wie ein Sicherheitsgürtel, ehe man sich auf hohe See begibt. Gerade weil du ja hoch über den selbstischen Interessen der gemeinen Weibchen stehst, liegt deiner Unterschrift nichts im Wege.“

„Vielleicht die Selbstachtung,“ sagte sie leise.

Es waren zwei Dokumente. Im ersten mußte sie ihm eine phantastische Summe, viel größer, als ihr tatsächliches Vermögen, als Mitgift zubringen. Das zweite, weit vorausdatiert, enthielt das Geständnis eines Ehebruches — aber, da verstand sie schon nicht mehr ganz — offenbar irgendeiner Infamie, die sie völlig in seine Hand geben sollte. Ob das alles wirklich rechtsgültig — ob es auch nur möglich, was ging es sie an. Ihr Gehirn stotterte nur in einem fort:

„Die ersten Herztöne seines Kindes benützt er zu Erpressungen.“

„Zu Erpressungen, die Not, in die er mich durch Vertrauensmißbrauch gebracht.“

„Wie eine Alimentenjägerin behandelt er mich. Aus Angst vor dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestmaß an Anstand.“

„Mein Gott, nur heraus aus diesem Schmutz.“

Dann stieg langsam eine ungeheure Empörung in einer Welle von Rot auf. Sie erhob sich, ging zur Tür. Wenn nur die Stimme jetzt noch hielt, ohne zu brechen:

„Jemand, mit dem man erst einen Vertrag schließen muß, — mit dem schließt man auch keinen Vertrag mehr. Wie den Möbel-, den Marmorlieferanten, versuchen Sie nun auch der ‚Kinderlieferantin‘ nachträglich Abzüge zu machen? Einen Märchenprinzen glaubte ich zu finden und finde — Leiser Herschsohns Nachfolger.“

„Ganz wie gnädige Frau wünschen. Ich möchte nur konstatiert wissen, daß ich die Eheschließung wollte, die Sie — in der beleidigendsten Form — abgelehnt haben. Für weitere Konsequenzen bin ich demnach nicht mehr verantwortlich.“

Sie wollte an ihm vorbei. Er vertrat ihr die Tür. Seine ungleichen Augen genossen die Situation. Dann mit wohlwollender Tücke:

„Nun, vielleicht wäre die Klausel mit dem Kinde unnötig gewesen, es verbleibt mir ja auch so. Wenn du dich um dieses Künftige so wenig kümmerst, wie um Charmion — das genügt mir vollkommen.“

Auch das noch. Für ihn, um ihm andere schenken zu können, hatte sie unter bittersten Kämpfen auf das Arielwesen zum Teil verzichten müssen. Selbst daraus wurde ihr noch der Strick gedreht.

 

Menschenscheu, ganz allein, irrte sie von Stadt zu Stadt. Sprach durch Monate kaum ein Wort. Mied Seen, Brücken, Felsen. Einmal, in Madrid, war im Hotel nur noch ein hochgelegenes Zimmer frei.

„Nicht im vierten Stock, ich will nicht an dieser Bestie zugrunde gehen.“ Ganz laut geschrien hatte sie es wohl, die Leute schienen so verdutzt.

Nein, diesen Triumph befriedigter Eitelkeit sollte er nicht haben.

Ballten sich in ihr die kleinen Gliedmaßen und schlugen nach oben aus, gegen das Herz, begann sie zu rennen. Ins Freie. Hielt das Bewußtsein mit aller Kraft noch auf Armeslänge von sich ab. Stetig umkreiste es sie in unsichtbaren Sprüngen nach ihrer Kehle. Sie zählte krampfhaft, immer noch bis zehn, und dann noch bis fünf, um es wegzuhalten. Plötzlich, ein Moment inneren Erlahmens: da sprang es ihr an die Gurgel. Sie spürte den stinkenden Hyänenatem der Schmach. Ihre Wirbel zitterten vor Wut.

Im Gral ihres Wesens kreißte also die Jauche eines Wucherers. Was Niggergier in sie hineingespien durch Vertrauensmißbrauch ohnegleichen, sollte sich Leben ermästen dürfen durch sie.

Mutterinstinkt! Über nichts wurde wohl so ausdauernd, feig, schamlos gelogen, und gar von niemandem so heuchlerisch, wie vom Mann.

Das könnte ihm gefallen, den viehischen Bruttrieb als „heilige Pflicht“ ausplärren: als weibliche „Natur.“

In der Natur kann eine Löwin ihre Jungen auffressen oder liegen lassen, ohne daß die Vormundschaftsbehörde sich einmischt, sie vor die Wahl Ächtung oder Zuchthaus stellt. Das ist Natur: frei sein, zu gebären, frei das Geborene zu vernichten.

Wie, jeder Instinkt sollte sich veredeln, erhöhen dürfen, und nur die Schwangere wahllos, bestialisch bleiben müssen? Wahlloser Muttertrieb so verächtlich wie wahlloser Geschlechtstrieb! Wie aber könnte die Ärmste echt von falsch erkennen, ehe sie den Mann „erkannt“. Da erst fällt die Maske. Erst da weiß sie, was sie empfängt.

Das Gesetz. „Wer sich Infamem beugt, wird selbst infam.“ Nein, dies Kind würde sterben, ausgestoßen werden — reuelos, sie selbst aber leben, jetzt gerade.

Und dann schlug sie das Gesicht in die Hände und hoffte, daß ihr das Herz bräche.

Wie sie crude geworden war. Wie sie sich verrohen fühlte in dieser Hölle. Wo war die Zartheit, wo die Scheu? Wo das reine und kühne junge Wesen, dem selbst im Straßenschmutz der Saum des Schuhs noch ohne Makel blieb? Das Ärgste am Unglück war nicht, daß es unglücklich, daß es so schamlos machte.

Und nun begann das Pendel langsam zurückzuschwingen aus dem höchsten Haß. Sie litt so sehr, daß sie nach ihrem eigenen Unrecht suchte.

Zwei, drei, vier Stimmen erhoben eine bebende Litanei: rechtfertigend, beschwörend, ringend, hadernd:

„Du Philosophin, du neunmal Weise. Es wird ein Mensch doch nicht plötzlich zur Bestie, zum Verbrecher?“

„Nein, denn er war es stets, läßt nur die Maske fallen, sobald nichts mehr herauszuschinden ist.“

„Bedenke, er war Erpressungen ausgesetzt. Verfolgungswahn, nichts weiter. Er ist krank. Kann man nicht auch einen Kranken sehr lieb haben?“

„Krank? Ein recht gesunder Wucherer. Selbst aus Erpressungen, an ihm begangen, versteht er es noch Vorteile zu ziehen, markiert Verfolgungswahn, um seinen einfachsten Verpflichtungen heuchlerisch sich zu entziehen.“

„Und weiß nicht jede Pore deiner Haut von Liebe, wie sie nur im Märchen vorkommt?“

„Ja, solang’ es nur Vergnügen war. Zu einem Tee im Ritz reicht die Liebe, falls die Dame ihren beau jour hat und — den Tee bezahlt.“

„Weißt du denn wirklich, was er wollte in dieser schrecklichen Nacht? Hast du dich verhört am Ende? Warum nicht in Ruhe und Geduld den Kontrakt bei Tag noch einmal prüfen?“

„Aufs Nichtprüfen war es ja angelegt. Selbst um den ehrlichen Heiratsschwindel hat er sich noch herumzuschwindeln gewußt. Ist es nicht gerade meine Qualität, nicht pfiffig zu sein? Klugheit zu verachten? Oft genug schlich er sich mit Nachschlüsseln der Konversation in mein Innerstes ein, um das zu wissen.“

„Warum darfst nur du unklug sein, nicht auch er? Vergriff er sich nicht lediglich im Mittel? Durch deine Rechtlosigkeit solltest du ihm sicherer sein. Hat je eine Frau gezürnt, weil man sie angekettet, um sie besser küssen zu können.“

„Welch ein Arzt und Physiologe, der es nicht besser weiß, als eine gravide Frau zu beunruhigen? Anketten? Er läßt dich doch hilflos monatelang umherirren — ganz allein. Ist es nicht, als sehe man ruhig zu, wie ein Fieberkranker aus dem Fenster springt, und denkt dabei: ist er unten heil gelandet, wird er später schon wieder einmal depeschieren.“

Ach nein, alles hoffnungslos, und sie warf die Stimmen wieder in sich zurück.

Dann eine Pause bitterster Verliebtheit. Was war die ganze alberne Ethik gegen das Wehen seiner Haare im Wind!

Und nur einmal ist das da, in allen Ewigkeiten. Wenn ich an dem Kind sterbe, sehe ich das nie wieder. Wertlos alle Seelenwanderung für die Liebende. Denn steht er auf und hat nur ein Haar auf seinem Kopf anders wehen, so ist alles wie nichts.

Da schrieb sie ihm. Eine Zeile bloß:

„So hast Du mir in solcher Zeit kein einziges liebes Wort zu sagen?“

Keine Antwort. Plötzlich stürzte sie über seine Briefe her, ein Koffer voll, der sie nie verließ. Wählte nur mit der Maschine geschriebene. Ein unerträglicher Verdacht war in ihr aufgestiegen. Hatte seine schlaue und lachende Stimme nicht einmal zu Tatjana gesagt:

„Eigentlich sollte man dem Empfänger nur den Durchschlag schicken, so behält man das Original, das Ursprünglichere, Wertvollere für sich, und der Andere merkt es ja nicht.“

Sie prüfte genau. Ja, es waren Durchschläge. Und vernichtete nun alle: Blatt um Blatt.

Der berühmte Gynäkologe in Berlin sagte ihr nichts Neues.

Nach Charmions Geburt, als Fachleute dazukamen, war irgendein schwerer Kunstfehler begangen worden, weitere Kinder mußte das Messer ans Licht bringen, sonst starben sie ungeboren.

Das Schicksal gab ihr somit alles noch einmal in die Hand. Sie brauchte nur — nichts zu tun. Sich nicht rechtzeitig der Operation unterziehen; wer konnte sie zwingen? — und die Schmach war tot. Auf ganz korrekte Weise tot.

Eine Nacht lang rang sie nach Gerechtigkeit. Das Todesurteil über diesen Bastard zu verhängen, war ihr gutes Recht. Ja. Doch hat eine gravide Frau ein Urteil? Eine arme belastete Irre nur ist sie, mit verdrängten Nerven; ein Wesen mit verschobenem Kern. Wie, wenn sie erwachte, vom Druck befreit und die bös verzerrte Welt, die durch das Doppelich Gebrochene, war wieder eins und heil. Alles wieder gut, und jenseits der Nachtmahr stand der geliebte Mann, frei von Schuld, und zwischen ihnen lag das vernichtete Kind. Es war nicht auszudenken. Sie spornte sich an die Tat heran, wie an eine Hürde. Ein Bravourstück ihres alten „Noch-Nocher“. Sie mußte hinüber. Aber um Gottes willen rasch. Hinüber in die Gewißheit.

Auf seiner Klinik hatte sie eine letzte Unterredung mit dem Geheimrat. Beschwor ihn, sie nicht zu schonen, aber das Kind müsse leben, um jeden Preis. Stürzend durch die stechende Süße des Chloroforms, noch aus dem Abgrund herauf, lispelte sie durch das Zählen hindurch immer wieder: Telegramm, Telegramm. Hatte Auftrag gegeben, während sie noch bewußtlos, Ralph Herson sofort die Geburt des Kindes zu melden.

Lange war nichts. Vielleicht ein Jahrhundert. Dann wurde sie zur Erde, und ein Bergwerk voller Stollen hämmerte und zerriß dumpf ihr Inneres, riß durch alles durch und plötzlich rotierten vierzig Rasiermesser in ihr, Arzt und Wärterin hielten Arme und Beine. Nach vier grauenvollen Tagen und Nächten war die erste Frage nach der Post. Nein, nichts da. Ob sie das Kind sehen wolle, es sei ein so schöner Knabe.

Nein, die Post.

In der Klinik sprach man von nichts anderem. Diese fremdlinghafte Dame. Ganz allein. Flehte um die Operation und wollte dann nicht einmal ihr Kind sehen. Frug nur immer um ein Telegramm. Acht Tage, vierzehn Tage. Der Geheimrat stand vor einem Rätsel. Medizinisch ging alles bei dieser Vitalität ans Wunderbare grenzend gut, und die Patientin wurde immer elender. Aß nicht, schlief nicht, verfiel. Nach drei Wochen hieß es, ein Herr sei da, ließe diesen Brief übergeben, warte auf Antwort.

Sie schickte die Pflegerin fort. Legte die Wange auf den Brief und schloß die bebenden Augen. Streichelte ihn lange, öffnete endlich andächtig den Umschlag.

„Geehrte gnädige Frau,“ stand mit Bleistift, flüchtig gekritzelt. „Ich halte wohl eine Besprechung jetzt nicht für unbedingt notwendig und um so weniger dringlich, als ich selbst in hohem Grade der Erholung bedürftig bin. Eines ist aber doch vielleicht wichtig, und zwar eine unterzeichnete Erklärung Ihrerseits, daß alle nötigen Schritte getan werden, um mir die Vormundschaft über Ihr durch Kaiserschnitt von Geheimrat C. zur Welt gebrachtes Kind zu übertragen, ferner Ihres Einverständnisses damit, daß alle Abmachungen über Unterhalt, Aufenthalt, Aufzucht des Kindes zwischen uns, ohne Prozesse oder Geltendmachung rechtlicher Ansprüche Ihrerseits spätestens in zwei Monaten getroffen werden.

Hochachtungsvoll
Ralph Herson.“

Kein liebes Wort. Keine Blume.

Sie klingelte und ließ ihn hinauswerfen.

Als er am nächsten Tag um eine Unterredung ersuchte, schickte sie eine Zeile hinaus:

„Nur noch durch den Advokaten.“

Und war dann lange Zeit schwer krank.

Oh, warum, warum hatte sie ihn nicht wenigstens angeschaut in der Klinik. Dann ihm die Tür weisen, aber erst sehen, wie es heller wird im Zimmer, wenn er hereinkommt. Nur eine Minute ihn sehen. Monate ließe sich’s wieder davon zehren.

Sie versuchte zu reisen. Umsonst. Jede Person Plage, jeder Ort Pest, wertlos jeder Weg, der nicht zu ihm führt.

Manchmal packte sie die Wut des Gradgewachsenen, den man krummgeschlossen hat. Es war ja nicht mehr Liebe, war Besessenheit, hatte er doch nicht geruht, bis jedes Stückchen seiner Haut unentrinnbare Macht der Erinnerung über sie gewonnen.

Nach zwei Monaten schrieb der alte Lederer, ein Dr. Kosches als Vertreter Ralph Hersons habe angefragt, ob und wann Verhandlungen über das Kind stattfänden. Also noch einmal in Tratsch und Schmutz dieser Stadt zurück. Immer noch besser als in andrer einem fremden Anwalt die Situation, in die sie gezerrt worden, erzählen müssen.

„Was wollen Sie?“ frug der Alte.

Sibyl saß mit Blut übergossen da.

„Haben Sie nicht sogar Vermögen bei der Sache zugesetzt?“ Er schüttelte den Kopf. „Vor allem heißt es schauen, das irgendwie herauszukriegen.“

Sie beschwor ihn, nichts davon zu erwähnen. Welch ein Niveau!

„Mag er es behalten! Auch nichts von seinem Geld oder seiner Person will ich, das er mir nicht aus freien Stücken bietet, aber ich verlange Eines als mein Recht: die meiner Kaste gebührende Form. Man kann jemanden auffordern, gemeinsam eine Reise dritter Klasse zu machen. Gut — dann weiß er es im voraus, kann mitfahren oder wegbleiben. Nicht aber geht es, jemanden in den Salonwagen zu laden, um ihn dann, ist der Zug in voller Fahrt, nachträglich in den Viehwagen zu stoßen. Ich verlange eine Scheinehe mit sofortiger Scheidung. Ist das Soziale erst in Ordnung, kann alles Menschliche wieder anheben oder zu Ende sein. Nach der Scheidung stehen wir aufs neue frei, ‚herrlich wie am ersten Tag‘ einander gegenüber.“

„Nebbich,“ sagte der Alte und begann eine Art Schlangentanz um seine Klientin zu vollführen.

Ich sag’ Ihnen: Heirat um jeden Preis, welche Bedingungen die Gegenseite immer stellen mag, sonst verlieren Sie Ihre kleine Tochter — völlig, wegen der Klausel vom ‚makellosen Wandel‘. Kommt die Geschichte mit dem unehelichen Kinde heraus, hat ihr früherer Gatte das Gesetz für sich — ich höre, er wartet nur darauf. Also Achtung.“

Sie verließ ihr Hotelzimmer kaum mehr, ging erst in der Dunkelheit, Luft zu schöpfen, so sehr war ihr die neue Schmach ins Mark gefahren. Nur jetzt niemandem begegnen, mit niemandem sprechen müssen. Eines Tages schrillte das Telephon: Dr. Lederer erwarte beide Parteien in der Kanzlei um vier.

Nein, nein, erst morgen, noch eine Gnadenfrist! Jetzt war es Mittag. Schon um vier! Sie stand wie eine Gerichtete. Weinen wallte auf. Mit einem Schwung des Körpers warf sie sich flach auf den Rücken, daß ja nicht Tränen in die Augen stiegen, das Weiße trübend. Lag dann still und wartete. Kannte die geheimnisvolle Transfiguration durch die erregenden Ströme der Erwartung, wußte, wie sich Haut, Aug’, Duft, Haar wandelten, sich bereiteten; die letzten Stunden vor jeder Begegnung etwas Blumenhaftes, Durchscheinendes bekamen, das für ihn sich erschuf und mit ihm ging.

Aber was anziehen? Jede Modelinie war scheußlich oder entzückend, je nach der freiwilligen Einstellung auf sie, und in zeitlosem Gewand erschien man nicht in Advokaturskanzleien. Dieses Wetter dazu: einmal Regen, einmal Sonne — immer Sturm. Endlich schien wirklich nichts mehr auszusetzen, und völlig erschöpft, noch schwach von der Operation, ließ sich die Überreizte in einen Stuhl sinken, aufs Bett wagte sie nicht, des Hutes wegen, und fürchtete sich so, und wollte nicht fort, in das Lauernde hinaus. Doch auch hier im Sessel, mitsamt dem Sessel, zerrte sie ja die Zeit ebenso stetig und unerbittlich dem Schicksalsaugenblick entgegen.

Wie gut, daß die Kanzlei im dritten Stock lag. Jetzt noch zwei Treppen Gnade. Eine. Jetzt noch Stufen. Anläuten. Woher kannte sie dieses grüne Eis im Rücken so genau? Von der Abbitte im Tanzinstitut Wokurka-Crombée. Schon einmal durchlitten, also. Irgendwie wurde es viel leichter dadurch. Aus Dr. Lederers Privatzimmer kamen Stimmen — die seine. Sie lehnte den Kopf an die Tür. Einen Augenblick war alles Harmonie, Klarheit, Süße. Leuchtend trat sie ein, ganz Sicherheit und Anmut. Die Herren sprangen auf, man wurde also doch noch als Dame behandelt. Sie hatte noch so gar keine Erfahrung im Deklassiertsein. In einem Augenblick hatte er ihre Erscheinung ganz überschaut; wohin er auf sie blickte, war’s, als würden köstliche Früchte gestreut. Die Luft um ihn zitterte wie über einer Flamme. Dann senkte er die Lider, die sich wölbten von gesammeltem Triumph.

Gleich zwei Advokaten hatte er sich mitgebracht. Außer dem süßflüssigen Dr. Kosches einen, der aussah, als sei er wieder aus Amerika zurückgekommen. Ein gerupfter Nackthalsgeier, Norman Bleiweiß mit Namen.

Es ergab sich, daß alles ein Mißverständnis gewesen und er, Ralph Herson, den Eindruck habe gewinnen müssen, genarrt und verlassen worden zu sein, nachdem er sich in exorbitante Ausgaben für das künftige Heim gestürzt. Als milder Psychiater sehe er zwar manche Entschuldigung, das Vertrauen aber — ja, das müsse erst wieder verdient werden. Die bedingungslose Abtretung seines Kindes sei er gern bereit als erstes Zeichen beginnender Einsicht gelten zu lassen.

Sie saß zurückgelehnt und schwieg. Jetzt schoß ihr feurige Scham durch die Haut: Dr. Lederer hatte das Wort Heirat fallen lassen. Oh, in ein Mauseloch kriechen, noch lieber in seine Arme kriechen und ihn anflehen: „Schau, ohne dich kann ich schwer leben, ohne Selbstachtung aber doch gar nicht — mach’ ein Ende; keine Verhandlungen mehr.“ Und es fiel ihr ein, daß sie noch nie im Leben, an einer Schulter gelöst, hatte ruhen dürfen — in ihm ließ sich nie ruhen, so wenig wie in Gabriel.

Da kam seine verschlagene Stimme und log:

„Ich will nicht lügen. Erst Ehe, dann Scheidung aus ‚unüberwindlicher Abneigung‘ — aber ich scheine doch — ganz im Gegenteil — eine unüberwindliche Neigung für Frau Sibyl zu haben.“

Und streichelte lange ihren Namen und ließ ihn nur ungern.

Um eines Wortspiels willen sollte sie also für ihr Leben deklassiert bleiben. Als ob er nicht um ihre verzweifelte Situation wüßte. Welcher Hohn! Und weiter:

Ihm läge es ob, die Dame vor einer Mesalliance zu bewahren, und das sei die Eheschließung mit ihm: einem Juden, offenbar in ihren Augen, da sie dieselbe doch absichtlich verhindert habe, als er ihr den Ehekontrakt zur Unterschrift gereicht.

Sie saß ganz still, gesenkten Hauptes, trank seinen Umriß ohne hinzusehen und jede Pore schrie:

„Weiß er denn nicht: man ist eine Frau, man geht fort, weil einem das Fortgehen die Seele bricht und man bleiben will, und man ist eine Säule Stolz, weil man zerbrochen sein will, man zürnt, weil man lieb sein will, man leidet Jammer, Haß, Qual, weil man noch mehr geküßt sein will; noch besser gehalten, in noch härteren, lieberen Armen. Fester. Und spüren, tief in die Nüstern einziehen das, wo man hingehört. Er aber läßt es geschehen, daß meine gerechte Empörung mich wegträgt von ihm, und braucht nur einen Schritt zu machen und alle Stacheln schließen sich, und mein Herz ist eine wilde Rose der Lust und will nichts sein, als Haut unter seiner Hand. Er aber tut, als wäre Haß Haß und glaubt mir — der Heuchler. Doch lieber sterben, als es ihm sagen und die heiligen Spielregeln der Liebe brechen. Das ist das unbestechliche Erz an mir, denn ich bin eine Frau.“

Jetzt hörte sie seine kühle Infamie ganz zu Dr. Lederer sich wenden, vertraulich, als wären die Herren unter sich:

„Ich bin, wie Sie sich denken können, schon öfter in ähnlicher Situation gewesen, nun, da pflege ich mich jedesmal von den Damen einfach auf Alimente verklagen zu lassen und der Fall ist für mich erledigt.“

Da sie aufspringen wollte zur Tür, kamen schon seine dämpfenden Arme, wie eines Dirigenten, sein flehendes Lächeln über sie, als sei diese ganze Kanzlei doch lediglich eine Liebhaberbühne, auf der die Heldin so obenhin, von Pausen und höfischen Scherzen unterbrochen, gerade eine Griseldisrolle probte. Die Geste erinnerte auch, daß sie dabei durch edle Haltung des Zuschauers Schönheitsgefühl zu befriedigen habe. Ja, er verlangte unbedingt Anmut während der Vivisektion, alles, was eben ein Kaninchen doch nicht zu bieten imstande war. „Charmion, Charmion,“ sagte sie sich, wie man ein Pferd abklopft.

Die „Verhandlungen“ zogen sich durch Wochen ohne Resultat hin. Seine Advokaten brauten einen zählebigen Brei von Mißverständnissen, in den sie immer wieder zurückgestoßen wurde vom klaren Ufer der Tatsachen. Und hätte man ernstlich verhandelt, jede menschliche Beziehung wäre ja dann zu Ende gewesen, so mußte es schon deshalb vages Gerede bleiben: Schmollerei zwischen Verliebten, die ihre Stelldicheine aus fragwürdiger Laune in Advokaturskanzleien verlegt hatten. Für Sibyl ein kostspieliger Treffpunkt, diese stundenlangen Sitzungen, bei denen sie selbst nur ab und zu erschien, nicht für Ralph Herson, denn es ergab sich, daß er den beiden Anwälten ein jährliches Pauschale zur Ordnung all seiner Angelegenheiten seit langem ausgesetzt. Norman Bleiweiß war für Bilanz und Steuersachen, der süßflüssige Dr. Kosches fürs Private.

Und nie ließ er sie zur Überlegenheit der Verzweiflung kommen, trieb sie immer wieder in schwächende Hoffnung, und auch so sehr war dies in ihr, dies zu höchst Menschliche: dies Über-Allem-Stehen, daß sie auf Augenblicke sogar hinüberlächeln konnte, zu seinem genießenden Skalpell.

Endlich eines Tages sah Sibyl die Erlösung knapp vor sich und schlich ihr nach. Da war ein entfernter Vetter Ralph Hersons, Winkeladvokat und völlig deklassiert. Hatte eine ähnliche Art um Augen und Lippen, wenn ihm was gefiel, nur wie mit ranzigem Schmalz übergossen. Der sollte die Marter der Verzauberung brechen helfen. Sibyl, in einem alten Regenmantel versteckt, kroch um Straßenecken hinterdrein zur schmierigen Spelunke, wo er verkehrte. Sah stundenlang in leidender Schadenfreude zu, wie das entgötterte Abbild des andern, gütig und gerissen die Kellnerin unter einspeichelnden Worten in den Arm zu kneifen versuchte, bis eines Tages eine furchtbare Entdeckung kam: der schmutzige Winkeladvokat verschönte sich, blühte in den andern hinauf, statt daß jener zu ihm zerfiele. Sie schauderte: „Mein Gott, ich bin verloren.“

Zwischendurch fuhr man spazieren, als wäre nichts geschehen. Ralph kam, holte sie ab, sonniger, inbrünstiger als je, wie beglückt, wieder sprechen zu können mit ihr. So blieb alles in der Schwebe. Sie ließ es geschehen, barg lieber das Haupt im Schoß der Ungewißheit, denn wenn eine übergroße Liebe unter infernalischen Schmerzen ausgetrieben werden soll aus den Sinnen, wo allein die große Liebe wohnt, entstehen Wehenpausen: linde Inseln aus Frieden zwischen der zerreißenden Not.

Sie lebte fast ein wenig auf, wagte sich wieder hinaus und sah in diesen milden Pausen zuweilen, wie große fremde Vögel, zwei wundervolle Menschen ihre Straße ziehen: Herr und Dame von nie gesehener Art. Zufällig immer vor ihr — die Gesichter sah sie nicht, wußte sie schon aus Halshaltung, Kopf- und Ohransatz, verlangte nicht mehr, ganz erfüllt von dem Guß des Ganges allein. Nachlaufen dürfen, zwischen sie hinein, sie überflügelnd, einen Arm um jeden legen, mitziehen, in diesen Guß des Ganges geschlossen. Wie sich das fühlen müßte: als Durklang gefügt sein, in die reine Quint der beiden?

Dann schrak sie auf. Wieder ein ganz alleines Ich unter lauter fragwürdigem Draußen, wie einst als Kind.

Plötzlich brach er die Verhandlungen ab. Ein Telegramm riefe ihn nach Hause. Übergab alles seinen Vertretern. Dr. Kosches und Dr. Bleiweiß baten dringend um eine private Unterredung. Sie waren menschlichen Wohlwollens voll und bedauerten aufrichtig den — Pardon — falschen Stolz der gnädigen Frau. Alles wäre längst zu allgemeiner Zufriedenheit geordnet, hätte sie der Gegenpartei das Kind bedingungslos überlassen. Wenn sie Professor Herson doch nachreiste, mit diesem gewiß sehr erfreulichen Wesen überraschte! Er warte ja nur auf die goldene Brücke zur völligen Versöhnung.

Also gut, war nur das Schachern zu Ende, lieber den letzten Trumpf aus der Hand geben: das Kind.

Die kleine Pension am ligurischen Strand lag finster, als sie tief nachts mit Baby und Amme aus Berlin ankam. Sie hatte „Brangäne“ brieflich in ihr Kommen eingeweiht, wollte hier im Verborgenen die Überraschung vorbereiten. Nein, Zimmer seien nicht reserviert. Erst nach zwei Tagen erschien Tatjana, triefend vor Entschuldigungen, bat um Geduld: Der Hausherr sei krank zu Bett, sie würde täglich kommen, Bericht erstatten. Kam nicht. Am dritten Abend brach die Gefolterte aus, hingetrieben auf den breiten Schwingen eines schwarzen Windes nach dem alten Landhaus, wo sie ihm verfallen war. Schlich im Mondlicht über den blühenden Grund voll Öl und Wein, von ihrem Vermögen erworben, wie eine Diebin von Baum zu Baum. Waren die Hunde los? Drückte auf die geheime Feder der linken Seitentür. Stand zitternd im Park. Ein einziges gelbes Fensterauge hing voll in der fahlen Mauer. Die Hunde, wenn die Hunde sie als Einschleicherin entlarvten!

Das Haus zog wie ein Magnetberg.

Lotrecht unter dem einsamen Licht warf sie sich mit ausgebreiteten Armen gegen die Wand.

Da drinnen lag er, wer weiß wie krank. Der Mörtel blätterte ab unter dem Druck ihrer Stirn. Quer — ein Sprung im Welthirn — klaffte oben die Milchstraße durchs Dunkel. Leichter, grünlicher Nebel: Mehltau des Mondes hing auf der Luft, knochenhell schlich Kies auf krummen Wegen des Gartens. Plötzlich stand das Krankenzimmer voller Lärm, mitten im Mondschweigen. Rasend schnelles Schnattern hub an. Seine Stimme, doch ganz anders als sonst, wie aus dem Körper eines Hundskopfaffen heraus. Weibliches Lachen dazu, wie von einer gekitzelten Nonne. „Brangäne?“ Johlend irres Lachen, als kitzle das zotenfreche Affengeschnatter sie zu Tode. Unten — die Hingekreuzigte — verstand kein Wort. Galt das ihr? Machte man sich lustig über sie? Doch so infernalisch, so mit geheimer Verworfenheit vollgekichert war dieses obszöne Schnattern, daß ihr vor Grauen Glied um Glied abzufrieren begann.

Und es hörte nicht auf dort oben.

Endlich entstand an ihrem Daumenballen wieder ein Fleckchen warmes Fleisch. Dandy, die große Bulldogge, hatte es mit seinem Ledermaul ins Leben zurückgeleckt, sah mit weichen, weisen Krötenaugen hinauf, wie ein Freund, in ihr ganz zerstörtes Gesicht. Jetzt erst konnte sie flüchten.

Mitten in die fiebrige Abreise des Morgens schlenderte „Brangäne“; machte erschrockene Augen:

„Ja, was sei denn geschehen, ja, was?“

Ja, was? Jetzt, im nüchternen Tagblau, durch das der Briefträger daherkam, vor Rock und Bluse dieser robusten Vermittlerin, verkroch sich der Hundskopfaffen- und Nonnenspuk der Nacht. Also bleiben, die Überraschung vorbereiten.

In der Mitte seines Geburtstags legte Sibyl dem in der Hängematte seines Parkes Schlummernden von rückwärts das Baby auf den Schoß. Feig schreiend stob er weg, wie vor einem Browninglauf, sah dann nichts als Größe und Süße in ihrem Gesicht und fing sich wieder ein. Tat nur allzu programmäßig erfreut jetzt. Tatjana hatte sie also doch verraten, alles war abgekartet, man sah es an Blick und Gegenblick der beiden.

Sofort entkleidete er das Kind, nahm den Zollstab, das Hörrohr. Maß den Schädel, prüfte die Genitalien, die Pupillen, das Herz. Das Kleine sah aus vielen Wimpern groß und dunkelblau zu ihm auf, kupferhäutig wie ein Indianerprinz unter goldenem Flaum.

„Es ist fehlerlos. Hat deine unvergleichliche Anmut ins Männliche übertragen. Welch richtiger Instinkt, dich zur Aufzucht zu verwenden.“

Er nickte, offenbar gewillt, die lebende Ware franko mit Zustellung zu übernehmen. Behielt sie gleich im Haus. Sibyl zog ins Hotel. Vom Neubau stand sonderbarerweise noch immer kein Stein, in der alten Landvilla aber mußte erst Platz geschaffen werden. Auch kam die Zeit des Jahres, da ihr Charmion gehörte; da war kein Tag zu verlieren, mochte geschehen, was wollte. Man hatte sich geeinigt, nach ihrer Rückkehr die Eheformalitäten zu erfüllen, bis dahin sollte das Baby bei ihm im Verborgenen bleiben — diskret. Er tat peinlich erstaunt über diese Scheu, als kennte er die sozialen und rechtlichen Folgen für sie nicht. —

„Was kümmert das einen freien, modernen Menschen.“

Und er hob die Schultern. Preßte sie in diesen Tagen aus bis in die Sinnenspitzen. Seine wissenden Hände, seine raffinierten Gluten überströmten sie, seine Blicke aus bösem Samt liefen brennend ihren zarten Schenkeln nach, doch hinter seiner Stirn blieb er für sich. Ward sie unter seinen Liebkosungen zu schön, glatt wie das Licht, duftend nach Birken und Erdbeeren in dem langen Glück ihrer Haare, zog er sich hart, feig, lauernd zurück — nie erster Regung folgend.

Sein Mund war voller Küsse, die er dann boshaft wieder zerbiß. Aus Angst vor der eigenen Hingabe klügelte er unmöglichen Anspruch aus, in der Hoffnung, enttäuscht zu werden. So jagten sie hutlos durch Salzgischt und Mittagsglast, aber wehe, hatte die Linie des Lichts dann Grenzen gebrannt auf Milch und Silber des abendlichen Ausschnitts. Im Gesellschaftskleid — er liebte Förmlich-Festliches am Abend, — führte er sie nach dem Diner noch in die Dunkelheit hinaus, Wege voll Gestrüpp, durch Dornenhecken und boshaft dann ins Lampenlicht zurück. Ein Fleck, ein Riß, und triumphierend angewidert sah er diskret zur Seite.

Kam sie korrekt in Juchtenstiefeln die steinigen Wege daher, vermißte er das offene Spiel der feinen Fesseln, kam sie in Schuhen, wars nicht Stil.

Bei einem alten, schwerhörigen Bauer blieb er stundenlang, ließ alle Rede mit dem beinahe Tauben ihr, damit die weiche, gepflegte Vogelstimme, zum Schreien gezwungen, hier ihren Reiz verlöre.

Sie trug es, wie man mit dem Gefährten auch schlechte Zeiten trägt. Die Zeit der Wahl lag lang schon hinter ihr.

Nie ging er mit bis zum Hotel; kam es in Sehweite, nahm er Abschied. Endlich in ihr Staunen hinein, gereizt, daß sie ihn nicht von selbst begriff:

„Der Portier sieht mich bereits ein wenig sonderbar an — deinetwegen. Unter diesen Philistern muß man vorsichtig sein.“

Sie lachte ein wenig traurig:

„Und wie war das mit den freien, modernen Menschen?“

„Oh, du bist frei.“ Sie dachte: ja, vogelfrei. „Ich aber, als Grundbesitzer hier, bin von der öffentlichen Meinung in hohem Grade abhängig, brauche auch den Sindaco für allerhand Konzessionen.“

Wie praktisch, als Sturmbock gegen Weltdummheit und Bosheit benutzte er allein die Frau, ließ sich den Preis für seine Ideale von ihr bezahlen.

 

Zwei blaugoldene Wochen verspielte sie mit Charmion am Gardasee, gab dem Kinde ein pausenloses Fest. Ganz für sich blieben die beiden, begafft nur von morgens bis nachts, in dem einzigen Hotel des Orts von Kaum- und Halbbekannten, denn die Welt ist unerträglich eng.

Da kam eines Tages aus Genua ein Dokument zur Unterschrift, darin Ralph Herson die Vormundschaft und sonstigen Rechte an dem Kind übertragen wurden.

Sie staunte. In wenig Wochen der legitime Vater, was brauchte er noch dies?

Legte es nachsinnend beiseite, wiewohl die Unterschrift als dringend für ein nahes Datum gefordert war.

Einige Tage darauf, zur Teestunde, machte der Postbote wie immer seinen Gang von Tisch zu Tisch auf der Terrasse und reichte ihr ein Telegramm. Sibyl sah vom „Dschungl-book“ auf, das Charmion immer wieder hören wollte, prüfte den Inhalt des kurzen Klebestreifens — man starrte wie immer zu ihrem Tisch herüber — steckte ihn ruhig ein, las laut dem Kinde das Kapitel zu Ende, schickte es auf den Spielplatz, lachte ihm nach, ging schwingend über die Terrasse ins Hotel, in ihr Zimmer, fiel in einem Herzkrampf aufs Bett. Die Depesche lief:

„Amme und Kind nach Gardasee unterwegs.“

Weder Strecke noch Zug bestimmt, so daß sie hätte entgegenfahren, die Ankunft verhindern können. Und Charmion hier, von der sie bisher mit übermenschlicher Kraft diesen ganzen Schmutz weggehalten! Ihr seinen Bastard mit Amme heimtückisch herschicken, welch namenlose Niedertracht.

Ein nasses Tuch auf dem Herzen, kroch sie zur Klingel. Sofort das Motorboot. Warf alles in die Koffer, floh zwanzig Minuten später mit Charmion über den See, ohne eine Adresse zurückzulassen, dann mit einem Zug in die Schweiz hinauf, und weiter bis an den Kanal. Mochte da hinten im Hotel geschehen, was wollte.

Seit diesem Tag spürte sie ihr Herz.

Der lädierte Köter fiel ihr ein, der seine tückisch-streichelnde Hand geleckt, nicht wissend, wann er wieder „dran käme“.

Dann lanzenhart im Schwung des Hasses:

„Nein.“

Der alte Lederer hockte, wie immer, im Bureau, setzte seinen zweiten Zwicker auf, um besser reden zu können.

Ralph Herson war auf einen Tag nur erschienen, hatte erklärt: er, als gütige und vornehme Natur, sei tief erschrocken über solche Gewissenlosigkeit einer Mutter, ihren Säugling in unverantwortlicher Weise an fremdem Ort einfach im Stich zu lassen. Das stoße natürlich alle Vereinbarungen um. Gehe er, aus Ritterlichkeit, vielleicht doch noch auf eine Scheinehe mit Scheidung ein, verlange er als Sicherstellung, als Kaution gleichsam, zweimalhunderttausend Franken. Danach aber werde Frau Sibyl, die sich leichtsinnigerweise bei ihrer Trennung von Gabriel Gruner einer allzu großen Summe entäußert, wohl kaum mehr in der Lage sein, ein Heim zu erwerben und einzurichten. Unsicheren Verhältnissen könne er aber, als gewissenhafter Vater, ein Kind, das er so lange ersehnt, nicht preisgeben. Daher müsse es ganz und gar ihm verbleiben.

Warum er denn annehme, eine Frau werde plötzlich ihre Stellung materiell ausbeuten, die sich doch bisher stets selbstlos gegen ihn gezeigt, ja, bedeutende Geldopfer auf sich genommen?

O gerade deshalb, das gebe ihr dann eben einen Schein von Recht und überdies: Frau Sibyl pflege, wie er sich persönlich oft zu überzeugen Gelegenheit gehabt, enorme Summen unbedenklich für erlesen kostbare Gewänder auszugeben. „Die Kosten der Verschwendungssucht solch verwöhnter Dame zu riskieren, scheue er sich und baue deshalb vor durch die Kaution.“

Dr. Lederer sah zu seiner Klientin auf, sie lachte so irr:

„Besitzen Sie noch so viel Geld wie er verlangt?“

„Nein, ich bin ruiniert.“

So hatte er sie geschickt und planmäßig an eine Stelle im Schicksal gebracht, wo jeder Versuch einer Tat zu Skandal, Ruin oder — Verbrechen leitet, zu einem: sich überall an blinden Mauern die Stirn zerschmettern, die Knöchel blutig und schmutzig schlagen, wo das ganze Leben grau und rot wird vor Schmach bei jeder Bewegung, der Schlamm-Geysir nur gebannt bleibt durch regloses Stillhalten, Atemanhalten und Sichausplündern lassen; denn eine Dame kann nicht durch Gerichtssaal und Zeitungen zerren lassen, was ihr geschlechtlich geschehen. Sie ist das Wehrloseste der Welt, noch der Feigste darf sich beruhigt an ihr vergreifen; bezahlen muß sie ihn noch, damit er die ihr angetanen Infamien nicht bekannt mache.

So brauchte ein Ralph Herson nur die flottierende Niedertracht in Sitte, Meinung und Brauch für sich arbeiten zu lassen, und jeder Cerebralsadismus, jede Profitgier ward automatisch und ohne Risiko befriedigt, wenn nur frech genug, schamlos genug zu Ende geführt.

Doch wie, wenn er sich diesmal irrte? Wenn sie ihm einen Schadenersatz-Prozeß machte? Allen Ekel vor Maul und Ohr der Öffentlichkeit überwand, um ihn an der einzigen Stelle tödlich zu treffen, wo er verwundbar: mitten in die Brieftasche hinein.

Der alte Lederer schüttelte den Kopf.

„Haben Sie Beweise? Liebesbriefe — wenn schon. Lauter Ekstase, kein positiver Inhalt, und der Schuldschein ist zwar unvorteilhaft, aber unanfechtbar, er behält Ihr Geld. Also: Prozeß zweifelhaft, Schadenersatz sicher gleich Null. Sie bleiben ruiniert und er — kaum geschädigt. Ja, in England, dort wäre es freilich anders, dort hätte er es sich auch wohlweislich überlegt. Da ruiniert ein ‚breach of promise case‘ den Mann.“

Dies also war der echte Grund seiner Übersiedlung aus Cambridge, daher die Flucht vor britischem Recht.

„So ist juristisch nichts zu machen?“

„Nichts, was einer Sühne gleich käme, denn wann hätte ein Gauner nicht das Gesetz für sich.“

Sie ging. Lahm vor Ekel. Auf der Straße, in einer Gruppe Leute, hob eine Frau das Lorgnon, frug:

„Was, die kennen Sie nicht?“ rief einer aus dem Kreis: „Ich werde Ihnen gleich ihre Geschichte erzählen,“ und Tratschgeifer troff ihm schon aus dem Mund.

Fern und leicht, das Gesicht hoch wie ein Windenkelch, schritt sie knapp an der Gruppe vorbei, und in den längst ausgefressenen Bahnen der Empörung jagte ein Verzweiflungskrampf den andern durch ihr Hirn.

Jetzt schlug ein Haßstrahl leuchtend seine Kraft hindurch: die Zwillingskraft der Liebe, doch mächtiger als sie, weil frei vom Wahn des Glücks. In diesem Haßstrahl erhellt, sah die Zerstörte, zum ersten Male, Leiser Herschsohns Nachfolger als neuen Typus — unzähliger Variationen fähig:

Den Lebenswucherer.

Nicht mehr mit schmierigem Seinesgleichen nur um Geld — o nein, — als physisch Hinaufgepflegter auch noch mit seinen Generationszellen wuchernd, die Kalorien seiner Händedrücke berechnend: Geist, Schönheit, Kultur, Liebe: alles bereits ein Fremdwort für Wucher!

Seine Güte: daß er den Schaden, den er zufügt, leicht vergißt.

Seine Treue: wenn ihm in der Zwischenzeit begangener Verrat weniger Vergnügen macht, als er glaubt beanspruchen zu können.

Seine Großmut: besten Falles eine unterlassene Infamie.

Ohne innere Not allen fremden Werten durch Gentleman-Mimikri falsch verbunden, hatte er in Büchern gelesen von Noblesse, von Vornehmheit, schaffte sich die Worte an, fing sich mit ihnen fremde Taten ein, die ihm den Preis der neuerworbenen Ideale dann bezahlen mußten, denn keine Bindung galt für ihn, der stets auch anders konnte als Entraßter; sich beim „soll“ in den weltfremden Gelehrten wandeln, beim „haben“ behende in den Wucherer zurück.

Hatte sich nebst seinen Bronzen, Bildern, Büchern auch eine uneheliche Kindersammlung angelegt, als millionenfache Verzinsung einer einzigen investierten Zelle. Spesen: ein paar gut angewärmte Briefe, die ihn zu nichts verpflichteten, weil er durch seine Advokaten längst belehrt worden, wie ein Betrug, der im Geschäftsverkehr zwei Jahre Zuchthaus kostet, in Form von — Liebe, straflos bleibt.

Ein Zu-früh-Freigelassener auch, mit allen seinen Merkmalen, als da sind: Gier, Geiz, Mißtrauen und — Grausamkeit, wo sie ohne eigenes Risiko zu befriedigen: am sichersten somit an der graviden Dame, hat man sie vorsichtshalber erst durch Scheidung, Schmach und Schmutz getrennt von ihrem schützenden Milieu. Erfreulicher für den Ästheten jedenfalls, als der Geschäftsverkehr mit seinesgleichen, für den Gelehrten so spannend wie der Tierversuch, und lukrativer obendrein, da man vom Adler, dem gefesselten, ehe ihm die Augen ausgeschnitten werden, kein Geld entlehnen kann.

Nun glaubte er sich frei von ihr, nachdem er ja in diesem Jahr den ganzen Tierkreis seiner Perfidien durchlaufen. Somit bereit:

„Zu neuen Taten teurer Helde.“

Doch siehe: auf dem Kursblatt seiner Emotionen notierte sie noch immer „pari“ wie es schien, und die Verfolgte spürte seinen namenlosen Haß, ja, sein Entsetzen, lieben zu müssen, wo nichts mehr herauszuschinden blieb, denn: Mittel war ihm jede Kreatur.

Was aber gab ihm solche Macht?

Die purpurne Wärme Asiens: sein Erbe. Unter erotischen Schwerblütlern, mit niederem Wissen um den Körper, in einem Ozean lauer Geilheit, schoß dieser Menschenhai umher nach Beute, und alles Liebesreiche, Blühende fiel ihm voll Inbrunst zu.

In Schönheit glühen: auf dieser Sehnsucht aller Kreatur kam er dahergeschlichen, hinter den strahlenden Gaben seines Maules.

Der absolute Egoist.

Unschädlich machen! Mitsamt seiner Zutreiberin, mit der ganzen Brut — alles unschädlich machen — sofort.

Doch erst quitt sein, nichts ihm schulden. Und für jede Mahlzeit, je in seinem Haus genommen, für jeden Tag in seinem Haus verbracht, und für die erste Liebesnacht insonderheit, schickte sie die angemessene Summe an das Bankhaus Herschsohn. Raffte dann in irrer Trunkenheit ihr letztes Geld zusammen, — es reichte eben für die Reise, — und fuhr zu ihm.

Als Chauffeur verkleidet, zwei Revolver in den Ledertaschen, klingelte sie am Tor des alten Landhauses.

Eine fremde Person kam herausgeschlurft:

Alles verreist.

Der Herr und Mylady, auch das neue Kind seien fort. Nach Madeira, vielleicht auch Tunis, jedenfalls auf lange.

In ihren muffigen Gasthof zurückgekehrt, warf sie das Fenster auf. Es verspreizte sich, Anstrich blätterte ab. Vor ihr stieg, reich und frei, das herrliche Land, sein Eigentum, so weit man sah.

Da riß der allzu überspannte Wille jäh und traf das Herz. Also entflohen, unerreichbar weit; denn wie das Gesetz den Gauner schützt, so diesen wieder sein Raub, der ihm Freizügigkeit des Reichtums gibt — dem Opfer nimmt.

Sie kroch in die entwürdigende Verlassenheit des Fremdenbettes.

Lag so eine ewige Nacht.

Diese Nacht trat langsam, wie ein drehender Absatz, etwas in ihr aus, ohne das kein Mensch weder leben will noch kann. Etwas, das niedergeknüppelt doch — wie oft — verharrt. Nicht größer zuweilen, als im Riesendom ein gasblauer Stecknadelkopf, doch gespeist mit heimlichem Herzhauch, der von Gott kommt oder ganz aus seiner Nähe: Hoffnung.

Eben noch, in steigernder Gewalttat, waren Vernichtung und Hoffnung einander nicht feind gewesen. Auf unbegreifliche Art hätte aus dem blauen Stecknadelkopf heraus gerade dann aller Äther noch einmal aufflammen können zu Glorie, weil in dem Blick des Sterbenden vielleicht etwas erschienen wäre, um darzutun: Auch dies sei nur ein armer, irrender Mensch.

Diesem Ende hatte sie heimlich zugehofft. Nun war der blaue Nadelkopf erloschen.

Und es ward grau. Oder war das öde Blei auf den Augen schon wieder Tag? So einer, der sich nicht aufknien kann aus dem Fahlen. An der übel grünlichen Kälte bis in die Herzkammern hinein erkannte sie: jetzt müsse der tiefste Stand des Blutes sein. Jene heillose halbe Stunde, ganz grün von verwester Nacht, wo die zähen Greise es aufgeben und sich strecken. Im Stuhl die müde Schwester nickt dazu.

Mühsam, widerwillig hob sie die zerquälten Lider. Herein schnitt das grenzenlos gemeine Hotelloch. Im Fensterviereck stand als grauer Pflasterstein die Luft.

Sibyl hielt den Atem an. Ließ das Verfaulte aus der Nacht in allen Adern sich zu Klumpen der Zersetzung stocken.

Wartete.

Da kam, erst schwach, weit herauf eine Straße ohne Anfang, Holpern eines Karrens, und auf ihm festgebunden ein Geheul.

Kein Schritt, kein Huf von etwas, das den Karren zog. Es fehlte wohl ein Rad. Der Karren hinkte.

Immer näher kam das liegende Geheul. Ein gemartertes Tier? Ein Kind? Eine Frau? Kein Erkennungszeichen mehr: die Qual hatte jede Form zerbrochen. Was vielleicht einst Merkmal gewesen: Klage, Empörung, Angst, war längst matt herabgeglitten auf die Straße ohne Anfang.

Jetzt war es da. Gerade unter dem Fenster. Da schwoll das Geheul zu einem Laut von so hemmungsloser Erniedrigung, daß das Graue aus der Luft an ihm gerann.

Ein gemartertes Tier? Ein Kind? Eine Frau?

Oder Schauer gereizter Ermattung, die sich aus Klang ein Gleichnis schufen? Sie würde es nie erfahren. Lag festgefroren an das Bett — die Brust bis oben voll bleicher Herzen im Kampf.

Langsam knirschte der Karren seinen schauerlichen Bogen vom Zenith des Fensters hinunter, wieder eine Straße ohne Ende, über der langhin das verblassende Geheul stand. — Fern und immer noch.

Sie erhob sich, um zu sterben. Tastete, in allen Knöcheln zerbrochen, nach der Waffe. Etwas klirrte. Das Graue schwand.

Endlich ganz schwarz.

 

Aus der tiefen Nacht, auf der andern Seite der Zeit, trieb es sie langsam wieder zurück.

Der Tod schmolz ab, doch sie grub sich mit allen Fingern in ihn ein, wollte nicht mehr weg aus dem linden Schwarz.

„Genug“ war ihr erstes Wort. Dann brachen, angesogen von einer tiefen Wonne um sie her, die Lider auf. Über ihrem Gesicht schwebten zwei wagrechte Augen aus unbegreiflich sanftem Samt, deren Wimpern flügelhaft bis in die Schläfen schnitten.

„Wie gut“ und die Zurückgeholte ließ sich von nun an leben, ohne Widerstand.

Zwei Augenpaare waren es, die abwechselnd über ihr kreisten: wie große, fremde Vögel und bebrüteten ihr Herz.

War es der Ort, wo man die unerfüllten Wünsche lebte? In scheuer und tiefer Vertraulichkeit legte sie eines Tages um jeden einen Arm: als Durklang gefügt in die reine Quint der beiden. Wußte ihre Namen nicht, nichts — frug nicht einmal, wie es gekommen, wie ihre Spur verfolgt, wie sie gefunden worden war. Lag hier selig und vollendet eingefügt als kühne Liebesstufe zwischen ihnen: frauenweicher als der Freund — jünglingherber als die Freundin, dies köstlich fremde Damenwesen, am ganzen Körper so vollkommen, wie es der Ringfinger ganz junger Mädchen zuweilen ist.

So einfach, so natürlich schien alles, als hätte sie es immer schon gewußt, daß sie dazugehöre, seit jenem ersten Mal, da, einer ungeheuren Erweiterung der eignen Seele gleich, zwei wundervolle Menschenangesichter durch ihre einzige Sekunde Glück gezogen kamen, als sie den fremden Mann im Schoß gehabt, bis zu der Stunde, die wie Gold, weil der warme Schatten des brüderlichen Gentleman den ihren fand und ehrte. Die Haltung seines Schattens hatte alles offenbart.

Dazwischen aber war ein fremder Mann in ihrem Schoß gewesen: Der Lebenswucherer — der absolute Egoist.

Empörung überbebte in Stürzen der Erinnerung ihr aufgescheuchtes Blut.

„Mein Elf von einem großen Stern“ — Gargis entsetzte Zärtlichkeit umschlang das vor Haß grau gewordene Gesicht.

„Gazellenfee, wie könntest du begreifen, was Unbeschütztsein heißt.“

Dann löste sich der Krampf der Einsamkeit zum ersten Mal, und Sibyl sprach — deutete an, nur herb, schamdurchblutet, was ihr geschehen.

Eines Tages breitete Horus sehr zart, sehr ernst ein Manuskript über ihren Schoß: jenes, das Erasmus dem Knaben in der Bibliothek gegeben, am Tag des Traumes und der Schillerfalterjagd, als sein Leben einschwang für immer in die beiden Bahnen: Ellipse und Parabel der Kegelschnitte Gottes.

Vor ihrem Lager hingekniet, legte er sie ganz in die Stärke seiner Hände, sprach: „Alles ist darin: West und Ost — Ihr und Wir.“

Und sie las, wie einstmals er:

Der Kreis symbolisiert mir die Eigenliebe: den Egoismus.

Die Ellipse das Ideal der Liebesfreundschaft.

Die Parabel das der Liebe gegen das Unendliche, Göttliche.

Die Hyperbel das Ideal des bittersten Hasses.

Der Brennpunkt in jeder der angeführten Linien stelle eine Seele vor; die Strahlen, die von da nach dem Umkreis gehen, die Bestrebungen dieser Seele, wiefern sie nach außen (durch Handlungen) wirksam sind, und die Richtung der zurückgebrochenen Strahlen den Zweck, zu welchem die Bestrebungen auf das Äußere gingen. — Ich kann z. B. nach außen handeln, teils um meinetwillen, teils um eines andern willen. Wenn die Strahlen also, die von dem Brennpunkt ausgehen, die aktiven Bestrebungen der Seele vorstellen, so müssen umgekehrt — wenn wir das Symbol treu verfolgen wollen — die Strahlen, die von der Peripherie in den Brennpunkt fallen, die Gefühle und Empfindungen vorstellen, welche die Seele passiv von außen in sich aufnimmt. Wird daher ein Strahl, der von einem Brennpunkt an die Peripherie fiel, in einen andern Brennpunkt zurückgebrochen, so sind des letzteren Gefühle — nach dem Symbol — durch Bestrebungen oder Handlungen des ersten Brennpunktes veranlaßt worden.

Der absolute Egoist handelt nur um seinetwillen. Er läßt nur Strahlen gegen die Peripherie ausgehen, damit angemessene Gefühle in seine Seele durch die Rückwirkung kommen; er ist ganz in sich abgeschlossen. Was er auch tun mag, davon hat nichts auf eine Seele außer ihm Bezug. Der Strahl, der aus dem Mittelpunkt des Kreises kommt, wird ewig wieder in ihn zurückgebrochen.

Die Ellipse läßt sich als ein Kreis mit in zwei Brennpunkten auseinandergetretenen Mittelpunkten betrachten.

Eine Seele hat sich in zwei gespalten, und beide existieren nur mit- und durcheinander; jeder ist die Seele eines Freundes; jede wirkt nur, um in der andern angemessene Gefühle und Empfindungen zu erregen, denn welcher Strahl auch von dem einen Brennpunkt an die äußere Peripherie fällt, der nimmt seine Richtung nach dem andern Brennpunkt zu. Was der eine nur denkt und hat, das gießt er in des andern Seele aus. Um die Außenwelt bekümmern sich beide nur, insofern sie mittels ihrer in bezug aufeinander wirken können; beider Gefühle ergänzen einander stets: alle gebrochenen Ellipsenradien sind gleich der großen Achse, die beide Brennpunkt-Seelen zunächst verbindet. Sie können jede einzeln nichts denken, nichts fühlen, was nicht mit des andern Gefühlen und Bestrebungen zusammenstimmte, daß es dieses Band darstellte: das Ideal der Liebesfreundschaft hat viel schönere Symbole — wohl kaum ein wahreres.

Nehmt die Hyperbel: beide Liebende sind durch einen ungeheuren Haß gespalten worden! Der eine hat sich von dem andern abgekehrt, jeder reißt seinen Brennpunkt heraus, hält ihn für sich fest und mag mit dem andern nichts zu schaffen haben. Sie fliehen sich in Ewigkeit — nein, sie sind noch aneinander gebunden, aber durch die Bande des feindseligsten Hasses. Ihre Gesinnungen beben divergierend voreinander zurück bis ins Unendliche, aber doch bleiben sie hadernd einander gegenüberstehen, und daß jedes Gedanken nur von des andern Seele zurückfahren, sieht man daraus, daß die Divergenz der Strahlen ihr Zentrum in dem gegenüberliegenden Brennpunkt findet. — Was in der Ellipse das Band war: die große Achse ist in der Hyperbel in den Gegensatz übergegangen und alle Strahlen, die von einem Brennpunkt in den andern fallen könnten, sind sich nur in der Differenz gleich.

Die Parabel ist ein erhabenes Symbol der Liebe zu einem Ideal, zum Übersinnlichen, zu jedem Großen und Schönen, was nur in der Unendlichkeit erreichbar, der Seele vorschwebt: alle Strahlen, die der Brennpunkt der Parabel aussendet, laufen in gleichförmiger Richtung nach dem andern Brennpunkt, der in der Unendlichkeit liegt; alle Bestrebungen und Gedanken sind nur dahin gerichtet. Umgekehrt kann kein Strahl in die Seele fallen, der nicht vom Unendlichen ausgegangen wäre. Alle Gefühle beziehen sich auf dieses.

Sie ließ den Kopf an seiner Schulter ruhen, dann mit verdunkeltem Gesicht:

„Der Kreis und die Hyperbel; so bin ich immer noch durch einen achsengraden Strahl von Haß mit ihm verbunden.“

„Haßt du ihn noch?“

„Bis zum Tod, ich — ihn, er — mich.“

„Du warst wie tot, dies ist eine neue Wiederverkörperung, und alle Bindung gelöst. Du ziehst in unsere Bahnen hinüber als meine Frau, und mit meinem Haupt zwischen den Füßen frage ich:

„Willst du das sein?“

Zweifelnd sah sie auf Gargi:

„Bist du ein Europäer?“

Er hob die Schulter nur:

„Nein, ich bin Asiate, gehorche den Sitten Asiens, in wenig Wochen zergeht der ganze Irrenkerker hier, ganz klein und schmutzig, an unserem Horizont für immer. Und jedes Jahr nur kreuzt meine Jacht herüber und bringt dir Charmion mit.“

Sie atmete auf, zu glücklich — müd, um viel zu fragen.

Sobald der Lungenschuß verheilt war, fuhr Horus mit Sibyl nach England, ließ sich dort so rasch wie möglich trauen, dann kehrten sie auf den Kontinent zurück.

In Hamburg lag schon die milchweiße Jacht unter Dampf bereit.

Sie eilten über den Kai, Horus und Gargi, am Ende ihres weißen Traums.

Zwischen sich, eingeschlossen in ihres Ganges morgenländischen Guß, entführten sie den „Elf von einem großen Stern“ in seine neue Heimat.

Ringsum barsten Beete von Sirenen, vomierten üble Trichter von Geheul in eine widerwillige Luft, gleich einem Unding, das sich selbst bejammert. Schneller schritten sie dahin, fast laufend schon, und wie Horus, im Andrang seines Herzens bei der Ankunft von Bord gesprungen war, so breitete er jetzt, den Landungssteg schon unter sich, die Arme weit der süßen Freiheit Asiens zu — und — fühlte sich gepackt an diesen liebesoffenen Armen, zurückgehalten, wie das erstemal.

Zwei Polizisten standen da. Blech vor dem Hirn. Und an dem einzigen Streifen freier Haut, dort wo der harte Kragen rieb, hatte der eine ein aufbrechendes, der andere ein abheilendes Furunkel im Nacken.

„Halt.“

Ein Dritter in Zivil trat vor, wies seine Karte:

„Sie sind verhaftet wegen Bigamie. Die Frauensperson da auch.“

Er streckte die Hand nach Sibyl. Sie riß ihre Waffe heraus, von der sie sich nicht mehr getrennt, traf diesmal gleich das Herz. Glitt still in sich zusammen.

Horus, herumgeworfen, brüllte auf, daß die Sirenen schwiegen, bäumte sich los; rechts und links traf sein erbarmungsloser Schlag. Dann nahm er die unvergleichliche geliebte Form aus Gargis Arm und fühlte sie an seiner Schulter sterben.

Die armen Sternsaphire wurden blind. Ein langer Strähn bananenfarbenen Haars durchschnitt, gleich einem bleichen Säbelhieb, das ganz verirrte Gesicht; bei aller Kühne wie eines übermüdeten, zu Tod gehetzten Kindes.

 

Die Kaution war, dringender Fluchtgefahr wegen, vom Gericht abgelehnt worden. Er blieb in Haft, wehrte sich verzweifelt, pochend auf sein Indertum, begriff nicht.

„Sie mußten doch wissen, daß Monogamie in Europa herrscht,“ mahnte sein Verteidiger und schüttelte den Kopf.

Da lachte er zum erstenmal seit Sibyls Tod.

„Ein Jahr bin ich jetzt hier und hab’ sie nie gesehen. Wußte bisher nur, daß bei den Weddas, dem beinah ausgestorbenen Affenurvolk Ceylons, das nicht bis fünf zu zählen vermag, etwas wie Monogamie, Gesetz und Zwang besteht. Wie hätte ich bei der berühmten weißen Rasse darauf verfallen sollen? Nun erst verstehe ich den Größenwahn, den Zynismus, die widerliche Arroganz des weißen Männchens gegen alle Frauen ganz. Die Gnade und Affaire, wen er mit seiner einen, einzigen, kostbaren Hand beglückt, umkrochen von den überzähligen Weibern. Welche Schmach der Europäerin, daß sie das duldet, ihm Macht gibt, so viele ihrer Schwestern notwendig zu erniedrigen, dies Wettwimmeln der Eierchen um das Sperma: welche Perversion der Natur!“

„Doch was geht all das mich — was geht einen gesitteten Asiaten dieser Qualstall an, in dem bösartige Irre einander dafür bezahlen, sich gegenseitig in infernalischen Netzen Hirn, Kehle, Gedärm und Geschlecht abzuschnüren? Wie bin ich in die Gefangenschaft weißer Barbaren geraten? Wirklich durch nichts, als eine einzige Tat natürlichen Anstandes allein?“

„Monogamie ist die größte ethische Errungenschaft des Christentums,“ sagte der Verteidiger gekränkt in seiner tiefsten Rasseneitelkeit, denn er war Jude.

„So habt ihr es sogar dahin gebracht, das klare Urfeuer eurer Lenden stinkend zu machen? So ordnet sich bei euch Geschlechtsverkehr nicht nach Physiologie, Medizin, Bevölkerungszahl des Augenblicks —, nein, nach irgendeinem Hokus-Pokus, viel tausend Jahre alt? So bedroht euer Staat — wie immer man es machen möge — in der Liebe den einen oder anderen Teil mit schwersten Strafen: durch Einehe, den Mann mit lebenslangem Sexualkerker, ohne Ehe, die Frau mit Ächtung, Verlust der Kaste und Ruin? So bringt Europa es richtig fertig, all seine passager entstandenen Wahnsinne noch zu verewigen, ohne daß gegenteiliger Blödsinn sich etwa aufhöbe — welch ein Wunder wider die Natur.“

Bis zur Verhandlung glaubte er es doch nicht recht, wußte es noch immer nicht, wie ihm geschah.

Dann saßen eines Tages fünf beisammen und hielten wirklich über ihn Gericht, Barette auf den Glatzen.

Dem einen ragten Knöpfelschuhe, dem anderen Schnürstiefel, dem dritten das Ende eines Sockens unter priesterlichem, unreinlich wallendem Gewand hervor. Dann stand ein sechster auf: der Staatsanwalt. Begann ein langes, trostloses Geschwätz von der Verletzung ethischen und sittlichen Gefühls, als höchsten Gütern der Kultur. An allen Wänden hingen Zettel: das freie Ausspucken ist untersagt.

Erst ganz am Ende, als sein Verteidiger sich erheben wollte, da fuhr auch er empor:

„Nein, ich; Sie schweigen.“

Sibyl zu Tod gehetzt, und da saß Gargi: seine liebe Gazelle „als Zeugin,“ von Fragen geschändet für ihn — durch ihn. Nun wuchs er klar über die Empörung und stand auf. Höflich, ruhig war seine Stimme, wie eines Wägenden und Richtenden.

„Ich bin ein Fremder und kenne nun die grauenhafte Not, in die ein Mensch auf diesem Kontinent geraten kann, wenn er ein Recht begeht.

Ich bin Asiate und daher gewohnt, wohl jeder Frau, die ich besitze und die mir teuer, Ehre, Würde und Geborgenheit zu bieten bis zum Tod.

Ahnte nicht, daß man nur gegen eine einzige hier sich gut benehmen dürfe, wohl aber gegen alle wie ein Schuft.

Doch war’s nicht dies — ich stünde doch als Angeklagter hier, denn irgend etwas Würdiges, Natürliches und Wahres, das hätte ich sicherlich einmal begangen, da ich kein Europäer bin.

Ethisches und sittliches Gefühl soll meine Tat verletzt haben?

Was weiß Europa von Gefühl? Von Sittlichkeit? Nie noch war einer Rasse Sinn und Maß des Schicklichen so sehr entfallen, besteht sie doch aus Wesen, deren Blut seit zwei Jahrtausenden verlernt, aus freien, holden, heilen und verwöhnten Sinnen sich dieses Maß selbst aufzubauen in Notwendigkeit und Harmonie.

So kam der Pöbel durch Europa in die Welt:

Pöbel: was Hemmungen nur kennt aus Zwang, nicht Wahl, was sich vor nichts und niemandem zusammennimmt, wenn es nicht muß. Es scheint — vor vielen hundert Jahren nahm sich der Europäer noch Sonntag vormittag, so zwischen zehn und elf, vor einem fremden Judengott zusammen. Adel und Bürgertum nahmen sich vor ihren Herrschern zusammen, der vornehme Mensch aber, der nimmt sich vor sich selbst zusammen: also immer.

Doch hier! Wohl nirgends noch hab’ ich solch geile, kalte, rüpelhafte Brunst gesehen, jetzt da der Zwang gefallen, wie in dem tausendjährig ungepflegten Eros von Europa. Endlich ausgebrochen aus dem fremden Pferch, gröhlt die verkommene Sinnlichkeit durch eure weiße Welt wie eine tollgewordene Mißgeburt, der jedes Edelmaß abhanden kam, denn alles will gepflegt, geehrt, geheiligt sein, damit es hold und herrlich werde. Da tragen eure trägen Weiber Kind auf Kind in ihren kalten Bäuchen aus, die Welt mit Unlustfrüchten überfüllend, weil sie noch nicht einmal gelernt, was jede Negerfrau vermag.

Und neben dem verworfenen Ungeschick der Leiber wächst das verworfene Geschick der Hirne auf, belebt der Stahl sich zur Maschine.

Was Hochgezüchteten in ihren Sinnen Erlösung geworden von aller Erdenlast: die Mechanisierung der Welt, reißt den erblindeten, instinktirren, amorphen Lebenshaufen unters Rad, statt ihn in Freiheit auf den Lenkersitz zu heben.

Diesen Erhobenen zu finden kam ich her. Ihn suchte ich: den Menschen hinter seinem Werk. Das Wesen wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig.

Doch eure Werke sind nur Sehnsuchtsprojektionen eurer Mängel:

Weil ihr armselig seid, reißt ihr den letzten Reichtum dem Planeten aus den Eingeweiden.

Weil innerlich ohne Harmonie, schuft ihr — nach außen — euch Musik.

Weil ohne Phantasie, laßt ihr in blechernen Waggons, in Ruß und Dampf, euch kalt, blasiert und frech, zu allen Märchen dieser Erde rasseln.

Euer verarmter Kreislauf pulst in hundertpferdigen Motoren.

Euer Minus setzt ihr mit umgekehrten Vorzeichen aus euch heraus, als vielgerühmte Technik, Kunst und Wissenschaft.

Was ihr erschuft: Prothesen sind es nur, darunter, vollgeeitert, schwärt ein brandiger Stumpf: ihr selbst.

Habt immer eure Münder voll Geist und Theorie, ihr ethischen Barbaren; sinnt neuer Staatsform nach. Wie wenn ein Rudel von Hyänen sich Paladine oder Republikaner, Monarchisten, Sozialisten, Kommunisten nennen mag: immer der gleiche Hyänenhaufen, der die platzende Gier seiner blauen Eingeweide mit neuen Namen nennt.

Doch weil kein Wesen völlig ohne Wahrheit existieren kann, habt ihr sie — sie unwirksam zu machen — in eure Wissenschaft gesperrt.

Dort lebt Europas letzter Wahrheitsdrang sich in zerwühlten Hirnen, bloßgelegten Nerven gefesselter Geschöpfe, stets „objektiv“ und für den Sucher schmerzlos aus.

Das eingefangene Opfer zahlt den Preis — nicht er.

So übt ihr alle Infamien frei:

Forensische Verlogenheit gestattet sie euch gegen Menschen, und gegen Tiere euer Wahrheitsdurst.

Was tun?

Demütig zu edlen Tieren — nein, erst zu den plumpsten viehischesten Tieren in die Lehre gehen; sie anschauen, erst nur die Wahrheit ihrer Form erschauen. Auf dem Weg des reinen Auges wieder Gehen — Liegen — Ruhen — Atmen — sich Bewegen lernen: Sehen und durch das SehenLeben.

Erst wenn ihr die verworfene Behendigkeit aus euren schiefgezüchteten Gehirnen ausgetrieben, für die ihr noch nicht reif, dann kommt zu fragen, ob man euch wieder aufnimmt in den Ring beseelter Wesen, nicht mehr gehaßt, verachtet, gemieden wie Pestilenz von allem, was da atmet.“

Nur auf wenige Minuten zog der Gerichtshof sich zurück. Das Urteil lautete:

Fünf Jahre Gefängnis wegen Bigamie.

Der Verurteilte verbeugte sich tief:

„In diesem Wahrspruch grüße ich den Bankerott Europas.“

Bewährungsfrist ward abgelehnt. So nahmen denn die Gatten Abschied voneinander.

Allen Glanz des Menschentums sammelte Gargi in die Onyxampel ihres schmalen Antlitzes und in den unbegreiflich sanften Samt der Augen:

„Mein süßer Herr, was habe ich für dich zu tun, so lang du fort bist?“

„Flieh, und warte auf mich zu Hause zwischen Dschungl und Sternen. Ich komme wieder. Ich werde nicht zugrunde gehen. Leben will ich und helfen mit Hirn, Herz und Händen, mit allem Geld, das ich besitze und aller Kraft, bis der Planet gereinigt ist von dieser weißen Pest.“

Da reichte sie ihm einen Brief:

„Erasmus gab ihn mir für dich von deiner Mutter.“

„Meinem Sohn in Europa, blieb er länger als ein Jahr,“ stand auf dem Umschlag. — Nur wenige Zeilen darin. Er trank die lieben Züge wie ein Elixier. Diana Elcho schrieb:

„Ein Unglück muß geschehen sein, wenn Du dies liest. Freiwillig bliebst Du nicht so lang. Haben sie mein Sonnenkind gefangen in einem bösen Netz? Verzeih, wenn ich geirrt, Dich vor Europa ungewarnt zu lassen. Dich warnen aber hieß, Dich zum Empörten machen, zum Belasteten, Getrübten. Die Einzigkeit Deiner Jugend schien mir eben dies: die Unbeschwertheit, daß Dein Bewußtsein unbesudelt blieb. So rettete ich Dir das Beste Deiner Rasse: Technik, Wissenschaft, Musik an Asiens Herz hinüber. Weil Du aus ihrem Werk an Wesen glaubtest, wie aus Schnee und Gold, kühn, arglos, wahr und anmutig, so wurdest Du dem Bildnis gleich. — Vor der Enttäuschung hielt ich Dich dann jahrelang zurück, hütete Dir Deinen weißen, so fruchtbaren Traum, wie ich gehofft, für immer. Ließ mich langsam sterben, damit Du bliebest. War alles doch umsonst? Nicht, daß ich Dir das Leid ersparen wollte! O nein, nur alle Kraft wollte ich Dir sparen für die sublime Zeit des Leids, damit Du ungebrochen, unverbittert, siegreich auf seiner fernen, großen, süßen Seite durchbrächst ans Licht.

Verzeih, wenn ich geirrt.“

Er küßte einzeln jede Zeile:

„Nein, nein, du warst im Recht.“

Stark, frei, sonniger als je ließ Horus Elcho sich wie im Triumph nach seiner Zelle bringen.

 

Er, den Sibyl im Haßstrahl als Lebenswucherer gesehen, saß am ligurischen Strand in seinem Landhaus und rechnete ab.

Lloyds hatten die Versicherungssumme wieder glatt ausbezahlt, wiewohl Selbstmord vorlag: ein überaus kulanter Betrieb. Den ungeheuren Grundbesitz hatte er an ein Hotelkonsortium sehr günstig verkauft. Es war eine seiner glücklichsten Terrainspekulationen gewesen.

Nur das von Sibyls Geld erworbene Land behielt er.

„Ich trenne mich zu schwer davon. Wieviel Erinnerungen an die Frau, der ich Jahre meines Lebens geopfert.“

„Brangäne“ wedelte zu ihm auf:

„Du hast ja so viel Pietät.“

Sie blieb, was immer geschah. War geblieben als Haushälterin, Maitresse, uneheliche Mutter, Zutreiberin, Komplize. Wartete, schlau und zäh, bis er ermüdete, und doch vielleicht noch ihre Stunde kam.

Er machte eine milde, bedauernde Bewegung mit der Hand.

„Ein Wesen, das mir so lange nahe stand: Ich mußte die Behörden verständigen, zu verhindern suchen, daß sie verschleppt werde, in einen asiatischen Harem. Daß eine Dame so weit sinken konnte?“

Dann, mit großen, braunen Augen, gerührt:

„Ich aber hab’ ihr längst verziehen.“

„Brangäne“ nickte verzückt:

„Du bist ja so gütig.“

Anmerkung: Das Zitat Seite 35-39 stammt von Theodor Fechner. Dem Vedanta Entnommenes folgt Prof. Paul Deussens Übertragung aus dem Urtext.

Sir Galahad

Im Palast des Minos
Mit 12 Tafeln und einem Plan
2. Auflage

Zeiten und Völker, Stuttgart: Keine leichte Lektüre, dafür aber gehaltvoll und von tiefgründigem Wissen zeugend ist das Buch von Sir Galahad „Im Palast des Minos“. Von den Ausgrabungen Arthur Evans zu Knossos auf Kreta und den dabei gemachten Funden ausgehend, schildert das treffliche, mit 12 Autotypietafeln und 1 Plane des Palastes zu Knossos ausgestattete Buch des kunstsinnigen, namentlich auch auf dem Gebiete der Keramik wohlerfahrenen Autors, das Reich des Königs Minos in solch anziehender und mit einer Fülle tiefer Gedanken verwobener Weise, daß wir im textlichen Teile gern noch auf das bedeutsame Werk zurückkommen werden.

Von Sir Galahad
bearbeitet und aus dem Englischen übersetzt:

Prentice Mulford

Der Unfug des Sterbens
Essays. 75. Auflage

Der Unfug des Lebens
Essays. 30. Auflage

Das Ende des Unfugs
Ausgewählte Essays. 15. Auflage

Albert Langen, Verlag in München

Druck von Hesse & Becker in Leipzig
Einbände von E. A. Enders in Leipzig

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme anderer Auflagen, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):






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Bertha Eckstein-Diener and Sir Galahad and Helen Diner

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Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
1.E.8.

1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
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things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
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electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
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displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
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distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
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country outside the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
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  This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  most other parts of the world at no cost and with almost no
  restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  United States, you'll have to check the laws of the country where you
  are located before using this ebook.

1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

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with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
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electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
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to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
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provided that

* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  within 60 days following each date on which you prepare (or are
  legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  Literary Archive Foundation."

* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  License. You must require such a user to return or destroy all
  copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  works.

* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  receipt of the work.

* You comply with all other terms of this agreement for free
  distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
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Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
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liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

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written explanation to the person you received the work from. If you
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with your written explanation. The person or entity that provided you
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or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
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LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

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violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
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providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.