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Stromaufwärts

Aus einem Frauenleben


von
Angela Langer

1913


S. Fischer, Verlag, Berlin

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1913 S. Fischer, Verlag, Berlin.

Herrn
Otto Brandes
in dankbarer Freundschaft gewidmet.

Vom Volke nahm ich's,  
Dem Volke geb' ich's ..
Angela Langer

Meine Eltern hatten einen kleinen Laden und eine ganz kleine Wohnung dabei. In dem Laden lagen viele Sachen, wie Kerzen, Seifen, Bürsten und noch anderes, das mir ungeheure Achtung einflößte. Wenn Weihnachten herannahte, erhielt mein Vater jedesmal eine gewaltige Kiste, deren Auspacken mein größtes Glück war. Oft verschob mein Vater diesen feierlichen Akt, und in meiner Ungeduld mahnte ich ihn manchesmal daran. Wenn er dann endlich eines Morgens erklärte, er würde heute die Kiste öffnen, stand ich schon lange, bevor er sich wirklich daranmachte, mit einem Hammer und einer Zange in den Händen um ihn herum und konnte meine Ungeduld kaum zügeln.

Mit größter Spannung beobachtete ich dann, wie mein Vater das Stemmeisen zwischen die Kiste und den Deckel preßte, um die Nägel zu lockern, wobei er den Deckel oft sprengte. Unter diesem lag gewöhnlich eine dichte Schicht fein geschnittener Papierschnitzel und darunter wieder waren die kleinen Kästen, die allerhand Figuren aus Zucker oder Schokolade enthielten. Beim Auspacken fand sich dann oft etwas Zerbrochenes vor, wie ein Reiter, dem der Helm abgeschlagen worden war, ein Fähnrich, der seine Fahne verloren hatte, oder eine andere Gestalt, der Arm oder Bein fehlte. Von diesen zerbrochenen Stücken gab mir mein Vater oft das eine oder das andere, aber ich bezähmte meine Sehnsucht, die Sachen sogleich zu verzehren. Ich suchte mir einen kleinen Zweig oder sonst etwas, das wohl mit sehr viel Einbildung einen Christbaum vorstellen konnte, hängte den zerbrochenen Engel oder den verunglückten Reiter daran, um dann mit vielem Bedacht ein Stück nach dem andern herunter zu essen. Mein Bruder half mir in allen diesen Dingen, besonders im Essen.

Ich erinnere mich eines Weihnachtsabends. Ich zählte ungefähr fünf Jahre, mein Bruder vier, als ich eine ganz kleine hölzerne Puppe bekam, die mich ungemein erfreute. Sie hatte kein Haar und konnte sich auch nicht viel bewegen, doch das merkte ich damals kaum. Ich saß auf dem weißgescheuerten Fußboden und spielte glückselig mit ihr. Mein Bruder hatte ein kleines Messer mit einer Klinge, wie man sie in unserer Gegend zum Weintraubenschneiden benutzt, erhalten und war sehr stolz darauf.

Den nächsten Morgen saßen wir beide in unseren Hemdchen auf dem großen Tische, der mitten im Zimmer stand, und meine Mutter war daran, uns zu waschen. Sie hatte irgend etwas aus der Küche zu holen, und während sie draußen war, sagte mein Bruder, daß meine Puppe nicht schön sei, worauf ich erwiderte, daß sein Messer nicht schneide. Daraufhin frug er mich, ob er es an meinem Beine probieren solle. Ich erlaubte es sofort, worauf er das Messer unter meinem Knie ansetzte. Im nächsten Augenblick zeigte sich ein roter Streifen, und das Blut floß über das weiße Tuch, auf dem wir saßen. Ich glaube, mein Bruder war etwas erschrocken, doch nicht genug, um nicht triumphierend über meine vorherige Behauptung, das Messer schneide nicht, zu lachen. Sobald ich aber das Blut bemerkte, fing ich sehr zu weinen an, worauf meine Mutter hereinkam und erschreckt mein Bein in der Waschschüssel wusch. Nachdem das Blut gestillt war und ich mich beruhigt hatte, nahm sie meinen Bruder vom Tische herab und prügelte ihn mit einer Rute, die das Christkind am Vorabend gebracht hatte.

Eines Tages wurden alle unsere Möbel aus der Küche und dem Zimmer geschafft und auf einen Wagen geladen. Als alles fort war, nahm meine Mutter mich und meinen Bruder bei der Hand und ging mit uns in ein anderes Haus, wo wir gleich beim Eintritt unsere alten Möbel erkannten. Es war schon ziemlich spät, meine Mutter gab uns unser Abendbrot und legte uns schlafen.

Am nächsten Morgen waren wir beide, mein Bruder und ich, sehr beschäftigt. Wir liefen in den Hof hinaus und fanden zu unserem größten Entzücken, daß mitten durch diesen ein Bach floß, über dem ein ganz schmales, zur anderen Seite führendes Holzbrett lag. Mein Bruder machte zuerst den Vorschlag, hinüberzugehen. Ich fürchtete mich zwar, doch wünschte ich mich auch hinüber, und so hielt ich mich an seinem kurzen Röckchen fest, als wir sehr langsam, aber auch sehr entschieden den schmalen Steg überschritten. Auf der anderen Seite war es sehr schön. Der Boden war zwar auch mit Steinen gepflastert, doch standen in einer Ecke einige Blumen, die mir wunderbar vorkamen. Sie hatten lange Stiele mit vielen Blättern, länglichen glockenartigen Blüten, deren Farbe mich an gestoßenen Zimt erinnerte, wie ich ihn oft in dem Laden meines Vaters gesehen hatte. Das wunderbarste aber war, und das fand ich erst später aus, daß die Blüten sich gegen Abend schlossen und am Morgen wieder öffneten.

Es waren Feuerlilien.

Diese Ecke mit den Blumen spielte von nun an in meinem Dasein eine große Rolle. Während mein Bruder sich mit dem Fangen von Fliegen beschäftigte oder ein kleines Papierschiffchen im Bache so lange schwimmen ließ, bis es entweder davonschwamm oder zerriß, saß ich mitten unter den Lilien und konnte mich nicht satt daran sehen.

Sie gehörten aber nicht uns, sondern einer anderen Partei, die in demselben Hause wohnte, und nur diesem Umstande hatte ich es zu verdanken, daß mein Bruder sie nicht ausriß. Ich selbst hätte sie wohl kaum gepflückt, denn die Freude, sie am Abend geschlossen und am Morgen wieder offen zu sehen, war zu groß.

Einmal als wir beide wie gewöhnlich im Hofe spielten, erschien plötzlich unser Vater und rief uns zu sich. Wir waren erstaunt, ihn zu sehen, da er das Geschäft meist nur des Abends verließ, und wir dann schon gewöhnlich im Bett lagen.

Er sagte, daß wir eine kleine Schwester bekommen hätten. Die Freude hierüber war groß. Wir liefen sofort ins Haus; doch das kleine Wesen, das meine Mutter so behutsam anfaßte, flößte uns keinerlei Respekt ein, und besonders mein Bruder machte sich nichts daraus. Es war viel zu klein, um uns irgendwie bei unseren Spielen nützen zu können; sicher wäre es unmöglich gewesen, es über die Brücke zu bringen. Der Vorfall hatte also für uns nichts zu sagen, und es blieb alles beim Alten. Mein Bruder und ich waren nach wie vor unzertrennlich und ich glaube einander unentbehrlich.

Die Zeit kam allmählich heran, wo ich zur Schule zu gehen hatte. Ich freute mich sehr mit der Schultasche wie mit dem einen geheimnisvollen Buche, mit der Schiefertafel und dem Schieferstift, der zur Hälfte mit einem schönen roten Papier umwunden war. Meine Mutter nahm mich am festgesetzten Tage selbst zur Schule, und zum ersten Male in meinem Leben ging ich irgendwo hin, wo mein Bruder nicht mitgeben konnte und durfte. Ich war ungemein stolz darauf. Das große Schulhaus erweckte in mir ein Gefühl scheuer Ehrerbietung. Meine Mutter brachte mich bis zur Tür meiner Klasse und kehrte dann nach Hause zurück, nicht ohne mir vorher eingeschärft zu haben, ja recht brav zu sein.

Ich fand in der Schulstube viele Mädchen meines Alters vor und war ganz starr vor Staunen. Mein Platz war in einer der ersten Bänke. Neben mir saß ein Mädchen, die Tochter eines der Lehrer.

Sie hieß Hilda, und ich fand sie sehr schön. Die Tatsache, ein so vornehmes Mädchen wie die Tochter eines wirklichen Lehrers zur Nachbarin zu haben, machte mich ganz stumm, und ich wagte kaum aufzusehen. Diese Schüchternheit verlor sich aber sehr bald. Hilda sprach mich zuerst an, und beim Nachhauseweg erzählte sie mir, daß sie auch eine Lehrerin werden würde. Neben diesem Mädchen saß die Tochter eines Bäckers, die Leopoldine hieß und später ebenfalls meine Freundin wurde.

Mein Leben wurde nun ein ganz anderes. In der Schule verabredeten wir gewöhnlich, wo und wann wir uns am Nachmittag treffen würden, und jeder Tag wurde für mich ein Ereignis. Manchesmal kamen meine neuen Freundinnen auch zu mir, dann spielten wir im Hofe, und ich zeigte ihnen mit großem Stolze meine Lilien, die sie aber, glaube ich, wenig oder gar nicht interessierten. Dagegen fanden sie viel Vergnügen daran, in dem kleinen Bache herumzufischen oder auf die Mauer zu klettern, die den Hof begrenzte. Gewöhnlich war es Leopoldine, die mich besuchte – Hilda kam nur selten, und, wie ich ganz genau wußte und auch vollkommen würdigte, erlaubten ihr ihre Eltern keine Bekanntschaft. Ich sah sie darum fast nur in der Schule, doch war sie mir die liebste unter meinen Freundinnen.

Noch öfter als zu Hause trafen wir uns aber auf dem Kirchenplatz. Er war mit einem Geländer umgeben und daher ein idealer Ort für alle unsere wilden Spiele. Die Stunden, die wir um den alten Kirchturm verbrachten, waren die schönsten meines Lebens. Mit heißen Wangen und zerzausten Haaren tollten wir dort herum, bis die Siebenuhrglocke läutete. Um diese Zeit sollten wir alle zu Hause sein, und nach einigen hastigen Lebewohl stoben wir nach verschiedenen Richtungen auseinander.

Bei diesen Veranstaltungen war auch natürlich mein Bruder dabei. Hier und da gesellte sich ein anderer kleiner Junge zu uns, und dann kam Karl auch in sein Element. Er hatte Jungens entschieden lieber als Mädchen und schalt uns immer: »dumme Dinger«.

Nach und nach lernte ich verschiedene Leute im Ort kennen. Leopoldine nahm mich eines Tages zu Bekannten, die fast am Ende des Dorfes, gerade unterhalb des Kirchhofes wohnten. Der Mann war Färber und ich fand ihn unendlich interessant. Er hatte einen langen, ganz schwarzen Bart und ganz schwarze Hände, letzteres eine Folge seines Berufes. Die Frau war dick und rund und hatte ein sehr rotes Gesicht. Im Zimmer befand sich ein Glasschrank, der seltsame Figuren aus Porzellan enthielt. Ich meinte, die Sachen wären das schönste, was ich je gesehen hätte.

Am meisten gefiel mir eine vielleicht spannlange Statue der Mutter Gottes. Sie war ganz weiß und nur um den Schleier wand sich ein lichtblauer Streifen. Gewöhnlich gab bei diesen Besuchen die Frau des Färbers uns Brot, einen Apfel oder sonst eine Kleinigkeit. Sie sprach fast immer nur mit meiner Freundin, wenig mit mir. Daraus machte ich mir aber gar nichts. Ich war so glücklich, vor dem Glasschrank sitzen zu dürfen und die Statue der Mutter Gottes anschauen zu können.

Eines Abends geschah etwas Wunderbares. Die Frau sprach wie immer mit Leopoldine, die sich nach Kinderart auf ihrem Stuhl hin und her schaukelte, und ich starrte auf meine Madonna. Sie erschien mir schöner als je. Ich fragte mich eben heimlich, ob ich wohl ebenso schön sein würde, wenn ich gerade so ein Kleid und gerade so einen Schleier mit dem lichtblauen Saum anhätte, als die Frau auf den Schrank zutrat, die Madonna herausnahm und sich damit vor mich hinstellte. Ich zitterte vor Vergnügen. So genau hatte ich sie noch nie gesehen, hatte doch die Glastüre meinen verlangenden Blicken immerhin etwas von dem unmittelbaren Beschauen geraubt. Die Frau hielt nun die Madonna in ihren großen roten Händen, und die heilige Jungfrau schien mir noch weißer als zuvor.

»Weißt du denn etwas von der Mutter Gottes?« frug mich unsere Wirtin. Ich fing an, mich furchtbar zu schämen, da ich dachte, sie müßte gemerkt haben, wie sehr ich die Figur bewunderte und sie mir wünschte. Ich nickte bejahend und sagte, »sie sei die Mutter Jesus.« Und dann geschah das Unfaßbare. »Da,« sagte sie und drückte mir die Statue in die Hände, »Du kannst sie behalten.« – Wie ich damals nach Hause kam, weiß ich nicht mehr, nur eines weiß ich noch, nämlich, daß es acht Uhr war und mich mein Vater mit einer jener verwünschten Weihnachtsruten prügelte, weil ich viel zu spät war.


Ein zweites Schwesterchen hatte sich eingefunden, und ich glaube, die Wohnung wurde zu klein, denn eines Tages kam ein Wagen vor unsere Tür. Zwei Männer trugen alle Sachen hinaus und fuhren sie fort.

Die neue Wohnung war sehr schön, sie erschien mir wenigstens damals so. Wir hatten vier Zimmer und eine große Küche. Meine Mutter nahm sich jetzt auch ein Dienstmädchen und mein Vater einen Gehilfen ins Geschäft. Dieses ging nun besser als früher, und meine Eltern fingen an, im Dorfe als wohlhabende Leute zu gelten.

Das Haus, in dem wir jetzt wohnten, lag nur einige Schritte von der Wohnung meiner liebsten Freundin entfernt, ein Umstand, der mich sehr glücklich machte. Einmal kam sie auch zu mir herüber, und ich zeigte ihr die Zimmer und die neuen Möbel, die meine Mutter angeschafft hatte, um die Räume ausfüllen zu können. Eines der Zimmer nannte meine Mutter den »Salon«.

Auf dieses Zimmer war ich ganz besonders stolz; es stand freilich nur ein Tisch und ein Blumenkorb darin und an den Wänden hingen ein paar Bilder. So oft ich in das Zimmer trat, befiel mich eine ehrfurchtsvolle Scheu, die sich auch einstellte, als ich meine Hilda hineinführte. Ich dachte, daß sie nun dasselbe empfinden müsse wie ich und war daher auch gar nicht erstaunt, daß sie sofort wieder hinausging; glaubte ich doch, daß sie die Pracht des Zimmers überwältigt hätte.

Das Haus hatte einen sehr großen Hof, in dem einige alte breitästige Kastanienbäume wuchsen. Er war daher im Sommer ein ungemein schöner schattiger Aufenthalt, dessen Vorzüge wir Kinder in vollen Zügen genossen.

In einer Ecke des Hofes stand ein Wagen, der auf uns immer eine sehr große Anziehungskraft ausübte. Einmal spielten wir Hochzeit. Der Bruder meiner Freundin Leopoldine war der Bräutigam, und ich war die Braut. Ich trug einen Kranz aus Butterblumen und ein Handtuch war mein Schleier. Wir setzten uns in den Wagen und taten, als ob wir zur Kirche fuhren. Von meinem Bräutigam unterstützt, stieg ich dann aus, und eines der Kinder sprach den Segen über uns. Wir machten alles genau, wie wir es in der Dorfkirche gesehen hatten, und jedes von uns zwei sagte recht ernst und feierlich: »Ja«.

Einmal zankte ich mich mit Hilda über irgendeine Sache und wir wurden beide »böse«. Ich mußte etwas gesagt haben, das sie ärgerte, und anscheinend wollte sie mich nun auch ärgern. Es war schon gegen Abend, und wir standen beide vor unserem Hause. Hilda lehnte an der Mauer des gegenüberliegenden Hauses und blickte trotzig auf mich. Ihr Mund war verächtlich gekräuselt, ihr ganzes Wesen war Spott und Herausforderung. Einen Augenblick maßen wir uns beide wie erbitterte Gegner. – Plötzlich zermalmten mich ihre Worte: »Euer Salon ist gar nicht schön.« – Ich war tief unglücklich, und mit einer brennenden Röte auf den Wangen lief ich ins Haus. Meine Mutter rief eben nach mir, da es anfing spät zu werden, und ich stürzte auf sie zu. »Mutter,« rief ich mit erstickter Stimme, »Hilda sagte eben, unser Salon sei nicht schön.« Meine Mutter lächelte und während sie mich über die Stiege hinauf ins Zimmer nahm, sprach sie: »Das macht ja nichts.« – Nach Kinderart hatte ich den Vorfall bald wieder vergessen. So oft ich aber später in jenes bewußte Zimmer kam, wunderte ich mich über seine Leere und konnte nicht begreifen, wie ich den »Salon« je hatte schön finden können. Meine Mutter hatte zwar eine grüne Decke über den Tisch gekauft, doch die Ehrfurcht, die ich sonst empfunden hatte, kam nie wieder. –

In die Schule ging ich schon lange nicht mehr gern, und ich glaube, ich lernte auch nichts; meine Aufgaben machte ich nur, weil ich die Strafe fürchtete; Ehrgeiz besaß ich keinen. Geographie und Geschichte konnte ich nicht leiden, und das Rechnen haßte ich. Vom Singen hatte mich mein Lehrer ausgeschlossen, weil er behauptete, daß ich falsch sänge. Das einzige, das ich gern tat, war, Sätze zu bilden. Diesen Gegenstand hatten wir aber nur einmal in der Woche, wobei der Lehrer Worte auf die Tafel schrieb, mit denen wir einfache oder zusammengesetzte Sätze zu bilden hatten. Es gab für mich kein einziges Wort, mit dem ich nicht Sätze von beliebiger Anzahl und beliebiger Art zustande gebracht hätte; meine Mitschülerinnen dagegen waren in dieser Stunde immer recht stumm. Während des Unterrichts war ich meist sehr unaufmerksam und versuchte beständig mit den anderen Schülerinnen zu schwätzen. – Oft genug wurde ich bestraft.

Wir hatten auch Religionsstunde und zwar jeden Freitag. Ein ganz junger Geistlicher, den wir Katechet nannten, kam in die Schule und las uns aus dem Katechismus vor. Ich weiß nicht mehr, ob ich in dieser Stunde besser war; wohl aber daran erinnere ich mich, daß mir oft recht seltsam zumute wurde, wenn die hohe Gestalt im langen schwarzen Talar zur Türe hereintrat und sich mit ruhiger Würde setzte. Meiner Ansicht nach war er ein schöner Mann. Er hatte blaue Augen und dichtes braunes Haar. Sein Mund war immer fest geschlossen, und der junge Geistliche machte auf mich einen stolzen, herben Eindruck.

Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, sehe ich das Schulzimmer lebhaft vor mir. Keines der Kinder war wohl mehr als zehn Jahre alt, und während wir ganz still saßen, klang eine Frage nach der andern durch den Raum: »Wer hat die Welt erschaffen?« worauf eine feine junge Stimme antwortete: »Gott hat die Welt erschaffen.«

»Was heißt erschaffen?« Wieder eine andere Stimme: »Erschaffen heißt, aus nichts etwas hervorbringen.« –

»Müssen alle Menschen sterben?« ... »Alle Menschen müssen sterben.« –

Diese letzteren Worte beschäftigten noch lange meine Gedanken und wollten mir nicht aus dem Kopfe. Oft erwachte ich des Nachts, und ich hörte die Frage: »Müssen alle Menschen sterben?« – worauf es antwortete: »Alle Menschen müssen sterben.« – – – In solchen Augenblicken war mir immer unsäglich bange. Ich setzte mich in meinem Bette auf, horchte auf die Atemzüge meiner Geschwister und wunderte mich, wer wohl von uns zuerst sterben müsse. – Oft packte mich eine rasende Angst, wenn ich daran dachte, daß auch meine Mutter und mein Vater sterben müßten. Ich konnte dann nie mehr einschlafen, und überlegte, was geschehen würde, wenn ein solcher Fall einträte, wobei ich oft solche Qualen litt, daß ich laut aufschrie. Gewöhnlich kam dann eines meiner Eltern an mein Bett, und da sie annahmen, daß ich irgend etwas Aufregendes geträumt hatte, suchten sie mich auf ihre Art zu beruhigen. –

Der Sommer brachte immer ein herrliches Ereignis. Sobald nämlich unsere Schulferien anfingen, nahm uns meine Mutter zu Verwandten, die in einem sehr entlegenen Dörfchen lebten. Die sechsstündige Reise dahin unternahmen wir mit dem Postwagen. Eigentlich konnte man den Ort nicht einmal ein Dörfchen nennen, da dort nur das Haus unserer Verwandten, eine Mühle, stand. Ringsum lagen die herrlichen Wälder des unteren Wiener Waldviertels, stellenweise von hellen, grünen Wiesen unterbrochen, auf denen so hohes Gras wuchs, daß es über unsere Köpfe ging. Dicht neben dem Hause floß ein klarer, schmaler Bach, der zuweilen so schmal war, daß wir hinüberspringen konnten, und dann wieder so breit, daß wir ihn durchwaten mußten, um an das andere Ufer zu gelangen. Unmittelbar vor dem Hause befand sich ein ziemlich großer Küchen- und Obstgarten, ein Ort, der für uns immer ein neues Entzücken barg. Einmal war es ein Apfelbaum, der eine seiner Früchte wie neckend uns zu Füßen warf, einmal eine Staude, deren Beeren endlich – endlich erröteten, – dann wieder eine Blume die sich über Nacht erschlossen hatte. Am äußersten Ende des Gartens stand ein Bienenstock. Obwohl wir uns vor den Bienen fürchteten, näherten wir uns doch vorsichtig und wagten uns sogar öfters bis zu der Rückseite der Körbe vor, um durch das Glasfenster das emsige Treiben dieser lieben, fleißigen Geschöpfchen zu beobachten. –

Später, als der Kinder immer mehr wurden und das Geschäft meines Vaters schlechter ging, hörten diese Besuche auf, weil meine Eltern den Fahrpreis für den Postwagen nicht mehr erschwingen konnten. Die Erinnerung an diesen stillen herrlichen Flecken Erde, aus ungetrübter Jugendzeit, hat für mich immer etwas Wehmütiges, und ich trage stets eine heimliche Sehnsucht danach mit mir herum.

Meine Mutter nahm mich und meinen Bruder jeden Sonntag zur Kirche. Der hohe dunkle Raum, der immer so stark nach Weihrauch roch, machte mich jedesmal scheu und still. Meine Mutter saß in einer der Bänke, mein Bruder und ich aber hatten mit den Schulkindern zu stehen. Wir waren ganz vorne beim Hochaltar, und der Priester mit den Ministranten mußte jedesmal an uns vorbei. Es war derselbe Geistliche, der uns in der Schule Religionsunterricht erteilte, und er gefiel mir in dem weißen Spitzentalar noch besser als sonst. Da ich mir in der Messe die Stellen, wo niedergekniet werden mußte, nie merken konnte, so richtete ich mich nach den andern. Doch, ob wir knieten oder standen, immer hielt ich meine Augen auf den Priester gerichtet und verfolgte jede seiner Bewegungen. Mit einem Gefühl scheuer Ehrerbietung blickte ich auf ihn; sah, wie er den Wein mischte und trank, wie er das Weihrauchfaß feierlich schwang, wie er mit gefalteten Händen aus dem Heiligen Buche betete und es zum Schlusse andächtig küßte. –

Mein Bruder ging nun natürlich auch schon in die Schule und trieb sich meist mit seinen Schulkameraden umher. Wir waren nicht mehr so viel zusammen wie früher, doch noch immer genug, um zanken zu können. Er wurde überhaupt von Tag zu Tag unartiger, und meine arme Mutter konnte ihn nicht mehr zügeln. Oft wenn mein Vater abends nach Hause kam und ich schon im Bett lag, konnte ich hören, wie meine Mutter weinte und ihm klagte, wie sie es mit dem Buben nicht mehr aushalten könnte. Mein Vater wurde dann gewöhnlich ärgerlich und erklärte, daß er doch neben seinem Geschäfte nicht auch noch die Erziehung der Kinder übernehmen könne, und so blieb alles beim alten.

Als ich zwölf Jahre alt war, trat eine große Veränderung in unseren Verhältnissen ein. Mein Vater verkaufte sein Geschäft und kaufte ein Haus mit einem Geschäft in einem anderen Markte. Wieder einmal wurden alle unsere Möbel aus der Wohnung getragen, doch dieses Mal wurden sie zur Bahn gebracht. Seltsamerweise erfuhren wir nichts von der ganzen großen Veränderung bis zur letzten Stunde, so daß ich keiner einzigen meiner Freundinnen Lebewohl gesagt hatte und am Vorabend vom Kirchenplatz weglief wie jeden andern Tag.

Es war schon dunkel, als wir in Hohenburg ankamen. Ein Wagen brachte uns von der Bahn nach Hause. Mein Vater war schon dort und zeigte uns alle Zimmer im Erdgeschosse. Er hatte auch noch einen Stock aufsetzen lassen, doch durften wir nicht mehr hinauf. Meine Mutter brachte uns dann zu Bett und sagte, wir sollten, was uns träumen würde, nicht vergessen, da das, was man an einem fremden Orte, wo man zum ersten Male schliefe, träumt, wahr werde. – Ich paßte scharf auf, als meine Mutter das sagte, und am Morgen wunderte ich mich sehr über meinen Traum.

»Mutter,« sagte ich, »mir hat geträumt, daß wir wieder nach Langenau zurückgefahren sind.« – Darauf lächelte meine Mutter und sagte, sie glaube nicht, daß so etwas eintreten könne. –

Die ersten Tage und Wochen vergingen sehr schnell und waren sehr aufregend. Meine anderen Geschwister sowie ich schlossen rasch neue Freundschaften, und ich glaube nicht, daß ich mich damals besonders nach den alten Freundinnen sehnte. –

Die Leute, die noch in dem Hause wohnten, nannten meine Mutter »Hausfrau«, und ich vermute, sie hatte das gern. – Wir hatten auch ein neues Dienstmädchen, die in meinen Augen eine sehr wichtige Person war; sie erzählte mir oft Geschichten von Männern, und erwähnte, daß sie bald heiraten würde. So oft sie von der kommenden Heirat sprach, schaute sie recht froh darein. Ich dachte bei mir, heiraten müsse etwas sehr Schönes sein und wollte auch heiraten. Als ich dem Mädchen das gestand, erwiderte sie, ich sei noch zu jung.

»Wie alt muß man denn sein, um heiraten zu können?« Auf diese Frage erfolgte die prompte Antwort: »Das ist nicht gleich; einige Mädchen heiraten früh und einige später.« Ich beschloß, daß ich früh heiraten würde.

Wir waren seit einigen Wochen in der neuen Gegend, als ich anfing, zu merken, daß etwas in unserem Hause nicht richtig war. Ich sah, daß mein Vater sehr nachdenklich, ja sogar traurig aussah, und meine Mutter sehr oft weinte. Dann verließ uns mein Vater und kam erst nach vielen Wochen wieder. Er sah von Tag zu Tag schlechter aus, und meine Mutter hörte zu weinen nicht mehr auf.

Eines Tages war ich unten in dem kleinen Gemüsegarten und wollte mich auf einen alten Sessel setzen, der dort stand. Es saß jedoch schon ein anderes Mädchen in meinem Alter darauf, das einem unserer Mietsleute angehörte, und das sonst immer recht höflich zu mir gewesen war. Als ich aber jetzt auf sie mit der untrüglichen Bewegung zukam, mich setzen zu wollen, stand sie nicht auf, wie ich erwartet hatte, sondern kreuzte die Arme über ihrem Kopf und blinzelte mich schläfrig an.

»Steh auf!« forderte ich trotzig.

»Warum soll ich denn aufstehen?«

»Weil ich mich setzen will.«

»Setz' dich doch auf den Boden.«

Diese Antwort machte mich wütend. »Steh auf!« schrie ich jetzt und stampfte mit den Füßen, »der Stuhl gehört uns.« Darauf lachte sie, und nach einer Weile sagte sie noch immer lachend: »Euch gehört gar nichts, es ist euch doch alles gepfändet worden. Ihr habt nichts als Schulden.« Dann sprang sie auf, gab dem Stuhl einen Stoß, daß er zurückflog und rannte davon.

Ich stand wie betäubt und konnte die Worte erst gar nicht begreifen; dann aber erinnerte ich mich an meiner Mutter vieles Weinen, an das traurige Gesicht meines Vaters, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Scheu und leise wie ein Verbrecher ging ich in das Wohnzimmer zurück und setzte mich ganz still in einen Sessel. Meine Mutter saß am Tisch mit dem jüngsten Kinde im Arme und sah mich erstaunt an. Ich war sonst immer sehr laut und warf gewöhnlich einen Stuhl dreimal um, bevor ich mich setzte.

»Hast du dich mit jemand gezankt?« frug sie sofort.

»Nein. Aber ich möchte wissen, ob es wahr ist, was die Leute sagen.«

Meine Mutter zuckte leicht zusammen. »Was für Dummheiten! Was sagen die Leute?«

»Daß wir nichts haben als Schulden.« Meine Mutter stand auf und legte das Kind auf das Bett, dann zog sie die Tischdecke gerade und blickte dabei ins Leere.

»Wer hat denn das gesagt?« frug sie, wie von ungefähr. Ich sagte es ihr, worauf sie tief seufzte – sonst war es still im Zimmer.

»Würde es dir Freude machen,« sagte sie nach einer Weile, »wenn wir wieder nach Langenau zurückgingen?« Ich war starr vor Staunen und jähem Entzücken. Hilda, Leopoldine, der alte Kirchplatz und hundert andere Dinge fielen mir plötzlich ein und weckten eine maßlose Sehnsucht in mir.

»Wirklich?« rief ich, »oh Mutter, ich würde mich so freuen.«

In der folgenden Woche wurden unsere Möbel abermals aus den Zimmern getragen und wieder zur Bahn gebracht. Wir waren alle sehr aufgeregt, und mein Vater sah ungemein blaß aus. Spät am Abend kamen wir in Langenau an und fuhren zur neuen Wohnung. Das ganze Dorf schlief. Niemand sah uns kommen. – Wir waren ein Jahr fort gewesen.

Die Wohnung, die wir jetzt innehatten, gefiel mir nicht; sie lag ziemlich tief, und an den Wänden lief das Wasser herab, wodurch sich viele dunkelbraune Streifen bildeten. Ich hörte meine Mutter sagen, daß die Wohnung recht feucht und ungesund sei, und daß sie nie gedacht hätte, daß man so herabkommen könne. Darauf entgegnete mein Vater, daß sie sich nur gedulden möchte, er würde schon trachten, etwas Besseres zu finden, sobald nur das Geschäft etwas zu gehen anfinge. Über letzteren Gegenstand sprachen sie noch lange, und ich hörte, daß es sich um ein neues Geschäft handle und daß man wahrscheinlich einige Zeit brauchen werde, um Kunden zu bekommen.

Ich fand die Wohnung hauptsächlich so scheußlich, weil sie eine gute Strecke von dem Hause meiner früheren Freundinnen entfernt war. Dazu befand sich, wie ich den nächsten Morgen herausfand, gar kein netter Hof oder sonst ein Platz zum Spielen und Laufen in der Nähe. Es wohnten in dem Hause noch drei andere Parteien, und meine Mutter ermahnte uns, immer recht still zu sein, da sich sonst die andern Leute beim Hausherrn über uns beklagen würden.

Ich wollte gleich nach dem Frühstück zum Kirchplatze laufen, um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte, und wenn möglich Hilda oder Leopoldine zu sprechen. Eben als ich zur Türe hinaus wollte, rief mich meine Mutter zurück.

»Wohin willst du?«

»Fort.«

»Das geht nicht.« In der Stimme meiner Mutter lag etwas wie Pein. »Du siehst, daß ich kein Mädchen habe und daß es hier aussieht wie Kraut und Rüben. Wenn du spazieren gehen willst, so mußt du die zwei Kleinen mitnehmen.«

»Das tue ich nicht,« erklärte ich, wobei mir die Tränen in die Augen traten. »Die sind viel zu klein und können unsere Spiele nicht spielen.«

»Mein liebes Kind, da müßt ihr eben etwas spielen, wo sie mittun können.«

Erst wollte ich davon nichts wissen und beschloß, zu Hause zu bleiben. Als es jedoch elf Uhr schlug, stellte ich mir vor, wie meine Freundinnen wohl jetzt aus der Schule kämen, und konnte nicht widerstehen. Ich nahm die beiden Kleinen, ich glaube, recht unsanft, und verließ die Wohnung. Meine Schwester war ungefähr zwei Jahre alt und konnte schon laufen, mein jüngerer Bruder jedoch war noch ganz klein und mußte getragen werden. Meine Schwester hängte sich an meinem Rocke fest, und so schritten wir langsam dahin – viel zu langsam für meine Ungeduld. Einige Vorübergehende, alles Leute, die sich zur Arbeit in ihre Weingärten begaben, sahen mich mit seltsamen Blicken an, sprachen dann zueinander und zum Schluß lachten sie. Ich fühlte, daß ihr Lachen mir galt, und ich schämte mich, weil ich annahm, sie meinten, die beiden Kinder gehörten mir. Es war natürlich recht dumm von mir, so etwas zu denken, doch ich wußte damals noch nicht, daß man ein Mädchen meines Alters niemals für eine Mutter halten würde. Ich wußte nur, daß es für eine große Schande galt, wenn ein unverheiratetes Mädchen Kinder hatte. – Mein ganzer Zorn kehrte sich nun gegen die unschuldigen Kleinen, und ich hätte sie am liebsten geschlagen.

Endlich näherten wir uns dem Schulhause. Zu meiner großen Beruhigung fand ich, daß die Klassen noch nicht aus waren und die Kinder jeden Augenblick herauskommen mußten. Nach einigen Minuten vernahm ich auch den wüsten Lärm, der immer entstand, wenn die Knaben die Schule verließen. Paarweise kamen sie heraus, und ich fühlte mein Herz stärker klopfen. Nun kamen die Mädchen. Erst die ganz kleinen, dann meine Klasse. Zitternd vor Freude gewahrte ich Hilda und Leopoldine zu gleicher Zeit heraustreten und gemächlich daherkommen. Mein Augenblick war da. Ich trat aus der Ecke, hinter der ich mich verborgen hatte, hervor und rief laut ihre Namen. Sie drehten sich sofort um, und meine kleine Schwester nachziehend, lief ich ihnen entgegen.

»Anna!« riefen sie beide. Dann aber schwiegen sie und sahen mich an. Ich fühlte sofort, daß etwas nicht ganz richtig sei, und das Blut stieg mir langsam in die Wangen. Um meine Verlegenheit zu verbergen, zwang ich mich zur Ruhe und sagte scheinbar gleichgültig:

»Wohin sollen wir gehen?«

»Wir dürfen nicht mit dir reden,« erwiderte endlich Leopoldine, »dein Vater ist eingesperrt.«

»War,« verbesserte Hilda leise.

Sie waren beide fort, als ich überhaupt begriff, was sie meinten. Ein kleiner Junge, den ich früher oft in der Gesellschaft meines Bruders gesehen hatte, kam vorbei, sagte ein grobes Schimpfwort und streckte mir die Zunge heraus. Doch was kümmerte mich jetzt der Junge? – Was kümmerte mich jetzt die ganze Welt? – Ich stand wie jemand, der betrunken ist, und wäre noch lange so gestanden, wenn nicht mein kleiner Bruder zu weinen angefangen hätte. Das brachte mir, neben einer maßlosen Scham, einen heftigen Schmerz in meinem Arm zum Bewußtsein, und ich fühlte, daß der Kleine mir recht schwer wurde. – Es war auch schon Mittagszeit, und ich wußte, daß meine Mutter auf mich warten würde. Ich rief nach meiner Schwester, die sich die ganze Zeit damit unterhalten hatte, Steinchen vom Boden aufzuheben. Alle belebteren Plätze vermeidend, lief ich mit den Kindern nach Hause.

Meine Mutter stand vor dem Tore und blickte die Straße suchend auf und ab; als sie mich erspähte, kam sie mir entgegen und nahm den Knaben von meinem Arm.

»Wo bist du denn gewesen? Du siehst ja ganz erhitzt aus.«

»Ich bin furchtbar hungrig.« Dann huschte ich ins Haus, und meine Mutter folgte langsam mit den Kindern. Bald nachher setzten wir uns zu Tische. Meine Mutter war eifrig beschäftigt, das Essen für die Kleinen vorzubereiten, und ich half ihr dabei, indem ich ihr einen Löffel, eine Gabel oder sonst etwas reichte.

»Hast du Bekannte gesehen?« frug sie einmal nach einer längeren Pause.

»Nein,« erwiderte ich, ohne zu zögern, und würgte einen großen Bissen ungekaut hinunter; ich fühlte, wie mir das Blut wieder ins Gesicht stieg, nicht weil ich gelogen hatte (ich log sehr oft), sondern weil mir die Worte, die ich gehört hatte, derart in den Ohren summten, daß ich sie hätte herausschlagen mögen.

»Du bist schon ein großes Mädchen,« fing meine Mutter wieder an, »und könntest mir sehr viel zu Hause helfen, wenn du nicht in die Schule zu gehen hättest.« – Mich überfiel plötzlich eine unsinnige Angst. Bis jetzt hatte ich gar nicht daran gedacht, daß ich wieder zur Schule zu gehen hätte. »Mutter,« sagte ich und hob die Hände flehend, empor, »bitte, schicke mich nicht mehr in die Schule.«

»Du wirst täglich fauler, du solltest dich schämen.«

»Ich schäme mich auch,« antwortete ich mit einer lauten, unverschämten Stimme. Meine Mutter stand plötzlich auf, und ich glaubte, daß sie mich der frechen Antwort wegen schlagen würde; aber sie schlug mich nicht. Sie bog sich über eines der Kinder, und mit abgewandtem Gesicht befahl sie mir, den Tisch abzuräumen.

Während unseres Aufenthaltes in Hohenburg hatte ich sehr wenig gelernt. Als meine Mutter mich den nächsten Tag zum Oberlehrer brachte, um mich einschreiben zu lassen, fand er das schnell heraus und erklärte, daß ich in die vierte Klasse nicht aufgenommen werden könnte, sondern in die dritte zurück müsse. – Meine Mutter hat nie begreifen können, warum ich bei dieser Nachricht so glücklich dreinsah. – Nun war ich wenigstens nicht mit den »beiden« zusammen. – Der Gedanke an sie war mir unerträglich. – Ich nahm mir vor, mich ihnen in keiner Weise zu nähern und alles zu vermeiden, was mich mit ihnen in Berührung bringen konnte. – Trafen wir uns aber in den Zwischenstunden, die wir im Sommer gewöhnlich im Garten zu verbringen pflegten, sah ich schnell nach einer andern Richtung; die beiden waren fast immer zusammen, doch manchesmal begegnete ich auch Hilda allein. Sie ging immer mit zu Boden geschlagenen Augen an mir vorüber, aber ich fühlte innerlich, daß sie mich noch immer lieb hatte und nur nichts sprach, weil es ihr verboten war. – In solchen Augenblicken hatte ich sie lieber als je und nahm mir sogar vor, auf sie zuzugehen, um nur einmal noch mit ihr zu sprechen. – Doch so oft ich dies verwirklichen wollte, versagten mir die Füße, ich stand wie angewurzelt und konnte nichts anderes als ihr nachblicken, wie sie langsam, oft recht langsam, an mir vorüberging.

Eines Tages hörte ich von einer Schülerin, daß Hilda nach Krems in das Lehrerinnenheim geschickt worden war. Ich fühlte mich danach elend und einsam, wie selten sich ein Kind gefühlt hat. Obwohl sie nie mit mir wieder gesprochen, lebte ihr Bild in meinen Gedanken, und von irgendeiner Ecke aus sie heimlich beobachten zu können, war mir ein süßes, wehmütiges Glück gewesen. – Ich knirschte mit den Zähnen, wenn ich daran dachte, daß es Hilda sei, die fortgehen mußte, und nicht Leopoldine. – So oft die letztere mich erblickte, erschien auf ihrem Gesicht jenes hämische Lächeln, das sie damals gelächelt hatte, als sie mir die fürchterlichen Worte zurief. Ich fing an, sie zu hassen, und betete jeden Abend zu Gott, daß er ihre Mutter (sie hatte keinen Vater mehr) auch einsperren lassen möge.

Aber ihre Mutter wurde nicht eingesperrt. Als mich mein Weg einmal an ihrem Hause vorbeiführte, bemerkte ich viele Handwerker, die eifrig daran arbeiteten; und als ich mich darauf nach einigen Tagen des Abends hinschlich, um zu sehen, was man denn tue, stand das ganze Haus noch prächtiger und schöner da, als es früher gewesen war. – Leopoldine trug jetzt immer sehr hübsche Kleider, und ihre Blicke wurden noch boshafter als zuvor.

Ich hatte keine hübschen Kleider und meine Eltern hatten kein hübsches Haus. Das Geschäft ging immer schlechter, und mein Vater wurde so wortkarg, daß er zu uns Kindern oft wochenlang nicht sprach. Es war auch wieder ein kleiner Bruder angekommen, und meine Mutter arbeitete unaufhörlich. Ich half ihr, indem ich auf meine kleinen Geschwister achtgab und das allerkleinste herumtrug, doch tat ich das nicht gern und fühlte mich heimlich recht unglücklich.

Mein Bruder wurde aufs Gymnasium nach Krems geschickt, da meine Mutter es unbedingt wünschte. Mein Vater wandte zwar ein, er könne das Kost- und Studiergeld nicht erschwingen, worauf meine Mutter stets erwiderte, daß es eine Sünde sei, Karl nicht studieren zu lassen, da er der klügste Bursche sei, den man sich denken könne. Darauf schwieg mein Vater gewöhnlich; doch weiß ich, daß er meinen Bruder viel lieber in irgendeine Lehre gegeben hätte.

Karl kam nun jeden Samstag nach Hause und fuhr am Montag wieder fort. Bei diesen Besuchen behandelte er uns immer in sonderbarer, hochmütiger Weise. Einmal sagte er, daß die Leute am Lande alle Trotteln seien. Dennoch begleitete ich ihn gewöhnlich zur Bahn, und wenn der Zug aus der Halle dampfte, war mir immer zum Weinen.

Schon seit längerer Zeit fühlte ich mich unglücklicher als je, ohne dafür eine besondere Erklärung geben zu können. Manches Mal kamen mir in solchen Stunden allerlei Geschichten, und ich nahm dann oft einen Bleistift zur Hand und schrieb sie nieder. Es entstanden so größere und kleinere Gedichte, die ich aber nie jemand zeigte. Ich hob sie auch nie auf, sondern zerriß den Zettel sofort wieder. Mein sehnsüchtigster Wunsch war, auch in das Lehrerinnenheim geschickt zu werden, und ich fragte mich, ob Hilda dann wohl mit mir sprechen würde oder nicht. Selbstverständlich war dieser stille Wunsch unerfüllbar.

Die Zeit kam endlich heran, wo ich aus der Schule entlassen wurde. Ich begrüßte dieses Ereignis mit großer Freude und war überglücklich bei dem Gedanken, daß ich jetzt Leopoldine nie mehr zu begegnen brauchte.

Ich hatte nun etwas mehr Zeit, doch half ich darum meiner Mutter nicht mehr als früher. Ich fand überhaupt keine Freude am Hause und wünschte von ganzem Herzen, fortgehen zu können. So oft ich aber davon sprach, erklärte meine Mutter, daß sie mich noch einige Zeit zu Hause brauche und daß ich auch noch viel zu jung sei, um in die Welt zu gehen. Ich aber war recht ungeduldig und wurde von Tag zu Tag unzufriedener. Meiner Mutter und meinen größeren Geschwistern gegenüber verschloß ich mich immer mehr und mehr und führte, trotz der manches Mal recht lauten Gesellschaft um mich, ein sehr einsames Leben. Die einzige wirkliche Freude bereiteten mir meine Gedichte. Sie kamen immer wieder, und ich hielt sie heimlich wie zuvor.

Unter diesen Verhältnissen wurde ich fünfzehn Jahre alt, und in die unzufriedenen Gedanken und unruhigen Wünsche begannen sich jene Träume einzuflechten, die sich in die Gedanken und Wünsche eines fünfzehnjährigen Mädchens einzuflechten pflegen. Ich wußte, daß alle die Mädchen, die mit mir zu gleicher Zeit die Schule verlassen hatten, schon mit jungen Männern verkehrten, die sie gerne hatten, und ich sann nun öfters, welchen von den Burschen ich wohl lieben könnte. Ich machte aber sehr bald die Entdeckung, daß mir kein einziger gefiel, da ich fand, daß sie alle mehr oder weniger roh und anzüglich waren. Sie flößten mir nur Abscheu und Verachtung ein. Es stand also bei mir fest, daß der Held meiner Träume in Langenau nicht sei.

Die Burschen ihrerseits haßten mich. So oft sie mich ansprachen, gab ich nur knappe Antworten, und wenn der eine oder der andere versuchte, mich in den Arm zu kneifen oder mir die Wange zu streicheln, so trat ich immer rasch zurück, und mein Mund fand oft ein schnelles, zorniges Wort. Gewöhnlich sagten sie dann, daß ich nur nicht so tun solle, wenn sich ein ehrlicher Bursche mit mir einlassen wolle, da meine Eltern doch nichts hätten als Schulden. Ich war an solche Reden schon lange gewöhnt, es wurde auch in meiner Familie ohne Hehl davon gesprochen, und ich wußte, daß wer immer das sagte, recht hatte.

Da mein Vater das Schulgeld nicht mehr zahlen konnte, hatte mein Bruder auch schon aus Krems fortgemußt und war einem Kaufmann in die Lehre gegeben worden.

Ich empfand diese unglücklichen Verhältnisse mehr, als ich je sagen kann. Mein einziger Wunsch war, Langenau zu verlassen und irgendwo hinzukommen, wo man mich nicht kannte und niemand mir etwas vorwerfen würde. Aber meine Mutter wollte davon nichts wissen. So oft ich darüber sprach, vertröstete sie mich auf eine spätere Zeit, und ich gab nach – weil ich eben nichts anderes tun konnte.

Es gehörte zu meinen täglichen Beschäftigungen, Holz klein zu machen; der Holzschuppen befand sich unten im Hause, und an den Schuppen stieß der Weinkeller des Hausherrn. Oft kamen reiche fremde Herren aus Wien oder aus der Umgebung, um Wein zu kaufen, und der eine oder der andere stieg mit unserem Hausherrn in den Weinkeller, worin sie einige Zeit probend verbrachten.

Eines Nachmittags hackte ich wieder Holz und sann dabei über eine Geschichte; es war immer das schönste bei dieser Beschäftigung, daß ich so ganz allein im Schuppen war und meine Gedanken sich ungestört abrollen konnten. Ich stand mit dem Rücken gegen die Türe und hackte und dachte fleißig darauflos, als plötzlich ein Schatten über die hölzernen Wände des Schuppens fiel. Mich umwendend, gewahrte ich einen jener Herren, die den Weinkeller zu besuchen pflegten. Er lächelte und fing ein Gespräch an: ob mich diese Arbeit freue und so fort. Ich schämte mich anfangs, daß er mich überhaupt beobachtet hatte, doch seine freimütige Art und Weise verscheuchte bald mein Unbehagen. Noch während er sprach und lächelte, kam er ganz in den Schuppen. Trotz seiner Freundlichkeit befiel mich aber auf einmal eine rasende Angst, und ich erhob die Holzhacke wie zum Schutz. »Gehen Sie hinaus!« rief ich dabei. Er lächelte noch freundlicher und entblößte ganz weiße, regelmäßige Zähne. »Wie scheu Sie sind, Kleine – alles was ich haben will, ist ein Kuß.« Da preßte ich mich gegen die Holzwand, biß die Lippen aufeinander und hob die Hacke höher. – Er mußte in meinem Gesicht etwas von meiner Entschlossenheit gelesen haben, denn er fing plötzlich an zu pfeifen und ging rückwärts aus dem Schuppen. – Hätte er mich angerührt, ich hätte ihn erschlagen. –

Öfters kam auch in unser Dorf ein junger Mensch, der schuldpflichtige Beträge für eine Lebensversicherung einkassierte. Meine Eltern waren in keiner Weise versichert, aber die Partei nebenan empfing jeden Monat seinen Besuch. Eines Tages erschien statt des Burschen ein sehr elegant gekleideter Herr und erzählte der Partei nebenan, daß er der Direktor der Versicherungsgesellschaft sei und persönlich einen Einblick in all die Versicherungsverhältnisse nehmen möchte, da man dem Kassierer Veruntreuungen nachgewiesen habe. Nachdem er sich von der Familie verabschiedet hatte, klopfte er bei uns an und trat mit einem recht höflichen Gruße ein.

Er sah ungemein fein aus, meine Mutter wischte mit ihrer Schürze über einen Stuhl und forderte ihn zum Sitzen auf. Es war im Sommer und ziemlich heiß; der Herr Direktor schien müde zu sein und bat um ein Glas Wasser. Nachdem meine Mutter eines ihrer besten Gläser mit dem reinen, kühlen Brunnenwasser gefüllt hatte, trank er es mit einem Zuge leer, streckte dann seine Beine weit von sich und sah sich forschend in dem zwar ärmlichen, aber reinlichen Zimmer um. Meine Mutter, die recht einfach und bescheiden ist, fühlte sich durch sein offenbares Wohlbehagen sehr geehrt und machte schüchterne Versuche zu einer Unterhaltung.

»Liebe Frau,« sagte der Direktor plötzlich, »könnten Sie mir wohl ein junges Mädchen empfehlen, das meiner Frau mit den Hausarbeiten an die Hand gehen könnte?« –

Ich saß am Fenster mit einem Strickstrumpf in den Händen und ließ diesen langsam sinken.

»Was ich brauche,« fuhr der vornehme Mann fort, »ist ein nettes, bescheidenes Mädchen, das auf kleine Kinder achtgeben könnte und sich in Zimmer und Küche nützlich machen möchte.«

Meine Mutter wollte eben sagen, daß sie gerade jetzt niemand wüßte, aber sich erkundigen könnte, wenn der Herr es wollte – oder so etwas war es wohl –, als ich aufstand, mich vor den Herrn hinstellte und sagte: »Ich glaube, ich könnte das tun.« Kaum war dies heraus, so erschrak ich über meinen Mut und dachte, daß ich etwas sehr Dummes und Freches getan hätte. Doch der Direktor schien dieser Ansicht nicht zu sein, denn er lächelte sehr freundlich und nickte mit dem Kopfe. »Das wäre ja herrlich!« – und nach einer kurzen Pause, während ich beharrlich den Blick meiner Mutter vermied, frug er: »Wann könnten Sie wohl kommen?«

Er wandte sich bei diesen Worten nach meiner Mutter um. Ich hatte erwartet, daß diese heftig widersprechen, vielleicht sogar in Tränen ausbrechen würde, und war daher sehr erstaunt, als ich sie sagen hörte: »Wenn Sie denken, daß sie Ihnen nützlich sein wird, so könnte sie schon nächste Woche kommen.« Mit größter Mühe unterdrückte ich einen Jubelschrei und zwang mich zur Ruhe.

Der Direktor sagte dann noch, daß er in Krems wohne und ich auch öfters nach Hause kommen könnte. Es wurden nun noch der Tag meines Stellenantrittes, sowie einige andere Dinge verabredet, worauf der Herr Direktor sich außerordentlich höflich von meiner Mutter und mir empfahl.

Nachdem er fort war, blickte ich meine Mutter unsicher an; sie sah aber ganz ruhig aus. »Da du doch unbedingt nicht zu Hause bleiben willst,« sagte sie, »so ist es am besten, daß du gehst und selbst siehst, wie es in der Welt zugeht« – und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Vielleicht machst du dein Glück.«

Den Rest des Tages war ich gegen meine Mutter und Geschwister fast zärtlich. Ich wiegte das Kleinste auf meinem Arm, und den Größeren erzählte ich Geschichten. Am Abend, als die Kinder in ihren Betten lagen, sagte ich meiner Mutter, daß ich recht fleißig sein und trachten würde, etwas zu ersparen. Als mein Vater vom Geschäft kam und von dem Vorgefallenen hörte, bemerkte er nur, er hoffe, daß ich es aushalten könne.

Die Woche verging ungemein schnell. Meine Mutter wusch und bügelte das Wenige, was ich an Wäsche und Kleidern besaß, und ich nähte und stopfte daran. Ich hätte mir sehr gern einen kleinen Koffer gekauft, doch sagte mein Vater, er hätte kein Geld, und so machte ich ein Paket aus starkem braunen Papier und umwand es mit einer dicken Schnur.

Der Direktor hatte versprochen, mich selbst abzuholen, und ich stand am festgesetzten Tage mit meinem Sonntagskleide und einem verblaßten Strohhut, den ich mit einem neuen Bande versehen hatte, im Zimmer und wartete auf ihn. Er traf denn auch mit dem verabredeten Zuge ein. Nachdem meine Mutter etwas Kaffee und Milchbrot aufgetischt hatte, von dem der Direktor unglaubliche Mengen verschlang, machte er sich zum Gehen bereit. Ich hatte weder von dem Kaffee noch von dem Brote etwas angerührt und war sehr bewegt, was ich aber nie eingestanden hätte. Einige Male lief ich in die Küche, als ob ich etwas holen wollte, in Wirklichkeit aber wischte ich mir schnell und heimlich die Tränen aus den Augen. Endlich kam es zum Abschied, eine Szene, die bei so einer schlichten Frau, wie es meine Mutter ist, nur schlicht sein konnte, wenn auch unter dem bunten Waschkleide ihr liebes treues Herz zitterte und zuckte.

»Sei brav,« rief sie mir noch nach, und ich nickte zurück – dieses Mal mit Tränen in den Augen.

Die Leute, zu denen ich kam, waren Juden. Die Frau in ihrem schwarzen Haar und den dunkeln Augen erschien mir sehr schön. Die vier Kinder, drei Knaben und ein Mädchen, hatten alle bis auf einen siebenjährigen Jungen, der blödsinnig war, mehr oder minder rotes Haar und Sommersprossen. Ich hatte die drei älteren Kinder in die Schule zu nehmen und wieder abzuholen, ferner die Zimmer aufzuräumen und die Küche in Ordnung zu halten. Das Kochen besorgte die Hausfrau. Da der blödsinnige Knabe die Schule nicht besuchte, war er beständig um mich herum und sprach den ganzen Tag zu mir in wirren unzusammenhängenden Reden. Sehr oft riß er sich auch die Kleider vom Leibe und lief nackt herum. Anfangs fürchtete ich mich vor ihm, doch sah ich bald, daß er außer einigen unangenehmen Dingen, an die man sich eben gewöhnen mußte, harmlos war. Unzählige Male des Tages stellte er sich vor mich hin und spuckte mir ins Gesicht. Erst war mir das unerträglich, doch nach und nach lernte ich seine Bewegungen kennen und wandte mich schnell ab, wenn er auf mich zukam. Noch unerträglicher als dieser unglückliche Junge aber war mir der Älteste, ein zwölfjähriger Bube, der eine abscheuliche, hämische Art und Weise, mit mir zu sprechen, hatte und mich bei jedem Worte fühlen ließ, daß ich ihm gehorchen mußte. – Das Mädchen war mir die liebste.

Ich hatte mich noch keine zwei Monate auf meiner Stelle befunden, als ich merkte, daß die Verhältnisse des Direktors nicht viel besser waren als die meiner Eltern.

Es kamen oft Leute an die Türe, die mich fragten, ob sie den Herrn Direktor sehen könnten. So oft ich aber einen solchen Besuch anmeldete, wurde der Direktor sehr böse und sagte, die Leute sollten sich zum Teufel scheren. Ich erfuhr sehr bald, daß das alles Gläubiger waren, die ihr Geld verlangten. Es war verabredet gewesen, daß ich jeden Monat acht Kronen bekommen würde, und ich konnte die Zeit kaum erwarten, wo mein Lohn fällig sein würde. Als ich von zu Hause fortging, hatte ich nur ein Paar Schuhe gehabt und diese waren fast ganz zerrissen. Das erste, was ich mir daher kaufen wollte, war ein Paar Schuhe und dann ein kleines Büchlein, in das ich meine Gedichte einschreiben konnte; denn obwohl ich genug zu tun hatte, hinderte mich das doch nie, an meine Gedichte zu denken und Reime zu schlingen. Doch einsam war ich nach wie vor.

Ich hätte wohl Bekanntschaften schließen können, aber daran lag mir nichts. Eine Köchin nebenan sprach öfter zu mir und erzählte mir auch einmal, daß sie jeden zweiten Sonntag mit ihrem Schatz, einem Korporal, ausgehe, wobei sie mich fragte, wie oft ich denn Ausgang hätte. Ich sagte ihr, ich ginge überhaupt nicht aus. Daraufhin zog sie ihre dünnen Augenbrauen hoch und maß mich mit kritischen Blicken.

»Da hört sich aber doch alles auf, dann erlaubt Ihnen wohl die Gnädige Ihren Schatz ins Zimmer, heh?«

»Sie sind unverschämt, ich habe gar keinen Schatz.«

Nach diesen Worten verzog sich ihr Mund zu einem höhnischen Grinsen. »Ist es also schon so weit, daß Sie die Männer satt haben? – Es hat Sie wohl schon einer in die Tinte gebracht?«

Ohne ein Wort zu erwidern drehte ich ihr den Rücken, und seitdem vermied ich sie, wo und wie ich nur konnte.

Nach und nach haßte ich alle Leute, mit denen ich in Berührung kam: den Bäcker, der das Brot brachte, weil er immer ein rohes Wort wußte, das mir die Lider niederschlug und die Wangen färbte, den Milchmann aus demselben Grunde und die Familie selbst, weil ich sah, daß der Mann ein Lügner war. Zu meiner großen Enttäuschung hatte ich meine acht Kronen noch immer nicht erhalten und schrieb daher meine Gedichte, die sich in jener Zeit noch reichlicher als früher einfanden, auf Düten, in denen sich Dinge wie Reis und Mehl befunden hatten und die ich immer sorgfältig aufhob.

Einmal kam ich von einem Spaziergange mit den Kindern nach Hause. Nachdem ich den Kleinen in das Bett gelegt hatte, ging ich rasch in die Küche, um die Milch zu wärmen. Als ich die Küche betrat, sah ich die Frau Direktor an der Schublade stehen, in der sich meine wenigen Sachen befanden. Die Schublade war offen, und die Dame hielt eine jener Düten in den Händen, die ich so gut kannte. Innerlich war ich erschrocken und empört, doch der Respekt, den ich vor der indiskreten Person wenigstens äußerlich hatte, drängte den zornigen Ausruf in mir zurück.

Mit einem Gesicht, dem man Verblüffung und Belustigung ansah, drehte sie sich nach mir um und hielt die Düte hoch.

»Davon haben Sie ja nie etwas gesagt,« sprach sie, anscheinend nicht im geringsten gestört, daß ich sie beim Durchsuchen meiner Sachen überrascht hatte.

»Oh, bitte,« sagte ich und langte nach dem Gedicht, »Das wäre ja nicht der Rede wert gewesen.« Sie lächelte noch immer ein stilles, belustigtes Lächeln.

»Lassen Sie doch, ich zeige das meinem Manne.«

»Um Gottes willen,« rief ich erschrocken.

»Warum nicht? Die Gedichte gefallen mir alle sehr gut.«

Aller Zorn, alle Empörung von meiner Seite waren fort. Ich wäre am liebsten vor ihr niedergekniet und hätte den Saum ihres Kleides geküßt – so glücklich machten mich diese Worte. Von diesem Tage an sah ich in ihr einen Engel.

Der Umstand, daß sie mir meine acht Kronen noch immer nicht bezahlt hatte, betrübte mich zwar, doch maß ich die Schuld dem Manne bei, der sie hätte mit Geld versehen sollen, denn wie ich genau wußte, hatte sie nie Geld.

Sie hatte dem Direktor auch einige meiner Gedichte gezeigt. Er hatte darüber gelacht und seiner Frau gesagt, sie solle mir doch den Kopf nicht verdrehen, weil ich wirklich ein ganz brauchbares Mädchen sei. Es gäbe wahrhaftig mehr gute Dichter als gute Dienstboten.

Der Direktor hatte fast jede Woche nach Wien zu fahren. Eines Tages, als er wieder fort war und die Kinder schon in den Betten lagen, kam seine Frau heraus in die Küche, wo ich beschäftigt war, die Teller und Schüsseln abzuwaschen. »Anna,« sagte sie, »ich möchte gerne mit Ihnen sprechen.« Mein Herz hüpfte hoch, weil ich dachte, sie würde mir endlich meinen Lohn bezahlen. Sie setzte sich auf einen der Küchensessel und beobachtete mich eine Weile schweigend, während ich in meiner Arbeit fortfuhr.

»Sagen Sie,« begann sie endlich, »warum sind Sie denn nicht aufrichtig zu mir?«

Ich blickte sie bestürzt an. Mein Gewissen war aber rein und so sagte ich ruhig: »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Sie klopfte mit den Füßen ungeduldig auf den Boden. »Tun Sie doch nicht so, Sie haben mir einmal gesagt, Sie hätten keinen Liebsten, aber diese Gedichte ...« und zu meiner unendlichen Beschämung hielt sie eine Papierdüte hoch, die ich erst gestern beschrieben hatte und die ich nie und um nichts in der Welt jemand gezeigt hätte. »Dieses Gedicht, sagt das nicht ...? Wo ist er denn? und was ist er denn? Haben Sie sein Bild?«

Ich nahm meine Hände aus dem heißen Abwaschwasser und hielt sie vor mein Gesicht. Ihr Lachen brachte mich zur Besinnung.

»Seien Sie doch nicht so dumm,« fuhr sie fort, »ich bin doch eine verheiratete Frau, und mir dürfen Sie es schon sagen. Also heraus damit.« Sie blickte mich halb zärtlich, halb befehlend an, und ich ließ die Hände sinken; es fiel mir dabei auf, wie rot und häßlich sie aussahen, und eine neue Scham überfiel mich.

»Es ist wahr,« sagte ich endlich.

»Daß Sie also doch jemand haben?«

»Nein, ich meine, daß ich niemand habe.«

»Aber das Gedicht?« rief sie und sah ungemein belustigt auf die Düte, die nach Kaffee roch.

»Ich weiß nicht, wer das ist ... ich weiß auch nicht, wo er ist, ...« und mit einer plötzlichen Kühnheit: »ich weiß nur, daß er ist.«

»Aber wo und wann haben Sie ihn denn gesehen?«

»Ich habe ihn nie gesehen ... nur,« schloß ich zögernd, »in meinen Gedanken.«

»Oh,« sagte sie, stand auf und gähnte. Sie schickte sich an, die Küche zu verlassen, doch auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um und rief mir zu: »Solange Sie ihn nur in Gedanken kennen, wird er Ihnen nichts schaden.«

Kaum war sie draußen, so stürzte ich mich auf meinen Schrank, riß alle Düten heraus und verbrannte sie im Küchenherd. Ich wartete, bis das letzte Zucken der jähen Flamme vorüber war, dann lehnte ich mich an die graue Küchenwand und weinte bitterlich.

Oh, jene Tränen in jener grauen Küche! Oh, jene Träume in jener grauen Küche! – Keine Minute verließ mich jene unsagbare, unbegreifliche Sehnsucht nach ihm.

Wann würde er denn kommen? – Wann? – Wann? – Wann würde er kommen, um mich fortzunehmen, wie die Prinzen in den Märchen kamen, um eine Gänsehirtin oder eine Spinnerin zu freien? – Irgendwo und irgendwann mußten wir uns doch treffen, und oft frug ich das Schicksal klagend: »Ist der Weg noch lang?«

Manches Mal überkamen mich auch Zweifel. Meine Augen glitten dann gewöhnlich über meine Hände, die mir so dick und rot erschienen. – Wie – wenn er mich aber nicht lieben würde? – Doch schon im nächsten Augenblick flog mir die eine oder die andere Zeile meiner Gedichte durch den Kopf, und während mir vielleicht noch die Tränen in den Augen standen, lächelte ich ein stilles, glückliches Lächeln. Was hatten die Hände – diese Hände mit mir zu tun? – Der Mann, von dem ich träumte, war kein Mann, der ein Mädchen liebte, weil es schön war. – Nein, er war ein Mann, der mich lieben würde – der weißen Gedanken wegen, der reinen Sehnsucht wegen und um denjenigen Teil meines Herzens wegen, der beständig dichtete und träumte.

Einmal hatten wir Waschtag, und ich stand in der Waschküche, die voll Dampf war, als die Türe aufging und meine Mutter hereintrat. »Mutter!« rief ich erstaunt, »warum hast du mir denn nicht geschrieben, daß du kommen würdest?«

»Wir haben so lange von dir keinen Brief bekommen, und als gestern wieder nichts kam, da wurde mir bange, weshalb ich heute herübergegangen bin.«

»Bist du denn gegangen?« Erst jetzt bemerkte ich, daß ihre derben schwarzen Schuhe ganz bestaubt waren und sie selbst recht müde aussah.

»Ja, ich bin gegangen;« und nach einer kleinen Pause fügte sie zögernd hinzu:

»Es geht mit dem Geschäft viel schlechter, und wir müssen unsere Kreuzer zusammenhalten, wenn wir nicht noch mehr herunterkommen wollen.«

Ich fühlte einen stechenden Schmerz in mir und hielt die Tränen nur mit größter Mühe zurück.

»Wenn ich nur Geld hätte, ich würde es euch so gerne geben.«

Meine Mutter schüttelte hastig den Kopf.

»Sei nicht dumm, du brauchst ja deine paar Gulden selbst, – hast du dir schon etwas erspart?«

Ich errötete bei dieser Frage.

»Nein,« sagte ich langsam.

»Laß sehen, du bist doch jetzt schon ein Jahr hier.« Meine Mutter rechnete an den Fingern, »und jeden Monat 8 Kronen,« – sie rechnete wieder – »das macht eine schöne Summe – ich glaube, du bist leichtsinnig, Anna.« Sie sah mich bei den letzten Worten mit einem sanften Vorwurf in den Augen an.

»Ich bin nicht leichtsinnig.« Dann ließ ich mich neben ihr nieder und erzählte, daß ich meinen vollen Lohn nie bekommen hätte, sondern immer nur eine Kleinigkeit, gerade genug, um ein Loch in meinem Schuh übernähen zu lassen oder irgendein wichtiges Kleidungsstück kaufen zu können. Ich schämte mich sehr, das alles zu sagen, da es ja nur mein Eigensinn gewesen war, der mich hierhergebracht hatte.

Meine Mutter saß ganz still, und erst nach einer langen Pause sagte sie: »Ich bin froh, daß ich gekommen bin. Ich wollte einmal selbst sehen, ob es dir hier wirklich gut geht. Es hat sich nämlich eine recht schöne Stelle für dich gefunden; es sind drei Kinder, auf die du acht zu geben hättest, und es ist ein sehr großes Haus, wo du eine Menge lernen könntest.«

Mir fiel der blödsinnige Junge ein, dem es noch immer so oft gelang, mich anzuspucken, sowie die hämischen Reden des älteren Buben und noch vieles andere, das mir widerwärtig war. »Ich glaube, ich möchte die Stelle sehr gerne annehmen,« sagte ich.

Meine Mutter erhob sich von dem Wäschekorb, auf dem sie sich beim Eintritt niedergelassen hatte, und schickte sich zum Gehen an. »Ich habe damals mit dem Herrn Direktor vierzehntägige Kündigung verabredet; wenn ich jetzt mit der Frau Direktor spreche, so bist du in zwei Wochen frei; ich habe mich wegen der anderen Stelle schon über alles erkundigt, die Frau ist sehr lieb und wartet gerne noch drei Wochen, so daß du noch eine Woche zu Hause sein kannst, ehe du die Stelle antrittst. – Ist dir das so recht?« Ich nickte schweigend und verabschiedete mich von ihr.

Als ich später in die Küche kam, war meine Mutter schon fort, und die Frau Direktor saß beim Herdfeuer, als ob sie auf mich gewartet hätte. »Es tut mir leid, daß Sie fortgehen, – doch ich habe es ja immer gesagt, daß Sie für all die groben Arbeiten eigentlich zu gut sind. Ich hoffe, die neue Stelle wird Ihnen gefallen.«

Nachdem die vierzehn Tage vorüber waren, packte ich meine Sachen wieder in starkes braunes Papier, und das Paket schien mir kleiner als damals, als ich auszog, mein Glück zu suchen.

Ich war zum Gehen fertig. Die Frau Direktor gab mir zehn Kronen und versprach, alles rückständige Geld nachzusenden. Obwohl ich wußte, daß das nie geschehen würde, bedankte ich mich doch sehr für die zehn Kronen, die mich ein ungeheurer Reichtum dünkten.

Zu Hause angekommen, fand ich alles etwas verändert. Die Wohnung war zwar noch dieselbe, doch vermißte ich sofort einige Möbel. Aber aus einer unbegreiflichen Angst und Feigheit wagte ich nicht nach deren Verbleib zu fragen. Ich sah auch, daß meine Geschwister, wenn auch tadellos reinlich, so doch recht ärmlich gekleidet waren. Auf einem Wandbrett bemerkte ich auch eine Pfeife.

»Wer raucht denn die Pfeife?« frug ich.

»Oh,« sagte meine Mutter nach einem raschen Blick auf den besagten Gegenstand, »Vater sagt, eine Pfeife käme billiger als Zigarren.«

Noch manches bemerkte ich, doch ich fragte nicht mehr. »Du weißt doch,« sagte meine Mutter, »daß Karl von seinem Lehrplatz fort ist?«

»Wie soll ich das wissen? Niemand hat es mir mitgeteilt. Wo ist er denn?«

»Mit Vater. Sie werden ja bald kommen.«

Trotzdem ich mich sehr freute, meinen Bruder, von dem ich, seit er in die Lehre geschickt wurde, nichts mehr gehört hatte, wiederzusehen, so empfand ich es doch schmerzlich, daß er von dort fort war und seine Lehrzeit von neuem anfangen mußte.

Meine Mutter fing an, die kleinen Kinder zu Bett zu bringen und den Tisch für das Abendbrot zu decken. Mein Vater und mein Bruder kamen erst, als es schon dunkel war. Nach der einfachen Begrüßung setzten wir uns zum Essen nieder und ich bemerkte erst jetzt, wie schön mein Bruder während seiner Abwesenheit geworden war. Trotzdem er nur sechzehn Jahre zählte, war er doch viel größer als mein Vater und von so graziösen Bewegungen, daß ich kein Auge von ihm abwenden konnte. Sein Gesicht war ebenfalls sehr schön, die Augen waren blau und groß, und lange Wimpern senkten sich beschattend darüber. Auf seiner Oberlippe zeigte sich ein feiner blonder Schnurrbart, und nur die Unterlippe wölbte sich etwas zu voll für meinen Geschmack.

»Was willst du denn eigentlich jetzt tun?« frug ich einmal während des Essens. »Eigentlich bist du doch zu groß (und zu schön, hätte ich beinahe hinzugefügt), um ein Lehrjunge zu sein.«

»Du hast recht, liebe Schwester,« sagte er in etwas spottendem Tone, »für einen Lehrjungen bin ich schon viel zu groß und, um die Wahrheit zu sagen, viel zu fein.«

»Zu fein,« wiederholte ich und bemerkte nun auch, daß er die Hände eines Prinzen hatte.

»Ja, zu fein,« wiederholte er und betrachtete nachdenklich seine schönen Nägel, »zu groß und zu fein, um Ohrfeigen einzustecken.«

»Hat man dich –?« frug ich und wagte nicht zu vollenden.

»Ja, darum lief ich davon.«

»Du hättest das vielleicht doch nicht tun sollen,« warf meine Mutter schüchtern ein, »was wirst du denn jetzt anfangen?«

Ich erschrak auf das tiefste über den Blick, den er meiner Mutter zuwarf, – es war ein böser, fast drohender Blick, der seinem Gesicht alle Schönheit raubte; doch als ob er wüßte, welchen Eindruck er soeben auf mich gemacht hatte, lehnte er sich anscheinend gleichgültig in den Holzsessel zurück, und ein selbstzufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen.

»Fange nur nicht an zu jammern,« wandte er sich an meine Mutter, »ich werde euch nicht zur Last fallen – ich gehe nach Wien,« schloß er, sich zu mir wendend.

»Nach Wien?« frug ich, »was willst du denn dort tun?«

Er lächelte wieder und dieses Mal etwas verächtlich. »Das weiß ich noch nicht, ein Bursche wie ich einer bin, braucht sich darüber nicht zu sorgen, ich habe zwar kein Geld, doch hier (er zeigte auf seine Stirne) habe ich etwas, das ist mehr wert als Geld.« Er fing dann an, seine Zukunft zu schildern. »Es ist ein Unglück,« sagte er, »auf dem Lande geboren zu sein; man denke an die ungeheuren Möglichkeiten, die sich einem in der Stadt bieten: die gut geleiteten Schulen, die Plätze von geschichtlicher Bedeutung, die zahllosen Gewerbe und die feinere Form des Daseins, die jeden umschließt. Auf dem Lande gibt es keine richtige Arbeit. Man steht zwar jeden Morgen auf und tut, was man eben tun kann; doch wo ist jener Wettlauf aller einzelnen Kräfte des Geistes und des Körpers, wie wir ihn in den Städten finden, wo in jedem Beruf der Geniale von dem Genialsten verdrängt wird und daher jeder nach dem Höchsten strebt. Würde ich hier auf dem Lande bleiben, so würde ich sicher mein ganzes Leben lang nichts anderes sein als ein Tagedieb, der das große Kapital, das ihm der Zufall – meine liebe Schwester,« wandte er sich an mich, »ich bin über die Albernheiten von Gott und Kirche schon lange hinaus – in die Wiege, oder besser gesagt, in das Hirn gelegt hat, ohne Zinsen und Verwertung herumschleppt. Darum habe ich mir vorgenommen, es mit den Besten und Schnellsten meines Alters aufzunehmen, und es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich in ein paar Jahren nicht so viel Geld hätte, daß ich nicht hundert solcher Buden (er sah sich bei diesen Worten verächtlich im Raume um) aufkaufen könnte.« Ich saß die ganze Zeit mit andächtig gefalteten Händen und wußte nicht, was ich von ihm denken sollte. Ich bewunderte die leichte, fließende Rede und die neuen Gedanken, die ich zum erstenmal hörte; dabei aber warnte mich etwas vor der unbedingten Übergabe meiner bisherigen Ideen.

»Ich wünsche dir viel Glück,« warf ich dazwischen, als er endlich eine Pause entstehen ließ. »Aber was willst du denn eigentlich werden?«

»Ich sehe schon,« erwiderte er, »daß du in keiner Weise besser bist als diese Leute (er wies dabei mit dem Daumen auf meine Eltern), daß du dich in gar keiner Weise über den Flecken erhoben hast, auf dem du geboren wurdest; du denkst wie diese Leute (er zeigte wieder auf meine Eltern), und diese Leute denken, wie ihre Großeltern dachten. Fortschritt ist euch allen so fremd wie China. Wie kannst du fragen,« fuhr er in etwas sanfterem Tone fort, »was ich werden will? Wie kann ich das schon heute sagen? Erstens kenne ich die Verhältnisse in Wien gar nicht und weiß auch nicht, welche meiner Fähigkeiten die hervorragendste ist. Gib mir die Gelegenheit zum Wählen, die Möglichkeit zum Prüfen, und ich sage dir, wozu ich mich am besten eigne.«

Ich schämte mich sehr wegen meiner Unwissenheit und sagte lange kein Wort.

»Wenn du Verstand hättest,« fuhr mein Bruder fort, »was ich leider nach den paar Worten, die ich das Glück hatte (er machte eine ironische Verbeugung), mit dir zu wechseln, nicht vermute, so müßtest du sehen, daß ich ein außergewöhnlicher Mensch bin und meine ganze Natur auf einen Künstler deutet; leider haben diese Leute (er zeigte wieder nach meinen Eltern) für so etwas gar kein Verständnis und werden meine Größe wahrscheinlich nie begreifen. Von dir aber erwarte ich, daß du aus deiner gegenwärtigen Laufbahn (ich bewunderte sein Feingefühl, die Laufbahn nicht zu nennen) bald herauskommst, damit ich mich deiner nicht zu schämen brauche, denn wenn du auch meine Höhe nicht erreichen wirst, so könntest du es doch weiterbringen, als du es bisher gebracht hast.«

Mein Vater war schon seit einiger Zeit vom Tische aufgestanden und ging mit auf dem Rücken gekreuzten Armen im Zimmer auf und ab. Er räusperte sich manches Mal, als ob ihm etwas in der Kehle stecke, und ich merkte, daß er zornig war. Plötzlich blieb er vor meinem Bruder stehen. »Meinst du nicht,« fragte er, »daß es für dich am besten wäre, wenn du so bald wie möglich unter deinesgleichen verkehren könntest?«

»Gewiß, lieber Vater,« entgegnete mein Bruder mit dem größten Gleichmut, »ich habe beschlossen, schon morgen nach Wien zu fahren, nur muß ich dich bitten, mir die paar nötigen Kronen zur Fahrt zu geben, eine Kleinigkeit, die ich dir schon in einigen Monaten tausendfach zurückbezahlen werde.«

In der Ruhe, mit der sie sich jetzt ansahen, lag etwas furchtbar Bedrückendes. Meine Mutter mußte das auch gefühlt haben, denn sie stand hastig auf und sagte: »Macht doch das morgen aus und geht jetzt schlafen.«

Am nächsten Tage brach das Gewitter los. Mein Bruder wollte eine bestimmte Summe Geldes haben, und mein Vater weigerte sich, ihm die ganze Summe zu geben.

»Willst du, daß ich ohne einen Kreuzer in Wien ankomme?«

»Ich gebe dir so viel ich dir geben kann; ich kann doch nicht deinetwegen die kleinen Kinder verhungern lassen!«

»So willst du lieber, daß ich verhungere?«

»Dazu wird es wohl nicht kommen. Du bist alt genug, um irgend etwas angreifen zu können und dir dein Brot zu verdienen.«

»Alt genug? Sechzehn Jahre nennst du alt genug?«

»Warum nicht? Ich habe mit elf Jahren von zu Hause fort gemußt und habe mir seither mein Brot verdient.«

»Brot verdient?« sagte mein Bruder höhnisch, »Schulden hast du gemacht und uns in einen Ruf gebracht, daß uns kein Hund anschaut.«

Die Zornesader schwoll dick auf meines Vaters Stirne. »Du,« schrie er und stürzte sich auf meinen Bruder, »ist das der Dank dafür, daß ich mich, seit ihr auf der Welt seid, schinde und plage, um euch aufbringen zu können.«

Mein Bruder mußte wohl einen solchen Ausbruch von seiten meines stets ruhigen Vaters nicht erwartet haben; er wurde ganz blaß und suchte sich aus dem Griffe meines Vaters zu befreien. Nachdem ihm das gelungen war, nahm er seinen Hut und ging zur Türe; bevor er sie aber hinter sich schloß, drehte er sich um und sagte: »Morgen werdet ihr mich im Kamp finden.« Der Kamp war ein ziemlich tiefer und breiter Fluß. –

Nachdem er fort war, bot das Zimmer ein Bild des Jammers. Meine Mutter lehnte weinend an der Wand, mein Vater schritt mit pfeifender Brust im Zimmer auf und ab, das kleinste der Kinder war von dem Lärm erwacht und weinte, und ich zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. – Was mich am meisten aufregte, waren meines Bruders letzte Worte: »Morgen werdet ihr mich im Kamp finden.« – Ich stellte mir vor, wie er sich in die schwarzgrünen Wellen stürzte und langsam untersank. In meiner Verzweiflung weinte ich laut und sagte zu meinem Vater, er habe es zu weit getrieben, worauf dieser, ohne ein Wort zu erwidern, aus dem Zimmer ging.

»Mutter,« sagte ich, die Worte stoßweise hervorbringend, »glaubst du, er hat schon ...?«

»Frage mich nichts,« erwiderte sie, »ich bin die unglücklichste Frauensperson in der Welt.« – Ich hoffte den ganzen Tag, daß Karl zurückkommen werde, doch er kam nicht; und als er am Abend nicht erschien, da gab ich alle Hoffnung auf, ihn je wiederzusehen.

Den nächsten Tag litt es mich nicht mehr im Zimmer, und ich verließ das Haus. Ohne daß ich es eigentlich wollte, schlug ich den Weg zum Kamp ein und blieb jedesmal erschrocken stehen, wenn mir ein größerer Trupp Leute begegnete, weil ich dachte, man hätte ihn schon gefunden. Es waren aber meist junge Burschen, die aus ihren Weingärten kamen.

Als ich über den Kirchplatz ging, der eine Menge wehmütiger Erinnerungen in mir hervorrief, so daß ich mich noch unglücklicher fühlte als zuvor, sah ich plötzlich meinen Bruder aus einer Nebengasse herauskommen. Mit einem entzückten Aufschrei lief ich auf ihn zu. »Karl,« rief ich, »wo bist du die Nacht über gewesen?« – Er schien über die Frage nicht sehr erbaut zu sein.

»Ich hätte dir mehr Takt zugetraut,« erwiderte er, an meine Seite tretend, »als eine so heikle Sache, wie sie sich leider in deiner Gegenwart abgespielt hat, auch nur indirekt zu berühren.«

Ich wagte keine weitere Frage mehr und schritt schweigend neben ihm hin; heimlich aber wunderte ich mich über seine Ruhe.

»Dein Schicksal, liebe Schwester,« sagte er plötzlich in mein Schweigen hinein, »jammert mich.«

Meiner Ansicht nach war seines viel jämmerlicher, doch er schien nicht so zu denken. »Warum?« fragte ich und bereute die Frage im nächsten Augenblick, denn seine Augen leuchteten zornig.

»Du fragst, die du doch selbst Zeuge jenes peinlichen Vorfalles gewesen bist, der dich gelehrt haben muß, welch' niederer Herkunft du bist.«

»Ich?«

»Ich meine wir – doch ich habe ja selbstverständlich mit diesen Leuten nichts mehr zu tun, und es dauert mich, daß du dein ganzes Leben lang mit so eng denkenden, kleinlichen Menschen in Berührung zu bleiben hast; ich habe darum seit gestern überlegt, wie dir zu helfen sei (meiner Ansicht nach brauchte er viel eher Hilfe als ich, doch schien er das wieder nicht zu denken), und,« so fuhr er fort, »so habe ich den Entschluß gefaßt, dich zu mir nach Wien zu nehmen, dein weiteres Leben selbst zu überwachen und, wenn sich irgendwelche Fähigkeiten in dir zeigen sollten, diese auszubilden, kurz gesagt, dich zu erziehen. – Sobald ich also den Staub dieses Dorfes von meinen Füßen geschüttelt haben werde und in Wien angelangt bin, werde ich Tag und Nacht arbeiten, um so schnell wie möglich eine größere Summe Geld herbeizuschaffen, die es mir möglich machen wird, dich zu mir zu nehmen und dich in allen Fächern des Wissens, in Musik und Sprachen unterrichten zu lassen. –

Bist du damit einverstanden?«

Ich war so gerührt, daß ich kaum sprechen konnte.

»Selbstverständlich,« fuhr er rasch fort, »wird das noch eine Weile dauern, und du kannst ja in der Zwischenzeit die Stelle antreten, die dir Mutter gesucht hat; doch versäume nicht, deine freie Zeit mit dem Lesen nützlicher Bücher auszufüllen, damit ich mich deiner nicht zu sehr zu schämen habe, wenn ich dich in meine Kreise einführe. Hauptsächlich empfehle ich dir Schiller. Du wirst in seinen Dramen alles finden, was man im Leben braucht, um in jeder Lage geistreich und witzig zu erscheinen. Gewöhne dich daran, die Stellen aus seinen Büchern oft zu zitieren, damit du dann meinen Freunden gegenüber nicht in Verlegenheit bist; auch Goethe kann ich dir empfehlen; doch muß ich dir hier etwas Vorsicht im Zitieren anraten, da du bei deinem jetzigen beschränkten Verstehen den Sinn der Worte nicht richtig erfassen könntest und die Stellen zur unrechten Zeit zitieren möchtest. Warte darum, bis ich selbst imstande sein werde, dir alles zu erklären; und nun, liebe Schwester (ein wunderbares Lächeln erschien auf seinem Gesicht), muß ich dir leider Lebewohl sagen.«

»Lebewohl?« rief ich bestürzt, »wohin willst du denn?«

»Ich fahre heute noch nach Wien.«

»Aber du hast doch keinen Kreuzer Geld.« Das wunderbare Lächeln schwand von seinen Lippen.

»Ich sehe,« sagte er, »daß du in jeder Beziehung sehr zurück bist. Das erste, was du lernen mußt, ist Takt: Denkst du denn, daß jeder Mensch eine Bärenhaut als Gemüt hat, wie es leider in unserer Familie einen solchen Fall gibt? Gewöhne dich daran, nie etwas zu sagen, das einem andern einen peinlichen Vorfall oder eine peinliche Lage in Erinnerung bringen könnte; es gibt in jedem Menschen, wenn er auch noch so herabgekommen ist, etwas, das Stolz heißt. Hüte dich, das anzugreifen. – Und nun Gott befohlen, liebe Schwester!«

Er reichte mir die Hand, ich nahm sie jedoch nicht, sondern starrte nur auf seine schönen weißen Finger.

»Ich will dich ja nicht kränken,« sagte ich endlich, fast weinend, »aber wie kannst du ohne Geld nach Wien fahren?«

Er runzelte die Brauen und sah mich etwas mitleidig an.

»Ich sehe schon, daß ich von dir nicht jene Höhe des Empfindens verlangen kann, die eigentlich meine Zuneigung für einen Menschen bedingt. Doch weil du meine Schwester bist und dein gegenwärtiges Los ganz unverdient trägst, denn es wäre die Pflicht unsrer Eltern gewesen, uns alle studieren zu lassen, so will ich für heute von deiner Erziehung absehen und deine Frage bezüglich des Mammons beantworten. Wie du richtig vermutest, habe ich leider kein Geld; doch ich würde lieber nach Wien laufen, als von dem Manne, der unbegreiflicherweise mein Vater ist, auch nur einen Heller anzunehmen. Ich habe die Abfahrt des Güterzuges herausgefunden und werde mich in einem der Wagen verbergen, bis wir in Wien ankommen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, nein,« rief ich, »das sollst du nicht. Ich habe Geld. Hier hast du alles.« Und dabei drückte ich ihm den Rest meines Geldes, das ich in ein Stück weißes Papier eingewickelt hatte, in die Hand.

Sein Gesicht zeigte Gerührtheit und Entrüstung. »Ich müßte doch ein Lump sein,« sagte er, »wenn ich deine sauer verdienten Kreuzer annehmen würde. – Ferne sei das von mir.« Und während er das Geld in meine widerwillige Hand zurücklegte, schloß er: »Du hast zwar eine große Taktlosigkeit begangen, aber ich verzeihe dir.« Im nächsten Augenblicke war er fort.

Trotzdem ich auf der Straße stand, fing ich erbärmlich zu schluchzen an und verwünschte meine Armseligkeit, meinen Mangel an Edelsinn, schließlich mich selbst. Ich war fest überzeugt, daß mein Bruder nicht nur ein Künstler, sondern auch ein Held und ein Märtyrer sei....

Die Stelle, die ich bald nach diesen Vorgängen antrat, unterschied sich von der früheren in folgendem: erstens waren nur nur drei Kinder da, zweitens war außer mir noch ein Mädchen da, die Köchin; drittens erhielt ich statt acht Kronen zehn Kronen monatlich, sonst war aber meine Lebensweise nicht sehr verändert. Nach wie vor hatte ich das Waschen des Geschirres und der Böden zu besorgen, und wenn das vorbei war, die Kinder auszunehmen.

Diese waren im Alter von vier bis elf Jahren. Sie waren viel höflicher als die Kinder des Direktors, und ich hatte sie alle sehr lieb. Auch die Köchin hatte ich gern. Sie führte keine Reden, die anzuhören man sich hätte schämen müssen, und ich durfte ihr sogar meine Gedichte vorlesen, die ihr immer sehr gut gefielen, und von denen sie das eine oder andere öfter zu hören verlangte. Dieser Umstand machte mich ungemein glücklich.

Nachdem aber einige Monate in dieser Weise vergangen waren und mir die anfängliche Neuheit der Verhältnisse zur Gewohnheit geworden war, erwachte in mir wieder das alte Gefühl der Unzufriedenheit und der Verlassenheit. Es geschah nicht selten, daß ich mich in irgendeine Ecke setzte und heftig weinte, ohne dafür eine Ursache angeben zu können. Vor meiner Frau verbarg ich das sehr sorgfältig, doch der Köchin gegenüber konnte ich das nicht immer tun. Sie frug mich öfters, was mir fehle, doch konnte ich ihr nie eine zufriedenstellende Antwort geben.

Als wir einmal, es war an einem Samstagnachmittag, daran waren, die verschiedenen Kochbretter sowie den Boden zu scheuern, bemerkte die Köchin, daß meine Augen wieder einmal vom Weinen dick geschwollen waren.

»Was haben Sie denn,« frug sie mich in ihrer teilnehmenden Art, »ich glaube gar, Sie haben Heimweh!«

Ich schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf: »Ich glaube nicht, daß es Heimweh ist, ich glaube vielmehr, daß es der Wunsch ist, etwas zu lernen.«

»Lernen,« wiederholte sie, »du lieber Gott, was denn?«

»Ich weiß nicht,« sagte ich zögernd, »ich weiß nur, daß ich gar nichts kann.«

»Nichts kann? Das will ich nicht sagen, ich bin ganz zufrieden, wie Sie mir bei der Arbeit helfen.«

»Das schon, aber ich meine, ich kann weder Französisch noch Klavier.«

»Französisch und Klavier, das brauchen Sie aber doch nicht in Ihrem Beruf.«

»Das schon, aber ich möchte einen anderen Beruf haben.«

»Oh« ... und dann schwiegen wir lange.

Wir hatten nun unsere Arbeit fertig gebracht, legten die nassen Schürzen ab und banden reine vor. Die Köchin nahm dann eine der blanken Pfannen von der Wand und schickte sich an, den Nachmittagskaffee zu kochen, während ich den Tisch im Eßzimmer deckte. Als ich das Brett mit der heißen Milch, dem heißen Kaffee und den reinen weißen Schalen hineingetragen hatte, setzten wir uns zu unserem Kaffee in der Küche nieder. Die Köchin schenkte ein, und ich bemerkte, daß ihre Hand leicht zitterte. Da sie nicht sprach, sagte auch ich nichts; doch ich fühlte, daß sich ihre Gedanken mit mir beschäftigten. Nachdem ihre Schale leer war, stützte sie ihren Kopf in die Hände und sah mich voll an. »Also Französisch wollen Sie lernen.«

»Es braucht ja nicht gerade Französisch zu sein.«

»Also was soll es denn sein?«

»Ich weiß es nicht!«

»Das ist ein Unsinn, Sie müssen doch wissen, was Sie wollen.«

»Ich glaube, ich möchte Englisch lernen,« gestand ich endlich sehr verwirrt und sehr verlegen.

»Das lernt aber doch kein Mensch, warum nicht lieber Französisch?«

»Ich weiß nicht, aber ich möchte lieber Englisch lernen,« wiederholte ich langsam, aber sehr entschieden.

»Ich hab' über alles nachgedacht,« fing sie nach einer Pause wieder an. »Die Frau darf natürlich nichts davon wissen, denn sie hat so etwas nie gelernt und würde es für Hochmut halten, wenn Sie dergleichen lernen wollten. Doch ich denke, es ließe sich einrichten, wenn Sie abends, nachdem die Kinder zu Bett gebracht sind, sich damit beschäftigen würden.«

»Natürlich,« rief ich entzückt, »ich würde nie daran denken, während des Tages dergleichen zu tun; es fragt sich nur,« fügte ich etwas kleinlaut hinzu, »ob sich eine Lehrerin finden wird, die mir am Abend Stunde gibt.«

»Eine Lehrerin?« frug meine Köchin erstaunt. »Brauchen Sie denn eine Lehrerin?«

Mein Mut sank ganz beträchtlich bei dieser Frage. »Natürlich, ohne eine Lehrerin werde ich es nicht fertig bringen.«

»Aber wird das nicht zu viel kosten?«

»Oh,« sagte ich anscheinend leichthin, »ich glaube nicht, daß das viel kosten wird.«

»Wieviel denken Sie denn?«

»Ich weiß es nicht, aber ich denke, ein bis zwei Kronen die Stunde.«

»Du lieber Gott, das können Sie nie erschwingen.«

»Vielleicht doch, ich bekomme ja zehn Kronen im Monat, und ich brauch' das ja nicht alles.«

»Das schon, aber Sie sollten doch an die Zukunft denken.«

»Das tue ich ja gerade,« aber sie verstand nicht, wie ich es meinte.

Die Klingel läutete, ein Zeichen, daß man mich wünschte; so ließen wir denn dieses Mal den Gegenstand fallen, und ich wagte ihn nicht mehr zu berühren, obwohl in mir eine Ungeduld und Sehnsucht nagte, die ich kaum bemeistern konnte.

Es war einige Tage später, als die Köchin ganz plötzlich wieder davon anfing.

»Meinen Sie, daß Sie davon einen Nutzen haben könnten?«

»Wovon,« frug ich, mich unwissend stellend.

»Von dem Englischen.«

»Oh, ich weiß nicht, aber ich denke, wenn ich Englisch gründlich wüßte, so könnte mir das viel Geld einbringen.«

»Wo?« frug sie.

»Natürlich nicht hier!« entgegnete ich und wandte verlegen den Kopf.

Wir waren wieder mit dem Scheuern beschäftigt, und sie widmete sich dieser Arbeit jetzt mit doppeltem Eifer.

Nachdem die ganze Küche glänzte und prangte und wir wieder bei unserer Schale Kaffee saßen, begann die Köchin wieder:

»Sie müssen trachten, daß Sie die Stunden an einem Freitag abend haben können, denn die Herrenleute sind dann aus und kommen vor elf Uhr nicht nach Hause. Glauben Sie, daß Sie bis dahin zurück sein können?«

Mein Entzücken war unbeschreiblich; ich hätte dieser guten, einfachen Person um den Hals fallen mögen. »Was denken Sie,« rief ich und faltete im Übermaß meiner Freude beide Hände wie zum Gebet, »ich werde schon viel früher zurück sein, da ist nur eines,« sagte ich, wieder kleinlaut werdend, »wird der Hausknecht mich nicht verraten?«

»Lassen Sie das nur, mit dem werde ich ein Wort reden.«

Wir beschlossen dann noch, daß ich mich nach einer Lehrerin umsehen sollte, die in der Nähe wohnte, und die Sache war für dieses Mal erledigt.

Die nächsten Tage beschäftigte ich mich, so oft ich mit den Kindern ausging, die an den Häusern angebrachten Schilder zu lesen. Endlich fand ich, was ich suchte. »Musik- und Sprachlehrerin«, lautete es auf einer schwarzen Granittafel, und die Granittafel hing an einem sehr vornehm aussehenden Hause. Obwohl mir das feine Haus einige Schüchternheit einflößte, wäre ich doch am liebsten gleich hineingegangen, und nur der Umstand, daß die Kinder mit mir waren, hielt mich davon zurück. Sie waren alt genug, um alles zu verstehen, und hätten sicher alles haarklein ihrer Mutter erzählt, die zwar sehr gut zu mir war, doch sich stets in sehr einfachen Kreisen bewegt hatte und, wie die Köchin richtig bemerkte, nur Hochmut darin gesehen hätte.

Als ich nach Hause kam, erzählte ich der Köchin sofort von meinem Erfolge und frug sie, wie ich es möglich machen könnte, die Lehrerin zu sprechen, da ich doch gar keinen Ausgang hatte. »Da gibt es nur eines: Sie müssen eben einen Sprung hinein machen, wenn Sie die Milch holen.« Ich hatte nämlich jeden Abend die Milch zu holen. Der Vorschlag gefiel mir aber nicht im geringsten. Mußte ich nicht einen lächerlichen Eindruck auf die Lehrerin machen, wenn ich mit einer großen Milchkanne in den Händen in das Zimmer trat? Da aber, ohne Verdacht zu erregen, eine andere Gelegenheit nicht möglich war, so beschloß ich dennoch, den Rat zu befolgen und zog schon am nächsten Tage die Glocke an dem vornehmen Hause. Ich hörte sie von innen läuten, und der Klang machte mich noch ängstlicher, als ich schon war. Während ich stand und wartete, kam mir der Gedanke, die Milchkanne, die ich heimlich verwünschte, in einer Ecke auf der Straße zu lassen. Aber noch während ich mich nach einer günstigen Ecke umsah, überkam mich die Besorgnis, daß sie gestohlen werden könnte; so hielt ich sie in den Händen und versuchte sie hinter mir zu verbergen, als die Tür aufging und ein Dienstmädchen fragte, was ich wolle. Ich sagte ihr errötend Bescheid, worauf sie mich einzutreten bat und mich in ein Zimmer führte, das mir unglaublich schön erschien und mir allen Atem raubte. In einem hohen Spiegel erblickte ich mich plötzlich selbst, wandte den Blick aber schnell ab, als ich die Milchkanne ebenfalls darin entdeckte. So groß und häßlich war sie mir noch nie vorgekommen.

Es vergingen einige Minuten, ohne daß jemand kam, und ich bereute schon, daß ich überhaupt hier war, als sich eine Tür öffnete. Eine schlanke, mittelgroße Gestalt trat herein, Risa de Vall, die Lehrerin.

Ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie mich erblickte, ein Lächeln, worüber ich der Milchkanne bittere Vorwürfe machte.

»Das Mädchen sagte mir, daß Sie englische Stunden nehmen wollen,« frug sie mich endlich, »ist dem so?«

»Ja, wenn Sie so freundlich sein wollen.«

»Wohnen Sie bei Ihren Eltern?«

»Nein,« antwortete ich und schämte mich sehr, es zu sagen, »ich bin in Stelle.«

Sie schwieg eine Weile und beobachtete mich scharf. »Gut,« sagte sie dann, »ich unterrichte von zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends; wann möchten Sie Ihre Stunde gerne haben?«

»Das tut mir sehr leid, ich könnte vor acht Uhr abends nicht kommen,« und dann drängten sich mir die Tränen in die Augen.

Nun lächelte sie wieder, doch diesmal so gütig, daß ich wußte, es hatte mit der Milchkanne nichts zu tun, und zu meinem unendlichen Entzücken hörte ich sie sagen: »Da muß ich wohl einmal eine Ausnahme machen und Ihnen die Stunden zu einer Zeit geben, wo Sie kommen können.«

Zögernd und mit heimlicher Angst frug ich dann, was es kosten würde, und sie nannte nach einigem Nachdenken einen Preis, der mir verdächtig niedrig vorkam.

Ich weiß nicht mehr recht, wie ich an jenem Tage nach Hause kam, ich weiß nur, daß ich den ganzen Weg lief, und die Milch beständig an den Deckel der Kanne schlug.

Als ich der Köchin meine Unterredung mit der Lehrerin berichtete, war sie ganz still. Nach einer Weile aber fragte sie mich, ob ich dächte, daß es schwer sein würde. Ich antwortete ihr, daß ich das nicht sagen könnte, da ich ja nie in meinem Leben Englisch gehört hätte, doch ich glaubte, es sei nicht schwer.

Wie ganz anders wurde nun mein Leben! Ich arbeitete die ganze Woche freudig um des einen Tages willen, der meine Stunde in sich schloß. Ich hatte mir auch ein Buch über die Anfangsgründe der englischen Sprache gekauft, und so oft ich eine Minute erübrigen konnte, nahm ich es zur Hand und lernte daraus.

Meine Lehrerin freute sich anscheinend sehr über meinen Fleiß, doch merkte ich bald, daß sie mir noch andere Dinge beizubringen wünschte als bloß Englisch. Als ich eines Abends wieder einmal mit ihr in dem Zimmer saß, das für mich seinen Zauber nie verlor, fragte sie mich ganz unvermittelt, warum ich denn meine Nägel nie putze, und wie es sein könne, daß ein Knopf an meiner Jacke fehle. Ich schämte mich ungemein wegen der beiden Fragen und stotterte irgendeine Antwort. Ich vermutete schon, sie könne mich nicht leiden, doch ihr gütiges, liebes Benehmen während der übrigen Stunde überzeugte mich vom Gegenteil.

Als ich damals nach Hause kam, fand ich die Köchin bereits im Bett. Sie war erstaunt, daß ich mich nicht wie sonst gleich schlafen legte, sondern in meinem Nähkorb herumsuchte.

»Was wollen Sie denn?« frug sie.

»Eine Schere.«

»Wozu brauchen Sie denn jetzt eine Schere?«

»O, nur für meine Nägel.«

»Welche Nägel?«

Ich hatte aber die Schere schon gefunden, und während ich mich auf mein Bett setzte, fing ich an, einen nach dem andern zu reinigen.

»Lieber Gott, was ist Ihnen denn in den Kopf gekommen?«

»Nichts, nur meine Hände sind so furchtbar häßlich.«

»Ich glaube, Sie sind wirklich hochmütig.« –

Diese Güte, diese Anteilnahme und Unermüdlichkeit meiner Lehrerin verblieb mir während der ganzen Zeit meines Unterrichts. So oft sie an meinen Kleidern, an meinem Betragen oder sonst in irgendeiner Weise einen Fehler entdeckte, rügte sie diesen mit größter Bestimmtheit und doch mit ebenso großem Wohlwollen. Ich liebte sie bald mit jener Anbetung, die junge Mädchen oft älteren Frauen widmen. Heute weiß ich, daß ihre Hände die ersten waren, die sich mir hilfreich entgegenstreckten, als ich in der Dunkelheit herumtappte, und der Weg zum Licht für mich so weit – so weit noch war.

Nachdem Fräulein de Vall mich ungefähr sechs Monate kannte, frug sie mich eines Tages, ob ich außer der Köchin noch eine andere Freundin hätte; und als ich verneinte, erzählte sie, daß sie an dem Orte, wo sie früher lebte, eine Schülerin gehabt hätte, die ich vermutlich sehr gern haben würde. Ob ich ihr schreiben wolle und sie bitten, mit mir in Briefwechsel zu treten. Der Gedanke, ein Mädchen kennen zu lernen, von dem meine Lehrerin mit offenbarer Zärtlichkeit sprach, freute mich ungemein, und ich bat um die Adresse. Ich schrieb schon den nächsten Tag an sie und erhielt gleich eine Antwort, in der sie mir mitteilte, wie sehr sie sich freue, mit mir zu korrespondieren, und wie sie hoffe, daß wir uns recht oft schreiben würden. Als ich diesen Brief der Köchin zeigte, sagte sie: »Das muß eine sehr feine Person sein.« Darüber war ich natürlich nie im Zweifel. Als ich aber einige Tage später beim Lichte einer Kerze mich niedersetzte, um den Brief zu beantworten, da wußte ich nicht, was ich schreiben sollte. Ich überlegte sehr lange. Endlich jedoch fing ich an und schrieb, ohne aufzuhören, vier bis sechs Seiten voll. Was ich aber geschrieben habe, waren alles Dinge, die ich für mich dachte und von denen ich nie zu jemandem sprach, selbst zur Köchin nicht ...

Von meinem Bruder hatte ich bisher kein Wort gehört und zu Hause wußte man ebenfalls nichts von ihm. Eines Tages aber erhielt ich von meinem Vater einen Brief, in dem er mir mitteilte, daß er ein Schreiben von Karl bekommen hätte, worin stünde, daß er ungemein viel Geld verdiene.

Mir schlug bei dieser Nachricht das Herz bis zum Halse hinauf. Obwohl ich eigentlich nie recht an das geglaubt, was er mir beim Abschied gesagt hatte, so fiel mir doch jetzt wieder alles ein, und ich fragte mich, ob er jetzt wohl kommen würde. Ein leiser Schrecken erfaßte mich, als mir bewußt wurde, daß ich kein einziges von den empfohlenen Büchern gelesen hatte, und Schiller sowie Goethe immer noch nur dem Namen nach kannte. Wahrscheinlich bewegte er sich jetzt schon in den feinsten Kreisen, und meine völlige Unfähigkeit, aus irgendeinem Drama von Schiller zitieren zu können, würde für ihn furchtbar beschämend sein. Darüber, daß er mir bis jetzt noch nicht geschrieben hatte, wunderte ich mich kaum. Sicher hatte er unermüdlich gearbeitet und fand nicht Zeit dazu. Um aber für den Fall, daß er wirklich kommen würde, vorbereitet zu sein, ließ ich es nun meine erste Sorge sein, mir ein Buch von Schiller zu verschaffen. Kaufen konnte ich keines, da ich keinen einzigen Kreuzer dafür übrig hatte. Im Eßzimmer meiner Herrenleute befand sich zwar ein Bücherschrank, er war jedoch immer verschlossen; die Bücher schienen mehr als eine Zierde da zu sein und ich hatte niemals jemanden darin lesen gesehen. Nachdem aber noch weitere fünf bis sechs Monate vergingen, ohne daß ich von meinem Bruder hörte, vergaß ich allmählich jene lockenden Zukunftsbilder und dachte nicht mehr daran.

Ich befand mich nun ungefähr zwei Jahre auf dieser Stelle, als ich die Bekanntschaft eines Mädchens machte, das ich täglich auf den Spaziergängen mit den Kindern traf. Da sie immer recht freundlich zu mir war, setzte ich mich gewöhnlich zu ihr auf die Bank, und während die Kinder zwischen den Bäumen allerlei Spiele spielten, plauderten wir über verschiedene Dinge.

»Warum bleiben Sie immer auf derselben Stelle?« frug sie mich eines Tages.

»Wo sollte ich denn hingehen?«

»Das kann ich natürlich nicht gleich so beantworten, aber ein Mädchen wie Sie sollte ihr Glück in der Welt versuchen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie soll ich das meinen? Ich meine, daß ein Mädchen wie Sie ein ganz anderes Leben führen sollte, als Sie es gegenwärtig tun.«

»Warum sagen Sie, ein Mädchen wie ich bin.«

»Verstellen Sie sich doch nicht so, Sie wissen doch ganz gut, daß Sie so gescheit wie hübsch sind.«

»Oh,« sagte ich, an die letzten Erklärungen meines Bruders denkend, »ich dachte immer, ich sei sehr dumm,« dann, auf meine Hände blickend, »und sehr häßlich.«

»Papperlapapp, Sie sind weder das eine noch das andere, und wenn ich Sie wäre, würde ich in irgendeine Großstadt gehen und schauen, daß ich vorwärts käme.«

»Nach Wien?«

»Nein,« sagte sie nachdenklich, und als ob sie einen plötzlichen Einfall bekommen hätte, frug sie: »Warum gehen Sie nicht nach Budapest?«

»Nach Budapest?! Das ist doch in Ungarn, was sollte ich dort tun?«

»Dasselbe was Sie hier tun, nur mit dem Unterschied, daß Sie dreimal soviel bezahlt bekommen als hier und kein Dienstmädchen sein werden, sondern ein Fräulein.«

Ich faltete langsam meine Hände, wie ich es immer tat, wenn ich tief bewegt war. »Aber,« sagte ich endlich, »werde ich denn fein genug für eine solche Stelle sein?«

»Natürlich, sonst würde ich es Ihnen doch nicht raten.«

Bei den letzteren Worten war sie aufgestanden und schickte sich zum Gehen an. Sie reichte mir die Hand und streichelte mir die Wange. »Also auf Wiedersehen, und überlegen Sie sich, was ich Ihnen gesagt habe. Ich meine es gut mit Ihnen.«

Nachdem sie gegangen war, wiederholte ich mir jedes ihrer Worte; besonders ging der eine Satz mir nicht aus dem Kopf: »Sie bekommen dort dreimal soviel bezahlt« ... Dreimal soviel ... Ich rechnete in Gedanken ... Dreimal zehn Kronen, das waren ja dreißig Kronen ... Dreißig Kronen jeden Monat, das wäre eine Unsumme, die ich selbstverständlich nie aufbrauchen könnte; doch würde ich die Hälfte davon natürlich jeden Monat nach Hause schicken, damit sie von irgend jemand eine kleine Hilfe hätten, denn das Geschäft, so schrieb man mir, ging immer schlechter ... »Du gütiger Gott,« betete ich in meinem Herzen, »mit dreißig Kronen im Monat wäre uns allen geholfen.«

Diesen Abend kam ich zu spät nach Hause, und meine Frau hielt mir eine sanfte Strafpredigt, die mir, und zwar zum erstenmal, nicht sehr zu Herzen ging. Ich hatte mir erst vorgenommen, der Köchin meine Unterredung mit dem Mädchen mitzuteilen; dann überlegte ich, daß es besser sein würde, noch nichts zu sagen, sondern abzuwarten, ob überhaupt aus der Sache etwas würde.

In den nächsten Tagen suchte ich ängstlich nach meiner neuen Freundin, doch es vergingen fast acht Tage, ehe ich sie wieder zu Gesichte bekam. Ich lief hastig auf sie zu und beantwortete nur flüchtig ihren freundlichen Gruß.

»Wo waren Sie denn so lange?« frug ich.

»Immer zu Hause beschäftigt,« erwiderte sie und sah erstaunt auf mein erhitztes Gesicht. Ich zwang mich zur Gleichgültigkeit und ließ mich neben ihr nieder. In meiner Ungeduld aber konnte ich kaum warten, von dem Gegenstande zu reden, der mir so nahe lag, doch mochte ich selbst nicht davon anfangen. Sie aber schien gar nicht mehr an unsere frühere Unterredung zu denken. Sie streifte sie mit keinem Laut, doch war sie freundlich wie immer. Als es endlich anfing dunkel zu werden und ich die Kinder nach Hause nehmen mußte, faßte ich mir ein Herz und sagte anscheinend ganz gleichgültig: »Ich wollte Ihnen noch sagen, daß ich über alles, was Sie mir geraten haben, nachgedacht habe und daß ich sehr gern nach Budapest gehen würde.«

Es schien mir, als ob sie in Verlegenheit geriete, und ihre nächsten Worte bestätigten dies. »Mein liebes Kind,« sagte sie, »es tut mir leid, daß ich Gedanken in Ihnen wachgerufen habe, die vielleicht Ihre sichere gegenwärtige Lage bedrohen könnten.«

Ich fühlte, wie plötzlich alle Freude aus meinem Herzen schwand, und mit fast weinerlicher Stimme sagte ich: »Ich verstehe Sie nicht ... Sie haben doch gesagt ...«

»Ganz richtig,« unterbrach sie mich, »ich habe verschiedenes gesagt, was ich jetzt bereue, weil ich sehe, daß meine Mutter vollkommen recht hatte.«

»Ihre Mutter? – So haben Sie Ihrer Mutter davon gesprochen?«

»Ja! Ich habe meiner Mutter oft von Ihnen erzählt und berichtete ihr auch unser letztes Gespräch, worauf sie sagte, es sei sehr unüberlegt von mir gewesen, Sie mit Ihrer gegenwärtigen sicheren Lage« – sie betonte das Wort: »sicheren« besonders – »unzufrieden zu machen.«

»Ich verstehe, Ihre Mutter meint, ich sei für so eine Stelle nicht fein genug, und es sei darum nicht sicher, ob man mich behalten wird.«

Nach diesen Worten schlang das Mädchen ihren Arm um mich. »Sie sind ein Dummchen und viel zu fein für jede Stelle; doch weil Sie leider so ein armes Mäuschen sind und sich nun einmal Ihr Brot verdienen müssen, sind Sie in einem so stillen Orte, wie unser altes liebes Krems ist, viel besser aufgehoben als wie in Budapest, wo die Gefahren stündlich Sie umlauern.«

Die Rede rührte mich ungemein, und ich verstand nun wirklich. »Ich weiß, was Sie meinen, aber Sie brauchen nichts zu fürchten, ich bin kein leichtsinniges Mädchen.«

»Pst,« sagte sie in dem sanften, beruhigenden Tone, in dem eine Mutter zu ihrem aufgeregten Kinde spricht, »natürlich sind Sie kein leichtsinniges Mädchen, doch sind es ja gerade die braven Mädchen, die immer hineinfallen.«

»Nein, nein,« erwiderte ich hastig, »mir geschieht nichts.«

Nach diesen Worten hielt mich meine neue Freundin etwas von sich und sah mir lange in die Augen. »Nein, ich glaube auch, daß Ihnen nichts geschieht.« Und dann schnell und leise, als ob sie irgendein Unrecht beginge, öffnete sie ihre kleine Handtasche und zog einen Briefumschlag heraus. »Da,« sagte sie und drückte mir das Papier in die Hand, »ich habe es doch mitgebracht, im Falle Sie unbedingt gehen wollen« – und rasch, als ob sie sich fürchtete, daß sie bereuen könnte, lief sie davon. Ich strich den Papierumschlag glatt und überflog die paar Worte: Miklos Sandor, Stellenvermittelung, Budapest.

Ich rief die Kinder zusammen, und wie in einem Traum befangen, schritt ich nach Hause. –

... Der Abschied von der Familie, in der ich über zwei Jahre war und stets gütig behandelt wurde, der Abschied von der Köchin, die in ihrer einfachen, unverdorbenen Art mir eine Freundin geworden war, der Abschied von meinem lieben Fräulein Risa de Vall und der Abschied von zu Hause, sie wurden mir nicht leicht. Der letztere war vielleicht der, den ich am leichtesten verwinden konnte, da meine Eltern während der zwei Jahre, die ich fort war, noch ärmer geworden waren und ich mehr als je die Sehnsucht fühlte, ihnen zu helfen. Als meine Eltern erfuhren, was ich zu tun gedachte, als ich ihnen ferner den Brief aus Budapest zeigte, der meine Aufnahme zu drei Kindern mit einem monatlichen Gehalte von 35 Kronen bestätigte, da hofften sie in ihrer einfachen Weise, daß ich mein Glück gefunden hätte.

Von dem wenigen Gelde, das ich hatte, schaffte ich mir einen kleinen Koffer an, der mit brauner Leinwand überzogen war. Trotzdem er sehr klein war, blieb doch die Hälfte davon leer, so wenig besaß ich an Wäsche und Kleidern. Das machte mir aber nicht die geringste Sorge. Während ich die ärmlichen Stücke der Reihe nach in den Koffer legte, träumte ich fortwährend von 35 Kronen, die ich jeden Monat bekommen, und von den Dingen, die ich mir davon anschaffen würde.

Am Tage meiner Abreise kam ein Brief aus Wien von meinem Bruder. Er sandte zum erstenmal eine Adresse. Die früheren Schreiben hatten nie eine solche enthalten. Er schrieb, daß er sehr viel Geld verdiene, doch sagte er nicht, womit. Ich wunderte mich auch nicht darüber, sondern nahm an, daß er eben ein Künstler geworden sei und meine Eltern von seiner Arbeit nichts verstünden. Allerdings hätte ich gern gewußt, ob er ein Maler oder Bildhauer, oder vielleicht gar ein Dichter sei. Bei dem letzten Gedanken errötete ich und dachte, das könnte ja sein, denn ich dichtete ja auch, – wenn auch meine Gedichte die seinen selbstverständlich nie erreichen würden.

Seine Adresse war der Name eines Kaffeehauses. Während der ganzen Zeit, die ich noch zu Hause zubrachte, dachte ich an meinen Bruder, und endlich faßte ich einen kühnen Entschluß – so kühn, daß ich fast selber darüber erschrak. Ich wollte ihn besuchen. Auf meiner Reise nach Budapest mußte ich ja nach Wien fahren, und ich hoffte einige Stunden Zeit für einen solchen Besuch finden zu können. Den nächsten Tag, es war der Tag meiner Abreise, sprach ich zu meiner Mutter davon, und sie meinte, das würde ihn sicher sehr freuen.

Ich hatte zur Reise mein bestes Kleid aus billigem blauen Wollstoff angezogen, sowie mir einen Hut für zwei Kronen gekauft. Der Hut war aus lichtblauem Stroh, und ich dachte, ich sähe ungemein fein darin aus. Meine Eltern gingen mit mir zur Bahn, und um den Abschied für uns alle leichter zu machen, sprach ich fortwährend von den 35 Kronen und von dem, was sich alles damit tun ließe. Wir waren zu früh gekommen, und so schritten wir auf dem kleinen Perron auf und ab. Als der Zug endlich in die Halle dampfte, hielt ich die Tränen tapfer zurück und nickte den Meinen aus dem Wagenfenster mit lächelndem Gesicht zu. In einigen Minuten ertönte der Pfiff, der die Abfahrt ankündigte; mein Vater schwenkte seinen Hut, die Mutter wischte sich über die Augen, und ich zog mit einem unterdrückten Schluchzen den Kopf vom Fenster zurück.

Die Fahrt nach Wien dauerte vier Stunden, und ich beschäftigte mich die ganze Zeit in Gedanken mit meinem Bruder. Ich war überzeugt, daß ich die zwei Jahre, in denen wir uns nicht gesehen hatten, in jeder Beziehung große Fortschritte gemacht hatte, und stellte mir seine Freude und Überraschung vor, wenn ich ihm sagen würde, daß ich auch etwas englisch gelernt hätte. Als ich schon die Hälfte der Fahrt hinter mir hatte, fiel mir ein, einige meiner Gedichte niederzuschreiben, um sie ihm zu zeigen und ihn zu fragen, was er davon dächte. Ich fand etwas weißes Papier unter meinen Sachen und ging sofort ans Werk. Eines davon begann mit den unsterblichen Worten:

Wenn mich ein tiefer Schmerz beweget
Und ich vor Leid verzweifle schier,
Dann greife ich nach meiner Feder
Und füll' mit Zeilen das Papier ...

In Wien angekommen, zeigte ich einem Schutzmann den Zettel mit der Adresse, die uns mein Bruder geschickt hatte, und nach kurzer Zeit ging ich mit meinem braunen Koffer vor dem Kaffeehause auf und ab. Soweit hatte ich nicht viel Schwierigkeiten gehabt, doch nun wußte ich nicht, was ich eigentlich beginnen sollte. Es wäre ja allerdings das einfachste gewesen, hineinzugehen und nach ihm zu fragen. Ich sah jedoch durch die hohen Fenster zahllose Menschen an vergoldeten Tischchen sitzen und wagte so etwas nicht zu tun. Vielleicht, dachte ich, kommt er durch irgendeinen Zufall heraus, oder, sollte er ausgegangen sein, zurück, und ich könnte ihn dann sprechen.

Als aber fast eine Stunde verging und mein kleiner Koffer anfing, recht schwer zu werden, trat ich näher an die Fenster und blickte scharf hinein, in der Hoffnung, ihn vielleicht an einem Tische zu entdecken. Es waren aber alles fremde Gesichter. Eben wollte ich allen Mut, den ich besaß, zusammenraffen und doch hineingehen, als ich zwischen den Gästen einen Kellner bemerkte, dessen Gang und Haltung mir ungemein bekannt vorkamen. Er stand mit dem Rücken gegen das Fenster, so daß ich sein Gesicht nicht erkennen konnte; doch hatte ich das Gefühl, als hätte ich diesen Menschen schon irgendwo gesehen. Ich starrte eine Weile auf ihn und vergaß dabei ganz den eigentlichen Zweck meines Hierseins, als ein Gast, der ganz nahe bei dem Fenster saß, auf den Tisch klopfte, worauf der Gegenstand meiner Aufmerksamkeit sich umdrehte und eilig näher kam. – Ich hatte fast meinen Koffer fallen lassen, so bestürzt war ich, – es war mein Bruder! Ohne noch eine Minute zu zögern öffnete ich nun die Tür und trat hinein. Er bemerkte mich sofort, und während er sich mit scheuen Blicken nach links und rechts drehte, um sicher zu sein, daß ihn niemand beobachtete, kam er auf mich zu und sagte ganz leise, ich solle sofort hinausgehen und an der Straßenecke auf ihn warten, er käme in einer halben Stunde. Ich tat, wie er mir geheißen hatte. Während ich auf ihn wartete, konnte ich von meiner Überraschung kaum zurückkommen. Ich konnte kaum glauben, daß es wirklich mein Bruder war, mit dem ich gesprochen hatte, und daß er ein Kellner und kein Künstler sei. Die halbe Stunde war eben vorüber, als ich einen sehr elegant gekleideten jungen Mann auf mich zukommen sah. Es erfaßte mich ein neues Erstaunen, der elegante junge Mann war mein Bruder. Ich vermutete, daß er nun frei habe und bewunderte die Feinheit seines Anzuges. »Bekommst du denn so viel Trinkgeld?« frug ich, nachdem wir uns die Hände geschüttelt hatten, wie den Gedanken weiterknüpfend.

»Unglaublich,« rief er entrüstet, »wie kannst du mich mit einer so unerhörten Taktlosigkeit an dieses elende Geschäft erinnern?«

»Warum elendes Geschäft?«

»Warum?« wiederholte er zornig, »denkst du vielleicht, daß es mir Vergnügen macht, um Kerls herum zu schwänzeln, die in geistiger Weise weit unter mir stehen?«

»Ich glaubte,« sagte ich nach einer Pause, »du seiest ein Künstler geworden?«

Er lachte so fürchterlich, daß die Leute auf der Straße stehen blieben und uns ansahen. »Ein Künstler – das hätte ich dir wahrhaftig nicht zugetraut. Denkst du denn, daß die Künstler über Nacht vom Himmel fallen?«

»O nein,« erwiderte ich, um ihn auszusöhnen. »Ich weiß, es braucht oft viele Jahre.«

»Nun und von mir verlangst du, daß ich mit einem Male ein Künstler werden soll, wo mir jede Hilfe und jede Gelegenheit zur Ausbildung fehlt.«

»Natürlich nicht, ich dachte nur, du wüßtest schon, welche deiner Fähigkeiten die hervorragendste ist.«

»Oh,« entgegnete er leichthin, »darüber ist schon lange kein Zweifel; ich wäre sicher einer der ersten Maler geworden, wenn sich mir Gelegenheit geboten hätte, mit dem Mischen der Farben und der Führung des Pinsels vertraut zu werden. Ferner ist es ebenfalls zweifellos, daß ich ein großer Komponist geworden wäre, wenn ich das Wesen der Musik hätte studieren können. Drittens ist es außer Frage, daß ich auf dem Gebiete der Dichtkunst als Bahnbrecher erscheinen würde, wenn meine Verhältnisse jene Tiefe der Empfindung möglich machen würden, die unbedingt notwendig ist, um Großartiges zu schreiben.«

»Aber,« warf ich ein, an meine eigenen Gedichte denkend, »warum kannst du nicht genau so empfinden wie andere Leute?«

»Großer Gott!« rief er mit demselben fürchterlichen Lachen wie zuvor, »wie stellst du dir denn das eigentlich vor? Den ganzen Tag zwischen vier Wänden sein, Tassen tragen und Bücklinge machen. Kannst du dir nicht denken, daß bei einer so erbärmlichen Lebensweise jedes feinere Gefühl verkommt, der Intellekt versumpft und der ganze Mensch zum gemeinen Arbeitstiere herabsinkt?«

Er hatte mich vollständig überzeugt, und trotzdem ich nicht sprach, mußte er es gefühlt haben, denn seine Züge nahmen einen ruhigeren Ausdruck an, und auf meinen Koffer deutend, frug er: »Du hast wohl die Richtigkeit meiner letzten Worte von damals eingesehen und dich gewaltsam von den kleinlichen Verhältnissen auf dem Lande losgerissen, um in Wien eine Stelle anzunehmen?«

Ich erzählte ihm hastig, was ich zu tun gedachte.

»Da hört sich doch alles auf,« rief er, als ich geendigt hatte, »bist du denn verrückt geworden?«

»Warum, du hast doch damals selbst gesagt, daß ich trachten solle, es weiter zu bringen.«

»Solltest du wirklich so dumm sein, nicht zu wissen, daß du auf eine solche Stelle, wie du mir sie geschildert hast, kein Anrecht hast.«

»Wie meinst du das?«

»Solltest du nicht wissen,« fuhr er fort, ohne meine Frage zu beantworten, »daß solche Leute kein Dienstmädchen, sondern eine Dame brauchen, ein Wesen, das Manieren und Lebensart besitzt, um solche eventuell den Kindern beizubringen, die ihr anvertraut sind? Solltest du ferner nicht wissen, daß du von dem, was man hier ›Schliff‹ nennt, nicht das geringste besitzest? Selbstverständlich,« fuhr er rasch fort, als er hörte, daß ein schluchzender Laut sich meiner Brust entrang, »ist das nicht deine Schuld. Wo hättest du auch im Umgang mit den Leuten auf dem Lande witziges, gefälliges und sicheres Betragen lernen, wo jenes unerklärliche Etwas hernehmen können, das den feinen Menschen sofort von dem gewöhnlichen unterscheidet, wo hättest du endlich jene Bildung erlangen können, ohne welche man ein Nichts, eine Null, ein Niemand ist?«

Ich glaubte jedes Wort, das er sagte, und schluchzte leise in mich hinein. »Was soll ich denn tun?« frug ich endlich.

»An deiner Stelle würde ich nicht hinunterfahren, sondern hier in Wien bleiben, und ich werde mich bei meinen Freunden für dich verwenden; vielleicht könntest du eine Stelle als Kassiererin in einem Kaffeehause bekommen.«

»Nein, nein,« rief ich, meine Tränen zurückdrängend, »das will ich nicht.«

»Warum nicht, die verdienen viel Geld und machen gewöhnlich eine reiche Heirat.«

Ich schüttelte sehr bestimmt meinen Kopf. »Das will ich nicht,« sagte ich noch einmal, »da gehe ich lieber nach Budapest.«

Er zuckte gleichmütig die Schultern: »Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen – wann geht dein Zug?«

»Um acht Uhr abends.«

»Das tut mir leid,« sagte er, seine Uhr ziehend, »ich habe um diese Zeit ein Rendezvous, und so kann ich nicht mitkommen.«

»Ein Randewau?«

»Ein Rendezvous,« verbesserte er mich, »da hat man's wieder,« fuhr er achselzuckend fort. »Du weißt eben gar nichts.« Dann öffnete er seinen Überzieher und suchte in seinen Taschen. Endlich zog er ein kleines Büchlein und einen Bleistift heraus und begann emsig zu schreiben. Als er fertig war, riß er das Blatt heraus und gab es mir. »Hier,« sagte er, »habe ich dir die wichtigsten Fremdwörter aufgeschrieben, die du unbedingt kennen solltest, weil heutzutage jeder wirklich gebildete Mensch nur Fremdwörter gebraucht. Und nun viel Glück und Gott befohlen, liebe Schwester.« Er reichte mir die Hand, die ich mechanisch nahm, und als ich aufblickte, war er fort.

Ich erkundigte mich nach dem Bahnhofe und schlug den angedeuteten Weg ein. Nachdem ich meine Karte gelöst hatte, stieg ich in den schon in der Halle stehenden Zug, und beim Schein der schwachen Wagenlampe überflog ich den Zettel, den mir mein Bruder gegeben. Darauf stand:

Rendezvous Melange
Engagement Carriere
Bureau oder Comptoir   Milieu
Pardon Rouge
Toilette Noir
Banquet Manicure

Als ich mit dem Lesen fertig war, faltete ich den Zettel sorgfältig und steckte ihn in meine Tasche. Noch während ich damit beschäftigt war, setzte sich der Zug langsam in Bewegung....

Miklos Sandor, der Stellenvermittler, hatte in seinem letzten Briefe an mich bemerkt, daß er mich vom Bahnhof abholen würde, und mich gebeten, ein Taschentuch als Erkennungszeichen in der Hand zu halten. Als ich an jenem Morgen, nach einer vollkommen schlaflosen Nacht in Budapest ankam, stieg ich mit meinem kleinen Koffer in der einen und einem Taschentuch in der andren Hand, etwas schwerfällig aus dem Zuge, da meine Glieder durch das lange Sitzen ganz steif geworden waren. Ich sah mich einige Minuten auf dem Perron um und erblickte dann einen älteren Herrn, der eilig auf mich zukam. »Sind Sie das Fräulein aus Langenau?« frug er; ich bejahte seine Frage und hätte unendlich gerne gewußt, was er von mir dachte.

»Wollen Sie,« sagte er mit einem Blick auf meinen Handkoffer, »einen Wagen haben?«

Ich hatte nur ungefähr zwanzig Kreuzer in der Tasche und schüttelte sofort heftig den Kopf. »Nein, nein!« sagte ich rasch, »ich möchte lieber gehen.«

»Wie Sie wollen, Fräulein.«

Später frug er mich, ob er mir den Koffer tragen dürfte, doch ich verneinte ebenfalls hastig. Nach einem ziemlich weiten Weg trat er endlich in eines der hohen Häuser, und ich nahm an, es sei das Haus der Familie, in die er mich bringen wollte. »Sind wir schon da?« frug ich, und mein Herz schlug mir zum Zerspringen.

»Nein,« sagte er lächelnd, »das hier ist meine Wohnung; ich brachte Sie erst hierher, weil ich vermute, daß Sie etwas Toilette machen wollen. Meine Frau wird Ihnen gerne dabei helfen.«

Er hatte bei diesen Worten eine Tür geöffnet, und wir traten in ein hübsch aussehendes Zimmer. Eine Frauensperson kam herein und grüßte mich sehr freundlich; der Mann sprach einige Worte in ungarischer Sprache zu ihr, die ich natürlich nicht verstand, worauf er sich wieder zu mir kehrte und sagte: »Ich lasse Sie jetzt mit meiner Frau. Sobald Sie fertig sind, bin ich es auch.«

Nachdem er aus dem Zimmer war, begriff ich erst die ganze lächerliche Lage, in der ich mich befand; er erwartete von mir, daß ich mich umkleiden würde, um anständig auszusehen, wenn er mich der Familie vorstellte.

»Genieren Sie sich nicht,« sprach die Frau freundlich, »und tun Sie gerade, als ob Sie zu Hause wären.« Doch wenn ich zu Hause gewesen wäre, hätte ich auch nichts anderes tun können, als was ich tat. Ich stotterte, daß ich mich nicht umkleiden wolle, bat nur um eine Bürste, wenn das keine Ungelegenheiten bereite.

»Natürlich nicht, hier ist eine.« Und die Dame reichte mir den verlangten Gegenstand. Ich strich damit hastig einige Male über mein Kleid und gab sie ihr dankend zurück.

»Ist das wirklich alles?« frug sie in demselben freundlichen Ton.

»Ja, ich bin ganz fertig.« Darauf rief sie ihren Mann herein.

»Also fertig?«

»Ganz!« antwortete ich, und während ich mich nach meinem Koffer bückte, grüßte ich die Frau und folgte Herrn Miklos Sandor wieder auf die Straße.

Diesesmal aber gingen wir nur bis zur Straßenecke. Dort bedeutete er mich, auf einen Tramwaywagen zu steigen, einer Aufforderung, der ich höchst unbeholfen nachkam. Endlich aber war ich oben, und Herr Sandor setzte sich zu mir.

»Ich glaube,« begann er nach einer Pause, »daß meine Briefe ausführlich genug waren und Sie über Ihre künftigen Pflichten in keinerlei Zweifel sind. Was die Dame anbelangt, so denke ich, daß Sie ein lieberes und gütigeres Geschöpf kaum finden können. Sie ist wirklich ein Engel, und ich bin sicher, daß Sie sich in ihrem Hause wohl fühlen werden. Hinsichtlich der drei Knaben werden Sie ja selbst bald herausfinden, ob sie mit Güte oder mit Strenge behandelt werden müssen, und ich hoffe, daß Sie lange Zeit in Ihrer Stellung bleiben werden.« Er sprach noch eine ganze Weile in dieser Weise fort, und ich frug mich heimlich, ob ich denn vielleicht doch nicht so dumm und unfein aussähe. Endlich stiegen wir ab.

Das Haus, in das er mich führte, war ein sehr feines; es hatte Marmortreppen, und auf den Treppen lagen schwere Teppiche. Ein nett aussehendes Stubenmädchen brachte uns in ein geräumiges Vorzimmer und bat uns, zu warten. Ich stellte meinen Koffer auf den Boden und setzte mich herzklopfend auf die Kante eines Stuhles. Mein Begleiter setzte sich auch, doch Herzklopfen schien er nicht zu haben. Wir mußten ziemlich lange warten, und ich wünschte fast, daß nie jemand kommen möchte; aber noch während ich das wünschte, näherten sich leichte Tritte und eine noch junge Dame trat ein. Ich konnte vor Verlegenheit keinen Laut hervorbringen und stand nur furchtbar verschämt vom Stuhle auf. Sie blickte aber gar nicht nach mir, sondern begann ein Gespräch in ungarischer Sprache mit Herrn Sandor. Ganz plötzlich wandte sie den Kopf und sah mich voll an. »Glauben Sie,« frug sie, »daß es Ihnen in Budapest gefallen wird?« Ich wußte nicht, was sie eigentlich damit meinte, und neigte den Kopf. »Ich wechsle nämlich,« fuhr sie fort, »nicht gerne, und es wäre mir nicht erwünscht, wenn Sie vielleicht in zwei Wochen aus irgendeinem Grunde zurückkehren wollten.«

»O nein,« erwiderte ich, »ich werde sehr gerne hier sein.«

Der Stellenvermittler fing nun an, sich zu verabschieden und reichte mir die Hand. »Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe,« rief er mir noch zu, und dann ging er.

Die Dame bat mich darauf, mit ihr zu kommen und führte mich in ein Zimmer, das ganz weiße Möbel hatte und worin die drei Knaben um einen runden Tisch saßen. Bei unserem Eintritt erhoben sie sich und sahen etwas schüchtern auf mich. »Das hier ist euer neues Fräulein. Sagt ihr guten Tag.«

Den Kindern gegenüber verschwand meine Schüchternheit vollkommen. Ich reichte jedem von ihnen die Hand und stellte einige Fragen, die sie in etwas gebrochenem Deutsch beantworteten. Dann legte ich meine Sachen ab, und trotzdem ich sehr müde war, beschäftigte ich mich doch sogleich damit, die Knaben zu gewinnen, indem ich ihnen Häuser aus Papier aufbaute und dergleichen mehr.

Nach und nach verlor ich auch meine Schüchternheit der Dame gegenüber, da ich merken konnte, daß sie mit mir zufrieden war. Auch die Kinder hatten mich bald lieb, und der Gedanke, daß man mich fortschicken würde, quälte mich nicht mehr.

Zu tun hatte ich genug; wie auf meiner früheren Stelle hatte ich die Kinder zur Schule zu bringen oder abzuholen. Nachmittags nahm ich sie spazieren, und des Abends setzte ich mich an den runden Tisch im Kinderzimmer und stopfte oder nähte.

Von einem brennenden Heimweh abgesehen, das mich besonders immer abends befiel, war ich ganz zufrieden und glaubte nun endlich gefunden zu haben, was ich so lange gesucht hatte. Nur ein Umstand trübte mein Glück. Ich hatte fast nichts anzuziehen. Es hätte mich das nicht sehr gekränkt, wenn ich nicht gewußt hätte, daß meine Dame mich gern hübsch angezogen gesehen hätte. Sie machte oft eine Bemerkung, die, wenn sie sich auch nicht direkt an mich richtete, mir doch zu verstehen gab, daß sie sich meiner armseligen Erscheinung vor ihren Freundinnen schämte, deren Fräulein so elegant gekleidet waren, daß ich im Anfang glaubte, sie seien auch Damen.

Einmal kam die Frau in das Kinderzimmer und blickte etwas ärgerlich um sich. »Die Kinder sind eingeladen,« sagte sie endlich, »doch mit wem soll ich sie schicken?«

Ich sah sie erstaunt an. »Natürlich mit mir,« sagte ich.

»Unmöglich, Sie können in Ihrem blauen Kleide dort nicht hingehen.«

Da erinnerte ich mich der Worte meines Bruders und begann wieder zu fürchten, daß man mich vielleicht doch fortschicken würde. Ich war noch keinen Monat dort und hatte darum mein Gehalt noch nicht bekommen, nahm mir aber vor, mir ein neues Kleid zu kaufen, sobald ich Geld hätte, und sah nun täglich die Schaufenster an, um mir jetzt schon ein solches auszusuchen. Es war auch manches Kleid darunter, das mir gefiel; so oft ich jedoch nach dem Preise frug, erschrak ich dermaßen, daß ich tagelang in kein Schaufenster mehr schaute. Meine Schuhe fingen auch schon zu zerreißen an, und als endlich der Tag der Erlösung kam, da waren so eine Menge Dinge nötig, daß die 35 Kronen nur so flogen, und zu einem Kleide reichte der Rest nicht.

Als ich einmal gerade beschäftigt war, die Kinder zu Bett zu bringen, kam der Hausherr herein, trat, nachdem er mit jedem der Knaben einige Worte gewechselt hatte, auf mich zu und fragte, während er mit seiner Hand über meine Bluse strich: »Ist denn das nicht zu kalt?« Die Worte waren ganz einfach und auch berechtigt, denn es war kalt, und die Bluse war dünn. Auch die Bewegung seiner Hand, wie er über die Bluse strich, war nicht weiter auffällig. Doch der Blick, mit dem er mich ansah, erinnerte mich an ein rohes Wort, wie ich es früher so oft gehört hatte. Ich verneinte seine Frage. Als er aber seine Hand wieder ausstrecken wollte, da trat ich rasch zurück.

Der Herr kam nun immer etwas früher nach Hause und hielt sich stets im Kinderzimmer auf; er sprach mit den Knaben, dabei aber wanderten seine Blicke fortwährend zu mir, und ich empfand jeden dieser Blicke als eine neue Beleidigung. Eines Nachmittags, als die Kinder in der Schule waren, auch die Dame ausgegangen war, und ich mit dem Ausbessern einiger Sachen am Tische saß, ging plötzlich die Tür auf, und der Herr trat herein. Ich neigte meinen Kopf zum Gruße und sah ihn etwas erstaunt an, weil er am Tage nie zu kommen pflegte. Nachdem er die Tür sorgfältig geschlossen hatte, trat er näher und lehnte sich an den Tisch. Ich hatte meine Arbeit wieder aufgenommen, doch meine Finger zitterten. Er sprach nichts. Das Schweigen war mir unerträglich.

»Warum,« sagte er endlich, »sehen Sie mich denn nicht an?«

»Weil die Kinder die Sachen hier brauchen,« erwiderte ich und senkte den Kopf noch tiefer.

»Ganz richtig, aber wenn ich mit Ihnen sprechen will, erwarte ich, daß Sie etwas Zeit haben.«

Ich nahm an, daß ich sehr unhöflich gewesen, da er doch der Herr des Hauses war. Ich stand auf und blickte demütig zu ihm empor.

»Sie müssen wissen,« sagte er langsam und jedes Wort in einer seltsamen Weise betonend, »daß ich es sehr gut mit Ihnen meine, daß ich z. B. zu manchem Opfer bereit wäre, wenn Sie es anerkennen möchten.«

Ich öffnete den Mund zu irgendeiner ungeschickten Entgegnung, doch winkte er mit der Hand, ruhig zu sein und fuhr fort: »Sie wissen selbst am besten, daß Sie sich in etwas bedrängten Verhältnissen befinden. – Ich würde nun alles tun, um Ihnen zu helfen. So bin ich gern bereit, Ihnen einen größeren Vorschuß zu geben, von dem Sie meiner Frau gegenüber ja nichts zu erwähnen brauchen.«

Während der letzten Worte hatte er ein Päckchen Banknoten aus der Tasche gezogen und legte es auf den Tisch.

Nun aber verließ mich alle Klugheit, und mich überkam eine maßlose Wut: »Nehmen Sie das Geld fort,« schrie ich, »sonst zerreiße ich es;« und da er es nicht sofort nahm, warf ich es ihm vor die Füße. Er bückte sich und hob es auf, aber der Blick, mit dem er mich nun ansah, war ein drohender.

»Ich werde,« sagte er, »noch heute mit meiner Frau sprechen, daß sie eine Dame ins Haus bringt und kein Dienstmädchen.«

Dann ging er hinaus.

Ich beschloß, die Stelle sofort zu kündigen, und konnte den Abend kaum erwarten, wo die Dame nach Hause kommen würde. Doch noch ehe dies geschah, erhielt ich einen Brief von zu Hause, der jämmerliche Nachrichten über die dortigen Verhältnisse enthielt. Der Schluß sprach die schüchterne Bitte aus, eine, wenn auch nur ganz kleine Summe Geld zu schicken, um die notwendigsten Ausgaben bestreiten zu können. Ich hatte mein Gehalt vor einigen Tagen erhalten und fast nichts davon ausgegeben; ich nahm nun alles, was ich besaß, und lief damit zu einem Postamt. Erst nachdem ich die Quittung in der Hand hielt, atmete ich auf und eilte mit dem Schein nach Hause.

Da es schon spät wurde, legte ich unter den quälendsten Gedanken die Kinder zu Bett, und erst da fiel mir ein, daß ich nun eigentlich keinen Heller Geld hatte und die Stelle ja nicht kündigen konnte, sondern noch wenigstens einen Monat warten mußte, um genug Geld zur Heimreise zu haben, denn von einer anderen Stelle in Budapest wollte ich nichts mehr wissen. Ich hatte in der kurzen Zeit so viel Demütigungen und so viel Heimweh erlitten, daß ich in dieser Stadt nicht mehr bleiben wollte. Mir fielen dann auch wieder die Worte ein, die der entsetzliche Mensch mir gesagt hatte. Der Gedanke, daß man mich fortschicken werde, ließ mich jedoch kalt. Wenn man mich wegsendet, so ist das etwas ganz anderes, als wenn ich selbst das Dach über meinem Kopfe abbreche.

Als es gegen acht Uhr ging, kam die Dame und ihr Mann zu gleicher Zeit zurück. Sie kam in Hut und Schleier in das Kinderzimmer und fragte mich, ob die Jungen artig waren. Ich bejahte es, worauf sie wieder ging. Ich hatte mein Abendbrot immer im Kinderzimmer, konnte aber das Klirren der Messer und Gabeln im Eßzimmer, das nur einige Schritte entfernt lag, deutlich hören. Diesen Abend horchte ich gespannt auf jedes Geräusch, das mir hätte verraten können, ob man von mir sprach. Doch sehr bald beruhigte ich mich. Die Dame lachte sehr oft und erzählte etwas mit lauter Stimme, aber von mir sprach man nicht.

Am nächsten Morgen war die Frau zu mir freundlich wie immer, und ich war nun sicher, daß ihr Mann nichts gesagt hatte. Nachdem ich die Knaben in die Schule gebracht hatte und eben beschäftigt war, der Kleinen Betten zu machen, kam die Köchin herein mit einem Paar Schuhe in den Händen. Ich hatte nun schon etwas Ungarisch gelernt und konnte mich dem Mädchen ganz gut verständlich machen. Die Köchin hielt die Schuhe hoch, und ich sah, daß es meine eigenen waren, die ich vor einigen Tagen zum Ausbessern gegeben hatte. Sie sagte, daß der Mann draußen warte, und nannte den Preis, der für das Ausbessern zu bezahlen war. Mit einem jähen Schrecken erinnerte ich mich wieder, daß ich alles Geld fortgesandt hatte und nun nichts besaß, um die Schuhe bezahlen zu können. Nach einigem Sinnen sagte ich der Köchin, daß der Bote die Schuhe wieder mitnehmen müsse.

»Aber,« frug sie, auf meine Füße sehend, die in Schuhen staken, die sicher nicht neu aussahen, »brauchen Sie sie denn nicht?«

»Ja, das wohl, aber was soll ich tun? Wenn die Dame zu Hause wäre, könnte ich sie um Geld bitten.«

»Das ist nur eine Kleinigkeit,« sagte die Köchin, »ich leihe Ihnen das Geld sehr gern.«

Da ich die Schuhe dringend brauchte, war ich sehr glücklich über ihr Anerbieten. »Ich danke Ihnen herzlich, Sie werden Ihr Geld schon abends wieder bekommen.«

»Das ist nicht nötig, die Dame hat es nicht gern, wenn man sie um einen Vorschuß bittet. Das hat Zeit, bis Ihr Monat zu Ende ist.«

Am Abend, als die Dame zurückkam, bat ich sie nicht um Geld, wie ich mir vorgenommen hatte. Außer der Bemerkung der Köchin hatte ich noch einen andern Grund, es nicht zu tun; ich schämte mich nämlich, zu sagen, daß ich mein Geld nach Hause gesandt hatte.

Im Laufe des Monats tat ich nun etwas, das ich noch heute bereue und wahrscheinlich immer bereuen werde. Ich borgte noch mehr Geld von der Köchin. Es waren sicher nur Kleinigkeiten, um die ich sie bat, doch wenn ich sagte, sie solle mir 10 Kreuzer leihen, so gab sie mir 10 Kronen, und ich hatte am Abend nichts mehr davon. In dieser Weise schuldete ich ihr, noch ehe der halbe Monat vorüber war, 25 Kronen, eine Schuld, rechnete ich, die mir noch immer 10 Kronen übrig lassen wird. Doch noch ehe der Monat zu Ende war, geschah etwas, das alles anders gestaltete.

Die Dame hatte ungefähr vierzig Personen zu einem Nachtessen eingeladen. Es wurde den ganzen Tag gekocht und vorbereitet, und der Abend war ungemein großartig. Selbstverständlich war ich von der vornehmen Versammlung ausgeschlossen und saß, wie gewöhnlich, im Kinderzimmer. Ich saß auf einem niedrigen Stuhl und las. Auf einmal hörte ich vorsichtige Fußtritte, und als ich aufblickte, stand der Herr des Hauses vor mir. Ohne ein einziges Wort zu sprechen, bog er sich nieder, nahm meinen Kopf in seine beiden Hände, hielt ihn wie in einem Schraubstock und küßte mich; dann ließ er mich hastig los, und leise, wie er gekommen war, ging er hinaus. Mit einem dumpfen Laut sank mein Buch auf den Teppich, und ich saß eine Weile regungslos. Am ganzen Körper zitternd, stand ich endlich auf und schritt zur Waschschüssel. Ich nahm eine Bürste und rieb mein Gesicht so lange, bis die Haut sprang und Blutstropfen hervorkamen; dann warf ich mich angekleidet auf mein Bett und blieb dort, ohne mich zu rühren, lange bis nach Mitternacht. Was ich in diesen Stunden empfand, war kein Zorn, kein Haß, es war ein namenloser Schmerz.

Am Morgen erwachte ich wie betäubt, und mechanisch verrichtete ich meine Arbeit. Auf dem Wege zur Schule überlegte ich mir, wie ich es nur anstellen sollte, um dieses Haus sofort verlassen zu können. Ich gedachte der 25 Kronen, die ich der Köchin schuldete, und der schauderhaften Tatsache, daß mein Gehalt erst in zwei Wochen fällig war. Würde ich sogleich kündigen, so reichte das Geld nicht einmal hin, um die Schuld bei der Köchin zu decken. Wo sollte ich denn noch alles Nötige für meine Heimreise hernehmen? Bei dem Gedanken an diese befiel mich eine heiße Scham. Ich hatte mir vorgestellt gehabt, daß ich in schönen Kleidern und vielen feinen Sachen einmal zu Hause ankommen werde, und statt dessen war ich um nichts besser daran als um die Zeit, da ich wegging. Doch darüber beruhigte ich mich bald. Zum Schluß wurde mir mein Aussehen ganz gleichgültig. Ich wünschte nur genug Geld zu haben, um die Köchin bezahlen zu können und die Reise nach Wien zu ermöglichen. – Vielleicht konnte mir mein Bruder von Wien aushelfen. Doch wie ich auch rechnete, es blieb kein anderer Ausweg, als das Fehlende zu verdienen, und das hieß: noch zwei weitere Wochen in der unerträglichen Umgebung bleiben.

Innerlich fast verzweifelnd, doch äußerlich ruhig sagte ich eine Stunde später meiner Dame »Guten Morgen«, und sie gab mir den Gruß gähnend zurück. »Ich habe mich gestern köstlich unterhalten,« sagte sie, »doch heute bin ich todmüde.«

Als ich einmal während des Morgens in die Küche ging, um einen Krug Wasser zu füllen, sah ich die beiden Mädchen zusammenstehen und leise miteinander flüstern. Als sie mich erblickten, schwiegen sie rasch und warfen hämische Blicke auf mich. Ich füllte den Krug und ging wieder ins Zimmer zurück, doch das beklemmende Gefühl konnte ich nicht loswerden.

Als ich dann gegen Abend die Kinder aus der Schule brachte, sagte mir die Köchin, daß die Dame mich sofort zu sprechen wünsche. Ich wollte den Kindern erst die Mäntel ausziehen, doch sie riß mir den Arm des Jüngsten, mit dem ich angefangen hatte, aus der Hand und sagte, ich müsse sofort hineingehen. Etwas geärgert und erstaunt, tat ich, wie sie mir gesagt hatte, und da das Zimmer offen war, schritt ich ohne anzuklopfen hinein. Die Dame stand in der Mitte des Zimmers, als ob sie mich schon erwartete, und ihre dunklen Augen blitzten mir zornig entgegen. »Muß ich es,« rief sie mir zu, ohne meinen Gruß zu erwidern, »von den Dienstmädchen erfahren, welche Kreatur ich in mein Haus aufgenommen habe? Hinaus!« schrie sie dann in einer schrecklichen Wut. »Und verpesten Sie die Luft nicht mehr, als Sie es schon getan haben. Wenn Sie in zehn Minuten nicht fertig sind, lasse ich Sie die Treppe hinunterwerfen.«

Ohne ein einziges Wort zu sagen oder zu fragen begab ich mich in das Kinderzimmer und packte rasch meine wenigen Sachen in meinen braunen Koffer. Die Kinder sahen ungemein verwirrt aus und hoben mir die Stücke auf, die mir in der Hast und Aufregung aus den Händen fielen. Als ich fast fertig war, hielt ich plötzlich inne und horchte auf; draußen in der Küche war ein furchtbares Geschrei entstanden, und im nächsten Augenblick stürzte die Köchin herein. »Mein Geld,« schrie sie, »wie komme ich jetzt zu meinem Geld?«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte ich. Darauf heulte sie wie ein hungriges Tier und lief wie verrückt im Zimmer auf und ab. Plötzlich aber war sie mäuschenstill, und als ich von meinem Koffer aufblickte, sah ich, daß die Dame im Zimmer stand.

»Was gibt es?« frug sie, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die Köchin gab Erklärungen unter erneutem Geschrei.

»Sie Schwindlerin, Sie Betrügerin,« wandte sich die Dame an mich. »Sie elendes Frauenzimmer.... Und Sie haben neun Monate an meinem Tische gesessen und neun Monate bei meinen Kindern geschlafen? ... Sie Schmutzfleck, Sie ...« Und dann sagte sie ein Wort, das ich nicht wiederholen will. Ich fühlte, wie mir bei den letzten zwei Worten alles Blut aus den Wangen trat, doch ich biß die Zähne zusammen und sprach kein Wort. Ohne mich um die beiden zu kümmern vollendete ich meine Arbeit, und als ich fertig war, wollte ich hinaus.

Die Dame aber vertrat mir den Weg.

»Den Koffer lassen Sie hier,« donnerte sie. »Der Koffer bleibt hier, bis Sie der Köchin ihr Geld gegeben haben.«

»Ich habe Anrecht auf zwei Wochen Gehalt,« sagte ich, »das kann sie ja haben; sobald ich eine Stelle habe, schicke ich den Rest.«

Sie fingen dann untereinander zu beraten an, und die Dame sagte zur Köchin, daß sie mir die zwei Wochen Gehalt lieber auszahlen wolle, damit ich nach Hause fahren könne, denn sie wolle mich in Budapest nicht wissen, und das einzige, was man tun könne, sei, meinen Koffer zurückzubehalten.

Nach diesem Gespräch drehte sie sich zu mir herum und warf mir 17 Kronen auf den Tisch; »machen Sie schnell, daß Sie hinauskommen,« rief sie mit schrecklicher Stimme, »und der Koffer bleibt hier.«

Ich nahm das Geld und sah mich nach den Kindern um, sie waren jedoch nicht mehr im Zimmer. Draußen in der Küche stand das Stubenmädchen, das die ganze Zeit gehorcht hatte. Mit einer höhnischen Verbeugung öffnete sie mir die Tür.

Auf der Straße lief ich dann so schnell ich konnte dem Bahnhof zu und erkundigte mich nach dem nächsten Zug nach Wien. Zwei Stunden später drückte ich mich tief in eine Wagenecke und sah mich scheu um, weil ich glaubte, jemand hätte gerufen: »Sie Schwindlerin, Sie Betrügerin, Sie elendes Frauenzimmer, Sie ...« Ich zitterte am ganzen Körper und schloß die Augen. Trotzdem mir unendlich elend und traurig zumute war, weinte ich diese Nacht keine einzige Träne. Am nächsten Morgen kam ich in Wien an. Ich dachte einen Augenblick daran, meinen Bruder zu besuchen, doch gab ich den Gedanken auf. Würde er nicht nur Spott und Verachtung für mich haben? So fuhr ich weiter nach Langenau.

Es war dunkel, als ich ankam, und ich eilte nach Hause. Die Kinder schliefen schon, doch meine Eltern saßen noch auf; sie sahen erschrocken auf mich, als ich zur Türe hereinkam, und stellten ängstliche Fragen. Ich aber sagte, daß die Familie, wo ich war, gestorben sei. Später ging auch mein Vater zu Bett, und ich befand mich mit meiner Mutter allein. »Wo hast du denn deinen Koffer?« frug sie mich. »Oh,« erwiderte ich mit erheucheltem Gleichmut, »man wird ihn mir schicken.« Es entstand nun eine lange Pause, während der meine Mutter nachdenklich auf mich starrte.

»Ich glaube, du hast kein Glück,« sagte sie endlich.

»Ich glaube auch,« erwiderte ich, und verfolgte mit den Augen eine große schwarze Spinne, die langsam über die Diele kroch.

Ich verblieb nun vorläufig zu Hause, doch wollte ich keinem einzigen Bekannten zu Gesicht kommen und verließ darum die Wohnung nie. Auch in Krems wußte niemand, daß ich zurückgekommen sei, und obgleich ich mich sehr sehnte, meine Lehrerin zu sehen, so konnte ich es doch nicht über mich gewinnen, ihr zu schreiben; sie zu besuchen war ganz unmöglich, da ich ja nichts Anständiges anzuziehen hatte. Meine Mutter frug mich jeden Tag, wann denn mein Koffer kommen würde, und ich sagte jedesmal: »Vielleicht morgen.«

Nach drei Wochen kam der Koffer zu meiner größten Überraschung wirklich an; ich war sehr glücklich, meine Sachen wieder zu haben; doch welchem Umstande ich es zu verdanken hatte, weiß ich noch heute nicht.

Meine erste Sorge war nun, eine neue Stelle zu finden. Die Verhältnisse meiner Eltern waren nicht besser als sie mir geschrieben hatten, und die Miete war immer eine brennende Frage. Doch wo sollte ich eine Stelle suchen? In Langenau? Davon wollte ich nichts wissen; in Krems? Auch davon wollte ich nichts hören; so blieb nur Wien. Ich schrieb meinem Bruder und bat ihn, etwas Passendes für mich zu suchen. Der Brief blieb ohne Antwort. Die Verhältnisse wurden nun immer bedrängter. Da ich nichts verdiente, konnte ich mir auch nichts anschaffen und stand wieder einmal auf dem Punkte, wo mir ein Paar neue Schuhe ein verlockender Gegenstand waren.

Ich hatte schon beschlossen, doch wieder eine Stelle in Krems anzunehmen, als eines Tages der Postbote einen Brief für mich brachte. Ich erkannte sofort die ungarische Marke mit dem schiefstehenden Kreuz und dem ausgespannten Adler. Die Handschrift aber war mir unbekannt. Ich fürchtete, daß man mich vielleicht an die 25 Kronen mahnen würde, und öffnete darum den Brief mit heimlicher Angst. Als ich ihn gelesen hatte, wußte ich nicht, ob ich mich über den Inhalt freuen sollte oder nicht. Der Brief war von Herrn Sandor. Er erwähnte nichts von der früheren Stelle und schrieb, daß er einen sehr guten Posten für mich hätte; es seien nur zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen im Alter von drei bis fünf Jahren in der Familie, und das Gehalt sei dasselbe. Meine Eltern drängten mich sofort, die Stelle anzunehmen, doch hatte ich meine eigenen Gedanken darüber und blieb lange unschlüssig. Am nächsten Tage kam schon wieder ein Schreiben aus derselben Quelle, und Herr Sandor bat mich, umgehend zu antworten. Daraufhin nahm ich alle meine Sachen und unterzog sie einer eingehenden Prüfung. Wenn ich, so rechnete ich dabei, neue Ärmel an diese Bluse nähe, so wäre sie noch ganz gut, und an diesen Rock einen neuen Bund, so könnte er auch noch gehen. Stück für Stück legte ich beiseite und nahm mir vor, mit dem Ausbessern sofort zu beginnen; doch erst setzte ich mich nieder und schrieb an Herrn Sandor, daß ich die Stelle annehmen möchte.

Am Tage vor meiner Abreise trieb es mich hinaus.

Es war spät am Abend, und im Schutze der Dunkelheit besuchte ich alle die Plätze, die ich so gut kannte und noch immer lieb hatte. Ich ging an dem Hause vorbei, das wir nach unserer ersten Übersiedelung bewohnten, und blickte durch das offene Tor. Der Bach floß noch wie früher durch den schmalen Hof, doch in der Ecke, in welcher meine Lilien geblüht hatten, die sich stets so großmütig für mich öffneten und schlossen, stand eine Hundehütte, und ein fremder zottiger Köter fuhr feindselig auf mich los. Traurig ging ich weiter. Der Kirchplatz war noch derselbe; die Kirche in der Mitte stand dunkel und still, und gegenüber lag das Haus meiner früheren Freundin Leopoldine. Die Fenster waren alle erleuchtet und das ganze Gebäude sah stattlich und wohlhabend aus; dann schritt ich die Straße hinunter, noch weiter als zum Hause des Färbers, bis ich beim Kirchhofe anlangte. Ich hatte als Kind vor diesem Orte immer große Scheu gehabt, doch heute fühlte ich mich so müde, daß jedes andere Gefühl dagegen verschwand. Ich lehnte mich an die niedrige Kirchhofsmauer und ließ die Gedanken gehen. Was war mein Leben bisher gewesen? Von Jugend auf verachtet und gemieden und nichts anderes zu eigen als die stillen Gedanken und die noch stilleren Träume. Ja, wenn mein Prinz gekommen wäre ... Der Prinz aus dem Märchenland ... Und als ich so über die Gräber ins Dunkle starrte, da hatte ich eine Vision. Ich sah einen riesengroßen feuerroten Kreis, der alle Menschen umschloß, nur ich war draußen – allein.

Am nächsten Tage begleiteten meine Eltern mich wieder zur Bahn, doch dieses Mal sprach ich fast nichts und schritt beinahe widerwillig neben ihnen; später saß ich im Zuge, aber was ich empfand, war nur Gleichgültigkeit ... Ich wußte nicht, daß mein Schicksal auf mich wartete ...

Dieses Mal holte mich der Stellenvermittler nicht vom Bahnhofe ab. Er schrieb mir, daß ich ja nun Budapest schon kenne und daher meinen Weg leicht finden würde, um so mehr, da das Haus der Familie, der er mich empfohlen hätte, ganz nahe beim Bahnhof sei. Es war auch so. Ich hatte nur eine einzige Straße zu überschreiten und fand schon, was ich suchte. Mir war in der letzten Zeit alles so furchtbar gleichgültig geworden, und ohne eine Spur des üblichen Herzklopfens stieg ich die Treppen hinauf. Oben angelangt, drückte ich auf die Klingel, worauf ein Mädchen erschien, das mich fragte, ob ich die neue Friseurin sei. Ich schrieb diese Frage meinem abgetragenen Kleide, meinen abgestichelten Handschuhen, meinen vertretenen Schuhen zu, verneinte aber ihre Frage mit aller Würde, der ich fähig war, und sagte, ich sei das neue Fräulein. Daraufhin führte sie mich in ein Vorzimmer. Nach einer Weile kam das Mädchen wieder und bat mich, mit ihr zu kommen. Ich folgte ihr in ein Zimmer, das grüne Vorhänge hatte und über dessen Tisch eine grüne Decke lag. Es muß wohl die grüne Decke gewesen sein, die mich plötzlich an den einstigen »Salon« meiner Mutter erinnerte. Ich hatte mich beim Eintritt in das Zimmer stramm aufgerichtet, um so würdevoll als möglich auszusehen. Als jedoch meine Gedanken mich plötzlich in jene entfernte Zeit zurücktrugen, vergaß ich meinen Vorsatz, und meine Schultern sanken etwas nach vorne, in ihre gewohnte Haltung.

»Sind Sie das neue Fräulein?«

Ich wandte meine Augen verwirrt von der Decke, nickte bejahend auf die Frage und blickte dann voll auf den Herrn, der vor mir stand.

»Sie schrieben doch, daß Sie einundzwanzig Jahre alt seien.«

»Das bin ich auch.«

»Sie sehen viel jünger aus.«

Ich sagte, daß ich nichts dafür könne, und darauf lächelten wir beide. Er stellte mir noch einige Fragen, und gleich darauf erschien eine große stattliche Dame, seine Frau. Sie führte mich in das Kinderzimmer, und da es noch früh am Tage war, traf ich die Kleinen im Hemdchen an, worin sie so herzig aussahen, daß ich sie sofort lieb hatte ... Mein Leben wurde nun wieder so ziemlich dasselbe, wie auf meiner früheren Stelle. Ich beschäftigte mich ausschließlich mit den Kindern, spielte mit ihnen, führte sie spazieren und später auch zur Schule. Unsere Spaziergänge machten wir gewöhnlich der Donau entlang, die in Budapest so breit und prächtig wallt, und mit den großartigen Gebäuden am jenseitigen Ufer, hauptsächlich der Königsburg, einen ungemein vornehmen Eindruck macht. Bei schlechtem Wetter schickte ich die Kinder auf den Gang, der auf derselben Höhe wie die Wohnung um den ganzen Hof herumlief und seiner Glattheit wegen einen unvergleichlichen Ort für jenes Spielzeug bot, das die Pflicht hat, von selbst zu laufen, wie Eisenbahnen, Automobile und dergleichen.

Eines Nachmittags hatte ich die Kleinen wieder hinausgeschickt und versprochen, bald nachzukommen. Als ich ihnen aber in wenigen Minuten folgte, konnte ich sie nirgends erblicken. Da rief ich ihre Namen, und sie antworteten sofort, doch wußte ich noch immer nicht, wo sie eigentlich steckten.

»Wo seid ihr?«

»Hier!« ertönte es, und dabei öffnete sich eine gegenüberliegende Tür, der ich bis jetzt keine Beachtung geschenkt hatte, und mein kleines Mädchen steckte seinen süßen dunklen Kopf heraus. »Hier,« wiederholte sie, »kommen Sie herein, bitte.« Ich kannte zwar die Leute nicht, die dort wohnten, da ich aber annahm, daß es Freunde der Familie seien, schritt ich hinein.

In dem Zimmer, in das die Kleine mich geführt hatte, befand sich ein vielleicht dreißigjähriger Mann, der anscheinend allein zu Hause war und die Kinder mit Marken, Bildern und anderen Dingen unterhielt. Er grüßte mich in geläufigem Deutsch und mit einer Höflichkeit, wie noch nie jemand mich begrüßt hatte; ich bezwang meine anfängliche Verlegenheit und setzte mich auf seine Aufforderung.

Die beiden Kinder hatten sich in eine Unterhaltung über den möglichen Wert einer ausländischen Marke vertieft, und so wandte der Inhaber des Zimmers sich mir im Gespräche zu. Erst banal, alltäglich, mit einer feinen Ironie in seiner Stimme; dann durch einige meiner Bemerkungen plötzlich interessiert, forschend und ernst. Wir kamen auf ein Gebiet, von dem ich heute noch nicht weiß, wie wir uns dahin verstiegen hatten. Elegant in dem Sessel zurückgelehnt, eine Zigarre im Munde und den Kopf nach hinten, frug er: »Und was glauben Sie, das größer ist: der Rausch oder die Reue; ist der Rausch die Reue wert?« Ich begriff die Frage nur halb und sagte, ich wüßte das nicht. Dann erzählte ich ihm von meinen Gedichten, und er horchte auf und lächelte das feine ironische Lächeln, das ich damals auch nicht begriff. Als ich mich bei ihm mit den Kindern verabschiedete, frug er mich, welche Bücher ich lese.

»Keine.«

Über diese Antwort schien er erstaunt zu sein.

»Darf ich Ihnen aus der Bibliothek welche besorgen?«

Ich fand sein Anerbieten sehr liebenswürdig und sagte, es würde mich sicher freuen. Einige Tage später übergab mir der Hausbesorger ein Paket mit Büchern. Auf dem obersten lag ein kleiner Zettel.

»Ich habe die Bücher in aller Eile gewählt, hoffe aber, die Wahl zu Ihrer Zufriedenheit getroffen zu haben.« Nichts weiter, nicht einmal eine Unterschrift. Sobald ich Zeit hatte, schlug ich eines der Bücher auf. Es war ein Bändchen Erzählungen von Jakobsen. »Morgan« hieß eine der Geschichten. Ich las sie vom Anfang bis zum Ende. Ein Mann, ein Träumer, der heute ein Mädchen leidenschaftlich liebt und sie morgen wieder vergißt. Und um diesen Menschen Bilder von seltsamer Farbe und funkelndem Licht. Das Buch gefiel mir, aber eigentlich verstand ich es nicht. »Haben Sie schon aus den Büchern gelesen?« frug mich mein neuer Bekannter, sobald er mich traf. Ich bejahte es.

»Auch die kleine Geschichte Morgan?«

»Ja.«

»Gefiel sie Ihnen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Eine der schönsten Stellen ist die, wo er mit seiner jungen Frau durch die wogenden Kornfelder geht.«

»Ja, aber ich glaube, er muß ein schrecklicher Mensch gewesen sein.«

»Warum das?«

»So unruhig, so launenhaft, so unbeständig.«

Nach diesen Worten traf mich ein flammender Blick, dann zog er den weichen Hut tief über die Stirne und lächelte. –

Wir trafen uns nun fast jeden Tag, gewöhnlich am Morgen, wenn ich die Kinder zur Schule führte und er in die Bank mußte. Eine kleine Strecke fuhren wir zusammen, dann mußte ich mit den Kindern aussteigen, und er fuhr weiter. In diesen flüchtigen Minuten führten wir sprunghafte Unterhaltungen. An irgendeinen Zufall, einen Gedanken oder eines meiner Gedichte anknüpfend, sprachen wir scheinbar objektiv, bis wir plötzlich stockten, weil jedes meinte, es habe etwas verraten. Nach und nach fing ich an, an ihn zu denken, auch wenn ich ihn nicht sah. Mitten aus all den sehnsüchtigen, unverständigen Träumen, die ich von jeher geträumt hatte, hob sich sein Bild wie eine lodernde Frage. – Und etwas, das die ganze Zeit dumpf und leblos in mir gelegen hatte, dehnte sich, richtete sich auf und lächelte wie ein Genesender. Einmal hatte ich ihn zwei Tage nicht gesehen, und weil mein Herz voll war von einer wundersamen Sehnsucht, schrieb ich ihm einen Brief. Nicht daß ich ihn zu sehen wünschte oder ähnliches. Nein, Gedanken, die mir reich wie ein Regen in die Seele fielen und mit denen ich nicht wußte, was zu tun – Bilder, die ich schön und seltsam fand und mit ihm teilen wollte. Den nächsten Tag zitterte ich vor Ungeduld, ihn zu sehen. Doch ich sah ihn nicht. Den nächsten Tag auch nicht, den nächsten auch nicht. Am vierten Tage endlich ... Mein erster Impuls war, ihm entgegen zu stürzen, doch dann hielt mich das süße Zagen, das mich nun schon lange immer in seiner Nähe überfiel. Es schien erst, als ob er an mir vorüber wollte, ohne mich zu bemerken, doch dann zögerte er, blieb stehen und grüßte. Ich konnte sein zurückhaltendes Benehmen nicht verstehen und fühlte einen brennenden Schmerz. »Warum?« frug ich, »warum sehe ich Sie so selten?« Er atmete tief und sah an mir vorbei.

»Weil es unklug wäre, wenn wir uns öfter träfen.«

»Warum?«

Er antwortete wieder nicht gleich. »Es gibt,« sagte er endlich, »Wölfe, die im Schafspelze herumlaufen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Ich will Sie warnen.«

»Vor wem?«

»Vor einem Wolf, der im Schafspelze herumläuft und dem Sie Ihr Vertrauen schenken.«

»Wen meinen Sie?«

»Mich.«

Der Sinn seiner Worte dämmerte endlich in mir, doch einer tiefen, sicheren Glückseligkeit voll, schüttelte ich den Kopf.

»Sie sind kein Wolf im Schafspelz.«

Er atmete wieder, wie er es im Anfang getan hatte, und blickte geradeaus.

»Ich bin einer, ein grausamer, herzloser Wolf, einer, der ein Lamm unbarmherzig verschlingen würde, wenn es ihm ohne Hund und Hirte in den Weg käme.«

Ich sah in sein Gesicht, das mir auf einmal hager und verlebt erschien, und da wurde ich still und traurig. Das, was er da eben gesagt hatte, klang nicht nach Heimat und Glück. Wie ein Abgrund tat es sich plötzlich vor mir auf, und das helle Jauchzen, das wie eine Verheißung noch kurz vorher durch jede Falte meiner Seele stürmte, verstummte mit schrillem Klang. Doch schon im nächsten Augenblicke erhob es sich wieder. Erst ein feines Zittern, dann ein leises Trillern, dem ich nicht wehren konnte und auch nicht wehren wollte. Etwas in mir weinte, aber das, was gejubelt hatte, jubelte noch. –

»Haben Sie meinen Brief erhalten?« frug ich ihn nach einer langen Pause.

»Ja, und ich danke Ihnen dafür.«

»Darf ich Ihnen wieder schreiben und meine Gedichte mitsenden?«

Er blickte lange ins Weite und zögerte mit der Antwort.

»Darf ich?« frug ich noch einmal.

»Ja!« Er sagte es kurz und zögernd, als ob er fürchte, es zu bereuen.

»Und Sie werden mir zurückschreiben?«

Er zögerte wieder und länger als zuvor.

»Ich glaube nicht – das heißt, vielleicht manches Mal, aber nie sehr viel.«

»Nur manches Mal und nie sehr viel?«

»Ja, und das auch nur unter einer Bedingung.«

»Unter welcher Bedingung?«

»Das niemand von unserem Briefwechsel erfährt.«

»Warum?«

»Weil es Ihretwegen besser ist.«

»Warum meinetwegen?«

Und ehe er antworten konnte, flammte ein plötzlicher Groll in mir auf.

»Sie sind feige.«

Darauf zuckte er mit den Achseln.

»Wenn es Ihnen Freude macht, das zu denken, will ich Sie nicht daran hindern, doch dürfte eine kleine Aufklärung am Platze sein. – Es ist nicht meinetwegen, sondern Ihretwegen. Ein unverheirateter Mann kann tun, was er will. Er kann einem Mädchen den Hof machen, ihm den Kopf verdrehen, und niemand wird es einfallen, ihn darum zu tadeln. Die allgemeine Auffassung, die aber in bezug auf ein Mädchen herrscht, kennen Sie ja.«

»Ich kümmere mich nicht um die Leute.«

»Das glaube ich, aber die Leute kümmern sich um Sie.«

»Aber ich mache mir nichts daraus.«

»Aber ich.«

»Also doch Ihretwegen.«

»Nein Ihretwegen.«

Er war stehen geblieben und sah mich hart und entschieden an. Ich kam mir plötzlich so elend und erbärmlich vor, daß ich mich vor mir selbst schämte. Was sollte das eigentlich heißen? Da vor mir stand ein Mann, den ich bat und bettelte, ihm schreiben zu dürfen, und der mir erklärte, er würde es gnädig erlauben, wenn ich auf von ihm gestellte Bedingungen einginge. Ein bitterer Zorn überkam mich. Würde er es wagen, so zu einem andern Mädchen zu sprechen? Zu der Tochter eines Vorgesetzten oder eines Bekannten? Würde er sich da auch einer Bekanntschaft schämen? Denn nichts anderes konnte es sein, als daß er sich meiner schämte. Meiner armseligen Kleidung, meiner armseligen Stellung. Eine Vision von Mädchen in reicher, vornehmer Kleidung zog blitzschnell an mir vorbei, und es wallte wie Neid in mir empor. Hatte er nicht recht? Was war ich denn? Was waren meine Eltern? Arm – bitterlich arm.

»Gehen Sie,« sagte ich gequält, »ich will Ihnen nicht mehr schreiben.«

»Das können Sie nicht.«

Meine Traurigkeit wandelte sich wieder in Zorn.

»Warum kann ich das nicht?«

»Weil Sie mich brauchen.«

Seine Augen hatten den harten Ausdruck verloren, sie blickten ruhig, doch bestimmt, und von diesem Blicke ging eine Herrschaft aus, die bis jetzt kein Mensch imstande war, auf mich auszuüben; und weil sich dagegen alles, was frei und stolz und stark in mir war, auflehnen wollte, sagte ich: »Ich hasse Sie.« Dann drehte ich ihm den Rücken und lief davon. Später, als es dunkel wurde und die Kinder schliefen, setzte ich mich an das offene Fenster und blickte auf die Straße hinab, in der die Gaslaternen flammten und unzählige Menschen hin und her wogten, so verschieden in Aussehen und Gebaren und doch alle einander so ähnlich durch den gemeinsamen Trieb nach Zerstreuung und Vergnügen. Ihre Augen leuchteten, ihre Wangen glühten. Sie strömten dem Lustspieltheater zu, das ganz in der Nähe lag; wie ein feiner elektrischer Strom schlug ihre Hast und Erwartung zu mir empor. Mit einem leisen Schauder fühlte ich diese fremde, rätselhafte Gewalt, und plötzlich war es mir, als ob ein riesengroßes Ungeheuer, mit höhnischem Munde und boshaften Augen, den Knäuel von Menschen, Pferden und Kutschen mit lautem Gelächter und Fußtritten vor sich herrollte. Um das Bild los zu werden schloß ich die Augen und dachte nach Hause. Ich stellte mir die Kinder vor, wie sie zu zweien in den Betten lagen, und sah meine Mutter, angetan mit einem abgeflickten Kleidungsstücke, beim Tisch sitzen. Ich spürte förmlich den Geruch der kleinen Petroleumlampe und sah die rotgeränderte Flamme hinter dem verbogenen Schirme zucken.

Dann wieder sah ich mich selbst unter der Kinderschar, mit dem unzufriedenen Gemüt und dem unbestimmten Drang nach irgend etwas ganz, ganz anderem; mit der großen Sehnsucht nach einem Menschen, dem ich all die Dinge erzählen konnte, die ich beständig dachte und über die, hätte ich sie verraten, mein Vater verständnislos den Kopf geschüttelt und meine Mutter gequält gelächelt hätte. – Und plötzlich befand ich mich wieder im Banne jener Augen, die mich heute so ernst, so bestimmt angesehen hatten ...

»Weil Sie mich brauchen,« hörte ich ihn wieder sagen, und die Worte, die am Nachmittag so brutal, fast höhnisch klangen, tönten jetzt so weich und beruhigend, tönten so zuversichtlich, daß ich unwillkürlich die Arme ausstreckte, wie mich daran zu klammern.

Ich hatte ihm geschrieben und dem Briefe die letzten meiner Gedichte beigelegt. Daraufhin sandte er mir ein paar Zeilen, die den Wunsch enthielten, mich allein sprechen zu können. Ich hatte ihn bis jetzt immer nur in der Gesellschaft der Kinder getroffen, und der Gedanke, ihn einmal ganz allein und ungestört sprechen zu dürfen, ließ mich in einer eigentümlichen Weise erbeben.

Unter einem sehr dummen Vorwand machte ich mich am folgenden Tage eine Stunde frei und traf pünktlich ein. Sein Gruß war außerordentlich höflich, sein Gesicht außerordentlich ernst. »Ich habe,« sagte er, »nur eine Viertelstunde Zeit und will darum sofort mit dem beginnen, worüber ich mit Ihnen sprechen will.« Die Bemerkung, daß er nur eine Viertelstunde, während ich eine Stunde Zeit hatte, ärgerte mich, und so antwortete ich kaum auf seine Einleitung. Er schien aber meinen Unmut nicht zu bemerken und fuhr fort: »Ich danke Ihnen zuerst für den Brief sowie für die Gedichte; doch ist es der Gedichte halber, daß ich Sie sprechen wollte. Schon aus den früheren Gedichten habe ich ersehen, daß Sie ein großes schönes Talent besitzen. Aber so herrlich auch die Gedanken sein mögen, welche Sie darin aussprechen, so schlecht ist die Form, in die Sie sie kleiden. – Hier« – er zog meinen Brief aus seiner Brusttasche – »können Sie genau sehen, was ich meine.«

Ich starrte verwirrt auf das Blatt Papier, das er mir entgegenhielt, konnte aber nichts sehen und bat ihn um weitere Erklärung. Darauf lächelte er, doch nicht das spöttische Lächeln, und sagte:

»Den Gedichten fehlt jede Form.«

»Form?« frug ich erstaunt und verletzt, »was sollen sie denn für eine Form haben?«

»Richtige Form. Wie Sie selbst sehen werden, stimmt das Versmaß nicht.«

Er las dann jede Zeile langsam, und zwischendurch machte er Bemerkungen wie:

»Diese Zeile hat einen Fuß zu wenig, und diese hier hat einen Fuß zuviel ... diese Zeile ist, was Takt anbelangt, viel zu langsam, und diese viel zu schnell. Es müßte ungefähr so heißen ...«

Dann las er das Gedicht noch einmal, ersetzte aber durch irgendein Wort das fehlende, und ließ weg, was er für überflüssig fand. Ich hatte so etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gehört und horchte nun auf jedes Wort, das er sagte, mit größtem Interesse. Nachdem die Viertelstunde und noch einige Minuten darüber um waren, verabschiedeten wir uns, und ich ging, von ganz neuen Gedanken erfüllt, nach Hause. Sobald ich aber Zeit hatte, nahm ich einige meiner Gedichte vor und fand darin dieselben Unebenheiten. Einige Tage später, als ich meinen Freund, ich weiß nicht mehr, zufällig oder nicht zufällig, auf dem Gange traf, überreichte er mir zwei Bücher, ein großes und ein kleines. »Das hier ist eine Grammatik der deutschen Sprache, denn – und nun lächelte er wieder gütig – Sie machen in Ihren Gedichten auch sehr viel grammatikalische Fehler, und das hier ist eine Poetik, die Ihnen deutlicher, als ich es imstande bin, erklären wird, was Sie beim Dichten im Auge zu halten und was Sie zu vermeiden haben.«

Ich dankte ihm für die beiden Bücher. Als ich sie jedoch abends durchblätterte, fand ich die deutsche Grammatik recht langweilig und die Poetik ganz unverständlich. Wenn ich, so sagte ich zu mir, so dichten müßte, wie es in diesen Büchern steht, so würde ich überhaupt nichts dichten können. Ich legte darum die beiden Bücher beiseite und dichtete in meiner alten Weise fort. Dieses Mal verging fast eine Woche, ehe ich ihn wiedersah, und er frug mich sofort, wie mir die Bücher gefielen. Ich schämte mich aber, die Wahrheit zu sagen und antwortete: »Ganz gut.«

»Haben Sie etwas Neues gedichtet?«

Darauf bejahte ich und zeigte ihm meine letzten Gedichte; er las sie aufmerksam durch und gab sie mir dann zurück. »Die Gedanken, die darin enthalten sind, sind ja gut, wie immer, nur schade, daß Sie den beiden Büchern nicht mehr Aufmerksamkeit schenken.«

»Wie wissen Sie das?«

»Das kann ich sehen. Hätten Sie nur etwas Geduld mit ihnen gehabt, so könnten Ihnen solche grobe Fehler, wie sie sich in diesen Gedichten finden, nicht möglich sein.« Ich schämte mich bei dieser Rede noch mehr; doch plötzlich erwachte mein Trotz.

»Die Bücher sind sehr langweilig, und ich werde nichts daraus lernen.«

»Gut,« entgegnete er, »so wollen Sie also immer ein Kindermädchen bleiben?«

Ich senkte den Kopf und ärgerte mich, daß er es wagte, so mit mir zu sprechen. Am Abend nahm ich die Bücher und lernte. Es war besonders die Poetik, mit der ich mich beschäftigte, und sobald ich etwas in das eigentliche Wesen dieser Kunst eingedrungen war, merkte ich bald genug, was meinen Gedichten mangelte. Schon nach einigen Wochen eifrigen Lernens schrieb ich ein neues Gedicht, das mir ein warmes Lob von meinem Freunde einbrachte. Das Gedicht, »Lebenslied« genannt, lautete:

Wenn mich ein tiefer Schmerz beweget
Am goldenen Rocken,
Aus Dunkel und Licht,
Ohn' Säumen und Stocken,
Horch, fühlst du es nicht?
Still sachte und leise
Nach ewiger Weise
Das Schicksal die flimmernden Fäden flicht.
 
Mit ruhigen Zügen
Und offenem Haar
Die Göttinnen fügen,
Nur Himmlischen klar,
Süßholder Gefühle
Liebreizende Spiele
Im menschlichen Busen uns wunderbar.
 
Und wirken und weben,
O, sorget euch nicht!
Noch während wir beben,
Schon knüpfen sie Licht,
Und ziehn uns die Säume
Frohglänzender Träume
Um's tränenbefeuchtete Angesicht.

»Es ist das,« so sprach er, »Ihr erstes Gedicht, und ich gratuliere Ihnen dazu.« Diese Worte machten mich ungemein glücklich und stolz. Mit einer erschreckenden Gewißheit hatte ich begriffen, daß ich in jeder Beziehung weit unter ihm stand, daß ich nichts, nichts in die Wagschale zu werfen hatte, wenn man meine Verhältnisse gegen die seinen wog. Daß ich ein armes unbedeutendes Mädchen war, das nie, nein, in seinen kühnsten Träumen nicht, hätte von ihm träumen dürfen.

Und nun fühlte ich mit einem süßen Zittern, daß dieser elegante Mann mit dem feinen Wesen wie ein fremdländischer Vogel, mit glänzendem Gefieder, durch die stillen Wälder meiner Seele flog – und fortfliegen würde, sobald er sie nimmer still und duftend fand. Und wie ich so in die tiefsten und geheimsten Gedanken lauschte, spürte ich auf einmal eine heiße Angst. – Dieser Fremdling, der da zufällig, wie im Vorüberwandern zu mir kam, durfte nicht wieder fort. Nein, nie wieder. Aller Glanz, alle Wärme, alle Lieder würden mit ihm gehen. Diese uneingestandene köstliche Erwartung, die mir ihr Märchen wie mit Silberglocken in die Seele läutete – diese neue wundersame Zagheit, die mir so oft den Fuß zum Stocken und das Herz zum Zittern brachte – dieses rasche, süße Aufquellen einer unergründlichen Glückseligkeit, das alles würde mit ihm gehen. – Und dann wachte etwas in mir auf, das sich gegen diese Angst bäumte, etwas, das wuchs und wuchs, bis es alles andere überragte: ein neues Bewußtsein, gepaart mit einer neuen Stärke, und so nahm ich den Kampf auf, den jedes Mädchen wenigstens einmal kämpft und der schwerer ist als alle Kämpfe, die je von Heereszügen ausgefochten wurden.

Aber so tief und leidenschaftlich dieser Kampf innerlich auch gewesen sein mag, so wenig offenbarte er sich nach außen. Wir trafen uns zwar fast jeden Tag, doch selten allein; und verabredeten wir auch hie und da eine Zusammenkunft, hatten wir nie mehr als eine halbe Stunde zur Verfügung. Er hatte sich nach und nach völlig verändert. Das spöttische Wesen, das er im Anfange unserer Bekanntschaft immer zur Schau getragen hatte, war verschwunden, und an seiner Stelle erschien ein nachdenklicher Ernst. Was mich anbelangt, so machte mich seine Ruhe und Höflichkeit scheu und schroff, weil ich fürchtete, Empfindungen preiszugeben, die vielleicht gar nicht erwidert wurden. Denn wie und was er über mich dachte, konnte ich nie begreifen. Er war immer so gut, so besorgt, dabei so unbarmherzig streng, fast brutal, wenn sich mein Eigensinn gegen seinen Willen auflehnte.

Einmal befand ich mich mit den Kindern am Gang, und meine Dame war ebenfalls herausgekommen. Ich saß mit einer Näharbeit beschäftigt, und trotzdem ich nicht aufblickte, fühlte ich plötzlich, daß noch jemand da war. Gleich darauf hörte ich eine Stimme, die ich kannte, und mein Herz begann stärker zu klopfen. Ich hatte gedacht, daß er zu mir herantreten und mich grüßen würde. Er tat das aber nicht, sondern unterhielt sich mit meiner Dame. Alles Blut drängte sich mir langsam ins Gesicht. »Der Feigling,« schrie es in mir, »er wagt es nicht einmal, mich zu grüßen.« Ich zitterte vor Scham und Empörung, und nichts in der Welt hätte mich bewegen können, die Augen aufzuschlagen. Die Unterhaltung, die sie führten, war kurz und nichtssagend; nach einigen Minuten verabschiedete er sich mit höflichen Worten von meiner Dame, mit ein paar Scherzworten von den Kindern, dann flog eine Tür ins Schloß und ich wußte, daß er fort war. Ich hätte weinen mögen, vor Wut und Traurigkeit. Das also war mein Freund. – Sobald ich die Kinder zu Bette gebracht hatte, schrieb ich ihm einen Brief, worin ich ihn bat, mir sämtliche Briefe und Gedichte, die er von mir erhalten hatte, zurückzusenden, da ich unsere Freundschaft, die, wie ich erst jetzt herausgefunden, nie eine Freundschaft war, aufgehoben wünschte. Ich dachte, daß er meinem Wunsche sofort nachkommen würde, und war erstaunt, nichts von ihm zu hören. Ein Tag verging nach dem andern, und endlich, nach einer Woche, übergab mir der Hausbesorger einen Brief, besser gesagt, einen Zettel: »Ich möchte Sie allein sprechen, bitte, bestimmen Sie Zeit und Ort.« Erst nahm ich mir vor, nichts zu erwidern. Zwei Tage hielt ich es aus, dann schrieb ich ihm, »wo und wann«.

»Was soll das bedeuten,« frug er, mein letztes Schreiben hervorziehend. Darauf brach ich in bittere Vorwürfe aus. Er unterbrach mich mit keiner Silbe, und ich sprach, bis ich nichts mehr zu sagen wußte. »Sie sind ein Kind,« sagte er dann, und dabei sah er mich halb belustigt, halb traurig an. Seine anscheinende Gleichgültigkeit aber ärgerte mich. »Bitte,« sagte ich würdevoll, »wann werde ich meine Briefe wieder haben?«

Seine Augen flammten plötzlich und seine Lippen preßten sich aufeinander:

»Niemals.«

»Aber es sind meine Briefe.«

»Sie täuschen sich, die Briefe gehören mir.«

Er war stehengeblieben und in seinen Zügen war der tiefe Ernst und die Entschlossenheit, die ich so gut kannte. Da brach aller Zorn in mir zusammen, und halb weinend schmiegte ich mich an ihn. Eine Sekunde lang ließ er mich gewähren, dann richtete er sich straff auf und zog seine Uhr.

»Es ist Zeit, daß Sie gehen.«

Er sprach kühl und höflich wie immer, der Blick aber, mit dem er mich ansah, war ein wunderbarer Blick, und voll von einem neuen Wunder, gemischt mit einem herben Weh, schritt ich halb betäubt nach Hause. –

Später lernte ich auch seine Mutter kennen. Sie war eine so feine, vornehme Frau, daß ich sie lieb gehabt hätte, auch wenn sie nicht seine Mutter gewesen wäre. So oft sie mich traf, plauderte sie in liebenswürdiger Weise mit mir. Einmal sagte sie, daß ihr ein schönes Buch in die Hände gefallen wäre, ob ich es mir holen möchte. Recht schüchtern, aber auch recht entschlossen, drückte ich an einem der nächsten Tage die Klingel, worauf mich das Stubenmädchen in den Salon führte. Die Zusammenstellung der Möbel und sonstiger Dinge war ebenso geschmackvoll als elegant, und unwillkürlich dachte ich an unsere Wohnung zu Hause, an das eine Zimmer, in dem sie alle zusammen aßen, schliefen und sich quälten. Der Eintritt meiner Gönnerin entriß mich den düsteren Gedanken. Sie stellte mir einige freundliche, unaufdringliche Fragen, und bald kamen wir ins Plaudern.

»Eigentlich schäme ich mich,« sagte sie, während sie ein Schubfach aufzog und vergilbte Blätter herausnahm, »aber ich kann mir nicht helfen. Hier sind noch eine Menge Dinge aus meiner Mädchenzeit, die ich mich nicht entschließen kann, fortzuwerfen.« Dann zeigte sie mir Gedichte, die sie einmal ausgeschnitten hatte, Blumen die sie getrocknet hatte, und vieles andere, worüber sie mit leisem zärtlichen Drucke ihrer weißen Finger strich. Ganz zum Schlusse überreichte sie mir das Buch, weswegen ich gekommen war, ein Bändchen Gedichte von »Mirza-Schaffy«.

Es blieb nicht bei dem einen Besuche. Noch oft war ich in dem trauten Zimmer mit den schwarzen Möbeln, und wenn sie mir so gegenüber saß, die Augen mit einem eigenartigen, fragenden Ausdruck auf mich gerichtet, hätte ich am liebsten meinen Kopf in die dunkle Seide auf ihren Schoß gelegt und ganz leise mein Leid geklagt. –

Eines Tages erhielt ich einen Brief von zu Hause, in dem mir meine Eltern mitteilten, daß es schlechter ginge als je, daß sie dieses Mal den Mietzins nicht aufbringen konnten und ihnen am ersten Januar, das war in einigen Tagen, die Möbel auf die Straße gesetzt werden würden. Dieser Brief versetzte mich in ungeheure Aufregung. Ich hatte in den zwei Jahren, während ich auf meiner Stelle war, öfters größere und kleinere Beträge geschickt, doch gerade jetzt hatte ich kein Geld. Meine Einbildung zeigte mir meine Eltern und Geschwister auf der Straße, und in meiner Verzweiflung weinte ich die ganze Nacht. Am Morgen hatte ich einen Gedanken, über den ich zuerst erschrak und den ich entschieden abwies; aber er kam immer wieder, dringlicher und dringlicher, und als es Zeit war, die Kinder in die Schule zu nehmen, hoffte ich sehnsüchtig, meinen Freund zu treffen. Ich hatte nicht vergebens gehofft, und als ich seiner ansichtig wurde, flog ich auf ihn zu. »Ich muß mit Ihnen sprechen,« sagte ich und zitterte vor Erregung. Er blickte besorgt auf mich.

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«

»Nicht jetzt,« antwortete ich und blickte scheu nach den Kindern.

»Ich muß Sie allein sprechen, kann es Sonntag sein?«

»Wenn es etwas ist, das Ihnen Sorge macht, warum nicht früher?« Diese Worte erleichterten mich ungemein. »Kann es heute sein?« frug ich.

»Gewiß, wann immer Sie wollen.«

Wir bestimmten dann die genaue Stunde und verabschiedeten uns. Kaum aber war er fort, so erschien mir mein Vorhaben unmöglich. Durfte ich ihn denn um Geld bitten? – Die quälendsten Gedanken stürmten auf mich ein, und als die Zeit herannahte, wo ich ihn treffen sollte, war ich fest entschlossen, nicht zu gehen. Ich ging auch nicht. Statt dessen nahm ich den Brief von zu Hause zur Hand und las ihn immer wieder. Er war von meinem Vater geschrieben und eine Stelle lautete: »Du kannst Dir denken, daß die ewigen Sorgen auch die Mutter aufreiben, und sie kränkelte in der letzten Zeit. – Was wir tun sollen, wenn wir auf die Straße gesetzt werden, weiß ich nicht; ins Armenhaus würden sie uns nicht aufnehmen, weil wir nach Langenau nicht zuständig sind.« Ich legte mein Gesicht auf den Tisch und weinte bitterlich. Plötzlich entschloß ich mich, doch zu tun, was ich vorgehabt hatte; die Uhr aber zeigte mir, daß es bereits eine ganze Stunde später war, als wir verabredet hatten, und ich konnte nicht erwarten, ihn noch zu treffen. So gut ich imstande war, verbarg ich meinen Kummer und lag meinen gewohnten Pflichten ob. Am Abend desselben Tages ging meine Dame mit ihrem Manne in das Theater. Nachdem ich die Kinder zu Bett gebracht hatte, erfaßte mich eine solche Angst meiner Mutter wegen, daß ich beschloß, keine Stunde mehr zu zögern. Wie aber sollte ich das anstellen? – Er war ja sicher nicht zu Hause, und wenn er auch zu Hause gewesen wäre, hätte ich doch unmöglich in der Wohnung seiner Eltern nach ihm verlangen können. In der Hoffnung, ihm vielleicht dennoch irgendwo zu begegnen, schlich ich auf den Gang hinaus und bemerkte zu meiner wahnsinnigen Freude, daß Licht in einem kleinen, einen Stock höher gelegenen Zimmer war, wo er oft verschiedene Arbeiten, wie das Anfertigen von Photographien oder Ausbessern von Uhren, zu seinem Vergnügen besorgte ... Fast ohne zu wissen, was ich tat, schritt ich die Stiege hinauf und klopfte leise, so leise, als ob ich gewünscht hätte, daß er mich nicht hören sollte. Er hatte das Klopfen aber gehört und rief »herein«, worauf ich die Türe aufklinkte und zögernd eintrat. Drinnen drückte ich mich fest an die Wand und sagte kein Wort.

Er hatte bei meinem Eintritt seine Arbeit sofort unterbrochen und sah mich fragend an.

»Sprechen Sie,« sagte er endlich.

In fliegender Hast und von Schluchzen unterbrochen, erzählte ich ihm meine Geschichte. Noch während ich berichtete, schoß es mir durch den Sinn, daß er vielleicht nach so genauer Angabe meiner Familienverhältnisse mit mir nichts mehr zu tun haben wolle, und als ich fertig war, sah ich ängstlich zu ihm auf. Aber sein Gesicht verriet nichts von dem, was ich befürchtete. Seine Augen hatten jenen tiefen, besorgten Ausdruck, den ich mir gegenüber nun schon so oft wahrgenommen hatte, und sein Mund lächelte das gütige Lächeln.

»Wieviel brauchen Sie ungefähr?« frug er mitten in meine Gedanken hinein.

»Sehr, sehr viel,« sagte ich errötend.

»Wieviel?« drängte er.

»Vielleicht hundert Kronen,« antwortete ich zögernd und dachte, daß hundert Kronen ein ungeheures Vermögen sei.

Er legte seine Hand auf die Türklinke, als ob er sie öffnen wollte, und sah mich bittend an.

»Gehen Sie jetzt, man könnte Sie vermissen ... Morgen mit dem frühesten wird Ihnen der Hausmeister einen Brief übergeben, der enthält, was Sie brauchen ...«

Aber ich ging nicht. Ich drückte mich noch fester an die Mauer und mit einem Gesicht, in welchem die Lippen zuckten, sah ich zu ihm empor.

»Sind Sie böse, daß ich mich an Sie wandte?«

»Sie sind ein Kind,« erwiderte er sehr entschieden, »und ich sage Ihnen jetzt ein für allemal, daß ich Ihr Freund bin, an den Sie sich in jedem Kummer und in jeder Sorge nicht nur wenden können, sondern wenden müssen.« Und während sein Gesicht wieder den bittenden Ausdruck annahm, legte er die Hand noch einmal auf die Klinke. »Aber gehen Sie jetzt ... gehen Sie.« Ich gehorchte wie im Traume.

Den nächsten Tag übergab mir der Hausmeister einen Brief, und als ich ihn öffnete, erblickte ich eng zusammengefaltete Banknoten. –

Von dieser Zeit an empfand ich für meinen Freund eine maßlose Dankbarkeit, liebte ihn, wenn das überhaupt möglich war, noch inniger und zärtlicher als zuvor und konnte bei den folgenden immer so kurzen Zusammenkünften meine Gefühle nur mühsam verbergen. Er aber war nach wie vor derselbe. Meine Gedichte bildeten für ihn stets die Quelle der Gespräche, und trotzdem ich sie nun schon für fehlerlos hielt, fand er noch oft etwas zu tadeln; doch lobte er auch manchesmal, und ein Lob aus seinem Munde war mir immer ein süßer Lohn. Selbstverständlich entstanden noch oft Meinungsverschiedenheiten zwischen uns, wobei ich so weit ging, daß ich mich unhöflich, ja sogar grob benahm; ihn aber verließ seine Nachsicht und seine Ruhe nie. Gewöhnlich war es sein Schweigen, das mich zur Besinnung brachte, und sobald ich mein Unrecht eingesehen hatte, bemühte ich mich jedesmal, es wieder gut zu machen. Er war auch immer bereit, mir irgendwelches ungefüge Betragen zu verzeihen, und die alte Freundschaft war wiederhergestellt.

Heimlich aber war ich unzufrieden.

»Warum,« so frug ich mich oft, »warum sagt er mir nicht, was doch allein jedes Mädchen glücklich macht ...? Warum gibt er mir nicht das leiseste Zeichen, daß er mich liebt? ... Oder liebt er mich doch nicht ...?«

Diese Frage sandte immer einen jähen Schreck durch alle meine Glieder, und oft setzte ich mich in der Nacht auf und starrte mit fest verschlungenen Händen in das Dunkel um mich. Ist da vielleicht eine andere, an die er täglich und stündlich denkt, wie ich täglich und stündlich an ihn dachte? Ich schauderte bei der namenlosen Einsamkeit, die dieser Gedanke in mir erweckte, rief jedes Wort, jeden Blick von ihm ins Gedächtnis zurück und wog und wunderte, bis alle Formen und alle Farben in eins zusammenflossen und mir die Augen zusanken. –

Einmal hatten wir verabredet, uns wieder allein zu treffen, und wie immer konnte ich die Zeit unserer Zusammenkunft kaum erwarten. Ich traf eine halbe Stunde früher ein, doch auch er war schon angelangt. Es war das erste Mal, daß wir etwas mehr Zeit vor uns hatten, und ich hoffte heimlich, daß er vielleicht heute die Schranken des Schweigens fallen lassen und endlich – endlich sprechen würde. Er sprach auch, doch was er sprach, war etwas ganz anderes, als ich erwartet hatte. Er erzählte mir von seinen Knabenjahren, von seinen Jünglingsjahren, und von einer ersten Liebe, die ihn enttäuscht zurückgelassen hatte. Ich hörte zu, aber ich hörte alles wie im Traume. In meinem Kopf hämmerte und klopfte es, und mein Herz wußte nur von einem Wunsche. – Er braucht ja sein Betragen mir gegenüber nicht zu ändern, schrie es in mir, er soll mir nur sagen, daß er mich liebt. – Und mit dieser Qual in den Augen blieb ich plötzlich stehen und legte meine Hand auf seinen Arm. »Sagen Sie mir,« frug ich mit einer Stimme, in der Kühnheit und Scheue kämpften, »warum tun Sie so viel für mich?«

Er schien auf einmal blaß zu werden, und seine Züge wurden eisern. – »Weil ich Ihr Freund bin,« sagte er dann.

»Ist das alles?« frug ich ihn.

»Alles,« antwortete er und schüttelte meine Hand von seinem Arm. – Dann war es so still, daß ich meinte, ich könnte sein Herz und mein Herz klopfen hören. Plötzlich aber weckte mich seine Stimme, eine Stimme, die mir neue Tiefen seiner Seele erschloß, eine Stimme, die, aus Leid und Qual gewoben, sich wie eine Brücke über den Abgrund legte, den seine Worte in mir ausgerissen hatten. »Wollen Sie,« sagte er, »wollen Sie jene Phrase hören? ... Sie sind mir viel zu gut dafür; ich habe mir geschworen, daß ich nie daran denken will, daß Sie ein Mädchen sind.«

Ich gab keinen einzigen Laut von mir; ich stand mit dem Blick nach innen gekehrt und maß kommende Jahre, – Jahre, in denen wir uns gegenseitig alle unsere Schätze geben würden, ohne jemals ärmer zu werden, Jahre, in denen es keine Scham und keine Reue gäbe, Jahre, in denen ich alle Leiden leiden würde ...

»Glauben Sie an mich?« hörte ich ihn sagen.

»Ja,« erwiderte ich einfach, und schweigend reichten wir uns die Hände. –

Die Zeit, die jetzt folgte, könnte ich nimmer beschreiben. Die kurzen Zusammenkünfte waren so voll von einem zagen Glück, von einer halberschrockenen Zärtlichkeit, daß keine Farbe fein, keine Hand sicher genug sein könnte, sie wiederzugeben. Doch waren auch oft Stunden, in denen eine seltsame Stimmung über uns schwebte; Stunden, in denen er sich jäh aufrichtete, als ob er etwas abschütteln wollte, Stunden, in denen seine Augen den stillen Glanz verloren und düster blickten, Stunden, in denen das Tier in ihm tobte ... In solchen Momenten erbebte ich, weil ich die Kraft der Leidenschaft ahnte, die ihn bewegte, und dann fürchtete ich mich fast vor ihm ... Wenn er einmal, ein einziges Mal nur seinen Schwur vergessen würde, wehe dann unsrer Freundschaft, wehe dann mir ...

In solcher Weise verfloß ein volles Jahr, und ich glaubte, daß ich absolut glücklich war und es nicht anders wünschte. Doch nach und nach bemächtigte sich meiner ein Gefühl dumpfer Angst. Nicht wie früher nahm ich meine Bücher zur Hand, sobald die Kinder schliefen, sondern setzte mich in einen Winkel und brütete über Gedanken, die mir langsam und langsam gekommen waren. – Wohin sollte das führen? – Ich dachte an die tiefen Blicke, die er mir oft gab, und schauderte. – Würden wir unsere Freundschaft durchtragen können? Und dann regte sich die spießbürgerliche Frage wieder, die ich mit vielen schönen Redensarten totgeschwiegen zu haben meinte, die Frage: Warum heiratet er mich nicht? Warum nicht? ... Meiner Armut, meiner Stellung wegen? ... Aber wenn ein Mann ein Mädchen liebt, konnte doch das kein Grund sein ... Wenn er mich aber nicht liebte, warum dann das alles? ... Warum dann seine Güte, sein Interesse, sein Opfermut? ... Ich suchte nach einem ähnlichen Schicksal unter den Mädchen, die ich kannte, aber da gab es nichts Ähnliches. Wenn sie im Gespräche den Herzenspunkt berührten, lächelten sie ein schlaues, verschmitztes Lächeln, das mich nur anekelte, aber nie belehrte. Meine Gedichte wurden immer grübelnder, immer fragender; und er, um den sich alle Reime und alle Träume schlangen, korrigierte und kritisierte die Zeilen, in denen die ganze Sehnsucht und Trauer meiner Seele lag, korrigierte und kritisierte sie manches Mal mit den alten ironischen Blicken, manches Mal mit abgewandten Augen und einem Schatten in den Zügen. Und dann kamen Nächte, die mir keinen Schlaf brachten, sondern immer nur die eine ermüdende quälende Frage, bis mir einmal, hell wie ein Blitzstrahl, die Antwort in mein Bewußtsein fuhr ...

Es war gelegentlich einer unsrer Zusammenkünfte, daß er sagte: »Ich bin mit Ihren Fortschritten nicht ganz zufrieden.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ganz einfach, Ihre Gedichte behandeln immer nur denselben Stoff, was ja auch kein Wunder ist, da Sie sich stets in demselben Kreise der Verhältnisse bewegen, anstatt andere Leute und andre Sitten kennen zu lernen.«

Ich fühlte, wie mein Herz rascher schlug, doch verbarg ich meine Bewegung. »Ich habe auch schon daran gedacht,« sagte ich zögernd, »daß ich eigentlich noch viel mehr lernen sollte, und – noch zögernder – fortgehen möchte.« Wir sahen uns nun in die Augen und wußten beide, daß wir logen, doch die Worte, die vielleicht erlöst, beseligt hätten, erstarben unter dem erheuchelten Gleichmut unserer Gesichter.

»Wohin?« frug er endlich.

Jetzt, wo der Würfel fallen sollte, schrak ich zurück, ihn zu werfen ... Die ganze hündische Anhänglichkeit und Treue meines Geschlechtes brach hervor, die ganze heiße Sehnsucht nach Glück, die schon so lange demütig gehofft und gewartet hatte, stand auf; jeder Gedanke, jeder Herzschlag in mir verneinte ... Die Sekunden verstrichen und ich antwortete nicht. Prüfend, wie ein Senkblei, fühlte ich seinen Blick in meine Seele fallen, und plötzlich sah ich, wie es um seinen Mund zuckte, das alte höhnische Lächeln, das ich so haßte und fürchtete. Nie hatte ich es verstehen können, nun war es mir auf einmal klar. Er hielt mich nicht fähig, von ihm fortzugehen, noch mehr, er hielt kein weibliches Wesen fähig, sich von dem Manne zu trennen, den es liebt, noch mehr, er verachtete alle Frauen, verachtete alle Mädchen. Und da wußte ich, daß ich noch kein Atom seiner Seele gewonnen hatte, daß der Kampf, den ich aus Trieb und Drang aufgenommen hatte, noch lange nicht zu Ende war ...

»Wohin?« frug er noch einmal.

Mit der Schnelligkeit eines bedrängten Gegners hatte ich meine Lage überschaut, und nun, trotzdem mir die Tränen hinter den Lidern brannten, lächelte ich.

»Nach England.«

»Warum nach England?«

»Weil ich etwas Englisch kann und die Sprache gerne gründlich beherrschen möchte.«

»Haben Sie in London Bekannte?«

»Nein, ich kenne dort niemand; es handelt sich für mich nur um das Reisegeld.«

Daraufhin wurde er sehr ernst und schwieg lange.

»Sie wissen,« sagte er endlich, »daß Sie einen Freund haben.« –

Einige Tage nach dieser Unterredung wurde ich krank. Ich hatte mir eine schwere Lungenentzündung zugezogen und verbrachte mehrere Wochen im Krankenhause. Als ich dasselbe verließ, erklärte mich der Arzt für jede Stelle vorläufig unfähig. Man schlug mir vor, mich für einige Monate zu Hause aufzuhalten und mich dort gründlich zu erholen. Ich war still, als man mir das sagte. »Zu Hause!« Wo war mein »Zu Hause?« Aber ich war viel zu stolz, das zu verraten, zu sagen, wie wenig ich mich wohl würde erholen können. So verließ ich, der quälendsten Gedanken voll, Budapest zum zweiten Male.

Meine Eltern waren indessen nach Wien übergesiedelt. Ich hatte von den veränderten Verhältnissen nicht viel erfahren und frug mich heimlich, wie wohl die Wohnung sowie das Geschäft beschaffen sein würden. Als ich aber bei meinen Eltern ankam, sank mein Mut. Alles bot einen traurigen Anblick dar. Das Geschäft war ganz klein und fast leer, und die Wohnung bestand nur aus einem Zimmer. Das Zimmer enthielt einen kleinen eisernen Ofen, einige Betten, einen Stuhl und einen Tisch; dazu lag der Raum unterirdisch und hatte weder Luft noch Licht.

Mein Vater war allein zu Hause. Nachdem ich ihn begrüßt hatte, frug ich nach meiner Mutter und erfuhr, daß sie eine Stelle als Aufräumerin für tagsüber angenommen hatte und erst gegen acht Uhr abends heimkommen würde.

Ohne meinen Hut abzunehmen oder meine Jacke auszuziehen, hatte ich mich auf eines der Betten gesetzt und hörte schweigend auf die Dinge, die mir mein Vater erzählte. Ich hatte ja das alles schon so oft gehört, und nun hörte ich es wieder.

»Werdet ihr denn Platz für mich haben?« frug ich endlich.

»Natürlich,« erwiderte mein Vater, »es muß eben gehen; du kannst ja mit einem der Kinder schlafen.«

»Wo sind denn die Kinder?«

»Fort, Geld verdienen.«

»Womit?«

»Sie tragen Zeitungen aus.«

»Sobald ich gesund bin,« sagte ich, »werde ich zum Haushalt beitragen.«

»Schau nur, daß du erst gesund wirst, das ist die Hauptsache.«

Ich sah mich in dem kleinen, schlecht gelüfteten Raume um. »Hier kann ich nicht gesund werden.«

»Seit die Mutter tagsüber aus ist, besorge ich das Kochen,« erklärte mein Vater. »Ich werde dir jetzt eine Tasse Kaffee bereiten, und dann können wir ja sehen, was sich tun läßt.« Nach diesen Worten brach er einige Stücke Holz über seinem Knie und machte ein Feuer in dem kleinen Ofen. Kaum hatte er das Streichholz angesteckt, so fing es aus dem Ofen zu dampfen und zu qualmen an. »Das kommt vom Wind,« entschuldigte er, »es wird schon vorbeigehen.«

Es ging auch vorbei, aber nicht eher, als bis der ganze Raum schwarz war und man nichts mehr sehen konnte. Meine Augen und meine Kehle brannten mir, doch sagte ich nichts und trank den Kaffee, den mein Vater mir in einer Schale reichte, die einen großen Sprung hatte. Ich dachte an meinen Bruder und konnte nicht begreifen, wie er ein solches Unglück mit ansehen konnte, ohne zu helfen. »Wo ist er denn?« frug ich plötzlich.

»Wer?«

»Karl.«

Bei Erwähnung dieses Namens wurde mein Vater sehr traurig.

»Es ist eben ein Unglück,« erwiderte er, »er hat schon seit langer Zeit keine Stelle.«

»Wo ist er denn?«

»Er lebt natürlich mit uns.«

Mein Blick flog durch den kleinen Raum. Mein Vater merkte es und zuckte die Achseln. »Wir müssen uns eben einrichten, wie es geht.«

Später kam meine Mutter und mit ihr kamen die Kinder, die, nachdem sie ihre Zeitungen verkauft hatten, vor dem Hause, wo meine Mutter arbeitete, auf sie gewartet hatten. Als das spärliche Abendessen vorüber war und es anfing, spät zu werden, kam mein Bruder. Ich erschrak furchtbar bei seinem Anblick, er hatte sich gänzlich verändert. Sein Gesicht war blaß und hohl, um seine Augen lagen schwarze Ringe, sein dunkelblondes Haar hing wirr über die Stirne, seine Gestalt war hager und seine Bewegungen waren ungefällig. So gut ich konnte, verbarg ich meine Bestürzung und reichte ihm die Hand.

»Ich fürchte,« sagte er, und es war derselbe spöttische Ton, den er früher immer gegen mich angewandt hatte, »daß es dir bei uns nicht sehr gefallen wird.«

»Sobald ich gesund bin,« antwortete ich, »werde ich trachten, etwas Ordnung ins Haus zu bringen.«

»Ordnung!« rief mein Bruder und schüttelte sich vor Lachen, »denkst du denn, daß dieser Mensch (dabei wies er auf meinen Vater) so etwas erlauben würde? Ich versichere dich, liebe Schwester, nichts macht deinen werten Papa glücklicher, als im Dreck herum zu wühlen.«

Zum zweiten Male in meinem Leben sah ich die Zornesader auf meines Vaters Stirne stehen. – »Du!« rief er.

»Ja,« sagte mein Bruder und stellte sich kampfbereit.

Ich sprang auf und stellte mich mit gefalteten Händen vor meinen Vater. »Höre nicht auf ihn,« schluchzte ich, »du weißt, ich glaube kein Wort.«

»Deinetwegen,« sagte mein Vater, dann ließ er die geballten Hände sinken und schritt rasch hinaus.

»Jetzt spielt er natürlich den Beleidigten,« fuhr mein Bruder in dem alten Tone fort »und ich hoffe, daß du dich nicht von seinem Komödienspiele beeinflussen läßt und ein Mitleid empfindest, das in diesem Falle ganz falsch angebracht wäre. Du bist die letzten Jahre fortgewesen und hast keine Gelegenheit gehabt, diesen Schauspieler kennen zu lernen. Was mich anbelangt, so habe ich ihn vollkommen durchschaut, und ich bin überzeugt, daß du mir recht geben wirst, sobald du einige Zeit hier gewesen bist. Für jetzt magst du ja in mir einen Lümmel oder so etwas Ähnliches sehen, doch ich kann dir die Versicherung geben, daß ich, trotzdem die Verhältnisse mich zwingen, mit diesen gewöhnlichen Leuten unter einem Dache zu leben, den Kavalier noch nicht abgelegt habe. Irgendwo in seinen Dramen sagt Schiller, daß ein Edelstein noch immer ein Edelstein sein wird, selbst wenn er zufällig in den Dünger fallen sollte. Gegenwärtig siehst du in mir einen Menschen, den das Leben leider enttäuscht hat, weil seine Ideale zu hoch gesteckt waren und seine Träume bis an den Himmel reichten. – Wie du mich heute siehst, bin ich vielleicht eine der fraglichsten Existenzen. Doch warte ein halbes, sagen wir ein ganzes Jahr; ich habe Ideen in meinem Kopfe, die, sobald ich sie ausgearbeitet habe, das Leben, wie wir es heute kennen, die Gesetze, wie sie heute gelten, in die Luft sprengen werden. Nach außenhin bin ich ein Kellner, ein Gauner oder was du willst, doch innerlich, da arbeite ich an einem Königreiche für Millionen verborgener, halbverhungerter Geschöpfe, und ich habe eine Krone für jeden.«

»Die Hauptsache ist,« unterbrach ich, »daß du eine für dich selber hast.«

Mein Bruder zuckte die Achseln. »Ich kann von dir natürlich nicht erwarten, verstanden zu werden. Du bist noch zu sehr im Schlamme deiner Abkunft, als daß du meinen Gedanken folgen könntest. Die große Lehre der Wiedergeburt ist für dich ein spanisches Dorf, und daß ich auf Grund dieser Lehre nur durch einen Zufall dein Bruder bin, kann Dir natürlich nicht einleuchten. Ebenso unglaublich würde es dir scheinen, wenn ich dir sagte, daß ich in einem früheren Jahrhundert wahrscheinlich ein gewaltiger Eroberer und Ländergründer gewesen bin. Meine Hoffnung, dich einst mit Stolz meine Schwester nennen zu können, hat sich leider so trügerisch erwiesen wie alle meine Hoffnungen, und ich muß nun allein – der große Mensch ist ja immer allein – meine Aufgabe vollbringen.«

Meine Mutter, die an solche Reden wohl schon gewöhnt war, war auf dem Stuhle eingeschlafen, und ich ging hinaus, um zu sehen, wo mein Vater geblieben war. Ich fand ihn in einem kleinen übelriechenden Hof. »Komm doch herein,« sagte ich bittend. Er ging dann mit mir hinein, und für heute brach kein Streit mehr aus. Später machten sich mein Vater und mein Bruder jeder ein Lager auf dem Boden zurecht.

Ich hatte mich auf eine der zerrissenen Matratzen gelegt und schloß die Augen sofort, damit man denken solle, ich sei eingeschlafen; sobald aber alles still geworden war, setzte ich mich auf und sah in wilder Verzweiflung um mich. Meine Mutter, die wohl von der Arbeit recht müde war, schlief tief und fest. Eine Weile horchte ich auf ihre Atemzüge, dann blickte ich nach der Stelle, wo mein Bruder lag. Er schien mir noch länger, noch hagerer als bei Tage, und auf seinem Gesicht, jetzt unbewacht, zeigte sich ein seltsamer Ausdruck von Enttäuschung, Leid und Qual, daß ich seine Roheit, Eitelkeit und Einbildung vergaß und ein mächtiges Mitleid mit seiner so früh verdorbenen Jugend, seiner wüsten, leidenschaftlichen Natur, die ihn wie mit Peitschenhieben vor sich trieb und nimmer zur Ruhe und Aussöhnung seines Schicksals kommen ließ, aufquellen spürte. Er konnte meinen Vater nicht leiden, weil er dachte, daß es seine leichtsinnige Führung des Geschäftes war, die uns nach und nach ins Unglück brachte. Doch konnte ich ihm hierin nicht recht geben. Ich wußte, daß mein Vater sehr viel hinausgeborgt hatte und die Leute ihn nicht mehr bezahlten. Die natürliche Folge davon war, daß auch er seine Ware nicht mehr bezahlen konnte und dadurch immer mehr in Schulden geriet. Dazu die vielen Kinder und noch manches andere, das ein größeres Kapital geschmolzen hätte, als mein Vater je besessen hat. Daraufhin mag man ja antworten, mein Vater hätte eben nicht hinausborgen sollen, doch war er zu gutmütig und zu leichtgläubig. Als das Kind armer Eltern besaß er ein lebendiges Gefühl für die Bitterkeit des Mangels, und hatte er darin gefehlt, so war die Sühne wahrhaftig nicht ausgeblieben. –

Ich konnte den Blick von den beiden, die jetzt so still und friedlich nebeneinander lagen, als hätten sie sich nie ein böses Wort zugerufen, nicht abwenden, und erst als ein trübes Morgendämmern durch die kleinen halberblindeten Scheiben brach, fielen mir die Augen zu. –

Den nächsten Morgen mußte meine Mutter frühzeitig aus dem Hause. Nachdem das magere Frühstück vorbei war, setzte sich mein Bruder an den Tisch und rief meine zwei kleinen Brüder zu sich heran.

»Was steht ihr da und faulenzt?« schrie er. »Wo sind die Bücher?« Sie brachten darauf einige schmierige Bücher aus einer Ecke hervor und setzten sich zu ihm. Mein Bruder fing dann an, mit ihnen zu lernen, wobei er furchtbar grob war und die Buben bei den geringsten Kleinigkeiten abohrfeigte. Als er aber einmal dem Kleineren von den beiden wegen nichts einen festen Rippenstoß versetzte, da sprang ich auf und stellte mich mit geballten Fäusten vor ihn hin.

»Rühr' ihn nicht mehr an!« schrie ich; darauf verfiel mein Bruder in eine schreckliche Wut.

»Das ist wohl dein Dank,« brüllte er, »daß ich meine ganze Karriere verpfusche, um Zeit zu haben, die Buben zu erziehen, ein Ding, das ihr allerdings überflüssig findet. Denkst du, ich könnte es mit ansehen, wie sie aufwachsen und gerade solche Gauner werden, wie ich einer geworden bin, weil ich keine Erziehung gehabt habe ...? Wo seid ihr, ihr Hunde?« schrie er und wandte sich wieder zu den Büchern; aber während er mit mir gesprochen hatte, waren die Jungen davongelaufen. »Da siehst du es,« sagte er, »das Lernen fürchten sie wie den Teufel. Der Apfel fällt eben nicht weit vom Stamme. Die Buben sind um kein Haar besser als ihr ehrenwerter Erzeuger; doch ich habe mir vorgenommen, etwas Ordentliches aus ihnen zu machen, und will sehen, wer Herr im Hause ist.«

Er schimpfte dann noch eine Weile über meinen unbegreiflichen Blödsinn, die Lausbuben zu unterstützen, worauf er nach einem abgegriffenen Filzhut griff und verschwand.

Als er fort war, kam mein Vater herein, der, wie ich sehen konnte, so viel als möglich das Zusammensein mit meinem Bruder vermied.

»Was machst du jetzt?« frug ich ihn, als er sich eine große blaue Schürze vorband.

»Ich räume das Zimmer auf, und dann werde ich kochen.« Er nahm einen Besen zur Hand und fing an, den Boden zu fegen. Am liebsten hätte ich ihm diese Arbeit abgenommen, doch war die Schwäche in meinen Knien so groß, daß ich mich kaum aufrecht halten konnte. So blieb ich auf dem Bett sitzen und beobachtete ihn.

»Hast du schon daran gedacht,« frug ich nach einer Weile, »wohin ich eigentlich gehen soll?«

»Ja, am besten wäre es, wenn du aufs Land gehen könntest.«

»Das dürfte aber nicht zu teuer sein.«

»Du könntest zur Mühle hinausfahren. Ich habe den Onkel letzte Woche getroffen, sie würden dich gern für einige Zeit oben haben.«

Meine Freude war ungemein groß, ich war seit vielen Jahren nicht mehr dort gewesen, und der Gedanke, wieder einmal durch jene Wiesen wandeln zu können, erfüllte mich mit Entzücken.

»Nur,« sagte mein Vater und kratzte sich verlegen am Kopf, »der Postwagen ist etwas teuer ... vier bis fünf Kronen wird es schon kosten; doch ich muß eben schauen, daß ich es aufbringen kann.«

»Das ist nicht nötig, soviel Geld habe ich selbst.«

»Dann wären ja keine weiteren Schwierigkeiten. Wenn du mir sagst, wann du fahren willst, so werde ich gleich schreiben.« Am liebsten wäre ich schon sofort gefahren, da ich jedoch die guten Leute nicht überraschen wollte, wartete ich eine Woche. In dieser Woche litt ich ungemein. Die Streitigkeiten, die jeden Augenblick zwischen meinem Vater und meinem Bruder ausbrachen, machten mich halb wahnsinnig vor Angst. Ich begrüßte den Tag meiner Abreise mit inniger Freude und verbrachte fünf stille Wochen bei den nun schon recht alten Verwandten meiner Mutter. Die reine, würzige Luft, im Bunde mit der Sonne und der feierlichen Stille ringsum tat ihre Schuldigkeit, und ich konnte nun schon größere Strecken gehen, ohne daß die Schmerzen in den Knien wiederkehrten.

Sobald es anfing, besser mit mir zu werden, frug ich mich, was nun geschehen solle. Der Gedanke, zu Hause zu bleiben, war mir unerträglich, und doch hielt ich es für meine Pflicht, meine Eltern in ihrer bedrängten Lage nicht zu verlassen. Ich grübelte hin, ich grübelte her, doch ich konnte keinen Ausweg finden. »Ich muß zu Hause bleiben,« sagte ich mir immer zum Schluß, »und je eher ich anfange zu verdienen, desto besser wird es sein.« Mit diesem Entschlusse kehrte ich nach Wien zurück. Die Verhältnisse meiner Eltern waren natürlich noch dieselben, und ich bemühte mich sofort um eine Stelle, um zu dem allgemeinen Unterhalte beitragen zu können. Nach einigem Suchen fand ich eine Nachmittagsstelle, zu einem neunjährigen Knaben, dessen Mutter aus Amerika herübergekommen war und bis Januar in Wien zu bleiben gedachte.

Doch wie tapfer ich mich auch hielt und wie sehr ich mich auch bestrebte, zufrieden zu sein, so war ich hiervon weit entfernt. Nach und nach fühlte ich das allgemeine Elend, besonders aber die aufregenden Szenen schwer, die mein Bruder immer hervorrief. Sie erschütterten meine nur halb hergestellte Gesundheit, und mit Schrecken bemerkte ich, wie die alte Schwäche mich wieder befiel. – Wenn ich des Abends von meiner Stelle kam, setzte ich mich gewöhnlich an das kleine Fenster und starrte in den engen Hof hinaus, der von hohen grauen Mauern eingeschlossen war und als Dach ein Stückchen Himmel trug. Oft genug geschah es, daß ich noch dort saß, wenn Hof und Himmel längst nicht mehr sichtbar waren und nur das kalte weiße Licht einer einzigen Gaslaterne zaghaft durch das Dunkel brach. War ich aber einmal allein, dann weinte ich jenes wilde, verzweifelte Weinen, daß trotz seiner Herbe beruhigt und erlöst. Meine Mutter sah mich oft mit trüben, bekümmerten Augen an, doch hatte ich auf ihre stummen Fragen nur ein verstocktes Lächeln. Sie wußte ja nicht, daß mich noch eine andere Qual erfüllte als die Armut, die wir alle teilten. Sie kannte ihn ja nicht und hätte überhaupt das alles nie begriffen. – So litt ich weiter und litt unsäglich. Manches Mal kam ein Brief von ihm, kühle, höfliche Zeilen mit der lässig hingeworfenen Frage, was ich denn eigentlich zu tun gedächte. Ich las den Brief tausend und tausendmal, verbarg ihn wie ein köstliches Kleinod, und sann mit einem blöden, hilflosen Staunen über die wunderbare Zäheit und Demut einer Mädchenliebe ... Und einmal in diesem vergeblichen Sinnen erinnerte ich mich plötzlich der kleinen Geschichte, die er mir zum erstenmal zum Lesen gab, »Morgans«. – Der Mann mit den unruhigen Begierden, der Träumer, der Idealist, der Eroberer, der Verächter, zuletzt besiegt von der Tugend eines reinen Mädchens. Noch während ich darüber grübelte, überkam mich eine tiefe, seltsame Ruhe. –

»Wäre es nicht viel besser,« sagte ich am Abend desselben Tages zu meiner Mutter, »wenn ich wieder ganz in Stelle ginge? Ich könnte euch ja mein monatliches Gehalt schicken, so wäre eines weniger, und der Zuschuß bliebe derselbe.« Meine Mutter blickte mich rasch und unsicher an. »Du willst wohl,« sagte sie in einer eigentümlichen, zögernden Weise, »wieder nach Budapest?« Mir schlug das Herz bis zum Halse, doch ich zuckte mit keiner Wimper.

»Nein, ich will nach England.«

Erst schien es, als ob sie erleichtert wäre, als ob sie sich in einer schlimmen Befürchtung getäuscht hätte, doch dann nahm ihr Gesicht wieder den vorigen Ausdruck an.

»Ja, es wäre das beste,« sagte sie mit der müden, gequälten Stimme aller Hoffnungslosen. –

Ich wartete, bis alle schliefen, dann schrieb ich an meinen Freund. In zitternder, nervöser Hast die Worte wiederholend und überstürzend, bat ich ihn um das Reisegeld nach England. – Zwei Tage später kam sein Brief. Dieses Mal so voll von Güte, Umsicht und Bereitwilligkeit, daß mir beim Lesen die Tränen in die Augen stürzten. Ob ich ihn nicht noch einmal sehen wollte, frug er mich zum Schluß, aber dagegen sträubte sich alles in mir. Ich kannte die Macht seiner Augen und zitterte für meinen so schwer errungenen Sieg.

London, schreckliches, herrliches, furchtbares London! Wie ein Ungeheuer liegt es da und streckt Millionen Fangarme nach Millionen Richtungen zu gleicher Zeit. – Betäubt, vernichtet schritt ich dahin, fast ohne jedes Gefühl und ohne jeden Gedanken, gänzlich überwältigt von dem allgemeinen Eindruck. Nur wenn ich einen kleinen blassen Zeitungsjungen durch das Gewirr der Wagen schlüpfen sah, wie er für eine kleine Kupfermünze wohl hundertmal sein Leben wagte, zuckte ich zusammen. – Aber wenn er auch von den Gummirädern eines Autos zermalmt, von den Hufen eines Pferdes zerstampft worden wäre, was läge daran? ... Die Riesenwoge des Vergnügens und des Verderbens würde weiterrollen, und nur vielleicht in einem einzigen kleinen Zimmer, das niemals Licht noch Wärme hatte, würde ein zerlumptes bleiches Weib noch einen Schatten bleicher werden, wenn beim Morgengrauen der Knabe noch nicht wiederkam ... Als ich das begriff, da war es mir plötzlich als sähe ich den, dem wir goldene Altäre bauen und jeden Sonn- und Feiertag Weihrauch brennen, betrunken in einer Laube liegen ... und da hätte ich meine Hände in seine schwarzen rollenden Locken graben und ihn rütteln und schütteln mögen, bis er ernüchtert und erwacht ... Blitzartig, wie sie kam, verschwand diese Vision. Ein Seidenkleid rauschte, ein Silberhorn pfiff, und Leute neben mir lachten ... Nun spürte ich, daß ich fror und daß ich müde war und tat Fragen nach einer Unterkunft. Als ich nach stundenlangem Herumwandern endlich ein billiges Mädchenheim gefunden hatte, konnte ich mich kaum mehr auf den Füßen halten. Das Heim war ein deutsches Heim. In das Zimmer der Vorsteherin geführt, blieb ich einige Sekunden auf der Schwelle stehen, so angenehm und wohltuend berührte mich der Anblick. Das Gemach war mit Kissen und Fellen weichlich ausgestattet und von einem hellflackernden Kaminfeuer behaglich durchwärmt. Auf einem kleinen Tisch standen frische Blumen, und ein gelber Vogel wiegte sich in einem weißen Ring. Ganz nahe bei dem Ofen saß mit Tüchern auf den Schultern und mit Tüchern auf den Knien eine Dame mit ergrautem Haar. Am liebsten hätte ich mich in einen der Stühle gesetzt, die Augen zugemacht und kein Wort gesprochen; aber die alte Dame bedeutete mir, mich nicht zu setzen, da meine nassen Kleider die Überzüge beschmutzen könnten, und stellte dann einige Fragen, die ich mir Mühe gab, so gewissenhaft als möglich zu beantworten. »Sie wollen also eine Stelle?« frug sie.

»Ja.«

»Und während Sie Stelle suchen, hier wohnen?«

»Ja.«

»Sie hätten keinen besseren Platz finden können als unser frommes Heim; doch ehe ich Sie als Mitbewohnerin betrachte, muß ich Sie fragen: haben Sie genug Geld, um die Pension wenigstens zwei Monate lang bezahlen zu können, da Sie darauf rechnen müssen, eventuell so lange ohne Posten zu sein? Dieses Heim ist ein sehr ehrenwertes Haus, und ich könnte nicht daran denken, eine fragliche Person aufzunehmen.«

Da mir mein Freund außer dem Reisegeld noch eine größere Summe geschickt hatte, so glaubte ich, ihre Frage bejahen zu können; doch innerlich war ich fest entschlossen, mich, wenn es irgendwie ginge, in diesem frommen Hause zwei Monate nicht aufzuhalten. Als alles zur Zufriedenheit der Vorsteherin erledigt war, drückte sie auf eine Klingel und befahl dem eintretenden Mädchen, mich in mein Zimmer zu führen. Dieses Mal brauchte ich meiner nassen Sachen wegen nichts zu befürchten. Das Zimmer war kalt und grau und schien so feucht wie die Straßen selbst. Es enthielt einige Schränke, die in die Wände eingelassen waren, einige Waschtische und acht Betten.

»Sind die hier alle besetzt?« frug ich.

»Natürlich!« sagte das Mädchen und sah mich erstaunt an. Nach und nach füllte sich das Heim mit Mädchen jeden Alters, und als es zum Abendbrot läutete, versammelten sich im Speisesaal an zweihundert Mädchen. Nach dem Essen, bei dem es sehr geräuschvoll zuging, hatten wir uns in ein anderes Zimmer zum Gebet zu begeben. Auf einem Fußschemel, die Augen andächtig zur Decke gewandt, kniete die Dame, die mich in das Heim aufgenommen hatte. Sie begann Gebete herzusagen, die wir nachsagen mußten, und zum Schlusse wurde ein frommes Lied gesungen. Darauf faltete die Vorsteherin noch einmal ihre weißen Finger. »Lieber Gott,« sagte sie, »gedenke aller jungen Mädchen, die sich ohne Schutz und Schirm (und ›ohne Geld‹, dachte ich) in London befinden. Leite sie, damit sie nicht straucheln, und reiche ihnen Deine hilfreiche Hand, wenn sie schon gestrauchelt sein sollten. Gütiger Gott, wir bitten Dich, erhöre unser inniges Flehen, erleuchte die Verblendeten, beschütze die Verfolgten! Amen!«

Sie sah recht würdevoll aus, als sie ihr weißes Haupt ergebungsvoll neigte und ganz in Gebet versunken schien. Nach einigen Sekunden erhob sie sich und schritt hinaus. Die Mädchen drängten sich lachend und lärmend nach und suchten ihre Schlafstuben auf; auch ich begab mich in das Gemach, in dem man mir mein Bett gezeigt hatte, und lernte nun meine Zimmergenossinnen kennen. Die Mädchen gefielen mir nicht. Sie lachten unaufhörlich und erzählten sich widrige Geschichten. Wie ich aus ihren Gesprächen entnehmen konnte, waren sie fast alle Hotelmädchen und kamen aus der Schweiz.

»Sind Sie erst heute angekommen?« frug mich jemand.

Ich wandte mich der Sprecherin zu und sah, daß sie ein Mädchen in meinem Alter war. Ohne daß ich wußte, warum, fragte ich mich, ob sie hübsch sei oder nicht. Während ich ihre Frage beantwortete, dachte ich über die mir selber vorgelegte nach und entschied endlich, daß sie hübsch sei. Sie hatte große glänzende Augen und dichtes dunkelbraunes Haar. Ihr Gesicht war gut geschnitten, doch lag etwas darin, woran ich mich nicht gewöhnen konnte; was es aber war, wußte ich nicht. Sie stellte einige Fragen an mich, und ich bat sie mir zu sagen, ob ich wohl bald eine Stelle finden könnte.

»Welche Art Stelle beanspruchen Sie?«

»Das ist mir alles eins.«

»Da Sie nicht wählerisch zu sein scheinen, können Sie leicht etwas bekommen.«

Später sah ich, daß sie meine Bettnachbarin war. Sie gefiel mir von allen Mädchen am besten.

Als sie sich endlich schlafen legte, rieb sie sich die Hände mit Glyzerin ein, das war alles. Die anderen gingen viel umständlicher mit ihrer Nachttoilette vor. Sie nahmen unter Kichern und Scherzen ihre falschen Zöpfe und noch manches andere Falsche ab, warfen die Sachen auf ihre Betten und sprangen darauf herum. Um zehn Uhr mußte das Licht ausgelöscht werden, doch ruhig wurde es darum noch nicht. Die Mädchen hatten sich viel zu sagen, und jedesmal, wenn mir die Augen zufallen wollten, weckte mich lautes Lachen. Nach und nach aber wurden die Geschichten kürzer, die Scherzworte seltener, und zum Schluß schliefen sie alle den tiefen, festen Schlaf der Sorglosigkeit. Trotz des Unbehagens, das mir die Mädchen einflößten, war ich doch glücklich, endlich einmal ausruhen zu dürfen, und während ich auf deren Atemzüge lauschte, füllte sich meine Seele mit andächtigen Gedanken ...

Den nächsten Morgen hatten wir uns wieder zum Gebet zu versammeln, und ich merkte, daß es anderer Natur war als das Abendgebet.

Jedes von den Mädchen bekam eine Bibel, und nachdem wir alle einen Kreis gebildet hatten, las die Vorsteherin eine Stelle daraus vor, und die andern mußten weiterlesen. Als die Reihe an mich kam, las ich: »Und der Priester soll des Blutes nehmen vom Schuldopfer und dem Gereinigten auf den Knorpel des rechten Ohres tun und auf den Daumen seiner rechten Hand, und auf den großen Zehen seines rechten Fußes.«

Zum Schlusse flehte die Vorsteherin wieder den Schutz des Höchsten für unbeschützte Mädchen herab, und dann waren wir für den Rest des Tages frei.

Sobald ich mich von den Knien erhoben hatte, schritt ich auf die Vorsteherin zu und bat sie, mir eine Adresse zu geben, bei der ich mich um eine Stelle bewerben konnte. Sie forderte mich auf, ihr zu folgen. In ihrem Zimmer angelangt, setzte sie sich würdevoll und sah mich nachdenklich an.

»Sie wollen,« sagte sie, »sich schon heute um eine Stelle umsehen, eine Eile, die ich ganz gut begreifen kann. Da ich aber die Verantwortung für Ihre Seele übernommen habe, so darf ich diese ernste Angelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen meinen mütterlichen Rat zu geben. Es kommen so viele Mädchen nach London, die voll Unschuld und Herzensreinheit die Heimat verlassen haben und die oft ganz anders zurückkehren. Ich will Sie darum auf die Gefahren aufmerksam machen, die Sie hier stündlich bedrohen, und Sie bitten, den Beistand des Höchsten anzuflehen, damit er Sie im richtigen Augenblicke warne und schütze. Wollen Sie mir das versprechen?«

Ich versprach alles.

»Da wären nun einige Adressen, an die Sie sich wegen einer Stelle wenden können, und ich hoffe, daß Sie in den Schoß einer gottesfürchtigen Familie aufgenommen werden.«

Ich bedankte mich für den Zettel, den sie mir überreichte, sprang, als ich aus dem Zimmer war, die Treppe hinauf und holte mir meinen Hut und meine Jacke. Einige von den Mädchen setzten sich gerade ihre Hüte auf. Sie frugen mich, wohin ich ginge. Ich beantwortete ihnen dies, worauf sie mir erklärten, daß sie dieselben Absichten hätten, und mir ihre Begleitung anboten, da sie, wie sie sagten, den Weg genau wüßten. Obwohl ich ihnen hierfür recht dankbar war, ärgerte ich mich doch darüber, daß sie so lange zum Aufsetzen ihrer Hüte brauchten. Im Zimmer befand sich nur ein einziger Spiegel, und um den standen sie alle herum und steckten sich die Hutnadeln, von denen sie ungeheure Mengen hatten, mit großer Bedachtsamkeit in den Hut. So oft ich hoffte, daß sie endlich fertig seien, behaupteten sie, sie sähen heute schlecht aus, zogen die Nadeln wieder heraus und steckten den Hut tiefer oder höher, je nachdem sie glaubten, dadurch hübscher zu erscheinen. Ich stand, mit meinem bescheidenen Hute schon auf dem Kopfe, und fühlte eine schreckliche Ungeduld. Ich sehnte mich danach, das Heim zu verlassen, und dazu brauchte ich so schnell wie möglich eine Stelle. Diesen Wunsch schienen die andern Mädchen allerdings nicht zu teilen. Sie waren anscheinend dort zufrieden, ja sogar glücklich, und sorgten sich offenbar wegen einer Stelle nicht im geringsten. Eine sehr lange Blondine, die alle anderen überragte, hatte ihrem großen, durchsichtigen Hute ein paar kühne Bogen gegeben, setzte ihn auf und betrachtete sich mit prüfenden Blicken.

»Denkt ihr, daß er mir so steht?« wandte sie sich an die anderen. Sie mußte sich darauf nach allen Seiten umdrehen, und zum Schluß versicherten alle, daß der Hut famos sei. Ich fand gerade, daß sie scheußlich aussah, als sie sich plötzlich nach mir umdrehte und sagte: »Machen Sie vorwärts, Kleine, wir sind schon fertig.«

»Ich bin schon lange fertig,« antwortete ich erstaunt.

Jetzt war das Erstaunen an der Blondine.

»Sie meinen doch nicht, daß Sie so wie Sie sind ausgehen wollen?«

»Natürlich.«

Alle lachten. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatten, sagte eines der Mädchen: »Sie kennen, wie es scheint, die Verhältnisse nicht, und wir müssen darum etwas für Sie tun. In diesem Aufzuge werden Sie in Ihrem Leben keine Stelle bekommen, das kann ich Ihnen schriftlich geben.«

»Aber was soll ich denn tun?«

»Laßt sie doch,« warf die Blondine ein, »wer ›Schick‹ nicht in sich hat, wird ihn nie lernen.« Das schien den anderen ebenfalls einzuleuchten, und sie sprachen nichts mehr zu mir.

Endlich hatten nun alle ihre Hüte auf und suchten in ihren Körben und Koffern nach einem Paar Handschuhe, die keine Löcher hatten, nach einem reinen Taschentuch und dergleichen Dingen mehr.

Endlich, endlich setzte sich der Zug in Bewegung; ich hielt mich auf der Straße hinter den Mädchen, weil ich dachte, sie schämten sich meiner. Die Bemerkung der einen aber, sie könne es mir schriftlich geben, daß ich in meinem Aufzuge keine Stelle bekommen würde, verfolgte und peinigte mich, da ich unmöglich lange ohne Stelle sein durfte, wenn ich nicht die Hilfe meines Freundes noch einmal in Anspruch nehmen wollte. Und das wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte ihm bis jetzt nur einige Karten von der Reise geschickt, nahm mir aber vor, ihm ausführlich zu schreiben, sobald ich über die Verhältnisse etwas mehr Bescheid wußte. Mit diesen Gedanken beschäftigt, schenkte ich meiner Umgebung weniger Aufmerksamkeit, nur einmal, als wir über eine mächtige Brücke gingen, blieb ich stehen und betrachtete entzückt einen Schwarm grauweißer Vögel, dergleichen ich früher nie gesehen hatte. Es waren Möwen. – Nach vielem Herumwandern, das mich recht müde machte und mir meine Schmerzen in den Knien in Erinnerung brachte, hielten die Mädchen vor einem großen Hause und drängten sich hinein. Das Zimmer, in das ich ihnen folgte, war ziemlich geräumig, und auf den Stühlen und Bänken saßen Mädchen, die anscheinend auch Stelle suchten. Am Schreibtisch hatten eine ältere Dame und ein junges Mädchen Platz genommen, die emsig in großen Büchern schrieben. Die Mädchen wurden der Reihe nach vorgerufen, und nachdem diejenigen, die wir bei unserem Eintritt vorgefunden hatten, gegangen waren, kam die Reihe an uns. Die Blondine trat zuerst vor und setzte sich mit sehr viel Würde auf den Stuhl. »Was ich will,« sagte sie auf die Frage der älteren Dame, »ist eine Stelle, die mir genug Zeit läßt, meine Bekannten bei mir und außerhalb des Hauses zu sehen; ferner übernehme ich nur ein Kind, das nicht unter sechs und nicht über zwölf Jahre sein darf.« Die jüngere der beiden am Schreibtische machte eifrige Notizen. Die ältere lächelte freundlich und erklärte, daß sie gerade nichts Passendes hätte. Darauf verließ die Blondine ihren Sitz mit einem Achselzucken, und eine andere setzte auseinander, was sie wolle und was sie nicht wolle. Auch ihr wurde mit demselben höflichen Bedauern gesagt, daß nichts Passendes da sei. Nachdem jede aufgerufen war und keine etwas bekommen hatte, verließen sie das Zimmer gemeinsam und taten, als ob ich gar nicht da wäre.

Als sie fort waren, atmete ich erleichtert auf und begab mich nun auch zum Schreibtisch.

»Sie sind wohl erst angekommen?«

»Gestern.«

»Ich vermute, daß Sie die Reise angegriffen hat, weil Sie so blaß aussehen.«

»Ich bin immer blaß.«

»Welches sind Ihre Ansprüche?«

»Ich habe gar keine Ansprüche, ich möchte nur recht bald irgendeine Stelle haben.«

»Besitzen Sie Zeugnisse?«

Ich reichte ihr mein Zeugnis aus Budapest, und sie las es aufmerksam durch. Dann faltete sie es zusammen und sah mich nachdenklich an. »Würden Sie Hausarbeit scheuen?«

»Nicht im geringsten,« antwortete ich, und neue Hoffnung erfüllte mich. Sie langte nun nach einem der großen Bücher und blätterte eine Weile darin.

»Würden Sie aufs Land gehen?«

»Mit größtem Vergnügen.«

Darauf nickte sie eifrig und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle im Buch.

»Hier wäre etwas, das Ihnen sicher gefallen würde. Die Dame sucht ein Deutsch sprechendes Mädchen, das sich nicht scheuen würde, alle Arbeiten im Hause zu verrichten und zu gleicher Zeit eine Gesellschafterin für ihre vierzehnjährige Tochter abgeben würde. Es ist auch eine junge Französin da, die ebenfalls bei der Arbeit hilft. Was sagen Sie dazu?«

Ich dachte an die acht Betten und die Mädchen im Heim und sagte, daß ich glücklich sein würde, die Stelle zu erhalten.

»Die Dame hat versprochen, heute um zwei Uhr wiederzukommen. Wenn Sie warten wollen, können Sie selber mit ihr sprechen.«

Ich verbarg mein Entzücken so gut als ich konnte und nahm meinen früheren Stuhl wieder ein, nachdem ich erklärt hatte, daß ich gerne warten würde. Nach ungefähr einer Stunde kam die Dame. Sie zählte vielleicht vierzig Jahre und sah recht gütig aus. Sie wiederholte nur, was ich schon gehört hatte, und ich war mit allem einverstanden. Zum Schluß gab sie mir ihre Karte mit Namen und Adresse und bestimmte den zweitnächsten Tag für meinen Eintritt in ihr Haus. Als alles verabredet war, reichte sie mir zum Abschied die Hand; doch plötzlich schien ihr etwas einzufallen und sie zog sie wieder zurück. »Haben Sie schon zu Mittag gegessen?« frug sie mich, und ich verneinte der Wahrheit gemäß.

»Dann müssen Sie mit mir kommen.« Darauf hieß sie mich in den Wagen steigen, in dem sie gekommen war. Einige Minuten später hielten wir vor einem Restaurant, und meine Dame frug mich, was ich essen möchte. Ich erwiderte, daß mir das ganz gleich sei, worauf sie mir ein gutes Essen bestellte und sich anscheinend über meinen guten Appetit freute. Als ich fertig war, führte sie mich wieder auf die Straße und sah sich nach einem der roten Motorwagen um, der mich ins Heim zurückbringen sollte. Sie fand auch bald, was sie suchte und bat den Kondukteur, auf mich acht zu geben und mich aufmerksam zu machen, wenn es Zeit sei, abzusteigen. Dann grüßte sie mich noch einmal recht freundlich, und ich fuhr ins Heim.

Dort angekommen, ging ich sofort zur Vorsteherin und erzählte ihr von meinem Glücke. Sie sah mich zweifelnd an. »Die Sache gefällt mir nicht, es ging zu schnell; doch alles, was wir tun können, ist, der Güte des Herrn zu vertrauen.« Ich versicherte sie, daß ich das täte, ging dann in das Schlafzimmer und schrieb einen langen Brief an meinen Freund. Gegen Abend kamen die Mädchen zurück, mit denen ich am Morgen fortgegangen war. Sie fragten mich höhnisch, ob ich schon eine Stelle habe. Als sie erfuhren, daß dies der Fall sei, bestürmten sie mich mit Fragen, und ich erzählte, was ich wußte. Nachdem ich geendet, zuckte die Blondine wieder die Achsel: »Das ist eben eine Stelle als Küchenmädchen, so etwas könnte ich auch bekommen, aber zum Kochen und Waschen bin ich denn doch zu gut,« und während sie das sagte, gab sie ihrem Hut eine neue Fasson.

Der kleine Ort, wo meine neue Dame wohnte, liegt ungefähr zwei Stunden von London entfernt, an der Themse. Die Dame selbst holte mich vom Bahnhofe ab, und das Haus, in das sie mich führte, steht abseits von den andern Gebäuden, und zwar hart am Rande des Wassers. Unter leutseligem Geplauder brachte sie mich in ein ziemlich großes Zimmer und bedeutete mir, daß das mein Zimmer sei. ... Allein gelassen, schaute ich mich um. Die niederen Wände waren mit einer freundlichen hellgrauen Tapete bekleidet, und das schwarze massive Eisenbett trug eine Decke in derselben Farbe. In einer Ecke stand ein Waschtisch mit einer grau geäderten Marmorplatte und einem weißen Waschgeschirr. Rechts davon befand sich ein Tisch und ein Stuhl. Das Zimmer hatte zwei Fenster. Eines davon ging in den Hof; der Blick dahin aber wurde durch das weit vorspringende Dach eines Schuppens aufgehalten. Doch war dieses Dach so dicht und so schwer mit einer großblätterigen Schlingpflanze bewachsen, daß es einem förmlichen Walde glich und ich mich später an den Farbenwandlungen vom zartesten Grün bis zum brennendsten Rot nie satt sehen konnte. Das andere Fenster ging auf den Garten hinaus, der sich bis hinunter zum Fluß erstreckte. Auf dem anderen Ufer dehnten sich weite Wiesen von einem tiefen gleichmäßigen Grün. Es war dieses Fenster, an das ich mich lehnte und hinausschaute, nachdem ich mit einem langen, erlösenden Atemzuge die Reinlichkeit und Behaglichkeit des Zimmers festgestellt hatte. Ich schaute auf die Themse, von der ich als Kind gehört hatte und derentwegen ich in der Schule so oft Schläge bekam, weil ich nie wußte ob London oder Paris an ihren Ufern lag. Ich blickte auf den langen, grünen Rasen, der so weich und lässig lag, unberührt von einer Menschenhand, die etwas aus ihm gewinnen wollte. Wie weit mein Auge reichte, sah ich keinen Strauch und keinen Baum, nur das grüne unbenützte Land, das ein Gepräge der Wohlhabenheit und der Stille trug. Ich empfand diese Stille so wohltuend, und unwillkürlich faltete ich die Hände.

»Leben,« sagte ich ganz leise, »Leben, wunderbares Leben.« Denn wunderbar fand ich es trotz der schweren Müdigkeit in allen Gliedern und der brennenden Sehnsucht in meiner Brust. –

Später wurde ich hinunter gerufen und lernte die Tochter des Hauses, sowie die Französin kennen. Erstere sprach Deutsch, letztere nicht. Da ich aber kein Französisch verstand, sprachen wir beide Englisch, und zwar beide schlecht. Die Französin war, wie ich bald herausfand, ein sehr oberflächliches Mädchen. Sie haßte förmlich die Arbeiten, die wir gemeinsam in Küche und Zimmer zu verrichten hatten, und trotz ihrer Jugend, sie zählte erst siebzehn Jahre, hatte sie schon eine Menge Liebschaften hinter sich. Jedesmal wenn wir Teppiche klopften, das Geschirr wuschen, Kleider oder Schuhe reinigten, erzählte sie mir von den Männern, die ihren Weg gekreuzt hatten und mehr oder weniger für ihr Leben verhängnisvoll geworden waren. Hatte sie aber alles ausgekramt, und auch über ihre letzte Eroberung, einen Krämer oder einen Apothekerjungen, ausführlich berichtet, forderte sie mich auf, doch auch etwas zu erzählen. Daraufhin aber schüttelte ich immer entschieden den Kopf und lächelte. Was hätte ich der erzählen können? Das, was mich manches Mal so glücklich und manches Mal so traurig machte, war ein Märchen so fein und wunderbar, das sie nie begriffen hätte ... und wenn sie dann wieder, unbekümmert um mein Lächeln und mein Schweigen, in den Strom der eigenen Erlebnisse untertauchte, war ich recht still und wusch und klopfte oder bürstete noch einmal so rasch wie sie ...

So verging die Zeit qualvoll, qualvoll und doch gemischt mit einer glückseligen Hoffnung, daß er früher oder später um mich kommen würde. Unklar, unbewußt, aber unerschütterlich lebte dieser Glaube in mir. Unzählige Male stellte ich mir vor, wie das sein würde. Die Glocke würde läuten; ein ganz kurzer energischer Ruck, und unerwartet und unangemeldet würde er plötzlich in der Küche stehen ... dann würde ich ihn hinauf in mein Zimmer nehmen, ihm, glücklich wie ein Kind sein Spielzeug, das Blätterdach, den Fluß und die Wiesen zeigen, bis er plötzlich mit einem Blick auf mein schwarzes Kleid, die weiße Schürze und die lang herabwallenden Mützenbänder, alles Abzeichen meiner Stellung, die Ausdauer und Unermüdlichkeit meines Herzens und meiner Hände begriffen haben würde und mich schweigend in seine Arme ziehen ... Aber das waren die törichtsten Träume, die ich je geträumt habe ...

Nach und nach lernte ich die innere Einrichtung eines englischen Haushaltes gründlich kennen. Obwohl die Dame Witwe war, führte sie doch ein ziemlich großes Haus, und all die großen und kleinen Veranstaltungen, wie Teegesellschaften, Picknicke und dergleichen, die so charakteristisch englisch sind, fehlten nicht. Diese Versammlungen verdoppelten zwar unsere Arbeit in Haus und Küche, doch suchte ich mich durch eifriges Erlauschen der englischen Sprache, die zu hören ich fast gar keine Gelegenheit hatte, schadlos zu halten. Selbstverständlich war das nicht sehr viel, doch mit großem Fleiß und Eifer (ich lernte aus englischen Büchern jeden Abend bis tief in die Nacht) machte ich ganz schöne Fortschritte.

Die Dame war zu mir immer recht gütig, doch mußte ich manches Mal über das Verhältnis lächeln, das zwischen ihr und ihrer Tochter bestand. Das fünfzehnjährige Mädchen tyrannisierte ihre Mutter in unglaublicher Weise. Die Dame war fest davon überzeugt, daß ihr Kind alle Eigenschaften einer großen Künstlerin in sich vereinigte, und tat alles, was in ihren Kräften stand, dem heranreifenden Genie Gelegenheit zur Entfaltung seiner Talente zu geben. Allerdings, das Mädchen sang, tanzte, zeichnete, malte und dichtete, doch war ich über den Wert oder Unwert ihrer Leistungen nie klar. –

Einmal, als ich beschäftigt war, Teppiche zu klopfen, kam meine Dame blaß vor Aufregung auf mich zugestürzt und bat mich, den Lärm einzustellen, da »Miß Daisy« dichte. Ich nahm den schweren Teppich sofort von der Stange, dachte aber dabei an meine eigenen Gedichte, die noch immer eine heimliche Quelle meiner kargen Freuden waren, und frug mich, wieviel ich wohl hätte dichten können, wenn ich dazu solch absolute Ruhe nötig gehabt hätte. Im Laufen und im Arbeiten hatte ich sie gedichtet und niemand frug danach. Niemand? Nein, manches Mal kam ein Brief, und in dem hieß es, daß das eine oder das andere der letztgesandten Gedichte herrlich sei. –

Nachdem ich einige Zeit auf der Stelle war, trat ein Ereignis ein, das die Verhältnisse etwas umgestaltete. Miß Daisy erkrankte am Scharlach. Sobald die Französin dies hörte, verließ sie das Haus noch am selben Tag.

»Wollen Sie auch gehen?« frug mich die Dame.

»Gewiß nicht!« sagte ich.

Es folgten nun ängstliche sieben Wochen, und nach Verlauf dieser Zeit verordnete der Arzt für die Kranke Luftwechsel. Alle nötigen Sachen wurden sofort eingepackt, und einige Tage später rauschten unter unseren Fenstern die vielbesungenen Wellen der nordischen See. Ich hatte ein Zimmerchen für mich bekommen und konnte kaum erwarten, mich dahin zurückziehen zu dürfen. Endlich kam der Abend. Obwohl von der Reise sehr ermüdet, dachte ich doch nicht ans Schlafen, sondern öffnete mein Fenster, so weit ein englisches Fenster eben zu öffnen geht, und schaute mit staunenden Augen über das wogende Wasser, auf dem jetzt das Mondlicht tanzte und sprang. Sehr spät suchte ich in dieser Nacht mein Bett auf. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es noch sehr früh; im Zimmer nebenan war noch alles still, und ich kleidete mich leise an. In der Nacht hatte ich einen seltsam schönen Traum gehabt. Ich wollte ihn festhalten, niederschreiben und suchte unter meinen Sachen nach einem Bogen Papier. So, während der Himmel sich röter und röter färbte, entstand ein Gedicht, und ich nannte es »Ruby«.

Nach fünf Wochen kehrten wir nach Hause zurück, und meine Dame nahm vorläufig kein neues Mädchen ins Haus. Meine Pflichten verdoppelten sich nun, und ich hatte noch weniger Zeit als früher. Die wenigen Augenblicke, die ich erübrigen konnte, füllte ich mit der Erlernung der Sprache aus, und langsam, aber sicher erfaßte ich das Wesen derselben. Einmal fiel mir ein Buch von Milton in die Hände, und trotz meiner noch mangelhaften Sprachkenntnisse las ich das »verlorene Paradies« mit größtem Eifer. Oft überwältigte mich der kühne Gedankenflug, die bilderreiche Sprache, die Phantasie und die Erhabenheit des Ganzen. Oft, unendlich oft, schlug ich aber auch die Seite der Sonette auf, wo es hieß:

When I consider how my light is spent
E're half my days, in this dark world and wide
And that one talent which is death to hide
Lodg'd with me useles though my soul more bent
To serve therewith my Maker and present
My true account, least he returning chide.
Doth God exact day-labour, light deny'd
I fondly ask; but patience to prevent
That murmur soon replies: God doth not need
Either man's work or his own gifts. Who best
Bear his mild yoke, they serve him best. His State
Is Kingly. Thousands at his bidding speed
And post o'er Land and Ocean without rest;
They also serve who only stand and wait.

Und jedesmal, wenn ich dies gelesen hatte, fiel ich in ein sonderbares Grübeln, ein Grübeln, aus dem später meine größte Niederlage und mein größter Sieg hervorging ... Nach und nach schaffte ich mir die Gedichte von Lord Byron, von Keats, auch von Longfellow an, und es verging kein Tag, an dem ich es nicht möglich gemacht hätte, in dem einen oder dem anderen Buche zu lesen. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß ich alle Gedichte durchlas, im Gegenteil, viele von ihnen fand ich langweilig. Gewöhnlich blätterte ich in einem neuen Buche so lange, bis ich auf ein Gedicht stieß, das mir sehr gut gefiel, und dieses las ich dann, so oft ich nach dem Buche griff. Oft las ich ein ganzes Gedicht nur einer einzigen Stelle wegen immer und immer wieder, wie z. B. das Gedicht von Byron:

Ah! Love was never yet without
The pang, the agony, the doubt ...

und dann einige Zeilen weiter:

That Love had arrows well I knew
Alas! I find them poison'd too.

Dieser letzten Stelle wegen wanderte ich durch das ganze Gedicht, welches mir im übrigen gar nicht gefiel.

In Keats war mein Lieblingsgedicht:

I had a dove und the sweet dove died
And I had thought it died of grieving:
O, what could it grieve for? its feed were tied
With a silken thread of my own hands weaving;
Sweet little red feet! why should you die?
Why should you leave me, sweet bird, why?
You lived alone in the forest-tree,
Why, pretty thing! would you not live with me?

Dieses Gedicht schien mir so einfach, so süß, und ich sagte es immer leise vor mir her, wenn ich die Wäsche wusch oder den Boden scheuerte. Überhaupt ist das so eine Gewohnheit von mir, bei jeder Beschäftigung, die es möglich macht, mir Gedichte aufzusagen. Der Gang eines Gedichtes hat für mich etwas ungemein Beruhigendes, und ich habe die Süßigkeit, die aus einer gleichmäßig wogenden Verszeile auf mich strömt, noch in keiner anderen Form der Dinge gefunden.

In dieser stillen Weise verfloß die Zeit. Mein Freund hatte mir in den ersten Monaten meines Aufenthaltes in England ziemlich oft geschrieben, doch wurden nach und nach seine Briefe sehr selten. Manchmal ließ er mich monatelang auf die Beantwortung meiner Briefe warten, und ich dachte, er habe mich vergessen. Die Sehnsucht, die ich dann in solchen Stunden empfand, kann ich nimmer beschreiben; wie ich täglich und stündlich seine Nähe fühlte und immer auf irgend etwas Unbegreifliches, auf etwas Wunderbares wartete, das ihn mir bringen sollte. In diesem Glauben ging ich so weit, daß ich, so oft die Glocke ging, zusammenzuckte, weil ich meinte, er sei da ... Doch er war es nie ...

Eines Tages sagte mir meine Dame, sie hätte eine Einladung nach Schottland bekommen, könne mich aber nicht mitnehmen. »Ich habe mir nun gedacht,« fuhr sie fort, »daß, da Sie noch gar nichts von London gesehen haben, Sie sich die Stadt ansehen sollten. Am besten wird es sein, wenn Sie dazu für die paar Wochen in das Heim gingen. Selbstverständlich trage ich die Kosten hierfür.«

»Dorthin gehe ich nicht gerne,« erwiderte ich.

»Warum nicht? Das Heim ist ein sehr frommes Heim, und ich bin überzeugt, daß Sie dort gut aufgehoben sind.« Dagegen wagte ich nichts einzuwenden. Die Vorbereitungen zur Abreise wurden noch am selben Tage getroffen, und am nächsten Tage brachte mich die Dame selbst nach dem Heim und empfahl mich der besonderen Fürsorge der Vorsteherin.

Ich wohnte nun wieder in dem Zimmer mit den acht Betten. Ich kannte keines der Mädchen und bemühte mich auch durchaus nicht, sie kennen zu lernen. Als ich aber abends in den Speisesaal trat, wartete meiner eine Überraschung. Jemand rief meinen Namen. Ich wunderte mich sehr darüber und fragte mich, wer das sein könne; welches der Mädchen mich denn kennen könnte. Diejenige, die mich bei meinem Namen gerufen hatte, saß bei Tische und winkte mir mit beiden Händen. »Kommen Sie doch!« rief sie lebhaft. Ich konnte mich nicht erinnern, sie je gesehen zu haben und glaubte schon, daß sie sich in der Person irre, als mir auf einmal einfiel, wer sie sei. Es war meine frühere Bettnachbarin, das Mädchen mit den großen glänzenden Augen und dem reichen braunen Haar. Es freute mich nun doch, daß mich hier jemand kannte und begrüßte. »Suchen Sie eine Stelle?« frug ich einmal während des Essens. »Nein,« antwortete sie, »ich wohne hier,« und dann erzählte sie mir, daß sie deutsche Korrespondentin sei.

Ich hörte kopfschüttelnd zu. »Ich kann nicht begreifen, daß Sie es hier aushalten können.« »Warum?« frug sie. »Wegen des Schlafens,« worauf sie erwiderte, daß sie schon daran gewöhnt sei.

»An so etwas könnte ich mich nie gewöhnen.«

»In dieser Welt,« antwortete sie, »muß man sich an vieles gewöhnen,« und als sie das sagte, wurde ihr Gesicht sehr traurig.

Als zum Gebet geläutet wurde, stellten wir uns nebeneinander, und als das Lied gesungen wurde, horchte ich auf die leisen, schwermütigen Töne, in denen das Mädchen neben mir sang.

Den nächsten Morgen hatte ich beschlossen, in das Britische Museum zu gehen; sagten doch alle, daß ich das gesehen haben müsse. Da es vom Heim nur einige Minuten entfernt war, so hatte ich nicht erst viel nach dem Wege zu fragen. Als ich vor dem monumentalen Gebäude stand, blickte ich entzückt auf unzählige Tauben, die ganz furchtlos schienen und einigen Leuten das Futter sogar aus der Hand fraßen. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte nur die Tauben betrachtet, doch innerlich machte mir etwas Vorwürfe, daß ich so wenig Interesse für das Britische Museum empfand, und um dieses innerliche Etwas zu befriedigen, stieg ich endlich die Stufen empor, die in die verschiedenen Räume führten. Leider muß ich jetzt wie damals bedauern, daß meine Kenntnisse viel zu ungenügend sind, um die Schätze, die in jenen Zimmern aufgehäuft liegen, würdigen zu können. Ich erinnere mich an unzählige altersschwarze Gegenstände, die hinter Glasschränken verwahrt sind und von denen ich weder den Wert, noch ihre Bedeutung verstand. Die Säle, in denen sich die ägyptischen Mumien befanden, erweckten in mir jene Scheu, die ich als Kind in der Kirche empfand, und ich wagte nur mit den Zehenspitzen aufzutreten. Doch diese Ehrfurcht verschwand, je länger ich auf die großen Wickelkinder mit den steifen, dunkeln Gesichtern blickte ... Da vor mir in einem Glasschrank lag der letzte Rest eines Fürsten, eine Hand, deren Finger gelbe Ringe zierten. Einst winkte diese Hand gebieterisch und tausend Sklaven sanken zitternd nieder ... Wo ist heute dein Reich? ... Wo ist heute dein Heer? ... Und wo bist du selbst? ... Und was wurde aus deinen Qualen? ... Und was wurde aus deinem Glück? ... So frug ich die braune Hand mit den gelben Ringen, und die Antwort war eine für mich neue Überzeugung: daß es noch kein Ich gibt – daß Gott noch an der Schöpfung arbeitet – daß wir das Mittel zum Zweck, aber der Zweck nicht sind.

Nach vielem Hin- und Herwandern kam ich in einen Raum, der ebenfalls Glasschränke enthielt, in dem größere und kleinere Stücke braunes Papier sorgfältig aufgesteckt waren. Ich besah mir dieselben anfangs aus pflichtgetreuer Neugierde, doch schon in der nächsten Minute durchrieselten mich fromme Schauer. Die braunen Stücke Papier waren Papyrus, von denen ich schon so oft gehört hatte, ohne je einen gesehen zu haben. Es befanden sich mehrere dort, doch kehrte ich immer nur zu dem einen zurück, worüber die kleine Tafel sagte: »Ein mit fünf Versen beschriebener Papyrus von Sappho aus der Ode an ihren Bruder Charaxus.« Ich konnte kein Auge davon wenden und ging nun drei Wochen lang der Tauben und des Papyrus wegen ins Britische Museum. Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt, den Papyrus zu stehlen, doch kam es nicht so weit, da sich im Saale stets zwei Polizisten befanden, die schon anfingen mich argwöhnisch zu beobachten. Über den Papyrus, der, wie ich eben bemerke, seine alte Anziehungskraft für mich noch immer nicht verloren hat, darf ich aber nicht meinen Besuch in dem alten berühmten Tower zu erwähnen vergessen. Aus den herrlichen Rüstungen, mit denen die Wände gefüllt waren, sowie den großen Diamanten, um den sich in der Schatzkammer alles drängte, machte ich mir aber nicht viel. Ich verließ die schmalen Gänge und die dunklen Gemächer ziemlich rasch, setzte mich im Schloßhof auf eine Bank und betrachtete voll wehmütiger Empfindung die Kupferplatte, die meldete, daß auf dieser Stelle zwei junge wunderschöne Königinnen geköpft wurden. – Heute fegte der Herbstwind sonnenverbrannte Blätter darüberhin! –

Von solchen Ausflügen kehrte ich immer ziemlich spät ins Heim zurück, von dem Mädchen, das sich mir enger angeschlossen, ungeduldig erwartet. Nach und nach entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns, von der ich nicht recht wußte, wie sie eigentlich entstanden war. Ich glaube, was mich zu ihr zog, waren ihre Augen, die so seltsam wehmütig und traurig aussehen konnten. Ohne daß sie mir irgendwelche Erklärung gegeben hatte, war ich überzeugt, daß sie ein heimlicher Kummer quäle. Als wir einmal plaudernd zusammen saßen, wurde mir ein Brief von meinem Freunde überbracht. Da ich schon ziemlich lange darauf gewartet hatte, freute ich mich sehr darüber. Er schrieb mir, daß er sehr beschäftigt sei und daß ich sein langes Schweigen verzeihen müsse, er arbeite jeden Tag bis Mitternacht und würde ausführlicher berichten, sobald er etwas mehr Zeit hätte. Meine Freundin bemerkte die Freude, die mir die wenigen Zeilen bereiteten, und frug mich lächelnd, ob der Brief von jemand sei, den ich lieb hätte, und ob dieser vielleicht ein Mann sei. Ich bejahte es zögernd und erzählte ihr dann von ihm. Während ich sprach, wurde sie trauriger und trauriger, und zum Schluß weinte sie.

»Wenn ich Sie nur vor vier Jahren kennen gelernt hätte, ehe ich nach Paris ging.«

Ich war ganz bestürzt und konnte ihre Aufregung nicht verstehen.

»Warum,« frug ich endlich, »hatten Sie so wenig Gesellschaft in Paris?«

»Nein, nein,« stieß sie aufspringend hervor, »viel – zu viel.«

Noch ehe ich ihre Worte begreifen konnte, öffnete sich die Türe und einige Mädchen kamen herein. Wir begannen deshalb von gleichgültigen Dingen zu reden, doch bemerkte ich, daß ihre Wangen sehr blaß waren und ihr Lächeln ein gezwungenes war.

An einem der nächsten Tage erhielt ich von meiner Dame einen Brief, worin sie mir mitteilte, daß sie Ende der Woche zurückkommen werde und ich das Heim dann verlassen müsse. Diese Nachricht betrübte meine Freundin ungemein; sie wich die ganze Zeit nicht von meiner Seite und sagte, sie wisse nicht, was sie anfangen solle, wenn ich fort sei. Am Tage vor meiner Abreise war sie wieder eigentümlich unruhig und fing oft Sätze an, ohne sie zu vollenden.

»Bedrückt Sie etwas?« frug ich sie.

»Ja.«

»Wollen Sie es mir nicht sagen?« Ich strich zärtlich bei diesen Worten über ihre Hand.

»Ja,« sagte sie mit so schmerzlicher Stimme, wie ich noch nie einen Menschen hatte reden hören. Dann schloß sie ihre großen, glänzenden Augen, und ganz leise, als ob sie sich fürchtete, ihre eigenen Worte zu hören, erzählte sie mir eine sehr traurige Geschichte. Als sie geendet, weinten wir beide.

»Ist das Kind ein Mädchen oder ein Knabe?« frug ich endlich.

»Ein Mädchen,« erwiderte sie tonlos.

»Und lebt es?«

»Ich weiß es nicht.«

Ich sprang vom Bett auf und sah sie ungläubig an. »Wie ist das möglich, Sie wissen nicht, ob Ihr Kind lebt oder nicht?«

Sie blickte mich mit blöden, hilflosen Augen an, und mein Mitleid quoll empor. »Sagen Sie mir alles,« bat ich mit sanfter Stimme, »vielleicht erleichtert es Ihr Herz.« Und dann erzählte sie mir alles; wie der Mann sich nicht mehr um sie gekümmert, wie sie neun Monate lang gehungert hatte, um ihr Kindchen bei sich haben zu können, – wie sie endlich krank wurde und das Kind fortgab, um es vor dem Hungertode zu schützen. Während der Erzählung flossen ihr die Tränen unaufhörlich über die Wangen, und ich streichelte ihre Hände.

»Wo haben Sie es denn hingegeben?« frug ich leise.

Darauf schloß sie die Augen, als ob sie nachdächte, und sagte: »In Paris ist ein Haus, wo man jedes Kind abgeben kann, ohne etwas zu bezahlen oder einen Namen nennen zu müssen.«

»Und dorthin –?«

Sie nickte mit dem Kopfe und lehnte sich müde auf das Bett.

»Sie müssen ja wahnsinnig gewesen sein – Nun können Sie ja das Kind nie mehr finden.«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »O ja, ich kann es wiedererkennen. Jedes Kind bekommt bei der Aufnahme einen kleinen Reifen aus Eisen um das Handgelenk, und an dem Reifen hängt eine Nummer.«

Ich schwieg, und weil es eben zum Abendessen läutete, schritten wir hinunter. Wir aßen beide fast nichts, und als später das Lied gesungen wurde, da hörte ich wieder nur die leisen, schwermütigen Töne neben mir. Den ganzen Abend sprachen wir nichts mehr über die Angelegenheit. Ich beschäftigte mich mit Packen und ging spät zu Bett. Schlafen konnte ich nicht, ich richtete mich mehrere Male leise im Bette auf und blickte auf meine Freundin. Sie lag ganz ruhig, und ich glaubte, sie schliefe. Endlich fielen auch mir die Augen zu, und im Halbschlummer sah ich ein kleines Mädchen, das in einem schmutzigen Hofe spielte ... es hatte die großen, glänzenden Augen meiner Freundin ... es hatte das reiche braune Haar meiner Freundin, aber um das Handgelenk trug es einen kleinen Reifen, und an dem Reifen hing eine Nummer....

Meine Verhältnisse wurden nun wieder die alten. Wie früher scheuerte ich die Böden, wusch die Wäsche und besorgte die Küche. Ich dachte dabei oft an meine Freundin in London und hegte heimlich den Wunsch, in ihrer Nähe zu sein. Doch eines Umstandes halber verwarf ich diesen Wunsch immer wieder. Ich hatte mir nämlich fest vorgenommen, meinem Freunde das Geld zurückzuschicken, das ich ihm schuldete. Selbstverständlich war das nicht leicht für mich, da ich nur dreißig Schilling als monatlichen Lohn erhielt und davon auch noch meine Eltern unterstützte. In letzterer Zeit hatte ich das allerdings nicht mehr zu tun, da sich die Verhältnisse zu Hause gebessert hatten und ihnen überdies auch mein Bruder nicht mehr zur Last war. Meine Eltern hatten lange nichts mehr von ihm gehört. Sie wußten nur, daß er den ihm verhaßten Beruf eines Kellners aufgegeben hatte, um jenseits des Ozeans in einer anderen Betätigung sein Glück zu suchen. Vor kurzem schrieb mir mein Vater, daß ihm ein deutsches Zeitungsblatt aus Brasilien zugegangen sei, das Mitteilungen über die kühne Luftfahrt eines Aviatikers Aranya enthielt. Am Rande dieser Beschreibung standen die Worte: »Besten Gruß Euch allen. Solange ich mir nicht das Genick breche, geht es mir gut. Karl.« Zu dem oben angeführten Zwecke sparte ich alles Geld, das ich aus den dreißig Schillingen erübrigen konnte, und der Gedanke, meinen Freund mit der Sendung des Ganzen überraschen zu können, machte mich ungemein glücklich.

Hätte ich nun meine Stelle aufgegeben, um in London mir eine andere zu suchen, wäre immerhin ein Teil der Summe daraufgegangen, und ich wollte mich von keinem Penny trennen.

Selbstverständlich schrieb ich meinem Freunde nie etwas über diesen Gegenstand, sondern berichtete stets nur über meine Beschäftigung und dergleichen.

Seine Briefe kamen nur selten, doch in letzter Zeit enthielten sie immer Vorwürfe über meine anscheinende Zeitverschwendung. »Sind Sie denn,« so schrieb er, »nach England gegangen, um Kochen zu lernen? Dazu hätten Sie wahrhaftig nicht nötig gehabt, nach England zu gehen. Sie wissen, daß ich so gerne beitragen möchte, Ihre Bildung und somit Ihr Talent zu fördern, und ich bitte Sie, die Stelle, die Sie jetzt innehaben, sofort aufzugeben und sich in London, sagen wir, etwas für den Vormittag zu suchen und den Nachmittag für Ihr Studium zu verwenden. Selbstverständlich sorge ich dann für Ihr Unterkommen usw.« So lockend aber auch der Vorschlag für mich war, so konnte ich mich doch zu einem solchen Schritte nie entschließen, und seufzend kehrte ich immer wieder zu meinen Töpfen und Pfannen zurück. Aber es war mir zumute, wie dem Büblein im Lesebuch, das immer sagte:

»Wenn nur was käme und mich mitnähme!« Aber es kam nichts.

Ein Monat verging nach dem andern, und ich fühlte mich oft körperlich recht müde. Nach und nach wurde auch mein Herz müde, und endlich verweigerte es zu zittern, wenn die Glocke ging, und ein vorschneller Gedanke frug: Ist es »er«? Aber noch wartete ich, wartete vor der Schwelle seines Herzens, bis sich die Türe auftun würde und er heraustreten würde: Güte auf den Lippen, Erfüllung in den Augen ...

Und dann wieder kamen Stunden, in denen ich fast bereute; Stunden, in denen meine heimlichsten Gedanken sich zu verkörpern schienen und mit spöttischen Gesichtern vor mich traten. »Warum bist du denn eigentlich fort von ihm?« höhnten sie oft. Ja, warum war ich denn eigentlich fort von ihm? ... Natürlich, um andere Leute und Verhältnisse kennen zu lernen ... Hatte nicht er es so genannt? Hatte nicht ich so gewollt? – Gewollt? – Und als auf diese Frage jeder Blutstropfen verneinte, frugen dieselben fürchterlichen Stimmen wieder: »Und wenn du nicht fort wolltest, warum bist du denn gegangen?« – Und ganz urplötzlich wußte ich es, und meine Wangen lernten eine neue Röte und mein Herz lernte eine neue Qual. – So im Hader mit mir selbst verging die Zeit.

Es war einmal in einer Nacht, in der ich nicht schlafen konnte, trotzdem ich den ganzen Tag gelaufen und gearbeitet hatte, daß ich mit offenen Augen lag und sann und sann, bis alle guten und alle bösen Geister um mich waren. – Wie mit hundert Händen griffen sie in meine Gedanken, zogen und zerrten, suchten und wühlten, zerrissen und banden; und als sie fort waren, da tanzten feurige Buchstaben durch das dunkle Zimmer, die sich endlich zu einer Frage formten, und die Frage hieß: »Darf ich wiederkommen?« – Warum nicht? schrie ich und ballte die Fäuste gegen die glänzenden Zeichen. Ist unsere Freundschaft nicht so rein, so fein, so wunderbar, – und da wuchs um jeden Buchstaben ein Kranz von Flammen, und als ich wieder hinblickte, da stockte mein Atem. »Eben darum,« hieß es, und hinter der Schrift lag ein vornehmer ruhiger Schein. Aber ich wollte die Schrift und den Schein nicht sehen und schloß die Augen, wie ein eigensinniges Kind. Dieser Nacht folgte eine andere und eine andere. Nach und nach schienen sich alle Dinge um mich mit den Ungeheuern verbündet zu haben; mein eigenes Selbst schien höhnisch auf mich einzudringen und griff mit frechen Fingern nach dem Stück verborgenen Hoffens, das ich noch immer nicht übergeben wollte.

In solchen Augenblicken aber kam er mir zur Hilfe. Wie durch einen Zauberschlag stand er mitten unter den geifernden Kreaturen, und seine Gestalt überragte die größten unter ihnen.

»Glauben Sie an mich?« frug er, und sein Gesicht zeigte das gütige Lächeln und den besorgten Blick. – »Ja, ich glaube,« sagte ich. – Und dann hielt ich die Worte hoch, wie ich oft den Priester in der Kirche die goldene Monstranz heben sah, und wie damals alles Volk niedersank, so sanken jetzt meine Quälgeister in nichts zusammen und wurden still. –

Mein Freund wußte nichts von alledem. Wie wir früher bei unserem persönlichen Verkehr jedes Wort vermieden, das unser heimlichstes Denken hätte bloßlegen können, so waren auch unsere Briefe immer kühl und ruhig, und nur hie und da war vielleicht eine Zeile, die Sehnsucht oder Schmerz nicht ganz verbergen konnte.

Aber von diesen Zeilen lebten wir – ich wenigstens. – An diesen Zeilen hing meine ganze Seele, aus diesen Zeilen trank sie alle Süßigkeit und alle Stärke, deren sie bedurfte, um den oft widerwilligen Körper zur Pflicht zu überreden.

Und so kam es, daß ich manchesmal fast glücklich war. Daß ich mit einem Lächeln in den Augen die kupfernen Töpfe putzte, bis sie blank waren, und selbst die Kälte nicht fühlte, wenn ich an einem Januarmorgen vor dem Hause kniete und die Stufen weißte. Am schönsten aber war es, wenn ich des Abends nach meiner kleinen Sparkasse griff und ihren Inhalt auf mein Bett streute. Dieses Geld war mein größter Schatz. Ich verbarg es immer so ängstlich und weiß nicht, was ich getan hätte, wenn es mir durch irgendeinen Zufall verloren gegangen wäre. Ich war fest entschlossen, die Stelle zu verlassen, sobald ich alles Fehlende verdient hatte und noch eine kleine Summe darüber, die es mir möglich machen würde, im Heim zu wohnen, bis ich etwas Passendes gefunden hatte. Doch es kam früher als ich dachte.

Meine Dame hatte schon lange die Absicht gehabt, ihre Tochter ins Ausland in ein Pensionat zu schicken, und sich ganz plötzlich dazu entschlossen. Sie wollte auch in dem großen Hause allein nicht wohnen und sagte mir, daß sie das Haus vermietet hätte und sie selbst längere Zeit auf Reisen ginge. Da mir vielleicht nur mehr fünfzig bis sechzig Kronen an meinem Ersparten fehlten und ich daher imstande gewesen wäre, das Geld in drei bis vier Monaten absenden zu können, schmerzte mich diese Mitteilung im ersten Augenblick auf das heftigste. Doch dann tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht sehr schnell eine andere Stelle bekommen würde und das Geld dennoch in kürzester Frist absenden könnte.

So verließ ich das Haus, in dem ich achtzehn Monate in einer ganz eigenen Art glücklich und unglücklich war, und als ich mich in meinem Zimmer zum letzten Male umblickte, da kamen mir die Tränen in die Augen, und ich stieg die Treppe schluchzend hinab.

In London angekommen, ging ich wieder in das Heim, wo meine Freundin mich auf das allerherzlichste begrüßte. Sie freute sich sehr, daß ich nun wirklich in London bleiben wollte, doch mehr konnte sie für mich nicht tun. Meine allernächste Sorge war nun, eine Stelle zu finden, um von dem ersparten Gelde nicht zu viel zu verbrauchen. Ich wandte mich wieder an die Vermieterin, die mir meine letzte Stelle besorgt hatte. Nach den üblichen Begrüßungen und Erklärungen sagte sie: »Da Sie nun schon längere Zeit in England sind und auch ein Zeugnis von einer Engländerin besitzen, so dürfte es sicher nicht schwer fallen, etwas zu finden. – Was für eine Stelle möchten Sie denn gerne haben?« Ich dachte an die sechzig Kronen, die ich schon so gerne verdient hätte, und sagte darum, es sei mir ganz gleich, welche Stelle ich hätte, nur würde es mich sehr glücklich machen, etwas Gelegenheit zur Erlernung der englischen Sprache finden zu können. »Möchten Sie wohl,« sagte sie, »under nurse sein?« Ich hatte den Namen nie gehört und konnte mir daher von der Stelle keinen Begriff machen.

»Was ist das?«

»Etwas, das ich Ihnen sehr empfehlen kann. Sie werden nämlich genug Gelegenheit haben, Englisch zu lernen, da die head nurse eine Engländerin ist und mit den Kindern nur Englisch spricht.«

Daraufhin bat ich um alles Nähere, das sie mir bereitwillig gab.

»Am besten ist es,« sagte die Vermieterin, »wenn Sie jetzt selbst hingehen und sich vorstellen. Gefällt Ihnen die Stelle, so ist es gut, gefällt sie Ihnen nicht, so kommen Sie wieder zu mir.« Dann gab sie mir die Adresse und ich machte mich auf den Weg.

Es war ein recht weiter Weg, und als ich nach vielem Herumsuchen endlich an einem sehr hübschen Hause die Glocke zog, war ich todmüde. Ein nettes Stubenmädchen fragte mich nach meinem Begehr und bat mich dann, im Vorzimmer zu warten. Ich setzte mich auf einen der steifen Eichenholzstühle und hoffte heimlich, daß die Dame des Hauses noch sehr lange nicht kommen würde. Sie erschien aber bald und war sehr freundlich. Nachdem sie mir verschiedene Fragen gestellt, sagte sie mir zum Schlusse, ich gefiele ihr ganz gut, nur könne sie mich nicht annehmen, ehe mich die nurse gesehen hätte. Da aber die nurse mit den Kindern ausgegangen sei, so müßte ich entweder warten oder wiederkommen. Ich entschloß mich für das erstere. Allein gelassen betete ich im stillen, daß ich der nurse gefallen möchte. Endlich hörte ich johlende Stimmen herannahen. Gleich darauf trat die Dame ein und bat mich, nach oben zu kommen. Oben waren vier Knaben, ungefähr 5, 7, 9 und 11 Jahre alt, die sich zankten. Eine sehr magere Frauensperson, in der ich richtig die nurse vermutete, versuchte Ruhe herzustellen, ein Unternehmen, das aber erst nach dem Hervorholen eines Stockes erfolgreich war, als alle vier gleichzeitig die schützende Weite suchten. Die nurse stellte den Stock wieder vorsichtig in eine Ecke und hörte aufmerksam den Auseinandersetzungen der Dame zu. Sie blickte mich einige Male an, und mit großer Erleichterung glaubte ich wahrnehmen zu können, daß ich ihr gefiel. Die Dame erklärte mir dann, was ich zu tun haben würde, und mir wurde bange, je länger sie sprach. Als sie mich dann zum Schlusse fragte, ob mir alles recht sei, da dachte ich wieder an die sechzig Kronen und erklärte, mir sei alles recht.

Zwei Tage später trat ich meine neue Stelle an. Hatte ich von der Stellung einer »under nurse« bisher keine Vorstellung gehabt, so sollte ich nun bald eine erhalten. Wie ich sehr schnell herausfand, war ich von den vier Dienstmädchen des Hauses die niedrigste, und jede der drei anderen ließ mich das fühlen.

Da ich auch der Sprache nur unvollkommen mächtig war und weder das Stubenmädchen noch die Köchin Ausländerinnen leiden konnten, so neckten und höhnten sie mich bei jeder Gelegenheit. Auch legten sie mir alle möglichen Arbeiten auf, die sie selbst nicht tun wollten, wie Kohlentragen und dergleichen mehr; um mit ihnen auszukommen tat ich alles. Doch schrecklicher als der Tag war in diesem Hause die Nacht. Ich hatte nämlich mit dem Stubenmädchen und der Köchin in einem Zimmer zu schlafen und biß oft die Zähne zusammen, wenn ich an mein stilles Zimmerchen in Marlow dachte. Die beiden Mädchen unterhielten sich gewöhnlich bis Mitternacht; sie erzählten sich gegenseitig von ihren Liebschaften, die sie je gehabt hatten, und sie nannten dabei, ich bin sicher, alle männlichen Taufnamen im Kalender. Diejenige, die ich am meisten fürchtete, war die Köchin. Sie war ungemein roh und hob oft die Hand, als ob sie mich schlagen wollte, wenn ich etwas nicht schnell genug oder nicht zu ihrer Zufriedenheit machte. Doch jeder Leidensbecher enthält ein Tröpflein Freude, und mein Glück bestand in dem Ausgang der Köchin und in ihren Liebesbriefen. So oft sie nämlich einen Brief von einem ihrer vielen Verehrer erhielt, war sie sogar zu mir liebenswürdig. Einmal hatte ihr ein Soldat eine silberne Brosche geschenkt, und sie war den ganzen Tag so gut zu mir, daß ich sie am Abend fast gerne hatte. Verflossen aber einige Tage, ohne daß sie von dem einen oder dem andern hörte, so kannte ihre Tücke und ihre Bosheit keine Grenzen. Hatte ich in Marlow immer auf den Briefboten gewartet in der Hoffnung, daß er etwas für mich haben würde, so wartete ich nun, und wenn das möglich ist, mit noch größerer Sehnsucht als damals auf ihn, in der Hoffnung, daß er etwas für die Köchin haben möchte. Und an dieser Stelle danke ich allen Polizisten, Soldaten, Milchmännern, Fleischhauern und anderen, die so glücklich waren, das Wohlgefallen der Köchin zu erregen, für die ziemlich vielen Karten und Briefe, die sie ihr sandten und mit denen sie, ohne daß sie es wußten, auch mich glücklich gemacht haben ...

Einmal gab es einen großen Streit in der Küche, und darauf verließ das Stubenmädchen das Haus noch am selben Tage. Das neue Stubenmädchen war sehr blaß und klein, doch arbeitete es unermüdlich. Sie war immer gut zu mir, und darum hatte ich sie gerne, auch tat sie mir leid, weil sie so zart aussah. Einmal als die Köchin Ausgang hatte und wir allein in unserem Zimmer lagen, fing das Stubenmädchen auf einmal zu schluchzen an. »Was haben Sie?« frug ich sie. Nach einigem Zaudern erzählte sie mir, daß sie einen Bräutigam habe, der in einem Krankenhause für Lungenschwindsüchtige hoffnungslos danieder läge. Dann zog sie einen Brief hinter dem Kopfkissen hervor und reichte ihn mir. Bei dem ungewissen Licht der Kerze, die ich entzündet hatte, las ich die Zeilen. Tapfere und doch verzweifelte Worte eines Sterbenden, und dabei ein Gedicht, in dem die unendliche Sehnsucht nach Gesundheit, wie eine mächtige Woge tausend glitzernde Tropfen, tausend zarte und feine Gedanken mit sich trug.

»Sicher,« sagte ich und bemühte mich, meine Erschütterung zu verbergen, »sicher, er wird wieder gesund.«

»Nein, er ist dort, wo nur die Sterbenden liegen.« Ihre Augen waren tränenleer, und nur ihr Mund zuckte, als sie das erwiderte. Daraufhin löschte ich die Kerze aus, mir schauderte ...

Trotzdem ich selbst genug zu tun hatte, half ich ihr seit diesem Abend wo und wie ich nur konnte. Einmal aber fuhr sie mit einem Schrei aus dem Schlafe empor, und während sie wirr um sich blickte, sagte sie, sie sei sicher, »Er« habe sie gerufen. Den nächsten Tag erbat sie sich einen halben Tag Urlaub, doch sie kam nie wieder....

Nachdem ich auf der Stelle noch weitere sechs Monate gewesen war, trug ich eines Tages einen Brief zur Post, den ich einschreiben ließ. Der Brief war an meinen Freund gerichtet und enthielt den Betrag meiner Schuld. Noch etwas anderes enthielt der Brief: den Aufschrei eines zum Tode gequälten Herzens. Zum erstenmal berichtete ich von der Unerträglichkeit meiner Lage. Dieses Mal schrieb er mir sofort. Sein Brief war voll von Vorwürfen über das bisherige Verschweigen meiner Verhältnisse, das er Unaufrichtigkeit nannte. In dringenden Worten bat er mich, keine Stelle mehr anzunehmen, sondern mich ganz dem Lernen der englischen Sprache zu widmen und zu trachten, die Prüfung ablegen zu können. Das Geld, das ich ihm geschickt hatte, sandte er mir zurück mit dem Bedeuten, es vorläufig für mein Studium zu verwenden, weitere Sendungen würden folgen.

An dem Tage, an dem ich den Brief erhalten hatte, hatte ich Ausgang, und ich ging zu meiner Freundin ins Heim. Ich zeigte ihr den Brief meines Freundes, und sie drang ebenfalls in mich, sein Anerbieten ja anzunehmen. »Ich kenne die Männer,« sagte sie, »und ich weiß, daß dieser Mann es ehrlich mit Ihnen meint.« In dieser Weise sprach sie lange, und weil ich so gerne gelernt hätte, und eine neue Stelle der Köchinnen wegen fürchtete, sagte ich zu. Meine Freundin erzählte mir dann noch, daß sie daran gedacht hätte, das Heim zu verlassen, und schlug mir vor, mit ihr ein Zimmer zu nehmen, da das am billigsten käme. Der Vorschlag gefiel mir hauptsächlich der Billigkeit halber, und so kam es, daß ich wieder einmal meine Koffer packte und diesmal voll froher Hoffnung in ein Londoner boardinghouse zog. Der Gedanke, daß ich meinem Freund wieder Geld schuldete, bedrückte mich zwar, doch nahm ich mir vor, fleißig zu lernen, um die Prüfung im Englischen recht bald ablegen zu können, und dann? ... Ja und dann? ... Jähe stockten meine Gedanken. Die alten Kobolde waren auf einmal wieder da und höhnten und grinsten aus allen Ecken hervor. Mit aller Selbstbeherrschung, der ich fähig war, schüttelte ich jedes Denken an die Zukunft ab und lernte ...

In dem boardinghouse ging es recht bunt und lebhaft zu. Die Gäste gehörten verschiedenen Rassen an und sprachen verschiedene Sprachen. Da waren Inder mit weißen oder zart gefärbten Seidenturbanen auf den Häuptern; einige Chinesen, die aber ihre Zöpfe der europäischen Mode geopfert hatten; eine frühere Primadonna, die für die Bühne zu dick geworden war und immer Bilder aus ihren einstigen Rollen zeigte; ein blasser verlebter Mann aus der Schweiz, der sich über die Zustände in England bitterlich beklagte, weil er kein Mädchen finden konnte, das ihm ohne den üblichen Schwur beim Altar die eigene Wirtschaft führen wollte, wie er das in Paris so gehabt hatte; ein Deutscher, der fortwährend über das Essen schimpfte; und ein aufstrebender Musiker, der die Miete nie bezahlen konnte und jeden Samstag Selbstmord versuchte.

Trotzdem die Leute höflich waren und mir auch ganz gut gefielen, suchte ich dennoch keinen Anschluß. Anders aber gestaltete sich das mit meiner Freundin, die sich mit ihnen, besonders mit dem Unzufriedenen aus der Schweiz, in einer Weise unterhielt, die mich im Anfang erstaunte, später erzürnte und zum Schluß empörte. Ohne etwas zu sagen verließ ich oft das allgemeine Wohnzimmer, in dem sie gewöhnlich beisammen saßen, und setzte mich in unserm kleinen Stübchen auf mein Bett, bis meine Zimmergenossin heraufkam. Sie war dann immer recht heiter und erzählte eine Menge Geschichten, die ich früher im Heim nie von ihr gehört hatte und die mich an die Erzählungen der Köchin erinnerten. Ich gab ihr dann nur einsilbige Antworten, worauf sie gewöhnlich in sehr schlechte Laune verfiel und erklärte, ich sei sehr fad und verstünde keinen Spaß. Oft drängte sich mir eine scharfe Antwort auf die Zunge, doch ich zwang sie jedesmal zurück, weil mir noch im letzten Augenblicke einfiel, daß sie vielleicht recht habe und daß ich wirklich fad sei.

Ich suchte dann immer durch doppelte Zärtlichkeit mein Betragen gutzumachen und zeigte mich sehr belustigt über die Dinge, die sie mir dann wiedererzählte. In Wirklichkeit aber langweilten sie mich. Ich hätte viel lieber von Gedichten gesprochen; sie hatte mir aber einmal ganz unumwunden erklärt, daß sie sich für Gedichte nicht interessiere. So hielt ich die Komödie unserer Freundschaft aufrecht und hätte sie noch länger aufrecht erhalten, wenn sie nicht eines Abends etwas getan hätte, das dem für mich schon lange unerträglichen Zustande ein Ende machte.

Ich war eines Abends wieder einmal ziemlich früh in unser Zimmer gegangen und hatte sie in der Gesellschaft der anderen Gäste gelassen. Ich lag schon im Bett, als sie endlich heraufkam. Sie sah sehr erhitzt aus und schüttelte sich vor Lachen.

»Was haben Sie?« frug ich und heuchelte Interesse. Unter fortwährendem Lachen zog sie ein Zeitungsblatt aus der Tasche und strich es glatt. »Das ist ja zum Schießen, das müssen Sie lesen.«

Ich hatte einen Blick auf die Zeitung geworfen und sah, daß es ein französisches Blatt war. »Ich kann doch nicht Französisch,« sagte ich.

»Das habe ich ganz vergessen, ich lese es Ihnen vor.«

»Aber ich versteh' es doch nicht,« warf ich abermals ein.

»Ich werde es Ihnen übersetzen.« Dann stellte sie sich neben mein Bett und las mir eine Geschichte vor, die mich wütend machte. »Ich will nichts weiter hören,« erklärte ich nach einer Weile und hielt mir die Ohren zu. Darauf lachte sie überlaut.

»Das ist doch nur Verstellung. In Wirklichkeit können Sie das Ende kaum erwarten.«

»Ich will nichts weiter hören,« sagte ich entschieden, und weil sie noch immer nicht aufhörte, sprang ich aus meinem Bett, lief barfuß in das nebenanliegende Badezimmer und blieb dort eine lange Zeit. Als ich endlich wieder zurückkam, lag sie im Bett und tat, als ob sie schliefe.

Ich aber wußte, daß ein weiteres Zusammenleben unmöglich war. Am nächsten Morgen sprachen wir beide kein Wort. Sobald ich mich angekleidet hatte, verließ ich das Haus und suchte mir am entgegengesetzten Ende Londons ein anderes Zimmer.

Ich wohnte nun in der Nähe der Westminster-Abtei. Ich hatte von diesem Gebäude schon oft gehört, doch hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, es zu besichtigen, und beschloß nun, die erste freie Stunde dazu zu benutzen.

Klopfenden Herzens stand ich schon an einem der nächsten Tage vor den grauen Mauern der ehrwürdigen Abtei und befand mich einige Minuten später unter dem Schwarm der Besucher, der die hohen Gänge füllte. Ich ging aber nicht wie diese herum, sondern blieb ganz still in der nächstersten Ecke stehen. Nie in meinem Leben hatte ich gefühlt, was ich jetzt fühlte. Ich befand mich wie unter einem Zauber – wie unter der persönlichen Berührung aller derjenigen, die hier vor mir gewandelt hatten – und längst Staub und Asche sind. Endlich rührte ich mich und schritt von einem Monument zum andern; aber ich schritt wie eine Schlafwandlerin und sah nur die unendliche Größe der Dinge, die Dinge selbst sah ich kaum. Nachdem ich fast die ganze Kirche durchschritten hatte, gewahrte ich plötzlich eine niedrige Holztüre, die geschlossen war, und es fiel mir ein, sie zu öffnen. Ich sah mich erst einige Minuten vorsichtig um, weil ich nicht wußte, ob es erlaubt sei (es ist erlaubt), öffnete sie dann rasch und trat hinaus. – Ja, wirklich hinaus, denn dahinter lag keine andere Kapelle mit den Särgen und Monumenten von Königen und Königinnen, wie ich erwartet hatte, sondern hinter dieser kleinen Tür lag ein ziemlicher großer viereckiger Garten, der zwar keine Blumen, aber einen sehr schönen Rasen hatte. Und dieser hellgrüne Fleck übte auf mich inmitten der hohen altersgrauen Mauern, die eine mehr als ein halbes Jahrtausend lange Geschichte erzählen, eine bezaubernde Wirkung aus. Es standen einige Bänke herum, und ich setzte mich nieder. Da die Kirche selbst früher ein Kloster war, so vermutete ich sofort, daß dieser Platz der Klostergarten gewesen sei, und im Geiste sah ich die Gestalten der Mönche, wie sie am Morgen aus ihrem gemeinsamen Schlafzimmer kamen, in ihren dunklen Gewändern langsam über den leuchtenden Rasen schritten und dann in der grauen Kirche zur Frühmette verschwanden. So oft ich später die Westminster-Abtei besuchte – und ich tat das sehr oft –, brachte ich erst den Grüften, dem uralten Krönungsstuhl, dem Stein darunter, von dem die Legende erzählt, daß es der Stein sei, auf dem Jakob seinen berühmten Traum geträumt habe, dem Dichterwinkel und noch vielen anderen herrlichen Dingen meine Ehrerbietung und Bewunderung dar. Dann aber folgte ich dem Zuge süßer Ungeduld, den ich schon die ganze Zeit über verspürt hatte, und schlüpfte durch das niedere Pförtchen in den Klostergarten. Während ich nun auf einer der Bänke saß und mit den Augen blinzelte, weil mich, aus dem Dunkel tretend, das Sonnenlicht blendete, dichtete ich oft ein schönes trauriges Liebesmärchen um einen ernsten, stolzen Mönch.

Von diesen Stunden voller Ruhe und einer wohltuenden Beschaulichkeit abgesehen, war jeder Tag ein Arbeitstag. Ich ließ es an keiner Mühe fehlen, die englische Sprache gründlich zu erlernen und dichtete seit einiger Zeit auch schon englische Gedichte, die, wenn sie mir auch die Dankbarkeit der Engländer nie erringen werden, mir große Freude bereiteten. Auch mein Freund drückte mir darüber seine Anerkennung aus und fragte mich nun öfters, was ich nach meiner Prüfung zu tun gedächte, ob ich noch in England bliebe oder anderswohin ginge. Auf diese Fragen antwortete ich aber nie, und als endlich die Zeit kam, in der ich darauf antworten mußte, da überfiel mich jene Feigheit, die Petrus überfiel, als er seinen Meister verleugnete. »Denken Sie, daß ich zurückkommen darf?« so frug ich ihn. Später trug ich den Brief zur Post, und als ich zurück in mein Zimmer kam, fand ich alle meine alten Teufel. »Ist etwas, das gut ist, nicht fraglos, nicht durchsichtig wie reinstes Wasser?« In allen Tonarten flüsterten sie mir das in die Ohren, und neben diesem Flüstern hörte ich jeden Glockenschlag der Nacht. Die Tage schlichen meiner zitternden Ungeduld, und oft befiel mich eine unerklärliche Angst vor irgendetwas Unbekanntem. Was wird er schreiben? Und wann wird er schreiben? So frug ich mich wohl hundertmal des Tages. Endlich, endlich kam sein Brief. Er stak in einem blauen Umschlag und wog schwer in meiner Hand. Ich konnte mich lange nicht entschließen, ihn zu öffnen und wünschte fast, ich hätte ihn noch nicht bekommen. Endlich aber las ich ihn, und ich las ihn lange ... Als ich später die eng beschriebenen Blätter sinken ließ, da war es totenstill ... Unwillkürlich sah ich mich um. Alle meine Teufel waren fort; alle Angst, alle Feigheit, alle Zweifel waren fort. Wie eine Wolke hob es sich von meiner Seele, und dann stand ein Gefühl auf, dem ich noch keinen Namen geben konnte, das wie ein vom Traum Erwachter in mir herumschwankte und sich endlich mit festem Druck gegen meinen Hals stemmte.

Ich legte meine Arme auf den Tisch, mein Gesicht auf die Arme, und so saß ich lange. Als es dunkel und spät war, verbarg ich den Brief unter meinem Kopfkissen und ging ohne Licht schlafen ... Einmal in der Nacht setzte ich mich auf und entzündete eine Kerze; dann brachte ich den Brief ganz nahe an das Licht und suchte darin nach einer Stelle.

»Wenn Sie hier geblieben wären, weiß ich nicht, wie es geworden wäre, wenn Sie aber wiederkommen, so weiß ich ja, wie es werden wird ... Nur ist die Frage, ob es so werden darf? Sie sind kein gewöhnliches Mädchen. Sie gehören dem Stamme der Asra an, die sterben, wenn sie lieben ... Und weil ich das begriffen hatte, schon als ich zum ersten Male mit Ihnen sprach, habe ich getan, was ich bis jetzt für kein Mädchen getan habe; die Bestie in mir beim Haupte gefaßt, herumgerissen ... und ausgelacht ...«

Dann verbarg ich den Brief wieder und lag still in meinem Bett ... Das also war das Ende ... Widerwillig und müde pilgerten meine Gedanken zurück. Ich sah mich arm, einsam wartend, bis das holdeste Wunder des Lebens zu mir kam, und jeder Gedanke Arme ausstreckte, um es zu empfangen. Fühlte noch einmal, wie jeder Blick, jedes Wort, das er mir geschenkt hatte, sich wie ein glühender Stempel in meine Seele preßte und empfand noch einmal alle Qual und alle Seligkeit, die ich empfunden hatte ... Und ganz plötzlich dachte ich wieder an Morgans und an sein junges Weib ... Ein ungleiches Ende, aber kein ungleicher Sieg ... denn was war herrlicher für ein Mädchen, daß ein Mann es zu seinem Weibe oder zu seinem schönsten Traume und zu seiner dauernden Sehnsucht macht? –

Und alles, das ich früher nicht begriffen hatte, begriff ich nun auch. »Ja,« sagte ich, und ich sagte es ganz laut in das dunkle Zimmer: »Unzufrieden, unstet und planlos, heute von einer Leidenschaft befreit und morgen an eine andere gekettet, wird er durch das Leben taumeln ... Ewig verlangend, sich nie genügend, wird er jede Begier und jeden Ekel kosten ...

Aber über jede Begierde und über jeden Ekel da wird die eine Sehnsucht stehen, die den Trunk verweigert hatte, weil sie den Satz am Grunde des Bechers kannte ... nicht im Taumel, nicht im Lärm des Tages wird er sie empfinden, aber wenn er des Nachts einsam dem strömenden Regen lauscht, wird sie weich und klagend wie ein Lied durch seine Seele zittern ...« Und nachdem ich das gesagt hatte, da lächelte ich, jenes Lächeln, das die Frauen lächeln, wenn sie in der Liebe das Schwerste auf sich nehmen ...

Den nächsten Morgen verließ ich das Haus sehr früh und wanderte durch die Straßen Londons. Ich wußte heute, daß ich durch diese Straßen noch oft und oft und noch lange, lange wandern würde. Einmal blieb ich stehen und trat in ein kleines graues Gebäude. Es war eine katholische Kirche. Ich ging darin planlos herum, und mein Blick fiel auf die lebensgroße Gestalt des Erlösers ... Vielleicht zum ersten Male in meinem Leben ließ mich der Anblick kalt ... Was konnte er mir nützen? Verstand er denn überhaupt so etwas? ... Er war zwar Mensch geworden, um unsere Leiden fühlen zu können, aber er war ein guter Mensch gewesen. Er kannte nur die Leidenschaften und die Sünden der andern, eigene Leidenschaften und Sünden kannte er nicht. Seine göttliche Abkunft verlieh ihm göttliche Stärke, göttliche Keuschheit, Göttlichkeit ... Was wußte er von der Natur eines Diebes, eines Räubers, eines Mörders, eines Meineidigen, und trotzdem er aus Liebe gestorben war, was wußte er von dem Leiden der Liebenden? ...

Ich wandte mich von dem Bilde fort und schritt hinaus. Ich schritt auf den Zehenspitzen hinaus, weil ich es so gewohnt war; in meiner Seele aber dämmerte die Religion des Lebens, die älter ist, als die Lehre Jesus ... und da, vor mir und neben mir, gingen ihre Jünger. Männer und Frauen, die den letzten Traum geträumt hatten und fertig waren für das Unbekannte; Männer mit starken Fäusten und harten Blicken, denen man ansah, daß sie gekämpft hatten ... Und Frauen mit Schatten und Falten, denen man ansah, daß sie überwunden hatten in ihrer Art ... Männer und Frauen, die in der Herbe und Bitterkeit ihrer Tage größere Wunder wirkten als jener Galiläer ... Männer und Frauen, zu denen auch ich gehörte ...

Und dieses Bewußtsein brachte mir eine neue Weisheit und eine neue Liebe ... eine Weisheit, der alle frühere Weisheit, und eine Liebe, der alle frühere Liebe diente ... und als ich damit in meine Einsamkeit zurückkehrte, da redeten die Steine ...

Ende.

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig


Hinweise zur Transkription

Das Verlagsemblem wurde von der Schmutztitelseite auf das Titelblatt verschoben. Das Portrait der Autorin wurde von der Frontispizseite hinter die Widmung verschoben.

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 28:
"un  «" geändert in "uns.«"
(»der Stuhl gehört uns.«)

Seite 32:
"mir" geändert in "wir"
(und so schritten wir langsam dahin)

Seite 42:
"«" eingefügt
(alles was ich haben will, ist ein Kuß.«)

Seite 44:
"»" eingefügt
(»könnten Sie mir wohl ein junges Mädchen empfehlen)

Seite 49:
"," geändert in "."
(und maß mich mit kritischen Blicken.)

Seite 58:
"«" eingefügt
(»Oh,« sagte meine Mutter)

Seite 68:
"»" entfernt vor "muß"
(muß ich dir leider Lebewohl sagen)

Seite 73:
"»" eingefügt
(»Die Frau darf natürlich nichts davon wissen)

Seite 87:
"«" eingefügt
(daß ich sehr gern nach Budapest gehen würde.«)

Seite 89:
"." eingefügt
(daß ich mein Glück gefunden hätte.)

Seite 152:
"sein" geändert in "seine"
(warum dann das alles? ... Warum dann seine Güte)

Seite 154:
"«" eingefügt
(es handelt sich für mich nur um das Reisegeld.«)

Seite 160:
"«" eingefügt
(und ich habe eine Krone für jeden.«)

Seite 164:
"." eingefügt
(daß ich mich kaum aufrecht halten konnte.)

Seite 164:
"«" eingefügt
(wenn du aufs Land gehen könntest.«)

Seite 165:
"«" eingefügt
(daß ich es aufbringen kann.«)

Seite 177:
"." eingefügt
(und betrachtete sich mit prüfenden Blicken.)

Seite 187:
"icht" geändert in "nicht"
(Selbstverständlich war das nicht sehr viel)

Seite 199:
"»" eingefügt
(»vielleicht erleichtert es Ihr Herz)

Seite 201:
"dabe" geändert in "dabei"
(Ich dachte dabei oft an meine Freundin in London)

Seite 213:
"andres" geändert in "anderes"
(Noch etwas anderes enthielt der Brief)

Seite 223:
"«" eingefügt
(wie ein Lied durch seine Seele zittern ...«)


*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 62380 ***