The Project Gutenberg EBook of Verflossene Stunden, by Sophie Junghans

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Title: Verflossene Stunden
       Novelle; Album, 26. Jahrgang, 6. Band

Author: Sophie Junghans

Release Date: April 2, 2020 [EBook #61737]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

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Album.

Bibliothek deutscher Original-Romane.

Unter Betheiligung
der ersten deutschen Schriftsteller
herausgegeben
von
Alfred Meißner.

XXVI. Jahrgang. 6. Band.

Leipzig, New-York,
Ernst Julius Günther.   L. W. Schmidt.  
1871.

Verflossene Stunden.

Novelle
von
S. Junghans.


Leipzig, New-York,
Ernst Julius Günther.   L. W. Schmidt.  
1871.

Erstes Kapitel.

»Ja, mein Kind«, sagte die Mutter eines Tages zu mir, »es wird doch am besten sein, daß Du dem Rathe des Herrn Pfarrers folgst und die Stelle annimmst, von der er mit uns sprach; ich sehe wohl, für eine junge Dame Deines Standes, wenn sie mittellos ist, sind hier nur Demüthigungen zu erwarten.« Und nachdem sie diese Worte rasch und in einem Tone gesprochen, welcher trotz seiner Kälte ihre Gereiztheit merken ließ, schloß meine Mutter ihre Lippen fest und fuhr eifrig zu stricken fort. Ich hatte daher Zeit, über eine geeignete Antwort nachzudenken, denn erstens mußte ich der Mutter klar machen, daß etwas mehr als das bloße Annehmen jener Stelle meinerseits nöthig sei, und dann wünschte ich auch zu erfahren, welche Unhöflichkeit oder Unzartheit der Leute des Städtchens sie um den ihr natürlichen vornehmen Gleichmuth gebracht hatte. In beiden Angelegenheiten mußte ich schonend zu Werke gehen. »Ich denke, liebe Mutter«, sagte ich vorsichtig, »daß ich dann wohl am besten sogleich an jene Mrs. Gray schreibe, um ihr zu sagen –« »Daß Du gesonnen bist, die Stelle einer Erzieherin ihrer Kinder, einer Untergebenen in ihrem Hause anzunehmen, Du, ein Fräulein von Günthershofen!« unterbrach mich meine Mutter mit scharfer Stimme und fuhr bitter fort: »Ach, wenn das Dein Vater wüßte!« – »Um ihr vorerst auseinanderzusetzen, in welchen Fächern ich unterrichten kann«, sagte ich und lenkte ein, da ich meiner Mutter Stirnrunzeln bemerkte: »damit sie weiß, was ich zu unternehmen gedenke und was nicht.« – »Thue das, Kind«, entgegnete Frau von Günthershofen streng, »doch vorerst laß uns Thee trinken.« Ich legte das Tischtuch auf den Tisch, wobei ich Sorge trug, daß die gestopften Stellen desselben unter das Theebret kamen, brachte Tassen, Brod und Butter herbei, und zwar mit einem gewissen wehmüthigen Genießen dieser kleinen Dienste; sah ich doch voraus, daß ich sie nun, da meine Mutter endlich ihre Zustimmung zu meinem Fortgehen gegeben hatte, nicht mehr lange würde zu verrichten haben. Und wem fielen dieselben dann zu? Dem kleinen Dienstmädchen aus einem benachbarten Dorfe, welches wir nach seiner Confirmation ins Haus genommen und welches meine Mutter seiner hastigen, ungeschickten Bewegungen halber kaum um sich dulden konnte. Wenn ich daran dachte, daß die stattliche alte Dame, welche in frühern Jahren über die correcte Bedienung von Lakaien verfügt hatte, nun bald den unbeholfenen Versuchen unseres Lieschen allein anheim gegeben sein sollte, so erfaßte mich ein wahres Entsetzen und der Gedanke an ein Fortgehen von hier erschien mir schrecklich. Aber aufgegeben konnte er nicht werden, das verhinderte die bittere Noth; es ging eben so nicht länger. »Margarethe, Du ißt nicht«, sagte meine Mutter scharf nach einiger Zeit des Schweigens. Es war gar so wenig Butter in der Glasschale auf dem Tische – ich versicherte der Mutter, daß ich durchaus keinen Hunger habe und es höchstens über mich gewinnen könne, ein Stückchen Brodrinde zu essen, und darauf verfielen wir beide von neuem in Schweigen, bis ich infolge meines Gedankengangs mich hinüberbeugte und meiner Mutter die Hand küßte, indem ich ihr dankte für ihre Erlaubniß zur Ausführung eines lange gehegten Plans. »Es kommt mir schwer an, Dich gehen zu lassen, mein Kind«, sagte sie weich, indem sie mit ihrer schmalen Hand leise über mein Haar strich, »sehr schwer, aber –« Hier unterbrach sie sich und fuhr erst nach einer Weile in ganz verändertem Tone fort, in dem hochfahrenden, bittern Tone, den ihr das Unglück erst angewöhnt hatte: »Die Frau eines Krämers hier, eines Victualienhändlers, der sich vom Geschäft zurückgezogen, wie ich höre, hat anfragen lassen, ob Du, meine Tochter, eine gewisse Stickerei anfertigen wolltest, ich glaube, zur Aussteuer ihrer Tochter bestimmt. Es ist mir ganz unerklärlich, wie die Person dazu kommt, uns diesen Affront zuzufügen. Kannst Du es begreifen, Margarethe?« Ich begriff den Zusammenhang wohl und hätte ihn meiner gekränkten Mutter leicht erklären können, ich wäre aber lieber gestorben, als daß ich es gethan hätte. So gut ich konnte, lenkte ich daher das Gespräch auf andere Gegenstände und bat zuletzt in unbefangenem Tone, daß meine Mutter ihren Spaziergang heute allein machen möchte, da ich jenen Brief sogleich zu schreiben wünschte. Sie sah mich einen Augenblick scharf an und sagte dann lächelnd: »Du willst mich aus dem Wege haben; nun gut, ich will Dich allein lassen. Ich hoffe, Du wirst so schreiben, wie es einer Günthershofen zukommt.« Ich richtete mich hoch in die Höhe und warf den Kopf zurück, eine Bewegung, durch die ich meine Mutter eher beruhigen konnte als durch viele Worte. »Du wirst Deinem Großvater immer ähnlicher, Margarethe«, sagte sie noch nachdenklich, als ich meine effectvolle Stellung längst verlassen hatte, um ihr den alten, noch immer eleganten Spitzenshawl um die Schultern zu hängen, in welchem sie, wenn sie langsam und aufrecht durch die Straße ins Freie hinausschritt, so prächtig aussah, daß es die Frauen des Städtchens der »alten Adligen« gar nicht verzeihen konnten.

Ich war allein und richtete nun in bescheidenen Ausdrücken einen Brief an jene Mrs. Gray, deren Wunsch, eine Erzieherin für ihre Kinder direct aus Deutschland zu engagiren, ich durch unsern freundlichen Pfarrherrn erfahren hatte. Der Pfarrer war vor Jahren Hauslehrer in England gewesen und hatte seine Verbindungen mit einigen Familien dort mit Vorliebe aufrecht erhalten.

Mit klopfendem Herzen bot ich meiner Mutter bei ihrer Zurückkunft den Brief zum Lesen und fühlte eine große Erleichterung, als sie abwehrend mit dem Kopfe schüttelte, da ich wußte, daß sie, wenn sie das unglückliche Document gelesen hätte, dasselbe unfehlbar zerrissen haben würde.

Die gute Mutter – sie begab sich bald zur Ruhe und ich trug nun mit leisen Schritten aus einem dunkeln Kämmerchen neben der Küche, wo er ängstlich verborgen gehalten wurde, einen Korb mit verschiedenen Wollsorten und Perlenschnüren herbei und begann zu sticken. Hatte ich doch auf diese Weise schon Monate lang, im Complot mit der freundlichen Gattin des Kaufmanns, welcher diese Arbeiten verwerthete, der Mutter manche Erleichterung verschaffen können, mit einer Genugthuung, die freilich getrübt wurde durch das leidige, so nothwendige Geheimhalten des kleinen Erwerbszweigs.

Jetzt regte sich's in der Schlafkammer der Mutter; ich horchte ängstlich und wagte nicht einmal den Faden vollends auszuziehen. »Margarethe!« rief die Mutter plötzlich; ich sprang auf, so hastig, daß ich dabei die Schachtel mit den Glasperlen umwarf, die zu Thautropfen auf meinen wollenen Rosen bestimmt waren. Mit einem Geräusch, welches mir alles Blut nach dem Herzen trieb, rollten die garstigen kleinen Dinger auf den Fußboden, ein nicht endenwollender Regen. »Margarethe, mein Kind«, sagte die Mutter, »Du hast Dir in der letzten Zeit angewöhnt, gar zu lange zu lesen; ich hoffe, Deine Lectüre ist wenigstens eine gediegene; es wird Dir von Nutzen sein, wenn Du Racine und Corneille wieder einmal vornimmst; Du kannst –«

»Liebe Mutter«, wagte ich zu unterbrechen, obwohl mit unsicherer Stimme, »ich las eben nicht, ich war mit Nähen beschäftigt.« Diese Lüge schien mir in dem Augenblick ein geringeres Unrecht als die Unredlichkeit, meine Mutter in ihrem Irrthum zu belassen. »Ich – ich bessere Einiges aus – unsere Tafelleinwand«, fuhr ich in Verzweiflung heraus, da die Mutter in unwilligem Schweigen verharrte. »So«, sagte sie, etwas versöhnt durch meine letzte Wendung. »Strenge Deine Augen nicht zu sehr an, liebes Kind; geh bald schlafen. Gott segne Dich!«

Diese liebreichen Worte brachten mich vollends außer Fassung. Die Scham über meine Lüge und Zorn über die bittere Nothwendigkeit, welche mich zu derselben gebracht, Alles zusammen war zu viel; ich eilte in das Zimmer zurück und brach in heftiges Weinen aus, welches durch die Anstrengung, mein Schluchzen zu unterdrücken und von meiner Mutter ungehört zu bleiben, beinahe krampfhaft wurde. Aber dieser erleichternde Ausbruch durfte nicht lange währen; ich trocknete mir schließlich die Augen und machte mich entschlossen daran, die unseligen Glasperlen aufzulesen, eine jede einzelne, auf daß keine verrätherischen Spuren meines nächtlichen Treibens zurückblieben.

Zweites Kapitel.

Nach einigem Hin- und Herschreiben und auf eine warme Empfehlung unseres Pfarrherrn hin hatte sich Mrs. Gray dahin entschieden, mir das Amt einer Erzieherin ihrer Kinder anzuvertrauen. Meine nicht sehr umfangreiche Garderobe war gepackt und ich hatte mich entschlossen, nun Abschied zu nehmen von den wenigen Familien, mit welchen wir verkehrten. Dazu hatte ich mir den letzten Tag ausersehen, an dessen Nachmittag ich abreisen sollte. Bis dahin hatte ich mich selten und auf Augenblicke nur von meiner Mutter getrennt, von unbeschreiblicher Traurigkeit erfüllt bei dem Gedanken, sie bald verlassen zu müssen. Auch ihr gehaltenes und ernstes Wesen war zu rührender Zärtlichkeit gegen mich erwarmt. Am Abend vor dem letzten Tage rief sie mich, die ich nur wenige Schritte von ihr entfernt die Blumen besorgte.

»Margarethe«, sagte sie, »ehe Du mich verläßt, will ich Dir einige Aufschlüsse über unsere Familienverhältnisse geben, welche Dir, als einem erwachsenen Mädchen, zu wissen gebührt.«

Mein Herz klopfte; auf ähnliche Worte meiner Mutter hatte ich schon lange gewartet. Ich zog einen niedrigen Schemel neben sie; sie saß in ihrem Lehnstuhl, aufrecht, die noch immer schönen, schlanken Hände übereinandergelegt, und schaute gerade vor sich hin.

»Du wirst Dich Deines Vaters kaum erinnern«, begann sie nach einer Weile, »ach, und ich habe Dir wenig von ihm erzählt. Es reut mich jetzt; sein edles Bild hätte in Dir belebt werden sollen, er wäre mit Dir gegangen ins Leben als eine Stütze, ein steter Hort, in allen Zweifeln hättest Du Dich an ihn wenden können, er würde Dich immer das Gute, das einzig Rechte haben wählen lassen. So ist er mit mir gegangen, im Geiste, diese siebzehn Jahre; täglich hat er mir gerathen, aber ich behielt diesen trostreichen Verkehr für mich wie ein Heiligthum, von dem man kaum reden mag, aus Furcht, es zu entweihen.«

Hier schwieg die Mutter wieder einige Minuten lang und fuhr dann in verändertem Tone fort: »Der Vater war Oberjägermeister beim Fürsten von ..., der damals seinen kleinen, aber prächtigen Hof in B. hielt. Ich lebte dort als Hofdame der Fürstin, einer schönen, vortrefflichen Frau, die mich sehr liebte. Mein Vater, der Freiherr von Ardenberg, hatte bis zu seinem Tode auf unserm Gute, Schloß Ardenberg, mit großem Aufwand gehaust. Als er gestorben, fanden wir Frauen uns beinahe arm; das Majorat fiel natürlich meinem Bruder zu. Meine Mutter blieb bei ihm, ich kam an den Hof und sah von da an meine Angehörigen nur noch selten. Einmal wurde ich plötzlich nach Schloß Ardenberg gerufen – die Mutter lag im Sterben, ich drückte ihr wenige Stunden nach meiner Ankunft die Augen zu. Bei dem Bruder fühlte ich mich nicht wohl, seine Gemahlin war nicht ebenbürtig, ich konnte mich nie an ihre Art und Weise gewöhnen, bald kehrte ich nach B. zurück. Du wunderst Dich wohl, mein Kind«, unterbrach sich hier die Mutter, »daß ich so kalt von meiner Familie spreche; es ist wahr, viel Liebe ist nie zwischen uns verschwendet worden. Wir waren, mein Bruder und ich, im französischen Stil, von einer Hofmeisterin, erzogen, die Aeltern sahen wir als Kinder nur zu bestimmten Stunden des Tages. Meine Mutter war eine kalte Frau von höchst aristokratischem Wesen; der Vater liebte rauschende, kostbare Zerstreuungen und widmete sich seiner Familie selten; nie habe ich, dem äußern Anstande nach, einen vollendetern, liebenswürdigern Cavalier gesehen. Du siehst ihm ähnlich, liebe Margarethe, Du hast seine Augen und seine Stirn und bist schlank wie er, auch erinnert mich Dein Wesen an ihn, bei Deinen kleinen Dienstleistungen, die Du mir mit wahrhaft ritterlicher Galanterie zu Theil werden läßt.«

Ich fühlte mich roth werden vor Vergnügen; die Mutter in ihrer ernsten, beinahe strengen Art lobte mich so selten.

»Aber ich werde geschwätzig, recht wie eine alte Frau«, fuhr sie jetzt fort, »ich muß mich zusammennehmen. Deinen Vater, den Herrn von Günthershofen, kannte ich am Hofe von B. mehrere Jahre lang; er war um Vieles älter als ich, ein herrlicher, ernster, edler Mann, der dastand wie ein Fels der Ehre in den Strudeln des leichtfertigen Hoflebens. Ich hatte ihn stets verehrt; die ausgezeichnete Achtung, mit der er mich vor andern Frauen behandelte, that mir unendlich wohl. Aber als er eines Tages zu mir kam und mich um meine Hand bat, mich selber, in schlichten Worten – als ich den hohen, schönen Mann vor innerer Bewegung zittern und erblassen sah, da verlor ich fast das Bewußtsein, vor Schrecken anfangs, der langsam einem überwältigenden Entzücken wich. Er legte mein Schweigen und meine Gemüthsbewegung falsch aus, aber obwohl er meinte, seine Hoffnung aufgeben zu müssen, schien er an sich selber kaum zu denken in der Sorge um mich.«

Die Mutter schwieg hier; ich merkte es kaum, so sehr war mein Geist erfüllt von den Gestalten, welche sie mit ihrer einfachen Erzählung heraufbeschworen hatte. Ich spann den Faden weiter, ich malte mir die Scene zwischen dem schönen Hoffräulein und dem werbenden Cavalier bis ins Kleinste aus. Wie glücklich hatten sich die zwei gefunden, die so innerlich wahr, so geradeaus und edel waren in einer Welt der steifen Form, der hohlen, anspruchsvollen Etikette. Aber ich fand bald, daß ich mich geirrt hatte mit dem leidenschaftlichen Schlußact, den ich mir ausgedacht. Der Freiherr von Günthershofen hatte, nachdem ihm doch endlich klar geworden, was das Erbleichen und die Verwirrung des Fräuleins von Ardenberg zu bedeuten gehabt, derselben beim Gehen ehrfurchtsvoll die Hand geküßt, als seiner »liebwerthen Braut«, weiter nichts – so fest hatten sich die Formen der Gesellschaft jener Tage auch um die Beiden gelegt.

»Die Fürstin entließ mich ungern, aber mit vielen Beweisen ihrer Huld«, fuhr meine Mutter fort. »Wir blieben am Hofe, wo Deinen Vater seine Stellung festhielt, und waren sehr glücklich in unserm Kinde, einem herrlichen Knaben. Du hast mich von Deinem Bruder sprechen hören – er war ein unvergleichliches Kind. Auffallend schön war er, wie sein Großvater, mein Vater gewesen. Von seinem Vater hatte er die im Knabenalter schon stattliche Höhe, die Kraft, den Muth und die Wahrheitsliebe, welche oft Eigenthum der Starken sind. Nie ist über seine Lippen die geringste Unwahrheit gekommen, er hätte es verachtet, auch nur den Schein einer Lüge auf sich zu laden durch Wort oder Handlungsweise. Wir lebten ganz in ihm – Dein Vater und ich. – Es war während einer kurzen Abwesenheit meines Gemahls, daß das Schicksal uns traf. Unser Sohn, unser Hugo, war am Morgen fröhlich fortgeritten mit einigen jungen Edelleuten, die zum Haushalte des Fürsten gehörten; obgleich er weit jünger war als sie, machten seine Größe, seine Stärke und Gewandtheit und sein durchdringender Verstand ihn zum passendern Gefährten für diese jungen Leute als für seine Altersgenossen. Wie oft habe ich seitdem bereut, daß ich ihn fortgelassen!« Meine Mutter preßte die Hände gegen die Stirn in einer Art hülflosen Sichgehenlassens, wie ich es nie an ihr gesehen. »Ich war stolz darauf, daß sie ihn zum Genossen begehrten, ich sah ihm nach und freute mich an seinem gewandten und sichern Reiten. Am Abend wurde er mir sterbend ins Haus gebracht; er konnte nicht mehr sprechen, aber ich verstand seine Augen wohl, seine schönen, beredten Augen, aus denen er mich ansah mit unendlicher Liebe und Sorge, er bat mich mit ihnen um Verzeihung für das Herzeleid, welches er mir bereitete durch sein Sterben. Todesmatt suchte er noch nach meiner Hand, ohne die Augen von mir abzuwenden, seine großen, flehenden Augen, er versuchte zu lächeln, mich anzulächeln – so starb er.«

Die Mutter schwieg, aber sie hatte keine Thränen; nach einer Pause fuhr sie in hartem Tone fort: »Sein Pferd war gestürzt und er über den Hals des Thieres fortgeschleudert worden. Man hatte ihn für todt aufgehoben, aber während des Nachhausetragens belebte ihn die scharfe Nachtluft noch einmal, seine kräftige Natur wehrte sich gegen den Tod. – Dein Vater war niedergeschmettert durch den schweren Verlust, aber er richtete sich auf an der Aufgabe, mich zu trösten, da mich der Schmerz um meinen Sohn fast wahnsinnig machte. Nach Monaten erst legte sich meine heftige Verzweiflung, ich wurde ruhig, aber Lebensmuth und Energie wollten nicht wiederkehren. Ich saß still vor mich hin, wenn ich allein war – und Deinen Vater riefen Dienstpflichten leider häufig von mir fort – ich lehnte alle Besuche ab und bewegte mich stets in ein und demselben Gedankenkreise; ich dachte das ganze Leben meines Kindes durch, von dem Augenblicke an, wo es geboren worden, bis zu dem seines Todes; jedes Wortes und seiner Miene dabei suchte ich mich zu erinnern; manchmal überfiel mich eine Todesangst bei dem Gedanken, ich könnte irgend etwas von ihm vergessen und es so ganz verlieren. Als ich mich in diesem Zustande befand, welcher gefährlich zu werden drohte, schien in unserm Fürst große Theilnahme für mich zu erwachen. Ich habe von ihm noch nicht zu Dir gesprochen und es kostet mich einige Ueberwindung, es jetzt zu thun.«

Die Mutter schwieg hier, als müsse sie ihre Gedanken sammeln, meinem verwunderten Blick aber begegnete sie mit so abweisender und strenger Miene, daß ich die Frage, welche ich schon auf den Lippen hatte, zurückdrängte. Nach einigen Augenblicken fuhr sie dann fort und man merkte ihrer Stimme den Zwang an:

»Er war uns immer ein gnädiger Herr gewesen. Aus der alten französischen Schule, liebte er die raffinirtesten Genüsse und bereitete seiner edeln Gemahlin viele Kränkungen, ohne jedoch je das, was er ihr äußerlich schuldig war, aus den Augen zu verlieren. Du wirst mich kaum verstehen, mein Kind – genug, er war im Lande gefürchtet und wenig geliebt; er ordnete das Wohl des Volkes seinen Vergnügungen unter. Uns aber, wie gesagt, Deinem Vater und mir, war er stets beinahe ein Freund gewesen; wir hegten nur Empfindungen der Dankbarkeit und Anhänglichkeit gegen ihn, indem wir das, was in seiner Lebensweise zurückstoßend erschien, der Zeit und der Anschauungsweise, in welcher er groß geworden, zuschoben. Als er sich daher bei mir melden ließ, einige Monate nach Hugo's Tod, empfing ich ihn voll dankbarer Ueberraschung in tiefster Ehrerbietung. Er hatte sonst etwas sehr Herbes und Hartes in seinem Wesen; das streifte er so ganz ab, sprach in so liebenswürdiger Weise, erst vorsichtig, dann herzlich und voll Antheil, über meinen Verlust, daß ich es ertrug, ihn reden zu hören, und Deinem Vater, während dessen Abwesenheit der Besuch gemacht worden war, denselben mit mehr Lebhaftigkeit erzählte, als ich seit langem gezeigt hatte. Er war erfreut, besonders über den guten Eindruck, welchen die Gnadenbezeigung des Fürsten auf mich gemacht zu haben schien. Nach einigen Tagen wurde dieselbe wiederholt, und von da ab kam der Fürst häufiger; er kam, bis ich ihm die Thür weisen mußte«, sagte die Mutter mit unbeschreiblicher Bitterkeit in Miene und Ton. Sie wollte fortfahren, als sie durch unsere kleine Magd unterbrochen wurde, welche, in der Thür stehen bleibend, der Mutter sagte, es sei ein Herr draußen, der sie zu sprechen wünsche. Ungeduldig winkte die Mutter mit der Hand, sie war noch so sehr in den Gedanken befangen, welche ihre Erzählung in ihr wachgerufen hatte, daß sie in dem Besuche nur eine Störung auf wenige Augenblicke zu erwarten schien, nach welchen sie fortfahren könne. Sonst hätte sie auch nach dem Namen des Besuchers gefragt, ehe er angenommen worden wäre. So trat der Herr nun gleich hinter Lieschen herein, die ihm mit dem Kopfe eine einladende Bewegung zu machen sich begnügt hatte.

Ich war aufgestanden und zur Seite gegangen. Der Fremde trat einige Schritte ins Zimmer und blieb dann stehen, von meiner Mutter zu mir und von mir wieder zu meiner Mutter blickend. Die saß am Fenster, durch welches der Abendhimmel so hell glänzte, daß der Eintretende geblendet ihr Gesicht gar nicht sehen konnte. So entstand eine Pause von einigen Augenblicken, welche peinlich zu werden begann. Ich konnte nicht begreifen, warum meine Mutter, sonst die höflichste Wirthin, nicht aufstand und dem Herrn entgegentrat. Jetzt erst sah ich nach ihr hin und erschrak; sie war todtenbleich geworden und starrte mit einer Art Entsetzen auf das Gesicht des Fremden hin.

»Mutter«, sagte ich endlich, indem ich näher trat und meine Hand leise auf ihren Arm legte, »Mutter, der Herr wünscht Dich zu sprechen.« – »Ja, mein Kind?« erwiderte die Mutter fragend und zerstreut, dann aber, sich ermannend, stand sie auf, und mit der ihr eigenen stattlichen Höflichkeit nöthigte sie den Gast, auf dem Sopha Platz zu nehmen, auf dem kleinen, ärmlichen braunen Sopha – es war mit Heu gestopft, und mir stieg immer thörichterweise das Blut ins Gesicht, wenn sich unter einem Niedersitzenden das verrätherische Knistern der zusammengedrückten Halme hören ließ. Die Mutter aber lud zum Sitzen darauf mit derselben unnachahmlichen Handbewegung ein, mit der sie ehemals die Höchsten des Landes auf seidene Causeusen eingeladen hatte.

Der Fremde hatte noch nichts gesprochen, aber in seinem Wesen nicht etwa Befangenheit oder gar Verlegenheit, sondern die überlegene Ruhe eines weltgewohnten Mannes und dazu ein gewisses freundliches Sichgehenlassen gezeigt, welches ihn als einen Grandseigneur erscheinen ließ.

»Sie kennen mich nicht, Frau von Günthershofen«, sagte er endlich lächelnd, »und das wundert mich nicht; es ist sehr lange her, daß wir uns nicht gesehen haben.«

Er schwieg wieder und schien zu erwarten, daß die Mutter etwas sagen würde. Auf deren Zügen aber malte sich jetzt von neuem das ängstlich Forschende von vorhin, sie ahnte offenbar, wen sie vor sich habe.

»Ich bin Bardolph von Günthershofen«, sagte er endlich – die Mutter bewegte sich auf ihrem Sitze – »und komme nach langer Abwesenheit von Deutschland, um unter meinen Verwandten auch Sie zu begrüßen. Ich fühle, verehrteste Frau, daß der Schritt, welchen ich wage, der Bitte um Entschuldigung bedarf; vielleicht werden Sie mir verzeihen, daß ich Sie mit meiner Gegenwart belästige, wenn Sie gehört haben werden, was mich zu Ihnen trieb. Es war der Wunsch, hier auszusprechen, daß ich jetzt, als Mann, mich von dem Vorgehen meiner Familie während meiner Knabenzeit in Betreff jenes beklagenswerthen Processes lossage, daß ich Ihnen, als einzige Sühne, die zur Zeit in meiner Macht steht, meine Mißbilligung einer Handlungsweise ausdrücke, welche vom Standpunkte des Rechts vielleicht nicht anzutasten ist, sich aber schwerlich von dem der Humanität aus vertheidigen läßt.«

Die Mutter, welche bisher mit unbewegter Miene geradeaus geblickt hatte, wendete jetzt den Kopf und sah den Freiherrn groß an.

»Recht, Humanität? Das sind sonderbare Worte von Ihrer Seite«, sagte sie dabei in einem Tone, bei dem mir das Blut heiß in die Wangen stieg. »Sie müssen mir erlauben, den einen wie den andern Ausdruck als unstatthaft zu bezeichnen in Verbindung mit Allem, was jene Angelegenheit betrifft. Ich will mich deutlicher erklären, mein Herr, es wird das jedem Versuche Ihrerseits vorbeugen, mir ein weiteres Urtheil über die Sache abzunöthigen: ich habe noch keinen Augenblick geglaubt, daß bei der Entscheidung des Processes zwischen Ihnen und meinem Gemahl das Recht irgendwie mitgesprochen habe.«

Die Mutter hatte den Besucher, während sie diese Worte sprach, unverwandt angesehen; auf seiner Stirn war die Röthe des Unwillens erschienen, als er aber nach einigen Augenblicken antwortete, war seine Stimme weich, man hörte ihm Mitleid und Schonung für die Mutter an.

»Sie sind durch Ihr freilich herbes Geschick wohl etwas unbillig geworden, hochverehrte Frau; ich fürchtete das, ist es doch kaum anders zu erwarten. Meiner ernsten Ueberzeugung nach befinden Sie sich im Irrthum über den Verlauf der Angelegenheit, einem Irrthum, den ich um so mehr beklage, da er von vornherein Alles, was ich noch sagen könnte, entkräften muß, während ich die Unmöglichkeit einsehe, ihn zu heben.«

Er schwieg nachdenklich. Die Mutter hatte sich inzwischen gefaßt und beherrschte von da ab die nicht mehr lange Unterhaltung mit vollkommener Ruhe, aber in einer Art, die dem Freiherrn peinlich sein mußte, denn geflissentlich lenkte sie stets von dem Gegenstande ab, über welchen er noch Manches auf dem Herzen zu haben schien; er mußte fühlen, daß der Zweck seines Besuchs, insofern derselbe eine Art Verständigung mit der alten Dame hatte bewirken sollen, verfehlt war. Höflich fragte sie ihn nach seinen Reisen, seinen Studien, den Ergebnissen derselben; seine Versuche, einige Worte von Herzen zu ihr zu sprechen, ignorirte sie völlig. So stand er nach kurzer Zeit auf, da in dem für mich beängstigenden Gespräche eine Pause eingetreten war. »Ich muß nochmals um Verzeihung bitten«, sagte er, sich leicht vor der Mutter neigend, »wegen meines Ueberfalls. Daß Ihnen ein Zusammentreffen mit mir nicht angenehm sein würde, fürchtete ich, verehrte Frau, aber ich konnte von meinem Standpunkt aus nicht anders handeln, als indem ich vor Ihnen aussprach, was Sie vorhin von mir gehört haben. Noch eins bleibt mir hinzuzufügen: wüßte ich, daß ein Unrecht vorläge, so würde ich stets bereit sein, dasselbe wieder gut zu machen.«

Die Mutter erwiderte diese Worte durch eine steife Verbeugung. Jetzt erst schien Herr Bardolph mich zu bemerken. »Fräulein von Günthershofen?« fragte er höflich. Meine antwortende Verneigung mochte linkisch ausfallen; noch nie war ich mir meines ärmlichen Anzugs so quälend bewußt gewesen als jetzt, vor dem vornehmen Träger unseres Namens.

»Ja, das ist meine Tochter«, bemerkte die Mutter ihrerseits und fügte mit einer gewissen bittern Genugthuung im Ausdruck hinzu: »Sie verläßt mich morgen, um die Stelle einer Gouvernante in England anzunehmen.«

Was dem Freiherrn das niedrige Zimmer, in welchem er sich befand, die Einrichtung, von der er uns umgeben sah, längst hatten sagen müssen, das sprach die Mutter mit diesen Worten zum Ueberflusse aus; er mochte Alles herausfühlen, was sie an herber Anklage hineinlegte, und daß solchen Verhältnissen gegenüber ein blos höfliches Zueinanderstehen zu den Unmöglichkeiten gehöre. So sagte er mir denn einige Worte der Anerkennung über meinen Entschluß, wobei er meine Hand ergriff, und ging dann. In der Thür aber wendete er sich noch einmal um. »Ich möchte Sie noch bitten, zu glauben«, sagte er, »daß nichts mir größere Freude machen würde, als Ihnen in irgend einer Weise dienlich zu sein. Es könnte ja für Sie, hochverehrte Frau, oder für Sie, mein Fräulein, immerhin ein Fall eintreten, in dem Sie eines männlichen Beistandes bedürften. Ihre Angelegenheiten würden mir dann am Herzen liegen wie meine eigenen.«

»Wo er nur diese bürgerliche Bonhommie her hat?« sagte die Mutter, als die Thür sich hinter dem Besucher geschlossen hatte, mit feindseligem Blick. »Die liegt doch wahrlich nicht in der Familie.« Und dann die bösen Worte: »Weißt Du, was das bedeuten kann, wenn einer von den Räubern so zu dem Beraubten spricht? Hätt' ich noch etwas zu verlieren, so würde ich denken, sie trachteten auch danach; so möchte ich den Schritt anders auslegen. Nun, wir werden sehen.«

Dies waren die einzigen Worte, welche die Mutter über einen Vorfall verlor, der mir viel zu denken gegeben hat. Sie ließ sich, wie ich bemerken konnte, durch den Besuch des Freiherrn von Günthershofen nicht im geringsten in ihrer Ueberzeugung in Betreff der vergangenen Ereignisse, von denen ich noch hören sollte, beirren, ja sie deutete denselben in einer Weise, welche diese Ueberzeugung unterstützte. Ihre Erzählung nahm sie, sobald wir uns zurecht gesetzt hatten wie zuvor, wieder auf, als sei kein Zwischenfall vorgekommen.

»Du wirst Dich erinnern, wo wir stehen geblieben sind. Nun, wir konnten nach dem, was ich vorhin andeutete, uns nicht mehr am Hofe aufhalten. Und bald darauf trug sich bei einer nothwendigen geschäftlichen Zusammenkunft zwischen Deinem Vater und dem Fürsten Einiges zu, was uns sogar den Aufenthalt im Lande unmöglich machte. Kind«, unterbrach sich hier die Mutter und sah mich ernst an, »es heißt, man solle Niemand hassen, die christliche Religion verbietet es. Ich habe ihrer Vorschrift in diesem Punkte nicht nachzuleben vermocht, fast möchte ich sagen, ich verwerfe dieselbe. Denn es gibt Menschen, die man hassen muß, mit all der Kraft, die unser Wille besitzt; wir würden an moralischem Werthe sinken, wenn wir in uns nicht den Haß gegen solche vorfänden. Gott Lob, ich kann hassen, einen Menschen freilich nur, und der eine ist der Fürst. Er ist lange todt, aber wie der höchsten Liebe ihre Gegenstände nicht sterben, wie sie mit gleicher Stärke Lebendige und Todte umfängt, so kennt auch der Haß den Tod nicht. Ich würde nicht sagen können, ich habe jenen Mann gehaßt, sondern nur: ich hasse ihn, hasse ihn in diesem Augenblicke und für alle Zeiten. Auch Du, Margarethe, so hoffe ich, wirst ihn hassen lernen, wenn Du erfahren haben wirst, was wir ihm Alles verdanken. Mir hat er die entsetzlichste Kränkung zugefügt, welche man einer Frau anthun kann, und dann, nach Art der ganz Schlechten, die sich vor den Folgen ihrer Schändlichkeiten nicht anders zu sichern wissen, als daß sie den alten stets neue beifügen, dann hat er Deinen edeln Vater ebenfalls bis auf den Tod beleidigt, ihn aus der Heimat vertrieben, beraubt, um Ehre und guten Namen gebracht, zum Bettler gemacht – gebrochenen Geistes und Herzens ist einer der reinsten, besten Menschen im Elend gestorben.«

Traurige Erinnerungen mochten die Sprechende hier fast übermannen, sie fuhr erst nach einer Pause in leiserem Tone fort:

»Ich muß Dir das Alles genauer erzählen, meine Tochter, es ist Dir lange genug unbekannt geblieben. Wir gingen nach der Schweiz; in Frankreich hätten wir gern gelebt, aber das Land blutete noch an den Wunden der Revolution; in der Schweiz, am Genfersee, waren wir ferne Zeugen so mancher Bewegungen dort. Wir hatten bisher von den Einkünften unserer verpachteten Grundbesitzungen gelebt – Dein Vater bezog keinerlei Gehalt mehr vom Fürsten – nach einiger Zeit aber, kurz vor Deiner Geburt, traten plötzlich Stockungen in den Zahlungen ein. Durch Briefe wurde nichts geändert und Dein Vater entschloß sich, obwohl sehr ungern, selber nach B. zu gehen. Ich fügte mich der Nothwendigkeit der Reise, aber mir war entsetzlich bange dabei, ich hatte eine unerklärliche Furcht vor den Folgen derselben. Während der Abwesenheit Deines Vaters wurdest Du geboren, Margarethe. Kein Wunder, daß Du stets ein ernstblickendes Kind warst, daß Du den Zug der Traurigkeit im Gesicht noch jetzt kaum los werden kannst« – ich versuchte zu lächeln, um meiner Mutter das Gegentheil zu beweisen, aber es mochte schlecht gelingen, denn sie schüttelte wehmüthig mit dem Kopfe – »mit der Muttermilch«, sprach sie weiter, »hast Du vielen Jammer eingesogen, Du spätgeborenes armes Kind. Von Deinem Vater erhielt ich zwar häufig Nachricht, er schrieb mir die liebevollsten Briefe, aber sie sagten mir nicht genug, ich fühlte heraus, daß er aus Vorsorge für mich mir Manches verbarg, und dies versetzte mich in die quälendste Unruhe. So verging Woche auf Woche; die Zeit, wo sonst das Kind, das neugeschenkte Leben, der Mutter größte Freude, ihr ernstestes Studium ist, in welchem sich alle ihre Interessen concentriren, diese Zeit verfloß mir in Angst und Sorgen um Deinen Vater. Endlich kündigte er mir in einem kurzen, von Erregung zeugenden Schreiben seine baldige Rückkehr an. Der Tag kam; wir standen auf der Terrasse unseres Hauses, ich und die Wärterin mit Dir – ach, ich weiß es noch, als wenn es gestern gewesen wäre. Obgleich ich nur zerstreut auf die Landschaft umher schaute, hat sie sich mir doch unverwischbar eingeprägt, gerade wie sie an jenem Tage erschien: der stille, kühle See, nach dessen Tiefe ich oft ein eigenes, wildes Verlangen hatte, die grünen Ufer mit glänzenden Häusern übersät, der Himmel darüber, an dem die duftigsten Wolken zogen, die köstliche Frische des ganzen Bildes. Und nun kam Dein Vater: die Landstraße zog sich am Fuße unseres Gartens hin, die Kutsche hielt, ich sah ihn heraussteigen und stürzte mich ihm entgegen. Auf der untersten Terrasse erreichte ich ihn erst, so langsam war er gestiegen. Er nahm mich in seine Arme und hielt mich lange fest, bis ich fühlte, wie er wankte; wir gingen nach einem Sitze und er fiel schwer darauf nieder, mit schlaffen Gliedern. Jetzt sah ich erst, wie sehr er sich in den wenigen Wochen verändert hatte. Sein Haar war völlig ergraut, seine sonst schönen, klaren und durchdringenden Augen blickten matt und trübe, aus dem Gesichte war die Spannkraft gewichen, das Bewußte, Gefaßte; offen stand für Jeden darauf zu lesen, der Mann war tief unglücklich, gebrochen. Er sprach nicht, sah mich auch nicht an, sondern blickte vor sich hin ins Weite. Mit namenloser Angst hing ich mit den Augen an seinem Antlitz; ich wagte auch nicht zu reden. Endlich legte ich leise meine Hand auf die seine, nannte ihn beim Namen und erwähnte unser Kind. Da fuhr Dein Vater auf. »Ja so«, sagte er mit einem Lächeln, das mir in die Seele schnitt, »unser Kind; komm, Louise, wir wollen zu ihm, es ist ja wohl in der Nähe.« Und wir stiegen zusammen hinauf, indem er sich auf mich stützte; er sei sehr müde von der Reise, sagte er, sehr müde.«

Hier hielt die Mutter inne, erschöpft durch die auf sie eindringenden schmerzlichen Erinnerungen. »Ich werde zu weitläufig«, sagte sie dann, »aber es ist schwer, sich kurz zu fassen bei einer solchen Erzählung. Ein jedes Wort weiß ich noch, was an jenem Tage zwischen uns geredet worden. Dein Vater hatte mir das Unglaublichste zu berichten. Man hatte sein Recht auf seine Erbgüter angetastet, der andere Zweig der Familie war mit Ansprüchen auf dieselben hervorgetreten, heimlich vom Fürsten begünstigt, welcher, wie ich glaube, die Schändlichkeit allein ins Werk gesetzt hatte, um uns für immer aus dem Wege zu räumen, seinem Haß und seiner Rachsucht folgend. So war das größte Unrecht begangen worden, eine schamlose Fälschung vorgenommen. Es war damals freilich noch Alles in der Schwebe, aber Dein Vater sah sich in einem Netze von Bosheiten, gegen dessen Gewirre er sich in seinem edlen Geradsinn vergebens zu wehren suchte. Der Kampf gegen offenes, von oben begünstigtes Unrecht ging über seine Kräfte, er zog sich zurück mit der Aussicht, ein Bettler zu werden. Du denkst vielleicht, Margarethe, er hätte nicht aufgeben dürfen, denkst, das Recht hätte am Ende siegen müssen, Dein Vater hätte standhafter und energischer sein sollen. Sein Alter aber und so manche Verhältnisse wirkten niederdrückend mit. Die Welt war damals in einer Gärungsperiode; die Zeit, in welche unsere Jugend gefallen war, schien durch eine große Kluft von der Gegenwart getrennt. Neue Ideen brachen sich Bahn; sie waren ihm, der sich stets in einem gewissen, scharf gezogenen Kreise bewegt hatte und in diesem mit vollkommener Reinheit und Einheit des Charakters, fremd, unheimlich beinahe; schon die Jahre, welche er in der Schweiz verbracht, so fern vom Langgewohnten, unter Menschen, deren Gesichtskreise so verschieden von dem seinen waren, daß sich fast kein Anknüpfungspunkt fand, schon diese waren Schmerzensjahre gewesen. Nun sollte zum Exil die bittere Noth treten, er sollte sein geliebtes Weib und ein kleines, einziges Kind darben sehen, sollte in seinem Alter noch, anstatt eines heitern Abends zu genießen, das würdige, greise Haupt sanft gebettet, die kleinliche, elende Noth des Lebens, täglichen Mangel kennen lernen – das war zu viel. Seine Gesundheit litt unter diesen nagenden Gedanken, die Sorge um uns, der Kummer über die Entbehrungen, welchen wir nach seinem Tode preisgegeben sein würden, machten ihn beinahe wahnsinnig. Wir mußten uns einschränken, mußten unsern bisherigen Aufenthaltsort verlassen; es zog uns nach Deutschland zurück und wir ließen uns in C., einer kleinen Stadt unseres Nachbarländchens, nieder; dort verlebtest Du Deine ersten Jahre, Margarethe, zwischen traurigen Gesichtern. Deinem Vater war Dein Anblick stets ein Stich ins Herz, er war überhaupt menschenscheu geworden. Die Bestätigung seiner Befürchtungen erreichte uns bald: wir verloren Alles bis auf eine kleine jährliche Rente, das Legat einer alten Tante Deines Vaters, welches unantastbar war. Bisher hatte er es immer ganz den Armen überwiesen, jetzt bildete es unser einziges Subsistenzmittel, denn ich besitze kein Vermögen, wie es unsere Verwandten, unsere Rechtsfeinde, geglaubt hatten und noch zu glauben scheinen. Niemand wohl als eine Magd, ein Mädchen von unsern Gütern, welche treu zu uns hielt, hat gewußt, wie arm wir geworden waren. Du warst etwas über drei Jahre alt, da Dein Vater starb, der sich seit seiner Reise nach B. nie mehr erholt hatte.«

Die Mutter schwieg nun, sie hatte ihre Erzählung beendet. Ich hatte während derselben einen wahren Sturm von Gefühlen durchgemacht. Bald drangen mir die Thränen in die Augen und zwar nicht nur bei den traurigsten Momenten der Geschichte, ich mußte weinen, wenn die Mutter die frühern Zeiten schilderte, die jetzt so ganz, ganz vorbei waren, so abgeschnitten von uns für immer. Nicht daß der Gedanke an unsere jetzigen Entbehrungen mich traurig gemacht hätte, nein, dieselbe Wehmuth würde mich überkommen haben, wenn ich von aller Eleganz des modernen Lebens umgeben gewesen wäre. Es war nur das Gefühl des Wechsels in allen menschlichen Dingen, dieses Gefühl, welches einem den Boden unter den Füßen fortnimmt, sodaß man sich losgerissen von Allem und heimatlos vorkommt. Und dann stieg mir auch wieder alles Blut ins Antlitz oder drängte sich nach dem Herzen und nahm mir den Athem, wenn ich von dem brennenden Unrecht hörte, welches uns angethan worden war, wenn ich hörte, wie mein Vater und mein Bruder ja eigentlich auch – so dachte ich wenigstens damals in meiner Bitterkeit – gemordet worden waren durch jenen fluchwürdigen Hof, wenn ich an die zwanzig Jahre der Entbehrung dachte, die hinter meiner armen Mutter lagen. Aber einige Fragen brannten mir noch auf den Lippen. »Der Hof von B.?« sagte ich. »Ist eingegangen«, erwiderte die Mutter, bitter lächelnd. »Das Fürstenthum wurde, wie Du wissen wirst, mediatisirt und der Fürst, dessen Privatvermögen ziemlich bedeutend war – er hatte in den letzten Jahren zu sparen angefangen – zog sich nach Italien zurück, wo er starb. Die Fürstin war schon vor längern Jahren heimgegangen; eine Tochter war unglücklich verheirathet und hatte, wie man sich zuflüsterte, den Verstand verloren über einige Sonderbarkeiten ihres Gemahls; sie hat Jahre lang auf einem einsamen Jagdschlosse in tiefster Abgeschiedenheit gelebt, jetzt ist sie auch todt; die Söhne sind verschollen, wie ich glaube.«

»Und jene Günthershofen, welche sich unsere Güter erschlichen haben?« fragte ich weiter.

»Ei, die essen und trinken, freien und lassen sich freien«, sagte die Mutter bitter. »Es waren mehrere Brüder, Vettern Deines Vaters; einer hat viele Kinder, er wirthschaftet auf Erbrück; die Familie soll etwas verbauert sein. Der andere, ein geiziger, mißtrauischer Mann, welcher sich ein lebenslängliches Unglück in einer schönen, leichtfertigen und verschwenderischen Frau auf den Hals geladen, ist kürzlich gestorben. Bardolph ist sein Sohn, der ist nun Herr auf Günthershofen, dem Stammschlosse, Deinem Erbtheil.«

Also der war es! Ich begriff jetzt das abstoßende Benehmen meiner Mutter gegen den Freiherrn, ich theilte ihren Unwillen. Wie hatte er es wagen können, in unsere Nähe zu kommen, die Augen nur zu meiner edlen Mutter aufzuschlagen, er, der, ein Eindringling und ein Dieb, auf fremdem Erbe saß! War er etwa gekommen, um unsere Armuth sich anzusehen und sie vielleicht nachher in den Salons seiner Freunde zu Bonmots auszubeuten, oder, was noch schlimmer, uns achselzuckend zu bemitleiden, »die eigensinnigen armen Verwandten, die noch nicht einmal mit sich reden lassen wollen«? Ich sagte meiner Mutter, was ich dachte.

»Du weißt noch nicht Alles«, entgegnete sie mir. »Ich kannte ihn ja nicht, als er eintrat, und doch überlief es mich bei seinem Anblick – er ist das Ebenbild des Fürsten. Seine Aeltern haben auch einmal bei Hofe gelebt; Seine Hoheit hat damals nur versuchen wollen, wie ich die Gunstbezeigungen aufnehmen würde, welche bei einer andern Frau von Günthershofen Anklang gefunden hatten.«

Ich war ein unerfahrenes, einfältiges Mädchen und verstand anfänglich die Mutter kaum, aber das Verständniß für Alles, was sie gesagt hatte, kam mir bald, da ich unaufhörlich im Geiste mir ihre Worte wiederholte und über dieselben brütete, und ich wurde fast plötzlich eine Andere; geistige Reife trat ein und mit ihr das Denken und der Schmerz. Wir saßen nun noch eine lange Zeit schweigend bei einander; meine Mutter hatte meine Hände in die ihrigen genommen und es war, als zöge ein geheimer Strom so von ihr zu mir, mir schien es, als sähe ich jetzt mit ihren Augen und fühlte mit ihrem Herzen, sie war mir näher gerückt als je zuvor. Soweit ich zu denken vermochte, war die Mutter zwar stets liebevoll und auch sorgsam, aber gar so unnahbar gewesen. So hatte ich schon vor Jahren bemerkt, daß von so manchen kleinen Künsten, welche Frauen beim Beschaffen des Nothwendigen oft anwenden müssen, die Mutter weniger verstand als ich. Jene Magd, von der sie gesprochen, ein tüchtiges Mädchen, hatte in meinen ersten Jahren das Hauswesen und meine Garderobe aufs sparsamste besorgt; als sie sich verheirathete und mit Thränen und mancher guten Lehre von mir Abschied nahm, fiel alles das zum größten Theil in meine kleinen Hände und verursachte mir vielerlei Sorge. Nicht daß die Mutter das Nähen und Beschicken unter ihrer Würde gehalten hätte, es fehlte ihr die stete Aufmerksamkeit auf das Geringfügige; sie hatte etwas unbeschreiblich Vornehmes in ihrem Wesen, und fast jede Frau, die mit ihr gelebt, hätte sich wohl stillschweigend in die Rolle einer Kammerjungfer neben ihr finden müssen. So hatten wir uns trotz aller Liebe nicht ganz nahe gestanden; ich fühlte, daß die Mutter in einer andern Welt hauste als ich, in einer Welt, von der meine Vorstellungen nur höchst unklar sein konnten, da die Mutter nie zuvor von der Vergangenheit, in welcher sie lebte, ein Wort zu mir gesprochen hatte. Jetzt schien diese Schranke plötzlich gefallen; ich wußte nun, was die starke Frau Alles ertragen hatte, und liebte sie wenn möglich noch tausendmal mehr als früher. Ich selber aber kam mir auf einmal ganz anders vor: herausgerüttelt war ich aus meiner harmlosen, fast demüthigen Weltanschauung; es war aber nicht etwa der Gedanke an den Rang meiner Familie, sondern die Gewißheit unverschuldeten Unglücks, welcher mir eine erhöhte Stimmung gab und für alle Folge auf meine Charakterbildung eingewirkt hat. Die Menschheit war in der Schuld gegen uns, wir hatten an sie zu fordern, und dies Bewußtsein erfüllte mich mit einer Art Stolz; ich sagte mir, daß ich in diesem Falle weit lieber leidend als handelnd mich verhalten wolle.

Die Mutter hatte lange mit einem finstern Ausdruck auf dem noch immer schönen Gesichte starr und aufrecht dagesessen; jetzt lösten sich ihre Züge, und sie sagte weich: »Es war nöthig, daß Du die Schicksale Deiner Aeltern kanntest, liebe Margarethe, sonst hätte ich Dir gern diesen Blick in das Treiben der bösen, bösen Welt erspart. Ich hoffe, mein Kind ist edel genug, um nicht dadurch den Glauben an die Güte der Menschen zu verlieren; es wäre schlimm«, fügte sie freundlich lächelnd hinzu, »wenn Du Deinen künftigen Zöglingen als Misanthropin gegenübertreten wolltest. Und nun laß uns von Deinem demnächstigen Wirken sprechen.«

Die Mutter hatte sich so weit mit meinem Fortgehen ausgesöhnt, daß sie mir manchen guten Rath, manche liebevolle Warnung mit auf den Weg gab. So verging der letzte Abend, den ich mit ihr zubrachte, uns in beinahe feierlicher Stimmung. Der nächste Morgen kam heran, der Morgen meines Reisetags. Ich ging, um Lebewohl zu sagen, zu den wenigen Familien im Städtchen, mit denen wir einigen Umgang hatten, und ließ mir die üblichen guten Wünsche mit auf den Weg geben. Zu dem Pfarrherrn kam ich zuletzt; auf seinen Segenswunsch freute ich mich, denn mir war weichmüthig zu Sinne. Er ergriff denn auch meine beiden Hände und sagte herzlich, wie er wünsche, daß ich dort in dem neuen Kreise Freunde finden möge. »Und einen Freund haben Sie ja hier«, fuhr er fort, »von dem Sie mir noch nie erzählt hatten; ein Freiherr von und zu Günthershofen« – er betonte die Titel mit komischer Gravität – »war heute Morgen bei mir. Er ist lange außer Landes gewesen, wie er mir erzählte, und wollte nun Einiges über Sie und Ihre Mutter wissen; er sei manchen Familienmitgliedern durch die lange Abwesenheit ziemlich fremd geworden, sagte er, wie denn das so gehe. Ein schöner, stattlicher Herr und sehr angenehm. Er sprach davon, daß es ihm hier in der Gegend gefalle und daß er vielleicht für einige Zeit seinen Aufenthalt in der Nähe nehmen werde; aber vorerst wollte er noch einige Monate reisen. Er erwähnte England, und es wäre nicht übel, wenn er Sie dort aufsuchte, liebes Fräulein; eine Gouvernante nimmt oft gleich eine ganz andere Stellung ein im Hause durch den Besuch eines Angehörigen und nun gar eines Barons. Ich sagte das und er bat um Ihre Adresse.«

»Und haben Sie ihm dieselbe gegeben?« brach ich endlich hervor. Ich hatte den alten Herrn bis hierher reden lassen, weil ich nicht wußte, wie ich meinem maßlosen Erstaunen und Zorn über das, was ich zu hören bekam, Worte geben sollte. »Haben Sie ihm die Adresse gegeben, hat er sie?« rief ich noch einmal.

»Ja, mein Kind, ja, und wäre Ihnen dies etwa unangenehm? Warum –«

Der Pfarrer brach ab und sah mich befremdet an, ich mochte sehr erregt aussehen. Sogleich bedachte ich aber auch, daß, wenn ich jetzt all meinem Unwillen und Aerger vor dem unvorbereiteten Freunde Ausdruck geben wollte, ich dadurch unserer guten Sache nur schaden würde. Sehr ruhig setzte ich ihm daher, soweit es sich thun ließ, auseinander, wie zwischen uns und der Familie jenes Herrn alle andern eher als freundschaftliche Beziehungen existirten, und hütete mich, die Entfremdung als eine romantische Familienfehde aus alter Zeit erscheinen zu lassen; ich sagte ihm, wie jene sich eingedrängt hätten in unsern Besitz und uns hinausgeschoben, und ich mußte erleben, daß der alte Herr den Kopf schüttelte und mir die Heftigkeit meiner Redeweise verwies.

»Gemach, gemach; man kennt Sie ja gar nicht wieder, Fräulein Margarethe«, sagte er. »Sehen Sie das Alles auch aus dem richtigen Gesichtspunkte an? Hatten jene Familien auf die fraglichen Besitzthümer gar kein Recht?«

»Nein, gar keins«, sagte ich rasch.

»Aber sie mußten doch vor Gericht irgendwelche Ansprüche geltend machen; welches waren diese?« Das wußte ich nicht. »Und hat nicht Ihr Herr Vater vielleicht einen gütlichen Vergleich ausgeschlagen?« Auch darüber konnte ich keine Auskunft geben, kurz, mit der Gewißheit in mir, daß falsches Spiel gespielt worden sei, stand ich endlich vertheidigungslos da, wie eine unerfahrene Schwärmerin, welche den Dingen, wie sie einmal sind, keine Rechnung trägt. Das war die erste bittere Erfahrung, die ich in dieser Angelegenheit auf eigene Hand machte und zwar an einem wohlwollenden Menschen. Ich zog darauf die Fühlhörner ein und entschloß mich vor allem, mir bei meiner Mutter, wenn es thunlich, genaue Auskunft zu holen über jene angeblichen Ansprüche und manches Andere, um ein anderes Mal besser gerüstet zu sein. Ziemlich kalt verabschiedete ich mich von dem Pfarrherrn; seine guten Rathschläge nahm ich nicht so willig und unbefangen hin, wie es vor wenig Tagen geschehen sein würde, sondern hörte sie, innerlich in Angriffsstellung, schweigend an. Die meiner Mutter sagten mir besser zu; sie ermahnte mich, nicht zu vergessen, wer ich sei.

»Etwas aber«, fügte sie hinzu, »möchte ich Dir noch anempfehlen, was Dir Deine Arbeit erleichtern wird. Wie Du Dich gegen diejenigen, welche über Dir, und die, welche unter Dir stehen werden, zu verhalten hast, das wird Dir Dein Standesgefühl und Deine Vernunft sagen; die Kinder aber, bei denen mache Dir's leicht: suche sie zu lieben, dann geht Alles und kommt Alles ins rechte Gleis. Und nun segne Dich Gott! O Margarethe, er wird die Gebete einer einsamen alten Frau hören und Dich behüten!«

Damit schieden wir. Ich fuhr von der Heimat fort mit einem Gefühl der Verlassenheit und des Jammers, welches dadurch nicht leichter für den Einzelnen wird, daß es so Viele schon empfunden haben und noch empfinden werden.

Drittes Kapitel.

Die Familie der Mrs. Gray, in welche mich das Schicksal und zwar ein freundliches geführt hatte, bestand aus dem Vater, der Mutter, zwei fast erwachsenen Söhnen, zwei jüngern Mädchen, meinen Zöglingen, und einer ganzen Menge kleinerer Kinder, von damals sechs Jahren an abwärts, deren Zahl sich, da sie sich regelmäßig jedes Jahr um eins vermehrten, auf die Dauer nicht feststellen ließ. Zwischen der fünfzehnjährigen Blanche und dem sechsjährigen Gordon waren mehrere Kinder gestorben und durch diesen Zwischenraum die vier ältern von der Heerde der »Kleinen« ganz abgesondert. Herr und Frau Gray kamen mir bald mit Herzlichkeit entgegen und betonten es in ihren freundlichen Gesinnungen ganz besonders, daß von seiten der Dame sich deutsches Blut in der Familie befinde, während Herr Gray schottischer Abkunft war. Durch diese Umstände herrschte in der Familie nicht der specifisch englische Ton, welcher unangenehm sein mag; man war etwas kosmopolitisch im Hause und meinem Vaterlande besonders zugethan. Von Demüthigungen, welche die Stellung einer Gouvernante oft mit sich bringen soll, habe ich nie etwas erfahren. Die Geselligkeit der Familie war eine liebenswürdige, angeregte und ich bewegte mich in derselben bald mit Genuß, nachdem mir Idiom und Gebräuche geläufig geworden waren.

Eines Abends, wohl ein halbes Jahr nach meiner Ankunft, saß ich in meinem Zimmer, welches auf eine Veranda hinausging, die auf drei Seiten das Haus umgab, und die Aussicht auf den schönen parkartigen Garten hatte. Noch eine Stunde fehlte bis zur Zeit des Abendessens, und da mehrere Gäste sich im Hause befanden, war ich mit meinem Anzuge beschäftigt und eben recht in das Ausputzen meines leichten Kleides vertieft, als mir plötzlich durch eine Ideenverbindung, vielleicht von dem geringsten Umstand angeregt, ein anderes Kleid einfiel, welches ich oft mit Ehrfurcht und Entzücken betrachtet hatte und das für meine ganze Jugend der Inbegriff von Pracht gewesen war – das Brautkleid meiner Mutter. Nun war freilich meine Mutter, meine einsame, geliebte Mutter, nie ganz aus meinen Gedanken, aber jetzt überfiel mich plötzlich eine Sehnsucht nach ihr, wie ich sie lange nicht mehr gefühlt hatte, und zugleich ein Gefühl des Unrechts, daß ich so ganz in dem Leben hier aufgegangen war, daß ich kein Heimweh mehr gehabt hatte, daß ich vergnügt, ja glücklich gewesen, während meine Mutter stets die Bürde ihrer Einsamkeit und ihrer traurigen Erinnerungen trug. Was that ich denn für sie? Ihre äußere Lage freilich konnte ich erleichtern, aber hatte ich keine andere Mission? Was hatte ich damals bei ihrer Erzählung, was bei den Worten des Pfarrers gefühlt! War es mir nicht klar geworden, daß meine Stellung zu der Welt eigentlich keine andere als eine feindliche sein konnte? War es nicht eine Schwäche, jemals, auch nur auf Augenblicke, das Unrecht zu vergessen, unter welchem wir lebten, welches uns in unsere gegenwärtige Lage hinabgedrückt hatte? Und mein fröhliches Mitleben in dieser Gesellschaft, von deren Existenz ich vor einigen Monaten noch nichts gewußt, war das nicht ein hohler Compromiß mit der uns feindlichen Welt?

So dachte ich, schämte mich meiner Charakterschwäche und fühlte mich dabei sehr unglücklich. Auf den mir bevorstehenden heitern Abend blickte ich nur mit Beklommenheit hin; wäre es nicht recht, daß ich mich von dergleichen Vergnügungen zurückzöge? Ich überlegte, wie sich dies thun lasse, ohne Aufsehen zu erregen, da hörte ich John's, des jüngsten der beiden ältern Söhne, fröhliche Stimme auf der Veranda. Er kam an die Glasthür, welche aus meinem Zimmer auf dieselbe führte, klopfte und trat auf meinen Wink mit einer komischen Geberde schalkhafter Schüchternheit herein. Das war auch ein Zeichen meiner Schwäche, warf ich mir jetzt im Stillen vor, daß ich den siebzehnjährigen wunderhübschen Jungen so rasch vorzugsweise lieb gewonnen hatte. Es wäre freilich schwer gewesen, das zu verhindern, er war der Liebling aller, die ihn kannten. Auch jetzt warf er mit seiner Aufforderung, mich doch zu eilen, man wolle im Garten zu Abend essen und dann noch auf dem Flusse eine Kahnfahrt unternehmen, alle meine misanthropischen Entschlüsse über den Haufen. Aber die Gedanken, welche vor kurzem wieder in mir aufgewacht waren, blieben thätig. Als ich spät, nach einem herrlichen Abend, in mein Zimmer trat, ergriffen sie mich wieder, als hausten sie in der Luft desselben, nur nahmen sie jetzt eine andere Form an. Durch die Stunden froher Geselligkeit, welche hinter mir lagen, fühlte ich mich beschämt, meine vorherigen Anwandlungen kamen mir thöricht vor. Der Zusammenstoß mit einigen heitern, klaren und sicher lebenden Menschen hatte bewirkt, daß mir meine vagen, weltschmerzlichen Ideen unnütz und kleinlich erschienen. Wenn ich nun einem der Herren hier, einem dieser gebildeten, weltgewandten Männer meine Geschichte erzählte, dürfte ich etwas verlauten lassen von meinem Entschlusse, mich von nun an der Welt gegenüber in das Gefühl des Unrechtleidens pathetisch und thatlos einzuhüllen? Ein Engländer würde diese deutsche Gefühlsseligkeit gar nicht verstehen. Aber – der Gedanke durchzuckte mich plötzlich – würde er nicht wahrscheinlich fragen: Und können Sie sich nicht wieder zu Ihrem Rechte verhelfen? Konnten wir nicht unser Recht geltend machen, konnte das damalige elende Spiel nicht jetzt aufgedeckt werden, wo wir unter den Gesetzen standen, wie sie eine unparteiische Regierung verwaltete? Konnte man nicht handeln, anstatt nur zu leiden? Es erschien mir jetzt unbegreiflich, daß ich nie früher daran gedacht, daß meine Mutter nicht diesen Weg eingeschlagen hatte. Sollte ihre Mittellosigkeit sie vor einem Processe haben zurückschrecken lassen? Nein, dazu kannte ich ihren Stolz und die Starrheit ihres Charakters zu gut. Hätte sie müssen ihr Letztes daran setzen, hätte sie es wagen müssen, sich bei dem Versuche vollständig und wörtlich zur Bettlerin zu machen, so würde sie das Alles nicht abgehalten haben, ihr Recht zu fordern. Es mußten andere Gründe, in der Angelegenheit selbst liegend, bei ihrem Verhalten den Ausschlag gegeben haben. Ich wollte mir von ihr Auskunft verschaffen; schon am folgenden Tage schrieb ich und bat sie, mir die nähern Umstände jenes Rechtshandels so genau wie möglich auseinander zu setzen und mir zu sagen, ob ihr nie der Gedanke gekommen, nach meines Vaters Tod die unrechtmäßigen Besitzer unserer Güter mit dem Gesetze anzugreifen. Während ich gespannt auf Antwort wartete, traten Umstände ein, welche mich merkwürdig unterstützen zu wollen schienen.

Ich saß eines Nachmittags mit meinen Zöglingen im Garten; die regelmäßigen Lehrstunden waren durch die Vacanz der Brüder, während welcher die Familie gewöhnlich eine Erholungsreise unternahm und auch diesmal zu machen gedachte, aufgehoben. Wir lasen »Iphigenie«, zur allgemeinen Erbauung; auch John, welcher von seiner öffentlichen Schule einen guten Grund im Deutschen mitgebracht hatte, betheiligte sich und unvergleichlich klangen aus seinem Munde die Worte des Orestes, da er von künftigen Thaten spricht, die wie Sterne aus dem Nebel auf seine Jugend hineinglänzten. Ich sage, sie klangen unvergleichlich, und doch hörte ich ihn kaum, die Mängel der ausländischen Aussprache konnten mich daher auch nicht stören. Der Sinn des Ganzen sprach zu mir und wurde wunderbar unterstützt durch sein Aussehen, sein Gesicht; ich sah ihn an und erfreute mich daran, daß man kein schöneres Bild eines griechischen Jünglings sich hätte denken können als ihn. Während wir so saßen, trat Roger, der älteste Sohn, mit einem fremden Herrn zu uns, dessen Namen ich bei der Vorstellung nicht verstand; ich hielt ihn für einen Universitätsfreund Roger's, welcher damals in O. studirte.

Die Angekommenen baten, daß man sich nicht stören lasse; wir lasen weiter, unvermerkt aber nahmen die beiden Neuangekommenen die Rollen des Thoas und des Pylades auf, welche ihnen meine Zöglinge, die sich dem fremden Zuhörer gegenüber nicht behaglich gefühlt haben mochten, willig genug überließen, während Iphigenie mir blieb. Mir fiel bald das vortreffliche Lesen des Fremden auf; ich sah ihn zuweilen verwundert von der Seite an – sollte es ein Deutscher sein? Aber warum hätte er dann nicht die Landsmannschaft geltend gemacht? Es entspann sich in den Pausen der Lectüre bald ein Gespräch, und an der Aussprache des Ankömmlings wurde es mir vollends klar, daß ich es nicht mit einem Engländer zu thun hatte, ich befestigte mich in meiner Ueberzeugung, daß er ein Deutscher sein müsse. Warum aber hatte er als solcher mich nicht als Landsmännin begrüßt? Das Unterlassen hatte etwas fast Beleidigendes, denn er hatte gehört, wer ich sei. So ließ ich es denn auch bei dem fremden Idiom, und Herr Forster – aus seinem Namen freilich konnte man auf die Nationalität nicht schließen – Herr Forster und ich begegneten uns von da ab auf dem neutralen Gebiete des Englischen. Er wollte, wie ich bald erfuhr, einige Zeit bei uns bleiben und die Familie sogar auf ihrem Ausflug in die schottischen Hochlande begleiten.

Die Vorbereitungen zur Reise wurden gemacht und es gab viel zu thun im Hause; das deutsche Lesen unterblieb und wir alle waren fast nur während der Mahlzeiten vereinigt, wo Herr Gray sich ein Vergnügen daraus zu machen pflegte, mir politische und andere Nachrichten aus Deutschland mitzutheilen, von denen er wußte, daß sie mir Interesse einflößten, wie mir denn jetzt in der Fremde erst für die staatlichen Verhältnisse meines Vaterlandes einiges Verständniß aufging. Wir sprachen dann häufig viel von deutschen Zuständen, und nun wurde auch Herr Forster in diese Unterhaltung hineingezogen, von dessen Umständen übrigens Niemand außer Roger viel zu wissen schien. Eines Tages gab er uns bei einer solchen Gelegenheit so eingehenden Aufschluß über deutsche Rechtszustände, daß ich zu der Ueberzeugung kam, wir hätten einen deutschen Juristen vor uns. Ein deutscher Rechtskundiger, hier, in meinem Bereiche, der mir über das, was mich Tag und Nacht beschäftigte, Aufklärungen geben konnte! Vor einer solchen Chance mußte meine, wie mich dünkte, berechtigte Zurückhaltung ihm gegenüber weichen. Noch an demselben Tage traf ich ihn in den Gängen des Gartens mit einem Buche; er grüßte und wollte wieder fremd an mir vorübergehen, da trat ich auf ihn zu und bat ihn, ein wenig mit ihm reden zu dürfen.

»Warum«, fragte ich ihn nun auf Deutsch, »warum, mein Herr, reden Sie nicht unsere Muttersprache zu mir? Es scheint sonderbar, daß zwei Deutsche, die sich in der Fremde treffen, nicht in ihrer Sprache mit einander verkehren; es ist fast, als riefe man sich durchs Sprachrohr an, wenn man nahe bei einander steht.«

Er lächelte über den Vergleich und sagte ganz gelassen: »Es ist vielleicht eine Grille von mir, gnädiges Fräulein, daß ich mir vorgenommen habe, Deutschen gegenüber im Auslande mich nicht als Landsmann zu geriren; doch läßt sich mein Verhalten theilweise begründen: man könnte durch die Bekanntschaft mit mir compromittirt werden – ich bin ein politischer Verbrecher.«

Ich hatte in meinem einsamen Leben zu Hause wenig über die zeitbewegenden Fragen gehört, kannte die Stichwörter nicht und mag daher bei diesen Worten nicht wenig entsetzt ausgesehen haben. Herr Forster lächelte wieder und schien nun schon mehr Gefallen an einer Unterhaltung zu finden, bei der die naivsten Vorurtheile zu überwinden waren.

»Und was, denken Sie wohl, kann ich verbrochen haben, Fräulein?« fuhr er fort und sah mich zum ersten Male mit den hellbraunen Augen ganz freundlich an. »Gemordet, gestohlen, Brand gestiftet?« Und dabei lachte er hell auf. »In den feudalen Kreisen hat man von unsereinem oft wunderliche Vorstellungen; wer weiß, vielleicht hat Ihre Wärterin Sie in den Schlaf gesungen mit schrecklichen Geschichten von wilden Demagogen und mordlustigen Rebellen.«

»Sie machen sich über mich lustig, Herr Forster«, sagte ich nun meinerseits, »und meine Unwissenheit mag das wohl verdienen. Ich weiß nicht, was dazu gehört, zum politischen Verbrecher gestempelt zu werden.«

»Dazu kann, um Ihnen ein Beispiel zu geben, gehören, daß man eine Rede gehalten hat, in der man sich mit zu großer Aufrichtigkeit über einige Maßregeln der Regierung ausgesprochen und den Ausspruch des persischen Dichters nicht beherzigt hat: Wer die Wahrheit spricht, muß statt der Arme Flügel haben. Diese Flügel haben mir nun freilich gute Freunde geliehen, denn ich bin aus der Untersuchungshaft entkommen und, wie Sie sehen, hier und frei.«

»Und können Sie nicht in die Heimat zurück?« fragte ich, der jede Art von Exil ein schweres Schicksal schien.

»Nein, vorerst und vielleicht auf Jahre hin nicht.«

»Ach«, sagte ich, »dann sind Sie auch nicht frei; frei ist nur der, welcher gehen kann, wohin er will.«

Herr Forster sah mich an und nickte schweigend mit dem Kopfe, dann sprach er weiter:

»Ich bin Jurist und habe die Staatsexamina hinter mir; die Anstellung wird nun freilich eine Weile auf sich warten lassen. Auf einer Ferienreise in der Schweiz traf ich vor mehreren Jahren Roger Gray und wir fanden Gefallen an einander. Er hat mich seitdem in meiner Vaterstadt besucht, und als ich vor einigen Wochen in England ankam, schrieb ich an ihn und erhielt sogleich eine Einladung nach seines Vaters Hause auf so lange, als es mir gefallen würde.«

Herr Forster hatte mit großer Offenheit erzählt; dafür war bei mir auch lebhafte Theilnahme an seinen Mittheilungen erwacht. Ich schwieg und dachte über dieselben nach, dann fragte ich, aus diesen Gedanken heraus:

»Aber warum haben Sie die Untersuchung nicht an sich herankommen lassen? Sie hatten doch keinesfalls so schwer gefehlt, daß man Sie hätte hart bestrafen können, und jetzt steht es gewiß weit schlimmer um Sie als damals.«

Er schien überrascht über diesen Beweis von Verständniß; überhaupt ließ er auf seinem Gesicht meist ganz unbesorgt den Eindruck erscheinen, den die Worte eines Andern auf ihn machten, und sah den Sprecher manchmal, beinahe die Höflichkeit aus den Augen setzend, lange und forschend an, als betrachte er ihn als Gegenstand psychologischer Studien.

»Es ist wahr, ich bin schlimm daran«, sagte er, »insofern als meine Carrière in Deutschland fürs erste ganz bestimmt hin ist, to the dogs, wie man hier sagt; aber sie wäre es so wie so gewesen. Ich war mir als Rechtskundiger wohl bewußt, nach unserer Auslegung der Gesetze einige Jahre Festung verdient zu haben, und diese Aussicht mißfiel mir.«

»Wie schade, daß Sie sich in Ihrer Rede haben hinreißen lassen«, sprach ich mehr zu mir selber als zu ihm. »Was nützt es denn, an der Welt ändern und bessern zu wollen? Es geht nicht und man geht dabei zu Grunde.«

»Mein liebes Fräulein, wie kommen Sie zu einer so gereiften Weltanschauung in Ihrem Alter?« rief er spöttisch, indem er sich setzte; wir waren an einer Laube des Gartens angekommen und ließen uns beide nieder.

»Ich weiß es selber nicht«, entgegnete ich; »sie kommt mir eben erst und paßt gar nicht in meine Absichten, denn ich möchte auch an etwas lange Bestehendem rütteln und es womöglich über den Haufen werfen. Haben Sie jetzt Zeit, Herr Forster, mich eine Viertelstunde anzuhören?«

»Solange Sie wollen, mein Fräulein«, antwortete er verbindlich; das »gnädige«, was er vorhin als eine Art abwehrender Förmlichkeit gegen mich gebraucht hatte, war ganz weggefallen. »Ich habe erzählt und nun ist die Reihe an Ihnen.«

»Ich wünsche nur Ihre Meinung über etwas zu hören«, sagte ich und gab ihm in kurzen Worten an, wie unsere Güter uns verloren gegangen waren, indem ich jedoch den Fall ganz allgemein darstellte und meine Beziehungen zu demselben aus dem Spiele ließ. Er schüttelte den Kopf.

»Solchen veralteten Geschichten ist schwer beizukommen«, sagte er. »Die Besitzenden haben sich meist in Betreff der Förmlichkeiten gut vorgesehen, und wenn auch alle Welt einmal wußte, daß sie im Unrecht waren, so ließ sich das nicht beweisen, und jetzt hat sich alle Welt daran gewöhnt, sie im Besitze zu sehen, und fühlt sich, wenn man sie angreift, in der eigenen Unfehlbarkeit angegriffen.«

»Aber das ist nicht die Antwort eines Juristen«, warf ich ein; »das Gesetz wird doch durch die Meinung der Leute nicht beeinflußt; ich will wissen, ob man nicht die Ansprüche der Besitzer auf die Güter noch einmal prüfen lassen kann.«

Mein Landsmann lächelte über den Ernst, welchen ich zeigte, und bat mich, ihm den Fall noch einmal zu erzählen und zwar so genau wie möglich. »Und auch die Data, bitte; wann trug sich die Sache zu?«

»Es sind zwanzig Jahre her«, antwortete ich und nun erzählte ich Alles noch einmal, genauer als zuvor.

»Wie stehen Sie zu den Parteien?« fragte er plötzlich mit einer Amtsmiene. Ich stutzte, aber da ich keinen Grund hatte, meine Verhältnisse zu verhehlen, entgegnete ich ihm, daß der unglückliche Freiherr, von dem ich gesprochen, mein Vater gewesen sei.

»Das dachte ich mir. Nur weiter!«

Ich hatte wenig mehr zu berichten; die bedrängte Lage meiner Mutter gehörte nicht zur Sache, ebenso wenig wie die Beziehungen des Fürsten zu meinen Aeltern; sein Uebelwollen, seine Verfolgung hatte ich freilich hervorheben müssen. Diese Umstände fielen dem Doctor auf.

»Erlauben Sie mir, jetzt eine Art von Verhör anzustellen«, sagte er ernsthaft, »damit ich mir einige Momente Ihrer Geschichte klar machen kann.«

Ich nickte lächelnd.

»Hatten zwischen den andern Vertretern Ihrer Familie und Ihnen vor dem Rechtsstreite schon unangenehme Beziehungen bestanden?«

Das wußte ich eigentlich nicht; ich dachte an den Charakter der andern Frau von Günthershofen und antwortete, wie ich kaum glaube, daß meine Aeltern mit jenen auf gutem Fuße gestanden.

»Darf ich fragen, warum nicht?« fuhr Herr Forster fort.

Ich überwand mich, was ich um so leichter konnte, als mir unser Gespräch schon geschäftlich vorkam, und entgegnete, Frau von Günthershofen könne keines guten Rufes genossen haben.

»So, war sie mit dem Fürsten liirt?« fuhr mein rücksichtsloser Inquirent fort. Ich nickte schweigend, indem ich seinen juristischen Scharfsinn bewunderte.

»Und woher schrieb sich die Gehässigkeit des Fürsten gegen Ihre Aeltern?«

»Von einer Familienangelegenheit, Herr Forster.« Er schwieg und schien zu warten. »Der Fürst hatte meine Aeltern beleidigt und mein Vater sich gegen ihn vergessen«, sagte ich endlich.

»Und Sie wissen nicht, wodurch die Ansprüche jener Familien auf Ihre Güter begründet wurden?«

»Ich habe an meine Mutter geschrieben, um mir Auskunft über diesen Punkt und noch andere zu verschaffen.«

»Gut, wir müssen also warten.«

Dies »wir« entzückte mich; er schien meine Angelegenheit unter seine Interessen aufgenommen zu haben. Als ich aufstehen wollte, bat er mich, ihm einstweilen Alles zu sagen, was ich über die jetzigen Besitzer von Erbrück und Günthershofen wisse. Das that ich, und so kam es, daß ich auch des Besuchs erwähnte, den uns der Freiherr vor meiner Abreise gemacht hatte. Diesen Umstand griff Herr Forster lebhaft auf, ließ sich jedes Wort der Unterhaltung wiederholt erzählen und schien die Zusammenkunft ebenso sonderbar zu finden wie meine Mutter damals. Endlich sagte er: »Mein Fräulein, Sie haben mir Vertrauen geschenkt, und ich kann dasselbe vorerst nur dadurch lohnen, daß ich Sie sich nicht falschen Hoffnungen hingeben lasse. Ich habe Ihre Mittheilungen nur hinnehmen können als ein unparteiischer Rechtskundiger, dessen Gutachten Sie wünschen. Dasselbe kann ich Ihnen erst dann aussprechen, wenn wir über den Hauptpunkt, die Ansprüche Ihrer Verwandten, unterrichtet sein werden. Und dann kann ich Ihnen insoweit nützen, als Sie von mir werden erfahren können, ob es thunlich wäre, jene Ansprüche vor Gericht in Frage zu ziehen.«

Er stand jetzt auf und verbeugte sich, da ich mich zum Gehen anschickte, ohne mir zu folgen; so schritt ich denn, nachdem ich ihm herzlich für seine Aufmerksamkeit gedankt hatte, allein und gedankenvoll dem Hause zu.

Im Ganzen war ich mit der Unterredung recht zufrieden; hatte doch der Jurist unsern Fall ernster Beachtung werth gehalten, war doch derselbe wie aus der Luft auf den festen Boden gerückt. Die Hoffnung wachte mit einem Male mächtig in mir auf, aber ich wies die sich herbeidrängenden Gedanken zurück. Meine Mutter, meine verehrte, angebetete Mutter wieder in Besitz und Rang – es war zu viel, es konnte nicht so kommen, das Glück wäre zu groß gewesen. Ich konnte mich jedoch nicht enthalten, fast beständig an die mir so wichtige Angelegenheit zu denken. Die Unruhe im Hause, welche die Reisevorbereitungen mit sich brachten, kam mir dabei zu statten, meine Zerstreutheit und Ruhelosigkeit würden sich sonst schwer haben verbergen lassen.

Herr Forster hatte seit unserer Unterredung sein Benehmen gegen mich geändert; wir nahmen jetzt oft gemeinsam unsere deutschen Interessen wahr und verkehrten in der ungezwungenen Weise des Hauses mit einander. Die Uebrigen bemerkten das und sprachen nun erst mit mir über den Gast, was sie bisher, einem richtigen Gefühl folgend, vermieden hatten. Roger erzählte von seinem ersten Zusammentreffen mit meinem Landsmann auf dem Rigi, wo er, zufällig mit ihm ins Gespräch gerathen, bald durch seinen klaren Verstand und sein einfaches, männliches Wesen gefesselt worden war.

»Er ist ein seltener Mensch«, sagte mir Roger einstmals vertraulich, da wir zusammen auf der Veranda vor meiner Glasthür standen; »besonders liebenswürdig ist an ihm das Geltenlassen Anderer und eine Naivetät den Formen der Gesellschaft gegenüber. Nur in einem Punkte ist er schwach, in dem nämlich, was die politischen Verhältnisse Ihres Vaterlandes betrifft. Die scheinen nun freilich auch danach angethan zu sein, den Vernünftigsten zu ärgern.«

John spielte mit dem Gaste Ballschlag und ritt mit ihm zur Fuchshetze, welche die jungen Männer, es muß gesagt sein, trotz ihrer Barbarei, mit all der Freude der Jugend und Kraft am sich Austoben, am Wagen und Stürmen genossen, ruderte und turnte mit ihm und ließ sich zuweilen mit lustigem Augenzwinkern herab, sich beifällig über die Anstelligkeit des Doctors zu dergleichen auszusprechen. Die Mädchen endlich betrachteten ihn als eine ziemlich indifferente Acquisition, da es ihm an Aufmerksamkeit gegen die kleinen Bedürfnisse der Damen fehlte. Wenn wir zusammensaßen und es machte sich der Mangel einer Fußbank etwa geltend, so entdeckte er diesen Umstand erst, nachdem einer der andern Herrn aufgestanden war, den betreffenden Gegenstand zu holen. Dann sprang auch er auf, in verzweiflungsvoller Hast, lief eifrig suchend umher, gelangte dabei aber immer an den Ort zuletzt, wo, der Wahrscheinlichkeit nach, der fehlende Artikel sich finden mochte, und brachte endlich, nach langem Suchen, triumphirend drei oder vier herbei, während wir, längst im Besitz der kleinen Bequemlichkeit, ihm boshaft dankten.

Roger theilte mir übrigens auch mit, daß Herr Forster aus sehr guter Familie und wohlhabend genug sei, um eine Anstellung im Staate ganz entbehren zu können, daß er aber nichtsdestoweniger juristische Beschäftigung und eine gemeinnützige Wirksamkeit schmerzlich vermisse und sehnlich auf einen Umschwung der Dinge harre, der ihm die Rückkehr in das Vaterland ermögliche.

Viertes Kapitel.

Der Tag für unsere Abreise nach Schottland war herangekommen und noch hatte ich keine Antwort von meiner Mutter auf meine dringenden Anfragen erhalten. Meine Ungeduld und Pein waren fortwährend gestiegen; jeden Tag erlebte ich mehrmals, bei der Ankunft des Postboten, eine bittere Enttäuschung und mit jedem Tage wurde die Verzögerung der Antwort unerklärlicher und beunruhigender. Ich hatte nun einmal fast für nichts Anderes Raum mehr in meinem Kopfe, als für jene Angelegenheit; mir schien, als sei schon so viel versäumt worden, als dürfe man jetzt nicht länger zögern mit dem Versuche, sich Recht zu verschaffen. Daß meine Mutter mir ernstliche Hindernisse in den Weg legen würde, daran dachte ich kaum, und wenn mir der Gedanke einmal kam, wies ich ihn sofort zurück. Aber was bedeutete ihr Schweigen? War sie krank? Eine neue verzehrende Sorge zu den innern Aufregungen der letzten Wochen. Eine Post war noch übrig; kam damit kein Brief, so mußte ich für einige Zeit alle Hoffnung aufgeben, da Herr Gray so zu reisen beabsichtigte, daß für den Anfang keine Adresse angegeben werden konnte, unter welcher uns Briefe erreicht hätten.

Es war gegen neun Uhr Morgens; um zehn reisten wir. Ich war in meinem Zimmer, wo ich einige Kleinigkeiten an meinem Gepäck besorgte; so oft die Klingel der Hausthür sich hören ließ, mußte ich einige Sekunden aufhören, weil ich heftig zitterte. Ich horchte dann angestrengt; war ein Brief für mich gekommen, so mußten sich alsbald Schritte meinem Zimmer nähern. Drei-, viermal hörte ich nichts; endlich, nachdem wieder geklingelt worden war, kam man die Treppe herauf. Ich riß meine Zimmerthür auf und lauschte den sich nähernden Schritten; es war das Kammermädchen; sie kam in den Gang und machte Miene, an mir vorüberzugehen, erschreckt aber durch mein verstörtes Gesicht, blieb sie stehen und fragte mich theilnehmend, was mir fehle. »Kein Brief für mich, Burbett?« fragte ich leise; die Aufregung der Erwartung schnürte mir fast die Kehle zu. »Die Post ist noch nicht da, Fräulein«, sagte sie etwas befremdet. Ich athmete auf und ging in mein Zimmer zurück, noch war Hoffnung da. Und nun, da ich fürs erste beruhigt war, fing ich an einzusehen, daß meine Aufregung, in welche ich mich selber nach und nach hineingearbeitet hatte, eigentlich eine sehr thörichte und grundlose sei. Am Ende kam es ja so sehr auf Eile in dieser Angelegenheit nicht an, und wie Vieles und welche geringfügigen Ursachen konnten die Mutter vom Schreiben abgehalten haben! Wußte sie doch nichts von meiner Absicht bei der Frage an sie, dieselbe mochte ihr wie eine natürliche Neugierde vorkommen, angeregt durch ihre Erzählung. Sie liebte es nicht, wenn ich ihr zweimal hintereinander schrieb, ohne ihre Antwort abzuwarten. Dies sei unnöthig, hatte sie gesagt; werde sie wirklich einmal ernstlich krank, so sei auf diesen Fall die Magd schon angewiesen, es mich sogleich wissen zu lassen, ein adressirtes Couvert liege zu diesem Zweck immer bereit. So beschloß ich denn, mich zu gedulden, mir mittlerweile alle Eventualitäten auszudenken und mir klar zu machen, was ich in jedem Falle thun müsse.

Wir stiegen in die Wagen, welche uns zur Station bringen sollten, Herr und Frau Gray mit den größern der »Kleinen« in einen, die beiden Wärterinnen mit den jüngsten Kindern in einen zweiten und in den dritten meine beiden Zöglinge, Herr Forster und ich, während Roger auf dem Bocke Platz nahm und John neben uns ritt. In ähnlicher Weise war unsere Karavane immer vertheilt, wenn wir uns zu Wagen fortbewegten, nur daß die Herren fast immer alle ritten, sobald Pferde zu haben waren. Unterwegs beugte sich Herr Forster vor und sagte lakonisch: »Noch keine Nachricht?« Ich schüttelte mit dem Kopfe. John, welcher eben dicht neben uns ritt, hatte die Worte gehört und rief plötzlich: »Ach, Fräulein, verurtheilen Sie mich, den ganzen Weg auf einem Esel hinter Ihnen herzureiten, oder zu etwas Schlimmerem, wenn's möglich ist. Gestern Abend, ja, es muß gesagt sein, gestern Abend kam ein Brief an Sie; die Mutter gab ihn mir, weil ich sonst, wie Jedermann weiß, die Zuverlässigkeit selber bin. Sie waren nicht zu Hause, nachher ritt ich noch einmal fort –«

»Aber wo ist er jetzt? Haben Sie ihn hier?« rief ich heftig.

»Er ist – wahrhaftig, es thut mir entsetzlich leid – er ist in der Tasche meines alten Jagdrocks. Aber vielleicht ist es noch Zeit, ihn zu holen!« rief der gutmüthige Junge, da er gewahrte, wie ich plötzlich ganz vernichtet aussah. Er sprengte sogleich davon, zum Wagen seines Vaters.

»Papa, kann ich noch einmal nach Hause reiten? Ich habe etwas vergessen.«

»Die zwei Meilen! Unsinn, John! Da läutet es schon zum ersten Male; komm, hole Deine Schwestern heraus. Du hättest nichts vergessen sollen.«

Wir stiegen aus. John kam sogleich ganz zerknirscht wieder zu mir; ich gab ihm die Hand, zu sagen fand ich nichts. Dieser Umstand erschien mir in meinem damaligen erregten Zustande wie ein Wink, das Sträuben gegen das Schicksal, welches uns nun einmal zur Armuth und Unterdrücktheit verurtheilte, aufzugeben; er entmuthigte mich mehr, als es seine eigentliche Wichtigkeit mit sich brachte, und ich verlebte die ersten Tage der Reise in großer Niedergeschlagenheit. Erst als der Anblick von Edinburg plötzlich mit zauberischer Schönheit auf uns hereinbrach, wurde ich von meinen trüben Gedanken einigermaßen abgezogen.

Fünftes Kapitel.

Wir befanden uns im schottischen Hochlande. Eines Nachmittags machten wir, das heißt die rüstigen Fußgänger der Gesellschaft, uns noch spät aus unserm Bergwirthshause auf, um eine naheliegende steile Höhe zu erklettern, von welcher aus wir den Untergang der Sonne beobachten wollten. Der Weg war äußerst beschwerlich, sogar gefährlich. Die jungen Herren befanden sich in ihrem Elemente. Wir kamen endlich auf dem erstrebten Punkte an, welcher übrigens nicht der Gipfel der Felspartie war, sondern eine weite Felsplatte, mit Moos, sogar mit spärlichem Grase bedeckt, unter der das todte, zerklüftete Gestein gewaltig ausgedehnt dalag, während im Rücken derselben die Felsen sich noch hoch, aber unersteiglich steil aufthürmten. Auf der Fläche fanden wir mehrere Gruppen und einzelne Reisende vor, welche sich ringsum aus den Thälern zu diesem bekannten Punkte hinaufgearbeitet hatten. Wir standen und saßen bald ungezwungen umher, uns dem herrlichen Schauspiel des Abendhimmels hingebend. Herr Forster fand sich, wie jetzt häufig, zu mir, auch John war bei uns, bis er unter den Touristen einige Mitschüler erkannte, denen er sich anschloß. Mein Landsmann und ich betrachteten nun in aller Muße die Naturschönheiten der Scene nicht nur, sondern auch was sich von Menschen in dieser Oede zusammengefunden hatte. Die Menschen waren meist Engländer, behäbige Spießbürger und übermüthige Studirende, ein ganzes Pensionat junger Damen, ein Geistlicher mit seiner zahlreichen Familie, außerdem auch einige Franzosen und andere Touristen, deren Nationalität festzustellen wir uns nicht getrauten.

»Haben Sie sich jetzt getröstet über John's Nachlässigkeit?« fragte mich Herr Forster, nachdem wir eine Weile zusammengestanden hatten. Ich drehte mich rasch nach ihm um, um zu sehen, ob er etwa seine spöttische Miene angenommen und mich mit dem Mangel an Selbstbeherrschung, den ich bei jener Gelegenheit gezeigt, necken wolle. Es schien nicht so, er sah ganz ernsthaft aus.

»Ich war außerordentlich ärgerlich darüber«, antwortete ich ihm, eine directe Antwort vermeidend.

»Ja, das konnte man sehen, das hätten Sie mir nicht zu sagen gebraucht; aber es kommt doch auf Verzögerung jener Antwort so gar viel nicht an. Setzen wir jedoch den Fall, Sie hätten dieselbe, wir fänden die Mittheilungen Ihrer Frau Mutter wichtig, ich sagte Ihnen nach meiner Ueberzeugung, daß der Stand der Angelegenheiten Sie nicht hindere, Ihre Verwandten vor Gericht zu ziehen, wollten Sie es denn wirklich zu einem Processe kommen lassen?«

Ich sah ihn verwundert an, ich verstand ihn gar nicht.

»Ich meine«, fuhr er fort, und seine Stimme hatte etwas Strenges bei den folgenden Worten, »wollen Sie versuchen, Ihre Verwandten von den Gütern zu vertreiben und sich an ihre Stelle zu versetzen?«

»An ihre Stelle!« sagte ich jetzt in einiger Aufregung, in der es mir nicht darauf ankam, mit seinen Worten zu spielen. »Ich verstehe Sie nicht, Herr Forster! Die Leute sind gar nicht an ihrer Stelle! Was in aller Welt, welche Rücksicht, welche lächerliche Schwäche sollte mich abhalten, mir Recht zu verschaffen, Recht, Recht! Ich dürste danach, diese Eindringlinge zu vertreiben; wohin, ist mir gleich und wäre es ins Elend, in welchem wir so lange leben mußten!«

»Fräulein von Günthershofen!« sagte er beschwichtigend in einem Schulmeisterton.

»Was wollen Sie!« rief ich jetzt, immer erregter werdend und indem ich in der erhöhten Stimmung des Augenblicks unbewußt eine Hypothese aufstellte, die sich nachher als Wahrheit erwies. »Soll auf der Ehre meines Vaters, vielleicht der Mutter meines Vaters ein Makel bleiben? Soll meine Mutter, meine verehrungswürdige Mutter ferner in Dürftigkeit ihre Tage verbringen, weil mir der Muth fehlt, eine Schmach aufzudecken, über die eine Reihe von Jahren dahingegangen ist? Nein, Alles will ich daran setzen, daß wir Recht erhalten, nur Recht, weiter nichts!«

Er sah mich verwundert an. »Das altadlige Blut hat bei Ihnen noch nichts von seiner Hitze eingebüßt«, sagte er dann und lächelte. »Aber lassen wir das! Sehen Sie nur, wer ist denn das, der sich dort so lebhaft mit Ihren Zöglingen unterhält?«

Mich berührte der rasche Uebergang in seiner Rede sehr unangenehm; es kam mir vor, als habe er nur mit meiner Erregbarkeit experimentiren wollen; ich konnte nicht sprechen und wandte mich ab, anstatt der von ihm bezeichneten Richtung mit den Augen zu folgen. Herr Forster schwieg nun eine Weile und schien selbst die Gruppe, auf welche er meine Aufmerksamkeit hatte lenken wollen, zu beobachten; endlich berührte er mich leicht am Arm und sagte freundlich: »Kommen Sie, liebes Fräulein, verderben Sie sich den schönen Abend nicht. Der Haß ist ein schlimmer Gast im Herzen; dasselbe kann, während es ihn beherbergt, nicht glücklich sein.«

Diese wohlfeile Weisheit dünkte mir ganz unerträglich, die Thränen stiegen mir auf, ich wollte mich nicht so meistern lassen. Nach einigen Augenblicken jedoch gewann die Ueberzeugung die Oberhand in mir, daß ich es eigentlich nicht besser verdiene; meine Reizbarkeit und Erregtheit kamen mir geradezu kindisch vor, ich bezwang mich mit einiger Anstrengung, drehte mich herum und wollte versuchen, unbefangen zu den Uebrigen hinzugehen. Aber was war das? Wer, um Gotteswillen, wer stand einige Schritte von mir bei den jungen Grays? Sollte mir denn die Selbstbeherrschung gar so schwer gemacht werden? Welche sonderbare Aehnlichkeit hatte jener große stattliche Herr mit einem Andern, den ich freilich nur einmal in meinem Leben gesehen, dessen Bild sich aber meinem Gedächtniß unauslöschlich eingeprägt hatte? In mir kämpften Neugierde und Angst sogar vor dem Scheinbild jener Gestalt, bis Herr Forster scherzend sagte: »Kommen Sie, Ihre Gouvernantenpflichten schon rufen Sie dorthin. Sind Sie nicht hier als Beschützerin jener jungen Damen?«

So schritten wir denn zusammen auf die in einiger Entfernung stehende Gruppe zu. Sie bestand aus meinen beiden Zöglingen, die sich in ihren hellen hübschen Kleidern, mit den leichten, blaubebänderten Strohhüten, welche so gut zu den rosigen Gesichtern und den schönen blonden Haaren paßten, gar anmuthig ausnahmen, ihrem Bruder Roger und einem vornehm aussehenden Fremden, den ich zuvor nicht bemerkt hatte. Er stand halb abgewendet von mir, im Gespräche auf die Tiefe vor uns deutend; jetzt drehte er sich herum, ich konnte ihm in das Gesicht sehen und nun war mir's, als müßte ich mich fortwenden und davoneilen, ehe er mich erkennen konnte, die Felsen hinab, in die Einöde hinein, nur fort aus seiner verhaßten Nähe. Aber zum Fortlaufen, wenn es auch die Umstände erlaubt hätten, war es zu spät, der Freiherr hatte mich gesehen. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, eine Bewegung, die ich ihm so übel wie möglich auslegte – er wollte sich gewiß nur fassen zu einer Förmlichkeit, wie sie sich der armen Verwandten gegenüber schickte, die so unbequem vor ihm aufgetaucht war; vielleicht verleugnet er mich gar, dachte ich, aber ich hatte mich getäuscht. Sehr freundlich – sogar mir konnte sein Benehmen nicht anders als freundlich vorkommen – that er mir ein paar Schritte entgegen und streckte seine Hand nach der meinigen aus; ich reichte ihm dieselbe nicht, sondern verbeugte mich nur. Seine leichte Höflichkeit glitt über diesen kleinen Zwischenfall hinweg; mit den herzlichsten Ausdrücken begrüßte er mich als seine Cousine – welches Vorgehen ich ihm nur als Heuchelei auslegte – und erwies sich, während mein Benehmen den Uebrigen bis zur Ungeschliffenheit zurückhaltend erscheinen mußte, so liebenswürdig, daß sich alle, Herr Gray, welcher inzwischen auch auf dem Plateau angelangt war, nicht ausgenommen, von ihm bezaubert fanden. Ein Gespräch, anfänglich nur von ihm und Roger geführt, hatte sich, wie ich nachher erfuhr, durch die Umgebung angeregt fesselnd weitergesponnen, bis alle hineingezogen waren; auf Reisen wird man leicht bekannt und die Grays gehörten überdies zu den liebenswürdigsten, zugänglichsten Menschen. So stieg denn der Freiherr von und zu Günthershofen mit in den Gasthof hinab, wo er der Mutter vorgestellt wurde und auch sie durch seine ritterliche Galanterie sehr zu seinen Gunsten stimmte. Er speiste mit uns zu Abend und befestigte bei allen den durchaus angenehmen Eindruck, welchen er gemacht hatte; an mich richtete er nur von Zeit zu Zeit ein Wort und dann in einer gewissen schonenden Weise, als wisse er nach meinem vorherigen Benehmen nicht, wessen er sich von mir zu versehen habe, und fürchte eine Probe Günthershofen'scher Rücksichtslosigkeit.

Alle waren in der heitersten Laune außer mir. Ich eilte nach Tische schnell fort, aber wohin sollte ich mich wenden, um die Einsamkeit zu finden, nach der es mich so sehr verlangte? Wir waren in den obern Zimmern für wenige Tage eng zusammengepackt; dort hielten sich jetzt die Kinder und das Dienstpersonal auf. Hinter dem Hause befand sich ein Gärtchen, auf dasselbe gingen aber die Fenster des Speisesaals, in welchem unsere Gesellschaft noch beisammen saß, und man hätte mich sehen können. So setzte ich denn meinen großen Strohhut auf und eilte aus der vordern Thür den Weg hinauf, den wir vor kurzem herabgestiegen waren. Noch währte die lange Dämmerung des Sommertags; es war ziemlich hell und ich schritt rasch fort, fliehend eigentlich vor den peinlichen Empfindungen, die mich in der Nähe des Gastes unten bestürmten.

An einer lieblichen Stelle des Pfades, wo moosüberzogene Steinblöcke gelagert waren, über welche blühender Flieder herabhing, setzte ich mich, und hier überkam mich das Gefühl der Einsamkeit so sehr, während ich an die Uebrigen dachte, welche unter fröhlichen Scherzen zusammenweilten, und ich fühlte plötzlich ein so heißes Verlangen nach meiner Mutter, die in ihrem ärmlichen Stübchen auch einsam saß, daß ich die Arme vor mir auf einen Felsblock legte, das Gesicht hineindrückte und den Thränen freien Lauf ließ, die ich seit Wochen schon so oft zurückgedrängt hatte. Aber auch diese Erleichterung sollte mir verkümmert werden; ich hörte Schritte sich nahen und richtete mich schnell in die Höhe, der einzelne Fußgänger wurde sichtbar und ich erkannte aufathmend den Doctor. Erst schritt er an meinem Zufluchtsorte vorüber, dann wandte er sich plötzlich, wie von einem Einfall getrieben, um und stand im nächsten Augenblicke vor mir. Sowie er mich gewahr wurde, erhob er drohend den Finger: »Sie werden sich erkälten, Fräulein.« Statt aller Antwort begnügte ich mich meinerseits zu bemerken, als spiele ich auf ein uns beiden bekanntes Thema an und es brauche keiner Einleitung:

»Das ist der Freiherr!«

»Ihr Feind«, ergänzte er, »den Sie von Haus und Hof vertreiben wollen.«

Ich nickte. »Hassen Sie ihn noch?« fragte darauf der Doctor mit einer so eigenthümlichen Betonung, daß mir plötzlich der Gedanke aufstieg, Herr Forster halte mich für und behandle mich wie ein Kind, dessen Launen man nachgeben müsse, um heftige Scenen zu vermeiden; eine Angst überfiel mich bei dieser Idee, die mir die Kehle zuschnürte. Ich mußte ihm beweisen, daß er sich irre, daß ich wisse, was ich wolle, und vor den Folgen meiner Handlungsweise nicht zurückschrecke. Deshalb sagte ich sehr ruhig, indem ich mich erhob: »Ich habe den Freiherrn vermieden, weil es mir peinlich war, mich von ihm in einer Weise behandeln zu lassen, die auf freundschaftliches Einvernehmen deutet.«

»Er weiß also nicht, wie Sie gegen ihn fühlen?« fragte Forster.

»Ich glaube nicht; er soll es aber wissen, ich werde mit ihm reden, von ihm erfahre ich auch vielleicht, was ich von meiner Mutter zu hören wünschte.«

»Hoffen Sie gar nicht auf einen gütlichen Vergleich?« warf Forster dazwischen. Die Idee war mir ganz neu und ich antwortete demgemäß.

»Nun, es ist dergleichen schon öfter dagewesen«, meinte er. »Der Freiherr scheint nicht so übel; es muß Ihnen wirklich schwer fallen, seiner einnehmenden Persönlichkeit gegenüber Ihre feindseligen Absichten fest zu halten.«

»Das wüßte ich nicht«, erwiderte ich. »Das Gefühl des schmählichsten Unrechts, das einem zugefügt worden ist, frißt tiefer, als Sie zu glauben scheinen. Der Freiherr ist ein Cavalier und ein angenehmer Gesellschafter, das beweist noch nichts für seine Grundsätze. Jedenfalls will ich, da er hier ist, eine Unterredung mit ihm suchen.«

Mein Landsmann sagte hierauf nichts weiter, bis er mich nach einer Weile darauf aufmerksam machte, daß es immer dunkler werde und das Herabsteigen am Tage sogar nicht ungefährlich sei. So wendeten wir uns denn dem Thale zu. Der Weg war allerdings sehr beschwerlich und ohne des Doctors stützende Hand würde ich ihn kaum ohne Unfall passirt haben. Ich war aber so erfüllt von meinen Gedanken und Plänen, die sich jetzt besonders darum drehten, auf nicht allzu auffallende Weise eine Unterredung mit dem Freiherrn herbeizuführen, daß ich ihm kaum für seine Hülfe dankte und es mir auch gar nicht einfallen ließ, darüber nachzudenken, wie er eigentlich auf dieselbe abenteuerliche Idee hatte verfallen können wie ich, den Bergpfad am Abend noch aufzusuchen. Ueber unser Zusammentreffen erhielt ich jedoch bald Aufklärung. Vor dem Hause auf einer Art Balkon, der in der Höhe von einigen Stufen an der Fronte desselben hinlief, promenirten die Herren, indem sie ihre Cigarren rauchten. Als wir uns näherten, schritt uns der Freiherr entgegen.

»Meine Landsleute haben wohl als echte Deutsche den Aufgang des Mondes von jener Felsplatte aus beobachtet?« sagte er lächelnd. Forster nahm es auf sich, zu antworten.

»Fräulein von Günthershofen mag dergleichen Gelüste gehabt haben, ich fürchtete es wenigstens und stolperte die Felsen hinauf, hinter ihr drein, um sie womöglich unversehrt zurückzugeleiten, und hier sind wir nun, merkwürdigerweise, ohne den Hals gebrochen zu haben.«

»Ich habe bis jetzt versäumt, Ihnen für Ihre Dienste zu danken«, beeilte ich mich zu sagen und fügte hinzu: »Ich wußte gar nicht, daß Sie mit so guten Absichten oder daß Sie überhaupt mir nachgekommen waren.«

»O bitte, es ist gern geschehn«, erwiderte er hastig und ging dann mit einer etwas linkischen Verbeugung plötzlich von uns; ich blieb mit meinem Verwandten allein. Das Herz klopfte mir während des nun für einige Momente eintretenden Schweigens so stark, daß ich fürchtete, er möchte den Schlag desselben hören; jetzt war mir Gelegenheit gegeben zu der Unterredung, die ich so sehr herbeigewünscht hatte. Der Freiherr begann endlich – er hatte galant seine Cigarre weggeworfen, als ob er auf eine verwandtschaftliche Plauderei rechne:

»Sie leben mit einer liebenswürdigen Familie, mein Fräulein, wenigstens scheint es mir so nach kurzer Bekanntschaft. Sind Sie zufrieden?«

Gereizt wie ich gegen ihn war, empörte mich diese einfache Frage; wie konnte er denken, daß ich zufrieden zu sein vermöchte, fern von meiner fast in Dürftigkeit lebenden Mutter, unter Fremden das Brod der Abhängigkeit essend!

»Ich kann, von meiner Mutter durch die Noth getrennt, wohl kaum zufrieden sein, Herr Freiherr«, antwortete ich ihm denn auch etwas gezwungen. »Ich sehne mich nach ihr, sie ist alt und bedarf meiner, man hat ihr weiter nichts gelassen als mich.«

Der Freiherr sah mich an, das fühlte ich, obwohl ich vor mich hin und nicht zu ihm in die Höhe schaute; ich mochte ihm ganz anders vorkommen als vor einigen Monaten im Stübchen der Mutter – das arme Fräulein mit den edlen Entschlüssen und dem zu kurz gewordenen Kleide. Aber was lag auch Alles zwischen jenem Abend und diesem! An dem Abend noch hatte ich eine wahre Geschichte erzählen hören, die mich innerlich ganz umwandelte – nicht zum Bessern, wie ich mir später wohl gesagt habe, die den Stolz weckte und den Haß einbürgerte in einem bis dahin gar einfältigen, guten Herzen. Auch äußerlich hatte ich mich verändert; die Mutter würde ihre Freude an mir gehabt haben, wenn sie mich gesehen hätte in den langen, weiten, schweren Kleidern, die ich jetzt trug, der damaligen Mode gemäß, und durch welche ich mir eine ganz andere Haltung angewöhnt hatte, als meine frühere gewesen.

Diesmal war die Pause länger als vorhin; offenbar wußte der Freiherr nicht, was er mir erwidern sollte, endlich sagte er leise: »Ja, es sind traurige Verhältnisse, sehr traurige, aber wie können sie geändert werden?«

Er sprach dies, wie es schien, mehr zu sich als zu mir, und als rede er von etwas, das seinen Gedanken nicht fremd sei. Ich aber richtete mich hoch auf, sah ihn fest an und entgegnete ihm: »Ich will Ihnen sagen, gnädiger Herr, wie sie geändert werden können, diese traurigen Verhältnisse; sie können es, indem meine Mutter auf dem Rechtswege wieder zu den Gütern meines Vaters gelangt, die ihm vor zwanzig Jahren – abhanden gekommen sind«, bezwang ich mich zu schließen; mir hatte etwas Anderes auf der Zunge geschwebt. Da war sie nun, die Kriegserklärung – mir war, nachdem ich sie ausgesprochen, als schwebe jetzt etwas über mir, was alle Augenblicke auf mich niederstürzen könnte. Auf den Freiherrn jedoch schienen meine Worte nicht den Eindruck zu machen, den ich gefürchtet hatte; er sagte sogleich in ruhigem Tone: »Fahren Sie fort, Fräulein Base! Die Güter gehören zum Theil jetzt mir, das heißt, ich habe sie gegenwärtig in Besitz. Sie wollen einen Process gegen die Erbrücker und mich anhängig machen?«

»Ja, das will ich, sobald ich von rechtskundiger Seite erfahren haben werde, ob irgend eine Chance für uns da ist!«

»Ich verdenke es Ihnen nicht«, sagte er leicht, »aber wissen möchte ich doch, ob dieser landesflüchtige Herr Doctor Ihnen die Idee zuerst in den Kopf gesetzt hat. Verzeihen Sie meine Hypothese, aber Sie scheinen vertraut mit ihm. Ihre Frau Mutter hatte, soviel ich weiß, nie die Absicht –«

»Halten Sie ein, Herr Freiherr!« rief ich entrüstet. »Sie mögen sich sicher dünken auf dem erschlichenen Besitzthum – wahrscheinlich sind Sie das auch, denn wer die Macht hat, hat gewöhnlich das Recht – aber meiner spotten sollten Sie doch nicht. Die Idee, wie Sie meine Absicht zu nennen belieben, ist in mir aufgestiegen, als ich eines Abends vor meiner Mutter saß und sie mir ihre Geschichte erzählte, eine Geschichte des Leidens, der entsetzlichsten Kränkungen, der Verfolgung, des Unterliegens. Kennen Sie jene Geschichte, mein Herr? Ihre Aeltern haben darin mitgespielt, Sie selber nicht; kennen Sie den wahren Sachverhalt?«

Ich war so erregt, so ganz aufgegangen in dem Gegenstande unseres Gesprächs, daß ich Zeit und Ort vergessen hatte; wir waren unwillkürlich nach dem fernern Ende der Terrasse hingegangen, weit von uns standen die Uebrigen in einer Gruppe, wir achteten ihrer nicht. Und noch heute, wenn ich jene Scenen überdenke, die mir fest im Gedächtniß geblieben sind, noch heute erschrecke ich fast vor der Art und Weise, in welcher ich zu dem Freiherrn sprach; ich kann nicht begreifen, woher mir der Muth kam, dem hohen, stattlichen, sichern Cavalier gegenüber. Er antwortete auf meine letzte Frage nicht, und während er schwieg und vor sich hin sah, hingen meine Augen begierig an seinem Munde. Endlich richtete er das Antlitz in die Höhe und seine Blicke begegneten den meinen – er schlug vor denselben die Augen wieder nieder.

»Sie haben sehr harte Worte gegen mich gebraucht, Fräulein«, sagte er dann dumpf, »aber wenn ich mich an Ihre Stelle versetze, kann ich Ihnen nicht Unrecht geben. Sie glauben also, daß das Urtheil, welches uns damals die Güter Ihres Vaters zusprach, ein ungerechtes gewesen?«

»Ja, ich glaube es, fast möchte ich sagen, ich weiß es, obgleich mir nicht bekannt ist, auf welchen Grund hin man die Rechte meines Vaters anzutasten gewagt hat. Meine Mutter hat leider über diesen wichtigen Punkt geschwiegen. Ich habe an sie geschrieben und mir Auskunft erbeten; ein Brief von ihr ist angekommen und durch eine Nachlässigkeit mir vor der Abreise von C. nicht zugestellt worden. Seitdem ich Sie nun hier gesehen, ist mir eingefallen, daß Sie mir auf meine Bitte diese Auskunft gewiß nicht verweigern würden. Die Motive zu dem Verfahren gegen meinen Vater kenne ich wohl, aber nicht den Vorwand, welchen man benutzt hat, um es ins Werk zu setzen.«

»Den Vorwand?« sagte der Freiherr ruhig. »Hat nicht ein Gericht, ein wenn auch nicht unfehlbares, so doch vollständig competentes Gericht die Ansprüche beider Linien geprüft und die unserigen als gültig erkannt?«

Ich war seinem Raisonnement eben nicht zugänglich und entgegnete rasch und unbedacht: »Das beweist gar nichts. Der Fürst hat dem Gerichte den Ausspruch, den es thun sollte, dictirt; er wußte wohl, warum.«

Bei der Nennung des Fürsten hatte der Freiherr eine Bewegung wie unter dem Einfluß physischen Schmerzes gemacht; ich merkte auch, daß ich im Begriffe war, zu weit zu gehen, und wendete mich, um zu den Uebrigen zurückzukehren. Da hob der Freiherr noch einmal an: »Wenn Sie nichts dagegen haben, Fräulein, will ich mit Herrn Forster, der sich zu einer Mittelsperson ganz gut zu eignen scheint, Einiges in der Angelegenheit besprechen und ihm auch die Auskunft, welche Sie verlangten, geben. Sie können dann thun, was Ihnen gut dünkt.«

Die ersten Worte seiner Bemerkung hatten mich überrascht, ehe ich ihm aber für sein Anerbieten danken konnte, härtete mich wieder der Schluß: »Sie können dann thun, was Ihnen gut dünkt.«

»Das will ich«, sagte ich kurz. »Gute Nacht, mein Herr!« Und damit verließ ich ihn und eilte, nachdem ich mich von den Uebrigen verabschiedet hatte, nach meinem Zimmer, nicht um mich zur Ruhe zu begeben, mir war, als würde ich nie wieder ein Bedürfniß nach Schlaf fühlen können, so kreisten die Gedanken in meinem Kopfe, welche mich beunruhigten und mich jetzt häufig viele Stunden in der Nacht wach hielten. Manchmal kam es mir vor wie ein Traum, wie ein Betrug meiner aufgeregten Phantasie, daß ich den Freiherrn gesprochen haben sollte, ihn selbst, den deutschen Adligen, hier in den schottischen Bergen. Wie sonderbar war doch das Zusammentreffen! Wie sehr aber auch erhob es die Ideen, die mich seit einigen Wochen beherrschten, nun erst recht zu den wichtigsten, die es für mich geben konnte; nun mußte etwas geschehen, das Schicksal hatte selbst die Hand geboten. Und dann wendeten sich die rastlos arbeitenden Gedanken der Person des Freiherrn zu, seinem Betragen, seinen Worten, und da überfiel mich auf einmal eine entsetzliche Unruhe, als habe ich irgend etwas gethan, was sich nie wieder gut machen lasse, an irgend etwas Unnahbares gerührt, irgend etwas ganz, ganz verfehlt. Ich wußte mir dies Gefühl nicht zu erklären: ich rief mir Alles, was ich gesprochen, ins Gedächtniß zurück, ich mußte mir sagen, daß ich harte Worte gebraucht, aber keine, die nicht meine innigen noch bestehenden Ueberzeugungen ausgesprochen hätten. So suchte ich mich denn durch Gründe zu beruhigen, aber es wollte nicht gehen; wie hart, wie rücksichtslos, wie rachsüchtig, ja wie frei in meinen Ausdrücken mußte ich ihm vorgekommen sein! Und wenn auch, dachte ich dagegen, ist es nicht natürlich, daß ich keine freundschaftliche Gesinnung für ihn hege, noch zeigen kann? Er stammt aus jener verhaßten Familie und er muß ein gewissenloser Mann sein, sonst könnte er den Besitz der durch Trug und Tücke an sein Haus gekommenen Güter nicht ruhig genießen. Aber glaubte er an jenen Trug, jene Tücke? Er war ja noch ein Knabe gewesen zur Zeit jenes Processes; vielleicht, ja wahrscheinlich hatte sein Vater ihn nie eingeweiht in das Complot zwischen sich und dem Fürsten. Und dann – und am quälendsten machte sich der Selbstvorwurf geltend – wie schonungslos, wie unmädchenhaft hast Du auf den Makel seiner Geburt hingedeutet, an dem er unschuldig ist! So stritten sich die Gedanken in mir, klagten sich an und entschuldigten sich, bis ich mir meine Mutter vergegenwärtigte und ihre Erzählung mir wiederholte, um mich von neuem zu meinem Vorhaben zu stärken. Nun aber, während die stillen Stunden der Nacht an mir vorbeizogen, eine nach der andern, und mit dem nahenden Morgen kam das angstvolle Erwarten der Aufschlüsse, die mir durch Forster zu Theil werden sollten, und machte meine Pulse schneller schlagen, sodaß ich erst nach Sonnenaufgang in einen kurzen Schlaf verfiel, während dessen das arbeitende Gehirn die Gedanken, die es zuvor bewegt, aus ihrer Folge gerissen, in wirren Träumen durcheinander warf und zu sinnlosen Bildern verkettete.

Sechstes Kapitel.

Es erschien mir wie eine Vergünstigung des Schicksals, daß Herr Gray sich vornahm, die Zimmer in dem schöngelegenen Gasthause, welche wir inne hatten, noch für eine Weile zu benutzen und dasselbe zur Basis unserer Operationen in den nachbarlichen Bergen zu machen. Der Freiherr, für den sich gerade noch Raum gefunden hatte, blieb auch auf die herzliche Einladung der Familie, er möge sich ihren Ausflügen in der nächsten Zeit anschließen. Hier war nun auch Gelegenheit, sich die Briefe, welche inzwischen zu Hause angekommen sein mochten, zuschicken zu lassen. Frau Gray schrieb an die alte Köchin, die das Haus hütete, und drei Tage darauf erhielten wir ein ganzes Paquet Briefe.

Wir saßen gerade auf dem Balkon beim Frühstück, als der Postbote mit dem Ränzchen auf dem Rücken und dem Bergstock in der Hand angewandert kam. Herr Gray nahm die Briefe in Empfang; meine Augen hingen an ihm in fiebernder Erwartung, während er dieselben langsam durch die Hände gleiten ließ.

»Setzen Sie lieber Ihre Tasse hin, Fräulein«, sagte Forster neben mir mit leichtem Spott. »Sie zittern zu sehr, als daß Sie Ihre Manipulationen fortsetzen könnten.«

Ich gehorchte mechanisch und in demselben Augenblick streifte mein Blick den Freiherrn. Herausgefordert durch seinen Ausdruck, schaute ich wieder hin, er sah unverwandt auf mich, mit düsterem Gesichte, er wußte, was ich erwartete – eine Anklage war es, eine Anklage ehrlosen Handelns, gegen seine Familie gerichtet. Aber mich kümmerte sein Aussehen wenig, denn John reichte mir eben mit einer komisch zerknirschten Miene, die nur ich zu deuten vermochte, den Brief meiner Mutter, um welchen er eine besondere Botschaft an die alte Wirthschafterin geschickt hatte. Nun endlich, endlich hielt ich ihn in Händen, nun brauchte ich die Aufschlüsse des Freiherrn glücklicherweise nicht mehr. Ich riß sogleich den äußern Umschlag ab und schaute auf das Couvert mit den theuern Schriftzügen meiner Mutter; liebkosend deckte ich dann wieder die rechte Hand darüber und schaute auf, froh in der Sicherheit des Besitzes. Da begegnete ich zuerst John's lachenden braunen Augen, der liebe Junge nickte mir freundlich zu; und nun mußte ich auch wieder nach dem Freiherrn hinsehen: er hielt die Augen auf meine Hände gerichtet, mit denen ich den Brief wie ein Kleinod umfaßt hielt. Mich beschlich in dem Augenblicke ein Gefühl der Furcht vor ihm, welches ich noch gar nicht gekannt hatte. Wäre er doch weit fort von hier, dachte ich.

Es wurde nun, wie gewöhnlich am Morgen, über die weitere Verwendung des Tages verhandelt und der Punkt gewählt, welchen man in Augenschein nehmen wollte. Da die Entfernung keine geringe war, mußte sofort aufgebrochen werden, meine Unlust zu der Expedition war aber so groß, daß ich Kopfweh vorschützte und um die Freiheit bat, zu Hause bleiben zu dürfen. In einer halben Stunde zog Alles ab und nun war ich endlich allein; ich setzte mich auf dem kleinen Kanapee in meinem Zimmer zurecht, ganz sicher, nicht gestört zu werden, und fing an zu lesen. Wie ich gewollt, hatte die Mutter meine Anfrage als aus einer Art Neugier hervorgegangen betrachtet und beantwortete sie daher erst am Ende des Briefes, nachdem alles Uebrige, was mich irgendwie interessiren konnte, berührt worden war, in folgenden Worten: »Ich dachte mir, liebe Margarethe, als ich Dir die Geschichte unserer Unglücksfälle erzählte, daß dieselben einigen Eindruck auf Dich machen würden. Lange überlegte ich, ob es nicht besser wäre, Dich noch unwissend zu lassen in Bezug auf dieselben, aber es schien mir schließlich nicht das Richtige. Du gingst fort, ich konnte sterben inzwischen, später wäre Dir vielleicht das oder jenes zu Ohren gekommen über die Vergangenheit Deiner Familie und hätte Dich mit Unruhe oder gar mit Zweifeln an unserer Ehre erfüllen müssen; auch war ich Dir eine Erklärung unserer so wenig standesgemäßen Armuth schuldig. Du berührst nun in Deinem Briefe einen Punkt, den ich damals von meinem Berichte ausgeschlossen hatte, aber ich sehe nach reiflicher Ueberlegung auch dafür keinen Grund mehr. Die Wahrheit, sei sie auch noch so herb, ist fast immer wohlthätig, und es ist uns für das Leben ein Muth nöthig, welcher der härtesten Wahrheit ins Gesicht zu sehen vermag. So wisse denn, daß man in jenem verbrecherischen Processe die Ehre der verstorbenen Mutter Deines Vaters angriff; man sagte aus, daß Dein Vater nicht der Sohn des Gemahls der Frau von Günthershofen sei, sondern eines Edelmanns, zu dem sie allerdings, sowie ihr Gemahl, in freundschaftlicher Beziehung gestanden hatte. Diese niedrige Anklage gegen eine längst verstorbene, edle, von ihren Freunden hochgeehrte Frau belegte man mit Beweisen in Form eines Briefwechsels zwischen ihr und jenem Edelmann, angeblich unter den Papieren des letztern nach seinem Tode gefunden, gefälscht aber, ja für die Gelegenheit fabricirt, wie Dein Vater und ich überzeugt waren und ich es noch bin. Es thut sich hier vor Dir eine Tiefe der Bosheit auf, mein armes Kind, die Du wahrscheinlich nicht geahnt hast; Du erhältst auch zugleich Antwort auf Deine Frage, warum ich nie gegen die Besitzer unserer Güter gerichtlich eingeschritten sei. Zur Zeit wurde es, wie Du weißt, von Deinem Vater versäumt. Der Schlag hatte ihn zu hart getroffen und seine Thatkraft gelähmt; es wäre auch da schon fast hoffnungslos gewesen und wurde es im Laufe der Jahre immer mehr, da uns alle Beweise fehlten, daß jene Correspondenz wirklich eine gefälschte sei. Ich habe mit Sachwaltern darüber gesprochen und sie haben die Achseln gezuckt; wer mochte sich unter so ungünstigen Umständen, wo ein Erfolg nur durch die weitläufigsten, kostspieligsten Untersuchungen zu erzielen gewesen wäre, der Sache einer gänzlich verarmten Edelfrau gegen mehrere reiche und angesehene Familien annehmen, wer eine Skandalgeschichte wieder durchgehen, von welcher sich das Gefühl mit Abscheu abwendet. Die, welche durch ihre hohe Meinung Deine Großmutter und ihren Freund in Schutz genommen haben würden, waren längst todt, jener selbst war gestorben, ohne Verwandte zu hinterlassen, denen an der Klärung seiner Ehre gelegen gewesen wäre: unsere Sache war und ist hoffnungslos. Laß Dir daher an dem Bewußtsein genügen, meine Tochter, daß wir Unrecht leiden, aber keins begangen haben, und bedenke, daß es uns nicht zusteht, diejenigen zu beneiden, welche sich durch Meineid an uns bereichert haben.«

So schloß meine Mutter. Ich saß eine lange Zeit ganz still, nachdem ich den Brief zu Ende gelesen, und suchte vergebens meine Gedanken zu sammeln; ich konnte mich nicht fassen, ich war wie betäubt, als habe ich einen Schlag erhalten. War denn das Alles möglich? Konnte die Bosheit mit einer so beispiellosen Frechheit Unschuldige angreifen, Lebendige und Todte? Und konnte und durfte sie so triumphiren? Lange wirbelte es mir im Kopfe und ich hatte nur ein dumpfes Gefühl unleidlichen Schmerzes, dann aber wurde ich ruhiger und merkwürdigerweise so ruhig, daß ich mich an die Stelle meines jetzigen Gegners, des Freiherrn Bardolph von Günthershofen, setzen, gleichsam von seinem Standpunkt aus die Angelegenheit ansehen konnte. Ich hatte ihm doch an jenem Abend und auch zuvor Unrecht gethan; er glaubte gewiß an die Gerechtigkeit seiner Sache, ja das Gericht sogar war vielleicht überzeugt gewesen und hatte redlich verfahren. Diese Ansicht besserte jedoch meine Stimmung keineswegs; noch nie war mir so wirr, so trüb zu Muthe gewesen, nie hatte ich mich so haltlos und elend gefühlt. Während ich, den Kopf in beiden Händen, dasaß, klopfte es an die Thür und Forster trat herein. Ohne im Anfang recht zu wissen warum, so dumpf war mir zu Sinne, fühlte ich Erstaunen bei seinem Anblick; erst als er seine Anwesenheit erklärend entschuldigte, fiel mir ein, daß ich geglaubt hatte, er sei mit den Uebrigen fort. Er habe auch Briefe von Wichtigkeit erhalten, sagte er, und sich deshalb der Partie nicht angeschlossen. Dann fragte er, da ihm mein verstörtes Wesen auffiel: »Schlechte Nachrichten?«

Ich hielt ihm schweigend meinen Brief hin, in dem ich mit dem Finger auf die Stelle deutete, an welcher er anfangen sollte zu lesen. Er setzte sich und las, ein-, zwei-, dreimal, dann sagte er ruhig: »Ich war nach den Aufschlüssen, welche mir der Freiherr gegeben hatte, hierauf vorbereitet; ihm scheint es, beiläufig, nie in den Sinn gekommen zu sein, daß hier ein Unrecht vorliege, und so peinlich es ist, kann ich doch nicht umhin, Ihnen zu sagen –«

»Daß Sie es auch nicht glauben«, unterbrach ich ihn. »O ja, ich weiß schon, weiß Alles, was Sie mir sagen können.«

»Das doch wohl nicht, Fräulein von Günthershofen«, entgegnete er mit unerschütterlicher Ruhe. »Deshalb erlauben Sie mir einige Bemerkungen. Der Anschein ist allerdings nicht zu Ihren Gunsten. Was man in der Sache thun könnte, wäre etwa Folgendes. Wir müßten das Gerichtsverfahren von damals genau prüfen, auf die Voraussetzung hin, daß der Ausspruch ohne genügende Beweise gefällt worden sei; man müßte einem Formfehler nachspüren, dessen Dasein mir nicht ganz unwahrscheinlich vorkommt. Auf diesem Wege aber, wohl dem einzigen, der sich einschlagen ließe, finden sich Schwierigkeiten vor, welche mir unüberwindlich scheinen. Das Fürstenthum ist inzwischen mediatisirt, das oberste Gericht mit dem in W. verschmolzen worden; ob sich die Acten überhaupt wiederfinden würden, ist sehr fraglich, jedenfalls würden die nöthigen Nachforschungen mit großen Kosten verknüpft sein. Sie werden kaum einen Anwalt bewegen können, die Sache zu übernehmen, es müßte es denn ein Freund, der über viel Zeit verfügen kann, aus Liebhaberei thun. Mein wohlüberlegter Rath also ist, mein Fräulein, daß Sie den Gedanken an einen Proceß aufgeben.«

Er schwieg und ich auch; ich war in Nachdenken versunken. Ich dachte an meine Mutter, wie sie nun bis zu ihrem Ende arm bleiben würde, und auch an meine eigene, ziemlich trübe Zukunft. Ich ging die Erzählung der Mutter noch einmal durch, das Bild meines armen Vaters schwebte mir vor, wie er, gebrochen an Geist und Körper, dem Grabe zuwankte und ich sagte mir, daß er nun doch nicht gerächt werden würde. Dabei aber herrschte eine große Ruhe in mir, ich fühlte keine Bitterkeit, sondern nur Trauer; es mochte der Umschlag sein nach der fieberhaft aufgeregten Stimmung der letzten Wochen, daß ich eine Mattigkeit in mir spürte, welche es mir fast wie eine Wohlthat erscheinen ließ, nun ruhen zu müssen, nicht um unser Recht kämpfen zu können. Denn daß unser Recht unterdrückt worden, daran zweifelte ich auch jetzt nicht. Durch alle meine Gedanken aber tönten abgerissen die Worte in mir wieder, welche Forster vor einiger Zeit fallen gelassen: Der Haß ist eine schwere Bürde; sie klangen mir im Ohr, ohne daß ich darauf gehört oder darüber nachgedacht hätte. So hatten wir beide lange Zeit geschwiegen, bis Forster wieder anfing: »Wollen Sie mir folgen, Fräulein?«

»Für jetzt, ja«, antwortete ich ihm, »denn was kann ich thun? Ich bin arm, ich habe keine Freunde, ich sehe die Unmöglichkeit ein, zu handeln, und bin kein Kind, welches mit dem Kopf durch die Wand will.«

»Könnten sich dann nur, während dieses Waffenstillstandes, freundliche Beziehungen zwischen Ihnen und dem Freiherrn bilden«, fuhr er fort. »Ich weiß, bei gewöhnlichen Menschen wäre dies nicht möglich, aber Sie beide müßten sich, meine ich, über Manches hinwegzusetzen vermögen, was Andere beschränkt. Von Ihrer Meinung über den Charakter Ihres Verwandten sind Sie wohl in etwas zurückgekommen, und der Freiherr hat in Bezug auf Sie keine Vorurtheile zu überwinden.«

War es ein gewöhnlicher Widerspruchsgeist, der mich überkam, zugleich mit der Ueberzeugung, daß der Doctor vernünftig rede, oder hatte er, trotz seiner Vernünftigkeit, mein von den Vorwürfen, die ich mir hatte machen müssen, schmerzlich erregtes Selbstbewußtsein zu unsanft berührt, das wüßte ich jetzt nicht zu sagen, so viel weiß ich nur, daß ich ihn höchst unliebenswürdiger Weise fragte: »Sagen Sie dies im Auftrage des Herrn von Günthershofen?«

Forster sah mich erstaunt an. »Nein«, erwiderte er dann; »der Freiherr will Ihnen wohl, aber er hat mir keinerlei Aufträge an Sie gegeben.«

»Nun, so lassen Sie ihn von mir wissen, daß ich sein Wohlwollen nicht brauche«, rief ich trotzig, und Forster, den meine Unart empören mochte, empfahl sich nach wenigen gezwungenen Worten. Ich sah ihn auch den ganzen Tag nicht mehr, und jener Tag, den ich allein und einsam verbrachte, ganz meinen quälenden Gedanken hingegeben, ist einer der traurigsten meines Lebens gewesen.

Siebentes Kapitel.

Unser Aufenthalt in den schönen schottischen Bergen näherte sich seinem Ende. Ich war froh darüber, denn mir war er seit der Dazwischenkunft des Freiherrn ein peinlicher gewesen; ich fühlte das Vergnügen der Freiheit und Ungebundenheit nicht wie die Uebrigen, auf mir ruhte ein schwerer Zwang. Der Frau Gray war mein stilles Wesen aufgefallen; in ihrer mütterlichen Art drang sie in mich, ihr zu sagen, was mir fehle, und trotzdem oder eben weil ich mein vollständiges Wohlsein behauptete, kam sie zu dem Schluß, daß mein Gesundheitszustand kein guter sei, daß mir die Strapazen und Aufregungen einer Reise nicht bekämen, daß ich zu Hause einen Zuschuß zu den Ferien erhalten und mich recht ausruhen müßte. Ich ließ das Alles zuletzt über mich ergehen, weil widersprechen nichts half. Besonders peinlich war es jedoch, wenn sie mir ihre Sorgfalt zu Zeiten angedeihen ließ, wo wir alle zusammen waren; meine beiden Landsleute wußten ja, was mir eigentlich fehlte; ich wagte dann auch stets noch einige schwache Proteste gegen die mir zugetheilte Rolle einer Leidenden. Nach einer solchen Scene war es, wo der Freiherr sich, als wir vom Abendessen aufgestanden waren, zu mir gesellte; ich wußte, daß er am nächsten Morgen abreisen würde, und fühlte Erleichterung bei dem Gedanken daran. Durch Gespräche bei Tische hatte ich erfahren, daß er zunächst nach Norwegen sich wenden wollte, um dort zu fischen, wie er sagte, und dann endlich nach seinen Gütern zurückzukehren gedenke. Herr Bardolph fing die Unterhaltung an, indem er sich nach meinem Befinden erkundigte.

»Sie sehen nicht wohl aus«, sagte er etwas unsicher; »ich fürchte, ich habe Ihnen durch meine Anwesenheit die Ferienreise verdorben.«

Da diese Voraussetzung genau mit der Wahrheit übereinstimmte, konnte ich es nicht über mich gewinnen, sie abzuwehren, wie es die Höflichkeit erfordert hätte; ich suchte nach etwas Unverfänglichem, das ich antworten könnte, und weil mir damals die gewöhnlichen Phrasen nicht recht zur Hand waren, so entstand eine unangenehme Pause. Der Freiherr sprach zuerst wieder; er fragte mich, ob es mir recht sein würde, ein wenig mit ihm den Bergpfad hinaufzugehen, es sei das letzte Mal, daß er mich belästigen wolle. Ich schloß mich ihm schweigend an und wir gingen zusammen in den herrlichen, warmen Sommerabend hinein. Die Luft wehte so lau um uns her, die Bergkräuter dufteten so würzig, das Abendlicht von dem klaren Himmel herab war so mild, daß mir das Alles bis ans Herz drang; ich fühlte meinen Trotz gegen den Freiherrn schwinden, ich schämte mich der kindischen Waffe und beschloß, ihm, der sich stets gütig und einfach gegen mich benommen hatte, nun auch freundlich entgegen zu kommen. Wir stiegen eine Weile schweigend bergan; der Pfad war steil und ich wurde in der letzten Zeit wirklich leichter müde als sonst wohl; so blieb ich endlich stehen, um Athem zu schöpfen. Der Freiherr wandte sich zu mir.

»Ich habe bisher nicht gewagt, Ihnen den Arm zu bieten«, sagte er mit einem ernsten Lächeln; »ich fürchtete, Sie würden mich abweisen.«

»Warum sollte ich das«, entgegnete ich ihm und wollte unbefangen erscheinen und sprechen, aber die Rolle, die ich mir zugetheilt hatte, schien mir schwerer werden zu wollen, als ich geglaubt. Ich legte meinen Arm in den seinen und wir gingen weiter; da dachte ich plötzlich: Wenn mich die Mutter so sähe! und hätte mich am liebsten losgemacht und wäre fortgeeilt. An der Stelle, wo mich vor einiger Zeit Forster getroffen, hielten wir, die moosigen Sitze waren so einladend, die Stille und Geschütztheit des Plätzchens so lockend. Ich saß mit dem Rücken gegen das Thal, vor mir den weiten Himmel, an dem die Sterne zu erscheinen begannen, Herr Bardolph mir gegenüber im tiefen Schatten.

»Ich gehe morgen, wie Sie wissen werden«, hob er an, »und möchte vorher noch einmal auf die Angelegenheit, von welcher wir neulich sprachen und welche Sie so beschäftigt hat, zurückkommen. Durch Forster habe ich gehört, daß die gewünschte Auskunft von Frau von Günthershofen in Ihre Hände gelangt ist, auch daß Sie durch die Aufschlüsse Ihrer Frau Mutter bestimmt worden sind, den Gedanken an einen Rechtsstreit mit Ihren Verwandten aufzugeben. Sie zweifeln nicht an der Gerechtigkeit Ihrer Sache, aber die Schwierigkeiten sind Ihnen zu groß –«

»Ja, im Augenblick unüberwindlich«, schaltete ich ein.

Der Freiherr nickte. »Ich bedauere diese Hindernisse«, fuhr er fort, »und da mir wie Ihnen daran liegt, die Umstände des damaligen traurigen Processes aufgeklärt zu sehen, will ich mich nach meiner Rückkunft sofort zu unserm Familienarchiv wenden und suchen, ob ich dort irgendwelche Indicien finde, die zur Beleuchtung der Sache dienen können. Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß ich Ihnen auch dann sofort Nachricht von dem Erfolge zukommen lassen werde, wenn die entdeckten Aufschlüsse nicht zu unsern Gunsten sind.«

Der Freiherr hatte im Geschäftston, kalt und glatt, gesprochen, daher mochte es kommen, daß mir in jenem Augenblicke die Uneigennützigkeit, der Edelmuth seines Anerbietens nicht in dem Maße klar wurden wie später, als ich darüber nachdachte. Ich dankte ihm mit wenigen höflichen Worten – wir waren in ein ganz bequemes Fahrwasser der Geschäftlichkeit gerathen.

»Bitten möchte ich Sie aber zu glauben«, fuhr mein Begleiter fort, »daß ich bisher nie eine Ahnung davon gehabt habe, die Rechtmäßigkeit unseres Besitzes könne angezweifelt werden.«

»Sie wird es auch, glaube ich, nur von mir und meiner Mutter«, fühlte ich mich gedrungen zu bemerken; »vor der Welt sind Sie ganz im Rechte und uns hat man überhaupt auch vergessen.«

»Ich fürchte, Sie sagen die Wahrheit«, entgegnete er trübe. »Ich habe erst vor kurzer Zeit von den Umständen Ihrer Frau Mutter Kunde erhalten, bis dahin hatte ich nichts gewußt, als daß damals zwischen den verschiedenen Zweigen unserer Familie ein Bruch stattgefunden habe. Ich war zur Zeit des Processes bei einem Bruder meiner Mutter in Lievland, wo ich mehrere Jahre meiner Knabenzeit zugebracht habe. Als ich zurückkam, waren meine Aeltern nach Günthershofen gezogen; das Gut gefiel mir und ich fragte nicht viel, wer früher dort gewohnt habe.«

Der Freiherr war also, wie es schien, zu uns gekommen, sobald er von der Dürftigkeit seiner Verwandten gehört hatte, und wie konnten seine Absichten andere als wohlwollende gewesen sein? Warum hätte er sich sonst überhaupt um uns bekümmert? Gleichgültigkeit und Uebelwollen seinerseits hätten gewiß die Kluft bestehen lassen, welche sich zwischen den Verwandten und uns befand. Es wurde mir immer mehr klar, daß zu Feindseligkeit oder Mißtrauen gegen den Freiherrn absolut kein Grund vorhanden sei, ich war mir meines abstoßenden Wesens beim Zusammentreffen mit ihm jetzt schmerzlich bewußt und es drängte mich, dies auszusprechen. Ehe ich aber dazu den rechten Anfang fand, gab eine Aeußerung des Freiherrn unserm Gespräche eine ganz andere Wendung. Er schien den etwas peinlichen eigentlichen Gegenstand desselben als erledigt zu betrachten und fing in einem ganz andern Tone an, während wir uns auf den Heimweg machten:

»Sie haben einen guten Freund an Herrn Forster, mein Fräulein – kannten Sie denselben schon in Deutschland?«

Ich antwortete der Wahrheit gemäß und erzählte überhaupt von dem deutschen Juristen, was ich wußte; es war eine Wohlthat, sich einmal auf neutralem Gebiete bewegen zu können, ohne die Bitterkeit, welche aus dem Bewußtsein des nun einmal zwischen uns stehenden Unrechts entsprang. Der Freiherr hörte mir ruhig zu, während ich den Charakter, die Kenntnisse, das Benehmen Forster's rühmte; als ich endlich schwieg, sagte er leise: »Ihr Landsmann müßte in Ihren Augen noch ein ganz besonderes Verdienst haben – er liebt Sie.«

Ich blieb voller Erstaunen stehen und wartete auf einige erklärende Worte. Da mein Begleiter schwieg, schritt ich beklommen neben ihm her; ich konnte nichts Passendes zu antworten finden, bis er von neuem anhob:

»Nun, Fräulein von Günthershofen, haben Sie mir darauf nichts zu sagen? Ach, gewiß war Ihnen die Thatsache längst bekannt, da Sie eine junge Dame sind.«

»Nein«, rief ich nun lebhaft, froh, einen Anknüpfungspunkt gefunden zu haben, »nein, ich hatte keine Ahnung davon. Herr Forster ist mir immer als ein bloßer Bekannter mit der gewöhnlichen Höflichkeit und ziemlich zurückhaltend begegnet; nach unserer letzten Unterredung ist er sogar, wie ich glauben muß, unwillig von mir gegangen. Aber«, rief ich, plötzlich in eine meiner unglücklichen impulsiven Fragen ausbrechend, »wissen Sie, was Sie mir da mittheilen, gewiß? Und warum sagen Sie es mir überhaupt?«

»Ihre erste Frage ist leicht zu beantworten«, erwiderte Herr von Günthershofen. »Durch die Rechtsangelegenheit sind wir, wie Sie sich denken können, dahin geführt worden, über Ihre Umstände und über Sie selber zu reden; da ist mir Manches klar geworden. Ein Wort hat das andere gegeben und zuletzt hat mir Forster mit der ihm zu Zeiten eigenen, fast kindlichen Offenheit aus seinen Gefühlen kein Hehl gemacht. Sie können sich nur durch dieselben geehrt fühlen, Fräulein.«

Das war mir denn doch in dem Augenblicke zu viel. Vom Anfang an hatte die Eröffnung des Freiherrn einen vorzugsweise peinlichen Eindruck auf mich gemacht. War auch für Momente das Gefühl befriedigter Eitelkeit in mir aufgestiegen, dessen sich wohl selten ein Mädchen erwehren wird, wenn sie von dem Interesse oder gar der Liebe hört, die sie einem Manne einflößt, so war dies Gefühl doch gar schnell in den Hintergrund gedrängt worden durch die Aussicht auf den Zwang, welcher jetzt in den bisher so angenehmen Beziehungen zwischen dem Juristen und mir eintreten mußte. Hierzu nun gesellte sich der Gedanke, daß ich mit meinen Vorzügen und Fehlern das Gesprächsthema jener beiden gewesen sei, und das brachte mich vollends um allen Gleichmuth.

»Wer gibt Ihnen das Recht, so zu mir zu sprechen, Herr Freiherr?« fuhr ich heraus. »Ob ich mich geehrt fühle durch die mir sehr unerwartete Neigung des Herrn Forster oder nicht, das ist jedenfalls meine Sache. Sehr peinlich muß es mich aber berühren, daß dergleichen überhaupt zwischen Ihnen verhandelt worden ist; Herrn Forster kann es, wie mich dünkt, ebenfalls nur unangenehm sein, durch Sie mir mitgetheilt zu wissen, was ihm allein zu sagen zukommt, wenn es überhaupt gesagt werden soll.«

Das Gesicht des Freiherrn konnte ich in der tiefen Dämmerung kaum sehen, den Ausdruck desselben durchaus nicht erkennen; um so mehr überraschte mich seine Stimme, als er wieder sprach; sie klang dumpf, wie von unterdrückter Erregung.

»Ich habe keinen Vertrauensbruch begangen, als ich Ihnen von der sehr ernsten, innigen Neigung Forster's sprach und sie beim rechten Namen nannte. Eines Verstoßes mag ich mich freilich damit schuldig gemacht haben; ich weiß nicht, was in solchen interessanten Fällen die Etikette den Wissenden gebietet, ich bin unerfahren darin. Und so will ich, auf die Gefahr hin, weiter zu sündigen, noch eine Frage thun«, fuhr er, plötzlich in seinen leichten Ton übergehend, fort: »Fräulein von Günthershofen, erwidern Sie die Gefühle des Herrn Doctors?«

»Nein, durchaus nicht«, rief ich, ehe ich wußte, was ich sagte, ehe ich erwogen hatte, daß, wie er allerdings andeutete, diese Frage dem Freiherrn durchaus nicht zustand.

»Er ist nicht adlig«, sagte Herr von Günthershofen darauf, wie zur Antwort.

Allerdings, aber ich hatte noch nie darüber nachgedacht, ob ich mir als Gatten nur einen Ebenbürtigen wünschte, hatte überhaupt dem Gedanken an meine Verheirathung noch gar nicht nachgehangen und fand daher, wie mir das häufig ging, auf die Aeußerung des Freiherrn nicht gleich eine Antwort. »Ich weiß nicht, ob mich dieser Mangel bei Jemand abhalten würde, ihn zu lieben«, sagte ich endlich, nachdem ich mich besonnen hatte.

»Kind!« erwiderte der Freiherr hierauf, und das war Alles; ich hätte übrigens trotz der Dunkelheit darauf schwören mögen, daß er lächelte. »Kind!« Was konnte er mit der Aeußerung meinen? Sollte sie Tadel, Entschuldigung, Geringschätzung ausdrücken? Ich zerbrach mir vergebens den Kopf darüber. Uebrigens lag es in der Eigenthümlichkeit meines Strebens und meiner Wünsche zu jener Zeit, daß ich eine besondere Gefahr darin sah, für ein Kind, ein unerfahrenes, unreifes Mädchen gehalten zu werden; ich war daher äußerst empfindlich in dieser Beziehung und habe dem Freiherrn das Wort lange nicht verziehen.

Wir waren, zuletzt schweigend, in die Nähe des Hauses gelangt, meine Zöglinge eilten auf mich zu und nahmen mich in Beschlag und ich war froh, daß unser seltsames Gespräch sein Ende erreicht hatte. Forster sah ich an jenem Abend gar nicht mehr; auch das war mir lieb, ich gewann Zeit, mir mein Benehmen gegen ihn ein wenig vorzuzeichnen. Nicht umhin konnte ich, ein gewisses Wohlwollen gegen ihn zu hegen dafür, daß er mir seine Neigung geschenkt hatte, ich war ihm dankbar, ich achtete das Geschenk, wenn ich es auch nicht zu erwidern vermochte. Mir war das Alles so neu, mein Umgang mit Männern war bisher so beschränkt gewesen. Zum ersten Mal in meinem Leben blickte ich an jenem Abend mit Aufmerksamkeit in den Spiegel; mir kam es vor, als müsse ich neben den hellen, freundlichen, reizenden Gestalten meiner Zöglinge unendlich verlieren, um so mehr empfand ich mit einer Art Rührung die deutsche Anspruchslosigkeit meines gelehrten Landsmannes, welcher, unbeirrt durch den Glanz der fremden Blumen, sich so treu der schlichten Heimatpflanze zugewendet hatte. Ich beschloß mit ihm zu verkehren wie bisher; er würde, das wußte ich, mir die freundliche Gleichgültigkeit unserer Beziehungen nicht unmöglich machen.

Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Freiherr. Ihm war ich dankbar dafür, daß er ging, zudem hatte ich über seine gestrigen Worte nachgedacht und fühlte ganz die Uneigennützigkeit, aus der sie hervorgegangen waren. So gestaltete sich unser letztes Zusammentreffen freundlicher als alle bisherigen. Ich wünschte Herrn Bardolph Glück auf die Reise und für den Fischfang, dankte ihm auch nochmals und fand sogar den Muth, mich zum ersten Male nach seiner in Deutschland lebenden Familie zu erkundigen. »Wie befindet sich Frau von Günthershofen«, fragte ich, »und wie erträgt sie Ihre lange Abwesenheit?«

»Meine Mutter? Ich hoffe, daß es ihr gut geht; sie ist leider dem Briefschreiben abgeneigt, und ich erhalte nicht oft directe Nachrichten von ihr.«

Seine Mutter, jene böse Frau, welche recht eigentlich an all unserm Unglück schuld war – nach der hatte ich nicht fragen wollen. »Ich meinte Ihre Frau Gemahlin«, sagte ich auch geradezu. Er sah mich erstaunt an und lächelte dann, indem er seinerseits fragte: »Haben Sie mich für verheirathet gehalten?«

»Ja, Herr Freiherr.«

»Ich bin es nicht; ich lebe, wenn ich in Deutschland verweile, bei meiner Mutter, welche nach des Vaters Tode auf Günthershofen geblieben ist. Ich bin bisher viel herumgereist und der Gedanke an einen eignen Hausstand ist mir noch selten gekommen. In der letzten Zeit freilich mehr als zuvor«, fügte er hinzu, indem er gedankenvoll auf die nicht ferne höchst anziehende Gruppe der Gray'schen Familie blickte, welche auch wirklich das Familienleben von seiner schönsten Seite darstellte.

Die Zeit seiner Abreise war nun herbeigekommen; das Pferd, welches er bis zur nächsten Eisenbahnstation benutzen wollte, wurde eben vorgeführt, wir gingen zu den Uebrigen zurück, die ihn alle umringten und von denen er sich aufs herzlichste verabschiedete. Ich war neugierig auf das Lebewohl zwischen meinen beiden Landsleuten und sah deshalb scharf hin, als der Freiherr sich dem Juristen näherte. Sie schüttelten sich die Hände, dabei sahen sie sich einen Moment lang ernsthaft in die Augen und der Freiherr nickte Forster leicht zu, wie in Bejahung einer Frage, die jener mit den Blicken gestellt hatte. Auch mir reichte der Freiherr mit wohlwollendem Ausdruck die Hand. »Leben Sie wohl, Fräulein Margarethe«, sagte er freundlich und dann ritt er davon.

Es entstand eine Lücke durch sein Fortgehen, das verhehlte sich keiner der Zurückbleibenden; alle bedauerten offen, daß man nicht länger hatte zusammenbleiben können, und freuten sich zugleich der angenehmen Bekanntschaft, auf deren Fortsetzung sie hofften, denn der Freiherr hatte für das nächste Jahr einen Besuch in Goldwell-House, dem Wohnsitze der Familie, in Aussicht gestellt. Auch ich, zu meiner eignen Verwunderung, vermißte den Freiherrn, dessen Abreise ich doch herbeigewünscht hatte; Niemand konnte sich ganz dem Einfluß seiner edlen, bedeutenden Persönlichkeit entziehen, ich hatte es, wie ich jetzt merkte, auch nicht gekonnt; die Ruhe und Sicherheit seines Benehmens verfehlten nie ein wohlthätiges Gefühl in seiner Nähe hervorzubringen, gegen welches ich mich freilich anfangs absichtlich verhärtet hatte. Ich dachte über seine letzten Worte nach und konnte nicht umhin, im Innersten die Frau für sehr glücklich zu halten, welcher es vergönnt wäre, an seiner Seite durch das Leben zu gehen. Begierig war ich darauf, wen er einmal wählen würde; ich hoffte mit seiner Gemahlin befreundet zu werden, ich wollte dann von dem Anerbieten der Freundschaft Gebrauch machen, welches er uns, meiner Mutter und mir, hatte zu Theil werden lassen. Während ich mich diesen Gedanken hingab, zwischen den Andern sitzend und ziemlich einsilbig an der Unterhaltung Theil nehmend, fielen mir plötzlich die jungen Grays ein in Verbindung mit der Aeußerung des Freiherrn, und bei diesem Gedanken zog sich mein Herz schmerzlich zusammen. Die reizende, jugendliche, flatterhafte Lucy, die ältere der beiden – denn von der fünfzehnjährigen Blanche konnte wohl kaum die Rede sein – als Gattin des ernsten deutschen Edelmanns – ich sagte mir, daß das ja gar nicht passe, daß es ganz unnatürlich sein würde, aber doch mußte ich mir wieder eingestehen, es sei nicht unmöglich, ja, je mehr ich darüber nachdachte und mir alle die kleinen Scenen, welche sich während des Hierseins des Freiherrn zugetragen hatten, im Geiste wiederholte, desto wahrscheinlicher kam es mir vor, daß er sich zu dem von ihm so himmelweit verschiedenen jungen Mädchen hingezogen gefühlt habe. Mit Vorliebe war er auf ihr heiteres Geplauder eingegangen, oft hatte er, wie mir jetzt einfiel, mit unverhohlener Bewunderung der schlanken, elastischen, jugendkräftigen Gestalt nachgeblickt, wenn sie auf unsern Ausflügen mit den Brüdern um die Wette uns übermüthig vorangeeilt war, noch öfter hatte er sich ihr vorsorglich angeschlossen, ihrer Wagehalsigkeit Einhalt gethan, sie beim Klettern gestützt und bewacht wie ein Kind. Ja, wie ein Kind, und so war sie mir auch dann immer vorgekommen; ich dachte damals nie anders, als daß er sie wie ein wildes Kind betrachte – war sie doch erst sechzehnjährig – aber jetzt, beim Zurückblicken, kam mir das Alles ganz anders vor. Und Lucy konnte auch zeigen, daß sie wußte, was sie wollte, daß sie einmal eine tüchtige, energische Frau abgeben würde; in ihr wohnte der fröhliche Muth des Glücks und der Gesundheit und ein heller Verstand. Und dazu – wie schön war sie! Wie eine Göttin der Jugend erschien sie mir oft, mit den lebensprühenden blauen Augen, dem kräftigen, prächtigen Blondhaar, den feinen, reizenden Zügen. Es wurde in der Familie stillschweigend, mit sorglichem Stolz anerkannt, daß Lucy eine Schönheit »zu werden versprach«; wer konnte so blind sein, nicht einzusehen, daß sie es längst sei! Und warum sollte ich mich nicht freuen, wenn sie die Gattin meines stattlichen Vetters wurde? Sie war freilich eine Ausländerin, und es gab in Deutschland hochgeborene Mädchen genug, die ihr nicht nachstanden an Schönheit und sie übertrafen an aristokratischem Aussehen und Wesen und denen ich, wie mich dünkte, die Herrschaft auf meinem Schlosse – so sagte ich mir in solchen Augenblicken mit doppelter Bitterkeit – lieber gegönnt hätte als der Fremden, dem Kinde. Aber wenn sie dem Freiherrn gefiel, wenn sie ihn glücklich machen konnte, und daß dies ihrer heitern, glücklichen Natur gelingen würde, bezweifelte ich nicht, so kam es mir zu, ohne Neid – Neid, das häßliche, gemeine Wort, ich zuckte davor zusammen und doch sagte ich mir dasselbe schonungslos vor – ja, ohne Neid die Verbindung der Beiden mit anzusehen. Ueberhaupt, wie hatte ich mich hinreißen lassen von meiner Frauenschwäche, über Heirathen zu speculiren; was ging es mich an, wenn der Freiherr eine Kaffernprinzessin heimführte nach Günthershofen! Was war er mir eigentlich, was war er mir noch vor wenigen Monaten gewesen? Nicht existirt hatte er für mich, dann hatte ich ihn kennen gelernt als den Sohn meiner Feinde, ihn mit Abneigung, mit Mißtrauen betrachtet, und nun, nun war ich ganz aus meinem gewöhnlichen Gleise herausgezogen worden durch den Zauber seiner Nähe – als vorsorgliche Base war ich eben gar daran, ihn mit einer Frau zu versorgen. Aber das sollte anders werden. Meine Sorge gehörte meiner Mutter, war doch sie zu stützen, zu hegen mein Lebenszweck. Auf einen Augenblick kam mir der Gedanke, ob ich nicht jetzt schon am besten zu ihr zurückkehre; gewiß trug sie die Einsamkeit schwer, wenn sie es mir auch nicht gestehen wollte, da sie mich glücklich glaubte. Die mancherlei Eindrücke und die Unruhe der nun folgenden Reise verhinderten mich für den Augenblick, meine künftigen Maßregeln durchzudenken; in Goldwell-House angekommen, fand ich einen mehrere Tage alten Brief an mich vor, welcher mir die Krankheit meiner Mutter meldete und mich aufforderte, schleunigst nach Hause zu kommen. Ich war wie vom Blitze getroffen; wie eine Strafe kam mir dies Ereigniß vor für die Gedanken und Pläne der letzten Wochen. Aber es hieß sich zusammenraffen. Ganz verstört theilte ich sogleich der Frau Gray den Inhalt des Briefes und meine Absicht, sofort abzureisen, mit. Sie sowie die ganze Familie bewiesen mir die lebhafteste Theilnahme. In wenigen Stunden war Alles mir Zugehörige gepackt; ein Jeder legte hülfreiche Hand an. Herr Gray hatte sich sogleich daran gemacht, aus den ihm zu Gebote stehenden Tabellen meine Reiseroute aufzustellen; er besaß eine große Virtuosität im Reisen und machte gern Andere auf die Kunstgriffe und Vortheile aufmerksam, die ihnen, wenn sie es nur richtig anfingen, zu gute kommen mußten. In meinem Falle, wo sich nur darum handelte, rasch an Ort und Stelle zu kommen, bewährte er sich mit seinen Ermittelungen vortrefflich, auch konnte er nicht unterlassen, mir, trotz meiner gedrückten Stimmung, allerlei Warnungen gegen Uebervortheilung und unnütze Ausgaben ans Herz zu legen. In seiner heitern, wohlwollenden Weise wußte er sich eigentlich mit denen, welche ein besonderer Kummer drückte, nicht wohl zurecht zu finden.

»Nur ruhig, liebes Kind«, sagte er zu mir, »nicht den Kopf verloren! Sie müssen sich nicht das Schlimmste denken; ich hoffe, wir sehen Sie in wenigen Wochen fröhlich wieder. Die Mädchen werden ja wohl ihre Ferien über die Zeit Ihrer Abwesenheit hinausdehnen, bleiben Sie also nicht zu lange, damit Sie in den Köpfen noch etwas von dem vorfinden, was Sie so gewissenhaft hineingebracht.«

Seine Gattin war mütterlich um mich beschäftigt, die Mädchen trieben sich mit verweinten Augen zwischen Koffern und Schachteln herum und thaten alle möglichen unnöthigen Handleistungen. John machte sich mit seinen kräftigen Muskeln beim Heben, Tragen und Zuschnüren der Koffer nützlich, seine treuherzigen Augen und der ungewohnte Ausdruck des Ernstes auf dem offenen, heitern Gesicht, welchen, wie ich fürchte, festzuhalten ihm schwer wurde, machten besondern Eindruck auf mich. Es ging endlich an das Abschiednehmen. Mir war schwer ums Herz. Ich habe mich in meinem Leben nie leicht der Hoffnung hingegeben; auch hier schien mir das Traurigste das Wahrscheinliche, ich fürchtete die lieben, guten Menschen nicht wiederzusehen. Forster erblickte ich unter all den herbeigeeilten Hausgenossen nicht, ich fragte nach ihm. »Wie, wissen Sie denn nicht?« hieß es da. »Er ist nach der Stadt voraus und erwartet Sie am Bahnhofe. Er will Sie ja nach dem Hafen begleiten.«

Das war eine große Freundlichkeit von ihm, da ich fast eine Tagereise und keine von den bequemsten bis nach L. vor mir hatte, wo ich spät am Nachmittage ankommen sollte und mich abends auf das Dampfschiff begeben mußte; ein Begleiter, der sich mancher Besorgung unterziehen würde, war eine Wohlthat für Jemand, dem der Kopf schmerzte und das Herz weh that.

Ich sagte nun traurig Lebewohl. Lucy schien besonders erregt; schluchzend hing sie an meinem Halse und küßte mich mit mehr Innigkeit, als ich sonst bei dem leichtlebigen Mädchen gewohnt war. Ist da wohl mein Vetter im Spiel? dachte ich und mußte trotz meiner trüben Stimmung in mich hineinlächeln; nicht unmöglich, daß sie einen Theil der Zuneigung, welche sie für den Freiherrn empfinden mochte, auf mich übertrug, dank der wenn auch entfernten verwandtschaftlichen Beziehung, in welcher ich zu ihm stand. »Gott erhalte Ihnen Ihre Mutter«, sagte Frau Gray leise, indem sie mich umarmte, »und lasse Sie froh zu uns zurückkehren.«

So schied ich. Während der anderthalb Stunden, welche ich im Wagen auf dem Wege nach der Station zubrachte, ließ ich, müde zurückgelehnt in die Kissen, die Ereignisse der letzten Monate an meinem Geiste vorübergehen. Sie waren bedeutsam gewesen, aber ich konnte in meinem Innern noch keinen rechten Abschluß zu denselben finden, obgleich mir der zurückgelegte Abschnitt in meinem Leben fertig vorkam wie ein Aufzug eines Dramas, nach welchem man mit einiger Spannung auf das in die Höhe Gehen des Vorhangs zu den folgenden harrt. Was mochte mich erwarten? Nur Trauriges, so schien es mir damals, konnte mir begegnen; mit einer Art bitterer Genugthuung über mein unbestreitbares Unglück quälte ich mich mit dem Gedanken, daß meine Mutter mir nun genommen werden würde, daß sie sterben würde in Armuth und Kummer um mich. Dann machte ich mir wieder Vorwürfe über dies »Schmerzbehagen« und suchte zu hoffen. So schwankte es in mir und ich fand keine Ruhe.

Ich näherte mich nun der Station; aus der Ferne hörte ich den Pfiff der Locomotive und dann, weiterhin, all den unerquicklichen Lärm eines Bahnhofs. Und jetzt fiel mir erst Forster ein, den ich ganz vergessen hatte, und ich fing an, mich vor der bevorstehenden Reise mit ihm ein wenig zu fürchten. Aber er war so gut und ehrenhaft, er konnte doch gewiß diese Gelegenheit nicht benutzen wollen zu einer Erklärung, vor welcher ich eine wahre Todesangst hatte.

Der Wagen hielt und nun kam er auch schon herzu und half mir heraus und gleich hatte ich Gelegenheit, die Vortheile seiner Begleitung zu empfinden. Er führte mich, ohne eine Wort über sein Mitgehen zu verlieren und als ob sich das Alles so von selbst verstände, sogleich zum Wartesaal, wo er mich zu verweilen bat, während er zurückging, das Gepäck besorgte und Billets nahm.

Wir fuhren dann zusammen fort; ich ergriff die erste Gelegenheit, um ihm zu danken; er erwiderte trübe: »Dies ist ja das Wenigste, was ich für Sie thun kann, und es geschieht gern, sehr gern.« Weiterhin wurde nur noch von gleichgültigen Dingen zwischen uns gesprochen und der Reisenachmittag verging ruhig, während sich Forster allein der Sorge um unser Weiterkommen unterzog. Wir langten mit der Dämmerung in L. an und durchfuhren, um nach der Rhede zu gelangen, die häßliche, lärmvolle Stadt von einem Ende zum andern. Mein Begleiter blickte düster aus dem Fenster des Wagens hinaus auf das wüste, unerquickliche Treiben; er dauerte mich von Herzen. »Sie haben Heimweh, Herr Forster«, redete ich ihn nach einem langen Schweigen an, um im nächsten Augenblick die schonungslose Aeußerung zu bereuen. Er drehte sich rasch um und sah mich mit großen, traurigen Augen an.

»Ja, bei Gott, ich habe Heimweh«, sagte er, als werde ihm das jetzt erst klar, »Heimweh wie ein Kind. Ich versichere Ihnen, ich sehne mich unbändig danach, die braune schmuzige Tapete in der Kinderstube zu Hause einmal wiederzusehen und das hölzerne Schaukelpferd mit den stieren Augen und der schwarzlackirten Mähne – es ißt bei der Mutter, welche es sehr liebt, das Gnadenbrod. Sie werden mich auslachen, aber auf Ehre – mag es Andern komisch vorkommen – weh thut es deshalb doch und unterdrücken und wegvernünfteln kann man es so wenig wie das Zahnweh.«

Ich fühlte keine Neigung zum Lachen, mir waren sogar die Thränen in die Augen gekommen bei seinen Worten. Warum mußte auch dieser gute, so warm und im besten Sinne kindlich fühlende Mensch sich einfallen lassen, ein politischer Verbrecher zu werden? Er hätte das Andern überlassen sollen.

»Haben Sie denn keine Aussicht auf Begnadigung?« fragte ich leise, nachdem ich meine Thränen hinuntergeschluckt hatte. Er verneinte.

»Und Sie wollen nicht in England sich eine Heimat gründen, wie so manche Ihrer Landsleute in ähnlichem Falle?« Er schüttelte mit dem Kopfe. »Sie hören es ja«, sagte er, »an welcher thörichten Schwäche ich laborire; ach, und das ist die thörichtste nicht!«

Er brach ab. Ich fühlte ein so tiefes Mitleid mit ihm, daß ich – mein eigener Kummer mochte mich weicher gestimmt haben als gewöhnlich – meine Thränen kaum zurückhalten konnte bei diesen halb unwilligen und spottenden und daher um so rührendern Klagen und nichts sehnlicher wünschte, als endlich allein zu sein, um ungestört weinen zu können.

Nachdem wir, auf der Werfte angelangt, meinen Platz auf dem Dampfboot gesichert und das Gepäck an Bord gesehen hatten, blieb noch fast eine Stunde bis zur Abfahrt des Schiffes. Forster bat um die Erlaubniß, während derselben bei mir bleiben zu dürfen, und wir gingen auf der überbauten Werfte in dem lauen Sommerabend auf und ab. Da sprachen wir nun von diesem und jenem, von den allergleichgültigsten Dingen und fühlten doch beide, daß etwas zwischen uns lag, um das wir absichtlich in großen Kreisen herumgingen, daß wir uns fürchteten, an die eigentliche Stimmung der Stunde zu rühren. Da schlug eine Uhr in der Nähe, es blieb uns nur noch eine Viertelstunde; Forster hatte abgebrochen, um die Glockenschläge zu zählen, er nahm auch das fallengelassene Thema nicht wieder auf. Ich merkte es nicht, ich dachte darüber nach, daß ich diesen Menschen, der mir doch nahe gestanden hatte, noch eine Viertelstunde und dann vielleicht nie mehr sehen würde. »Sonderbar«, sagte ich zu mir selber, »sonderbar und traurig!«

»Fräulein von Günthershofen«, sagte Forster plötzlich, »darf ich fragen, ob Sie, wenn Ihre Mutter sich wieder wohl befindet, zu der Familie Gray zurückkehren werden?«

Ich antwortete, daß ich davon nichts wisse, daß ich aber schon zuweilen gedacht, es wäre besser, wenn ich bei der Mutter bliebe. »Ich kann Stunden geben«, sagte ich gleichsam entschuldigend, »und bringe auch einige Ersparnisse mit.«

»Sie also werden in Deutschland sein und ich muß in England bleiben!« rief er schmerzlich und fuhr, als ich über den plötzlichen Ausbruch betroffen zu ihm aufsah, hastig fort: »Das überrascht Sie, Fräulein, ich kann es mir denken; Ort und Stunde sind gut gewählt, um Geständnisse zu machen, nicht wahr? Aber es mag nun drum sein – Sie mögen von mir, dem deutschen Bären, denken, was Sie wollen, ich will mir die Buße auferlegen, Ihnen hier zu gestehen, daß ich – daß ich – daß ich Sie unvernünftig liebe, Margarethe! Es ist schlecht von mir, Sie hier zu überrumpeln, hier, wo Sie mir nicht entrinnen, mir nicht die Thür weisen können, wie Sie es sonst wohl thäten, aber ich habe absichtlich so lange gewartet, um Sie nur eine Viertelstunde zu quälen; Sie werden mir zugestehen, daß ich mich bis jetzt zusammengenommen habe. Und ich will auch jetzt keine Antwort«, fuhr er fort, die Worte hastig herausstoßend, da ich in die Höhe blickte und sprechen wollte; er war unter dem Einfluß einer Erregung, die peinlich anzusehen war. »Still, ich kann Ihr Nein jetzt nicht ertragen, sagen Sie nichts als nur das Eine, Margarethe: sind Sie versagt, gehört Ihre Liebe einem Andern?«

Ich schüttelte mit dem Kopfe.

»Dann will ich ruhig warten. Gehen Sie, pflegen Sie Ihre kranke Mutter und nehmen Sie die Ueberzeugung mit, daß ein armes, trauriges Herz im Exil Ihr Bild in sich geschlossen hat wie ein Kleinod. Ich weiß, ich habe auf Ihre Zuneigung keinen Anspruch, bin ich Ihnen doch nicht einmal mit den äußern Zeichen von Aufmerksamkeit begegnet, die man in der Gesellschaft gewöhnlich für eine Dame hat. Ich wagte das nicht. Sie schienen mir so fern, so fremd, so kalt, vom ersten Tage an, wo Sie mit der griechischen Jungfrau um die Heimat klagten: »das Land der Griechen mit der Seele suchend« – ich werde den Ton Ihrer Stimme bei jenen Worten nie vergessen. Und dann später, als Sie mich um Rath fragten, als Sie in Ihrem kindlichen Sinn das Recht wollten um des Rechts willen und so wenig an den Besitz dachten, sogar bei den Ausbrüchen dessen, was Sie für Haß hielten, ach, wie verschieden war Ihr edles Aufglühen von dem niedrigen Haß der Bösen! Als ich Sie immer besser kennen lernte, da verlor ich mich selber immer mehr, und jetzt –«

Er schwieg endlich. In unaussprechlicher Beklommenheit blickte ich nach dem Schiffe, die Bewegung auf demselben deutete auf seine schleunige Abfahrt. Während wir nach der hölzernen Brücke zugingen, welche auf das Verdeck führte, sagte ich hastig, erregt durch die Kürze der Zeit und ohne meine Worte viel zu messen: »Herr Doctor, ich danke Ihnen für Ihre Neigung, sie ist mir nicht gleichgültig; mehr verlangen Sie jetzt nicht. Leben Sie wohl, Gott segne Sie und lasse Sie bald die Heimat wiedersehen.«

Erschüttert beugte er sich tief über meine Hand, welche ich ihm hingereicht hatte. Unsere Zeit war um, die Schiffsleute näherten sich der Brücke, auf welcher wir uns befanden, um sie in die Höhe zu ziehen – wir schieden. Er eilte fort; ich stand, während sich das Schiff schwerfällig in Bewegung setzte, auf dem Verdeck und schaute ihm nach und wünschte ihm von ganzem Herzen Friede, Freude und alles Gute, was er verdiente. Stundenlang noch, während das Schiff in ruhiger Bewegung den dunkeln Fluß hinabfuhr, blieb ich, auf die Brüstung gelehnt, stehen oder ging auf und ab und blickte zu den Sternen in die Höhe, die ich nun bald über den Wipfeln der heimischen Bäume sehen sollte, und in die Gedanken an meine Mutter und die heiße Sehnsucht nach ihr tönten doch immer die seltsamen Worte, welcher Forster zu mir gesprochen hatte.

Die weitere Reise verlief ruhig und rasch; am Abend des folgenden Tages saß ich am Bette der Mutter.

Achtes Kapitel.

Sie war sehr krank. Ein heftiges Fieber hatte sich zu einem anfangs leichten Unwohlsein gesellt, der Arzt empfahl dringend die allergrößte Ruhe um sie her. Ich war von ihm sorgfältig angemeldet worden, sodaß meine Gegenwart die Mutter nicht überraschte, doch sah sie mich, als sie mich zuerst erblickte, verwirrt an; ich gewahrte, daß sie sich zu sammeln und sich mein Kommen klar zu machen suchte. Ich sollte keine Gemüthsbewegung verrathen, hatte der Arzt dictirt, aber als ich ihre lieben Augen mit so fremdem Blick auf mich gerichtet sah, konnte ich meine Thränen nicht zurückhalten. Um sie zu verbergen, kniete ich am Bett nieder und senkte den Kopf in die Kissen; mir war in dem Augenblicke zu Muth, als sei ich schon jetzt allein in der Welt, als gehöre ich zu Niemand mehr und Niemand zu mir, als habe sich die Mutter während meines Fortseins von mir abgewendet, ganz ihren Todten zu. Ihre Stimme aber löste den Bann.

»Du bist es, liebe Margarethe«, sagte sie schwach; »ich dachte – ich wußte nicht – ich dachte, ich sei es selber, mein Jugendbild sei es, welches mir ankündigen wollte, daß ich nun gehen müsse. Aber Du bist es, das ist gut.«

Sie schwieg und schloß die Augen; der Arzt, welcher zugegen gewesen war, nickte zufrieden. »Gut«, sagte er, »und nun, mein Fräulein, seien Sie am Platze!« Damit gab er mir einige Anordnungen für die Nacht. Die Nacht kam und verging, ebenso die folgende, ohne daß sich im Zustand meiner Mutter eine merkliche Veränderung gezeigt hätte; sie lag still und verrieth keine Theilnahme an dem, was um sie vorging. Ich saß meist an ihrem Bette; trotz aller Ermüdung der Reise schlief ich wenig, und in den Stunden der kurzen Rast ließen mich die seltsamsten Träume nicht eigentlich ruhen; alle die Verstorbenen der Familie schienen sich das Wort gegeben zu haben, mich heimzusuchen, um sich selbst untereinander und mit den Lebenden zu vermischen. Und das Wachen war kaum weniger ein Traum: die Pflege der Mutter erheischte nur einfache Dienstleistungen; die Pünktlichkeit und die Ruhe, womit dieselben zu verrichten waren, mußten besonders mein Augenmerk sein. Und wenn ich so mit einer einfachen Arbeit oder häufig mit müßigen Händen in dem großen Lehnstuhl der Mutter an ihrem Lager saß, wenn das Licht nur gedämpft durch die Vorhänge drang und mit ihm die milde Herbstluft durch das oben leichtgeöffnete Fenster, dann mußte ich mich oft zusammennehmen, um mir bewußt zu bleiben, daß ich wache und daß Alles Wirklichkeit sei. Die Sorge war verschwunden, die Aufmerksamkeit auf das Befinden meiner Kranken, auf das kleinste Symptom des Leidens oder der Besserung schloß den Gedanken an ihren möglichen Tod ganz aus: sie war krank – weiter dachte ich nicht. Mein Leben in den letzten Monaten schien weit hinter mir zu liegen, wie eine bunte Ferne; die Erklärung Forster's hatte, wie eine glänzende Lufterscheinung zuweilen thut, welche zu schnell wieder verschwindet, alle Kraft der Wirklichkeit verloren, ich glaubte kaum, daß ich sie erlebt. Und nun gar mein Streben nach Wiedererlangung unseres Erbgutes, meine bestimmten Pläne, mein Dichten und Trachten nach Genugthuung erschienen mir wie ein Märchen, Schloß Günthershofen wie ein Feenpalast der Tausend und eine Nacht.

Noch einige Tage des Wachens und der sorgsamsten Pflege, und die Mutter war außer Gefahr, einer Gefahr, deren Größe ich jetzt erst erfuhr; die Fiebernebel wichen von ihren Augen und sie schaute mich mit Bewußtsein an. Nun erst begrüßte sie mich auf das liebevollste; sie fragte mit sanfter, leiser Stimme und wurde nicht müde, mir zuzuhören; wenn ich durch das Zimmer ging, folgte sie mir mit den Blicken, sie schien sich über mein Aussehen zu freuen. Ich erzählte ihr meine Erlebnisse in England aufs genaueste; auch von Forster sprach ich und in einer stillen Abendstunde deutete ich der Mutter an, was zwischen uns vorgefallen war. Sie begnügte sich mit den wenigen Worten, die ich darüber sagte, da sie merken konnte, daß ich sein Werben nicht ermuthigt hatte; mir schien es, als sei sie froh über diesen Ausgang der Sache.

Die Mutter erholte sich nur langsam; an ein Wiederfortgehen meinerseits war nicht zu denken, da ihr eine große Schwäche zurückgeblieben war und ich sie kaum auf Augenblicke verlassen mochte. So kam ein stiller Winter heran, dessen ich mich jetzt als fast der eigenthümlichsten Zeit meines Lebens erinnere, der es an einem eigenen, traumhaften Reize nicht gebrach. Der Schnee fiel früh und ungewöhnlich tief; wochenlang leuchtete die seltsame Helle desselben in unsere kleinen Fenster hinein. Und still, wie es draußen war, da die Schuljugend des Städtchens ihre Schneeballkämpfe meist weit von unserm abgelegenen Hause ausfocht, so still war es drinnen bei uns. Die Mutter bevölkerte diese Einsamkeit für mich mit mannichfachen Gestalten; das Eis war gebrochen, welches früher ihre Vergangenheit gleichsam umstarrt hatte; sie sprach jetzt von ihrer Kindheit, ihrem Hofleben und ihrer Ehe und ich versenkte mich mit ganzer Seele in die Zeiten, welche sie heraufbeschwor. Das Haus verließ ich selten und nur wenn mich die Mutter gewissermaßen dazu zwang. »Du siehst bleich aus, Margarethe, und Deine Augen werden immer größer«, sagte sie einmal; »Du wirst zu ernsthaft; eine alte, weltmüde Frau taugt nicht als einziger Umgang für ein junges Mädchen. Geh zu Pfarrers, zu Amtmanns; die Kinder dort musiciren und tanzen zusammen und sehen frisch und vergnügt aus.«

Ich bat die Mutter flehentlich, mich nicht unter die Leute zu schicken; ich sei tausendmal glücklicher und zufriedener zu Hause bei ihr; sie wisse ja, daß ich als Kind schon nicht mit den andern gespielt habe. Sie schüttelte den Kopf und meinte: »Es ist unnatürlich; ich bereue jetzt, Dich früher von den Mädchen Deines Alters hier fern gehalten zu haben, sodaß Du jetzt ihrem Umgang keinen Geschmack abgewinnen kannst. Sie sagten mir freilich damals wenig zu, aber eine oder die andere war doch wohl darunter, die Dir eine liebe Freundin hätte werden können.«

Ich wunderte mich, als ich die Mutter so sprechen hörte, noch mehr aber, da sie fortfuhr: »Es geht mir ans Herz, Kind, daß Du bei einer alten Frau, in einem Landstädtchen verkümmern mußt. Du gehörst in die große Welt; Deine unter Mangel und Kummer verlebte Jugend hat Dir doch das nicht nehmen können, was Dich vor hundert andern auszeichnen würde; ja, mein Kind, Du siehst aus wie eine geborene Freifrau von Günthershofen.«

Ein Todesschreck durchfuhr mich bei den letzten Worten. »Liebe Mutter, was willst Du?« fragte ich verwirrt. Sie beachtete meinen Einwurf nicht. »Du wirst Dich wahrscheinlich nicht verheirathen«, fuhr sie fort, »und das thut mir ebenfalls weh; ich wünsche zwar nicht, daß Du die Gattin eines Bürgerlichen würdest, und auch dazu wirst Du wohl kaum Gelegenheit finden, aber –«

»Aber, liebe Mutter, das thut nichts«, fiel ich ein. »Ich versichere Dir, ich möchte nie anders leben, als wir es jetzt thun, ich kann mir keinen behaglichern, wünschenswerthern Zustand denken und bin ganz zufrieden.«

Die Mutter schüttelte den Kopf, aber sie schwieg; zuweilen bemerkte ich, wie ihre Augen mit Sorge auf mir ruhten, sie mochte an die Zeit denken, wo sie nicht mehr da sein würde. Ich aber lebte nur in der Gegenwart oder vielmehr in der Vergangenheit, welche in dieser stillen Zeit so mächtig über mich geworden war, ich war froh, wenn nichts mich von meinen Träumereien abzog.

Einige Monate mochten nach meiner Rückkehr verflossen sein, als eines Tages die Mutter einen Brief von einem alten Rechtsfreunde erhielt, der mit meinem Vater in Verbindung gestanden hatte. Derselbe theilte ihr mit, es habe sich Jemand bei ihm nach dem jetzigen Aufenthaltsort der Frau von Günthershofen-Erbrück erkundigt, da er eine schon sehr alte Schuld zu tilgen wünsche, wozu ihn seine Verhältnisse erst jetzt ermächtigten. Namen und Wohnort des Mannes waren genannt, ich habe beide vergessen; sie waren damals der Mutter und mir gleich unbekannt. Der letztern fiel die Sache nicht auf, da sie wußte, daß mein Vater durch seine weitläufige Oekonomie in Verbindung mit Landwirthen und Kaufleuten gestanden und manchem wesentliche Dienste geleistet hatte. Der alte Advocat theilte uns ferner mit, daß wir nach Erfüllung einiger Förmlichkeiten das Geld, eine ziemlich bedeutende Summe, in Empfang nehmen könnten, und so traf es denn binnen kurzer Zeit auch ein, mir besonders hoch willkommen, da nun so manches zur Pflege der Mutter Dienliche bequem bestritten werden konnte. Sogar ein Badeaufenthalt für den Sommer wurde geplant und wir sahen dem kommenden Frühling ruhig und friedlich entgegen.

Obgleich in unsern traulichen Plaudereien eine ferne Vergangenheit das Hauptthema bildete, hatte meine Mutter des verhängnißvollen Processes mit keinem Worte wieder gedacht und auch ich hatte über meine Versuche, meine Unterredungen mit Forster, erst wegen der Schwäche der Mutter, später, weil ich sie dadurch zu verstimmen fürchtete, geschwiegen; der Name des Herrn Bardolph war nicht einmal zwischen uns genannt worden. Die Ruhe aber, die wir so gern um uns erhielten und in der wir alles Störende fern zu halten suchten, sollte gar bald unterbrochen werden.

Es war an einem der lauen Tage, wo die Frühlingssonne mit stetiger Milde die schneegetränkte Erde erwärmt. Ich kam von einem kleinen Gange durch die noch braunen Felder zurück, einige grüne Blättchen und frische Halme in der Hand, als Boten an die Mutter von dem Frühling, der nun wirklich da war; den eigenen Geruch der erneuten Erde hatte ich mit Entzücken eingesogen, hatte mir eben gesagt, daß man von der Erde eigentlich kein anderes Glück brauche als das Genießen ihrer Erscheinungen in den verschiedenen Zeiten des Jahres, das köstlich frische Wiedererwachen im Frühling, die Fülle des Lebens, die Macht der Sonne im Sommer, die Klarheit, die Milde, den Früchtesegen eines schönen Herbstes und die heimliche Ruhe im Winter – da sollte ich mich bald überzeugen, wie das Menschenleben uns doch so leicht nicht losläßt, an wie vielfachen Fäden es uns hält. Da stand das Schicksal an der Thür, in Gestalt des Postboten freilich nur, und ich hielt einen Brief in der Hand, an Fräulein von Günthershofen gerichtet. Ich kannte die Schrift der Adresse nicht; wer mochte an mich schreiben außer den englischen Freunden, von denen der Brief augenscheinlich nicht kam? Eine Vermuthung, die ich sogleich als toll verwarf, zurückdrängend, trat ich in das Gärtchen am Hause, in die kahle Laube, und riß das Couvert auseinander. Ja, doch – es wahr wirklich wahr! Das Schreiben begann mit »Liebe Cousine!« und war unterschrieben: »Bardolph von Günthershofen.« Er wollte mir also sagen, daß er keine Indicien gefunden, daß Alles beim Alten sei und bleiben werde. Ich hielt inne, nachdem ich die ersten Worte gelesen, mein Herz klopfte stürmisch – wo war die Ruhe hin, in welche ich mich seit Monaten hineingelebt? Nein, ich wollte nicht zittern vor irgend etwas, das mir noch begegnen konnte, und hier, was fürchtete ich eigentlich? Hatte ich nicht alle Hoffnung längst aufgegeben? Lag nicht auch der Mutter jeder Gedanke an eine Aenderung in unserm Schicksal fern? Wie konnte mich also eine neue Bestätigung des längst Gewußten erregen? Nachdem ich mich beruhigt zu haben glaubte, las ich den Brief und las ihn wieder und wieder und rieb mir die Augen, um mich zu überzeugen, daß ich nicht träume. Dann ging ich hinauf zur Mutter, zeigte ihr meine grünen Blättchen, plauderte mit ihr, las ihr vor und fuhr nur von Zeit zu Zeit mit der Hand über die Stirn, weil mir war, als umziehe sie ein Nebelgebilde. Nachdem die Mutter zur Ruhe gegangen, setzte ich mich aufs Sopha, zog die Lampe dicht vor mich und nahm den Brief aus der Tasche; aber nein, so fiel das Licht zu grell auf denselben, ich stand wieder auf und holte einen Schirm, schob die Lampe fort und legte das Blatt so beschattet vor mich hin. Da fiel mir ein, die Magd könnte mich stören; ich erhob mich von neuem und verriegelte die Thür, dann setzte ich mich, bezwang meine fiebernde Unruhe und las. Der seltsame Brief lautete folgendermaßen:

  »Liebe Cousine!

Als wir uns in Schottland trafen, versprach ich Ihnen, nach meiner Rückkehr auf Schloß Günthershofen eine genaue Nachforschung mit Bezug auf irgendwelche Papiere anzustellen, die mit dem Rechtsstreit zwischen unsern Familien in Verbindung ständen, und Ihnen so bald als möglich von meinem Erfolge zu berichten. Diesem Versprechen komme ich hiermit nach. Ich begab mich, sobald ich mich zu Hause oder vielmehr in Günthershofen eingerichtet hatte, an jedem Morgen nach dem Bibliothekzimmer, welches wir, da es alle unsere Familie angehenden Papiere enthält, das Archiv nennen. Hier unterzog ich Alles der genauesten Durchsicht. Ich fand die verschiedenen Urkunden, Bescheinigungen, Erlasse, Correspondenzen alle in guter Ordnung; jedes einzelne Document ging durch meine Hände. Nachdem ich sie alle vergebens durchsucht, wendete ich mich zu den alten Schränken selber, in welchen sie enthalten gewesen, da ich Grund hatte, ein geheimes Fach zu vermuthen; ich ging dann die Bibliothek durch, durchblätterte ein jedes Buch, aber ebenfalls ohne zu finden, was ich suchte. Ihnen muß ich es gestehen, mit der Erfolglosigkeit meiner Bemühungen wurde das Mißtrauen gegen unsere Sache in mir rege. Es war auffallend, daß sich von einem langen Rechtsstreit kein einziges Document, daß sich unter den Quittungen nicht die Kostenberechnung eines Advocaten, noch mehr, daß sich unter den Briefen, die ich alle durchging, kein einziger fand, in dem ein Wort über jene Vorfälle zu lesen gewesen wäre; ich fing an, eine Vernichtung gewisser Papiere zu argwöhnen. Wie die Sache sich aber auch verhielt und wie sehr ich meinet- und Ihrethalben eine Aufklärung gewünscht hätte, ich hatte kein Recht, die Ehre meiner Aeltern Ihnen gegenüber bloßzustellen, indem ich meinem Argwohn Worte gab, und so verschob ich es von Tag zu Tag, Ihnen das unbefriedigende Resultat mitzutheilen.

Sie werden sich vielleicht wundern, daß ich so ganz ohne meine Mutter handelte, doch liegt die Erklärung nahe. War sie nun so fest überzeugt von der Rechtlichkeit unserer Ansprüche wie ich es gewesen war, oder war sie Mitwisserin eines schlimmen Geheimnisses, im einen wie im andern Falle würde sie meine Zweifel als abenteuerliche Ideen verworfen haben. Ich nahm mir jedoch vor, mir von ihr die ganze Sache noch einmal erzählen zu lassen. Den günstigen Augenblick dazu glaubte ich gekommen, als ich mich eines Abends in ihren Zimmern befand; ich stellte einige Fragen, unser Gespräch wurde aber plötzlich durch ein heftiges Unwohlsein meiner Mutter unterbrochen. Die Kammerjungfer eilte in das Nebenzimmer, um aus einer Schatulle der Mutter die Tropfen zu holen, deren sie sich in solchen Fällen bedient; das Mädchen konnte das Fach nicht öffnen, ich eilte ihr zu Hülfe und da hatten wir das Unglück, die Schatulle umzuwerfen. Dadurch war eine in das Holz fest eingefügte Klappe aufgesprungen und verschiedene Paquete mit Papieren zum Vorschein gekommen – ein eigenthümlicher Zufall, nicht wahr, mein Fräulein? Ein Blick auf eins derselben erfüllte mich mit solchem Interesse, daß ich meiner Mutter, sobald dieselbe einigermaßen wieder zu sich gekommen war, meine Absicht zu erkennen gab, die Sachen auf meinem Zimmer einer genauen Durchsicht zu unterwerfen. Ich will Sie mit weitern Einzelnheiten verschonen, mein Fräulein, und erlaube mir nur noch, Ihnen mitzutheilen, daß Ihre Frau Mutter die rechtmäßige Besitzerin von Günthershofen und Erbrück, meine Familie und ich aber Betrüger sind. Da ich jedoch diesen Charakter bisher ohne mein Wissen, ohne meine Schuld getragen und nicht jetzt als Erbtitel von meinem Vater mit Wissen und Willen überkommen möchte, so verzichte ich meinerseits vollständig auf den Nießbrauch der Ihnen zugehörigen Güter und habe auch meinen Entschluß meiner Mutter und den Herren von Erbrück zu wissen gethan. Bei ihnen nun finde ich dieselbe Bereitwilligkeit, sich des ungerechten Gutes zu entledigen, nicht vor, wie ja auch zu erwarten stand; sie wollen den Preis eines unter der Ehrlosigkeit zugebrachten Lebens nicht leichten Kaufs hergeben. Ihrer Frau Mutter, mein Fräulein, rathe ich aber nun dringend den Rechtsweg an; ausgerüstet mit den Papieren, welche ich gefunden und die ich Ihnen selbst überbringen werde, ist der Erfolg nicht zu bezweifeln. Es wäre jedoch auch möglich, daß Ihre Frau Mutter einen Vergleich wünschte, zu dem sich meine Mutter und die von Erbrück im Bewußtsein der Unhaltbarkeit ihrer Sache gewiß herbeilassen werden, sobald sie sehen, daß es mir mit der Ueberlieferung der Papiere an Sie Ernst ist; sie scheinen es bis jetzt noch nicht zu glauben. – Was ich bei all diesen Vorgängen fühle, mein Fräulein, brauche ich wohl nicht auszudrücken, meine Handlungsweise mag für mich Zeugniß ablegen. Versichern Sie Ihre edle Mutter meiner tiefsten Ehrerbietung, welche sie aber, wie ich leider fürchten muß, als von dem Mitglied einer ruchlosen und ihr verhaßten Familie kommend, mit Verachtung von sich weisen wird. Verzeihen Sie, mein Fräulein, daß ich Sie am Anfang des Briefes meine Cousine genannt habe; ich hätte eine ohnedies sehr entfernte Verwandtschaft im Augenblicke solcher Enthüllungen nicht betonen sollen.«

So schrieb der Freiherr. Es wäre vergeblich, schildern zu wollen, was ich bei diesen Aufschlüssen empfand; soviel nur ist mir noch jetzt klar, daß ich die Tragweite derselben in Bezug auf uns, die Veränderung, die uns bevorstand, nicht fassen konnte und wenig bedachte; ich beschäftigte mich vorzugsweise mit der Handlungsweise des Freiherrn, seinem Opfer, seinem Zustande dabei. Süße Thränen weinte ich darüber, daß ein Mensch so großartig uneigennützig denken und handeln konnte; daß dieser Mensch jetzt lebte, daß ich ihn kannte, daß das Alles nicht eine kalte That der Vergangenheit, ein Vorfall aus Büchern, sondern Wirklichkeit war, entzückte mich.

Die Lampe war trübe geworden; ich schloß die Augen, ein jedes Wort des Briefes war meinem Gedächtniß gegenwärtig, ich sah sogar die Schriftzüge im Geiste vor mir. Wie schnitt mir der herbe Ton der letzten Worte ins Herz, wie jammerte mich der stolze Edelmann, an dem jetzt das Gefühl der Schande nagte, welcher er sein Haupt beugte. Ich kannte ihn, so sehr ich mich bemüht hatte, ihn zu verkennen, ich wußte, wie ihn die Entdeckung niedergeschmettert haben mußte. Und was ließ sich Alles zwischen den Zeilen lesen, welche widerliche Scenen mit der Mutter, mit dem bösen, herzlosen Weibe mochten stattgefunden, welcher Festigkeit mochte er bedurft haben, um seine Absicht aufrecht zu erhalten. Aber was sollte nun geschehen? Jetzt erst dachte ich an die nächsten Maßregeln, dachte ich mir aus, wie ich der Mutter morgen vorbereitend mein Zusammentreffen mit dem Freiherrn erzählen oder vielmehr gestehen wollte und ich mußte fürchten, die bisherige Verheimlichung desselben würde sie schmerzen. Die Nacht, während welcher kein Schlaf in meine Augen kam, wollte nicht enden; ich sehnte den Morgen herbei, vor dem ich doch zitterte, und sagte mir hundertmal die Worte vor, mit denen ich mein Geständniß bei der Mutter beginnen wollte.

Neuntes Kapitel.

Die Mutter wußte nun Alles. Ich hatte ihr alle meine innern und äußern Erlebnisse in England dargelegt, sie hatte gesehen, wie durch ihre Erzählung der Funken geworfen worden war, welcher jetzt zur Flamme neuen bittern Streites sich entfachen sollte, sie konnte mir, da sie die ganze Wahrheit erfuhr, nicht zürnen. Dann hatte ich ihr, als eine Folge des vom Freiherrn gegebenen Versprechens, seinen Brief vorgelegt. Derselbe machte weniger Eindruck auf sie, als ich erwartet hatte; sie schien kaum zu glauben, daß eine günstige Wendung der Dinge jetzt noch eintreten könnte, schien die ganze Sachlage kaum zu begreifen.

»Das wäre er zu thun fähig, der Sohn des elendesten der Menschen und eines feilen Weibes? Er wäre so ganz aus der Art geschlagen, daß er seine betrügerische Sippschaft selber an den Pranger stellen wollte, ohne Aussicht auf Gewinn, ja mit bedeutendem Verluste auch für sich? Und wäre er's – soll ich mein Eigenthum gleichsam als ein Geschenk annehmen, welches ich seiner Großmuth verdanke? – Nein, Margarethe, ich vermag dies Alles nicht zu fassen«, sagte sie dann wieder. »Wie hätte er gegen seine Mutter aufkommen können, wie will er es noch? Wie eine Tigerin den Raub, wird sie Alles festhalten wollen, was ihr den Besitz sichern kann. Und was sind es für Documente, die er gefunden? Werden sie vor Gericht genügen, um das ganze, niederträchtige Gewebe von Fälschungen aufdecken zu können? Es muß eine Correspondenz zwischen dem alten Freiherrn und seinen vertrautesten Helfershelfern sein, und warum wäre die nicht sogleich vernichtet worden? Ist es denkbar, daß Jemand die schlagendsten Beweise einer entehrenden Schuld sorgfältig aufbewahrt für seine Ankläger? Nein, Kind, der Brief kommt mir wie ein Blendwerk oder wie eine grausame Spielerei vor.«

So erging sich die Mutter in Zweifeln und Fragen, die immer mehr zu bittern Anklagen gegen die Familie des Freiherrn wurden. Ich stellte ihr vergebens meine Ansichten, meine Auslegungen und Erklärungen entgegen, und was konnte ich auch sagen? Ich konnte den Stand der Dinge nur aus einer Quelle, aus der fremdartigen Hochherzigkeit unseres Verwandten herleiten, und zu meinem Glauben schüttelte die Mutter bitter den Kopf; sie war alt und kummergehärtet, sie hoffte und glaubte nicht leicht mehr.

»Aber was soll geschehen, liebe Mutter?« fragte ich endlich. »Das ist doch immerhin eine Art Geschäftsbrief, welcher wenigstens eine Antwort erfordert.«

»Schreibe Du«, entgegnete sie; »danke ihm für seine Handlungsweise, wenn Du willst, sage aber auch, wie sehr ich über dieselbe betroffen gewesen, und bitte um nähere Auseinandersetzung. Was es für Papiere sind, die er gefunden hat, möchte ich wissen, ehe ich mich zu weitern Schritten entschließe.«

Ich schrieb und las der Mutter meine Antwort vor. »Nein, Margarethe«, rief sie, »zerreiße das! Welcher Ton der unbegrenzten Dankbarkeit! Was fällt Dir ein, Kind? Will er wirklich wieder gut machen, was seine Aeltern verbrochen, nun, was thut er da mehr, als was jeder Ehrenmann an seiner Stelle thun würde? Erzeigt er uns etwa eine Wohlthat? Sind wir Bettler, die er unverdient beschenkt? Nein, meine Tochter, Du bist noch zu jung, um die Welt zu verstehen; ich hoffe wenigstens, daß er Deiner Jugend zuzuschreiben ist, dieser Mangel, den Du noch oft zeigst, an dem, was den Adel auszeichnen sollte und auszuzeichnen pflegte, die innere und äußere Ruhe gegenüber selbst dem Unerwarteten, das kühle Herankommenlassen der Dinge, der durch Leidenschaft unbeirrte Blick!«

War er der guten Mutter wohl geblieben, dieser durch Haß wie durch Liebe, durch Furcht wie durch Dankbarkeit unbeirrte Blick? So dachte ich, zum ersten Mal in meinem Leben mich innerlich gegen meine treuste Freundin auflehnend. Sie sah mir an, daß ich bei mir selbst widersprach, und mit einem flüchtigen Lächeln sagte sie in einem leichten Tone, der aber keinen Widerspruch mehr aufkommen ließ, wie sie ihn zuweilen annehmen konnte:

»Komm, ma fille, schreibe, ich will dictiren.«

»In Deinem Namen, liebe Mutter?« fragte ich scheu.

»Ja, wenn Du nicht für meine Worte einstehen magst, schreibe nur meinen Namen darunter.«

So schrieb ich denn eine kühle, geschäftlich klingende Antwort auf den Brief des Freiherrn, in welcher die Mutter mit wenigen Worten ihre Verpflichtung gegen ihn anerkannte, falls er wirklich gesonnen sei, das Unrecht, welches seine Verwandten begangen, wieder gut zu machen, aber auch nicht verfehlte, ihre, wie mich dünkte, beleidigende Verwunderung über seinen Entschluß zu betonen, und dann um genauere Auskunft über den Fund bat.

Ich konnte das Schreiben nicht so gehen lassen. Heimlich verschaffte ich mir Gelegenheit, ein paar Worte hinzuzufügen. »Verzeihen Sie meiner Mutter ihre Kälte«, schrieb ich; »bedenken Sie, wie lange sie unglücklich gewesen ist! Sie glaubt Ihnen noch nicht, ich aber glaube Ihnen Alles und habe Ihnen schon tausendmal im Stillen abgebeten, daß ich Sie früher verkannt habe. Wenn sich auch unüberwindliche Schwierigkeiten dem Siege unserer Sache entgegenstellen – und die ahne ich fast, ich kann an keinen guten Ausgang glauben – so will ich Ihnen doch bis an mein Lebensende danken für das, was Sie thun wollten und schon gethan haben. Verzeihen Sie mir!«

Der Brief ging ab, meine Nachschrift blieb unentdeckt, aber sie beschwerte mir das Gewissen; ich brauchte meiner Mutter so selten etwas zu verheimlichen und fühlte mich, wenn ich es that, stets dadurch erniedrigt. Es hatte sich bei mir eine Art Cavalierehrgefühl ausgebildet, dessen moralischer Werth zweifelhaft sein mochte.

Wir erwarteten nun von Tag zu Tage Antwort vom Freiherrn. Je länger sie ausblieb, desto mehr fühlte sich die Mutter in ihren Zweifeln gerechtfertigt. »Vielleicht hat unser edler Vetter gedacht, wir würden ihn an Großmuth übertreffen und sein Anerbieten zurückweisen«, sagte sie. »Wir beiden mitleidigen Frauen mochten denken, er würde durch seine beispiellose Aufopferung an den Bettelstab gebracht, und das nicht übers Herz bringen können, wir konnten uns erbieten, in unserer Dürftigkeit, die uns durch lange Gewohnheit doch hätte lieb und theuer werden müssen, zu verbleiben. So hat er vielleicht calculirt. Aber ich weiß, daß er in Lievland bedeutend begütert ist, er hat dort den Oheim beerbt, von dem er uns sprach; die Einkünfte von Günthershofen bezieht, glaub' ich, seine Mutter allein.«

Je länger das Schweigen unseres Verwandten währte, desto weniger konnte ich den Beschuldigungen meiner Mutter entgegensetzen; sie erbitterten mich aber, ich war weit entfernt, ihr Glauben zu schenken, ich hielt die alte Frau für ungerecht und unmäßig hart. Sie hatte auch wirklich die Weichheit, die nach ihrer Krankheit über sie gekommen schien, jetzt ganz wieder abgestreift unter den Erinnerungen, welche der Brief des Freiherrn in ihr wach rief. Und ich, zum ersten Male in meinem Leben machte ich jetzt an mir die Erfahrung, daß ich mit vollem Bewußtsein von den Ansichten der Mutter abwich. Im Stillen widersprach ich ihr heftig, im Gespräch wurde dieser Widerspruch freilich nur zur schüchternen Einwendung, aber ich hielt ihn doch aufrecht. Mit mir war überhaupt, wie ich mit Schrecken bemerkte, Vieles ganz anders geworden; ich dachte und dachte und kam dabei oft zu nahezu wunderlichen Resultaten. So fiel es mir einmal ein, darüber zu speculiren, wie ich mich wohl verhalten würde, wenn – es konnte ja dergleichen einmal später sich ereignen – wenn meine Neigung auf Jemand fiele, der vor den Augen meiner strengen Mutter keine Gnade fände. Würde ich mich ihr unterwerfen, entsagen und leiden? Ich konnte zu keinem Ergebniß kommen, vielleicht hatte ich nicht den Muth, meine Schlüsse mit der gehörigen Consequenz zu ziehen, und hinterher tadelte ich mich bitter über diese rebellischen Gedanken.

Der Frühling, welcher sich so lieblich angekündigt hatte, kam mit Stürmen; der laue Wind brauste über die noch kahlen Felder, der Himmel war trübe und tief verhangen, es war alles Andere eher als schönes Wetter bei uns. Ich aber liebte diese Zeit, ich hatte meine Freude an dem feuchten Lebensathem, an dem Ungestüm im Werden, ich fühlte auf einmal die größte Sehnsucht nach draußen und wäre gern weit und breit herumgestreift, wenn mich die Sorge um die Mutter nicht an das Haus gebannt hätte. Aber von Zeit zu Zeit, gewöhnlich in der Dämmerung, schlüpfte ich hinaus. Unser Häuschen lehnte sich an die Stadtmauer; auf der andern Seite desselben floß ein Bach, von Weiden eingefaßt, deren eine Reihe zwischen dem Wässerchen und der alten grünbewachsenen Mauer eine Art bedeckten Gang bildete. Jetzt waren sie freilich noch fast kahl, der Boden war feucht und schlüpfrig, das Wasser regentrübe, aber ich gewann dem heimlichen Plätzchen auf einmal großen Geschmack ab, ich sog mit Entzücken die feuchte Luft desselben ein, ich ließ mir den warmen, ungestümen Wind, der unter den Weidenzweigen herfuhr, um die Stirn wehen und schaute, an die Mauer gelehnt, durch die Stämmchen nach dem Horizont, wo sich die schweren Wolkenschichten die den übrigen Himmel bedeckten, wie Coulissen weggeschoben und einen blendenden weißgrauen Streifen freigelassen hatten, auf den die dunkle Decke von oben hineinhing, wie Haar auf eine niedrige Stirn. So wenigstens sah es aus an einem Abend im März. Ich hatte lange ruhig gestanden und mit einer Art von schwermüthigem Behagen auf das von der fernen Helle seltsam beleuchtete flache Land geblickt; nun bog ich um die Mauer herum, zum Stadtthore hinein und ging nach dem Hause. Ehe ich wieder in das enge Zimmer zurückkehrte, wollte ich noch einmal einen tiefen Athemzug aus der Frühlingluft thun; ich öffnete die niedrige hölzerne Gitterthür und trat in das Gärtchen am Hause, auf einen Hügel zu, der sich fast bis zur Höhe der Stadtmauer erhob und um den diese eine niedere Brustwehr bildete. Während ich da stand, tönten Schritte auf dem Kies, mit Befremden sah ich im Umwenden eine hohe, dunkle Gestalt auf mich zu kommen. Der Mann trat dicht zu mir und grüßte – es war der Freiherr. »Sie hier?« rief ich erstaunt, indem ich ihm die Hand reichte. Er hielt die meine fest und küßte sie.

»Sie wünschen meine Mutter zu sehen?« fragte ich nach einigen Augenblicken, da er schwieg und noch immer meine Hand hielt; dabei wollte ich mich losmachen und ihm vorangehen. Er hielt mich zurück.

»Nein, Margarethe«, sagte er hastig – ich fuhr zusammen, da er mich beim Namen nannte – »nein, ich kann nicht vor Ihrer Mutter stehen, wenigstens in diesem Augenblicke nicht. Sie hat Recht gehabt – ich habe Sie mit falscher Hoffnung erfüllt, habe Sie schnöde betrogen!«

Ich sah ihn entsetzt an, ich wollte auf seinem Gesicht die Bestätigung seiner Worte lesen. Er war bleich, seine Augen, die ich sonst für hell gehalten hatte, schienen fast schwarz und mir war, als fühle ich sie auf meiner Stirn brennen.

»Lassen Sie uns einige Augenblicke hier bleiben«, bat er; »ich will Ihnen Alles erzählen, Sie haben gesagt, daß Sie mir glauben.«

»Und ich werde Ihnen immer glauben, in Allem, was Sie mir sagen«, entgegnete ich ihm.

»Gott segne Sie dafür, Margarethe; aber woher kommt Ihnen dies Vertrauen zu mir? Wer sagt Ihnen, daß ich Sie nicht betrüge?«

»Sie betrügen!« rief ich unwillkürlich. »Nein, ich bin überzeugt, daß Sie es gut meinen, o, mehr als gut meinen, daß Sie Recht und Wahrheit mehr lieben als Besitz; ich habe nun einmal diese Gewißheit und sie scheint um so fester, je mehr ich mich früher bemüht habe, Ihnen zu mißtrauen.«

»Sie sind ein Kind, Margarethe – aber ein Kind, das ich anbeten könnte«, fügte er leiser hinzu, »und dann haben Sie wieder die Klugheit und Energie eines Mannes. Aber hören Sie! O, ich hätte nicht gedacht«, unterbrach er sich schmerzlich, »daß ich so wie ein geständiger Verbrecher je würde dazustehen haben!«

»Aber Sie haben kein Unrecht begangen«, nahm ich ungeduldig das Wort. »Reden Sie! Hatten Sie sich getäuscht über jene Papiere, waren dieselben doch nicht so wichtig, wie Sie geglaubt hatten? Nein? Nun, dann hat man Sie Ihnen entwendet. Ihre Mutter –«

»Ha, Sie kennen die vortreffliche Frau, wie ich merke«, sagte er bitter. »Ja, ich, in verbrecherischem Leichtsinn, in elender Leichtgläubigkeit, hatte mich wieder, zum hundertsten Male, von ihr täuschen lassen. Als sie sah, daß ich nicht von meiner thörichten Restitutionsidee, wie sie's nannte, abzubringen war, ergab sie sich mit wehmüthiger Resignation darein, Schloß Günthershofen zu verlassen. Aber damit bestach sie mich noch nicht. Sie hatte gehofft, ich werde mich erweichen lassen; als ich fest blieb, wurde sie krank. Mit schwacher Stimme bat sie mich, sie wenigstens auf dem Schlosse sterben zu lassen; lange werde sie den neuen Besitzern ja nicht im Wege sein. Ich zuckte die Achseln – ja, Kind, das that ich – und fuhr unbeirrt mit meinen Vorbereitungen zu unserer Uebersiedlung nach Lievland fort. Ich hatte dabei natürlich viel in der nahen Stadt zu thun und ritt oft hinein; einmal blieb ich sogar über Nacht dort. Alles war nachgerade so weit geordnet, daß ich den Tag meiner Reise zu Ihnen festsetzen konnte; es drängte mich, die entscheidenden Papiere in Ihre Hände zu legen. Ich bewahrte dieselben in meinem Schreibtisch unter doppeltem Verschluß, in meinem Zimmer, welches nur mein mir ergebener Diener zu betreten pflegte und zu dem ich den Schlüssel in jener Zeit stets bei mir trug. Lächerlich nutzlose Vorsicht! Ich hätte bedenken sollen, daß im Schlosse Günthershofen von jeher auf Schloß und Riegel nicht zu bauen gewesen! Als ich am Abend vor dem Tage, der zur Abreise bestimmt war, vor meinem Schreibtisch sitzend und mit einem Gefühl der Erleichterung Fach für Fach öffnend, an das innerste gekommen war, in dem ich die Documente verborgen hatte, fand ich dieselben nicht vor. Soll ich Ihnen mein fieberhaftes Suchen, die Wuth und Angst, die mich befiel, schildern? Erlassen Sie es mir. Ich ging zur Mutter, die an jenem Tage zuerst wieder das Bett verlassen hatte; sie mochte mich erwarten. Ich wollte die Thür hinter mir verschließen, der Schlüssel fehlte, der Riegel bewegte sich nicht, Alles war vorgesehen. Als ich vor sie hintrat, blitzte der Triumph aus ihren Augen, zum ersten Mal zeigte sie sich mir wahrhaft dämonisch. Sie mögen ermessen, was ich bei der schrecklichen Scene litt, wenn ich Ihnen sage, daß sie mir zu verstehen gab, sie wisse wohl, daß sie auch nach meinem innersten Wunsch gehandelt, indem sie jene Papiere verbrannt habe – ja armes Kind, sie waren vernichtet – ich könne nun wieder aufhören, den Tugendhaften zu spielen, meinte sie. Ich hätte sie tödten können, ich faßte ihr Handgelenk, als sie nach dem Kamin zeigte, in dem ich noch das verkohlte Papier zu sehen glaubte, und preßte es, daß sie aufschrie, aber als ich losließ, lachte sie höhnisch, nannte mich einen Thoren und sagte mir noch einige Wahrheiten, für die ich ihr Dank weiß. Und nun lassen Sie mich wissen, was Sie von mir halten.«

Mir war unheimlich geworden bei seinem hastigen Sprechen, seinem schlimmen Lachen, zugleich aber fühlte ich das innigste Mitleid mit ihm. Der Verlust, von welchem er sprach, machte in jenem Augenblicke wenig Eindruck auf mich, hatte ich doch den Besitz mir noch nie recht vergegenwärtigen können. Ich sagte ihm das mit einfachen Worten, weil ich ihn beruhigen wollte. »Der Vorfall ist nicht so schlimm, als Sie ihn auffassen, Herr Freiherr«, sprach ich zu ihm. »Sie müssen bedenken, daß wir uns eigentlich wenig Rechnung auf eine günstige Wendung der Dinge gemacht hatten; weder die Mutter, das glaube ich behaupten zu dürfen, noch auch ich werden daher das, was Sie mir erzählt haben, als ein Unglück fühlen. Ihre edle Absicht bleibt uns zu einer Art Beruhigung; ich für meinen Theil lasse mir für jetzt gern damit genügen, daß unser Recht von dem Hauptrepräsentanten der Gegner anerkannt wird und daß dieser, ich bin es überzeugt, seine Anerkennung desselben bethätigen wird, sobald er dazu die Freiheit hat.«

Der Freiherr stand mit untergeschlagenen Armen vor mir und sah mich an, ich glaube aber kaum, daß er mir zuhörte; erst als ich schwieg, schien er zu merken, daß ich gesprochen hatte. Ich wiederholte daher meine Gründe für das Unnöthige seiner Selbstanklage. Er schüttelte den Kopf.

»Sie sind unerfahren, Margarethe, bescheiden, genügsam, vergebend, ach, Sie sind zu gut! Ihre Mutter wird anders über mich denken. Aber das muß ich einstweilen ertragen, ich weiß, daß ich einen guten Anwalt an Ihnen habe. Ich gehe jetzt außer Landes, sobald ich die Abtretungsurkunde von Schloß Günthershofen mit seinen liegenden Gründen an Sie in aller Form ausgefertigt und bei einem Notar, den ich Ihnen bezeichnen werde, niedergelegt habe, für den Fall, daß mir etwas zustieße. Sie werden dann nach dem Tode meiner Mutter das Schloß sogleich in Besitz nehmen können. Sie könnten dies schon jetzt, in wenigen Wochen, aber ich bezweifle, daß Ihre Frau Mutter sich dazu verstehen würde, auch möchte ich Sie, ich muß es gestehen, nicht in der Nähe der jetzigen Bewohnerin wissen. Erbrück bleibt Ihnen natürlich durch meine Schuld verloren.«

»Aber wessen klagen Sie sich eigentlich an?« fragte ich. »Wie konnten Sie die Papiere besser verwahren als in einem verschlossenen Schreibpult in Ihrem Zimmer?«

»Ich hätte sie gleich einem Rechtskundigen überliefern oder Ihnen zukommen lassen sollen«, entgegnete er; »ich unterließ es während einiger vorbereitenden Geschäfte meinerseits, weil ich mich selber in gewisser Hinsicht als Ihren Anwalt, Ihren Stellvertreter ansah.«

»Noch eine Frage, der Mutter wegen, welche dieselbe zu stellen wünschte: was waren es eigentlich für Papiere, die Sie gefunden hatten?«

Der Freiherr athmete schwer, es kostete ihm Anstrengung, mir zu antworten. »Es befanden sich darunter«, sagte er endlich leise, »Briefe des Fürsten an meine Mutter, welche die Umrisse des ganzen Plans, Sie von Ihren Gütern und aus dem Lande zu treiben, enthielten. Bei der Vertraulichkeit, welche zwischen beiden herrschte, kam da Allerlei zur Sprache, was vollständig genügt haben würde, Ihre Sache zu retten. Aber das war nicht Alles. Die Duplicate der gefälschten Correspondenz zwischen Ihrer Großmutter und dem Baron d'Elange, jenes Hauptbeweises gegen Sie, waren da, vielleicht als Curiosum aufbewahrt; meine Mutter muß aus einer Art teuflischer Freude an dem ganzen Handel die compromittirenden Papiere vor der Vernichtung bewahrt haben, anders kann ich mir ihre Existenz nicht erklären. Wir haben hier angenehme Familienangelegenheiten durchzusprechen, nicht wahr, Cousine?«

Er brach ab und wir schwiegen einige Augenblicke. Es war ganz dunkel geworden; jetzt erst dachte ich mit Schrecken daran, wie unruhig die Mutter mich erwarten mochte. »Kommen Sie mit zu meiner Mutter«, sagte ich, »sie wird sich um mich ängstigen.«

»Ja, und ich habe Sie hier in Dunkelheit und Kälte und Nässe zurückgehalten! Sie werden krank werden. Ich habe Ihnen noch nie Anderes als Uebles zugefügt. Gehen Sie, erzählen Sie Ihrer Mutter Alles, Sie wird Ihnen oder vielmehr mir nicht glauben; sagen Sie ihr dann, daß sie sich bei« – er nannte einen Notar in einer benachbarten größern Stadt – »erkundigen möge. Vielleicht auch wird sie niemals das ihr Angehörige unter einer Form in Besitz nehmen wollen, welche für eine Schenkung angesehen werden könnte. Nun, nous verrons! Vertrauen wir dem Glück ein ganz klein wenig, Margarethe! Leben Sie wohl!«

»Sie wollen fort?« rief ich ängstlich.

»Ja, und ich werde Sie nun in Jahr und Tag nicht wiedersehen, ma petite cousine!« Er faßte meine beiden Hände; ich konnte seinen plötzlich leichten Ton, indem er sich über sich selber lustig zu machen schien, nicht begreifen. »Sie sind eine kleine Zaubrerin. Sie haben die Last von mir genommen, mit der ich vor Sie hintrat, mir ist jetzt, als werde sich noch Alles zum Guten lösen; Ihnen muß man beichten, wenn einem die Absolution nützen soll.«

Er blieb noch immer stehen; mit meinen Händen in den seinen drehte er sich jetzt um und sah nach dem Hause, nach den kleinen erleuchteten Fenstern des Wohnzimmers.

»Dort hinten hausen Sie – schon Jahre lang? Nun, Schloß Günthershofen hat etwas höhere Fenster und Sie werden im Park ein wenig mehr Raum haben, sich zu ergehen, als in diesem Irrgarten. Aber ich muß nun fort, kommen Sie.«

Er geleitete mich bis zur Hausthür; ich fand nichts mehr zu erwidern. »Adieu, ma cousine«, sagte er endlich, neigte den Kopf und küßte mich auf die Stirn, dann ging er.

Ich aber – da stand ich in der dunkeln Hausflur und Alles, was ich in dieser Unterredung, die für mein eintöniges Leben ein Ereigniß war, gehört und erfahren, stürmte verwirrend auf mich ein; ich empfand eine tiefe Traurigkeit, die unerklärliche Laune des Freiherrn bei seinen letzten Worten hatte verfehlt, mich anzustecken. Rathlos und niedergeschlagen setzte ich mich auf die Treppenstufen – wie sollte ich vor die Mutter treten und ihr das Alles erzählen? Ich fühlte, daß ich es nicht konnte. Da hörte ich oben ihre Schritte, sie hatte die Hausthür schließen hören und wollte in ihrer Angst um mich herabkommen. Ich sprang in die Höhe und eilte hinauf; in der Thür stand die Mutter und empfing mich in ihren Armen, so erfreut war sie, mich wieder zu haben, ich aber, überwältigt durch diesen seltenen Ausbruch mütterlicher Sorge und bedrückt durch ein unbestimmtes Gefühl, daß ich dieselbe in diesem Augenblicke gar nicht verdiene, lehnte den Kopf an ihre Schulter und brach in heiße Thränen aus. Die Mutter gerieth darüber in die größte Bestürzung.

»Um Gotteswillen, Margarethe, mein Kind, was fehlt Dir, was ist Dir widerfahren? Sprich doch, was kann Dir begegnet sein?«

Ich sah die Nothwendigkeit ein, meine noch immer leidende Mutter sogleich zu beruhigen, und so entledigte ich mich denn so rasch wie möglich meiner seltsamen Erzählung. Ich sagte der Mutter, wie ich den Freiherrn vor dem Hause getroffen, wie er lieber mir als ihr die unglückliche Wendung der Dinge habe mittheilen wollen, ich legte dieselbe dar, so gut ich vermochte, und wiederholte die Selbstanklagen des Herrn von Günthershofen, ich sprach von der uns zugedachten Wiedererstattung. Auch diesmal hatte ich mich getäuscht mit meiner Voraussetzung darüber, wie die Mutter dies Alles aufnehmen würde; sie schien kaum überrascht, ja fast wie befriedigt und schenkte der Erzählung des Freiherrn unbedingten Glauben.

»Ja, das ist sie, daran erkenne ich sie«, warf sie ein, während ich sprach; sie lächelte, als ich geendet. »Das klingt wie ein Kapitel aus einem Roman, nicht wahr?« sagte sie. »Aber ich fühle die Wahrheit heraus. Der arme Vetter! Besser hätte er von unserm Rechte nicht überzeugt werden können, auch wenn er jene Briefe nie gelesen hätte, als durch dies charakteristische Vorgehen seiner vortrefflichen Mutter.«

Auch in Bezug auf die Abtretung des Besitzes sprach die Mutter anders, als ich erwartet hatte. »Ich werde nicht mehr lange bei Dir sein, mein Kind«, sagte sie, »und es ist gut, daß Du nicht allein und zugleich bettelarm in der Welt dastehen wirst. Das Schloß ist allerdings nur ein Theil des uns zukommenden Besitzes, aber wenn es dem Freiherrn Ernst ist mit der Restitution, so nimm sie an. Er ist ja ohne dasselbe reich genug; wir wollen es als ein Geschenk von Gott ansehen, dem es einst gefiel, uns Alles zu nehmen, und dem es jetzt gefällt, uns einen Theil wiederzuerstatten.«

Weiter wurde zwischen uns von der gewaltigen Veränderung, die nun in unserm Leben eintreten konnte, nicht geredet, und auch unsern Gedanken vermochte sie keine neue Richtung zu geben. Ich wenigstens empfand keinerlei Genugthuung darüber; noch nie war ich so niedergeschlagen, so hoffnungslos traurig gewesen, als ich es nach jenem Abend wurde. Von den wenigen Bekannten, die ich im Städtchen besaß, zog ich mich infolge dieser Stimmung ganz zurück; Tage und Wochen lang sah ich kaum einen Menschen außer meiner Mutter und der Magd. Ich pflegte gegen Abend erst hinauszugehen, am liebsten unter die Weiden bei der Stadtmauer, und dann allemal, ehe ich ins Zimmer zurückkehrte, erst auf jenen erhöhten Platz im Garten. Dort stand ich eine Weile, nahm den Hut ab und ließ mir die laue Abendluft durch das Haar wehen. Tönten einmal draußen auf der Straße Schritte, so schrak ich zusammen und konnte mein Zittern eine Zeit lang kaum bemeistern.

Blicke ich jetzt, nach Jahren, auf jenen Zustand zurück, so muß ich allemal meinem Geschick danken, daß es die Keime, welche sich damals in mir zeigten, nicht zur Reife kommen ließ. Meinen geistigen Thätigkeiten fehlte das Gleichgewicht, und hätten die Umstände fortgefahren, einige so sehr auf Kosten der andern zu begünstigen, so wäre ich eine excentrische, trübsinnige Einsiedlerin geworden. Fürs erste zerriß das Schicksal das Gewebe meiner müßigen Träumereien, indem es den Gedanken einen wirklichen Gegenstand unterschob, und zwar durch einen Brief von Lucy. Ich hatte deren schon viele gehabt; sie schrieb mir mit der größten Regelmäßigkeit und ich antwortete ebenso. Bedeutenden Inhalts pflegten diese Documente im Ganzen nicht zu sein; es waren Berichte über beiderseitiges Befinden und stets fand sich darin der Wunsch nach einem baldigen Wiedersehen ausgesprochen. Diesmal war Lucy's Schreiben länger als gewöhnlich und die erste Nachricht, die sie mir mit lebhaften Worten mittheilte, war, daß der Freiherr sich im Hause ihrer Aeltern befinde. Sie erzählte dann, wie gut man sich amüsire, wie viele Land- und Wasserfahrten man mache, daß bei schlechtem Wetter im Hause deutsch gelesen werde, und wie sehr sie mich zu dem Allem herbeiwünsche, obgleich ich, wie sie sich erinnere, meinem Vetter damals nicht besonders hold gewesen sei. »Wären Sie aber jetzt hier«, meinte sie weiter, »so würde die Fehde zwischen Ihnen wohl aufhören, so liebenswürdig ist der Freiherr; Sie würden ihm nicht widerstehen können. Uns alle erhält er in guter Laune, sogar der Bär Forster – dies Epitheton führte der Jurist bei dem lustigen Mädchen schon lange – sogar er, der seit Ihrer Abreise, um mit John zu reden, stets ein Gesicht wie ein Leichenstein gemacht hat, fängt langsam an aufzuthauen. Was uns ärgert, ist, daß er lange, geheimnißvolle Privatunterredungen mit dem Freiherrn hält, während welcher wir uns langweilen müssen; es wird dabei, wie man allgemein behauptet, von Ihnen gesprochen. Sie müssen kommen, unsere Minerva, Miß Mentor, wie Papa Sie nennt, und Ihrem Landsmann den verlorenen Seelenfrieden wiederbringen, denn wir alle sind darin einig, daß er denselben in Ihrer Verwahrung gelassen hat.«

Jetzt wußte ich plötzlich, warum ich unglücklich war; durch diesen Brief mit seinem schonungslosen Uebermuth errang ich mir eine Klarheit, von der ich damals glaubte, sie sei das einzige Gut, auf welches ich im Leben noch Anspruch zu machen habe. Ich gewann den Muth, mir einzugestehen, daß der Freiherr längst alle meine Gedanken erfüllte, und philosophirte sehr weise darüber, ob dies wohl die Liebe sei, von der die Dichter seit alten Zeiten singen, von deren Kunde die Weltgeschichte voll ist. Fast zweifelte ich daran, denn jene Liebe, das hatte ich in Büchern gelesen, verlangte ungestüm nach Besitz, und ich bildete mir ein, daß ich mich darauf freue, Herrn Bardolph als Gemahl Lucy's zu sehen, weil er dann glücklich sein würde. Das erstickende Gefühl, was mich allemal überkam, wenn ich mir dachte, wie er sie in seine Arme nehmen und ihr schöner blonder Kopf an seiner Brust ruhen würde, nannte ich Schwäche und hoffte es mit der Zeit zu überwinden. Nachdem ich einigermaßen mit mir selber fertig geworden war, blieb mir noch eine Pflicht zu erfüllen: ich schrieb an Forster und bat ihn um Verzeihung, daß ich ihm damals nicht gleich mit Bestimmtheit geantwortet habe. »Sie ließen mir freilich wenig Zeit dazu«, sagte ich ihm; »Sie wollten keine Antwort, aber ich würde Ihnen dennoch eine gegeben haben, wenn ich schon damals mit mir selbst im Klaren gewesen wäre, wie ich es jetzt bin. Und warum sollte ich Ihnen nicht den Grund meiner Ablehnung Ihres ehrenden Antrags sagen? Mich dünkt, Sie haben ein Recht darauf, ihn zu wissen. Besonders aber drängt es mich zu dem Geständniß, was ich Ihnen machen will, weil es mir scheint, als müßten Sie aus demselben eine Art Trost schöpfen können, wenn anders ich wirklich das Unglück habe, Ihnen Schmerz zu bereiten. Ich liebe einen edlen, vortrefflichen Mann, der von meiner Neigung nichts weiß und nie davon erfahren wird. Es kostet mich keine Scheu, keine Verlegenheit, Ihnen dies zu sagen; jenes Gefühl ist ohne mein Zuthun in mir entstanden, es wird mich nicht hindern, der Verbindung des so sehr Geliebten mit einer Andern mit dem einzigen Wunsche zuzusehen, daß beide glücklich werden mögen. Und das Letztere wünsche ich Ihnen auch und bin überzeugt, Sie werden noch finden, was Sie suchen.«

Auch Lucy antwortete ich; wider meinen Willen wurde der Brief gegen den ihrigen etwas kalt und karg. Wochen vergingen, ohne daß ich Antwort erhielt; die Grays waren jetzt auf ihrer Herbstreise und wahrscheinlich hatten meine Briefe ihre Adressen noch gar nicht erreicht. Ich liebte es, mit einer Art trauriger Genugthuung mir die fröhlichen Scenen auf jener Reise, die Gruppen glücklicher Menschen auszumalen; an dem Abglanz jenes Glückes wollte ich mich auch erwärmen, an den schrägen, matten Strahlen, die von weither zu mir herüberschossen; aber sie gaben ein gar kaltes Licht.

Mit dem scheidenden Sommer verschlimmerte sich der Zustand meiner Mutter auch wieder, das Leiden, von dem sie lange schon nie ganz frei gewesen, trat heftiger auf und machte sie immer mehr mit dem Gedanken an einen baldigen Tod vertraut. Sie fürchtete ihn nicht, sie hatte sich jahrelang das Sterben, in dem sie eine Wiedervereinigung mit ihren geliebten Todten sah, leise herbeigesehnt; sie trauerte aber um mich, die so ganz allein zurückbleiben sollte. Wir hatten jetzt oft, wenn es der Zustand der Mutter zuließ, lange Gespräche mit einander; zuerst eigentlich in meinem Leben gab sie mir Gelegenheit, meine Ideen und Meinungen über so Manches auszusprechen, wovon ich früher vor ihr nicht zu reden gewagt. Sie hörte mich dabei mit einer fast ängstlichen, forschenden Aufmerksamkeit an, die ich mir nicht recht erklären konnte. Ich sprach aber gern, meine Hand auf ihren Knieen und ihr von Zeit zu Zeit in das liebe Antlitz mit den noch immer schönen Augen blickend, während sie die Worte von meinen Lippen zu trinken schien. »Gott sei Dank, Margarethe«, sagte sie einst, während eines solchen Zwiegesprächs, tief aufathmend, »daß Du geworden bist, wie ich Dich jetzt kennen lerne. Mir verdankst Du es nicht – ich habe Dich vernachlässigt, habe in meinem egoistischen Kummer das arme Kind sich selbst überlassen; nein, versuche nicht, mir zu widersprechen, ich weiß, wie schwer ich gefehlt habe. Jahre sind vergangen, während welcher ich Dich kaum kannte, mich nicht um Dich kümmerte, da Du stündlich um mich warest, jetzt werd' ich gewahr, was ich für eine Tochter habe, aber Gott straft mich gerecht, indem er mich nicht ernten läßt, wo ich nicht säete; Du bist aufgewachsen zur Freude und ich muß fort.«

»Mutter, sprich nicht so!« bat ich. »Du hast noch gar Vieles zu erleben; Du sollst in Schloß Günthershofen einziehen und die Margarethe als Schloßfräulein sehen.«

Die Mutter schüttelte ernst mit dem Kopfe.

»Ich kann nicht glauben, daß mir das zu Theil werden sollte; ich könnte es auch nur um Deinetwillen wünschen. Ich mag nicht noch einmal Reichthum und Rang auf meinen Schultern fühlen, sie sind zu schwach dazu. Als ich vor so vielen Jahren das Schloß verließ – es gehörte uns damals noch – da wurde es mir einen Moment lang ganz klar, daß ich es nie wieder betreten würde. Es gibt Menschen, denen ein solches – Hellsehen möchte ich es nicht nennen, es ist eine kurze Ueberzeugung, die man sich später gehabt zu haben erinnert, ohne sie noch zu besitzen – ein- oder zweimal im Leben zu Theil wird; die seltsame Gabe ist mehreren Gliedern meiner Familie eigen gewesen.«

Die Mutter schwieg sinnend und in mir ging in jenem Augenblick etwas Seltsames vor; auch ich wußte plötzlich ganz genau, daß ich – aber nein, die Gewißheit, die mir wie etwas Fremdes, nicht in mir Entstandenes ans Herz trat, war sicher nur eine blendende Lüge. Die Mutter hob nun an, mir die Sensation jener momentanen Prophetengabe, die gleich nach ihrem Verschwinden auch zu nichte werde, da man selber nicht an sie glaube, zu beschreiben; mir wurde bange, ich bat sie, sich nicht aufzuregen; die leuchtenden Augen, mit denen sie wie in eine weite Ferne zu schauen schien, schnitten mir ins Herz; sie sah schon jetzt zuweilen aus, als gehöre sie nicht mehr der Erde an. – Zu andern Zeiten aber plauderten wir traulich; ich erzählte ihr von so manchem Eindruck, den ich, besonders während meines Draußenseins, empfangen, und die Mutter neckte mich sogar scherzend und meinte, so altjüngferlich ich mich stelle, so wisse sie besser, wie es eigentlich mit mir stehe. Ich erschrak dann und fragte mich, ob sie mein Geheimniß mit mütterlichem Scharfblick errathen habe, ich wollte ihr Alles gestehen, aber stets hielt mich eine gewisse Bangigkeit ab. Wenn ich mich irrte, wenn das Geständniß meiner Abtrünnigkeit sie traf wie ein Donnerschlag, wenn sie mir vielleicht von neuem gebot zu hassen! Was wußte ich, inwieweit das furchtbar starke Gefühl in ihr sich durch die letzten Ereignisse zu Gunsten des Freiherrn abgestumpft hatte! Und wäre es anders, billigte sie, begriff sie auch nur meine Neigung, wozu sie ihr gestehen, da sie unerwidert war; sie mußte im besten Falle ihren regen Stolz verwunden. So schwieg ich, bis es zu spät war, und es ist lange Jahre ein bitterer Schmerz für mich gewesen, zu der Neigung meines Herzens nicht den Segen meiner Mutter empfangen zu haben.

Zehntes Kapitel.

Eines Tages hatte uns der gute Pfarrer besucht, wie er es von Zeit zu Zeit und seit der zunehmenden Schwäche der Mutter häufiger zu thun pflegte. Ich begleitete ihn nach meiner Gewohnheit hinaus vor die Thür. »Kommen Sie doch einmal mit in den Garten«, sagte er, noch ehe dieselbe geschlossen war, laut zu mir; »Sie haben da eine Rose, von der ich mir einen Ableger ausbitten möchte.« Als wir vor den Rosenbäumchen standen, meinte er lächelnd: »Eine Kriegslist wie diese hätten Sie mir wohl nicht zugetraut, aber ich mußte Sie auf einige Minuten allein sprechen; Sie müssen mir dieselbe verzeihen.«

Auf meine verwunderte Frage berichtete er rasch: »Herr von Günthershofen hat an mich geschrieben; er hat mir auseinandergesetzt, wie Schloß Günthershofen und mit der Zeit factisch in Ihren Besitz übergehen werde. Es drückt ihn, Sie in Verhältnissen zu wissen, die Ihrem Range und Vermögen so wenig angemessen sind; er schreibt mir, der Gedanke sei ihm von Tag zu Tage unerträglicher geworden, daß Sie hier Beschränkung leiden, während seine Mutter auf und von Ihrem Eigenthum lebe. Und er beschwört mich, Sie zu bewegen, etwas von dem Ihren anzunehmen.« Ich schüttelte heftig mit dem Kopfe. »Um Ihrer Mutter willen soll ich Sie bitten, welcher jede Stärkung, jede Bequemlichkeit zu verschaffen ja Ihre Pflicht sei.« Der Pfarrer sprach noch Manches, sprach wärmer, je mehr er sah, wie ich in meinem Widerstande unsicher wurde, da ich daran dachte, wie oft mir das Herz weh gethan hatte, wenn ich für die Mutter dies oder jenes nicht erlangen konnte, weil ich zu arm war. Welches falsche Zartgefühl konnte mich abhalten, anzunehmen, was von dem besten Manne geboten wurde und was doch auch wirklich uns zukam? Ich schwieg in diesen Gedanken und der gute Pfarrer wollte fortfahren, mich mit neuen Gründen zu überreden, da unterbrach ich ihn. »Ja, ich will, Herr Pfarrer«, sagte ich abgewendet; »der Freiherr hat Recht, um der Mutter willen darf ich mich nicht weigern.«

»Recht so, mein Kind«, sagte er und nahm meine beiden Hände; »aber lassen Sie die Mutter nichts merken; sie möchte die Sache anders auffassen und sich gekränkt fühlen. Ich komme bald und stelle Ihnen die Sendung zu.«

Auch in seinem Glücke dachte er also an uns! Ach ja, er war gut und edel durch und durch; er verdiente alle Liebe, ein Jeder mußte ihm gut sein, der ihn kannte. Dies war auch mit mir der Fall; daß er nichts davon wußte, was lag daran? Ich liebte ihn und schämte mich dessen nicht.

All mein Denken war nun bald nur meiner Mutter zugewendet, deren Zustand sich täglich verschlimmerte. Daß sie bald sterben würde, wußte sie; ich wehrte mich innerlich gegen die Hoffnungslosigkeit, die auch mich nach und nach überkam; wenn mich die liebe Kranke schonend und zärtlich vorbereiten wollte, suchte ich dem gefürchteten Thema mit krankhafter Angst auszuweichen. Eines Abends saß ich am Bett, während draußen ein kalter Mondschein über der herbstlichen Welt lag; die Mutter hatte den Tag über große Schmerzen und von fiebernder Unruhe gelitten und war in der Dämmerung eingeschlummert. Jetzt schlug sie die Augen auf und sah mich klar und voll an, ja sie lächelte sogar.

»Es geht Dir besser, liebste Mutter?« fragte ich, indem ich mich über sie beugte.

»Ja, mein Kind, die Schmerzen sind vorüber; ich glaube nicht, daß sie wiederkommen werden bis – nein, komm Margarethe, nicht mehr dies thörichte Zusammenzucken; was nützt es, sich der Wahrheit verschließen zu wollen? Ich muß meine Zeit benutzen, sie ist gar kostbar für mich geworden.«

Sie hielt, schon erschöpft, inne; ich reichte ihr, indem ich die Thränen mühsam unterdrückte, auf ihren Wink zu trinken; dann fuhr sie, häufig ermattet stockend, mit stetigem Entschlusse fort, während ich sie nicht zu unterbrechen wagte, und sprach von der Zeit, wo ich allein sein würde.

»Es ist besser, wir besprechen zusammen, was Dir nach meinem Tode geziemen wird zu thun, liebe Tochter«, sagte sie; »Du wirst ohne Verwandte, ohne Schutz dastehen unter eigenthümlichen Verhältnissen. Der Freiherr wird Dir nach dem, was vorgefallen ist, gewiß Schloß Günthershofen zur Wohnung anbieten; ich möchte von Dir hören, wie Du über Deine Zukunft zu entscheiden gedenkst. Sei stark, meine Tochter! Ich weiß, ich verlange viel, aber Du bist Deiner sterbenden Mutter den Kampf mit diesen Thränen schuldig; laß mich wissen, soweit dies Menschen vorherbestimmen können, was aus Dir werden wird, damit ich beruhigt hinübergehen kann.«

Ja, die Mutter verlangte viel; noch in ihren letzten Stunden schien in ihrem Wesen jene Vornehmheit, jenes ruhig, selbstverständlich Gebietende durch, was sie stets ausgezeichnet hatte. Ich sollte meinen unsaglich bittern Jammer hinunterschlucken, sollte mich des Gefühls, daß ich sie besaß, daß sie doch noch bei mir war, berauben, in den letzten Augenblicken vielleicht, in denen es mich noch auf Erden beglücken konnte. Ich that es, ich dachte an die Zeit, die so trostlos öde vor mir lag, die Zeit, in der ich, gleichsam mit allen Wurzeln aus dem Boden gerissen, heimatlos und ganz, ganz allein sein würde. Die Mutter fragte wieder:

»Willst Du mit seiner Mutter auf Schloß Günthershofen wohnen?«

»Nein«, rief ich heftig, »nein, nein! Ach Mutter, kann ich denn nicht hier bleiben, in diesen Zimmern, wo Du und ich zusammen waren –«

»Hier bleiben, ganz allein? Nein, mein Kind; versprich mir, das nicht zu thun – ich bitte Dich, ich befehle es Dir, auch wenn Dir die Mittel dazu geboten würden. Ich habe Dich in der letzten Zeit beobachtet, das Alleinsein hat Gefahr für Dich. Höre meinen Rath, meinen Wunsch! Gehe nach England zurück; ich bin gewiß, man wird Dich liebevoll aufnehmen. Es ist ja auch nur für einige Jahre; glättet sich später die Angelegenheit mit dem Freiherrn, wird Günthershofen einmal durch den Tod seiner Mutter frei, so bist Du in den Stand gesetzt, zu leben, wo und wie es Dir gefällt, Du wirst unabhängig sein. Ich danke Gott, mein Kind, daß es so gekommen ist.«

Wir sprachen danach wenig mehr; die Mutter nahm meine Hand, ich blieb lange unbeweglich, während es endlich todtenstill im Zimmer geworden war. Noch einmal gelang es mir, alles Andere zu vergessen und nur zu wissen, daß ich bei meiner Mutter sei und ihre warme Hand die meine halte. Am nächsten Morgen war ich allein, die theure Gestalt lag noch da, aber sie gehörte mir nicht mehr – geheimnißvoll hatte sich in der Stille der Nacht etwas derselben entwunden, war mir entflohen – ich kam mir wie betrogen, wie hintergangen vor. Thränen fand ich da nicht, ich saß ganz still; einmal berührte ich das Kopfkissen, um es noch mechanisch zu glätten, ich fuhr zurück, es war eiskalt. Ich konnte, was vorgegangen war, nicht fassen: gestern Abend hatten von diesem Munde noch Worte an mein Ohr geklungen, jetzt war er unbewegt. Erst leise, dann immer heftiger sagte ich wiederholt: »Mutter, sprich, sprich, Mutter, noch einmal, noch ein Wort!« Ich küßte ihre Hand, hauchte darauf, hielt sie zwischen meinen Händen und rieb sie sanft; einmal schien mir's, als sei sie wieder warm, in erstickender Bewegung schaute ich nach dem Antlitz und erkannte meinen Irrthum. Da fiel mir ein, daß man Todten die Augen schließe; mit zitternden Fingern berührte ich ihre kalten, schweren Lider, und damit, mit dem Bewußtsein, daß ich der Mutter nun den letzten Dienst erwiesen, kam erst Leben in meinen Schmerz – mit einem Jammerruf warf ich mich neben dem stillen Lager nieder.

Elftes Kapitel.

»Herbst ist es nun, Stürme des Meeres, die wollen nicht ruhn!« So hatten wir in der rührenden Klage der schönen Ingeborg gelesen. Jetzt wurden wir still, die beiden jungen Mädchen, denen ich die Frithjofssage zum ersten Male vorführte, waren ergriffen von den eben gehörten Worten und schauten beide sinnend ins Feuer, welches vor uns im Kamine brannte. Alles stimmte zu behaglicher Ruhe in meinem Zimmer, wo ich jetzt, nicht mehr wie früher in der »Schulstube«, meinen nun erwachsenen Schülerinnen ihre deutschen Stunden gab. Die Sessel und das niedrige Kanapee, Teppiche, Vorhänge und die Tapeten der Wände waren dunkelfarbig, durch die Glasthür und über die Veranda hinaus sah man auf den winterlichen Park und blickte von dem grauen, windgefegten Himmel nur um so lieber zurück auf die warmen Farben des kleinen Raums und in die prächtig glühenden Kohlen. Lucy stand jetzt von ihrem niedrigen Sitze auf und schaute, die hohe Gestalt leicht nach hinten gebogen, aus dem Fenster, während sie vor dem Feuer stehen blieb. Wie oft sah ich sie jetzt still bewundernd an, sie war gar so schön; in diesem Augenblicke verkörperte sie mir Ingeborg, ein Maler hätte sich kein edleres und lieblicheres Vorbild für die königliche nordische Jungfrau denken können. Und nun richtete sich neben Lucy eine Andere auf, umfaßte sie leicht und blickte in den Spiegel, der dicht vor den beiden über dem Kaminsims sich erhob. Da sah sie, wenig kleiner als die Lucy's, eine dunkle Gestalt und ein bleiches Gesicht, welches, wie es ihr schien, die Jugendfrische der Gefährtin nur mehr hervorhob, und wendete sich leise seufzend ab.

Solche Anwandlungen gekränkter Eitelkeit hatte ich je zuweilen neben der immer prächtiger erblühenden Lucy, nicht ohne daß ich mich ihrer stets geschämt hätte, und das um so mehr, je enger ich in herzlicher Liebe und Anhänglichkeit mit der Familie Gray verbunden wurde. Sie hatten mich empfangen wie eine Tochter, die man längst erwartet; mit dem Takte der Herzensgüte richtete Frau Gray Alles wie für einen beständigen Aufenthalt um mich ein, ich sollte das Haus wie meine Heimat betrachten lernen. Von meinen Verhältnissen hatte ich Einiges fallen lassen, mehr schien die Dame, wie ich mir dachte, von dem Freiherrn erfahren zu haben; es war mir klar, daß man mich zwar für heimatlos, aber nicht für arm und von meiner Arbeit abhängig halte. Es kam mir vor, als überlasse man mir die wenigen Gouvernantenpflichten, welche der Unterricht der Töchter etwa noch forderte, nur um zu verhindern, daß ich mich für unnütz und überflüssig im Hause halte; als ich aber nach einiger Zeit der Mutter meine Scrupel, länger als Erzieherin bei ihr zu fungiren, eröffnete, da die jüngern Kinder eine Gouvernante hatten, bat sie mich so inständig zu bleiben, wußte so viel von dem guten Einfluß zu sagen, den ich auf die Mädchen haben sollte, von ihrer aller Gewöhnung an mich und dergleichen, daß ich mich auf eine Zeit lang wieder beruhigte.

Ich hatte das Haus ziemlich still gefunden bei meiner Rückkehr. John war in seinem ersten Semester zu O., wo er mit Forster, der an der Universitätsbibliothek eine ehrende Anstellung erhalten hatte, zusammen hauste; Roger war auf Reisen. Uns wurde indessen die Zeit nicht lang, wir gingen, ritten und fuhren umher, nähten und lasen und thaten, was jeder Tag verlangte; dabei wurde jedoch viel von den Abwesenden gesprochen und die Zeit leise herbeigesehnt, da man wieder einmal zusammensein würde wie »damals«, das hieß, den ersten Herbst nach meiner Ankunft.

Auch an jenem Nachmittage, da wir der zunehmenden Dunkelheit wegen unser Buch zugeklappt hatten, kam die Rede auf jene Zeit; wir sprachen von Forster, rühmten ihn und tauschten unsere Muthmaßungen über seine künftige Carrière aus, ob er sich ganz in England einleben, einen englischen Hausstand gründen und dazu ein englisches Weib nehmen, oder ob er, wenn eine Amnestie, welche halb und halb erwartet wurde, eintreten sollte, sich der Heimat zuwenden würde. Mit dem den Engländern häufig eigenen Ernst in kleinen Dingen wurden diese Möglichkeiten von den beiden jungen Geschöpfen neben mir gründlich erörtert. Darüber, daß man wisse, er habe von mir eine Zurückweisung erfahren und wie bleich und grämlich er danach umhergegangen sei, hatte ich schon früher vertrauliche Mittheilungen entgegennehmen müssen, jetzt meinte die kleine Blanche wieder: »Ach, wie haben Sie es auch nur thun können, Miß Margareth! Ein so guter Mensch! Ich würde es nicht übers Herz bringen, nein zu einem zu sagen, wenn ich sehen könnte, daß es ihn so sehr kränken würde.«

Ich war nicht aufgelegt, die Sache ernst zu nehmen und dem Kinde auseinander zu setzen, wie dieses Nein unter Umständen die heilige Pflicht eines ehrlichen Mädchens sei, wußte ich doch auch, daß sie nicht so einfältig sei, wie sie sich oft zu stellen liebte. Von der Schwester wurde sie wegen ihrer etwas weitgehenden Gutherzigkeit geneckt, und vielleicht um eine kleine Rache auszuüben, sagte sie leichthin: »Und wann kommt der Freiherr, Lucy? Hat er es Dir im letzten Briefe nicht mitgetheilt?«

Ich fühlte plötzlich die Nothwendigkeit, mich niederzusetzen; die Schwäche, welche ich weder vor noch nachher empfunden zu haben mich erinnere, mochte in den jüngsten traurigen Vorgängen zum Theil ihren Grund haben. Doch bemerkten die Mädchen nicht, daß Blanche, gegen ihren Willen, die Schwester mit ihrer kleinen Malice weit weniger getroffen hatte als mich; Lucy hob den schönen blonden Kopf langsam in die Höhe und sagte gleichmüthig: »Herr von Günthershofen schrieb mir, wie Du weißt, vor einem Monat zuletzt aus Südfrankreich und meinte, es wäre möglich, daß er Weihnachten bei uns zubrächte.«

»Und Du hast ihn in Deiner Antwort gebeten, sich durch nichts abhalten zu lassen«, fuhr die ungezogene Jüngere beharrlich fort.

»Nein«, sagte Lucy, die nicht aus der Fassung zu bringen war, mit einem schalkhaften Ernst, der sie zum Entzücken kleidete, »nein, das würde sich schlecht schicken; aber er weiß, daß wir uns alle freuen, wenn er kommt. Auch Sie haben Frieden gemacht, nicht wahr?« fragte sie mich, indem sie sich zu mir neigte und meine Hände zwischen ihre schlanken Finger nahm. »Gewiß«, erwiderte ich. »Und so ist es Ihnen nicht unangenehm, hier mit ihm zusammenzutreffen?« Ich antwortete, indem sich mir das Herz schmerzlich zusammenzog, mir wurde bang bei der Aussicht auf eine Zeit, da ich jeden Tag bittere Schmerzen zu leiden haben würde, ich fürchtete mich davor, wie man sich vor dem Zahnweh fürchtet.

Noch spät, als ich mich nach dem Abendessen auf mein Zimmer zurückgezogen hatte, saß ich vor dem Feuer und suchte mir klar zu werden, ob es nicht zu feig für eine Günthershofen sein würde, denn mein Geschlecht legte mir, wie ich damals glaubte, noch ganz besondere Verpflichtungen der Selbstzucht auf, wenn ich all der Pein, die mir bevorstand, auf gute Art zu entkommen suchte. Die Aeltern von Frau Gray, zwei liebenswürdige, sehr alte Leute, hatten mich wiederholt zu sich eingeladen, ich konnte den durch meinen Verlust sehr gerechtfertigten Wunsch nach einer Ruhe aussprechen, die für die kommenden Wochen im Hause nicht zu erwarten stand, und dort, fern im Norden Englands, eine stille Festzeit verleben. Aber eins ließ ich bei diesem Plane außer Acht, meine große Sehnsucht, den Freiherrn zu sehen, und wäre es auch nur auf wenige Augenblicke jeden Tag, und seine liebe Stimme zu hören. Das Verlangen nach ihm wurde denn auch immer mächtiger, je näher die Zeit heranrückte, in welcher wir seine Ankunft erwarten durften, die er inzwischen mit Bestimmtheit angesagt hatte; nach meiner damaligen verschrobenen Art zu denken aber wurde gerade dies Verlangen der Beweggrund für mich, meinen Fluchtplan immer ernstlicher ins Auge zu fassen. »Es ist eine Schwäche« – das war der Name, den ich gern jeder natürlichen Regung beilegte – »und ihr nicht nachzugeben bist du dir schuldig«; so sagte ich zu mir selber, und bedachte ich nun erst, wie ich auch das fröhliche Gesicht John's und Roger's freundlichen Ernst entbehren sollte und all die vielen behaglichen Scenen des köstlichen weihnachtlichen Familienlebens, so erschien mir die Reise erst recht als ein verdienstlicher Act der Selbstüberwindung.

Ich klopfte denn auch eines Tages an das Zimmer der Frau Gray, in der Absicht, ihr meinen Wunsch mitzutheilen. Die liebe Frau saß am Schreibtisch, beschäftigt mit der Expedition einer Anzahl jener Billets haushaltlichen Inhalts, deren die englische Hausfrau so viele schreibt, da der nothwendige Verkehr mit dem Fleischer, Krämer und Gemüsehändler größtentheils ein schriftlicher ist. Ihre anmuthige Erscheinung ist mir gerade von jenem Tage besonders im Gedächtniß geblieben. Die stattliche Höhe, das noch immer schöne und reiche, von vielen Silberfäden durchzogene Haar um ein liebenswürdiges, etwas scharfes Gesicht, dem man die frühere Schönheit ansah, die sichern, ruhigen Bewegungen, die gewinnende Art zu sprechen, alles das machte sie würdig und geschickt, an der Spitze einer so harmonisch entwickelten Familie zu stehen, als Gattin eines echten Gentlemans, als Mutter schöner, kräftiger und braver Söhne und Töchter. Sie sah mir an, daß ich eine Unterredung wünschte, und stand daher sogleich auf, um sich behaglich, auf Alles gefaßt, wie sie lächelnd sagte, am Feuer niederzulassen.

»Nun, mein Kind, was haben Sie vor? Nichts Geringes, das kann man Ihnen abmerken.«

Als ich mein Anliegen vorgebracht und begründet hatte, schüttelte sie den Kopf.

»Jetzt, in dieser Jahreszeit dahinauf – Sie werden krank werden, und dann, gesetzt Sie kämen leidlich hin, dann die Weihnachtszeit in dem einsamen Hause verbringen, bei den Aeltern, die keine Einladungen mehr annehmen und zu denen gewiß in diesem Winterwetter auch kein Mensch kommt, da muß ja eine junge Seele wie Sie melancholisch werden. Und nun erst die Kinder hier! Was sollen die Mädchen ohne Sie anfangen? Und die Jungen, die werden es mir nie verzeihen, wenn ich Sie fortlasse. Sagt doch John in jedem Briefe, wie sehr er sich auf Sie freue, und Roger, der so große Stücke auf Sie hält!«

Sie war lebhaft geworden, jetzt hielt sie nach ihrer Art eine Weile inne und beschränkte dann selber ihre Gründe gegen meine Absicht.

»Ich darf freilich nicht nur an uns denken; wir würden Sie alle sehr vermissen, aber das ist Nebensache. Auch sind ja Blanche und Lucy alt genug, um im Hause selbstständig figuriren zu können, und in Gesellschaft zu Andern kann ich sie begleiten. John würde seine Enttäuschung mit Würde tragen müssen und Roger ist vernünftig genug, um Ihre Gründe zu ehren. Aber Sie selbst, liebe Maggie, sind Sie auch sicher, daß Sie das Rechte wählen? Denken Sie darüber nach, ob es im Sinne Ihrer Mutter gehandelt ist, wenn Sie sich von Freunden, von unschuldigen Familienfesten zurückziehen, um nur Ihren traurigen Erinnerungen zu leben.«

In dem liebevollsten Tone fuhr sie fort mir abzurathen, während ich schwieg und meine Lüge immer peinlicher, immer entwürdigender empfand. Ich konnte es zuletzt nicht mehr ertragen, stumm dazusitzen und mit sanftem Vorwurf, dem sich eine gewisse Anerkennung beimischte, mich von meinem Vorhaben abmahnen zu lassen, ich war auf dem Punkte, der mütterlichen Freundin Alles zu gestehen, ihr zu sagen, daß, so viel und so sehnlich ich auch immer an meine Mutter denke, der Schmerz um ihren Verlust nicht der Grund sei, weshalb ich das Leben hier für die kommenden Wochen so sehr fürchte, da störte uns irgend ein geringfügiger Vorfall, ein Dienstbote mit einer Frage, soviel ich mich erinnere, und als wir wieder allein waren, konnte ich die Worte nicht finden, die mir zuvor auf der Zunge geschwebt hatten. Wir verharrten eine Weile schweigend, bis Frau Gray sagte: »Wenn Sie bei Ihrem Wunsche bleiben, Maggie, so steht es mir nicht an, Sie zurückhalten zu wollen, nur werde ich Ihnen keinen sehr langen Urlaub bewilligen, denn ich halte mich für Ihre leibliche und geistige Gesundheit doch einigermaßen verantwortlich, obgleich unser Gesetz Sie für mündig erklärt. Einer von den Jungen soll Sie gleich nach Neujahr wieder hierher holen; Sie versprechen mir dann zu kommen.« Ich schlug zögernd ein, sie zog mich an sich und küßte mich. »Kind«, sagte sie, wieder Kind, wie der Freiherr schon damals mich genannt hatte. Mich peinigte das, so sehr mich die Güte der liebenswürdigen Frau rührte; fast wie der thörichte Tannenbaum im Andersen'schen Märchen, der nur wachsen will, sehnte ich mich danach, alt zu werden, um endlich einmal in der Welt für voll zu gelten.

Der Widerstand der Dame meinem Vorhaben gegenüber war Kinderspiel gewesen gegen den Sturm, den Lucy und Blanche dagegen erhoben; für nicht viel abenteuerlicher und absonderlicher als die projectirte Reise hätten sie es gehalten, wenn ich einen Zug nach Island gegen die Nebelriesen hätte unternehmen wollen. Uebrigens waren sie wirklich betrübt darüber, daß ich sie verlassen wollte, und das dauerte mich; ich kam mir zuletzt recht selbstsüchtig vor bei dem eigensinnigen Durchführen einer Maßregel, mit der ich doch nur mir selber Schmerzen ersparen wollte, welche schon so Viele haben ertragen müssen. Aber ich mußte fort, die leise Reue half nichts; traurig sagte ich dem Hause, dessen Fenster wohnlich schimmerten, um das die immergrünen Stechpalmenhecken freundlich standen, sagte dem leeren Park, der trauten Gegend auf einige Wochen Lebewohl.

Lucy fuhr mich selber nach dem Bahnhofe, obwohl sie noch ein wenig mit mir schmollte. »Wissen Sie«, sagte sie, nachdem wir einen Theil des Weges schweigend zurückgelegt hatten, plötzlich, »wissen Sie, daß ich die ganze Zeit bei mir gedacht habe, Sie gehen doch nur Ihrem Vetter aus dem Wege?« Sie sah mich dabei mit den großen Augen forschend an; zum Glück hatte die scharfe Luft, wie ich hoffen durfte, mein Gesicht schon geröthet, so mochte das Blut, was ich mir in die Wangen steigen fühlte, sich nicht weiter bemerklich machen. Im beruhigenden Bewußtsein dieses günstigen Umstandes vermochte ich denn auch bald gleichgültig zu fragen, wie sie darauf komme.

»Das will ich Ihnen sagen«, entgegnete sie und entwickelte nun ihre Gründe mit der Klarheit, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. »Einen Mann wie Ihren Vetter kann man nicht so einfach nicht leiden können; entweder man hat ihn, an Ihrer Stelle natürlich, gern, schon weil er ein Verwandter, und hat ihn sehr gern, weil er ein überlegener, besonderer Mann ist, oder man sieht ihn ganz und gar mit feindlichen Augen an, denn nur so kann er einem mißfallen, und dazu gehört ein sehr triftiger Grund. Es steht etwas zwischen Ihnen beiden, das hab' ich damals gemerkt, darum ist Ihnen seine Nähe unangenehm.«

Ja, Lucy mit ihrer Annahme, die für eine junge Dame recht scharfsinnig war, hatte einmal Recht gehabt, aber jetzt, wie anders war es jetzt!

»Sie wollen es nicht eingestehen«, meinte sie, als ich nachdenklich schwieg.

»Nein«, sagte ich mit einiger Hast, »ich habe nichts zu verhehlen. Früher waren Familienverhältnisse die Ursache, daß ich dem Vetter, der übrigens eigentlich gar nicht mit mir verwandt ist und den ich nur der Bequemlichkeit halber so nenne, allerdings nicht freundlich gesinnt war, jetzt hat sich Alles aufgeklärt und wir stehen so gut mit einander, wie man es verlangen kann. Es freut mich, daß Dir der Freiherr so gut gefällt, Lucy« – hier machte ich eine Kunstpause – »daran kannst Du sehen, daß ich ihm wohlwill.«

»Was kann es für ihn ausmachen, ob er mir gefällt oder nicht«, sagte sie gleichmüthig; sie hatte sich entweder sehr in der Gewalt oder sie empfand bei der Nennung seines Namens nicht das, was ich meiner überklugen Hypothese nach erwartete.

»Leben Sie wohl, Sie deutsche Wassernixe«, sagte sie, als ich schon im Coupé saß und sie mich leicht und mit Grazie küßte.

»Was soll das nun wieder heißen, Lucy?«

»Nun, Sie sind wie die Frauen im Märchen, die hatten unter ihren Kleidern einen Fischschwanz und außerdem kein Herz.«

»Ich danke für den Vergleich, schöne Ingeborg.«

Sie lachte und gab mir die Hand. »Aber so eine Undine kann unter Umständen ein Herz bekommen«, flüsterte sie noch. »Sie haben die Geschichte gelesen und gehen der Gefahr aus dem Wege.«

Damit ging das seltsame Mädchen und ließ mich in der nicht eben beneidenswerthen Stimmung derjenigen, welchen eben eine Ahnung aufgeht, daß sie in einem recht dummen Streich begriffen sind, während sie meinten, einen erhabenen Sieg über sich selbst davonzutragen.

Zwölftes Kapitel.

Der erfahrene Leser wird, wenn er meiner Geschichte bis hierher freundlich und geduldig gefolgt ist, sich nun nachgerade bei derselben des beruhigenden Gefühls erfreuen: es muß jetzt bald zu Ende gehen, wir werden nun bald erfahren, ob – immer vorausgesetzt natürlich, daß er nicht schon längst, nach wohl zu entschuldigender Gewohnheit, das letzte Blatt des letzten Kapitels vorweg gelesen hat und das, was sich nun noch ereignen mag, mit behaglicher Ruhe an sich herankommen läßt. Wie weit aber sind die handelnden Personen der kleinen Welt, in die ihm der Autor den Blick eröffnet, gerade zu der Zeit, wo sich ihnen unbewußt die Krisis herannaht, von jener köstlichen Ruhe entfernt, die der Leser besonders dann genießt, wenn er sich durch den eben angedeuteten kleinen Kunstgriff zur Höhe der Vorsehung jenes Weltfragments erhoben hat! Ich dachte damals, als ich in den trüben, kurzen Wintertag hineinfuhr, an alles Andere eher, als daß nun bald eine Wendung und gar eine glückliche in meinem Schicksale eintreten müsse. Mir war es im Gegentheil, als stehe ich am Anfange eines langen, geraden, trübseligen Weges, auf welchem mir rauhe Winde ins Antlitz wehen würden, gegen die ich mich keines Schutzes zu gewärtigen hätte. Du wirst es tragen müssen, sagte ich zu mir selber, daß von vielen nun kommenden Tagen dir ein jeder des Morgens seine Last von Weh aufbürdet, die bis zum Abend getragen sein will, und es ist nur gut, daß die Zeit – denn so klug oder so altklug war ich damals schon, der Zeit auch etwas zuzutrauen – daß die Zeit diese Bürde allmälig leichter machen wird. Uebrigens verhinderte dieser Ansatz zu einer philosophischen Anschauung meines Schicksals mich durchaus nicht, viele Thränen in mein Taschentuch hinein zu weinen, sodaß ich mich gegen Ende des Weges nur schwer zu einer ruhigen Miene fassen konnte. Der Zwang dauerte aber nicht länger, als bis ich, hinter dem alten Diener sitzend, der mich von der letzten Station abgeholt hatte, durch die Wiesengelände der Besitzung und zuletzt auf Kieswegen in den eigentlichen Garten eingefahren war. Hier war Alles so abgeschlossen, so friedlich, fast traurig anzusehen, daß mir die Last vom Herzen gleichsam wegthaute; ich empfand den Genuß – er wird einem nicht eben häufig zu Theil – mich in einer mit meiner Stimmung harmonirenden Umgebung zu befinden, freilich ohne mir, wie ich es jetzt bin, über den Grund dieses melancholischen Behagens klar zu sein. Es war Anfang December und die Luft auffallend mild und frühlingsartig; die immergrünen Sträucher im Garten, die hohen Tannengruppen, welche der bleiche Mond dann und wann, wenn ihn die rasch dahinziehenden Wolken auf Augenblicke frei ließen, matt beleuchtete, verhinderten den Anstrich winterlicher Oede, welchen die freien Felder draußen hatten; wie gefeit erschien die nächste Umgebung des Hauses und das Haus selbst wie der Sitz der gütigen Wundermächte. Im Stil des Zeitalters der Elisabeth gebaut, spitz und vielgieblig, mit schmalen Fenstern in der langen Mauerfläche, war es auf einer Seite ganz mit Epheu überzogen; aus dem Bogen des mittlern Eingangs fiel gastliches Licht auf den Rasen draußen. So steht es mir noch immer, wie Kindern ein Märchenschloß, von eigenem Zauber umweht, im Gedächtniß.

Spät am Abend noch, ganz ausnahmsweise spät für sie, wie mir die alte Dame freundlich sagte, saß ich zwischen den lieben Leuten am Feuer und erzählte, erzählte alles Mögliche von Goldwell-House, von dem Befinden eines Jeden, von Menschen und Thieren bis zu den Katzen hinab und bewunderte das rege, gern eingreifende Interesse, mit welchem besonders die Großmutter dem Leben dort folgte, das vortreffliche Gedächtniß und die scharfe Beobachtungsgabe, welche sie dabei unterstützten. Bis auf vierzehn Tage vor meiner Abreise wußte sie so ziemlich Alles, was sich dort von wichtigen und unwichtigen Dingen zugetragen, da sie von Tochter und Enkeln regelmäßig und in kurzen Zwischenräumen Briefe erhielt. Aber es sei doch einmal etwas ganz Anderes, erzählt zu bekommen, und ich erzähle so hübsch, meinte sie. Uebrigens wechselten wir nachgehends die Rollen und dabei stand ich mich besonders gut; der alte Herr war der Repräsentant einer in ihrer Reinheit immer mehr verschwindenden ehrenwerthen Gattung des altenglischen, auf dem Lande lebenden Grundbesitzers, innig verwachsen mit den Angelegenheiten der Landschaft, die er seit Jahren im Parlament vertrat, wohl bewandert in den oft romantischen Geschichten der in der Nähe begüterten Adelsgeschlechter und sonstigen Honoratioren, dazu unerschöpflich an Jagdanekdoten und nebenbei treu anhänglich den literarischen Koryphäen der Periode, in welche seine Jugend gefallen, im Ganzen tüchtig gebildet und weit freisinniger, als es die Klasse, zu der er gehörte, zu sein pflegt – man konnte sich keinen bessern Gesellschafter in langen Winterabenden wünschen. Es ist mir erst in spätern Jahren, als der gute Herr lange todt war, ja, als ich selber anfing, mich für eine alternde Frau zu halten, klar geworden, was seine Lebensanschauung auszeichnete, was ihr eine erquickende, beruhigende Klarheit verlieh, was das warme Licht über all die Scenen ausgoß, welche er schilderte, sodaß sie zu köstlich vollendeten Bildern wurden – es war ein Strahl von Humor, von dem echten Humor, der einige seiner Landsleute groß gemacht, von der Weisheit, welche die Welt liebevoll nimmt, wie sie ist, ohne sie etwa für vortrefflich zu halten, etwas von dem Bewußtsein des nicht zu lösenden Widerspruchs, der in den Erscheinungen zu Tage kommt. Seiner sonst so praktischen Gattin fehlten diese Gaben gänzlich; sie hatte große Reformationsgelüste und hielt dafür, daß es einigen klugen Leuten vorbehalten sei, die Welt von Grund aus zu verbessern. Beide aber hatten sich, trotz bedenklicher Verschiedenheiten in den Charakteren, so in einander gelebt, daß es eine Lust war, sie zu beobachten.

Fast dünkt mich, als hätte ich hier in meiner Erzählung einen Fehler begangen, indem ich durch diese objective Beurtheilung meiner beiden liebenswürdigen Wirthe von vornherein beim Leser jeden Hauch der Stimmung verscheucht habe, die mich doch während meines Aufenthalts in Eldhall fast durchgängig beherrschte und welche ich durch den Vergleich des Hauses mit einem verzauberten Schlosse anzudeuten gesucht. Mein ungestörtes Zusammensein mit dem Herrn und der Frau vom Hause beschränkte sich nämlich, die Hauptmahlzeit etwa noch ausgenommen, auf die Abende, welche freilich einen ansehnlichen Theil der trüben Wintertage einnahmen; am Morgen und frühen Nachmittag war ich meist allein, wie ich es mir wünschte, und diesen Stunden schrankenloser Träumerei hielt die Zeit des heitern Zusammenseins um so weniger das Gleichgewicht, als die Geschichten des alten Herrn gar oft dazu angethan waren, meine Stimmung zu nähren. Ich versenkte mich gern in das Gefühl der Abgeschiedenheit des Ortes, an dem ich mich befand, und hätte gewünscht mir einbilden zu dürfen, es würde stets so bleiben und wir von allem Verkehr auf immer abgeschnitten sein. In dem altmodischen Garten zwischen hohen Hecken ging ich umher, auch wohl ein Stück in die Wiesen hinein, welche uns rings umgaben, hier und da von Gehölz, den Resten eines alten, großen Waldes, unterbrochen, wo sich Brombeerranken um die Stämme zogen, an denen braungrüne, scheinbar lebende Blätter noch hingen, und wo es üppiges Moos und feuchtglänzende Epheublätter in Menge gab. Das Alles hatte freilich ein Ende, als nach plötzlichem Umschlag des lauen Wetters zu scharfem Froste ein heftiger Schneefall eintrat, der das Hinausgehen unmöglich machte. Da saß ich denn viel für mich und es fehlte mir zu dem trauernden, einsamen Fräulein der Märchen nicht einmal das Thurmgemach. Das Gebäude erfreute sich nämlich eines hervorspringenden Erkers gerade an der Seite, wo der Garten sich terrassenartig hinabsenkte, sodaß man unterhalb in eine Art Tiefe blickte, und mir hatte man das Erkerzimmer eingeräumt, zu dem nur leider keine Wendeltreppe führte. Jetzt nach Jahren kann ich über das Schmerzbehagen lächeln, mit welchem ich damals hinaus in den Schnee nach den Krähen blickte, welche um die meinem Fenster nahen Spitzen der aus der Tiefe ragenden Föhren flogen, kann darüber lächeln, daß mir dies Zimmer für eine wehmüthig resignirte Stimmung, in die ich mich gern versetzte, fast unentbehrlich war; jetzt vermag ich aber auch diese wunderlichen Arabesken von dem wirklichen Grame, der leise nagenden Sehnsucht, die sie hervorbrachte, zu sondern, darf mir das Zeugniß geben, daß ich wirklich und ehrlich litt, nicht nur phantastisch mit dem Gefühle spielte.

Mit der tiefen Einsamkeit übrigens, die mir so sehr zusagte, hatte es ein Ende, sobald der Schnee rings zu Wegen und Stegen sich geebnet hatte und schönes klares Wetter eingetreten war. Da sprachen die benachbarten Grundbesitzer häufig nach der Jagd bei uns ein und fanden gastlichen Empfang; sogar die jüngern Sprößlinge hochadliger Häuser verkehrten auf diese Weise ganz freundschaftlich in Eldhall. Sie kamen, wie die alte Haushälterin augenzwinkernd behauptete, jetzt öfter als sonst; die Kunde, es sei eine junge Dame aus Goldwell-House da, mochte sie anlocken, denn jeder dachte dabei gleich an die schöne Lucy, welche die Großältern nicht selten besuchte; ich muß es den meist stattlichen, liebenswürdigen jungen Leuten nachsagen, daß sie ihre Enttäuschung, nur mich zu finden, mit gutem Anstand verhehlten. Außer diesen Besuchen und noch mehr als sie bildeten die Briefe aus Goldwell-House Ereignisse in unserm Leben, wahre Chroniken im Ganzen, die einzelnen aber doch immer ziemlich kurz; unsere Correspondenten, zu denen sogar die ältesten der »Kleinen« schon gehörten, vertheilten den zu bewältigenden Stoff gewissenhaft unter einander und eine Epistel ergänzte die andere. Da hörten wir, wie die jungen Leute angekommen waren, einer nach dem andern, auch Forster unter ihnen. »Er fragte gleich, nachdem er sich gesetzt hatte, wo denn Fräulein Margarethe sei«, schrieb klein Annie mit zolllangen Kinderbuchstaben; meinen Brief mit der Erklärung hatte er unbeantwortet gelassen, ich wußte nicht, was ich davon denken sollte. Von John lief bald darauf ein acht Seiten langes Billet an mich ein, in welchem er im Tone erhabenen Unwillens die Freuden schilderte, welche ich durch meine Einsamkeitsmanie entbehre, und ein anderes an die Großmutter, worin er sie bei allem Möglichen beschwor, mich auf der Stelle fortzuschicken; die Gesellschaft wurde uns beschrieben, welche sich am Weihnachtsabend im Gray'schen Hause zusammengefunden. Von Blanche erhielten wir Bericht darüber, was eine jede junge Dame »angehabt«, sie und Lucy eingeschlossen; daß Lucy sehr gefallen, hörten wir aus derselben Quelle. Lucy selbst ließ sich herab, der Großmutter eine ausführliche Beschreibung der Pfänderspiele jenes Abends zu liefern und der Ereignisse, die sich dabei zugetragen. Frau Gray erzählte von ihren Arrangements zum Empfang der Gäste, wobei sich mancher Wink der alten Dame trefflich bewährt hatte. Dann folgten in kurzen Zwischenräumen Bulletins über eine ganze Serie von Vergnügungen, kurz, wir erhielten wie durch eine magische Laterne Einblicke in ein buntes, fröhliches Treiben, welches sich aber zu unerhörten Festlichkeiten zu steigern versprach, da nach Blanche's immer häufigern geheimnißvollen Andeutungen eine Verlobung in der Familie, Verrath im Lager, wie sie's ausdrückte, nahe bevorstand. Dabei wurde immer dringender auf meinem Kommen bestanden; von meiner Verabredung mit ihrer Mutter, wonach ich bleiben sollte, bis man mich abhole, schienen die jungen Leute nichts zu wissen. Und bei alledem kein Wort vom Freiherrn! Daß auf Lucy's Verlobung angespielt werde, bezweifelte auch die Großmutter nicht; ich war im innersten Herzen überzeugt, er wünsche sie sich zu erwerben. Wo aber blieb er? War er schon längst in Goldwell-House, wo man ihn doch erwartet hatte, und man verschwieg absichtlich seine Ankunft? Mir wurde bei dieser Ungewißheit bald unerträglich zu Muthe; ich hatte geglaubt, die Nachricht von seiner Verständigung mit Lucy hier, wo ich sicher war, nicht auf unbequeme Art beobachtet zu werden, ziemlich ruhig hinnehmen und mit mir selber im Stillen fertig werden zu können. Auf diese Spannung hatte ich nicht gerechnet; es erwuchs daraus ein Zustand der Qual, wie ich ihn zuvor kaum für möglich gehalten hätte, und doch wagte ich nicht, ein Ende zu machen, indem ich mir von Blanche, wie ich wohl gekonnt hätte, im Vertrauen eine Erklärung erbat. Dazu fiel mir endlich die Gleichgültigkeit der Großmutter gegen die Sache auf. Hatte sie von ihrer Tochter Nachricht erhalten, ohne daß ich's wußte? War man übereingekommen, aus irgendwelchen Gründen die bevorstehende Verlobung vorläufig vor mir geheim zu halten? Ich klammerte mich an dieser ungereimten Voraussetzung fest und sie störte mein bisher so gutes Verhältniß zu der alten Dame; dieselbe kam mir plötzlich herrisch und kalt vor. Wahrscheinlich ging von ihr der Plan aus, mir nichts zu sagen, bis alles im Reinen war; die Andern hätten daran nicht gedacht, sie aber spielte ja so gern die Vorsehung; gewiß redete sie sich noch dazu ein, es geschehe Alles zu meinem Besten. Ich konnte in ihrer Gegenwart nicht mehr frei wie sonst sprechen, denn immer kam es mir vor, als würde die Unterhaltung von ihr geschickt um unsichtbare Klippen herumgesteuert; die Unbefangenheit des alten Herrn dagegen wurde unter diesen Umständen eine Wohlthat für mich. Ich schloß mich ihm auch immer enger an, ich las ihm vor und ging und ritt mit ihm herum, und wir waren so gute Freunde, daß seine Gattin gutmüthig genug über meine Neigung zu ältern Herrn spottete, worin ich dann sogleich einen gewissen Bezug entdeckte. Seine Erzählungen aus längstvergangener Zeit, von Leiden und Freuden, über die »schon lange Gras gewachsen war«, vermochten auch am ehesten den Geist der Ruhelosigkeit zu bannen, der mich quälte. War ich aber allein, dann machten sich bei mir die Personen aus seinen Geschichten den Rang streitig mit denen der Wirklichkeit, von welchen ich fern lebte, ja sie wurden wirklicher, körperlicher als jene, welche seltsam erblaßten und zurückwichen; ich war wieder einmal die Beute meiner Phantasie, einer Phantasie, die, ohne Gestaltungskraft nach außen, stets, bald zum Heil und bald zum Unheil, große Macht über mich besessen. Jetzt erwies sie mir die zweifelhafte Wohlthat, die Pein, welche ich fühlte, nach und nach in einen dumpfen, traumartigen Schmerz zu verwandeln; ich empfand sie nur als ein dunkles Etwas, welches über mir lag und woran die Trauer um den schönen jungen Lord, den vor fünfzig Jahren sein eigener Vater im Gehölz in der Nähe nach wüthendem Wortwechsel erschossen, weil er von einer armen Braut nicht lassen wollte, so viel Antheil haben mochte als etwas Anderes. Ich trug meine trübselige, beängstigende Gedankenwelt gern hinaus, um sie los zu werden, ich machte weite Gänge, ich wollte das Draußen auf mich wirken lassen, aber das half wenig, die Gegend erschien mir öde, die Menschen hatten traurige Gesichter.

Als ich einst von einer solchen unerquicklichen Streiferei zurückkehrte, da es schon dämmerte, stand die Haushälterin mit wichtiger Miene in der Thür. »Es ist Jemand da, Fräulein«, begann sie diplomatisch die feierlichen Eröffnungen, welche sie vorhaben mochte. »So«, sagte ich gleichmüthig und wollte an ihr vorüber. »Ja, aber ein fremder Herr, er kommt von Goldwell-House.« Ich begann zu zittern und lehnte mich leicht an den Thürflügel. »Ich glaube, er bringt gute Nachrichten«, fuhr sie fort; war sie von der Herrin, die ihr viel Vertrauen schenkte, angewiesen worden, mir die Sache beizubringen, und hier, in der Hausthür? Dagegen rebellirte ich innerlich, ich wendete mich und ging mit einem kühlen Wort nach meinem Zimmer. Die Alte folgte mir und trat mit ein, um nach dem Feuer zu sehen.

»Fräulein werden sich anziehen wollen und es ist ganz kalt hier! – Ich glaube, der Herr ist ein Landsmann von Ihnen; er spricht wie Sie, auch sehr gut, aber man hört doch, daß er ein Fremder ist. – So, nun brennt's wieder, nun will ich geschwind noch etwas zum Thee backen.«

Also Forster einmal wieder; er kam, um mich zu holen; er brachte die Nachricht von Lucy's Verlobung; ich würde mit ihm unterwegs über das Ereigniß zu sprechen haben. Wie zartfühlend, gerade ihn zu schicken – ich hörte mich plötzlich laut lachen und erschrak vor der eigenen Stimme. Was ich bisher gelitten, war Kinderspiel, jetzt erst kam die ganze Wucht auf mich nieder; mir war, als schlüge mir ein heißer Brodem entgegen aus einem Orte der Qual und ich müsse hinein, hindurch. Scheu, als stände das Unglück körperlich hinter mir, sank ich in die Kniee und faltete angstvoll die Hände, aber ich konnte nicht beten, weil ich wußte, daß kein Gott den Menschen das Leid ersparen kann, was sie sich selber einer dem andern bereiten. »Das thut er mir«, dachte ich bitter, »und ich habe ihn doch so lieb, so lieb!« Daß es gerade die ungerufene Liebe sei, die mir Schmerz mache, hätte ich mir vernünftigerweise sagen müssen, aber ich war nicht vernünftig, sondern unglücklich. So elend, wie ich niedergekniet war, stand oder fuhr ich wieder auf; es war ja Alles eins, ich mußte die kommende Zeit durchleben, wenn es nur geschwind, geschwind gehen wollte. Hastig schritt ich auf meine Kommode zu und zog ein Fach heraus, dann stand ich da und besann mich, was ich hatte herausnehmen wollen; lange konnte ich nicht darauf kommen, was ich eigentlich zu thun im Begriff gewesen sei. Da ging unten eine Thür und nun fiel mir ein, daß ich hinunter müsse; mit unsaglichem Ekel nahm ich eine Schleife und befestigte sie im Haar. »Auch das noch, auch die Mühe noch zu den Schmerzen! Wäre ich doch todt!« dachte ich dabei.

Als ich ins Speisezimmer trat, fand ich es nur vom ungewissen Feuerschein erleuchtet, man hatte Dämmerstunde gehalten, das aber konnte ich erkennen, daß die Gestalt, welche sich von dem niedrigen Sitze neben dem Kamin zu stattlicher Höhe aufrichtete, nicht die Forster's sei; wie im Traume hörte ich mich von einer tiefen Stimme in gedämpftem Tone, der zu dem Dämmerlichte paßte, als liebe Margarethe begrüßt und fühlte einen Händedruck, bei dem mich eine Wonne durchfuhr, wie ich sie nie zuvor empfunden; die Last war vom Herzen verschwunden, er war da, in seiner Nähe war Ruhe und Glück. Nach wenigen Augenblicken freilich, als die Lichter angesteckt worden waren und der Freiherr und ich uns officiell begrüßt hatten, kehrte mir das Bewußtsein von dem Zwecke seiner Reise zurück, die ich mir leicht deuten konnte; er wollte sich den Großältern als künftigen Gatten der ältesten Enkelin vorstellen und nebenbei mich nach Hause zurückgeleiten, damit ich den Verlobungsfeierlichkeiten beiwohne. Seltsamerweise aber wollte mich trotzdem das Gefühl der innerlich erwärmenden Freude nicht verlassen. »Ich werde doch einen ganzen Tag mit ihm zusammen sein dürfen«, dachte ich; »er wird neben mir sitzen und zu mir sprechen; bin ich doch seiner Sorge für diesen Tag anvertraut, bin für diesen einen Tag noch ein Etwas in seinen Gedanken. Nachher komme, was da will; und müßte ich ihn mit meinem Leben erkaufen, ich gäbe den morgenden Tag nicht hin. Ja, könnte ich nur den nächsten Morgen sterben, das würde bei weitem das Beste sein.« Unter solchen Gedanken wagte ich doch nur dann und wann nach dem Freiherrn hinüberzublicken und dann fand ich mehrmals seine Augen auf mir ruhen und freundlich aufleuchten, sobald sie den meinen begegneten. Er war glücklich, wie gut ihm das stand; gleichviel, weshalb er es war, und wenn auch nicht um meinetwillen, und was konnte er, was konnte ich dazu, daß ich ihn gar, gar so lieb hatte! Ich fühlte in manchen Augenblicken an jenem Abend den Muth, es ihm zu sagen; ob mir derselbe Stich gehalten hätte, wenn mir eine Gelegenheit des Alleinseins mit Herrn Bardolph geworden wäre, weiß ich nicht. Aber eine solche fand sich nicht; man saß bis spät zusammen, denn Wirthe und Gast hatten sich schnell in einander gefunden und die Unterhaltung war lebhaft und besonders heiter. Ich lachte mit über die Scherze des alten Herrn, welcher sehr gut aufgelegt schien, aber mit meinen Gedanken war ich so wenig bei dem, was um mich vorging – nur die Stimme des Freiherrn hallte jedesmal gleichsam in mir wieder, wenn sie sich hören ließ – daß ich keine Erregung empfand bei der Nachricht, Roger habe sich mit einer jungen Dame aus der Nachbarschaft von Goldwell-House verlobt. »Er auch?« sagte ich freundlich, fast mechanisch, ohne daß man viel auf meine Worte Acht gegeben hätte; es kam eben auf unsere Abreise die Rede, welche der Freiherr auf den folgenden Tag ansetzte. Davon wollten die alten Leute nichts hören; der Gast müsse sich erst ein paar Tage bei ihnen erholen, eher könne an Fortgehen nicht gedacht werden; ob mir denn so viel daran liege, sie gleich zu verlassen. Ich! Ich hätte mein Herzblut gegeben für eine Woche hier im stillen Schnee mit dem Bewußtsein, daß Herr Bardolph unter einem Dache mit mir lebe; es beglückte mich schon zu wissen, daß er nicht ohne mich gehen würde. Ich freute mich allemal, wenn er, von mir und sich redend, wir sagte. So war ich seltsamerweise nicht trostlos trotz der Ueberzeugung, ihn auf immer verloren zu haben.

Ehe wir an jenem Abend auseinandergingen – es war über dem Abendessen spät geworden und wir trennten uns gleich, nachdem dasselbe beendet war – fand der Freiherr Gelegenheit, mir, indem er meine Hand mit der ihm eigenen überlegenen Milde faßte, zu sagen: »Sie waren heute Abend sehr still, liebe Margarethe, und sehen nicht wohl aus; mir, Ihrem Vetter, müssen Sie schon erlauben, ein wenig zu controliren. Ich werde Sie morgen in Beschlag nehmen; Sie haben mir Mancherlei zu berichten.«

Dabei sah er mich an, bald aber kam ein Ausdruck der Abwesenheit in seine Augen, bei dem ich plötzlich bittern Schmerz empfand; er blickte gleichsam über mich hinaus in die Ferne. »Wer weiß, an wen er jetzt denkt«, sagte ich zu mir selber; »an dich gewiß nicht«, und ich entzog ihm meine Hand, indem mich zum ersten Mal ein Gefühl der Demüthigung wegen meiner unerwiderten oder vielmehr lange nicht genug erwiderten Liebe überkam; denn daß der Freiherr eine verwandtschaftlich freundliche Neigung zu mir hegte, konnte ich wohl merken. Aber es hielt nicht an; ich schlief an jenem Abend ein, indem mich die süße Erwartung des morgenden Tages, wo ich mit ihm zusammensein würde, wie mit rosigen Flügeln überschattete.

Dreizehntes Kapitel.

»Miß Maggie«, sagte der alte Herr am andern Morgen beim Frühstück zu mir, »Sie müssen heute an unserer Statt dem Herrn Baron die Honneurs der Gegend machen, immer vorausgesetzt natürlich, daß ihm mit einem Spazierritt durch ein Stück Sibirien gedient ist. Ich kann Sie als Cicerone empfehlen; mich dünkt, Sie werden einem so trefflichen Lehrer, wie ich mir schmeichle gewesen zu sein, alle Ehre machen und unserm Gaste von jedem Baume etwas zu erzählen wissen; auch in den Chroniken der Krähenansiedlungen auf Meilen in die Runde sind Sie, denk' ich, nunmehr wohl bewandert. Wollen Sie reiten?«

Ich sah den Freiherrn an, aber er blickte nicht zu mir herüber, was ich ihm sehr übel nahm; er dankte unserm Wirthe und sagte, er habe nichts lieber als einen scharfen Ritt an einem Wintertage. Auf Befragen erzählte er vom Winter in der Heimat, von der Jagd dort, so verschieden von der englischen grausamen Parforcejagd, von dem Wildstand auf seinen Gütern, von diesem und jenem, während ich ungeduldig die Aufhebung der Mahlzeit erwartete und dem Freiherrn fast zürnte, daß ihm so wenig an dem Ritt mit mir gelegen schien, da er denselben durch sein Gespräch verzögerte.

Endlich stand man auf. Ich eilte fort, bestellte die Pferde, war im Nu im Reitkleid wieder unten und hatte die Kränkung, einige lange Minuten auf meinen Begleiter warten zu müssen. So drehte ich mich denn gar nicht um, als er endlich kam und aufstieg; ich war schon im Sattel und deutete, halb zu ihm gewendet, mit der Gerte auf den Weg, welchen wir jenseits des Gartens zu nehmen hatten. Dann ging's fort; ich setzte, als wir endlich die schöne ebene Landstraße erreicht hatten, mein kleines Pferd in scharfen Trott, was den Freiherrn überraschen mochte, denn er war nicht gleich bereit, mir zu folgen, und brachte sein Thier erst nach einigen Minuten neben mich. »So rasch, Fräulein Margarethe?« fragte er lächelnd; ich nickte, der alte Trotz und ein ganz neuer toller Uebermuth überkamen mich.

»Mit dem alten Herrn hab' ich immer bedächtig reiten müssen«, sagte ich; »thun Sie mir das Eine zu Gefallen und lassen Sie uns eine Weile galoppiren.«

Statt aller Antwort gab er seinem Rassepferd den Zügel, und es schoß dahin; ärgerlich über den Vorsprung, den er gewann, brauchte ich die Gerte, riß am Zügel und brachte so mein sonst lammfrommes Rößchen in eine der meinen ähnliche Stimmung; es griff tüchtig aus. Die scharfe klare Luft erhöhte den unbeschreiblichen Reiz der raschen Bewegung; mein Herz hüpfte vor Lust, mit meinem ganzen Wesen, möchte ich sagen, begleitete ich den Takt der matt auf dem festen Schnee hallenden Hufe; ich warf den Kopf zurück und sah mit Entzücken auf die schneebedeckten schimmernden Felder, auf den sie begrenzenden hellblauen Himmel, die sonnenverklärte farbige Nebelschicht am Horizont, die dunkelgrünen Tannengruppen hier und da; freilich die gewöhnlichen, unzählige Male hergenannten Factoren der Winterlandschaft par excellence, aber welcher Duft lag darüber, welches unbeschreibliche Etwas war in der Luft, sodaß sie einen vor Lust fast toll machte. Ich sagte Aehnliches, während wir dahinsausten; die wilde Jagd müsse doch nicht so übel sein und ich für mein Theil möchte so fort reiten bis ans Ende der Welt. »Aber auf Geisterpferden«, sagte Herr von Günthershofen; »Ihr Thier zum Beispiel hält schon bald nicht mehr aus.«

Das war nun allerdings die Wahrheit; das Thierchen ließ nach an Schnelligkeit, trotz Zügel und Gerte, es wäre grausam gewesen, dasselbe ferner anzutreiben. Aber des Freiherrn Bemerkung gefiel mir doch nicht; es war von da an, als stände etwas zwischen uns, ich konnte mich nicht mehr, wie den Abend zuvor, der Freude an seiner Nähe hingeben, seine Art und Weise hatte mich erkältet.

So ritten wir denn vernünftig neben einander, und ich erinnerte mich meiner Verpflichtung, ihm, was ich irgend Bemerkenswerthes von der Landschaft wußte, zu erzählen. Auf die Besitzungen, an denen wir vorbeikamen, machte ich ihn je nach ihrer Merkwürdigkeit aufmerksam; ich nannte ihm den Edelmann aus dem Hofstaate Heinrich's VIII., der dies Schloß gebaut, erzählte ihm, wie Georg IV. häufig jenes mit seinem Besuche beehrt, zeigte ihm das Gut, dessen Herr die besten Rennpferde in der Gegend halte, deutete auf den Hügel abseits im Felde, der aus heidnischer Vorzeit berühmt war, kurz, ich machte mich so nützlich, wie ich konnte, und mein Begleiter bewies durch manche Frage, daß er meinem Texte Aufmerksamkeit schenkte.

Nach einem weiten Rundritt kamen wir wieder auf das Haus zu, ohne von einander nur ein Wort gesagt zu haben. Wir hatten den besten Theil des Tages auf unsern Ritt verwendet; als wir vom Mittagstisch aufstanden, dämmerte es bereits; ein Tag, einer von den drei Tagen, die mir das Schicksal als Geschenk gönnte, war nun schon bald entglitten und hatte nicht gehalten, was er versprochen. Schade, schade darum, dachte ich; aber ich mochte mir nicht eingestehen, wie es zum großen Theil meine Schuld gewesen, daß zwischen dem Freiherrn und mir heute kein freundschaftliches Wort gefallen war. Jetzt nahm ihn der alte Herr in Beschlag, ich schlüpfte hinaus und auf mein Zimmer; da saß ich auf einem niedrigen Schemel neben dem alterthümlichen, geradlehnigen Stuhle, der in der Fensternische stand, lehnte den etwas müden Kopf an das geschnörkelte Holz desselben und schaute durch die Scheiben nach dem schönen, hellen Himmel, an welchem der Vollmond mit der Dunkelheit auf der Erde an Macht gewann. Da hörte ich draußen die Stimmen der Großmutter und des Freiherrn, ohne mir viel dabei zu denken; als es bald darauf an meine Thür klopfte, glaubte ich, die alte Dame würde gutmüthig scheltend eintreten und mich hinunterholen, wie sie häufig that. So sagte ich denn, da sich die Thür öffnete: »Ich komme schon«, noch von dem hellen Himmel geblendet nach dem dunkeln Grund des Zimmers hin. Die eingetretene Person schloß die Thür hinter sich und that auf dem weichen Teppich einige Schritte vorwärts. »Darf ich, liebe Margarethe?« Ich erkannte jetzt erst den Freiherrn. »Die alte Dame, glaub' ich, hat sich entsetzt, indem ich um die Erlaubniß bat, Sie hier aufsuchen zu dürfen; aber was blieb mir Anderes übrig, wenn ich Sie einmal für mich haben wollte? Bin ich draußen mit Ihnen, so wollen Sie mir fortreiten bis ans Ende der Welt – ich muß Sie einmal förmlich belagern, um endlich zu erfahren, wie es Ihnen eigentlich geht.«

Ich bat den Freiherrn, sich niederzulassen, und ging, das Feuer im Kamin zu schüren, welches nun hell aufflackernd seltsame Lichter und Schatten im Zimmer erzeugte; die Fensternische wurde vom hochstehenden Monde vollständig erhellt. Als ich zurückkam, hatte Herr Bardolph sich in den Schatten gesetzt und mir den geschnitzten Sessel so gerückt, daß das Licht voll darauf fiel.

»Setzen Sie sich dahin«, bat er. Ich that es ohne weiteres, wollte mich aber meinerseits dem hellen Strahle entziehen, indem ich den Stuhl leise fortzuschieben versuchte. Er legte die Hand auf die Armlehne. »Thun Sie mir das Eine zu Gefallen und bleiben Sie gerade da, Margarethe«, sagte er dabei mit eigenthümlicher Betonung. Er will mir jetzt von seiner Verlobung erzählen und dabei soll ich im Lichte sitzen und er bleibt im bequemen Schatten? dachte ich und fand die Einrichtung unbillig. Doch ergab ich mich darein und saß, die Hände im Schooße, wie Jemand, der sein Urtheil erwartet. Als ein seltsamer Anfang zu den Erörterungen, denen ich entgegensah, mußte es mir erscheinen, daß der Freiherr abermals meine Hand ergriff und fast ängstlich festhielt, während er sich vorbeugte, aus der schützenden Dunkelheit heraus, sodaß ich sehen konnte, wie sein Gesicht sehr bleich war und eine ihm sonst fremde Spannung darauf zu liegen schien.

»Ich wollte Sie besonders fragen«, begann er, nicht mit dem milden Tone, in dem er sonst immer zu mir gesprochen hatte, sondern hastig und fast rauh, »was Sie mit Ihrer Zukunft eigentlich zu thun gedenken, Margarethe. Wollen Sie immerfort als heimatlose Fremde bei diesen Leuten bleiben, immer gewissermaßen abhängig –«

Er hielt inne; wie tief hatte er mich mit den wenigen Worten verwundet! Ich glaubte sein Motiv zu erkennen, er wollte nicht, daß Jemand, der seinen Namen trug, in einem Verhältniß zu der Familie seiner Braut stände, welches seinen Stolz kränkte. Und war ich nicht – ich empfand das aufs bitterste in jenem Augenblick – war ich nicht auch gewissermaßen von ihm abhängig? Band mich nicht eine Schuld der Dankbarkeit an ihn? War nicht, nach Allem, Schloß Günthershofen doch nur ein Geschenk von ihm? Ich fühlte mich hülflos, heimatlos, namenlos elend, ich schlug die Hände vors Gesicht und sagte tonlos: »Wo wollen Sie, daß ich hingehe? Für mich ist auf der ganzen Welt kein Platz; kein Platz«, wiederholte ich leise, »nirgends, nirgends!«

Da wurden mir die Hände leise von den Augen weggezogen; ich schrak zusammen, als ich das Antlitz des Freiherrn dicht vor mir erblickte; er war von seinem Sitze herab leicht auf ein Knie geglitten, als wolle er mir besser ins Gesicht sehen.

»Was fehlt Ihnen, Margarethe, liebe Margarethe?« sagte er leise und leidenschaftlich. »O daß ich ein Recht hätte, Sie zu fragen, in Sie zu dringen, daß Sie mir Alles sagen müßten! Sie schweigen? Sie haben mir nichts zu erwidern? Und doch will ich weiter fragen, sind Sie doch immer wenigstens offen gegen mich gewesen. Wer ist es, den Sie lieben, Margarethe, der Thor, vor dessen Thür das köstliche Kleinod liegt und er hebt es nicht auf, er ahnt nichts davon; das Kleinod, welches alle seine Tage beseligen würde, welches zu besitzen ich wohl nicht verdiene, nach dem aber schon jahrelang meine Sehnsucht steht?«

Ich war von diesen Worten wie betäubt; während der Schall an mein Ohr drang, vermochte ich den Sinn nicht gleich zu fassen und starrte den Freiherrn fast entsetzt an.

»Wollen Sie mir nichts sagen?« fuhr er in derselben Weise fort. »Natürlich, wer bin ich auch, daß ich ein Recht auf Ihr Geheimniß hätte! Warum mußte mir Forster den Brief zeigen, der mich aus meiner Laßheit aufrüttelte! Aber Sie leiden sehen – o Margarethe, kann ich Ihnen gar nichts zu Liebe thun?«

Ich mußte nun freilich etwas sagen, aber wo waren die Worte, um diese Wirren zu lösen, wie schwer gerade das, was mir zu gestehen oblag, denn daß ich es ihm jetzt gestehen müsse, war der Gedanke, der mich ganz beherrschte. So sprach ich endlich, aber ich wußte kaum, was, die Worte kamen hart und hastig von meinen Lippen, und wenn sie gesprochen waren, mutheten sie mich fremd an und erschreckten mich. Er sei es gewesen, von dem ich in meinem Briefe an Forster gesprochen, ich habe mich in die Idee eingelebt, er liebe Lucy und wünsche sie sich zum Weibe. Der Freiherr stand langsam auf, als ich ausgeredet hatte. »Ich, Margarethe?« sagte er mit seltsamer Ruhe. »Mir ist, als träume ich. Sie sagen mir, daß Sie mich geliebt haben, wie man von vergangenen Geschichten erzählt, und jetzt, jetzt –«

Da überkam mich bei dieser sonderbaren Scene und vielleicht im Vorgefühle des Glückes, das ja doch nahe war, obgleich wir beide uns blind nebenher tasteten, eine wilde Laune, ich sagte fast drohend zu dem Manne vor mir: »Ja, Herr Freiherr, ich liebte Sie damals. Und wenn ich Sie jetzt noch ebenso liebe, nein, viel tausendmal mehr, was geht es Sie an?«

Und nun war der Bann gebrochen, das Glück da. Fast jauchzend hatte der Freiherr meinen Namen gerufen, als wolle er mich aufwecken oder als sei ich fern, ich saß still vor mich hin, ganz eingehüllt in das Gefühl, daß ich nun weiter nichts zu sagen oder zu thun brauche. Er stand vor mir, zog mich zu sich in die Höhe und verschränkte seine Arme fest um mich; dann drückte er mit der einen Hand meinen Kopf sanft gegen seine Brust. »Hier ist Dein Platz, Margarethe, meine Margarethe; seit ich Dich zuerst gesehen, habe ich mich gesehnt, Dein Köpfchen hier betten zu können. Jetzt werd' ich gesunden; mich hat in der letzten Zeit der Wunsch fast verzehrt, Dir nahe sein, Dich hegen und lieben zu dürfen.«

So sprach er leise in mich hinein, während ich still in seinen Armen lag, von einer seligen Ruhe erfüllt. Ich antwortete ihm dann auch, in halblauten Wechselreden gingen wir die Jahre gegenseitigen schmerzlichen Entbehrens durch; in dem sanften Mondlicht klärte sich Alles und zuletzt lag die Zeit, in der wir uns gekannt, hell und schön da, wie ein Blatt, auf dem wir jetzt lesen konnten, daß wir stets zu einander gehört hatten. »Ich habe viel wieder gut zu machen«, sagte mein Bräutigam, indem er mir das Haupt zurückbog und das Haar aus der Stirn strich. »Deine lieben, ernsten Augen, Margarethe, die von keiner frohen Jugend zeugen, scheinen mir immer vorwurfsvoll ins Herz zu blicken.«

»So will ich sie schließen«, entgegnete ich lächelnd. Er küßte mich sanft darauf. »Bald sollst Du sie öffnen auf das Land, nach dem Du Dich oft gesehnt hast, Du sollst Dir von dem Himmel Italiens goldene Lust hineinscheinen lassen. Wann willst Du mein Weib werden, Margarethe?« fragte er mich plötzlich hastig.

»Sobald Du willst, mein Freund«, antwortete ich; »ich gehöre Niemand auf der Welt an als Dir.«


Wenige Wochen nach diesem Abend befand ich mich mit meinem Gemahl in Rom. Dort erhielten wir die überraschende, aber uns herzlich erfreuende Nachricht, daß sich Lucy, die glänzende Lucy, dazu verstehen wolle, meinem gelehrten Landsmann Forster die Sehnsucht nach der Heimat und alle trüben Erinnerungen auf immer vergessen zu machen. So fiel denn von dorther kein Schatten auf unsern Weg, als wir im nächsten Herbste – die Frau von Günthershofen war im Sommer gestorben – in unserm deutschen Schlosse einzogen, und heiter durfte ich die Räume bewohnen, in denen einst meine theure Mutter gewaltet hatte und welche mir wie durch einen Hauch ihrer Gegenwart geheiligt schienen.

Druck von Richard Schmidt in Reudnitz-Leipzig.


Des Hauses Eckstein.

Roman
von
J. von Oben.

3 Bände. 8°. Elegant geheftet. Preis 2 Thlr. 15 Ngr.

Standes-Vorurtheile.

Roman
von
Alfred Steffens.

4 Bände. Elegant geheftet. Preis 3 Thlr.

Der Elephant.

Komischer Roman
von
A. von Winterfeld.

4 Bände. 8°. Elegant geheftet. Preis 3 Thlr.

El paso de las animas.

Roman
von
E. von Bibra.

2 Bände. Elegant geheftet. Preis 1 Thlr. 10 Ngr.

Neue Romane a. d. Verlag von Ernst Julius Günther, Leipzig.

Deutsche Kämpfe.

Roman
von
Levin Schücking.

2 Bände. 8°. Eleg. geheftet. Preis Thlr. 1 15.

Modelle.

Humoristischer Roman
von
A. von Winterfeld.

4 Bände. 8°. Elegant geheftet. Preis 2 Thlr. 20 Ngr.

Mütze und Krone.

Roman
von
Herman Schmid.

5 Bände. Elegant geheftet. Preis 4 Thlr.

Non possumus.

Roman
von
Fr. Hilarius.

3 Bände. 8°. Elegant geheftet. Preis 2 Thlr. 15 Ngr.

Druck von Richard Schmidt in Reudnitz-Leipzig


Hinweise zur Transkription

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua, fett.

Der Text des Originalbuches wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 6:
"." eingefügt
(die zu Thautropfen auf meinen wollenen Rosen bestimmt waren.)

Seite 7:
"indas," geändert in "in das"
(ich eilte in das Zimmer zurück)

Seite 7:
"," eingefügt
(und brach in heftiges Weinen aus,)

Seite 7:
"meine" geändert in "meines"
(keine verrätherischen Spuren meines nächtlichen Treibens)

Seite 15:
"hm" geändert in "ihm"
(Ich habe von ihm noch nicht zu Dir gesprochen)

Seite 18:
"leinem" geändert in "seinem"
(aber in seinem Wesen nicht etwa)

Seite 18:
"Versegenheit" geändert in "Verlegenheit"
(Befangenheit oder gar Verlegenheit)

Seite 20:
"»" eingefügt
(»Recht, Humanität? Das sind sonderbare Worte von Ihrer Seite«)

Seite 26:
"Deinem" geändert in "Deinen"
(Angst und Sorgen um Deinen Vater)

Seite 29:
"begünstiges" geändert in "begünstigtes"
(Kampf gegen offenes, von oben begünstigtes Unrecht)

Seite 48:
"Verhaltnisse" geändert in "Verhältnisse"
(für die staatlichen Verhältnisse meines Vaterlandes)

Seite 51:
"»" eingefügt
(sagte ich, »dann sind Sie auch nicht frei)

Seite 58:
"seinn" geändert in "seinen"
(bald durch seinen klaren Verstand)

Seite 73:
"Rücksichslosigkeit" geändert in "Rücksichtslosigkeit"
(eine Probe Günthershofen'scher Rücksichtslosigkeit)

Seite 77:
"«" eingefügt
(»O bitte, es ist gern geschehn«, erwiderte er hastig)

Seite 83:
"," eingefügt
(der sich zu einer Mittelsperson ganz gut zu eignen scheint,)

Seite 84:
"einen" geändert in "seinen"
(Person des Freiherrn zu, seinem Betragen, seinen Worten)

Seite 84:
"vor, gekommen" geändert in "vor-gekommen"
(mußte ich ihm vorgekommen sein)

Seite 84:
"dagegen-ist" geändert in "dagegen, ist"
(dachte ich dagegen, ist es nicht natürlich)

Seite 100:
"," eingefügt
(fuhr er fort, »und da mir wie Ihnen)

Seite 104:
"," eingefügt
(in eine meiner unglücklichen impulsiven Fragen ausbrechend,)

Seite 114:
"Famile" geändert in "Familie"
(Sie sowie die ganze Familie bewiesen mir)

Seite 121:
"," eingefügt
(sagte ich gleichsam entschuldigend, »und bringe auch)

Seite 129:
"Magarethe" geändert in "Margarethe"
(Du siehst bleich aus, Margarethe)

Seite 130:
"Bürglichen" geändert in "Bürgerlichen"
(daß Du die Gattin eines Bürgerlichen würdest)

Seite 132:
"des" geändert in "das"
(eine ferne Vergangenheit das Hauptthema bildete)

Seite 136:
"wnrde" geändert in "wurde"
(unser Gespräch wurde aber plötzlich)

Seite 137:
"anfgesprungen" geändert in "aufgesprungen"
(in das Holz fest eingefügte Klappe aufgesprungen)

Seite 142:
"»" eingefügt
(»Wie hätte er gegen seine Mutter aufkommen können)

Seite 148:
"Strei," geändert in "Streifen"
(einen blendenden weißgrauen Streifen freigelassen hatten)

Seite 170:
"anzunehmen. »Ich" geändert in "anzunehmen.« Ich"
(etwas von dem Ihren anzunehmen.« Ich schüttelte heftig)

Seite 173:
"," eingefügt
(Ich that es, ich dachte an die Zeit)

Seite 192:
"führlingsartig" geändert in "frühlingsartig"
(die Luft auffallend mild und frühlingsartig)

Seite 199:
"durch durch" geändert in "durch"
(wir erhielten wie durch eine magische Laterne)

Seite 201:
"micht" geändert in "nicht"
(weil er von einer armen Braut nicht lassen wollte)

Seite 205:
"Ichwerde" geändert in "Ich werde"
(Ich werde doch einen ganzen Tag mit ihm zusammen)

Seite 206:
"." eingefügt
(ihn auf immer verloren zu haben.)

Seite 208:
"anf" geändert in "auf"
(Krähenansiedlungen auf Meilen in die Runde)

Seite 209:
"gin'gs" geändert in "ging's"
(Dann ging's fort)

Seite 216:
"," eingefügt
(war der Gedanke, der mich ganz beherrschte)

Seite 217:
"." eingefügt
(Und nun war der Bann gebrochen, das Glück da.)

Seite 218:
"." eingefügt
(»So will ich sie schließen«, entgegnete ich lächelnd.)

Seite 218:
"«" eingefügt
(Wann willst Du mein Weib werden, Margarethe?«)







End of the Project Gutenberg EBook of Verflossene Stunden, by Sophie Junghans

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK VERFLOSSENE STUNDEN ***

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Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
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