The Project Gutenberg EBook of Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Hans und Suse in der Stadt Author: Trude Bruns Release Date: December 8, 2019 [EBook #60878] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT *** Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1921 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen bleiben gegenüber dem Original unverändert.
Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersicht halber vom Bearbeiter eingefügt.
Jungmädchen
Bücher
Herausgeber:
Ernst Wilmanns
K. Thienemanns Verlag Stuttgart
1921
von
Trude Bruns
K. Thienemanns Verlag Stuttgart
1921
Buchausstattung nach Entwurf von Fritz Eich,
Bielefeld.
Die Bilder zu diesem Bande sind von Ralf Winkler gezeichnet.
Copyright 1921 by K. Thienemanns Verlag in Stuttgart.
Druck von J. F. Steinkopf in Stuttgart.
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Erstes Kapitel — Die gefährliche Stadt | |
Zweites Kapitel — Die Flucht | |
Drittes Kapitel — Das Kamel | |
Viertes Kapitel — Der Missionar | |
Fünftes Kapitel — Christines Reise | |
Sechstes Kapitel — Schluß |
Es war noch früh am Morgen, gegen ein halb sieben ungefähr, da waren Hans und Suse, die beiden Doktorskinder, die bei Frau Cimhuber, der Pfarrwitwe, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, schon wach. Voll Unruhe hatten sie ihr Lager verlassen, sich angezogen und saßen nun fix und fertig am Tisch in Susens Zimmer, bereit zur Schule zu gehen.
Dabei waren es ganze anderthalb Stunden vor Schulanfang. Aber die beiden hatten nun mal keine Ruh und Rast, seit sie hier in der Stadt weilten, und ihre Aufregung verriet sich in ihrem ganzen Wesen und Aussehen. Wie Schatten ihrer selbst sahen sie aus.
Suse, die kecke, übermütige Suse, die sonst ihren Kopf mit der fürwitzigen Nase so hoch zu tragen pflegte, hielt ihn trübselig gesenkt. Und ihr Bruder Hans sah aus seinen großen, dunklen Augen verängstigt um sich. Die beiden fühlten sich ebenso verlassen und ausgestoßen hier in dieser fremden Stadt, in der sie gerade einen Tag verbracht hatten und in der sie doch eine lange Zeit bleiben sollten, um die höheren Schulen zu besuchen. — Weit weg, an das andere Ende der Welt, schien ihnen ihr Elternhaus, das freundliche Arzthäuschen, gerückt; und dabei war es doch nur eine Tagereise entfernt und lag in den Bergen, deren Umrisse man an hellen Tagen wie eine feine Linie am Horizont wahrnehmen konnte.
„Hans,“ sagte das kleine Mädchen plötzlich, „was meinst du, sind Frau Cimhuber und Ursel schon wach?“
„Ich glaub’, mir ist’s, als hätt’ ich jemand auf Pantoffeln gehen hören,“ erwiderte der Bruder... „vielleicht war’s Ursel.“
Suse nickte.
Und halb zu Hans gewandt, halb wie im Selbstgespräch fuhr sie fort: „Gräßlich alt ist Ursel schon. Über sechzig Jahre. Und vierzig Jahre ist sie schon bei Frau Cimhuber gewesen. Das ist viel länger als unsere Rosel. Rosel ist gerade neun Jahre bei uns. Das ist einunddreißig Jahre weniger als Ursel.“
„Du Suse,“ fragte Hans mit einem Male, „was hat eigentlich gestern abend Frau Cimhuber über Ursel gesagt, als sie vor uns auf dem Sofa gesessen ist und deine Hand gehalten hat und uns so lange angesehen hat?“
„Das weißt du schon nicht mehr!“ rügte Suse, die so gern dem jüngeren Bruder gegenüber die Überlegene, Belehrende spielte. „Wirklich, das weißt du nicht mehr? — Sie hat gesagt: ihr sollt Ursel stets mit Rücksichtnahme und Respekt begegnen; denn sie ist über vierzig Jahre in meinem Dienst und ist mir eine getreue Beraterin und bewährte Freundin gewesen, eine Stütze meines Hauses in Not und Gefahr. Nicht nur in fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten voller Aufopferung und Liebe und echt christlichen Sinnes. Gehorcht ihr wie mir!“
„Aber, Suse, so viel hat sie nicht gesagt,“ fiel Hans ein.
„Doch, Hans, ganz bestimmt!“
Und Suse wiederholte noch einmal: „Nicht nur in fröhlichen Zeiten, sondern auch in trüben Zeiten, voller Aufopferung und Liebe. Gehorcht ihr wie mir!“ — Liebte sie es doch über die Maßen, feierliche Worte mit schöner Betonung aufzusagen, vor allem Gesangbuchverse oder Stellen aus Predigten, die sie Sonntags in der Kirche daheim auffing und nicht immer dem Sinn nach verstand. — Und mit großer Genugtuung bemerkte sie bei diesen Gelegenheiten jedesmal, wie Hans, der schwerfälliger beim Auswendiglernen war als sie, bewundernd zu der begabten Schwester aufsah.
Wieder war es nun still in dem Zimmer, bis Hans plötzlich leise fragte: „Magst du eigentlich Frau Cimhuber gern?“
Das kleine Mädchen wurde feuerrot, sah verlegen vor sich hin und schüttelte dann ihr Haupt.
Da stieg auch dem Bruder die Verlegenheitsröte in die Wangen, und er gestand der Schwester, daß er die Pfarrfrau ebensowenig leiden möge.
„Aber, Hans, wir müssen sie lieb haben,“ rügte da Suse, sich flugs ihres Amtes als Lehrmeisterin in allen Tugenden dem Bruder gegenüber entsinnend, „wir müssen sie lieb haben, das haben der Vater und die Mutter uns ausdrücklich befohlen.“
„Wenn ich aber nicht kann,“ meinte Hans gedrückt, „was soll ich da machen?“ Und als die Schwester schwieg, forschte er halblaut weiter: „magst du Ursel gern, Suse?“
„Ja,“ wollte die Schwester sagen, aber ihr fiel ein, daß dies gelogen wäre, und so verweigerte sie dem Bruder lieber jede Auskunft.
Er wartete noch ein Weilchen und fuhr dann mehr flüsternd als redend fort: „Eine gräßlich große Nase hat Ursel. Gelt? — Und eine solch’ dicke Warze mit einem langen Haare drauf.“
„Ja, ja,“ fiel Suse mit einem Male lebhaft ein, „ein ganz stacheliges Haar ist’s. — Weißt du, Hans, genau so wie die Hexe in dem Märchenbuch, das uns Tante Anna geschenkt hat.“
„Ja, daran hab’ ich auch schon gedacht,“ meinte der Bruder ebenso lebhaft wie sie.
„Hans, Hans, jetzt haben wir schon wieder was Schlechtes gesprochen,“ meinte Suse schuldbewußt. „Immer fangen wir wieder von der Nase an. Diesmal hast du angefangen. Das dürfen wir doch nicht. Der Vater und die Mutter haben uns doch befohlen, daß wir nicht von den Fehlern und Gebrechen anderer Leute reden.“
„Aber von großen Nasen haben sie nichts gesagt. Und große Nasen sind auch nichts Schlimmes. Die von dem Großvater von unserem Pfarrer, der vorigen Herbst zu Besuch bei ihm war, die war noch viel größer. Weißt du denn nicht mehr? Weißt du denn nicht mehr, wie viel wir davon gesprochen haben? Und du hast am meisten davon gesprochen. Und wie hast du gelacht, als Theobald gesagt hat, seine Nase ist so groß wie die von einem Nußknacker!“
„Da waren wir auch noch viel jünger, Hans.“
„Jünger, Suse? Ein halbes Jahr ist’s her.“
Hier achtete die Schwester nicht weiter auf des Bruders Reden, sondern sah mit gespanntem Ausdruck nach der Tür, vor der schlürfende Schritte und Stimmen zu hören waren. — Sicher gingen Frau Cimhuber und ihre Magd vorüber. Ganz still verhielten sich nun die Kinder, bis die Geräusche draußen verklungen waren, dann stand Hans leise auf, ging auf den Zehenspitzen zur Türe und spähte über den langen Gang.
„Du, Suse,“ flüsterte er im nächsten Augenblick zurück, „sie sind jetzt in der Küche. Ich höre sie. Und hör’ mal, Suse, die Negerstube ist offen. Komm’ mal, wenn du sie sehen willst.“
„Wo, wo? Wirklich, laß’ mich mal sehen,“ rief Suse und war in zwei Sprüngen an der Seite des Bruders. Ganz aufgeregt sah sie über den Gang nach Frau Cimhubers Staatsgemach, der „Negerstube“, hin. — So hatten die Kinder das Zimmer der Pfarrfrau getauft, weil es die merkwürdigsten Dinge aus fremden Ländern enthielt: Löwen- und Tigerfelle, ausgestopfte Affen, Vögel, Waffen und Bilder von Negern, Gefäße aus Holz und Stein und einen großen Götzen.
„Dort hinten, guck, dort hinten sitzt der Gott,“ flüsterte Suse, ihren Bruder am Arm packend. „Dort sitzt er.“
Und die beiden sahen wie gebannt auf das seltsamste Stück des ganzen Raumes, einen schwarz angestrichenen Negergott, der mit seinem bienenkorbdicken Leib und runden Schädel vergnügt von einer Säule in der Ecke herüber grinste.
„Man meint, er lebt,“ flüsterte Suse „Für hundert Tafeln Schokolade möchte ich ihn nicht anfassen. Und du, Hans?“
In diesem Augenblicke hörten die beiden wieder Schritte und flohen in ihr Zimmer zurück. Irgend jemand kam — Ursel oder die Pfarrfrau.
Gleich darauf wurde die Klinke ihrer Tür niedergedrückt, und Frau Cimhuber stand auf der Schwelle.
Sie war gekommen, die Kinder zu wecken.
Langsamen Schrittes wich sie zurück, als sie der beiden ansichtig wurde.
„Aber Kinder,“ sagte sie dann vorwurfsvoll, „ihr solltet ja noch schlafen! Ich wollte euch jetzt erst wecken. Was soll das heißen?“
„Wir sind schon aufgewacht, und dann sind wir aufgestanden,“ stotterte Suse, „entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, wir sind schon aufgestanden.“
Dann schluckte das Kind dreimal trocken runter vor Schrecken und fuhr noch verwirrter als bislang fort: „Entschuldigen Sie, wir haben gemeint, Sie haben keine Kinder. Und da verschlafen Sie, weil Sie keine Kinder haben, haben wir gemeint. Und da hat auch Hans gesagt, es ist der Frau Cimhuber sicher sehr angenehm, wenn wir aufstehen. Und da sind wir aufgestanden.“
Der Bruder, der daneben stand, biß sich auf die Lippen, aus Beschämung über all das krause Zeug, das seine Schwester daherredete.
Frau Cimhuber aber schüttelte ihren Kopf und sagte: „Aber Kinder, ich habe euch gestern abend doch ausdrücklich gesagt, ihr sollt liegen bleiben, bis wir euch wecken. Ich habe es zweimal gesagt. Ihr müßt euch besser an das Gehorchen gewöhnen.“
Die Kinder fuhren zusammen und sahen sich erschrocken an. Sie aber merkte nichts davon und fuhr mit vorwurfsvoller Stimme fort: „Vor einer halben Stunde ist der Kaffee überhaupt nicht fertig. Wir trinken immer erst zehn Minuten vor ein halb acht Uhr Kaffee. So lange müßt ihr euch gedulden.“
Und nach diesen Worten ging sie wiederum zur Türe hinaus.
„Jetzt ist sie böse auf uns,“ sagte Suse, als sie gegangen war, und Hans nickte.
„Wenn sie uns aber den Kaffee zu spät gibt?“ sagte er schließlich. „Was dann?“
„Dann laufen wir ohne Kaffee fort!“ erklärte Suse. Inzwischen war Frau Cimhuber wieder langsam zur Küche zurückgegangen, um mit Ursel, ihrer alten Magd und Vertrauten, über die Kinder zu reden. Vor der Tür von Ursels Reich stieß sie einen schmerzlichen Seufzer aus, den die alte Magd sicher gehört hätte, wenn sie nicht gerade dabei gewesen wäre, der alten abgeleierten Kaffeemühle einen Klaps zu geben, damit die paar letzten Bohnen, die widerspenstig über dem Mahlwerk herumhüpften, den schon zerriebenen nachpolterten.
Gleich darauf trat nun die Pfarrfrau dicht vor Ursel, und diese mußte aufsehen. Und in dem Augenblick, in dem sie ihr Haupt hob, konnte man den Schrecken verstehen, den ihr Anblick den Kindern einflößte. Von ihrem dichtvermummten Haupt waren nur eine lange Nase und ein entrüstetes Auge zu sehen, denn alles andere war durch Wolltücher verhüllt, deren Wärme der alten Magd heftige Zahnschmerzen vertreiben sollte.
„Ursel, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber, indem sie ihre gefalteten Hände auf ihre schwarze Schürze sinken ließ. „Die Kinder sind schon wach. Sie sitzen schon angezogen in der Stube.“
„Was, schon wach?“ fragte Ursel fast triumphierend, „da haben wir’s! Das hab’ ich ja gleich gesagt. Die beiden bringen alles zuwege. Merkwürdige Kinder sind’s. Solche Kinder hab’ ich hier herum noch gar nicht gesehen. Sehen Sie einmal den Buben an, wie dem die Augen im Kopf herumfahren. Und das Mädchen, das geht ja auf der Straße gar nicht wie andere Leute. Die ist gestern mitten im Weg stehen geblieben und hat die Leute angesehen wie Meerwunder. Und wie ich sie gefragt habe, was sie denn sieht, hat sie gestottert und keine Antwort gegeben. — Die rechten Hinterwäldler. Eine Elektrische haben sie hier zum erstenmal gesehen, ein Auto ist ihnen auch was ganz Neues. — Nur einmal haben sie zwei ganz weit weg im Tal gesehen, hat der Bub gesagt. — Und denken Sie sich an, Frau Pfarrer, gestern fährt da ein Auto an uns vorbei, da fällt das Mädchen gleich auf mich drauf vor Schrecken und jammert: ‚Oh, wie hat der Wagen geschrien, wie eine Kuh! haben Sie nicht gehört, Ursel?‘ Ich habe noch blaue Flecke am Arm. Wie ein Krebs ist’s an mir gehängt.“
„Ja, Ursel, wir müssen Geduld haben,“ fiel Frau Cimhuber ein, „wir müssen Geduld haben. Bedenken Sie doch, die Kinder waren noch nie aus ihrem Gebirgsdorf fort und nun kommen sie zum erstenmal hierher. Recht ist es ja nicht von den Eltern gewesen, daß sie noch nie vorher eine Reise mit ihnen gemacht haben. Eine kleine Reise hätten sie wohl schon machen können. Jetzt ist’s zu spät. Jetzt ist ihnen alles fremd, und alles verwirrt sie. Und dann... und dann... das muß ich ja selbst zugeben, ein bißchen unerzogen sind sie, auch ein klein wenig verwildert. Das sind solche Landkinder immer. Jetzt müssen wir sie eben zu Gehorsam und Pünktlichkeit erziehen, und alles andere wird sich finden.“
„Gewiß, Frau Pfarrer, aber wir werden uns noch verwundern,“ meinte Ursel. „Ich hab’ ja immer gesagt, lassen Sie es sein, nehmen Sie keine Kinder, wir sind zu alt dazu.“
„Ja, aber Edwin wollte es doch. Sie wissen es doch auch, Ursel. Er[S. 10] hat immer gesagt: nimm dir ein paar Kinder ins Haus, Mutter, damit du Zerstreuung hast und nicht auf traurige Gedanken kommst. Mit Kindern bleibt man jung. Erst in seinem letzten Brief hat er mir wieder davon geschrieben. Und wie da bei mir angefragt wurde, ob ich die beiden Kinder von dem Doktor aus Schwarzenbrunn nehmen wollte, da hab’ ich ja gesagt. Denn es ist mir vorgekommen wie ein Wink des Himmels.“
„Na, wir wollen sehen, wie noch alles wird,“ meinte Ursel. „An viel Gutes glaub’ ich nicht.“
Inzwischen warteten die Kinder sehnsüchtig auf den Kaffee, und als er nach einer halben Stunde immer noch nicht da war, konnten sie ihre Unruhe nicht mehr bemeistern. Suse schnallte ihren Ranzen auf, ging unruhig im Zimmer hin und her und blieb schließlich an der Tür stehen, die Klinke in der Hand.
„Sie rufen immer noch nicht, Hans,“ meinte sie ungeduldig. „Sie rufen immer noch nicht. — Weißt du was, wir laufen ohne Kaffee fort.“
„Das dürfen wir nicht, da wird Frau Cimhuber böse,“ entgegnete er.
„Aber wir kommen ja zu spät,“ sagte sie, hin und her trippelnd, „wir kommen zu spät. Und wir dürfen doch nicht zu spät kommen, Hans; ich will nicht zu spät kommen. Ich traue mich sowieso schon nicht in die Schule. Dann traue ich mich erst recht nicht. Lieber will ich keinen Kaffee.“
„Hopp, wir gehen,“ ermunterte das kleine Mädchen den Bruder, öffnete im selben Augenblick die Tür und eilte auf den Vorplatz. Gerade wollte sie mit dem Bruder in das Treppenhaus huschen und ein Stückchen von seinem Ranzen schwebte noch um die Ecke, da schaute Ursel verwundert zur Küche hinaus und hörte auf den Lärm. Mit einem Sprung war sie auf dem Vorplatz und von dort auf der Treppe, holte die beiden Flüchtlinge ein und führte sie in die Wohnung zurück.
„Nicht übel, nicht übel,“ sagte sie. „Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte! Wollt ihr schon durchbrennen? Jetzt mal hier herein ins Eßzimmer und trinkt euern Kaffee.“
Und gleich darauf saßen die beiden mit erhitzten Gesichtern der Pfarrfrau gegenüber am Kaffeetisch und sahen, wie ihre Pflegemutter traurig den Kopf schüttelte, wobei sich die Perlenschnüre ihres Häubchens verwirrten und sie mit anklagender Stimme sagte: „Ihr müßt euch mehr an das Gehorchen gewöhnen. Ihr wißt doch, daß wir euer Bestes, euer Allerbestes wollen.“
„Ja, das haben Vater und Mutter auch gesagt, daß Sie so gut zu uns sind,“ stotterte Suse, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.[S. 11] „Aber wir haben so Angst, daß wir zu spät zur Schule kommen. Wir möchten lieber keinen Kaffee.“
„Wir sorgen dafür, daß ihr nicht zu spät kommt,“ sagte die Pfarrfrau. „Ich habe es schon einmal gesagt, ihr müßt Vertrauen zu uns haben. Ursel und ich wollen euer Allerbestes.“
Die Kinder aßen und tranken verschüchtert und ängstlich, fast mit Widerstreben und waren froh, als sie endlich aufstehen und sich entfernen durften.
In großer Eile liefen sie die Treppe hinunter auf die Straße. Jetzt waren sie ja frei. Frau Cimhubers Haus gegenüber führte eine Brücke über den Kanal, und dort hinüber ging ihr Weg. Gerade als sie die Brücke überschritten, kam ein mit Steinen beladenes Schiff daher. Düster aussehende Männer, die an die Holzhauer in der Doktorskinder Heimatsort erinnerten, standen auf dem Kahn und stießen ihn mit langen Stangen vorwärts. Langsam zog er unter der Brücke durch, dumpf hallten die Stimmen der Männer herauf, und langsam kam er auf der andern Seite wieder zum Vorschein.
Eine Weile folgten ihm die Kinder mit ihren Blicken, dann gingen sie weiter. Und während sie so dahinschlenderten, fiel Suse mit einemmal eine Reihe hoher, freischwebender Buchstaben ins Auge, die auf dem Dachfirst eines Hauses jenseits des Kanals standen. Sie machte ihren Bruder darauf aufmerksam.
„Hans, dort oben, guck, dort,“ rief sie, „war es nicht dort, wo gestern die hellen Buchstaben herumgehüpft sind, als die Lichter angezündet wurden und wir aus dem Fenster gesehen haben? Weißt du nicht mehr? Herrlich war das, gelt, wie immer einer hinter dem andern hergesprungen ist. Und wupp, waren sie alle miteinander weg und ausgelöscht. Und dann kamen sie wieder und sind wieder hintereinander hergesprungen. Das ist das Allerschönste hier. Am liebsten möchte ich eigentlich, daß wir auch daheim auf unserem Haus solche große Buchstaben hätten. Das wäre herrlich. Dann kämen alle Leute des Abends herbei und guckten sich unser Haus an. Und der Vater und die Mutter und wir ständen am Fenster und freuten uns über unser schönes Haus. Nicht wahr?“
Der Bruder nickte, hatte aber wenig acht auf der Schwester Rede, sondern mehr auf den Weg; denn er hatte die Führung übernommen und Suse versprochen, sie an ihrer Schule abzuliefern.
So war es ja immer. In gewöhnlichen Zeiten leitete die Schwester den Bruder gern, aber in schweren Tagen, wenn Not an den Mann trat, war er der leicht eingeschüchterten Suse treuster Führer. Wie ein geschickter Steuermann führte er sie jetzt, mit den Augen scharf[S. 12] nach allen Seiten spähend, und sie benutzte die Zeit derweil, um ihren Gefühlen in den merkwürdigsten Stoßseufzern Luft zu machen.
„Ach, ich möcht’, ich wäre schon in der Schule,“ sagte sie einmal. Dann wieder: „Ach, ich möcht’, ich wäre schon wieder aus der Schule heraus. — Ach, ich möcht’, ich wäre bei den Eltern..., ach, ich möchte, Frau Cimhuber wäre nicht so alt und Ursel sähe nicht so böse aus.“
Und plötzlich packte sie den erschreckten Bruder am Arm und raunte ihm zu: „Jetzt, Hans, jetzt paß auf, jetzt darfst du nicht auf die rechte Seite gucken. Da kommt das Haus, von dem ich dir gesagt habe, vor dem die toten Rehe auf der Straße liegen. Und alle haben sie ihre Köpfe herumgedreht, und ihre Hälse sind wie gebrochen. Und blutig sind sie, lauter Blut ist um sie herum, große Blutlachen schwimmen um sie herum.
Mir ist’s ganz schlecht geworden. Und du glaubst gar nicht, wie traurig sie mich angesehen haben. Und Hasen hängen dort, sicher hundert, an den Beinen.“
„Wo hängen die Hasen an den Beinen?“ fragte Hans aufgeregt.
„Guck nicht hin, Hans,“ wehrte Suse, „ich bitte dich, guck nicht hin, Hans!“ Und dann flüsterte sie ihm mit erschrecktem Gesichte zu: „Ein Mörder wohnt dort, ganz gewiß, Hans. Ich habe darüber nachgedacht, es ist ein Mörder.“
Es stimmte. Suse hatte gestern darüber nachgesonnen und dank ihrer lebhaften Phantasie eine wahre Schauergeschichte zusammengestellt, wonach ein Zauberer viel hundert Prinzessinnen in Rehe verwandelt und getötet hatte, weil sie ihm nicht gehorcht hatten.
Um den Bruder nun möglichst schnell aus dem Bereich des gefährlichen Zauberers zu bringen, packte sie Hans am Arm und zog ihn mit sich. Er aber widersetzte sich und fragte hastiger als vorher: „Wo sind die Rehe und Hasen, die an den Beinen hängen, Suse; wo hast du sie gesehen? Ich möchte sie auch sehen.“
„Nein, nein,“ wehrte sie.
Es währte aber nicht lange, so entdeckte er selbst die Tiere, die vor einem Verkaufsladen am Wege lagen, und blieb davor stehen.
„Brr, blutig,“ sagte er und begann dann von einem Firmenschild über dem Eingang die Inschrift abzulesen: Wildbret- und Geflügelhändler Moormann.
„Der verkauft die Rehe,“ erklärte er seiner Schwester.
„Nein, das tut er nicht,“ widersprach sie, packte ihn fester am Ärmel und bat: „Lieber, lieber Hans, komm doch mit. Du sollst hier nicht stehen bleiben und dir das gräßliche Blut ansehen und alles ablesen. Wir müssen uns ja schämen.“
„Warum müssen wir uns schämen?“ fragte er verwundert. „Und warum soll ich nicht alles ablesen? Der Vater und die Mutter haben doch selbst gesagt, wir sollen auf alles aufpassen!“
Die beiden maßen sich mit feindlichen Blicken. Und es wäre zwischen ihnen sicher zum Streit gekommen, wenn sie nicht daran gedacht hätten, daß sie in dieser gefährlichen Zeit ja treu zueinander halten müßten.
Drum folgte der Bruder der Schwester willig.
„Der halbe Weg ist jetzt um,“ sagte Suse mit einem Seufzer. „Aber das Allerärgste kommt noch. Jetzt müssen wir noch über den großen Platz ’rüber. — Wenn wir über den ’rüber sind, dann ist alles gut!“
„Warum fürchtest du dich?“ fragte Hans. „Der ist doch nicht schlimm!“
„Nicht schlimm, Hans? Am aller-, allerschlimmsten in der ganzen Stadt! Denke doch, da fahren die Elektrischen und die Wagen und die Radfahrer und die Autos, das sind die allergräßlichsten Dinger, die es gibt. — Hans, hab’ ich dir denn schon gesagt, daß ich gestern mit Ursel eins gesehen habe, das hat gebrüllt wie eine wilde Kuh.“
„Was hat’s gemacht?“ fragte Hans und blieb wie angewurzelt stehen. „Was hast du gesagt, wie eine wilde Kuh hat’s gebrüllt? So was hab’ ich aber doch noch nicht gehört. Ein Automobil brüllt doch nicht, es tutet. Die Kühe brüllen und die Automobile tuten.“
„Nein, Hans, es gibt Autos, die brüllen wie Kühe, so wahr und gewiß, wie ich hier stehe. Sie fangen ganz leise an, und dann schreien sie laut auf, daß du meinst, die Ohren wackeln dir, und dann weinen sie leise wie der Michel, wenn er an die Kette gelegt wird, und dann sind sie ganz still.“
„Das möcht ich aber gern mal hören,“ sagte Hans begeistert. „Wann hast du das gehört? Wo hast du das gehört?“
„Nein, Hans, wünsch’ dir das nicht; dann muß ich so laut an zu weinen fangen, wie du noch niemals von mir gehört hast. Da sollst du mal sehen!“
Hans ging in Gedanken weiter und achtete lange nicht seines Weges, bis er mit einem Male einen Knaben mit einem Ranzen anrannte und sich erinnerte, daß ihre Zeit knapper wurde.
Auch Suse fuhr aus Träumen auf. Denn ihre Gedanken waren weit ab gewandert, der fernen Heimat zu, und sie hatte den Schulweg ihres Dörfleins verlockend vor sich liegen sehen. Dort war sie stets in größter Seelenruhe und im gemütlichen Schritt die Straße hinuntergeschlendert und hatte im Übermut auch wohl mal die Augen geschlossen gehalten, wenn es ihr gerade beliebt hatte. Was konnte ihr[S. 14] dort auch Gefährliches in den Weg kommen! Ein Hühnchen, ein Hund, eine Katze vielleicht; was lag denn dran? Stolperte sie auch drüber und fiel auf die Nase, so bedeutete das doch kein Unglück.
Aber hier!
Suse schaute sich erschreckt um. Sie waren ja schon in der Straße angekommen, die auf den gefährlichen Platz führte. — Gewiß, dort zur rechten Seite nah’ ihrer Mündung auf den Platz, lag das Schilderhaus, an dem sie gestern mit Ursel vorübergegangen war, und das sie sich gemerkt hatte, weil dort ein gefährlich aussehender, brummiger, grimmiger Soldat gestanden war.
„Dort hinten steht der Soldat!“ flüsterte sie jetzt ihrem Bruder zu. „Dort möchte ich nicht gern vorbei, Hans. Denn er hat mich gestern so zornig angesehen, als ich vorbeiging, als wollte er mich erschießen.“
„Das meinst du nur so,“ beruhigte Hans. „Er schießt nicht. Er tut keinem Menschen etwas. Der steht Wache. Komm nur mit und guck ihn dir ruhig an.“
Langsam und zögernd setzte das kleine Mädchen einen Fuß vor den andern.
Noch einige Schritte fehlten, dann mußten sie bei der Wache sein — da sah sie ihr entgegen auf demselben Bürgersteig einen Offizier kommen. Sein Säbel rasselte hinter ihm her.
Und nun horchte Suse plötzlich erschreckt auf und blieb wie angewurzelt stehen. Hinter sich hatte sie einen Ton vernommen, der ihr Blut erstarren ließ. — Ach, sich umzusehen hätte sie nicht gewagt, um alle Schätze der Welt nicht. — Ein Huschen, Sausen und Gleiten war zu hören — und sie wußte jetzt, jetzt kam’s hinter ihr her, ihr Feind, das Automobil. Eines von den Ungeheuern, die wie auf Filzpantoffeln heranglitten, einen mit ihren Augen, groß wie Messingkübel, frech anstarrten und dann aufschrien wie wilde Kühe.
Das kleine Mädchen zitterte und bebte am ganzen Körper und zog den Kopf aus Schrecken über den ersten fürchterlichen Ton, der kommen müsse, leicht zwischen die Schultern.
Und jetzt war sie mit Hans bei dem Soldaten angelangt, und auch der Offizier war ganz nahe.
Da — hui — flog das Automobil daher und mitten vor dem Schilderhaus gellte und schrie es laut auf, als wollte es zerspringen. Schauerlich war’s.
Da sprang der Soldat vor sein Schilderhaus, scharrte mit den Füßen, riß sein Gewehr von der Schulter und streckte es dem Offizier hin.
Und in demselben Augenblick erklang in dem Automobil ein Krachen, als wolle es in hundert Stücke zerbersten.
Da schrie Suse laut um Hilfe, ließ ihre Butterbrotbüchse fallen und stürmte in verkehrter Richtung davon.
„Ach, Mutter,“ jammerte sie, „ach, Mutter.“
Sie hatte bestimmt gesehen, wie der Offizier, der Soldat und das Automobil aufeinander drauf geflogen waren und geborsten waren.
Sie hatte ganz und gar den Kopf verloren, die arme Suse.
„Suse,“ rief der Bruder und eilte so schnell er konnte, hinter ihr her. „Bleib doch stehen, wart doch!“
In einer entlegenen Straße holte er sie endlich ein.
„Sie sind alle tot,“ rief sie ihm zu, „gelt, und das Schilderhaus ist auch kaput?“
„Nein, sie sind alle lebendig,“ rief er.
„Ach, wär’ ich doch daheim, ach, wär’ ich doch daheim,“ jammerte Suse da.
Hans war kreidebleich. Der Schrecken über Suses Flucht und der Spektakel am Schilderhaus hatten ihm auch etwas die Fassung geraubt. Und nun sagte er sich, daß sie sich verlaufen hätten und wohl zu spät zur Schule kämen.
Wie die beiden noch so rat- und hilflos dastanden, nahte mit einem Male ein Retter.
Ein Knabe kam des Wegs, der die beiden Dorfkinder schon aus der Ferne musterte.
Unter seinem Arm schleppte er ein Paket Bücher, die Nase mit den Sommersprossen trug er keck in der Luft, die Mütze hatte er tief in die Stirn gezogen, und seine blitzenden blauen Augen richteten sich dreist jedem Vorübergehenden in das Gesicht.
„Servus,“ rief er plötzlich, daß es über die Straße schallte, „da schlag doch einer lang hin! Seh’ ich recht?“
Hans und Suse horchten auf, folgten der Richtung des Rufes, erkannten den Rufer und jubelten laut: „Theobald, Theobald!“
Ja, er war’s! Theobald, einer ihrer zahlreichen Vettern. Die Krone ihrer Vettern sozusagen.
Dieser Knabe hatte sie nämlich schon einige Male mit seinen Besuchen in ihrem einsamen Gebirgsdorfe beehrt und auch seine letzten Ferien dort verbracht. Damals war zwar viel öfters als sonst in der Hand ihres Vaters, des Doktors, eine geschmeidige Haselgerte zu sehen gewesen, die dann auf Theobalds Rücken lustige Tänze ausgeführt hatte.
Aber schöne Zeiten waren’s doch gewesen.
„Na, seh’ ich recht, das seid ihr,“ rief er noch einmal. „Ihr seht gut[S. 16] aus. Was ist denn los mit euch? Der Hans schaut aus wie der schönste Rahmkäse, und die Suse weint Tränen, als hätte sie eine Schüssel mit gehackten Zwiebeln zum Frühstück bekommen.
Was tut ihr eigentlich hier in dieser Straße, die euch gar nichts angeht? Hat eure Pflegedame euch schon vor die Türe gesetzt? Seid ihr eurer Cimhuberin schon ausgekniffen?“
„Frau Cimhuber heißt’s,“ verbesserte Suse.
„Wir haben uns verlaufen,“ erklärte Hans.
„Und deshalb dies Lamento und die verheulten Gesichter?“ meinte der Vetter wegwerfend. „Ihr gehört wirklich noch ins Wickelkissen! Heftet euch von nun an an meine Fersen! Ich werde euch sicher führen.“
Suse zog ihr Taschentuch hervor, trocknete ihre Tränen und sah zuversichtlich auf Theobald, der ihr sicher und großartig vorkam, wie die feinen Stadtherren, die sich nicht fürchteten, und wenn ihnen die Automobile wie ein Rudel Wölfe hinterher kamen.
„Hört, meine Kleinen,“ fuhr der Vetter mit wichtiger Miene fort. „Erst bringen wir den geknickten Lilienstengel, die Suse in ihre Schule, dann gehen Hans und ich weiter und schreiten stolz erhabenen Hauptes durch die Pforten unseres Pennals...“
Hier unterbrach der Vetter seine eigene Rede, runzelte die Brauen und betrachtete in Nachdenken versunken die Haltestelle der Trambahn jenseits der Straße.
„Hm! Hm!“
Er hatte einen Gedanken.
Wenn er jetzt aber seinen Vetter und seine Cousine auf eigene Kosten zur Schule fahren ließe! Das wäre fein! Da hätte er ja Gelegenheit, sich wie der herrlichste Millionär diesen Dorfkindlein gegenüber aufzuspielen, so recht von oben herab wohltätig. Vorgestern waren die beiden Hinterwäldler ja zum ersten Male in ihrem Leben in einer Eisenbahn gefahren und gestern in einer Elektrischen.
Und da hatte seine Cousine voll Begeisterung zu ihm gesagt, man meine, man fahre mit der Elektrischen in den Himmel hinein. Eine solche Himmelfahrt konnte man ihnen ja leicht verschaffen. Noch einen Augenblick überlegte der Vetter, dann faßte er in seine Westentasche, zog drei Zehnpfennigstücke hervor und sagte: „Hört, unsere Zeit ist knapp. Wir fahren jetzt zur Schule. Ich stifte euch die Fahrscheine.“
In den Augen der Kinder leuchtete es hell auf, ein Umstand, den Theobald mit Befriedigung wahrnahm.
„Die nächste Elektrische, die kommt,“ belehrte er sie, „müssen wir nehmen! Verstanden? Und zwar im Sturm. Sonst kommen wir zu[S. 17] spät. Verstanden? Ihr habt also keine Zeit, die sämtlichen Reklameschilder und Aufschriften daran zu studieren, bevor ihr einsteigt. Merkt’s euch! Und dann laßt euch nicht etwa einfallen, andere Leute vor euch einsteigen zu lassen und um sie herum zu scharwenzeln und zu sagen: bitte, bitte, gehen Sie zuerst hinein und treten Sie uns ruhig auf die Hühneraugen; das ist uns eine ganz besondere Freude. — Nein, sobald ihr den Wagen seht, rennt ihr drauf los wie die Wilden, schiebt alle Leute zur Seite und schreit: Verzeihung, Verzeihung, und klettert auf die Plattform wie die Affen.“
„Sie kommt,“ rief Theobald, „jetzt drauf los.“
Und er stürmte vor ihnen her wie ein Held zur Schlacht. „Verzeihung, Verzeihung,“ schrie er und drängte die Leute zur Seite.
„Verzeihung,“ rief Hans hinter ihm.
„Verzeihung,“ sagte Suse kleinlaut.
Und den Kopf ein wenig geneigt eilte sie vorwärts, sich an Hansens Ranzen festhaltend.
Theobald schob eine Frau zur Seite, einen alten Herrn, ein Kind. — Jetzt hatte er den Griff der Elektrischen gefaßt und schwang sich hinauf. Da stauten sich die Menschen. Hans und Suse konnten ihren Vetter nicht mehr sehen. Auf der Plattform aber entstand jetzt ein fürchterliches Gedränge, ein Schieben und Stoßen, ein Reißen und Wühlen. Und eine zornige Stimme übertönte alle: „Wer schreit mir da fortwährend Verzeihung in die Ohren? Wart’ einmal!“
Und im nächsten Augenblick sahen Hans und Suse, wie ein Mann ihren Vetter, das feine Stadtherrlein Theobald, am Kragen gepackt hielt und heftig hin und her schüttelte, als wär’s eine Pflanze, deren Erdreich gelockert werden müsse. Und mit einem Schwung wollte er ihn auf die Straße setzen. Aber da wandte Theobald sich um, hielt sich an dem Herrn fest und nahm ihn gleich zwei Stufen die Elektrische mit hinunter. Ums Haar wären beide am Boden gelegen.
Da klingelte die Elektrische und fuhr davon. Im letzten Augenblick konnte der Herr noch aufspringen.
Theobald aber, der seinen Hut verloren hatte, mußte diesen erst mal suchen. In der Mitte der Straße erblickte ihn da sein Vetter Hans, hob ihn auf und übergab ihn dem Raufbold Theobald, indem er vor peinlicher Verlegenheit über und über rot wurde, denn Theobalds rechte Wange glühte wie ein Rosenbusch, und fünf schneeweiße Finger kamen allmählich darauf zum Vorschein.
Der kaltblütige Theobald aber hatte sich schnell wieder gefaßt und murmelte entrüstet: „Feige Gesellschaft! Sobald einer nur etwas forsch auftritt, bekommen sie alle gleich Angst für ihr Leben. Ich hätte[S. 18] nur meine rechte Hand frei haben sollen, da hätten mich keine zehn Pferde da oben runter gebracht.“
Und diese Worte brachten flugs der Doktorskinder Bewunderung für den herrlichen Vetter wieder zum Blühen. Erwartungsvoll sahen sie jetzt zu ihm auf und beobachteten, wie er mit gerunzelten Brauen seine silberne Uhr aus der Tasche zog und wichtig drauf nieder sah.
„Jetzt aber vorwärts,“ rief er mit scharfer Stimme. „Noch fünf Minuten, dann beginnt die Schule.“
Im nächsten Augenblick flogen die Kinder dahin wie die Windspiele. Vor der Tür von Susens Schule ließen die Knaben das kleine Mädchen zurück.
„Ich hol dich ab, Suse,“ waren des Bruders letzte Worte; dann war er fort. Suse war allein.
Sie ging zögernden Schrittes durch ein großes, eisernes Gittertor in den Hof, der vor ihr lag, und von dort in das hohe rote Schulgebäude, über dessen Eingang in großen schwarzen Buchstaben: höhere Mädchenschule zu lesen war.
Im ersten Stock befand sich ihre Klasse. Sie hatte es gestern erfahren, als sie zur Aufnahme in die Schule geprüft wurde, und ging nun dorthin.
Lautes Sprechen, Lachen und Lärmen drang aus dem Innern der Schulstube heraus und verkündete ihr, daß ihre Mitschülerinnen wohl schon vollzählig versammelt seien.
Das Herz klopfte ihr. Langsam nahm sie ihren Hut und ihre Jacke ab und hängte sie an einem Hakenbrett im Gange auf. Ängstlich schielte sie nach der Klassentüre. — Eine Weile zögerte sie noch; dann faßte sie mit schnellem Entschluß den Griff der Tür, drückte ihn nieder und trat ein.
Totenstille empfing sie. Wie auf einen Schlag waren Lachen und Lärmen verstummt, und die Augen sämtlicher kleinen Mädchen richteten sich auf Suse. Sie glaubte in den Boden sinken zu müssen vor Verwirrung, und ihre Füße waren schwer wie Blei. Endlich konnte sie sich wieder regen und ging nun langsam vorwärts, der letzten Bank zu, in der sie einen freien Platz entdeckt hatte. Leise sagte sie zu den kleinen Mädchen an ihrer Seite guten Tag, erhielt aber keine Antwort, da ihr Gruß nicht gehört worden war. Und nun begann auch plötzlich wieder das Kichern, das Lärmen und Reden und verstummte erst, als es punkt acht Uhr war und die Lehrerin eintrat.
An dem Pult ganz vorne nahm sie Platz. Das kleine Mädchen hob schüchtern seine Augen, konnte aber nur ein Stückchen ihres rechten Ohres erkennen; alles übrige war durch zwei kleine vor Suse sitzende Mädchen verdeckt, die ihre Köpfe zusammensteckten.
Und dann hörte sie mit einem Male die laute, tiefe Stimme der Lehrerin, die jedes Wort deutlich und scharf aussprach. Aber den Sinn ihrer Rede vermochte sie nicht zu verstehen; denn alles um sie her verwirrte sie noch zu viel, als daß sie einen klaren Gedanken hätte fassen können. — Wie fremd, wie kalt war doch alles hier, kein bißchen gemütlich, wie daheim. Daheim, da war es viel tausendmal schöner — da kannte Suse jedes Kind, und den Lehrer gar! Den kannte sie seit dem ersten Tag, da sie zur Schule gegangen war. — Dort gab es ja nur einen einzigen Lehrer, der kam jeden Morgen behaglich in die Schule geschlendert und brachte einen großen Kaffeetopf mit, aus dem er trank, wenn es ihm gerade paßte. Und vor Beginn des Unterrichts pflegte er sich jedesmal dreimal feierlich in ein rot kariertes Taschentuch zu schneuzen, die Kinder über die Brille zu mustern und dann zu beten.
Manchmal freilich konnte er auch böse werden, der gute Mann; dann, wenn die Kinder zu viel Unfug trieben und ihn reizten. Dann sprang er plötzlich wie der Blitz mit seinem Stöckchen von dem Pult herunter, packte die Bösewichter und bestrafte sie hart. Unter den ertappten Sündern war zuweilen auch Hans; denn er steckte voll Übermut. So hatte er die üble Angewohnheit, sich beim Melden der Länge nach über die Bank zu werfen, und beide Hände mit den ausgestreckten Zeigefingern dem vor ihm sitzenden Knaben auf die abstehenden Ohren zu legen, wobei es diesem heiß wurde wie in einem Backofen.
Dann kam der Lehrer dahergesprungen, fragte, was das für eine Frechheit sei, befreite den Gefangenen aus seiner üblen Lage und lehrte den übermütigen Hans ein schönes gesittetes Melden. Ach — fein und lustig war das gewesen!
„Susanna,“ rief da die Lehrerin, „willst du wiederholen, was ich eben gesagt habe?“
Das kleine Mädchen errötete bis in die Haarwurzeln, stand auf, stotterte, konnte kein Wort herausbringen und wußte überhaupt nicht mehr, was sie gefragt worden war. Aller Blicke richteten sich auf sie. Zum Glück machte die Lehrerin ihr ein Zeichen, sich zu setzen, und beschämt ließ sie sich auf ihren Platz nieder. Nun saß sie noch scheuer dort als vorher.
Schließlich klingelte es, und die Pause begann. Die kleinen Mädchen sprangen in die Höhe und eilten wie erlöst zur Tür hinaus. Suse folgte ihnen langsam nach. Am liebsten wäre sie hier im Schulzimmer geblieben; aber das war ja nicht erlaubt! So ging sie denn auch in den Hof hinunter, stand mutterseelenallein an einem Baum und sah den Spielen der Kinder zu, die lachten und hüpften und tollten. —[S. 20] Aber keines forderte sie auf, doch mitzuspielen. — Da endlich rief eine fröhliche Stimme: „Guten Morgen, Suse.“ Und vor ihr stand ein Mädchen mit roten, frischen Wangen und freundlichen, lachenden Augen. Es war Toni, Theobalds Schwester, die einige Jahre älter als Suse war.
„Na, seid ihr gut in die Schule gekommen?“ fragte sie freundlich. — „Theobald wollte euch eigentlich heute morgen abholen. Aber er hat die Zeit verschlafen, das Murmeltier. Weißt du, er hat gesagt, er muß sich eurer annehmen und euch beschützen, als Dank für die Gastfreundschaft, die er bei euch genossen hat. Der Hanswurst! Das gehört sich so, hat er gesagt. — Ach, Suse, du glaubst gar nicht, wie er sich daheim mit euch aufspielt. Es ist einfach gräßlich! Er hat gesagt, euer Vater hat euch ihm ganz besonders ans Herz gelegt, und wenn er nicht ganz genau auf euch aufpaßte, kämt ihr sicher unter die Räder.“
Suse errötete und hütete sich wohl zu sagen, wie nah sie heute morgen schon an den Rädern gewesen waren, dank des Vetters gütiger Führung.
„Komm, Suse,“ rief hier ihre kleine Cousine und führte sie hin zu den Mädchen, die in Susens Klasse gingen.
„Spielt mit meiner kleinen Cousine,“ rief sie den muntern Dingern zu.
„Suse ist gar nicht so still, wie sie aussieht. Die ist sogar sehr lustig, viel lustiger, als ihr alle miteinander. Und rennen kann sie, famos, tadellos! Mein Bruder Theobald sagt auch, da kann keiner mit.“
Hier griff eines der vorüberlaufenden Mädchen nach Tonis Arm und zog sie in der Hast mit sich fort.
So war Suse denn wieder allein. Eines und das andere der Mädchen begannen nun mit ihr zu reden, aber Suse war so schüchtern, daß sie nur leise ja und nein zu antworten wagte. Auch das Laufen schien sie verlernt zu haben. Da war es denn ganz gut, daß die Klingel bald erschallte und die Kinder in die Klasse zurückrief.
An dem Pult saß jetzt eine ganz andere Lehrerin als vorher. Aber obwohl sie viel munterer und lebhafter sprach als jene, konnte Suse ihr doch nicht folgen. Des Doktorkindes Aufmerksamkeit war außerdem von etwas ganz anderem in Anspruch genommen. Auf dem Pult vor der Lehrerin sah sie mit einem Male eine große Kugel stehen, die auf einem schwarzen Stengel steckte.
Wie war sie dorthin gekommen? Was bedeutete sie? War sie zum Schmuck da? Liebte die Lehrerin solche Kugeln?
Diese und andere Fragen quälten Suse. Und plötzlich entsann sie sich, daheim in des Pfarrers Garten eine ähnliche gesehen zu haben.[S. 21] Allerdings eine viel größere, leuchtendere, eine gar närrische Kugel. — Kam man ihr nahe, so warf sie einem das Spiegelbild schrecklich verzerrt zurück, die Nase zur Kartoffel angeschwollen, die Ohren weit abstehend, wie bei einer Springmaus. Laut jubelnd hatten Hans und Suse stets ihren verschandelten Anblick in dem Zauberspiegel begrüßt. Dann hatte auch ihr Freund, der Michel, ein feiner Jagdhund mit einem schmalen, vornehmen Kopf, hineinsehen und es dulden müssen, daß sich sein Kopf in der Zauberkugel zu einem auseinanderfließenden Pudding wandelte. An dieses lustige Spiel in des Pfarrers Garten mußte Suse nun immerfort denken und erwachte erst aus ihren Träumereien, als ein kleines Mädchen aufgerufen wurde, an das Pult trat und mit dem Finger auf der Kugel herumzeigte. Oh, wie sehr beneidete Suse ihre Mitschülerin um dies Vergnügen, und wie brannte sie darauf, ihrem Bruder von dieser aufregenden Sache zu erzählen! Jener hatte ihr ja versprochen, sie von der Schule abzuholen. Da sollte er gleich mal Wunderdinge vernehmen. —
Nach Schluß des Unterrichts, da stand der Bruder Hans wirklich draußen vor dem eisernen Gitter des Schulhofs und wartete auf die Schwester. Als letzte sah er sie aus dem Hofe kommen, ein ganzes Stück hinter den andern Mädchen her.
Jetzt erkannte sie ihn, eilte auf ihn zu und sah erstaunt in sein Gesicht. Denn er sah so froh aus, als wären die Lobsprüche seines Lehrers nur so dutzendweise auf ihn herabgekommen.
„Hans, hast du alles verstanden? Hast du viel gelernt, hast du auch schon viel geantwortet?“ fragte sie ängstlich.
„Nein“, sagte er da gedehnt, mit ganz langem Gesicht. „Nein, gar nicht, Suse. Ich habe nichts verstanden, nichts gelernt und nichts geantwortet!“
„Na, das ist nur gut,“ entgegnete sie erleichtert. „Das ist doch viel besser, als daß der eine was lernt und der andere nichts. Meinst du nicht auch? Ich glaub’ wirklich, dies ist den Eltern so am angenehmsten.“
Hans zuckte die Achseln und ging mit gerunzelter Stirn schweigend weiter. So einleuchtend schien ihm der Schwester Bemerkung denn doch nicht zu sein.
Aber langsam, wie die Sonne durch Wolken bricht, erschien das Lächeln wieder auf seinem Gesicht, und er kam endlich mit dem zutage, was ihn so froh stimmte.
„Suse, ich weiß jetzt, warum die Autos so brüllen; daran sind die Tuten schuld, die Trompeten, die Sirenen, die Lärm machen, damit die Leute aus dem Weg gehen. Hör’, ich weiß jetzt alles, wie es zu[S. 22]geht. Da wird durch einen Gummiball die Luft hineingedrückt, dann dreht sich eine Scheibe drin herum mit Löchern, und durch die fährt die Luft wieder heraus und bläst so fürchterlich.“
„Aber Hans, so was glaub’ ich nicht,“ fiel Suse erschreckt ein. „So was hab’ ich noch nie gehört. Das ist sicher nicht wahr. Das glaubt doch kein Mensch, daß eine Scheibe herumfährt und so laut bläst, als würde sie schreien.“
„Doch, Theobald hat’s gesagt,“ entgegnete der Bruder ganz beleidigt.
Er nahm es sehr übel, daß seines Vetters Reden angezweifelt wurden, stammte seine Weisheit doch von niemand anderem als von dem erfahrenen Theobald, der ihn in einer Pause zur Seite genommen und über die Wunder und Merkwürdigkeiten der Stadt aufgeklärt hatte.
„Ja, Suse, gräßliche Unglücke passieren manchmal mit den Autos,“ fuhr er hastig fort.
„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein, „das ist schon möglich.“
„Höre, höre,“ fuhr er fort. „Da ist ein Rad, das Steuer. — Das hat der Chauffeur in der Hand und lenkt damit den Wagen. Und wenn er ihn nicht zur rechten Zeit zum Stehen bringt, dann fahren die Autos womöglich rückwärts den Berg runter und überschlagen sich und werfen alles, was drin ist, raus, und die Leute brechen sich dabei den Hals.“
„Das glaub’ ich gern,“ fiel Suse ein. „Aber das, was du von den Sirenen gesagt hast, das glaub’ ich nicht, und wenn ich hundert Jahre alt werde. Das ist nicht wahr. Das hat uns Theobald nur so aufgebunden. Glaub’ mir, Hans. Und es ist frech von Theobald, daß er so was zu sagen traut und uns so belügt.“
„Aber nein, Suse, er belügt uns nicht,“ wehrte Hans. „Theobald lügt uns hier in der Stadt doch nicht an. Nur zu Hause. Und du sollst selbst sehen, daß alles wahr ist, was er gesagt hat. Hör’ doch, Suse, das will ich dir ja noch sagen, wir wollen heute nachmittag den Onkel Gustav besuchen und seine Autos ansehen. — Der Onkel Gustav, der wohnt draußen vor der Stadt und hat ein wundervolles Schloß und ist in fremden Ländern gewesen, wo es Löwen und Tiger und Elefanten gibt, und seine Frau ist auch von dort. — Fein, gelt? Und Kinder hat er, schwarz wie die Neger. Fein, gelt?“
„Aber, Hans, da können wir doch nicht hingehen, wenn wir nicht eingeladen sind,“ meinte die Schwester.
„Doch, Suse, — Theobald hat gemeint, es geht schon. Wir wollen ja nicht zu dem Onkel und zu der Tante und zu ihren albernen Kin[S. 23]dern. Wir wollen ganz einfach zu den Autos gehen und sie uns in einem Schuppen ansehen...“
Unter diesen Gesprächen waren die beiden allmählich vor Frau Cimhubers Haus angelangt, das schmal und hoch in einer Häuserreihe eingeklemmt lag.
Scheu sahen sie zum vierten Stock hinauf.
„Ich glaub’, Ursel guckt schon,“ sagte Suse halblaut.
Die beiden sahen sich an, als empfänden sie Furcht, gingen dann ins Haus, erstiegen schnell die Treppe, legten droben Hut, Jacke und Ranzen ab und standen einige Minuten später in dem Eßzimmer der Pfarrfrau.
Bescheiden und schüchtern nahmen sie hier Platz und zeigten wieder ganz ihr gedrücktes Wesen von heute morgen. Dahin war Hansens stolzes Siegergefühl, eine Frucht seines Unterrichts bei Theobald, und der Stolz auf seine Automobilkenntnisse schwand wie Butter an der Sonne angesichts der forschenden Blicke seiner Pflegemutter, die nicht von ihm und Suse ließen.
Und mit einem Male hob sie an: „Na, Kinder, ihr habt doch sicher recht aufgepaßt in der Schule und allerlei behalten. Denn ihr wollt ja was lernen hier; dazu seid ihr ja hierhergekommen, nicht wahr? Und dazu haben eure Eltern euch hierhergeschickt. Und ihr wollt euern Eltern doch Freude machen. Nicht wahr? Was für Stunden habt ihr heute schon gehabt, erzählt mal!“
Da saßen sie da wie die ertappten Sünder, stießen sich unter dem Tisch an und wußten nicht, was antworten.
Hans sah errötend und hilfesuchend nach Suse hin. Aber auch sie stotterte hin und her und erklärte schließlich, auf dem Pult sei eine blaue Kugel gestanden, und die Kinder hätten mit dem Finger darauf herumfahren dürfen.
„Das ist alles, was du gesehen hast, Kind?“ fragte die Pfarrfrau und legte vor Überraschung Messer und Gabel hin. „Das ist alles, Suse? Mehr hast du nicht gesehen, Kind?“
Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf.
„Aber, Suse, wo hast du denn die Augen gehabt,“ fuhr ihre Pflegemutter vorwurfsvoll fort. „Hast du denn nicht aufgepaßt? Weshalb gehst du denn überhaupt in die Schule, wenn du nicht aufpassen willst. Ihr geht doch hier in die Schule, um etwas zu lernen.“
Suse sah die Pfarrfrau hilflos an; ihre Augen füllten sich mit Tränen; mit einem Male sagte sie kaum hörbar: „Ich hab’ immer hingehört und aufpassen wollen, aber da hab’ ich immer an unseren Michel daheim und den Lehrer denken müssen, und da hab’ ich nicht aufgepaßt.“
„Und ich hab’ auch nicht aufgepaßt,“ sagte Hans und saß wie das verkörperte schlechte Gewissen da.
Frau Cimhuber schaute lange vorwurfsvoll von einem Kind zum andern und fuhr dann mit ernster Stimme fort: „Aber ihr müßt aufpassen, Kinder. Das ist eure Pflicht. Das wünschen eure Eltern. Daran müßt ihr immer denken; und wenn der Unterricht auch schwer fällt, müßt ihr eben doppelt aufpassen.“
Ursel aber, die bei Tisch bediente, schlug einmal übers anderemal die Augen zur Decke empor, und nach dem Essen begann sie: „Ich hab’ grad gemeint, ich hab’ einen Schlag an den Kopf bekommen, wie ich das Gestammel und Gestotter gehört hab’. — Auf einer blauen Kugel haben sie herumfahren dürfen! Ist das nicht fürchterlich? Das hab’ ich doch jetzt all mein Lebtag noch nicht gehört, daß in der Schule Kugeln sind, auf denen man herumfährt. Bei den Kindern stimmt’s nicht. Irgendwo stimmt’s nicht.“
Der Pfarrfrau wurde es angst und bange angesichts von Ursels Aufgeregtheit, und sie sann darüber nach, wie sie die alte Magd besänftigen könne. Denn es läßt sich nun mal nicht leugnen, daß Ursel in den langen Jahren, in denen sie bei Frau Cimhuber Magd gewesen war, sich zur Gewalthaberin im Hause ausgebildet hatte, die oft selbst ihre eigene Herrin einzuschüchtern verstand.
„Es hilft nichts, Ursel,“ sagte Frau Cimhuber jetzt in beruhigendem Ton, „wir müssen Geduld haben.“
„Wenn ich da an unseren Edwin denke,“ fuhr Ursel unbeirrt fort, „wenn der aus der Schule kam, der wußte immer alles, der saß nie so verdattert da. Das war eine Freude, den anzusehen, bei dem konnte man noch was lernen.“
„Ja, ja, unser Edwin,“ sagte Frau Cimhuber, und ein glückliches Lächeln ging über ihr Gesicht, „der machte uns stets nur Freude.“
Auch Ursels Gedanken wanderten auf dem eingeschlagenen Weg fort, und sie sagte nachdenklich: „Wann er wohl schreibt, der Herr Edwin? — Er hat so lange nicht geschrieben. Aber man braucht ja nicht in Sorge zu sein. Das dauert ja immer lange, bis die Briefe die weite Reise gemacht haben.“
„Mir ist gerade, als schriebe er heute,“ sagte Frau Cimhuber, versonnen vor sich hinblickend. „Ich habe so ein Gefühl, als müßte ich heute noch einen Brief von ihm in Händen halten.“
Während dieser Unterredung hatten Hans und Suse sich in ihr Zimmer zurückgezogen und begannen wieder froh zu werden.
Sie wollten heute nachmittag ja den Onkel Gustav besuchen.
Keinem von beiden kam der Gedanke, ein Gang zu ihrem Onkel[S. 25] könnte ihnen verwehrt werden, waren sie doch von Hause aus gewöhnt, in ihrer freien Zeit zu tun und zu treiben, was ihnen beliebte. Hans putzte sich und kämmte sich und richtete sich säuberlich her, gerade als sei ein Auto eine hochgestellte Persönlichkeit, der man durch ein geschniegeltes Äußeres Achtung abzwingen könne. Dazu erzählte er in einemfort von den Plänen, die er mit Theobald gefaßt hatte.
„Um drei Uhr will er uns abholen,“ erklärte er, „ich hab’ ihm gesagt, er soll doch zu uns herauskommen, aber er will nicht. — Er will nicht vor Frau Cimhuber dienern und scharwenzeln, weil sie ihm nicht ganz grün ist.“
Lange vor der festgesetzten Zeit standen die beiden Kinder am Fenster und sahen erwartungsvoll nach dem Vetter aus. Endlich, endlich tauchte er in der Ferne auf, dicht am Geländer des Kanals entlang schlendernd. Jetzt war er fast dem Haus der Frau Cimhuber gegenüber. Jetzt sah er auf und entdeckte die beiden am Fenster. Sie machten ihm ein Zeichen, zu warten und beschlossen dann, ihrer Pflegemutter zu sagen, was sie vorhätten, um sich von ihr zu verabschieden.
Da ging die Tür auf und sie selbst trat ein, und zwar zum Ausgehen bereit. Auf ihrem Kopf trug sie einen kleinen Kapothut, der mit langen Bändern unter dem Kinn gebunden war, und über ihre Schultern hing ein langer Spitzenüberwurf. „Ich wollte sehen, was ihr treibt,“ begann sie eintretend. „Ihr müßt nämlich ein paar Stunden allein hier bleiben; denn Ursel und ich gehen in die Stadt und wollen das Haus von Bekannten ausschmücken, die von einer Reise zurückkommen. Ihr macht derweil eure Aufgaben oder schreibt Briefe nach Hause. — Das scheint mir das Richtigste. — Du, Suse, arbeitest vielleicht auch an einer Handarbeit. Du hast sicher ein Strickzeug?“
„Ja, ein Puppenunterröckchen hab’ ich mitgebracht,“ sagte Suse kaum hörbar.
„Du nimmst also dein Strickzeug und strickst. Kleine Mädchen dürfen nie unbeschäftigt dasitzen.“
Suse nickte.
„Halt, noch etwas wollte ich sagen,“ meinte die Pfarrfrau, „wenn es klingelt, so geht ihr hin und macht auf. Es kann sein, daß der Briefträger kommt.“
Die beiden konnten fast nicht atmen, so fuhr ihnen der Schreck in die Glieder. — Nun konnten sie ja gar nicht fort. — Wie verwundete Rehe, so traurig sahen sie Frau Cimhuber an. Sie aber merkte nichts von ihrer Niedergeschlagenheit und sagte ganz freundlich: „Lebt wohl, Kinder! Ihr habt doch verstanden, daß ihr auf das Klingeln achten sollt? Nicht wahr?“
Und damit hatte sie auch schon das Zimmer verlassen.
Das Geschwisterpaar hörte die Flurtür schlagen, und Frau Cimhuber samt Ursel von dannen gehen. — Nun war alles aus.
Suse ließ sich mit gefalteten Händen auf einen Stuhl nieder. Hans schlich sich zum Fenster und blickte wehmütig hinter den beiden her. Er sah sie aus dem Hause treten und die Straße kreuzen. In demselben Augenblick gewahrte er, wie der Vetter, der am Kanal lustwandelte, auch der Pfarrfrau und ihrer Begleiterin ansichtig wurde und kehrt machte, als sei ihm ein Schuß in die Glieder gefahren. Weit beugte er sich über das Geländer des Kanals und stierte lange in das trübe Gewässer. Endlich, als er annahm, daß sie außer Sicht seien, drehte er sich um, machte einen Luftsprung und eilte auf das Haus, aus dem sein Vetter sah, zu, nahm die Treppen im Sturm und klingelte im vierten Stock, daß es nur so durch die Stuben hallte.
„Fein, daß ihr da seid,“ meinte er zu seinen kleinen Verwandten. „Jetzt kann man doch mal mit Muße in eurem Wigwam herumäugen. Wißt ihr, wenn Frau Cimhuber und ihre Hofdame, der Igel Ursel, da sind, ist’s mir nicht recht geheuer. Da ist so ein dunkler Punkt zwischen uns. Übel, übel, sag’ ich euch.“
Suse errötete tief, denn ihr war plötzlich eine Erzählung von Theobald eingefallen, wonach ihn Frau Cimhuber einmal mit ihren „spitzen Krallen“ gepackt und mit „pöbelhaftem Ungestüm“ vor die Tür gesetzt hatte, weil er ihren Hund, den Karo, auf die linke Hinterpfote getreten hatte. —
Der dunkle Punkt vermutlich. —
Und taktvoll leitete die Base das Gespräch auf andere Dinge.
„Hast du unsere Negerstube schon gesehen?“ fragte sie mit geheimnisvoller Stimme.
„Was soll ich gesehen haben?“ entgegnete er und sperrte den Mund weit auf.
„Komm, komm,“ drängte Suse und eilte voraus, den Gang hinunter, um mit einem strahlenden Ausdruck im Gesicht Frau Cimhubers Negerstube zu öffnen, als wäre sie ihr ureigenstes Besitztum.
„Fein, gelt?“ sagte sie, den Vetter erwartungsvoll anblickend. „Sieh mal die herrlichen Dinge an, Theobald.“
Der Vetter musterte mit Stirnrunzeln die Prunkstücke des Raums, hatte sofort den Negergott entdeckt, der grinsend auf seinem Ständer in der Ecke saß, und ging stracks auf ihn zu.
Suse klopfte das Herz bei dieser Vermessenheit und sie rief: „Nicht doch, nicht doch!“
Theobald aber streichelte dem Götzen zärtlich die Wangen und sein[S. 27] schwarzes, aus Holz geschnitztes Haar, als wär’s das Fell eines Schoßhündchens, und ging dann, ein Liedchen pfeifend, von einem Gegenstand des Raumes zum andern, als wäre er im Schatten von Negerschwertern und -messern groß geworden.
„Ihr wißt natürlich nicht, von wem die Sachen eigentlich sind,“ begann er schließlich.
Sie schüttelten ihre Köpfe.
„Nun, so will ich’s euch sagen. Sie sind nämlich alle von dem Edwin Cimhuber, das ist der Sohn von eurer Pflegedame. Der ist Missionar in Afrika bei den Negern und Hottentotten; die bekehrt er.“
„Was ist er?“ fragte Suse plötzlich lebhaft und aufgeregt, „Missionar? In den fremden Ländern ist er Missionar? Ist er schon lange dort?
Kommt er nicht mal? Unser Herr Pfarrer hat uns auch schon von den Missionaren erzählt, Theobald, und jedesmal hat er uns die wunderschönsten Bilder gezeigt. Palmenwälder waren drauf und beladene Kamele, die durch die Wüste wandern. Und das Meer und fremde Vögel und Affen, die in die Bäume klettern, und alle waren aus Afrika und Asien. — Und dort lebt der Herr Missionar, Theobald, hast du gesagt?“
„Ja, und der Herr Edwin ist das Schönste und Beste und Herrlichste, das es auf der Welt gibt. Wenigstens für die Frau Cimhuber, für mich nicht.“
Suse war noch ganz in Gedanken und meinte mit einem Male: „Es ist doch schön, daß wir hier wohnen! Nicht wahr, Theobald? Hier haben wir richtige ausgestopfte Affen, die der Herr Missionar geschenkt hat, und vielleicht kommt er selbst einmal. Nicht wahr, Theobald? Möchtest du nicht auch hier wohnen?“
„Ich hier wohnen,“ rief der Vetter und auf seinem sonst so gleichmütigen Gesicht mit der erhabenen Miene malte sich ein ehrlicher Schrecken...... „Brr!“
„Ach, weißt du was,“ meinte Suse voll Schonung, „wenn man immer höflich und artig zu Frau Cimhuber ist, dann passiert einem nichts. Vielleicht wird sie uns sogar Geschichten von ihrem Sohn aus Afrika erzählen.“
„Ein Glück, daß ich die nicht zu hören brauche,“ fiel Theobald ein. „Gott sei Dank! Überhaupt, das will ich euch sagen, ihr braucht euch gar nicht so gräßlich viel auf die Sachen hier einzubilden. Da sind wir hier in der Stadt doch an ganz andere Dinge gewöhnt. Wenn wir jetzt zum Beispiel zu unserem Onkel Gustav gehen, da werdet ihr mal was erleben. Der hat Tiere, wie ihr sie haben wollt; die schönsten und die wildesten, mit und ohne Gerippe, mit und ohne Haut, mit und ohne Federn. Ganz nach Wunsch. —
Und schwarze Dienerinnen hat er, die haben Lippen, wie aufgeplatzte Rotwürste. —
Aber hopp,“ unterbrach er seinen eigenen Redeschwall, „wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren, macht euch fertig.“
Suse warf Hans einen betrübten Blick zu und sagte dann ängstlich: „Wir müssen ja hier bleiben, Theobald, und die Tür aufmachen, wenn einer kommt.“
Der Vetter graulte sich hinter den Ohren und überlegte.
„Wißt ihr, was wir machen?“ rief er plötzlich. „Einer von euch kommt mit, der andere bleibt hier.“
Suse fing einen wehmütig bittenden Blick ihres Bruders auf, kämpfte einen schweren Kampf und sagte schließlich: „Hans, geh’ du nur hin, ich bleib hier. Du möchtest dir ja so gern die Autos ansehen, ich frage nicht soviel danach wie du.“
Des Bruders Gesicht erhellte sich, und er sagte leuchtenden Auges: „Ich komme auch recht bald wieder, Suse! In einer Stunde bin ich wieder da.“
„Ja, tu das,“ entgegnete sie.
Und da rannten die Knaben auch schon davon.
Sie horchte hinter ihnen her, wie sie die Treppe hinuntereilten, und wollte hierauf in ihr Stübchen gehen. Aber wie von unsichtbaren Händen gezogen, mußte sie sich der Negerstube zuwenden.
Langsam kam sie näher und stand lange unschlüssig davor. Zögernd legte sie die Hand auf die Türklinke und wollte sie niederdrücken. Da fuhr die Tür von selbst weit auf, und sie befand sich mit einemmal frei und ungeschützt dem Negergott gegenüber. Grinsend sah der Götze sie an. Wie erstarrt schaute sie nieder. Da klirrte ein Negerschwert leise, ein großer ausgestopfter Affe knurrte und der Negergott grunzte. —
Hm... Hm... Ho... Ho... Ha... H... klang es irgendwo.
Suse stieß einen Schrei aus und stürzte den Gang hinunter in ihr Zimmer zurück. Dort riegelte sie sich ein. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht.
Suse fürchtete sich fast zu Tode.
„Ach, Hans, wärst du doch hier geblieben,“ weinte sie vor sich hin. „Ach, lieber Gott, verlaß mich nicht. Mach doch, daß Hans kommt.“
Ängstlich, wie nach Hilfe suchend, flogen ihre Blicke durch die Stube. Da sah sie plötzlich wie gebannt auf die Kommode, wo die Bilder ihrer Eltern standen, sowie die Rosels, ihrer Magd, und Christines, der alten Kinderfrau von daheim. Beruhigend und tröstend sahen die guten, freundlichen Gesichter zu ihr herüber.
„Sei nur still, liebes Kind, sei nur still,“ schienen sie zu sagen, „wir sind ja bei dir.“
Da drückte sie ein Bild nach dem andern zärtlich an sich und fühlte, wie ihr’s viel leichter, viel wohler ums Herz wurde. Zu guter Letzt fielen ihre Augen noch auf einen ganz besonderen Tröster.
Dort stand Michel, der Gefährte ihrer Jugend, ein Jagdhund, und blickte kühn wie ein Eroberer hinter Glas und Rahmen hervor. Seine klugen Augen blitzten auf dem Bilde, seine Schnauzbarthaare spreizten sich keck, sein Schwanz stand wagerecht ab wie ein Lineal. Mit einem solchen Freund im Bunde brauchte man selbst den Negergott nicht mehr zu fürchten!
Vorsichtig trug Suse all ihre Schätze auf den Tisch und baute nun eine Art Schutz- und Trutzburg von ihnen auf, hinter die sie sich zu verstecken und einen Brief nach Hause zu schreiben gedachte.
Allerlei Andenken von daheim vervollständigten noch ihre Festung: ein Briefbeschwerer, den ein Freund von Hans mit Namen Martin, ein armer, verkrüppelter Knabe, ihnen am Tage vor ihrer Abreise mit glückstrahlenden Augen gebracht hatte.
Das Geschenk stellte eine Kugel dar, die auf einer Alabasterplatte ruhte, und zeigte in seinem Innern „die heilige Nacht“ in bunten Figuren. Maria und Joseph saßen, von Schneegestöber umhüllt, vor der Krippe und beteten das Christkind an.
Nachdem Suse das Geschenk ein Weilchen zärtlich betrachtet hatte, legte sie es auf den Tisch nieder und reihte an seine Seite ein Andenken von Christine, einen Wachsengel in einer Pappschachtel, der zwischen lauter Papierblumen wie ein blankes, reingewaschenes Badepüppchen hinter einer Glasscheibe hervorsah. — Lange Jahre hindurch war dies ärmliche Kunstwerk Christines Heiligtum gewesen und von ihr bewundert, gehütet und gepflegt worden. Jetzt gehörte es Hans und Suse. Auch zwei Federn von Babette Buntrock, dem Lieblingshuhn der Doktorskinder, wurden zu den Andenken gelegt. Dann rückte sich das kleine Mädchen einen Rohrstuhl an den Tisch und begann zu schreiben:
„Liebe, liebe Mutter, lieber, lieber Vater!
Ich muß immer an Euch und Michel und Christine und an alle, alle denken. Es ist wunderschön hier. Ach, wäret ihr nur hier! Ist Christines Ziege wieder besser? Ich bin allein hier, und der Hans ist fort und besucht den Onkel Gustav. Oh, wie hab’ ich mich gefürchtet heute morgen, wie ich in die Schule bin. In der Schule lerne ich nichts. Die Kinder sind alle viel klüger als wir, und viele Lehrerinnen gibt’s hier. Frau Cimhubers Sohn ist in Afrika, dort ist es wunderschön. Aber ich möchte, ich wär daheim.“
Zu diesem Brief brauchte Suse vielleicht anderthalb Stunden; denn fast nach jedem Wort machte sie lange Pausen, kaute an ihrer Feder[S. 30] oder trocknete umständlich ihre Tränen ab, die immer wieder auf das Papier tropften.
Zuletzt wußte sie nicht mehr was schreiben, schob ihr Papier zur Seite und holte ihr Puppenunterröckchen hervor, um ein wenig daran zu arbeiten, wie Frau Cimhuber ihr ja befohlen hatte.
Aber es wollte nicht so recht mit der Arbeit vorwärts gehen, denn das Kind mußte immerwährend an seinen Bruder Hans denken.
Wenn er nun nicht zur rechten Zeit nach Hause käme? Was dann?
Da klingelte es. Suse flog zur Tür. „Hans, Hans!“ rief sie. Aber als sie öffnete, stand niemand anders vor ihr als Ursel, und zwar anscheinend in großer Aufregung.
Suse zitterte wie Espenlaub. Sie glaubte bestimmt, die Magd habe Hans irgendwo auf der Straße mit Theobald gesehen und wolle nun nachsehen, ob sie sich nicht getäuscht habe.
Forschend richtete die alte Magd jetzt ihre Augen auf Suse und fragte barsch: „Warum hast du geweint. Hast du dich mit Hans gezankt?“
Suse schüttelte den Kopf. „Warum hast du geweint?“ fragte Ursel noch einmal.
„Ich hab’ nach Hause geschrieben und da hab’ ich weinen müssen,“ flüsterte Suse.
„Dummes Zeug,“ murmelte Ursel und ging kopfschüttelnd in die Küche, um Hans und Suse den Kaffee zu wärmen und einige Stücke Brot zu schneiden. Sie glaubte, beide Geschwister seien zu Hause.
„Darf ich den Kaffeetisch decken?“ fragte Suse schüchtern und zitterte für den Bruder. Die alte Magd nickte.
Das kleine Mädchen holte geschäftig Tassen, Unterschälchen, Zuckerdose und Milchtöpfchen aus dem Schrank, stellte sie schön ordentlich auf ein Servierbrett und wollte damit in die Stube gehen. Da klingelte es wieder.
Hu, wie fuhren da die Tassen und Unterschälchen durcheinander und rasselten und klirrten! Ums Haar wären sie auf dem Boden gelegen. Schnell stellte Suse sie zur Seite, eilte zur Tür hinaus und den Gang hinunter, während ihr die Zöpfe hinterherflogen, wie einem Kellner die Rockschöße und die Serviette.
„Halt!“ rief Ursel. „Was läufst du so? Wo willst du hin? Halt! Halt!“
Aber das kleine Mädchen war schon an der Flurtür, öffnete, und rannte dem Briefträger stracks in die Arme.
„Scht, scht,“ mahnte dieser, „nur nicht so stürmisch. Ich hab’ einen Brief an Frau Cimhuber.“
Ursel sah auf das Schreiben in des Postboten Hand und erkannte die[S. 31] fremde Marke und eine vertraute Schrift. „Danke, danke,“ sagte sie zitternd.
„Er ist von Herrn Edwin,“ fuhr sie fort, das Schreiben um und um wendend. „Da wird sich Frau Cimhuber freuen. Darauf warten wir schon lange. Großer Gott, wir danken dir, du verläßt uns nicht. — Gleich, gleich will ich jetzt zu der Frau Pfarrer gehen und ihr den Brief bringen. Sie wird so froh sein. Sie wird überglücklich sein.“
Und Suse sah mit Verwunderung, wie der alten Frau die Tränen in die Augen traten und die Röte der Erregung die Nasenspitze leuchtend färbte. Und wie sie dann ihre Küchenschürze hastig gegen ihre baumwollene schwarze Staatsschürze umtauschte, indem sie eifrig sagte: „Eßt, liebe Kinder, und trinkt euren Kaffee, und seid nicht ungeduldig, daß wir euch allein lassen. Wartet noch ein Weilchen, wir sind bald wieder da. Lebt wohl, lebt wohl.“
Das Kind blickte nur immer nach Ursels Augen, die so hell strahlten wie Lichter, während sie doch noch vor kurzem so düster, so unfreundlich dreingesehen hatten.
„Sie sind froh, gelt, Ursel?“ fragte das kleine Mädchen, als sie der alten Magd das Geleite zur Tür gab.
„Ja, wir sind froh, Frau Cimhuber und ich sind sehr froh. Wir hatten so Angst um das arme, arme Kind. Was hat der Herr Edwin alles in Afrika auszustehen! Ich werde euch einmal davon erzählen, wenn ich Zeit habe.“
„Danke, danke,“ rief Suse, und ihr Herz klopfte bei der schönen Aussicht auf die künftigen Erzählungen.
Als Ursel gegangen war, kam dem Doktorskind aber gleich wieder der Gedanke an den abwesenden Bruder, und sie zitterte vor Angst. Wenn Frau Cimhuber wiederkehrte, und er wäre noch nicht da, so würde es ihm schlecht ergehen. Suse lehnte sich aus dem Fenster und spähte die Straße hinunter, ob er noch nicht komme. Die Tür ließ sie sperrangelweit hinter sich offen, und der Götze hätte jetzt bequem hereinkommen und Suse ein wenig zwicken können, wenn er der Unhold gewesen wäre, als den sie ihn erkannt hatte.
„Wenn Hans doch nur käme, wenn Hans doch nur käme, ach, wenn Hans doch nur käme,“ sagte sie in Gedanken immer wieder vor sich hin.
Eine Stunde wollte er ja nur fortbleiben! Wenn er doch nur käme! Bald würden Frau Cimhuber und Ursel wiederkommen, dann wär’ er nicht da, und dann....
Da sah sie ihn am Kanal entlang laufen. Nun erblickte auch er seine Schwester am Fenster und winkte zu ihr hinauf. Gleich darauf war er bei ihr.
„Oh, Suse, wie schön war es! Was hab’ ich alles gesehen!“ rief er mit fliegendem Atem.
„Da war ein großes Schloß. Und den Schuppen mit den Automobilen haben wir uns besonders angesehen, und die schwarzen Dienerinnen hab’ ich auch gesehen. Und einen Pfau mit wundervollen Augen im Schwanz.“
„Ach, wär’ ich doch auch mitgegangen,“ sagte Suse schmerzlich.
„Sei nicht traurig,“ tröstete er, „ein andermal gehst du auch mit.“ Und hastig fuhr er fort: „Und von den Automobilen weiß ich jetzt noch besser Bescheid als heute morgen. Der Herr Willy, das ist der Chauffeur, der hat Theobald alles genau erklärt, und ich habe zugehört.“
Suse zuckte ungeduldig die Achseln. Der Kraftwagen und seine Bestandteile ließen sie kalt.
Aber gespannter hörte sie wieder zu, als er fortfuhr: „Und gefürchtet haben wir uns, Suse, gefürchtet, einfach schrecklich.“
„Siehst du, siehst du,“ triumphierte Suse, „was ist denn wieder mal passiert? Gelt, das Auto hat wieder einmal gebrüllt?“
„Nein, nein, ich mein’ ja was ganz anderes. Hör’, was ich dir erzähle. Wie wir uns so das Automobil angucken, da kommt, oh, es war schrecklich! da kommt, denke dir, da kommt...“
„So sprich doch, Hans!“
„Da kommt sie.....“
„Welche sie, Hans?“
„Ei, die Frau von Onkel Gustav.“
„Bloß die Frau von Onkel Gustav,“ sagte Suse enttäuscht. „Hast du ihr denn guten Tag gesagt, Hans?“
„Oh, was glaubst du denn,“ wehrte er entrüstet, „das trau ich doch nicht.“
„Aber, Hans, vor der Dame hast du noch nicht einmal den Hut abgenommen, und weißt doch, daß wir immer guten Tag sagen sollen, wenn wir irgendwo hinkommen. Das haben doch der Vater und die Mutter uns befohlen.“
„Das weiß ich wohl, aber der trau ich doch nicht guten Tag sagen.“
„Warum denn nicht?“
„Oh, sie ist eine gräßliche Rippe,“ hat Theobald gesagt, „und böse wie ein Tiger.“
Suse schauderte es.
„Ist sie auch eine Negerin?“ forschte sie atemlos. „Vielleicht stammt sie von den Menschenfressern ab, und da hat Onkel Gustav sie in den fremden Ländern geheiratet. Es könnte schon sein. Gelt Hans?“
„Das weiß ich nicht.“
„Wie sieht sie denn aus?“
„Das weiß ich auch nicht.“
„Hast du sie denn gar nicht gesehen?“
„Nein, mit einemmal hat Theobald gerufen: ‚Da kommt sie!‘ und da hab’ ich gar nichts mehr gesehen und gehört. Und da hat Theobald die Tür von dem Automobil aufgerissen und ist mit beiden Füßen hineingesprungen, und ich bin hinterdrein und hab’ die Tür zugeschlagen. Und da haben wir uns beide unter die Bänke geworfen. Der Theobald ist mitten auf meinen Kopf gelegen. Ich hab’ gemeint, ich ersticke. Und mit einemmal legt sich eine Hand auf die Tür, und denke dir, da wollte sie reingucken. Aber der Herr Chauffeur hat ihr schnell was vom Onkel Gustav gesagt, und da hat sie die Tür wieder fahren lassen. — Denke dir, wenn sie reingekommen wäre und auf unsere Köpfe getreten hätte!“
„Die hätte euch tot getreten,“ sagte Suse, die ihre Tante sofort als ein gräßliches Ungeheuer erkannt hatte.
„Erzähl’ mir noch mehr von der gräßlichen Frau, Hans,“ drängte sie, „bitte, bitte.“ —
Schauerliche Dinge erleben mochte Suse beileibe nicht, aber sie anzuhören, war ihr nicht unangenehm. „Am Ende frißt sie wirklich Menschen,“ sagte sie, sich fester an den Bruder anschmiegend, mit dem sie Hand in Hand auf dem Sofa in ihrem Stübchen saß. „Erzähl’ weiter.“
„Ich weiß nichts mehr von ihr. Gesehen hab’ ich sie nicht.“
„Dann erzähl’ mir noch, bitte, von dem herrlichen Schloß in dem Garten.“
„Ich hab’ einmal von der Veranda in das Zimmer geguckt und schöne Sachen drin gesehen.“
„Und die ausgestopften Tiere? Die waren nirgends, Hans?“
„Ich hab’ sie nicht gesehen.“
„Ach, Hans, wann kommen wir mal hin?“
„Oh, bald, bald, der Onkel Gustav will, daß wir oft kommen, hat Theobald gesagt. Er will, daß unsere guten Manieren und unser deutsches Gemüt auf seine Kaffern abfärbe. — Die Kaffern sind nämlich seine Kinder.“
So fuhr Hans noch lange eifrig fort, Suse ein merkwürdiges Licht über die neue Verwandtschaft aufzustecken. Erst als es Zeit zum Abendessen war, beendete er seine Erzählung und ging mit Suse zu Frau Cimhuber hinüber.
„Hans,“ ermahnte ihn seine kleine Schwester unterwegs, „wir müssen sagen, was wir heute nachmittag gemacht haben, wo du gewesen bist; denn wenn Frau Cimhuber erfährt, daß du fortgelaufen bist, und es ihr nicht erzählt hast, denkt sie, wir wollen sie belügen.“
„Ja, ja,“ sagte Hans, „das will ich tun.“
Aber als sie bei Tisch saßen und er davon anfangen wollte, begann Frau Cimhuber von der Familie zu erzählen, die sie heute nachmittag besucht hatte, und deren artigen Kindern.
Endlich, als sie einmal eine Pause machte, sprach Suse ihrem Bruder unter dem Tisch durch heftige Stöße Mut zu, und er begann stockend: „Frau Pfarrer, ich bin... Frau Pfarrer, ich bin heute nachmittag...“
Da unterbrach ihn die Pfarrfrau mit den Worten: „Kinder, ihr müßt euch daran gewöhnen, Erwachsene nicht durch eure Reden zu unterbrechen. Ihr müßt immer erst dann reden, wenn man euch etwas fragt.“
Und diese Worte der Pfarrfrau schüchterten die Kinder so ein, daß sie ihr gute Nacht boten, ohne ihr ein Wort von dem zu sagen, was sie heute nachmittag erlebt hatten.
„Ich fürchte mich vor der Schule morgen,“ flüsterte Suse, als sie allein mit ihrem Bruder war.
„Das mußt du nicht,“ meinte er, „denk nicht dran! Ich denk auch nicht dran.“
Und in der Absicht, sie auf andere Gedanken zu bringen, fuhr er mit geheimnisvoller Stimme fort: „Laß uns aus dem Fenster sehen, jetzt springen vielleicht auf dem Dach wieder die herrlichen Buchstaben herum wie gestern abend.“
„Ja, ja, du hast recht,“ sagte die Schwester und machte sich schnell fertig, um mit ihrem Bruder an das Fenster zu treten und die nächtliche Stadt zu betrachten. Wie Tausende von Leuchtkäfern funkelten dort die Lichter aus dem Dunkel auf, wie schillernde Schlangen glitten die Elektrischen am Kanal entlang, und aus den engen Straßen kamen die Menschen als vermummte Gestalten ans Licht. Und pünktlich, wie der Mond und die Sterne daheim über dem Nußbaum im Hofe der Doktorskinder, erschienen auf dem Dach des hohen Hauses jenseits des Kanals die leuchtenden Buchstaben, deren Sinn Hans und Suse nicht erkunden konnten. Ein Buchstabe nach dem andern blitzte auf und lief über den Dachfirst. Leuchtend standen dort ein paar Worte und erloschen wieder, um nach einigen Sekunden in neuem Glanz zu erstehen.
„Wie schön, wie schön,“ sagte Hans leise.
Suse aber faltete die Hände und wiederholte die Worte von heute morgen: „Ach, wenn doch daheim auf unserem Dach auch mit einemmal solche herrliche Buchstaben herumsprängen! Der Vater und die Mutter, die würden sich gewiß freuen, gelt Hans? Die Buchstaben sind doch das aller-, allerschönste hier! Wenn die nicht wären, dann wär’ es so häßlich wie nirgends sonst auf der Welt!“
Für den Sonntagnachmittag waren Hans und Suse bei Onkel Sepp und Tante Hedi, Theobalds Eltern, eingeladen. Aber im letzten Augenblick wurde die Einladung zurückgenommen, und die Geschwister mußten daheim bleiben. Ihre Vettern und Basen durften an dem Tag keinen Besuch empfangen; es waren eben unverbesserliche Sausewinde, die nichts wie tolle Streiche verübten, für welche sie dann büßen mußten. Diesmal handelte es sich um eine recht dunkle Sache, von der Theobald nur in unklaren Andeutungen sprach. Danach war eine Papiertüte voll Wasser zufällig von der Gartenmauer seines Vaterhauses gefallen, einer vorübergehenden Marktfrau auf den Kopf und dort geplatzt, worauf die Frau vor Schreck sich mitten auf der Straße niedergelassen hatte.
Und für diesen harmlosen Vorfall, an dem nach Theobalds Ausspruch kein Mensch Schuld hatte, waren Onkel Sepps Kinder hart bestraft worden und hatten heute Stubenarrest.
So waren Hans und Suse denn auf sich allein angewiesen. — Frau Cimhuber war ausgegangen und hatte den Kindern versprochen, sie gegen Abend zu einem Spaziergang abzuholen. Ursel hatte sich in die Küche zurückgezogen, denn sie litt noch immer an starkem Zahnweh, und auf ihrem vermummten Kopf standen die Zipfel ihres Tuches steil aufrecht wie zwei Hasenohren.
Die ganzen letzten Tage hatte sie zwar versprochen, den Kindern heute Missionarsgeschichten zu erzählen; aber nun, da es so weit war, warf sie Blicke um sich wie der Drache in der Höhle, und die Kinder mieden sie ängstlich.
Die meiste Zeit des Nachmittags verbrachten sie in ihrem Zimmer, wo Suse in eine immer gedrücktere Stimmung verfiel. Sie hielt einen Brief ihrer Mutter in Händen, den sie heute morgen erhalten hatte und in dem sie immer wieder las.
„Mein liebes Kind,“ stand in dem Brief geschrieben, „die Veilchen blühen noch immer und tragen viele Knospen und Rosel begießt sie täglich und schaut nach ihnen. Die Sonne scheint jetzt schon so wohlig und warm im Garten, und alles beginnt zu blühen und zu grünen. Minnette hab’ ich ihr Glöckchen weggenommen, das Du ihr zum Abschied umgebunden hast, und beiseite gelegt, weil es sie belästigte; aber wenn Du wiederkommst, darfst Du es wieder hervorholen und ihr umbinden, liebes Kind. Michel liegt in der Sonne auf der Hoftreppe und grollt[S. 36] mit uns, wie Euer Vater sagt, weil wir Euch fortgehen ließen, und nun läßt er seinen Zorn an den Hühnern und Katzen der Nachbarschaft aus und beißt und schüttelt sie, wo er nur kann. Zur Strafe soll er mal wieder für einige Zeit zum Förster in die Nachbarschaft kommen, damit er sich wieder bessere Manieren angewöhnt. Christine und Rosel sprechen immerzu von Euch und haben sich heute wunderbare Briefbogen mit Vergißmeinnicht und verschlungenen Händen gekauft, und nun wollen sie Euch Briefe schreiben. Christine wird ihren Rosel diktieren. Auch Eure Freunde und Freundinnen waren schon da und haben nach Euch gefragt.“
Schließlich stand Suse auf, ging ans Fenster, drückte ihr Gesicht gegen die Scheiben und sah hinunter auf den Kanal, der heute frei von Kähnen war. Auch die Straßen waren weniger belebt als sonst. Die Menschen waren wohl hinausgewandert in das Freie, wo der Sonnenschein über Feldern und Wiesen lachte.
Nur hoch oben an der blauen Himmelsdecke, da ging es lustig her. Da flogen die munteren, kleinen Federwölkchen vorüber, die Suse so gern hatte. Sie glänzten wie schimmernder Atlas und flatterten und wehten wie weiße Tüchlein, die unsichtbare Hände schwenken.
„Komm mit, komm mit,“ schienen sie zu rufen. — Sie wanderten weiter, immer weiter, bis sie zu den Bergen von Susens Heimat kamen. Noch heute trafen sie dort ein. Das kleine Mädchen spürte es so deutlich, so klar. Dann sahen sie in den Doktorsgarten, wo die Blumen blühten und die Büsche grünten, wo an der Mauer der Schlehdorn schneeig schimmerte, wo vor der Tür Minnette saß und im Hof Michel sich sonnte. Und in das gemütliche Wohnzimmer schauten sie, wo der Vater und die Mutter am Kaffeetisch saßen und miteinander redeten.
„Wie schön ist es heute, wir wollen durch den Garten gehen,“ sagte die Mutter. „Komm, Hermann. Was wohl unsere lieben Kinder heute treiben?“
Und Suse hörte genau die Stimme ihrer Mutter.
Da räusperte sich Hans, und sie fuhr herum und zeigte ein verweintes Gesicht. Er schaute sie erschrocken an. Und da begann sie auch schon von Tränen überströmt: „Jetzt will ich dir auch sagen, Hans, was ich schon immer gedacht habe. Wir wollen fort von hier, nach Hause.“
Der Knabe fuhr zusammen und wiederholte langsam: „Nach Hause?“
„Ja, Hans!“
„Aber, Suse, wir sind ja eigens hierher gekommen in die Stadt, damit wir was lernen, und jetzt wollen wir schon wieder fort?“
„Ei, Hans, wir können ja in eine andere Stadt gehen, wo’s viel schöner ist. Es gibt ja noch viele Städte.“
„Nein, Suse, der Vater und die Mutter haben gesagt, sie haben sich[S. 37] lange bedacht, warum sie uns gerade in diese Stadt schicken. Sie wollen, daß wir uns an fremde Menschen gewöhnen und hier bleiben und was lernen. Und jetzt sind wir hier, und jetzt bleiben wir hier.“
„Dann sterb’ ich, Hans. Ich hab’ immer so Weh hier...“ Und das kleine Mädchen zeigte weinend auf sein Herz.
„Sieh, hier, Hans, und essen mag ich auch nichts mehr, es drückt mich immer im Hals und ich kann nicht schlucken. Du wirst sehen, ich sterbe. Ich habe schon immer gebetet, daß der liebe Gott macht, daß wir wieder nach Hause kommen, sonst sterb’ ich.“
„Bald sind ja Ferien, Suse!“
„Dann bin ich schon tot. Ich will fort, ich will fort!“
Und Suse drückte weinend beide Handrücken vor die Augen und wiederholte immer wieder: „Ich hab’ so Weh hier, Hans, ich hab’ so Weh hier! Ich will fort!“
Dem Bruder wurde es angst und bange. Er suchte nach Trostesworten und fand keine.
Seine kleine Schwester aber fuhr immer trauriger fort: „Ich mag auch nicht mehr in der Elektrischen fahren. — Und die hellen Buchstaben find’ ich auch nicht mehr schön. Ich mag nichts mehr. Kein Kind will mit mir spielen. Alle haben sie Freundinnen, nur ich nicht. Und Frau Cimhuber hat uns auch nicht lieb, und Ursel erst recht nicht.“
Hier schluchzte sie laut auf.
Dann sagte sie wieder leise vor sich hin: „Wir wollen fort, wir wollen fort. Ich will zum Vater und zur Mutter und zu den Kindern, die mich lieb haben.“
„Aber, Suse, was wollen wir denn machen?“ fragte Hans in größter Aufregung. „Frau Cimhuber läßt uns ja nicht fort!“
„Sie braucht es ja nicht zu wissen, daß wir fort wollen, Hans! Wir schleichen uns ganz in der Frühe fort, wenn alle noch schlafen.“
„Und unsere Sachen, Suse?“
„Die ziehen wir alle übereinander an. Du ziehst vier Hosen und vier Hemden an und zwei Anzüge, und ich auch; meine zwei schönen Sonntagskleider leg ich fein ordentlich in eine Pappschachtel, und deinen Matrosenanzug auch. Das trägst du dann an einer Schnur. Ich nehme das andere; die Geburt Christi und den Engel und die Taschentücher und Strümpfe, alles, alles in der Hirschtasche.“
„Nein, Suse, das geht nicht. Das dürfen wir nicht. Wir sind hier und wir bleiben hier. Und es ist auch schön hier.“
„Schön?“ fragte Suse ganz entgeistert. „Aber, Hans, das glaubst du doch selbst nicht! — Weißt du, Hans,“ fuhr sie flüsternd fort, „nachts träum’ ich immer, der Negergott springt mit einem von den vielen[S. 38] Negermessern hinter uns her, drei Schritte vorwärts und einen zurück, und dazu ruft er: Halloh! Halloh! wo steckt ihr? — Und eines Nachts ist er wirklich an unsere Tür gekommen. Ich hab’ ihn deutlich schleichen hören. Und dann hat er leise, erst wie ein Neger, dann deutsch gesagt: ich krieg euch doch. — Wartet nur, brr... hu... hu...“
„Dummes Zeug,“ wehrte Hans. „So was Dummes brauchst du nicht zu träumen. Du weißt ja, er ist aus Holz. Und nun paß mal auf. Ich gehe jetzt in die Negerstube und hol’ ihn von dem Ständer herab. Dann sollst du ihn selbst mal anfassen.“
„Nein, nein,“ rief Suse. „Er tötet uns.“
„Er denkt nicht dran. Er ist ja der rechte Ölgötze. Das hat auch Theobald gesagt.“
Und nach diesen Worten ging Hans stolz, hoch erhobenen Hauptes zur Tür hinaus, dem Staatsgemach der Frau Cimhuber zu und trat ein. Erwartungsvoll sah ihn der Götze daherschreiten.
„Er guckt, er guckt,“ rief Suse.
„Darf er ruhig,“ meinte Hans, räusperte sich, ging stracks auf das Ungeheuer zu, klopfte ihm ein paarmal auf den hölzernen Lockenkopf und packte dann mit festem Griffe zu. Die Figur wog schwer wie Blei. Und Hans hatte Mühe, sie auf seine Schulter zu heben, und trug sie dann mit eingeknickten Knien wie ein alter Mann hinter Suse her, die sich aus Angst vor dem Ungeheuer langsam immer weiter zurückzog.
„Wart’ doch, wart’ doch!“ rief er.
Fast war er bei der Schwester, da fiel plötzlich mit Getöse ein Negerschwert von der Wand herunter.
Hans glaubte, die Decke stürze ein, sperrte vor Schrecken die Arme weit auf und ließ den Negergott auf den Teppich plumpsen. Er stand Kopf und schlug dann krachend einen Purzelbaum.
„Der Götze, der Götze,“ schrie Suse, sprang in die Höhe wie eine Heuschrecke und glaubte, er käme hinter ihr hergerutscht und packe sie am Bein. Wenn er sie plötzlich festgehalten, hätte sie es gar nicht verwundert.
„Der Götze, der Götze!“ rief sie noch einmal.
Da kam Ursel herbei, erblickte die Figur, die mitten im Zimmer auf dem Rücken lag, und stürmte drauf zu.
„Der Götze, der Götze,“ rief sie. Sie kniete daneben nieder, wendete ihn um und um wie ein Wickelkind, und entdeckte den Spalt in seinem Kopf. Dann jammerte sie: „Jetzt ist er kaput! Da liegt er nun, der treue Götze. Wer hat euch denn geheißen, ihn von seinem Platz herunter zu holen,“ brauste sie auf. „Müßt ihr alles anfassen, was ihr seht? Natürlich hattet ihr keine Ruh’, bis er kaput war.“
„Frau Cimhuber wird böse sein,“ stotterte Hans.
„Vielleicht nicht?“ brauste Ursel auf. „Soll sie vielleicht Zuckerkind zu dir sagen und dir einen Kuchen backen zur Belohnung, weil du den Götzen kaput gemacht hast!“
„Nein, das möcht ich nicht,“ sagte Hans noch verwirrter als bislang. „Der Götze ist ja von dem Herrn Missionar, nicht wahr?“
„Von wem denn sonst, vielleicht von einem Zwetschenbaum? Meinst du, solche fremdländischen Figuren wachsen hier auf Bäumen, und wir holen sie uns herunter?“
„Nein... nein..., ich weiß ja, daß er aus Afrika ist,“ sagte Hans schüchtern. „Frau Cimhuber hat’s ja gesagt.“
„Jetzt fort mit euch ungezogenen Kindern!“ fuhr Ursel die Pechvögel an. „Ihr könnt nichts, wie Dummheiten machen.“
Und die beiden verließen gesenkten Hauptes die Negerstube und wußten nicht wohin sehen vor Beschämung.
Es verging geraume Zeit, dann hörten sie, wie die Pfarrfrau wiederkehrte, mit Ursel redete und von ihr in die Negerstube geführt wurde.
Sie lauschten atemlos.
„Jetzt weiß sie’s,“ flüsterte Suse.
Hans fuhr zusammen und saß blaß und regungslos in der Ecke und erwartete jede Minute, Frau Cimhuber werde mit dem Götzen auf dem Arm hereinkommen und ihn zur Rede stellen.
Aber sie kam nicht, und auch später, als die Kinder mit ihr beim Abendessen zusammentrafen, machte sie ihnen keine Vorwürfe. Sie sah nur still vor sich nieder. Da konnte Hans schließlich ihren stummen Anblick nicht mehr ertragen, und er sagte leise und beklommen: „Frau Pfarrer,... Frau Pfarrer...“ Dreimal schluckte er trocken runter, dann begann er wieder: „Ich bitte Sie um Entschuldigung wegen dem Götzen, Frau Pfarrer. — Er — ist so rutschig und glitschig wie ein Fisch. Er ist mir aus den Armen gefallen. — Ich glaub’ — ich mein’ —,“ fuhr er stotternd fort, „wenn Sie erlauben, Frau Pfarrer, mein’ ich, möcht’ ich Ihnen einen neuen Gott schenken. Ich könnte Ihnen einen schnitzen lassen. Ich habe einen Freund Martin, der schnitzt sehr schön, der könnte Ihnen einen neuen schnitzen. Meiner Mutter hat er einen Nähkasten geschnitzt. Spazierstöcke kann er auch machen. Der würde sicher einen schönen Negergott fertig bringen.“
„Es kommt nicht auf die Schönheit an,“ sagte Frau Cimhuber schmerzlich. „Diese Figur war mir nur deshalb lieb, weil sie ein Geschenk meines Sohnes aus Afrika ist. Aber wie kommt gerade ihr darauf, sie herunterzunehmen? Ihr möchtet doch gewiß auch nicht, daß wir euere Sachen in euerer Abwesenheit anfassen und kaput machen.“
„Nein... nein,“ stotterten die Kinder, und Hans sagte kleinlaut: „Wir wollten ihn nicht kaput machen. Und wir faßten ihn auch sonst nicht an, aber...“
„Ich hab’ gemeint, er ist lebendig,“ fiel hier Suse weinend ein. „Entschuldigen Sie, Frau Pfarrer, ich fürcht’ mich so vor ihm. Und da hat Hans gesagt: er ist nicht lebendig. Und da wollten wir sehen, ob er lebendig ist. Und da war er gerade wie lebendig. Und ich habe ihn schon ganz sicher mal gehört, wie er des Nachts vor meiner Tür gesessen ist und leise geklopft hat und gesagt hat: Macht auf; seid ihr drin; ich komme.“
„Aber Kind, du phantasierst,“ sagte die Pfarrfrau und sah Suse erschreckt an. „Aber, Kind,“ begann sie dann wieder, „du mußt acht geben auf alles, was du sagst. Sonst sagst du die Unwahrheit, und das ist das Schlimmste, was ein Kind tun kann.“
Suse fuhr zusammen. Hans sah ängstlich auf und verteidigte seine Schwester: „Suse träumt immer so. Und dann wacht sie auf und dann hat sie gehört, wie jemand draußen war und dann hat sie gemeint, es ist der Götze.“
Die Frau Pfarrer schien der Sache nicht recht zu trauen, denn sie antwortete nichts, und die Unterhaltung verstummte ganz und gar.
Die Kinder waren froh, als das Abendessen vorüber war und sie sich entfernen konnten.
In Suse stand der Entschluß zu fliehen fester denn je. Und als sie mit ihrem Bruder allein war, begann sie: „Wir wollen fort, Hans. Nun willst du doch auch, daß wir fortgehen. Wir machen ja doch alles verkehrt, wenn wir uns auch noch so viele Mühe geben. Was nützt es, daß wir noch hier bleiben. Noch kein einziges Mal ist Frau Cimhuber gut zu uns gewesen und hat uns gelobt. Glaub’ mir, sie ist froh, wenn wir wieder fort sind. Und dann lassen Ursel und sie sich eben andere Kinder kommen, die viel artiger sind als wir. Und daheim sind sie froh, wenn wir kommen.“
Und stockend fuhr Suse fort: „Und schlechte Zeugnisse bekommen wir auch. Ich versteh’ immer noch nichts in der Schule, und daheim war ich immer die erste.“
„Ich versteh’ jetzt schon mehr,“ sagte Hans schüchtern.
Suse aber fuhr fort: „Du gehst aber doch mit mir fort? Gelt? Du bleibst nicht hier? Wir gehen nach Hause. Ach laß uns doch nach Hause gehen.“
Der Bruder schüttelte sein Haupt und sagte standhaft wie ein Erwachsener: „Nein, Suse, die Eltern haben gesagt, wir bleiben hier, und jetzt bleiben wir hier.“
Allein das Unglück heftete sich an des Knaben Fersen, und ehe noch der folgende Tag vorüber war, sollte sein Heldentum jäh in die Brüche gehen.
Morgens früh ging er ganz zuversichtlich zur Schule. Der Aufenthalt dort war ihm lange nicht so unangenehm, als der in Frau Cimhubers Haus, wo alles ihn vorwurfsvoll ansah, heute selbst der Negergott, der mit seinem geborstenen Haupt ein Bild des Schreckens bot.
Die Schule dagegen war Hans lange nicht mehr so fremd wie in den ersten Tagen seines Hierseins. Lehrer und Schüler waren ihm bekannter, der ganze Unterricht vertrauter geworden.
Heute nun brachte er es sogar fertig, in der ersten Hälfte des Morgens ein paar gute Antworten zu geben und war ganz angetan von sich.
So kam die letzte Stunde, eine Naturgeschichtsstunde, heran. — Der Lehrer wollte mit den Kindern in der Besprechung des Hausrindes fortfahren, mit der er schon das letztemal begonnen hatte.
Es würde sehr lustig und ulkig zugehen, meinten einige von Hansens Mitschülern, die sitzen geblieben waren und deshalb vom letzten Jahre her über alles genau Bescheid wußten.
Herr Meyer werde nämlich einen Kuhmagen mitbringen, um ihn aufzublasen und dessen Form deutlich zu zeigen. Bei diesem Beginnen pflege er selbst so heftig mit anzuschwellen, daß die Klasse in lautes Lachen ausbreche und nicht mehr zu halten sei.
Fuchsteufelswild werde er darüber.
Nun war die Pause vorüber und die Schüler suchten ihre Plätze auf. Rechts und links von Hans saßen seine Nebenmänner schon, und zwar auf der einen Seite sein Freund Peter, ein Knabe mit einem freien, aufgeweckten Wesen. Hans und er waren gleich Freunde geworden, stammte Peter doch auch aus den Bergen, und so hatten die beiden einander gleich viel zu erzählen gehabt. — Für Peters größtes Heiligtum, eine Tierschädel- und Vogeleiersammlung, wollte Hans aus den nächsten Ferien einige neue wertvolle Stücke mitbringen.
Weniger freundschaftliche Beziehungen bestanden zwischen Hans und dem Knaben an seiner andern Seite. Dieser, Kurt, war das gerade Gegenteil von Peter, ein unaufrichtiger, verschlagener Junge, der aber trotzdem einen großen Einfluß auf seine Mitschüler ausübte. Er hatte den Fußballklub „Germania“ gegründet und schon eine große Anzahl Mitglieder gewonnen. Auch Hans sollte diesem Verein beitreten, hatte es aber bis jetzt noch abgelehnt, da ihn einstweilen in der Stadt noch viel anderes Neues lockte.
Gerade hatte der sporteifrige Kurt Hans wieder in ein Gespräch über seinen Fußballklub verstrickt, da öffnete sich die Tür, und der Leh[S. 43]rer, Herr Meyer, trat ein. Unter dem Arm trug er eine Pappschachtel und einige Bücher. Der Lärm in der Klasse ließ nach. Ganz still wurde es allerdings noch nicht. So recht in Respekt zu setzen wußte dieser Lehrer sich nämlich nicht.
Er ging nun auf das Pult zu und nahm dort Platz. Hinter ihm erhob sich die weißgekalkte, mit Bildern Schillers und Uhlands geschmückte Wand. Die Pappschachtel stellte er neben sich nieder. In der Klasse war noch Flüstern, Klappern, sowie Schurren mit den Füßen zu hören.
„Ruhe,“ rief der Lehrer, und die Stunde begann.
„Welches ist das nützlichste Haustier des Menschen?“ leitete er seinen Unterricht ein.
„Das Hausrind,“ kam als Antwort zurück.
Herr Meyer war mit dieser Erwiderung zufrieden und legte nun den Kindern andere Fragen vor, die sie ebenfalls zu seiner Zufriedenheit beantworteten. Dann reihte er gemeinsam mit ihnen das Tier in die Klasse der Wiederkäuer, Pflanzenfresser und Huftiere ein, und mehrere Male mußten die Knaben die Merkmale dieser Tiere wiederholen.
Hans paßte gut auf, damit ihm kein Wort entgehe. Die Beschaffenheit der Zunge, des Gebisses, der Hufe, der Muskulatur, alles war ihm klar. Auch die Einteilung des Kuhmagens leuchtete ihm ein; Pansen, Netzmagen, Blättermagen und Labmagen hießen die verschiedenen Abteilungen.
Als der Lehrer mit seinen Erklärungen fertig war, griff er nach der Pappschachtel. — Die Kinder stießen einander an und sahen gespannt nach dem Pult. Jetzt war der langersehnte, aufregendste Augenblick der Stunde gekommen. Der Lehrer hob den Deckel der Schachtel auf und holte ein lederfarbenes Hautgemengsel heraus, indem er sagte: „Nun wollen wir uns einmal einen richtigen, echten Kuhmagen ansehen.“ Hierauf setzte er eine Glasröhre in die Öffnung des Magens und begann zu pusten. Die Knaben verwandten keinen Blick von ihrem Lehrer und seinem Tun. Langsam schwoll der Magen an, eine Abteilung nach der andern, und in dem Maße, als er an Umfang zunahm, schien auch des Oberlehrers Gestalt anzuschwellen. Der Zwischenraum zwischen ihm und dem Pultdeckel wurde immer geringer. Leise kicherten einige Knaben. Zürnend blickte der Lehrer in die Klasse und wurde krebsrot im Gesicht. Aber sein Mund ließ die Glasröhre nicht los. Da platzte einer der Knaben laut aus. Der Oberlehrer ließ die Glasröhre in seiner Hand fahren, und der Kuhmagen sank mit einem leise pfeifenden Ton in sich zusammen. Am lautesten mußte Hans lachen. Das Unglück wollte ja immer, daß er da am lautesten lachte, wo es am wenigsten angebracht war.
Puterrot vor Zorn schlug der Lehrer auf das Pult, daß der Kuhmagen wie ein lederner Tabaksbeutel in die Höhe flog und rief: „Wenn jetzt noch einmal einer lacht, dann bekommt ihr alle Arrest. — Verstanden? — Es ist doch seltsam, daß gerade die immer am meisten lachen, die am wenigsten können,“ meinte er mit einem durchbohrenden Blick nach Hans hin.
Dieser wurde käsweiß.
„Die Schule ist doch nicht dazu da, daß wir uns im Lachen und Schreien üben,“ fuhr der Lehrer lauter fort. „Wenn wir das wollen, können wir lieber in unseren Hinterwäldern bleiben und mit unseren Kühen auf die Weide gehen.“
Hans spürte, wie seine Stirn eiskalt wurde. — Der Lehrer meinte natürlich ihn. Ja, er hätte daheim bleiben sollen in Schwarzenbrunn.
Zitternd vor Ärger ergriff Herr Meyer jetzt den Kuhmagen zum zweitenmal und pustete ihn auf. Nun bedurfte es nur noch einiger schwacher Atemzüge, dann war dieser ganz und gar mit Luft gefüllt.
Da geschah etwas Unerwartetes.
Durch die Klasse schwirrte plötzlich eine Papierkugel und fiel mitten auf des Lehrers Nase nieder. Sein Kopf fuhr auf, und die Glasröhre fiel zur Erde. Es war totenstill in der Klasse. Dann sprang Herr Meyer in die Höhe und fuhr die Knaben an: „Wer hat das getan?“ Keiner antwortete.
Fest hefteten sich da die Augen des Lehrers auf Hans. — Unsicher flogen des kleinen Knaben Blicke durch die Klasse. — War nicht seine Hand wie von einem Wurf ermattet unter die Bank gesunken, als der Lehrer aufgeblickt hatte?
„Ich weiß genau, wer es getan hat,“ rief der Lehrer lauter als vorher.
„Du, der Neue, da hinten in der Ecke, komm mal her! Wie heißt du doch gleich?“
Mechanisch ging der Junge auf das Pult zu und sah den Lehrer hilfesuchend und verstört an.
„Gesteh mal, du hast’s getan,“ donnerte ihm dieser entgegen.
Hans würgte an einer Antwort, aber sie kam nicht über seine Lippen. Der Ausdruck seiner Augen wurde immer unglücklicher und hilfloser.
„Antworte,“ rief der Lehrer.
Er schwieg.
„Ah, du bist auch noch trotzig,“ fuhr Herr Meyer ihn an. „Marsch, geh’ wieder auf deinen Platz. Ich kenne dich, Bürschchen. Aber jetzt hab’ ich keine Zeit für dich. Doch morgen früh wirst du mit mir zum Herrn Direktor gehen.“
Hans konnte noch immer keinen Laut hervorbringen. Wie ein zum[S. 45] Tode Verurteilter stand er da. Dann kehrte er langsam um, und als er an seinem Platz angelangt war, warf er seinem Nebenmann Kurt einen langen, verängstigten Blick zu.
Zwischen diesem und Peter war ein hartnäckiger Streit ausgebrochen. Hansens Freund angelte mit Armen und Beinen an Hans vorüber nach dem Klubgründer hin, und als er ihn schließlich am Bein erwischt hatte, riß er ihn mit einem Ruck fast von der Bank. Sein Mitschüler kehrte ihm ein finsteres, verschlagenes Gesicht zu.
Hans merkte nichts von alledem. Vor seinen Augen war es finster wie in einem Sack. Die Worte des Lehrers klangen wie fernes Gemurmel an seinen Ohren. Nichts ging ihm mehr ein, nur der eine Gedanke beherrschte ihn ganz und gar, er wollte fort von hier, fort. Im Grunde hatte er ja genau dasselbe Heimweh wie Suse. Bis jetzt hatte er es nur sorgsam versteckt. — Die Schwester hatte ja so recht, sie machten ja doch alles verkehrt hier, sie konnten anfangen, was sie wollten. Und morgen gar sollte er zum Direktor! Und gingen sie nicht von selbst, so schickten ihre Lehrer sie schließlich fort. Drum sagte Hans, als er heute nach Hause kam, zu seiner Schwester: „Suse, wir wollen heim.“
Die Schwester glaubte zuerst nicht recht gehört zu haben, dann aber rief sie laut: „Nach Hause! Oh, wie schön! Oh, wie schön! Oh, wie freu’ ich mich! Wie freu’ ich mich! Heim! Heim! Zu unseren Eltern!“
Der Bruder antwortete nichts, Suse aber handelte. — Eine wichtige Frage galt es in erster Linie zu erledigen. Woher sollten sie das Reisegeld nehmen? — Die drei Mark, die Suse noch hatte, und die paar Groschen von Hans reichten lange nicht. Da kam ihr ein herrlicher Gedanke. Sie hatten ja einen treuen Beschützer und Freund hier in der Stadt, den Vetter Theobald. — So böse und übermütig, wie der einst in Susens Elternhaus gewesen, so fürsorglich war er jetzt. Erst gestern hatte er ihnen beiden Schokolade aus einem Automaten geschenkt. Der Vetter würde helfen!
So schaute Suse denn gegen drei Uhr nachmittags fleißig nach ihrem Vetter aus, da er täglich zu dieser Zeit auf seinem Weg zur Schwimmanstalt an Frau Cimhubers Haus vorübergehen mußte.
Auch heute tauchte er zur gewohnten Stunde auf, und Suse konnte hinuntereilen und sich ihm anschließen. Lange Zeit fand sie nicht den Mut zum rechten Wort und verfiel in Stillschweigen. Er aber hielt ihr ehrfurchtsvolles Verstummen für eine Huldigung, die sie seiner bedeutenden Persönlichkeit darbrachte, und erzählte in der aufgeblasensten Weise von seinen Erlebnissen.
Er könne all den Freunden und Belustigungen, die in dieser interessanten Stadt auf ihn einstürmten, kaum Herr werden, meinte er mit[S. 46] einem Seufzer. So gehe er heute abend mit seinem Onkel Fritz in den Zirkus, um sich eine Vorstellung von Akrobaten und Kunstradfahrern anzusehen. Es sei fabelhaft. Es sei unglaublich. Es sei überwältigend, was diese Künstler leisteten. — Auf dem Hinterrad ihrer Maschine fahrend, würfen sie das Vorderrad in die Höhe, sausten in dieser Stellung rund um den Zirkus, stellten sich mit dem Kopf auf den Sattel und strampelten mit den Beinen. Forschend sah der Vetter in seiner Cousine Gesicht und erwartete dort Bewunderung, Überraschung, Staunen. Aber nichts dergleichen war zu sehen.
Suse hing eigenen Gedanken nach. Und während er sie noch so betrachtete, platzte sie mit einem Male los: „Du, Theobald, du möchtest mir zwanzig Mark geben. Wir gehen morgen nach Hause.“
„Was?“ rief Theobald und sank auf einer Bank am Kanale nieder. Er starrte Suse an wie von Sinnen.
„Was?“ stotterte er.
Und mit einemmal trampelte er mit den Füßen auf dem Boden, schlug sich mit den Händen auf die Knie und fing so laut und heftig an zu lachen, daß Suse meinte, er ersticke. Ganz blaurot war er im Gesicht und zappelte auf der Bank herum wie ein Fisch, der auf das Trockene geraten ist. Ja, in seinem Übermut wurde er wieder ganz der ausgelassene Theobald, als den Suse ihn in ihrem Heimatsort kennen gelernt hatte, lief auf seinen Händen wie ein Zirkuskünstler ein Stück durch die Anlagen, kehrte dann um, sprang auf seine Füße, ließ sich wieder auf die Bank plumpsen und dazu rief er: „Herrlich, herrlich! Ich möchte die Spatzen auf den Dächern umarmen vor Freude. So was Schönes hab’ ich lange nicht gehört. Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte. Und dabei habt ihr immer so geprahlt mit eurer Negerstube und eurer Pflegedame und dem Kirschenpudding, den sie euch macht, und dem dicken Apfelmus auf euren Bröten. Und dabei habt ihr immer gesagt, Frau Cimhuber ist so fromm, daß sie sicher in den Himmel kommt. Und jetzt wollt ihr fort von eurer frommen Frau. Weiß sie’s denn schon, daß ihr geht?“ forschte er.
Suse schüttelte ihr Haupt.
Da lachte Theobald lauter denn je, schlug sich auf die Knie, warf sich hinten über die Bank, konnte sich aber noch zur rechten Zeit an der Lehne festhalten und daran emporziehen und trieb so lange Unfug, bis Suse ihn am Ärmel packte und auf die Leute aufmerksam machte, die rund herum standen und lachten.
Da entsann er sich flugs seiner Würde als wohlerzogener Stadtmensch, ließ sich gesittet auf der Bank nieder und forderte seine Base auf, neben ihm Platz zu nehmen, damit sie alles besprächen.
Dann begann er sein Verhör. „Also das Reisegeld willst du. Zwanzig Mark stehen zu deiner Verfügung. Die hab’ ich letzte Woche von Onkel Fritz zum Geburtstag bekommen. Aber Toni hat sie mir gestern abgebettelt für ein Bild, das sie ihrer Freundin schenken will. —
Na, das ist ein Bild! Die Toteninsel heißt’s! Einfach schauderhaft! Die Haare stehen mir zu Berge, wenn ich’s nur angucke. Ich versichere dich, wenn man sich unterstände, mir ein solches Bild zu schenken, würd’ ich’s als die größte Beleidigung auffassen und dem gütigen Geber die Freundschaft für immer kündigen. —
Das Bild ist also schon gekauft und mein Geld ausgegeben. Aber beruhigt euch. Ihr bekommt anderes. Ich lasse mir heute welches von Onkel Fritz geben, wenn wir im Zirkus sind. Der läßt mich nicht in der Patsche. — Bin ich morgen früh zur rechten Zeit nicht am Bahnhof, so nehmt einstweilen von eurem Geld eine Karte bis Haslach. Dort müßt ihr sowieso den Eilzug verlassen und eine neue Karte für den Bummelzug nehmen.
Den Reiseplan hast du dir natürlich noch nicht zurecht gelegt. Nicht wahr?“ fuhr er mit gerunzelter Stirn fort. —
„Das kannst du auch nicht. Du hast ja keine Erfahrung im Reisen. Mit mir ist das ganz was anderes.“ —
Dabei war der Prahlhans auch nicht viel weiter gekommen als nach Hansens und Susens Heimatsort. Allein, nach dem Ton seiner Worte zu urteilen, hatte er schon eine Weltreise gemacht.
Jetzt holte er den Fahrplan aus der Tasche, blätterte sich räuspernd drin herum und meinte, Suse Papier und Bleistift reichend: „Schreib’ dir auf, was ich dir sage. Um fünf ein Viertel Uhr fahrt ihr hier ab und nehmt den Eilzug bis Haslach. Drei Stationen von hier. Gut! Merk’ dir’s! Drei Stationen von hier. Ihr zählt sie. Gut! Dort steigt ihr um und fahrt bis zur Endstation Maria Heil. Merk’ dir’s! Gut. Du frägst den Schaffner in Haslach, wo der Zug nach Maria Heil steht. Gut. In Maria Heil steigt ihr aus und schlängelt euch in die dort wartende Postkutsche. Merk’ dir’s! Schreib’ Postkutsche auf. In diese Postkutsche kriecht ihr dann und fahrt nun, den Regenschirm und Koffer fest in der Hand, in die Arme eurer hochbeglückten Eltern hinein. Schreib’ ‚hochbeglückte Eltern‘ auf! Verstanden? Und bestellt Grüße von mir. Gut!“
Jetzt zog Theobald seine Uhr und sagte in ernstem Ton: „Es ist höchste Zeit, daß ich gehe, wenn ich noch schwimmen will. Drum leb’ wohl. Tipp, topp, nur Mut, die Sache wird schon schief gehen,“ sagte er mit kräftigem Händedruck.
„Theobald,“ flüsterte sie mit einemmal, banger Ahnungen voll. „Du verrätst doch nicht daheim, was wir anfangen wollen?“
Theobald tippte sich an die Stirn, zuckte die Achseln und murmelte: „Man hat doch auch Charakter.“ Damit ging er von dannen.
So war denn alles zur Flucht geordnet. Das Reisegeld war den Kindern sicher, der Fluchtplan stand auf dem Papier, und die Sachen mußten heute abend gepackt werden.
Langsam ging Suse nach Hause und sagte zu ihrem Bruder: „Es ist alles gut, Theobald gibt uns das Geld. Wir gehen.“
Der Bruder nickte. Je weiter aber der Nachmittag vorschritt, um so beklommener ward es ihr zu Sinn. Die frohe Zuversicht, die sie heute morgen angesichts der Entschlossenheit ihres Bruders beseligt hatte, machte schweren Gedanken Platz. War es nicht falsch und schlecht von ihr, Frau Cimhuber zu belügen und zu betrügen und zu tun, als wäre nichts los, während man einen solch hinterlistigen Fluchtplan anzettelte? Gewiß, es war böse und schlecht, aber Suse konnte nicht anders. Sie mußte fortlaufen. Sie konnte keinen Tag länger hier bleiben. Sie mußte fort, fort nach Hause!
Dann während des Abendessens saß sie mit ängstlich klopfendem Herzen der Pfarrfrau gegenüber wie ein Häschen, das den Jäger kommen hört. Hans ging es nicht viel besser. Seine Augen flackerten unruhig hin und her, und die von Ursel aufgetischten Quellkartoffeln würgten ihn im Halse wie Hanfknäuel.
Und als im Laufe der Tischsitzung die Pfarrfrau einige Augenblicke von Ursel herausgerufen wurde und die Geschwister allein blieben, sahen sie sich scheu um.
„Ich meine grad’, ich ersticke,“ unterbrach Suse die Totenstille.
Der Bruder nickte.
„Hernach wollen wir unsere Sachen zurechtlegen,“ fuhr die Schwester leiser fort, „und uns genau den Reiseplan ansehen. — Hier, nimm den Zettel! Du gibst doch besser drauf acht,“ meinte sie, indem sie in die Tasche langte und nach dem bewußten Papierstreifen suchte.
Aber plötzlich zog sie ihre Hand zitternd aus der Tasche zurück und erklärte stockend: „Er ist fort, ich hab’ ihn verloren.“
„Verloren?“ sagte Hans, noch um einen Schatten blasser als bislang, „hoffentlich hast du ihn nicht hier im Haus verloren und Ursel oder Frau Cimhuber finden ihn.“
Und als die Pfarrfrau gleich darauf in das Zimmer zurückkehrte, sah er sie so hilfeflehend und verstört an, daß sie ganz besorgt fragte: „Was fehlt dir, mein Kind? Ist dir nicht wohl?“
Hans blieb stumm.
„Hm, hm!“ meinte sie. „Ihr seid komische Kinder. Was euch fehlt, erfährt man eigentlich nie. Hat es vielleicht was in der Schule gegeben?“
Die beiden saßen verschüchtert da und antworteten nicht.
Plötzlich begann die Pfarrfrau unvermittelt: „Eh’ ich’s vergesse, ich muß euch noch etwas sagen. Nächste Woche seid ihr bei eurem Onkel Gustav eingeladen. Er war heute nachmittag hier und läßt euch vielmals grüßen. Es wird sicher ein fröhlicher Tag für euch werden.“
„Schade,“ stotterte Suse, „dann sind wir ja schon fort.“
„Was sagst du da, Kind?“ forschte die Pfarrfrau.
Hans aber ließ vor Schreck die Gabel unter den Tisch fallen.
„Du meinst, ihr seid nicht mehr hier an dem Tage?“ fuhr ihre Pflegemutter fort. „Wo seid ihr denn sonst? Habt ihr einen Schulausflug vor oder sonst eine Einladung? Die Einladung kann ja auf einen andern Tag verlegt werden. Bei eurem Onkel werdet ihr sicher einen schönen Nachmittag verleben. Er hat Kinder in eurem Alter, und mit denen könnt ihr nach Herzenslust in dem großen Park an seinem Haus herumspringen.“
Suse hörte mit schmerzlichem Empfinden dieser verführerischen Beschreibung zu und sagte etwas später nicht ohne Bedauern zu ihrem Bruder: „Schade ist’s ja, daß wir nicht zu Onkel Gustav können. Nicht wahr, Hans? Aber was meinst du, wenn er uns auch die wunderschönsten Sachen schenkte, wir blieben doch nicht hier? Gelt, daheim ist’s viel schöner, viel, viel schöner. Viel, viel tausendmal schöner.“
An dem Verschwörungsabende wurden die Kinder etwas früher als sonst zu Bett geschickt, weil die Pfarrfrau sich um Hansens Befinden sorgte. Aber gegen Mitternacht, als die Lichter im Cimhuberschen Hause gelöscht waren und nichts mehr sich regte, standen die beiden Übeltäter wieder heimlich von ihrem Lager auf, packten ihre Sachen und probierten an, wieviel Leibwäsche sie nach Susens berühmtem Rezept übereinander anziehen konnten. —
Vier Hosen, vier Hemden, das ging ganz fein. — Den Rest steckten sie in die Hirschtasche, eine gestickte Reisetasche aus Großmutters Zeiten, auf der ein brauner Hirschkopf, von einem Eichenkranz umrahmt, prangte. Auch eine Pappschachtel mußte noch einige Kleidungsstücke aufnehmen.
Und während der Vorbereitungen sah Suse sich bereits im Geist mit all diesen Herrlichkeiten durch die Pforte ihres Vaterhauses schreiten, befreit von aller Not und Qual. Nur der Gedanke an den fehlenden Zettel flößte ihr zuweilen Besorgnis ein. Je weiter die Stunde vorschritt, je unsicherer wurde sie.
„Ich kann nicht schlafen vor Angst,“ meinte sie zu ihrem Bruder. „Am Ende haben sie den Zettel gefunden und erwischen uns morgen früh.“
Jetzt war der Bruder der Mutige und entgegnete: „Ach, Suse, wenn sie ihn gefunden hätten, wüßten wir es jetzt schon...“
Derweil saß die zahnwehkranke Ursel stöhnend auf der Kante ihres Bettes und buchstabierte an einem kleinen Zettel herum, den sie vorhin am Eingang der Negerstube gefunden hatte.
„Ab fünf ein Viertel Uhr,“ stand darauf, „Eilzug Haslach, Schaffner, Maria Heil.“ — Lauter krauses Zeug.
Schließlich ließ ihr’s keine Ruhe mehr, und sie schlich vor die Kammer der beiden Kinder, um zu lauschen. — Hinter der Tür regte sich etwas. Sie stutzte und horchte angestrengter. — Ja, so war’s, Kisten und Stühle wurden gerückt. Es flüsterte.
Fester drückte sie ihr Ohr gegen die Tür. — Doch nun war’s totenstill. Eine ganze Weile blieb sie stehen. Jetzt, jetzt regte sich’s wieder.
Da fuhr aber Ursel ein solch heftiger Schmerz in ihren hohlen Zahn, daß sie sich mit beiden Händen an den Kopf fuhr und mit schmerzverzerrtem Gesicht davonschwankte.
Am andern Morgen um drei Viertel auf fünf ging leise die Tür von Frau Cimhubers Wohnung, und zwei Kinder mit blassen, übernächtigen Gesichtern traten ins Treppenhaus.
Es waren Hans und Suse, die durch die Menge der übereinander gezogenen Kleidungsstücke kugelrund aussahen. Vorsichtig schlossen sie die Flurtür hinter sich und gingen auf Zehenspitzen die ausgetretenen Stiegen der Treppe hinunter. Ein graues, unfreundliches Licht erhellte nur matt ihren Weg. Alles war totenstill. Das Haus schlief noch. Öfters blieben sie stehen und horchten. Doch als nichts sich regte, gingen sie weiter.
Im zweiten Stock wurde Suse die Hirschtasche zu schwer, und der Bruder half ihr beim Tragen. Dann kehrte er zurück, um sein eigenes Gepäck nachzuholen.
Gerade als er die unterste Stufe der Treppe wieder erreicht hatte und das Haus verlassen wollte, hörte er plötzlich im Treppenhaus ein Geräusch. Ihm war es, als sei irgendwo eine Tür gegangen, und als stehe nun jemand oben vor Frau Cimhubers Wohnung und lausche mit angehaltenem Atem über das Treppengeländer.
Ganz kalt überlief’s ihn, und er schloß schnell die Tür. In der Ferne erblickte er Suse. Sie schritt mit großen Schritten rüstig aus, während ihre rechte Schulter sich unter der Last der Hirschtasche senkte. Der Bruder wollte ihr folgen, hörte aber plötzlich hoch über sich seinen Namen rufen. Er blickte am Haus hinauf und gewahrte in schwindelnder Höhe ein mit Tüchern umwickeltes Haupt. — Ursel?
„Hans,“ rief sie, „Hans, Hans, Hans!“
Da schrie er auf und rannte wie besessen davon.
„Sie kommt, sie kommt,“ rief er.
Suse stürzte vorwärts, als sei ihr der Tod auf den Fersen. Bald erlahmten ihre Kräfte, und Hans nahm ihr die Hirschtasche ab, um sie in seinen Armen zur Elektrischen zu tragen. Klingelnd fuhr diese mit den beiden Flüchtlingen davon.
Als die zwei verzweifelten Ausreißer schließlich am Bahnhof ankamen, war natürlich von dem tüchtigen Theobald weit und breit keine Spur zu entdecken.
„Er hat die Zeit verschlafen,“ stöhnte Suse.
„Nein, er kommt,“ sagte Hans bestimmt, „er hat’s versprochen, und was er versprochen hat, hält er.“
Damit ging der kleine Junge geradeswegs auf die Bahnhofshalle zu, während Suse wie ein aufgescheuchtes Hühnchen hinterdreinflatterte. Am Schalter löste er die Karten zu Reise und kehrte dann zum Eingang der Bahnhofshalle zurück, um nach dem Vetter auszusehen.
Endlich sah er am Ende der Straße einen Radfahrer auftauchen und schaute näher hin. Ja, es war Theobald. Auf der Lenkstange seines Rades liegend, kam er wie eine Windsbraut seines Wegs. Jetzt sprang er ab.
„Ursel kommt!“ rief er. „Wie ein tollgewordener Mops macht sie Sätze. — Es ist haarsträubend, wie sie die Ecken nimmt! Kommt, kommt. Sie hat die Faust nach mir geschüttelt.“
Im Nu hatte er eine Bahnsteigkarte gelöst, sein Rad einem Gepäckträger gegeben, die Hirschtasche auf seinen Rücken geworfen, die Pappschachtel in die Hand genommen und stürzte mit den Kindern durch die Sperre.
Susens Knie waren wie gebrochen, die Stimme versagte ihr.
Jetzt waren sie auf dem Bahnsteig. Die letzte Tür des dort haltenden Zuges war schon geschlossen. Der Beamte wollte eben das Zeichen zur Abfahrt geben, da riß Theobald noch im letzten Augenblick ein Coupé auf, drängte die Doktorskinder hinein und schubste ihre Hirschtasche hinterdrein, so daß der „Engel“ und die „Geburt Christi“ gegeneinander stießen.
Die Tür wurde wieder zugeschlagen, und der Zug fuhr davon. In ein paar Sekunden mußte er aus der halle sein. Da beugte sich plötzlich Suse weit aus dem Fenster und rief in Todesangst: „Theobald, unser Geld, unser Reisegeld! Gib doch, gib doch! — Das Zwanzigmarkstück!“
Der Vetter schlug sich vor die Stirn.
Im Nu war er an ihrer Seite und wühlte verzweifelt in seiner Westentasche.
„Hier, hier,“ rief er, und ein blitzender Gegenstand fuhr surrend durch die Luft und traf wohlgezielt ins Coupé. — Die Kinder hatten ihr Reisegeld. Da fuhr auch der Zug schon aus der Halle.
Suse war wie erlöst. In ihrer Freude umarmte sie ihren Bruder und jubelte: „Jetzt ist alles gut.“
Doch Hans wehrte: „Erst das Geld, Suse, ich will’s in meine Tasche tun.“
Und er eilte auf die Ecke zu, wo die Münze niedergefallen war. Blitzend lag sie auf der Bank. Er griff danach, fuhr aber jäh zurück wie vor einer zischenden Schlange.
Dort lag..., dort lag...
Er verfärbte sich. Alles drehte sich um ihn. Er rieb sich die Augen. — Nein, es war kein Irrtum. Dort in der Ecke lag kein Geld, sondern ein dicker, blinkender Messingknopf. — Ein abgerissener Hosenknopf von Theobald. — Nichts anderes. Das war also alles, was er ihnen gespendet hatte. Deshalb war er wie ein Verrückter neben dem Zug hergesprungen, um ihnen einen Hosenknopf hinterherzuwerfen!
„Suse, Suse,“ stotterte Hans „Komm her, guck, was da liegt.“
Sie kam zögernd näher, schaute hin und wurde weiß wie Kreide.
Dieser Hosenknopf von Theobald war also alles, was sie hatten! Ihre ganze Barschaft! Damit sollten sie sich Karten für die Reise kaufen und außerdem Plätze in der Postkutsche bezahlen! — Laut weinend setzte sie sich vor dem lügnerischen Knopf nieder und starrte ihn angstverzerrt an. — Den sollten sie dem Schalterbeamten in die Hand drücken! — Der würde gucken!
Hans sah wie verhext in derselben Richtung, griff nach dem Knopf und schleuderte ihn aus dem Fenster.
Jetzt wußte auch er nicht mehr aus noch ein und saß wie vernichtet auf seinem Platz. Der Schwester Schmerz brachte ihn schließlich wieder zur Besinnung. Er versuchte, ihr die Hände von den verweinten Augen zu ziehen und tröstete: „Weine nicht, Suse, weine nicht. Sei still, Suse, sei still, laß uns mal bedenken, was wir jetzt tun.“
Aber ach, er selbst konnte seine bitteren Tränen nicht mehr zurückdrängen.
Auf der dritten Station, in Haslach, stiegen die Kinder aus und blieben eine Weile unschlüssig auf dem Bahnsteig stehen. Dann gingen sie auf den Wartesaal zu. Schüchtern drückten sie sich zur Tür herein und suchten nach einem freien Platz. Vom Schenktisch her verbreitete sich der verlockende Duft warmen Kaffees und gemahnte sie daran, daß sie heute morgen noch nichts genossen hatten. Aber was bedeuteten Hunger und Durst im Vergleich zu der Angst, die sie empfanden! —
Wohin sollten sie sich nun eigentlich wenden? Zur Stadt zurück? — Sie hatten ja kein Geld mehr, selbst nicht für eine Fahrkarte vierter Klasse. Und zu Fuß zurückzuwandern, das war ihnen unmöglich. Dazu war der Weg ja viel zu weit.
Da kam Hans mit einemmal ein rettender Gedanke.
Wenn sie dem Schalterbeamten irgendein Geschenk machten? — Vielleicht die „Geburt Christi“ von Martin oder den Engel von Christine oder sonst irgend etwas Schönes. — Am Ende gäbe er ihnen dann eine Fahrkarte.
Die Schwester horchte auf, dachte nach; ihre Augen wurden heller, und da rief sie auch schon ganz freudig: „Du hast recht und du sollst mal sehen, der gibt uns gleich so viele Karten als wir wollen. Der freut sich!“
Und das kleine Mädchen, das eben noch ganz verzweifelt gewesen war, wiegte sich schon wieder in den schönsten Hoffnungen. Ja, dank ihrer üppigen Phantasie hörte sie bereits den Beamten am Schalter, diese Seele von einem Menschen, sagen: „Fein, daß man euch mal sieht, her mal mit euren wunderschönen Sachen. Wieviel Karten wollt ihr dafür? Auf eine Fahrkarte mehr oder weniger kommt’s mir nicht an!“
Hans, der schwerfälliger veranlagt war als seine Schwester, meinte beklommen: „Man weiß es nicht, ob er sich freut; vielleicht freut er sich nicht.“
Doch Suse hörte und sah nicht mehr und suchte mit beiden Händen verzweifelt in der geöffneten Hirschtasche nach ihren Schätzen. Auf dem Grunde mußten sie liegen. Eine ganze Schicht Kleider, Strümpfe, Schuhe, Bänder hatte sie schon vorsichtig auf die Bank niedergelegt. Da stieß sie endlich auf die Geburt Christi und den Engel. Und mit großer Befriedigung legte sie die Sachen auf den Stapel Kleider neben sich nieder und schickte sich an, den Grund der Hirschtasche zu ordnen.
„Schnell, schnell,“ drängte da Hans, „die Leute gucken.“ Und dabei warf er ängstliche Blicke auf die Menschen rund herum, die an Tischen saßen, Kaffee tranken und die Kinder aufmerksamen Blickes beobachteten.
Aber am verdächtigsten kam Hans doch ein Beamter vor, der von Zeit zu Zeit die Züge abrief und jedesmal neugieriger auf sie zu werden schien.
Eben war er sogar eine ganze Weile an der Tür stehen geblieben und hatte die beiden kopfschüttelnd gemustert.
Da wurde des kleinen Jungen Aufmerksamkeit jäh abgelenkt.
Er stieß Suse an, und auch sie schaute auf.
Durch die Tür des Wartesaals, nicht weit von den Kindern, drängte sich mit einemmal eine aufgeregte Reisegesellschaft: eine dicke Frau mit einem kleinen Knirps auf dem Arm und zwei größeren Kindern an[S. 54] ihren Rockschößen. Der Hut der Frau war verschoben, und ihr Jüngstes griff mit beiden Händen danach und machte den Schaden nur noch größer.
Und nun stolperte gar noch ihr Ältestes, ein rechter Guckindieluft von einem kleinen Mädchen, über einen Stuhl und brachte die Mutter ins Wanken. Und diese packte in ihrem Zorn den Zopf des niedergleitenden Töchterleins und schüttelte daran, als wollte sie Sturm läuten.
Dann sah sie sich tief aufatmend nach einem freien Platz um, entdeckte die Ecke, wo Hans und Suse sich aufhielten und kam pustend heran. Die Geschwister waren so verblüfft von ihrem Anblick, daß sie es ohne ein Glied zu rühren, geschehen ließen, wie sich die Frau, ohne sich lang umzusehen, mit einem Seufzer der Erleichterung mitten auf ihren Sachen niederließ und die Füße von sich streckte. Da saß sie nun auf dem Engel und der Geburt Christi, auf Strümpfen und Wäschestücken, als müßte es so sein. — Suse streckte abwehrend die Hände nach ihr aus, als es leider zu spät war. Sie fühlte sich anscheinend ganz wohl. Und zu allem Elend fielen nun ihre Kinder über die am Boden liegenden Habseligkeiten der Geschwister her und wühlten darin herum.
Suse traten die Tränen in die Augen; sie hob schnell alles auf und trat dann vor die Frau hin, um sie zu bitten: „Unsere Sachen sind unter Ihnen. Möchten Sie nicht, bitte, aufstehen? Die Geburt Christi und der Engel sind auch unter Ihnen. Sie zerdrücken sie ja!“
„Was ist unter mir?“ rief die Frau kirschrot vor Zorn. „Was zerdrücke ich? Was hast du da gesagt? — Wollt ihr mich vielleicht zum besten haben? Kommt mir nur! Da kommt ihr gerade an die Rechte.“
Die Geschwister wichen weit zurück vor Schrecken. Und Suse mußte mit einemmal an Frau Cimhuber und Ursel denken. Ach, wenn doch nur Ursel da wäre. Ursel mit dem entrüsteten Auge, das einsam und zornig aus seinen Wolltüchern hervorleuchtete. Die würde helfen. Suse fühlte es mit einemmal ganz bestimmt. Die würde die Frau sofort am Arm packen und aufstehen heißen. Sie konnte es ja nicht leiden, daß irgend jemandem Unrecht geschah. Gestern hatte sie auf der Straße einen wildfremden Mann angefahren, weil er seinen eigenen Hund geschlagen hatte.
Wenn doch nur Ursel da wäre!
Zum Glück für die Kinder bekam ihre Feindin aber doch ein Einsehen. Vielleicht wurde ihr auch das beschwerliche Sitzen auf der Bank mit der Zeit unbequem. Denn sie begann langsam einen Gegenstand nach dem andern unter sich hervorzuziehen, wobei sie blitzenden Auges rief: ob sich die hohen Herrschaften vielleicht einbildeten, die Bänke seien für sie allein da. Und ob sie glaubten, andere Leute wollten nicht auch[S. 55] leben und sich irgend wohin setzen. Ja, ob sie das glaubten? Und ob sie das nächstemal nicht noch ihr ganzes Bett mitbringen und zur Freude anderer Leute hier ausbreiten wollten?
Immer größer wurde nun die Verwirrung in der Ecke, wo Hans und Suse sich aufhielten. Denn das Töchterlein der zornigen Frau, der Guckindieluft, hatte sich zu seiner Zerstreuung ein Paar Halbstrümpfe von Hans als Handschuhe angezogen, eine Schürze von Suse als Krawatte umgebunden und tänzelte nun, Gesichter schneidend, vor der Bank auf und nieder.
Eh’ sich das Kind aber versah, war die Mutter aufgesprungen, hatte ihm die Schürze abgebunden und eilte damit hinter dem Töchterlein her, als wär’s eine lästige Fliege, die durch ein paar kräftige Schläge aus der Welt zu schaffen sei. Schließlich erwischte sie den Tunichtgut und setzte ihn mit großem Nachdruck neben sich nieder. Das Kind sah sich verwundert um.
Die Frau aber verkündete mit weithinschallender Stimme, daß sie niemals, niemals wieder in ihrem ganzen Leben mit ihren ungezogenen Rangen auf Reisen gehe.
Die Umsitzenden lachten.
Und nun kam auch noch der Kellner herbei und schalt auf Hans und Suse, die die Unordnung angerichtet hätten. Die beiden steckten hastig ihre Sachen kunterbunt durcheinander in die Hirschtasche zurück. Dann schlichen sie zur Tür hinaus in die Bahnhofshalle.
„Faß nur schnell in die Tasche herein und hol’ die Geburt Christi heraus, so schnell wie du kannst,“ sagte Suse.
Da fuhr der Knabe mit beiden Händen in die Tasche und zog als erstes den bewußten Gegenstand hervor.
„Schön,“ sagte Suse wie erlöst. „Jetzt gehst du hin und nimmst zwei Karten für Maria Heil. Die Postkutsche ist zwar schon fort, wenn wir hinkommen, aber dann gehen wir eben zu Fuß nach Hause. Ich fürchte mich heute nicht, auch wenn wir im Wald allein sind. Und wenn wir an der Wolfsschlucht vorüberkommen, wo des Nachts in der großen Eiche immer so gräßliche Stimmen schreien, da beten wir und dann hilft uns der liebe Gott. — Aber hopp, Hans, hol’ die Karten, ich warte hier,“ mahnte sie.
Noch einer geraumen Zeit bedurfte es, eh sich der Bruder zu dem schweren Gang entschließen konnte. Dann schritt er zögernd vorwärts. Suse beobachtete ihn aus der Ferne von der Mitte der Bahnhofshalle aus.
Sie sah, wie er wartete, bis nur wenige Menschen noch in der Nähe des Schalters waren, und dann herantrat. Jetzt drückte er sich von[S. 56] rechts an das Fenster, jetzt blieb er stehen, jetzt sah er auf die Gegenstände in seinem Arm und redete ein paar Worte.
Da fuhr pfeilschnell ein glühendrotes, dickes Gesicht hinter dem Schalterfenster hervor, und eine donnernde Lachsalve tönte Hans aus zwei geblähten Wangen entgegen.
Und in demselben Augenblick erklang auch hinter dem Knaben Lachen, und als er herumfuhr, sah er in das Gesicht des Bahndieners, der ihn schon vorhin im Wartesaal beobachtet hatte und ihm jetzt hierher gefolgt war.
„Wenn ich’s mir nicht gedacht hätte,“ rief der Mann, packte Hans am Arm und zog ihn aus dem schmalen Gang, in dem er sich zwischen Schalter und dem davorstehenden eisernen Gepäcktische befand, hervor.
Kaum sah Suse dies von der Mitte der Bahnhofshalle aus, wo sie mit ihrer Hirschtasche Wache stand, so kam sie herangestürmt wie eine Glucke, deren Küchlein in Gefahr sind, faßte ihren Bruder an der Hand und sagte ängstlichen Blickes auf den Angreifer: „Das ist mein Bruder Hans. Ich bin seine Schwester Suse.“
„So, so,“ sagte der Mann. „Also zwei Ausreißer.“
Beide nickten schuldbewußt und Suse stotterte: „Wir sind von Frau Cimhuber und von Ursel fort und wollen nach Hause nach Schwarzenbrunn. Die Postkutsche ist wohl schon fort. Wir haben den Zug auch schon verfehlt.“
„Also man weiß nicht, daß ihr fort seid?“ fragte der Mann. Sie schüttelten ihre Köpfe und standen mit niedergeschlagenen Augen da.
„Und Geld habt ihr auch keins?“ forschte er.
Sie verneinten.
„Nun, dann kommt mal mit. Nun wollen wir mal sehen, was mit euch beiden anzufangen ist,“ sagte er dann mit solch dröhnender Stimme, daß beide zusammenfuhren. Und zu gleicher Zeit packte er sie an der Hand und zog sie mit sich. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen und bekamen vor Angst ganz verzerrte Gesichter.
Vor einem Raum, auf dessen Tür in roten Buchstaben „Stationsvorsteher“ zu lesen war, blieb er endlich mit ihnen stehen, öffnete und ließ sie eintreten.
In der großen Amtsstube, in die sie nun kamen, saßen und standen Beamte herum, schrieben und ordneten Papiere oder redeten miteinander. Und alle sahen auf und musterten die Flüchtlinge.
Einer trat sogar näher, stellte sich vor sie hin und betrachtete bald den einen, bald den andern wie ein Meerwunder. Suse fühlte, wie der Boden unter ihr schwankte und wie ihr ganz schwarz vor den Augen wurde. —
Wie aus der Ferne hörte sie eine Stimme reden und sah einen großen Mann mit einem langen Bart wie in Dunst gehüllt vor sich stehen. — Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. — Und an ihrer Seite stotterte Hans allerlei dummes Zeug, das kein Mensch verstehen konnte, auch sie nicht.
Da, als die Not am höchsten gestiegen war, nahte unversehens Rettung aus der Stadt. — — —
Dort hatten sich inzwischen auch die aufregendsten Szenen abgespielt. Sie begannen fast mit dem Augenblick, als Hansens und Susens Zug die Halle verließ.
Da atmete Theobald erleichtert auf.
Das erhebende Gefühl, sich wieder einmal durch seine Tatkraft und sein forsches Eingreifen ausgezeichnet zu haben, beherrschte ihn ganz. Er ahnte ja nicht, der vortreffliche Held, was er eigentlich angerichtet, und was er im wohlgezielten Wurf hinter seinen kleinen Verwandten hergeschickt hatte. Ihm schien alles über die Maßen gut gelungen, eine fein eingefädelte, vortrefflich weitergeführte Sache. Toll genug war’s freilich zugegangen.
Nun galt es aber, sich endlich mal wieder ein menschliches Ansehen zu verleihen. Schnell nahm er einen kleinen Spiegel zur Hand, betrachtete sich, rückte seinen Kragen und Schlips zurecht und strich sich das Haar glatt. Noch war er mit dieser Beschäftigung nicht zu Ende, da rief jemand neben ihm: „Theobald, sind sie schon fort?“
Und an seiner Seite stand Toni, die atemlos hinter ihm dreingekommen war. — Er nickte. —
„Die Armen, die Armen,“ jammerte der Backfisch. „Sie haben ja nichts zu essen. Ich habe ihnen Schokolade mitgebracht.“
„Zu spät,“ erklärte der Bruder kurz, „du hättest dich mehr beeilen müssen, ich hab’ dich ja früh genug geweckt. Jetzt sind sie fort und bleiben fort. Ich jedenfalls habe meine Pflicht getan.“
In diesem Augenblick lief aus derselben Richtung, in der Hans und Suse verschwunden waren, ein Zug ein. Die Reisenden stiegen aus und gingen auf die Sperre zu. Theobald und Toni mischten sich unter sie. Theobald suchte in der Westentasche nach seiner Karte. Plötzlich fuhr er zusammen, umklammerte seiner Schwester Arm wie mit eisernen Klammern und stöhnte: „Hier, hier, schau her! — Das ist das Zwanzigmarkstück, das ich Hans und Suse geben wollte, hier, hier — schau, schau — begreifst du’s, faßt du’s, weißt du, was das heißt? — Geht dir eine Stallaterne auf? — Guck doch nicht so dumm. Mein Gott, was hab’ ich ihnen denn eigentlich in den Zug geworfen?“ stöhnte er.
Dann faßte er sich an die Stirn und taumelte.
„Jetzt weiß ich’s,“ entrang es sich seiner Brust. — „Einen Hosenknopf! Den hab’ ich mir gestern abgerissen. Den haben sie jetzt. Das ist ja einfach schauerlich! Den können sie jetzt betrachten und an die Lippen drücken und sich Karten davon kaufen und damit nach Hause fahren! — Oh, ich Mondkalb!“
Er griff sich mit beiden Händen verzweifelt an den Kopf. Toni zitterte wie Espenlaub und murmelte: „Sie sind verloren, und wir sind an ihrem Unglück mit schuld. Wir hätten sie warnen sollen. Theobald, du bist gewissermaßen ihr Verderber.“
Theobald vernahm kein Wort von ihrem Klagen und stand noch immer da wie versteinert.
Die Doktorskinder waren fort mit einem Hosenknopf auf die Reise, das war alles, was er denken konnte, sonst nichts. — Und das hatte er verschuldet, er — er. Wie zu einem Retter hatten sie zu ihm aufgesehen, und er hatte sich wie ein Rüpel benommen.
Lange sollte Theobald aber nicht in stummer Selbstanklage verharren; denn wie der Sturmwind kam mit einemmal Ursel durch die Sperre, sah sich um, erblickte den Tunichtgut, packte ihn am Arm und schüttelte ihn hin und her wie eine Medizinflasche.
„Sind sie drin?“ rief sie dabei, „sind sie drin? Antworte doch, Esel!“
Und mit ausgestreckter Hand wies sie auf den wartenden Zug.
Aber Theobald sah sie blöde an. Alle seine geistigen Fähigkeiten schienen ihn verlassen zu haben; und auch Toni stand wie eine Nachtwandlerin da und krampfte vor Schreck die Hände zusammen.
Da rannte Ursel stracks auf den Zug zu, öffnete schnell eine Tür und verschwand im Innern des Wagens. Noch hatte sie sich nicht vollständig auf die Bank niedergelassen, da fuhr der Zug auch schon davon.
„Lieber, lieber Gott,“ rief Toni, „sie sitzt ja drin, sie fährt ja in der verkehrten Richtung! Ruf sie, Theobald, ruf sie!“
„Was soll ich tun?“ rief Theobald entrüstet. „Hast du eine Ahnung, wie die mich am Arm gepackt und gekniffen hat, diese Riesenschere, diese Kneifzange, diese wilde Habichtsnase mit ihren Wolltüchern! Außerdem hab’ ich jetzt Wichtigeres zu tun, als sie zurückzuholen. Ich renne jetzt zu Onkel Fritz und wecke ihn auf. Er muß hinter Hans und Suse herfahren und ihnen Geld zur Weiterreise bringen. — In dreiviertel Stunden geht der Bummelzug. Ich würde selbst hinfahren, aber wenn wir zur Aufstehenszeit nicht daheim sind, geht’s uns übel. Dann entdecken’s der Vater und die Mutter.“
„Nein, nein,“ rief Toni, „weiterfahren dürfen Hans und Suse auf keinen Fall. Ursel hat uns gesehen. Und wenn’s rauskommt, daß die Kinder durch unsere Hilfe fortgekommen sind, dann ist für uns alles aus. — Der Vater hat schon gesagt, noch eine Dummheit von mir, und ich komme überhaupt nicht mehr ins Theater. Und ohne künstlerische Genüsse kann ich nicht leben.“
„Fahr’ nur lieber gleich in den Himmel,“ sagte der Bruder kaltblütig. — „Was mich aber anbetrifft, so geh ich jetzt zu Onkel Fritz, und damit basta.“
„Und ich, wohin geh ich?“ jammerte Toni, „sag, Theobald, wohin soll ich gehen? — Aha, ich weiß es,“ rief sie freudig, „ich gehe zu Fräulein Hirt und bitte sie auf den Knien, daß sie Hans und Suse wieder zurückholt. Die ist ja immer unsere Zuflucht. Die weiß Rat. Die verläßt uns nie.“ —
Mit diesen Worten stoben die Kinder durch die Halle und fuhren in entgegengesetzter Richtung auf ihren Rädern davon.
An einem der hohen Häuser in der Hauptstraße der Stadt klingelte Theobald, um bei seinem Ideal, dem Onkel Fritz, dem Geber seiner meisten Geschenke, Einlaß zu begehren. Eine alte Haushälterin, die Katherin, machte ihm verschlafen auf und fragte ungehalten nach seinem Begehr.
Als sie erfahren hatte, was ihn herführte, riet sie ihm, doch zu einer passenderen Zeit wiederzukommen und nicht, wenn der Mond noch am Himmel stehe.
Doch mit einer höflichen Verbeugung schob er die alte Frau zur Seite und ging stracks auf das Schlafzimmer seines Onkels zu, der friedlich schlummernd in weichen Kissen lag und von den schönsten Träumen heimgesucht wurde.
„Onkel Fritz, Onkel Fritz!“ rief der Knabe und schüttelte aus Leibeskräften an ihm. Lange rührte sich der Schläfer nicht. Dann aber fragte er verschlafen: „Was in aller Welt willst du denn schon hier, du mein tägliches Brot? Noch nicht einmal im Bett ist man sicher vor dir. Was ist denn jetzt schon wieder mal los? Verdufte, oder ich setze dich vor die Tür.“
Aber fester schüttelte der Neffe an seinem Onkel und mahnte: „Du mußt sofort aufstehen und hinter Hans und Suse herfahren.“
„Was soll ich tun?“ fragte der Onkel und richtete sich kerzengerade im Bett auf. „Wachst du, oder träumst du? Hinter wem soll ich herfahren?“
„Hinter Hans und Suse,“ sagte der Neffe kaltblütig und erzählte alles, was sich zugetragen hatte.
Da brach der Onkel in ein schallendes Gelächter aus. Besonders die Vorstellung erschien ihm köstlich, daß Ursel in verkehrter Richtung davon gefahren sei, und zwar mit Nüstern, die vor Wut ärger gedampft hätten als der Lokomotivenschlot, wie sein Neffe beteuerte.
Der aber blieb heute bei seines Onkels Heiterkeitsausbrüchen eisig kühl und mahnte nur immer wieder: „Du mußt hinterherfahren, Onkel, du mußt es tun. Denk doch daran, wenn ihnen was passiert! Und es passiert ihnen sicher was. Sie sind ja einfach wie die Wickelkinder so dumm.“
Da erklärte sich schließlich der Onkel unter Stöhnen und Schelten bereit, die Fahrt anzutreten. So nebenbei frug er dann, ob es sein Neffe nicht für angebracht hielte, daß er in jeder Westentasche zwei Gummilutscher und zwei Milchfläschchen mitnehme. Überhaupt beabsichtige er, nächstens einen Kindergarten zu eröffnen.
Doch Theobald hatte für seines Onkels Geistesblitze heute nur ein mitleidiges Achselzucken und half ihm in die Kleider, damit der Abmarsch möglichst bald vor sich gehe. Zum Dank hierfür ließ der Onkel ein paar Tropfen Kölnischen Wassers auf den Neffen herabregnen. Den gleichen Wohlgeruch verbreitend, verließen dann die beiden guten Freunde das Haus. Als sie am Bahnhof ankamen, war der Zug schon fort.
Toni hatte inzwischen mehr Glück mit ihrem Bittgang gehabt. Sie war zu Fräulein Hirt gelaufen. Das war Tonis und ihrer Schwestern angebetete Klavierlehrerin, zu der sie in jeder Bedrängnis ihre Zuflucht nahm. Schon seit Jahren verband sie innige Freundschaft mit dieser gütigen Dame, in deren stillem, traulichem Zimmer sich’s so herrlich ausruhen ließ, nachdem man allerlei Torheiten angestellt hatte. Man fühlte sich hier wie auf einer fernen, stillen Insel, um die das gefährliche Meer fern grollte und brauste, ohne einen erreichen zu können. Alles war anheimelnd und vertrauenerweckend hier: die alte, taube Großmutter, die am Fenster im Lehnstuhl saß und zu allem zustimmend nickte, was erzählt wurde, weil sie nichts mehr davon verstand; der Dompfaff, der in seinem Käfig so schöne Trostesweisen pfiff, und vor allen Dingen Fräulein Hirt selbst, die den „Sausewinden“, wie sie Toni und ihre Geschwister nannte, stets mit Engelsgeduld zuhörte und nur zuweilen ein leichtes Lächeln zeigte. Sogar mit stolz erhobener Stimme konnte man ihr seine Heldentaten vortragen, ohne befürchten zu müssen, daß einem plötzlich eine treffende Bemerkung alles Selbstbewußtsein nahm, wie es beim Vater daheim so leicht geschah.
Fräulein Hirt, der vielerprobte Schutzengel, war ja nun an die seltsamsten Überraschungen und Überfälle seitens ihrer Lieblinge gewöhnt.
Trotzdem erschrak sie nicht wenig, als sie ihre Toni zu so ungewohnter Stunde bleich und verstört zu sich hereinstürzen sah und dann mit zitternder Stimme erzählen hörte, was sich zugetragen hatte.
Einen Augenblick stand sie verwirrt da, dann aber hatte sie sich gefaßt und sagte kopfschüttelnd: „Also genau so wie ihr sind diese beiden,[S. 62] genau so zwei Sausewinde. Und dabei sahen die beiden neulich, als ich sie kennen lernte, doch aus, als könnten sie keine drei zählen.“
Und darauf machte sie es ganz anders wie der berühmte Onkel Fritz. Denn anstatt hundertmal zu fragen, was denn eigentlich los sei und zu gähnen und sich zu recken und zu strecken, zog sie sich schnell an und ging zum Bahnhof. Sie erreichte den Zug noch zur rechten Zeit und kam in Haslach in dem Augenblick an, in dem die beiden Flüchtlinge in dem Zimmer des Stationsvorstehers verhört wurden. Davon hatte sie natürlich keine Ahnung und schritt darum eilends durch alle Wartesäle hindurch und sah sich die einzelnen Gruppen der Leute forschend an.
Schließlich lief sie auch dem Bahndiener in die Hände und hielt diesen für die geeignetste Persönlichkeit, um ihr Auskunft zu geben. Rasch entschlossen fragte sie ihn deshalb, ob er nicht zwei Kinder gesehen habe, die durchgebrannt seien: ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und einen Jungen mit großen Augen und.....
„Ei, Fräuleinchen,“ fiel ihr der Beamte ins Wort, „ich glaub’ die beiden haben wir schon. Die sitzen beim Stationsvorsteher. — Ja, ja, sie müssen’s sein. — Ein Mädchen mit langen, blonden Zöpfen und ein Bub, na, halt so ein Bub. — Die müssen’s sein. Kommen Sie mal!“
„Wenn sie’s doch nur wären!“ fiel ihm Fräulein Hirt aufgeregt ins Wort. „Dann wär’ ja alles gut! Mir fiel’ ein Stein vom Herzen. Es sind die kleinen Verwandten meiner besten Freunde. Stellen Sie sich vor, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre!“
„Ach, so leicht stößt einem schon nichts zu,“ meinte der Beamte mit väterlicher Stimme. „Kommen Sie nur mit, Fräuleinchen, und sehen Sie sich die beiden einmal an. Nur nicht so leicht den Mut verlieren!“
Und Fräulein Hirt folgte ihm eilends und trat bald darauf in das Zimmer des Stationsvorstehers, wo sie gleich der beiden Ausreißer ansichtig wurde. Dort standen sie, wie die Verurteilten, zitternd vor dem Stationsvorsteher. Sie rief ihre Namen.
Da fuhr Suse herum und schaute verwundert auf.
Vor ihr an der Seite des Bahndieners stand Fräulein Hirt.
„Ich will euch holen,“ sagte das Fräulein freundlich und kam auf sie zu. Das kleine Mädchen konnte nicht reden. Sie schaute nur und schaute, und ihr Gesicht wurde röter und röter, und mit einem Male stürzte ein heller Tränenbach aus ihren Augen.
„Ach, führen Sie uns doch wieder zu Frau Cimhuber,“ sagte sie leise.
Auch Hans sah dankbar zu der Dame auf. Er war wie erlöst. Vor Suse hatte er sich ja noch zusammengenommen und nicht verraten, wie jämmerlich ihm zu Sinn war und daß er glaubte, sie beide seien verloren. Und nun war alles gut. Nun stand Fräulein Hirt vor ihm und[S. 63] sah ihn mit ihren guten Augen freundlich an und sagte: „Ihr seid mir die Rechten.“
Wie zentnerschwer war ihm die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf der Brust gelegen. — Allein zur Stadt zurückzufahren, allein Frau Cimhuber aufzusuchen, allein alles zu beichten, was sich zugetragen hatte, das war keine Kleinigkeit. — Und jetzt war er frei.
Es kam ihm alles vor wie ein Traum. Und er hörte, wie sie den Beamten für die Freundlichkeit dankte, die sie Hans und Suse gegenüber bewiesen hätten, und wie sie dann zu ihm und seiner Schwester sagte: „Nun kommt schnell. In zehn Minuten geht unser Zug, und ihr sollt vorher noch eine Tasse Kaffee trinken.“
Und als die beiden ihre schweren Gepäckstücke mit schiefgezogenen Schultern wieder vorwärts tragen wollten, rief sie einen Träger herbei, der ihnen die Last abnahm. Dann ging sie mit ihnen in den Wartsaal, zum Glück nicht dorthin, wo die zornmütige Frau noch immer wie eine bitterböse Kreuzspinne auf ihrem Posten saß und hervorschoß, wenn jemand ihr und ihren Kindern zu nahe kam, sondern in einen andern Raum, wo ein freundlicher Kellner dienstbereit herbeiholte, was Fräulein Hirt forderte.
Dann als die zehn Minuten um waren, stiegen die Kinder in einen Zug, der sie nach der Stadt zurückführte.
Es war aber auch höchste Zeit, daß sie bei Frau Cimhuber ankamen. Kein übler Schreck hatte die Pfarrfrau heute morgen durchzuckt, als sie das Nest leer und keine Ursel, keine Kinder vorgefunden hatte. — Ihre gute, alte Magd, die sich auf ihre flinken Füße verlassen, hatte gehofft, die Kinder noch einzufangen, ehe ihre Herrin aufwachte, und hatte sich heimlich davongemacht.
Nun war Frau Cimhuber in dem stillen Haus allein und konnte das Rätsel von Ursels und der Kinder Abwesenheit nicht lösen.
„Hans, Suse,“ rief sie. Keine Antwort kam. Alles war wie ausgestorben. Nirgends rührte sich ein menschliches Wesen. Sie ging durch alle Zimmer, stand still, überlegte, und schüttelte den Kopf. Da sah sie zufällig auf dem Tisch in Suses Gemach einen Zettel liegen, der von Kinderhand beschrieben war. Sie griff danach und las folgende, in sorgfältiger Schrift aufgesetzte Worte:
„Liebe Frau Cimhuber! Wir gehen jetzt nach Hause, weil wir so gräßliches Heimweh haben. Seien Sie nicht böse! Der liebe Gott schickt Ihnen sicher andere Kinder, die viel artiger sind als wir. Vielen Dank für alle guten Gaben.
Viele Grüße an Ursel und Sie von
Hans und Suse.“
Frau Cimhuber sank auf den nächsten besten Stuhl und strich sich über die Stirn. — Die Kinder waren fort. — Sie glaubte zu träumen. — Da stand es aber auf dem Zettel, daß sie fort waren. — Ja, da stand es. Hans und Suse waren nicht mehr hier. Sie befanden sich auf dem Weg nach Hause. Mein Gott, was war denn los? Was war denn in die Kinder gefahren? Was hatte sie dazu gebracht, sich davonzustehlen? Sie zitterten ja schon, wenn sie einen größeren Gang durch die Stadt machen sollten, und nun waren sie allein auf dem beschwerlichen Weg nach Hause. Wieder strich sich die Pfarrfrau über die Stirn und quälte sich mit hundert Fragen. Warum waren sie denn so unglücklich? Sie und Ursel hatten doch stets das Beste der Kinder gewollt? Und wie oft hatte sie darüber nachgedacht, was ihnen bei der Erziehung am dienlichsten sei, und war immer wieder zu der Einsicht gekommen, daß sie Ernst und Strenge nötig hätten. Und nun waren sie fort.
Und während Frau Cimhuber so verzweifelt dasaß, kam ihr mit einem Male der Gedanke an ihren Sohn Edwin, und sie sah ihn als kleinen Jungen leibhaftig vor sich stehen. Er hatte ja nichts lieber, der kleine Edwin, als wenn sie ihm leise über den Kopf strich und ihn an sich zog und liebkoste. — Und nie, nie hätte sie es fertig gebracht, ihn zu fremden Leuten zu geben, denn die hätten ihn vielleicht nicht mit Liebe behandelt und wären schroff zu ihm gewesen.
Frau Cimhuber erschrak.
Und Hans und Suse? Die hatten ja auch eine Mutter daheim, die sie liebkoste, und einen Vater, der gut zu ihnen war.
Ein Vorfall von letzter Woche kam ihr in den Sinn und brannte ihr auf dem Gewissen.
Sie sah wieder, wie ihr das Garnknäuel auf den Boden fiel und Suse wie der Blitz hinterherfuhr, es aufhob und ihr zurückgab. Und als sie genickt und freundlich gesagt hatte: Ich danke dir, liebes Kind, da hatte das kleine Mädchen sie so strahlend und froh angesehen, als sei ihr die größte Freude widerfahren.
Die Pfarrfrau schlug beide Hände vor das Gesicht.
„Mein Gott, wenn sie doch nur wieder hier wären,“ entrang es sich ihrer Brust. Wie wollte sie freundlich zu ihnen sein. Wie wollte sie sie mit Liebe behandeln. Vielleicht kamen sie aber nicht wieder? — Vielleicht war ihnen unterwegs etwas geschehen. Und der Herr Doktor und die Frau Doktor, die ihr die Kinder anvertraut hatten in dem Glauben, daß sie in sicherer Hut seien, was würden die sagen, wenn die beiden zu Schaden kämen?
Die Hände der Pfarrfrau sanken in den Schoß und falteten sich, und ihr Antlitz trug einen Ausdruck, als spräche sie ein Gebet.
Da klingelte es. Sie fuhr zusammen und konnte sich zuerst kaum erheben. Dann ging sie langsamen Schrittes zur Tür. Ihr Herz klopfte. Zögernd öffnete sie. Vor ihr standen die Kinder.
„Mein Gott, mein Gott,“ sprach die Pfarrfrau und streckte beide Hände nach ihnen aus. „Ihr seid’s? Seid ihr’s denn wirklich? Seid ihr denn wirklich wieder da? Kommt doch herein, welch ein Segen, daß ihr wieder da seid! Ist euch denn nichts zugestoßen unterwegs? Kommt doch herein!“
Und sie zog die beiden an sich und umarmte sie in ihrer großen Freude.
„Kommen Sie doch herein, liebes Fräulein!“ wandte sie sich dann an die Begleiterin der Kinder und drückte ihr die Hände und sagte einmal über das andere: „Wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sie gebracht haben! Wie dankbar bin ich Ihnen; ich kann es gar nicht sagen!“
„Warum seid ihr denn fortgegangen?“ wandte sie sich wiederum an die Kinder.
Und beide sahen sie erstaunt an und sagten kein Wort als Erwiderung und konnten den Umschwung in ihrem Wesen nicht verstehen.
Sie aber redete weiter freundlich zu ihnen wie eine Mutter, führte sie in ihr Schlafzimmer, schenkte ihnen warmes Wasser ein und sagte, sie möchten zu ihr in die Negerstube kommen, wenn sie sich gewaschen und umgezogen hätten.
Und dann führte sie Fräulein Hirt in ihr Staatsgemach und nötigte sie in ihr Sofa, damit sie ihr hier alles erzähle, was sie von den Kindern wisse.
Und nun begann Fräulein Hirt über das Abenteuer der Ausreißer zu sprechen. Und im Laufe der nächsten halben Stunde stellte es sich heraus, daß sie bei den Sausewinden in eine gute Schule gegangen war. Denn sie wußte so zu reden und zu bitten, daß man glauben mußte, Hans und Suse seien die größten Unschuldsengelein, die zurzeit auf dem Erdball herumliefen.
Aber es bedurfte gar nicht ihres Zuredens, um Frau Cimhuber umzustimmen. Sie dachte ja selbst schon ganz anders über die Kinder als früher.
„Was müssen die beiden durchgemacht haben,“ sagte sie einmal über das andere, „was müssen sie durchgemacht haben!“
Und als Fräulein Hirt sich schließlich empfahl, weil es Zeit für sie war, nach Hause zu gehen, da suchte Frau Cimhuber die Geschwister gleich wieder auf und sagte ihnen, sie sollten zu Hause bleiben und sich ausruhen und nicht zur Schule gehen.
Aber Hans spürte trotzdem den Wunsch, es zu tun. Er trank schnell noch einmal eine Tasse Kaffee und lief davon. — Der gefährliche Gang in das Zimmer des Direktors hatte plötzlich nichts Schreckliches mehr für[S. 66] ihn. — Lieber zehn Gänge in das Zimmer des Direktors, als noch eine solch fürchterliche Flucht mit Suse, wollte es ihm scheinen. In den Gefahren des Morgens hatte sich sein Mut gestählt und gefestigt. Er fühlte, er würde nun ohne Zittern an der Seite des Naturgeschichtslehrers in das Zimmer des Direktors treten, und wenn er gefragt würde, mit klarer, heller Stimme antworten: „Ich habe die Papierkugel nicht geworfen, Herr Direktor.“ Und man würde ihm glauben.
Aber zu dem schweren Gang kam es gar nicht; denn als Hans vor Beginn des Unterrichts sich noch schnell an seinen Platz drückte, rief ihm Peter zu: „Du, Hans, ich hab’ gestern gesehen, daß Kurt die Kugel geworfen hat, nicht du. Ich hab’ ihm meine Meinung gesagt. Er wird’s sagen, sonst treten wir aus dem Fußballklub aus und fordern unser Geld zurück.“
Und die andern riefen zustimmend: „Ja.“ —
So war Hans gerettet. Und er schämte sich nicht wenig, als er inne wurde, wie schnell eine Sache, von der er so viel Aufhebens gemacht hatte, aus der Welt geschafft worden war.
Suse aber blieb daheim und saß lange Zeit neben Frau Cimhuber auf dem Sofa und hatte ihren Kopf an die Schulter ihrer Pflegemutter gelehnt und hörte, wie diese freundlich sagte: „Willst du denn nicht mehr bei uns bleiben, liebe Suse, gefällt es dir wirklich nicht bei uns? Glaub’ nicht, daß ich dich nicht lieb habe. Ich muß nur immer an meinen Sohn in Afrika denken. Der ist krank, und ich bin in großer Sorge um ihn.“
Und die Pfarrfrau fuhr fort, von ihrem Sohn Edwin zu reden, besonders von seiner Kindheit, und betonte immer wieder, was für ein liebes, gutes Kind er gewesen sei, und wie er ihr stets nur Freude gemacht habe.
„Der wäre nicht fortgelaufen von fremden Leuten, wie wir!“ sagte Suse leise und schuldbewußt.
Ihre Pflegemutter schwieg.
Und während es so still in der Stube wurde, wanderten Susens Blicke scheu nach dem Negergotte hin, der mit seinem schiefgezogenen Munde aussah, als wollte er durch eine Zahnlücke zischen: Nichtsnutze! Nichtsnutze! Schon wieder mal was angestellt? Mein Kopf! Mein Kopf! O mein armer Kopf!
„Er guckt!“ flüsterte Suse.
Da nickte die Pfarrfrau, stand langsam auf, ging auf den Götzen zu und trug ihn unter viel Beschwerden in ihren Kleiderschrank, damit er dort hinter düsteren Gewändern einsam sitze.
Und dann nahm sie wieder neben Suse Platz.
Und Suse kam sich mit einem Male geborgen vor, wie bei ihren Eltern daheim.
Sie war ja nicht mehr auf dem Bahnhof, wo alle Menschen sie so streng, so feindlich ansahen. — Sie saß hier neben Frau Cimhuber und konnte sich fest an sie schmiegen.
Gegen zehn Uhr erschien auch Ursel und war endlich einmal wieder von ihren Wolltüchern befreit; denn sie hatte sich ihren kranken Zahn ziehen lassen und sah milde und freundlich drein. Und als sie sich auf dem Küchenstuhl niedergelassen hatte, begann sie zu erzählen: Bei ihrer Abfahrt heute morgen vom Bahnhof habe sie plötzlich entdeckt, daß sie verkehrt gefahren wäre, und eine gräßliche, eine fürchterliche Wut habe sie gepackt. — Ihr Zorn sei aber noch zehnmal größer geworden, als sie auf der nächsten Station entdeckt habe, daß sie noch zwei Stunden warten müsse, bis sie wieder heimfahren könne. Da sei sie davongerannt wie von Sinnen in die Stadt hinein, zum ersten, besten Zahnarzt, vier Treppen hinauf, und habe sich ihren Zahn ziehen lassen. Und jetzt sei ihr so wohl, so wohl, wie in ihrem ganzen Leben noch nicht.
Dann wandte sie sich an Suse und verlangte von ihr zu wissen, was sich eigentlich mit Hans und ihr zugetragen habe. Zitternd begann das kleine Mädchen seine Beichte. Aber sie war noch ganz im Anfang damit, da unterbrach Ursel sie schon: „Hör’ auf, ich will nichts mehr hören. — Wer ist an allem schuld, Frau Cimhuber, wer? — dieser Nichtsnutz, dieser Tunichtgut, dieser Theobald! — Wissen Sie noch, Frau Pfarrer, wie er unserem Spitzchen einmal auf den Schwanz getreten hat? Da haben Sie ihm eine Ohrfeige gegeben. So war’s recht. Das tat ihm gut. — Schade, daß er so eine nicht jeden Tag bekommt. Das hab’ ich damals gleich gesagt.“
Und nach diesem harten Urteil wurde Ursel wieder friedfertig, sprach froh über ihre Erlösung vom Zahnweh und forderte Suse auf, doch ein wenig mit ihr in der Küche zu bleiben.
Und die beiden Frauen setzten Suse ein Stück Kuchen vor. Aber als sie einmal in den Keller gingen und wiederkamen, fanden sie Suse eingeschlafen auf ihrem Küchenstuhl sitzen und brachten sie zu Bett.
Am späten Nachmittag erwachte Suse aus schweren Träumen. Ihr hatte geträumt, der Bahnhofvorsteher und die Frau mit den drei Kindern und der Kellner seien hinter ihr hergesprungen und hätten sie am Kopf gepackt und geschüttelt, daß ihr die Haarschleife davongeflogen sei.
Da schlug sie die Augen auf und sah Hans vor sich stehen, der mit heiterer Miene erklärte: „Endlich wachst du auf. Fein war’s heute in der Schule. Kurt hat gesagt, daß er die Papierkugel geworfen hat, und da war alles wieder gut.“
Und als Suse noch ganz verschlafen und erstaunt nach ihm hinsah, kam Frau Cimhuber, legte ihr die Hand auf die Stirn und fragte, ob ihr Kopfweh vorüber sei, und ob sie all ihre Schulaufgaben gemacht habe.
Da fiel Suse etwas ein. Ängstlich hub sie an: „Ich hab’ das Rechnen noch nicht gemacht, Frau Pfarrer; das Rechnen ist immer am schwersten hier. Bei uns machen sie es ganz anders. Bei uns machen sie es von rechts nach links, und hier von links nach rechts. Und jetzt weiß ich nicht, ob ich bei der Division den langen Schwanz, die vielen Rechenkästchen mein ich, auf die rechte Seite setzen soll oder auf die linke.“
Da setzte Frau Cimhuber ihre Brille auf, holte Susens Ranzen herbei, verglich das Rechenbuch mit dem Heft und gestand schließlich, daß sie es auch anders gelernt habe in der Schule.
Nun sei aber kein Grund, deshalb betrübt zu sein. Sie wolle schon für Hilfe sorgen. Und während Suse noch nicht wußte, wie ihr geschah, da stand Frau Cimhuber schon zum Ausgehen bereit da und forderte Suse auf, mit ihr zu der Tochter ihrer Freundin zu gehen, einem jungen Mädchen, die eben jetzt das Lehrerinnenexamen gemacht habe, und die ihr gerne helfen werde.
Das junge Mädchen sah sich wirklich auch mit größter Bereitwilligkeit Susens Heft an, merkte, daß nur eine Kleinigkeit falsch war und erklärte dem Kind noch einmal die ganze Aufgabe von vorn.
Suse verstand in Kürze alles und betrachtete mit dankbarem Blick bald die junge Lehrerin, bald strahlend ihr Heft, bald Frau Cimhuber.
Und am Abend da sagte sie zu ihrem Bruder: „Du, Hans, das hätte ich doch nicht geglaubt, daß Frau Cimhuber einmal so gut gegen uns wäre!“ „Ich auch nicht,“ entgegnete der Bruder.
Einige Tage später erhielten die Geschwister Nachricht von ihren Eltern, denn Frau Cimhuber hatte diese von allem unterrichtet, was sich zugetragen hatte. Die Worte von Vater und Mutter gingen den Kindern sehr zu Herzen.
„Mein lieber Hans,“ schrieb der Doktor unter anderm an seinen Sohn, „ich hätte nicht gedacht, daß Du Dein Versprechen so bald brechen und davonrennen würdest wie ein Soldat, der seine Flinte ins Korn wirft. — Das war kein schöner Streich von Euch. Was soll aus Euch werden, wenn Ihr nicht beizeiten lernt, die Zähne zusammenzubeißen und auszuhalten auch dann, wenn es Euch nicht gefällt! Und wann wirst Du, lieber Hans, endlich anfangen, Deinen Willen durchzusetzen und nicht immer Susens dummen Einfällen folgen...“
Dem Knaben stieg das Blut ins Gesicht, und er schlich beschämt zur Tür hinaus. — Wie jämmerlich stand er nun in den Augen der Eltern da!
Suse las derweil den Brief ihrer Mutter mit großer Andacht.
„Ich brauche Dir nicht zu sagen, liebe Suse,“ schrieb die Doktorsfrau, „daß Dein Vater und ich tief betrübt waren, als wir von Eurer Flucht hörten. Wir hätten nie gedacht, daß Ihr so etwas fertig brächtet. — Du schreibst, Du möchtest gern in einem großen Hause wohnen, wo es einen Garten gibt, und Blumen und Kinder. Wie gern, wie gern schickten wir Euch dorthin, mein liebes Kind! Aber wir können es nicht. Wir sind viel zu arm dazu. Glaube mir, wir haben uns wohl den Kopf zerbrochen, wie es möglich zu machen wäre. Aber unsere Mittel reichen nicht dazu. Ich wollte Dir dies eigentlich nicht sagen, um Dich nicht traurig zu machen, aber nun tu’ ich es doch, damit Du siehst, weshalb Ihr bei Frau Cimhuber bleiben müßt. — Du bist ja auch schon ein großes Mädchen und mußt vernünftig darüber denken. — Und dann grüble auch nicht immer darüber nach, ob Frau Cimhuber und Ursel und die Kinder in der Schule Dich gern haben. Sie kennen Dich ja noch kaum. Du wirst schon sehen, wenn sie Dich erst einmal kennen und sehen, daß Du immer freundlich und höflich zu ihnen bist, werden sie Dich schon lieb gewinnen. Und nun denkt an das Pfingstfest, das bald kommt. Dann dürft Ihr nach Hause fahren.“
„Der Vater und die Mutter sind sehr, sehr traurig,“ sagte Suse seufzend, als sie mit Lesen fertig war. „Wir müssen ihnen gleich schreiben, Hans, daß nun alles gut ist und daß Frau Cimhuber jetzt sehr lieb zu uns ist, und daß wir sogar schon vorwärtskommen in der Schule. — Und weißt du, Hans, jetzt schreiben wir noch, wir wollen auch Pfingsten nicht nach Haus, dann sparen sie das Geld für die Reise, und damit machen wir ihnen eine große Freude.“
Hans war Feuer und Flamme für diesen schönen Plan. Aber die Geschwister hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht. — Kaum hatte Ursel davon vernommen, so rief sie laut: „Was? jetzt war ich g’rad froh, daß es mal Luft gibt, und jetzt wollt ihr hier bleiben. Nein, nein, das gibt’s nicht. Ich will doch auch mal aufatmen.“
Und der Doktorskinder Herz begann gar freudig zu klopfen, als ihr heldenhafter Entschluß so schnell vereitelt wurde.
Hans und Suse fühlten sich nun ganz wohl bei Frau Cimhuber und lebten sich allmählich in der Stadt ein.
Suse hatte sogar schon eine Freundin, die blonde Gretel, die in der Schule neben ihr saß. — Auf eine merkwürdige Weise hatte sie mit[S. 70] diesem kleinen Mädchen Freundschaft geschlossen. — Eines Morgens, da hatte sie auf dem Platz neben ihr zwei Puppenbeine hervorschauen sehen, und während sie sich über diese schnurrigen Gegenstände noch gewundert hatte, da war neben ihr Gretel aufgerufen worden, um eine Frage der Lehrerin zu beantworten.
In demselben Augenblick hatten sich unter der Bank die Puppenbeine geregt und wie der Blitz war eine blonde leibhaftige Puppe hervorgeschossen, auf Suse zu. Mit beiden Händen hatte sie zugegriffen und die Abstürzende tief aufatmend auf ihren Schoß gesetzt.
Gretel aber, der vor Schreck fast das Wort im Munde stecken geblieben war, hatte sich hernach herzlich bei dem Doktorskind für die Rettung ihres Lieblings bedankt.
Schon am folgenden Sonntag wurde Suse bei ihrer neuen Freundin eingeladen, und Gastgeberin und Gast waren so miteinander zufrieden, daß Suse von nun an recht oft wiederkam, häufig sogar in Begleitung ihrer eigenen Puppe, der Genoveva. Neben den prächtigen, feinen Stadtpuppen nahm sich Genoveva, das blöde, ungelenke Landkind, allerdings sehr einfach und bescheiden aus. Dafür hatte sie aber den Vorzug, ein ereignisvolles Leben hinter sich zu haben. Stundenlang konnte Suse davon erzählen. So war dies Puppenkind einmal von dem Vetter Theobald an einem Bein an der Wäscheleine aufgehängt worden und hatte seit jenem Tag einen Anflug von der Glotzkrankheit behalten, wie man an ihren hervorquellenden Augen bemerken konnte. — Ein andermal hatte Suse selbst ihre Tochter eine lange, schreckliche Nacht hindurch am Fuchskopf in den Bergen vergessen, und als sie am andern Morgen in Schrecken und Angst zu ihr geeilt war, hatte sie das arme Kind mit einer lebendigen Eidechse im Schoß vorgefunden, vor Entsetzen halb tot, wie die dicken, über ihre Wangen rinnenden Schweißtropfen verrieten. — Ja, ja, man hatte seine Not mit Genoveva gehabt!
Gretel war Feuer und Flamme für diese Geschichten und für die Erzählerin nicht minder. Und so kam es, daß sich in Suse schon wieder die Eingebildetheit regte und sie anfing, wieder übermütig zu werden wie daheim eigentlich immer.
Mit Theobald, ihrem erfahrenen Lehrmeister in aller Stadtweisheit, hatte sie sogar schon einen Streit gehabt, weil sie ihn fürwitzig und mit erhabener Miene über wichtige Gebäude seiner Vaterstadt belehrte, über die er ganz verkehrte Begriffe hatte, während Suse, dank einer Unterhaltung mit Frau Cimhuber, großartig Bescheid wußte. Ärgerlich hatte der Vetter hierauf sein Wohlwollen Hans zugewandt, der weniger eingebildet als Suse war, sich aber reichlich so gut in der Stadt zurecht fand wie sie. Theobald hatte ihm deshalb vor einigen Tagen in seiner schnur[S. 71]rigen Manier beide Hände auf das Haupt gelegt und gesagt: „Fahre nur so fort, teurer Freund, und du wirst uns noch alle überstrahlen, indem daß du gar nicht so dumm bist, wie du aussiehst. Du schickst dich sogar besser als Suse, obwohl die wunder wie gescheit tut und nicht einmal weiß, wie man von der Elektrischen abspringt und immer die verkehrte Hand am verkehrten Griff hat und aus lauter falscher Sachkenntnis nächstens mitten auf der Straße sitzt.“
Natürlich waren diese Reibereien harmloser Natur und jedermann, vor allem Frau Cimhuber und Ursel, glaubten, daß nun die Stürme vorüber seien und daß sich Friede und Ruhe auf alle senken werde. Wie oft pflegte nicht die Pfarrfrau in diesen Tagen zu ihrer alten Magd zu sagen: „Sehen Sie, sehen Sie, es ist alles gut geworden, man darf nur niemals verzagen!“
Da mit einemmal bekamen die Kinder eine Einladung zu Onkel Gustav, dem reichen Besitzer des prächtigen Schlosses, das Hans in den ersten Tagen seines Hierseins schon einmal mit Theobald aufgesucht hatte.
Übermütig vor Freude eilten sie zu ihren Vettern und Basen, um ihnen die frohe Neuigkeit mitzuteilen.
Die aber machten Gesichter, als sei ihnen die Petersilie verhagelt.
„Freut ihr euch denn nicht?“ fragten Hans und Suse. „Ihr seid doch auch geladen.“
„Freuen,“ sagte Toni im wegwerfenden Ton, „keineswegs, uns graut sogar davor.“
„Graut?“ forschte Suse.
„Ja, es ist uns sehr unangenehm, weil die Fremdlinge — die Tante und ihre Kinder wollte ich sagen — Protzen sind. Fremdlinge nennen wir sie deshalb, weil sie aus Südamerika kommen und so großartig fremdländisch tun. Und Protzen sagen wir, weil sie eben Protzen sind.“
„Was sind das, Protzen?“ fragte Suse erstaunt.
„Nun,“ erklärte die Cousine, „das sind Leute, die sich schrecklich viel auf ihr Geld einbilden und auf alles, was sie haben.“
„Ach,“ meinte Suse, „nichts Schlimmeres? Das ist doch nicht schlimm! Wenn ich ein solch schönes Haus hätte und solch prächtige Sachen und solche ausgestopften Tiere wie sie, würde ich mir auch was einbilden.“
„Dann wärest du auch ein Protz,“ fiel Theobald scharf ein, „und das sähe dir so recht ähnlich.“
„Das machte nichts,“ entgegnete Suse keck, „wenn ich nur einen einzigen ausgestopften Löwen hätte, wäre ich schon froh. Eine ausgestopfte Giraffe wäre mir eigentlich noch lieber.“
Hans war es doch nicht recht geheuer, und auf dem Nachhauseweg[S. 72] sagte er nachdenklich zu seiner Schwester: „Am Ende wird’s doch nicht so schön bei Onkel Gustav, wie wir geglaubt haben.“
Suse schwieg und zuckte die Achseln; dank ihres leichten Sinnes hatte sie eine ganz andere Meinung und zauberte in den nächsten Tagen ihrem Bruder die herrlichsten Bilder über ihren Besuch bei den Fremdlingen vor Augen.
An einem großen runden Tisch sitzend, von silbernen Tellern Kuchen essend, aus wundervollen Tassen Schokolade trinkend, würden sie den seltsamen Abenteuern des Onkels lauschen, meinte sie. Zuckersüße Früchte würden phantastisch geschmückte Dienerinnen zu ihnen hereintragen.
Als der Tag des Besuches bei Onkel Gustav herangekommen war, zogen Hans und Suse sich mit größter Sorgfalt an. Und Ursel, die Ehre mit ihnen einlegen wollte, half ihnen dabei. Suse war’s zufrieden. Nachdem sie ihr Sonntagskleid angezogen hatte, steckte sie ihre Lieblingsbrosche, ein Stiefmütterchen, vor, dessen buntbemalte Blütenblätter ein kleines, zorniges Gesicht zeigten. Auf dies, ihr schönstes Schmuckstück, bildete sich Suse nicht wenig ein.
Vor zwei Jahren war nämlich ein hoher Herr — ein Prinz, wie Rosel behauptet hatte — nach Schwarzenbrunn gekommen und durch den Ort geschlendert. Und als die Schuljugend ihn verfolgte, hatte er plötzlich aus der Schar der Gaffer Suse hervorgeholt, sie betrachtet und gefragt: „Wem gehörst du, Kind? Du bist ein feines, kleines Mädchen; wer hat dir das schöne Stiefmütterchen geschenkt?“ Und dabei hatte er mit Begeisterung ihr Stiefmütterchen angesehen, ein Umstand, den Suse mit Befriedigung wahrgenommen hatte. Denn erst am Tage vorher hatte sie einen Streit mit Hans gehabt, weil er behauptet hatte, das Stiefmütterchen sehe ganz verheult und miserabel streifig aus, seit es eine Nacht lang im Regen im Garten liegen geblieben sei.
Darum durfte das Stiefmütterchen in Zukunft nicht mehr fehlen, wenn Suse sich putzte.
Hans war mit Anziehen schon längst fertig, da überlegte Suse noch immer, wo sie ihr Stiefmütterchen am vorteilhaftesten anbringen könne.
Endlich war ein Platz gefunden und nun konnten Bruder und Schwester von dannen gehen.
Beim Abschied schärfte Frau Cimhuber den Kindern mehrmals ein, ja recht artig zu sein und auf alles acht zu geben, was sie sähen.
„Ja, ja, das wollen wir,“ rief Suse, „und herrliche Sachen werden wir Ihnen erzählen, Frau Pfarrer,“ und damit eilte sie voll hundert schöner Erwartungen mit Hans die Treppe hinunter.
Bei dem Kriegerdenkmal, dem Ort der Verabredung, trafen sie mit[S. 73] Toni und ihren Geschwistern zusammen. Die Aufsicht über die Kinder führte Liselotte, ihre ältere Schwester, ein junges, feines Mädchen, das viel auf Anstand und gutes Benehmen hielt, dafür aber leider bei ihren Geschwistern kein Verständnis fand.
Deshalb hatte sie auch vorhin ihren Eltern seufzend erklärt, es sei ein schweres, ein hartes Stück Arbeit, die Geschwister zu beaufsichtigen. Man meine manchmal, der böse Geist fahre in sie und triebe sie zu immer neuen Ungezogenheiten an. — Einen Volksauflauf gebe es sicher, und das sei dann so peinlich für einen erwachsenen Menschen. Jedoch die Eltern hatten die Sache nicht so ernst genommen und ihren jüngeren Kindern eingeschärft, der älteren Schwester gut zu gehorchen.
Als die Gesellschaft vollzählig war, brach sie gemeinsam nach der „Villa Granada“ auf, — der Wohnung ihrer reichen Verwandten draußen vor der Stadt.
Hans und Suse sahen auf dem Wege dorthin erwartungsvoll drein. Ganz anders als ihre kleinen Verwandten, die gleichmütigen Stadtherrlein und Fräulein, denen ein solcher Besuch etwas ganz Alltägliches zu sein schien.
Besonders Suse sah man die Erregung am Gesicht an, und mit tiefem Unbehagen nahm sie selbst wahr, daß all ihre Erwartung auf ein schönes Fest kläglich zusammenschrumpfte und nur blasse Furcht zurückblieb. Sie zweifelte gar nicht mehr daran, daß alles, was Theobald prophezeit hatte, auf schreckliche Weise in Erfüllung gehen werde. Und in ihrer Verwirrung drängte sie sich schließlich nahe am Ziel an den übermütigen Vetter selbst heran, um bei ihm noch einmal Auskunft zu holen.
„Du, Theobald, sag’ mir,“ begann sie ängstlich, „ich wollte dich fragen, Theobald. Sag’ mir, wie sieht die Tante aus? Gelt, die ist nicht schwarz?“
„Nicht schwarz?“ rief der Vetter. „Ja, wie denn sonst! Vielleicht grün wie ein Laubfrosch oder blau wie ein Schmetterling, wenn sie aussieht, als wär’ sie in die Tinte gefallen! Und die Kinder erst! Die sind schwarz und weiß kariert wie Schachbretter und haben Ringe durch die Nase und Federbüsche auf dem Kopf und Bäuche wie Frösche.“
„Das glaub’ ich nicht,“ entgegnete Suse.
„Glaub’s nicht! In der nächsten halben Stunde werden wir uns wieder sprechen!“ sagte der Vetter gleichmütig.
„Ich mein’,“ sagte Suse, „ich möchte wissen, Theobald, ob die Tante so freundlich zu einem ist, wenn sie einem guten Tag sagt, wie andere Damen?“
„Freundlich? freundlich?“ stotterte Theobald. Und seine Stimme[S. 74] zum unheimlichsten Flüsterton dämpfend, raunte er ihr zu: „Sie ist ja eine Art Menschenfresserin, Suse, ich hab’s dir ja schon einmal gesagt. Ihr Leibgericht sind Menschenohren. Darum rat ich dir, nimm deine Lauscher in acht. Sonst stürzt sie sich drauf, reißt sie ab und rauft sie an sich. Dann hast du Ohren gehabt und kannst dich außerdem für Geld sehen lassen, so schnurrig siehst du dann aus.“
Suse lächelte verlegen.
„So, da wären wir!“ unterbrach sich Theobald mit einemmal.
Ein großes, eisernes Parktor lag vor ihnen. In goldenen Buchstaben stand der Name der Villa als ein leuchtender Bogen darüber geschrieben. An einem efeuumsponnenen, von Ulmen überschatteten Pförtnerhäuschen vorüber ging die Gesellschaft in das Innere des Parkes. Suse zitterte das Herz bei jedem weiteren Schritt. Am liebsten wäre sie umgekehrt.
Mit einem Male sagte Toni ganz laut. „Da kommen Concha, Enrique, Sancho und Jose.“ „Die prächtigen Granadasöhne,“ setzte Theobald hinzu.
Suse fuhr zusammen.
Aber was mußten ihre Augen sehen? Dort aus der Ferne, von der blumenbewachsenen Terrasse herunter, auf der stolz wie ein Schloß die Villa Granada stand, kamen ein paar Kinder, die genau aussahen wie die Kinder anderer Sterblicher. Nichts von Federbüschen, nichts von Nasenringen, nichts von einer karierten Haut war zu sehen, wie Theobald angekündigt hatte. Und auch jetzt, als sie ganz in der Nähe angelangt waren, verwandelten sie sich noch immer nicht in Kaminfeger. — Das kleine Mädchen sah sogar wunderhübsch aus in ihrem reichgestickten Kleid.
„Guten Tag,“ sagten die Kinder mit fremdländischer Betonung, und schlossen sich ihren Besuchern an.
Suse mußte sie immer wieder von der Seite ansehen. Ihre Gesichter waren ganz weiß, und ihre Gestalten waren geschmeidig und fein, ihre Augen dunkel und strahlend.
Der eine der Knaben, der kleinste von den dreien, öffnete einen silbernen Zigarettenbehälter und zündete sich eine Zigarette an. Aber sonst geschah nichts Außergewöhnliches.
Und jetzt, da ihr erster Schreck verwunden war, empfand Suse etwas wie Bedauern über soviel Alltäglichkeit. Es wäre ihr nun gar nicht unlieb gewesen, wenn plötzlich einer der Knaben ein paar ausländische Purzelbäume geschlagen oder sonstige Allotria getrieben hätte. Aber keiner tat ihr den Gefallen. Sie gingen im manierlichsten Schritt von der Welt einher.
Da raunte Hans plötzlich seiner Schwester zu: „Sieh, dort an der Seite des Schlosses, das niedere Haus, das ist die Garage, wo wir das Automobil damals besehen haben.“
„Herrgöttle, Herrgöttle, haben wir dabei geschwitzt,“ ließ sich nun auch Theobald vernehmen. — Noch hatte er nicht ausgeredet, da horchte Suse erschreckt auf. Ein überaus häßliches Geschrei, wie sie es in ihrem ganzen Leben noch nicht vernommen, hatte ihr Ohr getroffen. Und als sie in die Richtung blickte, aus der es kam, sah sie auf dem grünen Rasenplatz, der sich bis zur Terrasse hinüber erstreckte, einen wunderbaren Vogel spazieren gehen.
„Der Pfau,“ sagte Hans mit geheimnisvoller Stimme. — Suse betrachtete das Tier mit Staunen. Wie eine königliche Schleppe ließ er seinen prächtigen Schweif am Boden hinschleifen, und ehe sie sich’s versah, hatte er ihn wie einen Riesenfächer entfaltet, so daß all die schillernden Kreise in seinem Gefieder wie grüngoldene Kugeln glänzten. Und der kleine Federputz auf der Mitte seines Hauptes zitterte dazu wie feine Perlen, die auf zierlichen Stäbchen stecken.
„Oh, wie schön,“ sagte Suse leise, „wenn der Vater und die Mutter doch auch einen solchen Vogel hätten!“
Zögernd, mit rückwärts gewandtem Gesicht folgte Suse der übrigen Gesellschaft.
„Komm, komm,“ drängte schließlich der Bruder, sie bei der Hand fassend, „die andern sind ja schon fort, wir müssen hinterdrein.“
Und auch Theobald, der wieder zurückgekommen war, mahnte: „Komm schnell, Suse, wir wollen gemeinsam in die Höhle der Löwen.“
Widerstrebend folgte sie der Aufforderung.
Da plötzlich blieb Theobald stehen, klapperte mit den Zähnen und sagte flüsternd: „Himmel! Himmel! Da vorn steht sie und hat die Kinnladen auseinandergeklappt wie ein Scheunentor! Himmel! Himmel! Sie schnalzt mit der Zunge! Was wird das geben! Mein Herz! Mein Herz! In den Hosen sitzt’s mir schon! Jetzt halt deine Ohrläppchen fest!“
Suse zitterte am ganzen Körper und schaute erbleichend geradeaus. Dort mitten im Weg standen zwei kohlpechrabenschwarze Frauen und musterten die Kinder. Das Weiß ihrer Augen und die blanken Zähne leuchteten gespensterhaft aus ihren nachtschwarzen Gesichtern. Wie mit Blutstropfen betupft, so kamen Suse ihre Augenränder vor.
Im Gebüsch des Weges hatten diese unheimlichen Gestalten sicher auf die Kinder gelauert und wollten sie nun überfallen.
„Sag’ ihr guten Tag, und küß ihr die Hand. — Die rechts mit dem großen, hohlen Zahn ist’s,“ drängte Theobald. „Schnell, schnell, sonst stürzt sie sich auf dich los und dann — adieu Ohrläppchen.“ —
Suse war nicht imstande, einen Schritt zu tun, so lähmte ihr der Schreck alle Glieder.
Erst ganz allmählich kam ihr die Besinnung wieder, und dann dachte sie nur auf ihre Rettung.
Wie ein Pfeil flog sie über den Rasenplatz der Terrasse zu an dem Pfau vorüber, der mit gellendem Geschrei aufflog und wie ein lebendig gewordenes Heubündel neben ihr herrauschte.
Drüben auf dem Weg drängte sie sich an ihre ältere Cousine an und flüsterte klopfenden Herzens: „Sieh, Liselotte, die gräßlichen Frauen, die Tante Josepha geht dort, dort, guck, guck!“
Das junge Mädchen wandte sich um und erblickte die schwarzen Frauen jenseits des Rasenplatzes; zu gleicher Zeit aber auch ihren Bruder Theobald, der, sich die Seiten vor Lachen haltend, des Weges kam. Da wußte das junge Mädchen Bescheid, und die Hand ihrer kleinen Verwandten durch ihren Arm ziehend, sagte sie beruhigend: „Das sind zwei Dienerinnen, die Kinderfrauen von Concha, Jose und den andern. Die tun dir nichts, sei nur still.“
Suse atmete erleichtert auf. Theobald aber blieb weit zurück und zwar um so weiter, je häufiger seine Schwester nach ihm hinsah.
Und nun währte es nicht mehr lange, da sollten die Doktorskinder die echte, die wirkliche, die leibhaftige Tante Josepha zu Gesicht bekommen. Im Kreise der übrigen Kinder betraten Hans und Suse die Villa Granada. Es war ein prächtiges Gebäude mit schöngeschnitzten Möbeln in allen Zimmern, mit kostbaren Teppichen auf den Fußböden und farbenprächtigen Bildern an den Wänden.
Von den einzelnen Gegenständen konnten die Geschwister aber kein genaues Bild bekommen. Nur im allgemeinen hatten sie die Empfindung, in einem reichen glänzenden Palast zu sein, wo alles herrlich und fremdländisch aussah. Da, als sie einen großen Saal betreten hatten, rauschte es mit einemmal wie von seidenen Kleidern.
„Sie kommt!“ flüsterte Theobald.
Unwillkürlich faßte sich Suse mit beiden Händen an die Ohren.
Hinter einem Vorhang hervor, der zwischen zwei Türen hing, trat eine große, stolz aussehende Dame.
Es war Tante Josepha.
Die Kinder wichen einen Schritt zurück. Die kleinen Mädchen machten einen Knicks aus der Ferne und die Knaben ihre Verbeugung.
Eisigkalt wehte es von der fremden Dame her. Und selbst die Dreistigkeit der Sausewinde war wie eingefroren.
Und doch war die Dame, die dort eingetreten war, keineswegs die Wetterhexe, als die Theobald sie geschildert hatte. Im Gegenteil, sie[S. 77] war eine sehr schöne Frau. Und wie sie so dastand, die großen dunklen Augen fragend auf die Kinder geheftet, die Schleppe ihres prächtigen Gewandes leicht nach vorn geworfen, erinnerte sie an ein schönes Bild.
Aber an der Nasenspitze konnte man dieser hochmütig blickenden Frau es ansehen, wie von Herzen gleichgültig ihr der ganze Besuch war.
Selbst Theobald, der noch vorhin seinen Geschwistern vorgehalten hatte: „Merkt euch, liebe Kinder, den schönen Vers: Denn wo du schlecht wirst aufgenommen, da mußt du recht bald wiederkommen, und geniert euch nicht,“ wünschte sich mit einemmal über alle Berge. Sein Vetter Hans aber stand da, die Augen fest auf die fremde Dame gerichtet, als erwarte er ein Wunder.
Da fiel Theobald seines Vetters verstörtes Gesicht auf, und er raunte ihm zwischen den Zähnen zu: „Guck doch nicht wie ein geschlachteter Ziegenbock, der nicht mehr meckern kann!“
Und Hans, der seines Vetters albernste Bemerkungen als köstliche Witze empfand, konnte sich nicht mehr zusammennehmen und platzte mit einem Male los.
Die fremde Dame sah lange verwundert nach ihm hin. Und er drückte entsetzt beide Hände vor seinen Mund.
Aber was nützte es! Noch ärger als zum erstenmal wurde sein Lachen; denn Theobald flüsterte ihm in die Ohren: „Du kannst mir’s glauben, die Dame Josepha hat den Starrkrampf! Drum starrt sie so!“
Und Hans wünschte sich weit weg auf einen hohen Berg, wo er sich vor Lachen hätte wälzen können ob dieser großartigen, dieser herrlichen, dieser unvergleichlich schönen Witze.
Nun mußte er aber wie ein Soldat hier stehen und abwarten, was die nächste Minute ihm brachte.
Suse war noch immer in ihrer Verzauberung befangen und sah regungslos auf die stolze Dame vor ihr. Sie kam ja nicht auf ihre Gäste zu, wie Susens Mutter es daheim bei Einladungen zu tun pflegte, und gab jedem Kind freundlich die Hand. — Sie musterte sie nur mit kaltem, leicht spöttischem Blick.
Da wäre es schon unterhaltender gewesen, sie wäre wirklich ein schwarzes Fabelwesen gewesen und hätte Kuchenstücke und Mohrenköpfe um sich geworfen und sonstige lustige Faxen getrieben.
„Uff,“ sagte Theobald mit einemmal, denn seine Tante und Liselotte hatten das Zimmer verlassen, und die Kinder waren allein.
Suse und ihre kleine, fremdländische Cousine maßen sich mit stummem Blick noch immer aus der Ferne. Toni setzte sich ans Klavier, um ein Lied zu spielen. Die Granadasöhne ließen sich in die tiefen, weichen[S. 78] Sessel fallen, und ihre Vettern aus der Stadt folgten ihrem Beispiel mit angenommener Nachlässigkeit.
Wie die Paschas saßen sie dort, die Beine gekreuzt, die Arme verschränkt, und sahen einander herausfordernd an.
Nur Hans stand hinter dem Sessel Theobalds wie ein Gewächs, das einer Stütze bedarf, denn sein Vetter hatte ihm eben zugeraunt: „Bleibt möglichst in meiner Nähe, du und Suse. Sie wollen sich über euch lustig machen; das will ich ihnen austreiben.“
„Fein war’s heute in der Reitbahn,“ begann einer der ‚Granadasöhne‘ die Unterhaltung. „Ich hatte einen famosen Gaul. Nächstens darf ich in der Quadrille mitreiten.“
„Entsetzlich! Sie fangen schon an zu protzen,“ raunte Theobald seinem Vetter unter der vorgehaltenen Hand zu.
„Du, Hans, reitest du auch?“ wandte sich der „Granadasohn“ an den verblüfften Knaben.
„Ja,“ rief Theobald laut.
„Fällt mir gar nicht ein,“ erwiderte Hans und begann zu lachen. „Ich hab’ ja kein Pferd.“
„Dann reitest du also nicht?“
„Mein Gott, bist du schwerhörig?“ rief Theobald, „soll er vielleicht auf einem Besenstiel reiten, wenn er kein Pferd hat?“
Alles lachte. Nur Toni warf ihrem Bruder einen entrüsteten Blick zu und schüttelte ihr Haupt.
Er aber saß mit unbeweglichem Gesicht da, die Arme fest verschränkt und rüstete sich auf weitere Angriffe.
„Dummes Zeug,“ verwies hier einer der Fremdlinge denjenigen seiner Brüder, der Hans ausgefragt hatte. „Wie kannst du nur fragen, ob Hans reitet. In diesen Kuhdörfern in den Bergen, wo er her ist, gibt’s doch keine Pferde. Nichts gibt’s dort, einfach nichts. Schauderhaftes Leben.“
„Ja, selbst die größeren Hammelsbraten und Ochsen findet man hier,“ warf da Theobald herausfordernd ein.
Die Augen der Fremdlinge blitzten; sie bemeisterten sich aber noch, und einer suchte Zigaretten hervor und bot sie im Kreise herum an.
„Du rauchst doch auch,“ wandte er sich an Hans.
„Nein,“ rief Theobald, „er darf es nicht, er ist viel zu klug dazu. Ihr wißt doch, je klüger die Leute, je gefährlicher für sie das Rauchen. Ich möchte an eurer Stelle gar nicht sagen, daß ich’s so gut vertragen kann.“
In diesem Ton ging die Unterhaltung weiter. Es war nun mal so und nicht zu ändern. Fremdlinge und Sausewinde konnten einander nicht ausstehen, vielleicht weil einer dem andern seine Vollkommenheit[S. 79] im Protzen und Aufschneiden übelnahm. Was das Aufschneiden anbetraf, gebührte entschieden Theobald die Palme, was das Protzen anbelangte, eher den Fremdlingen.
Im Laufe des Nachmittags gerieten die beiden Parteien häufig hart aneinander, und es sah aus, als sollte es zu einer regelrechten Schlacht kommen.
Da erschien aber noch zur rechten Zeit der Diener und meldete, daß der Teetisch gedeckt sei. Die Kinder sprangen auf und drängten in das Eßzimmer, um dort an einem einladend hergerichteten Tisch Platz zu nehmen.
Trotzdem verging Suse die Lust auf die appetitlichen Kuchen, die sie aus silbernen Körben anlachten; denn gerade als sie einen Mohrenkopf zum Munde führen wollte, öffnete sich die Tür und die schwarzen Frauen von vorhin tauchten zum zweitenmal auf.
Suse blieb der Bissen im Munde stecken. Lautlos wie Fledermäuse strichen die Fremden hinter Susens Stuhl vorüber und kamen jenseits des Tisches wieder zum Vorschein, beim Bedienen helfend.
Jedesmal bei ihrem herankommen lief dem kleinen Mädchen ein Gefühl über die Haut, als fließe ihr kaltes Wasser den Rücken hinunter.
Während nun Susens Aufmerksamkeit auf die Schwarzen allein gerichtet war, hatte ihre kleine Verwandte Concha sie die ganze Zeit mit spöttischem Blick angesehen, vor allem aber ihr berühmtes Schmuckstück scharf ins Auge gefaßt.
„Ist die Brosche von Gold?“ fragte sie mit einem Male laut.
Alle sahen nach Susens Talisman und lachten.
„Ist sie von Gold?“ fragte Concha noch einmal.
Suse wußte nicht, was antworten. Hans aber wurde es ungemütlich zu Sinn, und er hätte gern die Geschichte von dem Prinzen und seiner Bewunderung für das Stiefmütterchen erzählt. Aber er fürchtete, in der Mitte stecken zu bleiben und die Sache noch schlimmer zu machen.
Suse wäre jetzt am liebsten mitsamt ihrem Stiefmütterchen aufgesprungen und davongelaufen, durch die Tür in den Garten und auf die Straße. Es war ja nichts hier, wie sie erwartet hatte; im Gegenteil, eine Enttäuschung folgte der andern. — Auch der Onkel war nicht da, der doch so viele schöne Geschichten wußte, wie Toni vorhin Suse erzählt hatte, und einem die ausgestopften Tiere zeigte. — Er hatte unerwartet verreisen müssen.
Da war es denn eine große Erleichterung, als Liselotte erschien und den Kindern verkündete, sie möchten unter der Aufsicht der schwarzen Frauen in den Zoologischen Garten gehen. — Sie bliebe hier bei ihrer Tante.
„Wie schön,“ entfuhr es halblaut Susens Mund. Und auch Hans leuchtete die Freude aus den Augen.
Die Löwen, Tiger, Leoparden, all die wilden Tiere im Zoologischen Garten kamen den Kindern mit einem Male anheimelnder vor als die ganze Einwohnerschaft der Villa Granada zusammengenommen.
Schnell fand nun der Aufbruch statt. Von der fremden Dame brauchten sich die Kinder nicht zu verabschieden; denn sie hielt sich eingeschlossen in einem entfernten Zimmer und wollte niemand sehen. Und es war auch ganz gut, daß ihre kleinen Besucher ihr Gesicht nicht zu sehen bekamen. Zuviel Widerwillen gegen ihre Gäste malte sich darin, als daß es sie nicht hätte bitter kränken können.
Von den schwarzen Frauen geleitet, verließen die Kinder den Garten der Villa Granada.
„Jeder lacht, wenn er uns anguckt,“ meinte Theobald, als sie das Freie erreicht hatten. „Guck, Suse, wie die dort drüben den Mund aufsperren und uns mit unseren schwarzen Tintenfischen angaffen!“
Und damit wies er auf einige Leute jenseits der Straße.
Suse achtete nicht auf ihn und seine Reden. In Gedanken weilte sie bereits weit weg, und wie im Nebel verschwand die Villa Granada hinter ihr.
Vor dem Zoologischen Garten verabschiedeten sich die beiden ältesten Fremdlinge von der Gesellschaft, da sie die fremden Tiere nicht interessierten, wie sie behaupteten.
Theobald zauderte einen Augenblick. Auch er wollte den feinen, übersättigten Herrn spielen.
Aber mit aller Gewalt zog es ihn doch vorwärts in den Garten hinein.
Als die Kinder den großen, breiten Weg betreten hatten, der mitten durch den Zoologischen Garten führte, ging Suse bescheiden in züchtiger Haltung vorwärts, als schritte sie durch eine Kirche. Ihr Herz klopfte erwartungsvoll. Die bunten Papageien und Kakadus, die, auf hohen Stangen an kleinen Ketten angeschmiedet, rechts und links vom Wege saßen, schien sie kaum zu beachten.
Ihre Gedanken weilten schon beim König der Tiere.
„Der Löwe,“ murmelte sie leise vor sich hin. „Ach, wenn ich ihn doch nur schon sähe!“
„Sollst du, mein Herzblatt, darfst ihm auch einen Kuß geben,“ sagte Theobald tröstend an ihrer Seite. Und er richtete es so ein, daß die ganze Gesellschaft ihren ersten Gang auf die Raubtierkäfige zu nahm. Hinter den Gittern hervor sahen die Doktorskinder zuerst nur die gelben Felle der Tiere schimmern. Ihre Gestalten konnten sie noch nicht erkennen. — Aber jetzt, als sie näher kamen, erblickten sie den König der[S. 81] Tiere und stutzten. Ruhig und majestätisch lag er da, den mächtigen Kopf mit der schweren Mähne stolz erhoben, das Auge regungslos ins Weite gerichtet. Suse klopfte das Herz bis zum Halse; sie verlangsamte ihren Schritt und blieb dann zitternd stehen. — Der Löwe war aufgesprungen und dicht an das Gitter getreten und ging jetzt mit lautlosen Schritten dort auf und nieder, die Stäbe mit seinem Fell streifend. Und gleichsam einer unsichtbaren Macht gehorchend, hielt er plötzlich im Wandern inne und wandte sein gewaltiges Haupt Suse zu.
Witternd erhob er seine Nase und richtete seine feurigen, funkelnden Augen fest auf sie. Und mit einemmal riß er das Maul auf und brüllte schauerlich.
Suse schrie mit und eilte in großen Sprüngen von dannen.
Ängstlich wandte sie sich schließlich um und sah die andern Kinder lachend am Käfig des gefährlichen Raubtiers stehen. Da kehrte auch sie wieder um, schlich langsam heran und stand lange bei ihnen, den Löwen mit Ehrfurcht betrachtend.
Angesichts ihres weibischen Zagens wuchs Theobalds Mannesmut ganz gewaltig, und für die nächste halbe Stunde spielte er sich in unerträglichster Weise als der Kinder Beschützer und Berater auf. Seine weisen Belehrungen nahmen kein Ende.
„Das ist der Königstiger, seht, meine lieben Kinder,“ begann er vor einem Käfig, in dem ein abgemagertes Tier sich aufhielt.
„Der Königstiger ist eine aus fremden Erdteilen stammende Bestie und keine Kuh, wie ihr euch vielleicht bei diesem Prachtexemplar einbildet. Dies ist nämlich der Abklatsch einer Kuh. Es hat magere Beine, Krallen wie Hufe und einen spärlichen Haarwuchs. Anstatt, daß er durch das Dschungel schleicht und auf Beute auszieht, kann er sich jetzt mit seinem ausgefransten Schwanzstummel die Mücken abwedeln.“
„Genau wie Onkel Fritz redest du,“ seufzte Toni, „oh, es ist ein Elend. Alles plapperst du ihm nach! Mutter sagt auch, du bist sein ganzer Abklatsch.“
Zum Glück hörte außer Toni niemand sonderlich auf des unverbesserlichen Theobalds Reden, ging doch jeder seine eigenen Wege.
Hans und Suse waren bald bei den Affen, dann bei den Rehen, dann bei den Elefanten, auch beim Wolfe zu sehen. Wie schön war dieser Nachmittag nun doch noch geworden! Viel, viel schöner, als es sich die Kinder noch vor kurzem hatten träumen lassen.
Wie sie so durch den Garten schritten, kam es, daß ihre Wege sich trennten. Hans interessierte sich für die Tiere im Aquarium mehr als Suse, und so lief sie denn allein weiter.
Nach geraumer Zeit traf sie mit Theobald zusammen, der sich eine[S. 82] halbe Stunde lang mit dem Wärter eines Schimpansen unterhalten hatte und der nun, durch diese Auszeichnung geschmeichelt, wie auf Stelzen ging.
Natürlich zögerte er nicht, seine eben erworbenen Kenntnisse der Cousine brühwarm zu unterbreiten. Und über Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans redend wie ein berühmter Zoologieprofessor, schlenderte er mit ihr weiter und hörte erst mit Reden auf, als er mit ihr vor dem Vogelkäfig stand und an ihren begeisterten Ausrufen hörte, daß sie seine ganze Affenweisheit kalt ließ.
„Ach, wie schön,“ rief sie, „ach, wie schön! hätten wir doch nur zwanzig von diesen Vögeln. Mit zehn wäre ich auch zufrieden. Ach, am schönsten wäre es doch, die Türe plötzlich zu öffnen und alle Vögel herauszulassen,“ meinte sie. „Sicher würde Hans das auch sagen.“
Aber wo war ihr Bruder? Mit einem Male fiel ihr ein, daß sie ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hatte.
„Wo ist Hans wohl?“ wandte sie sich an Theobald.
„Ach, der gafft sicher irgendwo durch ein Gitter und sammelt Kenntnisse.“
Noch hatte der Knabe nicht ausgeredet, da bekam sein Gesicht einen gespannten Ausdruck.
In der Ferne hatte er lautes Schelten gehört. Er lauschte angestrengter. Die Stimmen wurden lauter. „Scht,“ mahnte er, „ist das nicht Hans?“
Nun horchte Suse auch hin. Und im nächsten Augenblick eilten beide auf die Richtung zu, aus der der Lärm kam. — Sie glaubten, Hans rufen gehört zu haben.
Nach einigen Sekunden sahen sie einen seltsamen Aufzug um die Ecke biegen: die beiden schwarzen Frauen kamen in großer Aufregung daher. Christoph und Henner hefteten sich gestikulierend wie Volksaufwiegler an ihre Fersen. Toni und die Fremdlinge redeten aufeinander ein, und mitten zwischen ihnen ging stolz wie ein Leu der Wärter und schleppte Hans am Rockkragen neben sich her.
Mit verstörten Augen blickte der kleine Knabe um sich und schwebte alle paar Schritte, durch einen Ruck seines Führers aufgehoben, über den Erdboden dahin.
Suse glaubte bei diesem Anblick, die Erde tue sich auf, und stand einige Augenblicke wie versteinert. Dann lief sie schnell auf ihren Bruder zu, packte ihn bei der Hand und rief: „Was ist denn? Was ist denn? Ach, Hans! Ach, Hans!“
„Ach, bitte, bitte,“ wandte sie sich an den Wärter, „lassen Sie Hans los. Weshalb halten Sie ihn so fest?“
„Ja, Sie reißen ihm ja den Arm ab,“ rief nun Theobald, und schon war er mitten im Gewühl drin und fragte unerschrocken, was sein Vetter eigentlich verbrochen habe, daß er wie ein wildes Tier durch den Zoologischen Garten geschleift würde.
Da rief der Mann, dem die Galle anscheinend überlief, Hans habe dem schönsten und teuersten Kamel des Zoologischen Gartens Sand in die Augen geworfen. Das Tier werde sicher blind. — Es sei eine unerhörte Frechheit. — Und mit einem Blick auf Theobald, der herausfordernd dastand, erklärte er, Theobald sähe übrigens aus, als brächte er auch so was fertig.
Der Knabe wich ein paar Schritte zurück und murmelte: „Unverschämtheit sondersgleichen!“
Suse aber weinte bitterlich und sagte: „Hans hat noch keinem Tier was zuleid getan. Nie, nie hat er einem Tier was Böses getan.“
Jedoch die Fremdlinge und ihre schwarzen Begleiter nickten fortwährend und sagten: „Ja, ja, er hat’s getan.“
„Bist du’s gewesen?“ fragte da Theobald in wohlabgemessener Entfernung von dem Wärter seinen Vetter.
Hans antwortete nicht.
Da faßte der Frager kurz entschlossen seines fremden Vetters Jose Hand und streckte sie dem Wärter mit den Worten hin: „Sehen Sie, Herr Wärter, dem seine Hand ist ganz voll Sand. Der Lügner hat’s getan, nicht der andere.“
„Mach, daß du fortkommst, stoppelhaariger Dickkopf!“ fuhr ihn der Wärter an, „oder du gehst auch mit.“
In ein paar Sprüngen war Theobald um die nächste Ecke. Der wütende Mann aber verschwand mit Hans und seinen Zeugen, den Fremdlingen, auf der Direktion.
Lange, bange Augenblicke verstrichen für die Zurückbleibenden. Toni und der wiederkehrende Theobald hatten Mühe, Suse zu hindern, ihrem Bruder zu folgen.
„Es geschieht Hans doch nichts, kein Mensch rührt ihn an,“ beschwichtigte Toni immer wieder. Theobald hingegen machte seinen Gefühlen in lauten Worten Luft.
„So eine Gemeinheit wie heute hab’ ich doch noch nie gesehen,“ rief er. „Pfui! Pfui! — Unser Vater sagt immer, wir sind das furchtbarste Unkraut, das es gibt. Wir färbten auf alle ab. — Aber so was brächten meines Vaters Kinder doch nicht fertig! Nein, gemein wären wir nie!“
„Weißt du, Henner, mit meinem Eichhörnchen hat Jose dasselbe Experiment gemacht,“ wandte er sich an seinen Bruder. „Seit dem Tage, als er es mit Sand geworfen, hat’s kranke Augen.“
„Ja, ja,“ riefen seine Brüder und brachen in ein wildes Rachegeschrei aus.
Während die Kinder nun so in einer sich immer steigernden Aufregung durcheinander redeten, war drüben an der Einzäunung, hinter der das Rehwild stand, schon eine Weile ein junger Mann zu sehen gewesen, der aufmerksam nach dem erregten Häuflein herübergeschaut hatte. Seiner Tracht und seiner sehnigen Gestalt nach zu urteilen, gehörte er den Gebirgsbewohnern an.
Jetzt, als Suse auf wenige Sekunden die Hände von den Augen ließ, so daß ihr Gesicht voll zu erkennen war, nickte er mehrmals befriedigt vor sich hin und ging dann geradewegs auf sie zu.
„Guten Tag,“ sagte er, vor ihr stehen bleibend. „Gelt, du bist doch Doktors Suse? Ich hab’ mir doch gleich gedacht, das ist Doktors Suse.“
Das kleine Mädchen sah den fremden Mann groß an und wußte einige Augenblicke lang nicht, wen sie vor sich hatte.
Aber mit einemmal ging es wie ein Erwachen über ihre Züge; ihre Augen strahlten, und sie rief glückselig: „Ach, das ist ja Philipp. Wo kommst du her, Philipp? Ach, wie freu’ ich mich! — Das ist Martins Bruder,“ sagte sie zu den andern, „sein ältester Bruder Philipp, der ihm die schönen Geschenke macht. — Weißt du, Theobald? du kennst Martin ja auch. — Wie schön, daß du da bist, Philipp,“ rief sie jetzt dem Freund aus der Heimat zu.
Der junge Mann hielt etwas verlegen des kleinen Mädchens Hand noch immer in der seinen, wußte nicht recht, was damit anfangen und sagte in einem fort: „Wie geht’s denn, Suse, geht’s gut? Geht’s gut?“
Das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie sah mit immer leuchtenderen Augen in sein Gesicht. — Er war ja von daheim, von zu Hause, wo er alles kannte, die Eltern und Michel und Rosel und Christine und den Wald und die Berge und das Doktorshaus und den Garten, alles, alles. Sie meinte im Augenblick, er sei ihr Bruder. — Sie wollte ihn nicht mehr los lassen.
„Wie geht’s dir denn, Philipp?“ fragte sie schließlich, als sie sich wieder gefaßt hatte. „Und wie geht’s deiner Mutter? und was macht Martin? hat er uns nicht grüßen lassen?“
Verwundert sah der junge Mann sie an und fragte dann: „Ei, hör’ mal, Suse, weißt du denn nicht, daß ich schon viel länger von zu Hause fort bin, als ihr zwei? Bald zwei Jahre?“
— „Ach ja, ach ja!“
Suse hatte es in ihrer Aufregung nur ganz vergessen. Jetzt fiel ihr wieder ein, daß Philipp als Holzflößer hinunter in das Tal gezogen war und auf einem Lastkahn auf dem Kanal Beschäftigung gefunden haben[S. 85] sollte, wie Martin ihr und Hans erzählt hatte. — Wie hatte sie nur so dumm sein können, es zu vergessen! Hans pflegte ja stets mit Martin die Wochen und Monate auf dem Kalender anzustreichen, die der Bruder des armen Krüppels noch in der Fremde zu verbringen hatte.
„Schon zwei Jahre bist du fort von daheim?“ fragte Suse nun mit Bedauern in der Stimme. — „Oh, wie lang! Konntest du es so lange aushalten, Philipp? Das könnte ich nicht aushalten. Hast du denn kein Heimweh gehabt?“
„Das schon,“ meinte Philipp, „aber man hat halt viel zu tun, und da vergißt man das Heimweh. Und dann denkt man auch immer, die Zeit geht herum. — Jetzt noch zwei bis drei Wochen, dann bin ich wieder zu Hause.“
„Vor Pfingsten schon?“ fragte Suse.
Er nickte.
„Wie schade!“ rief das kleine Mädchen, „wenn du doch noch ein wenig warten würdest, könnten wir die Reise zusammen machen. Pfingsten gehen wir auch nach Hause. Denke dir, wie schön es wäre, wenn wir alle drei zusammen ankämen. — Martin will uns abholen. Weißt du dort auf dem Rain, wo der Weg aus dem Walde kommt, dort wartet er schon am Mittag, wenn wir auch erst um fünf Uhr kommen. Er hat’s gesagt, und das letzte Stück fährt er in der Postkutsche mit uns.“
Hier sah sich Philipp forschend um und fragte ganz erstaunt: „Wo ist denn Hans? Er ist doch nicht krank? Fehlt ihm was? Er ist doch auch mit dir hier zum Lernen?“
Da verdunkelte sich Susens Gesicht aufs neue, und sie erzählte bitterlich weinend alles, was sich zugetragen hatte. Und plötzlich kam Leben in den stillen, zurückhaltenden Gebirgsbewohner, und er rief blitzenden Auges: „Ist der Bursch, der mit Sand geworfen hat, vielleicht so ein kleiner Knirps, dünn wie ein Wollfaden, der mit den beiden schwarzen Weibsgestellen da herumläuft? Himmelsapperment, den hab’ ich vorhin gesehen, wie er einem Affen einen kleinen Stein an den Kopf geworfen hat. Da hab’ ich mir gesagt, jetzt noch ein Wurf, und du langst ihm eine, daß ihm der Hut vom Kopfe fliegt. — Wo ist er?“
„Da drin,“ rief Theobald, auf das Gebäude der Direktion deutend. Und Philipp sprang in großen Sätzen geradeswegs auf die Eingangstüre des Hauses zu.
Theobald eilte in gleichen Schritten hinterdrein, kehrte aber wie der Wind wieder um, als er im Vorraum des Gebäudes plötzlich die Stimme des Wärters hörte. —
Nun währte es nicht mehr lange, da kam auch die übrige Gesellschaft wieder zum Vorschein. Allen voran schritt Philipp, Hans an der Hand[S. 86] haltend. Des jungen Mannes Augen blitzten wie die eines Siegers. Trotzdem hatte er wenig ausrichten können. Der Wärter und die Fremdlinge hatten eben zu fest auf ihrer Behauptung bestanden, Hans sei der Missetäter, als daß er etwas dagegen hätte tun können. — Aber die Sache sollte noch einmal untersucht werden, hatte ihm einer der Beamten versichert. — Inzwischen sollte erst mal abgewartet werden, ob das Kamel überhaupt erblinde. — In diesem Falle werde es Hans zugesprochen werden, und der müsse fünftausend Mark dafür bezahlen. — Natürlich gehöre das Tier dann ihm.
Nachdem Suse und ihre kleinen Verwandten das Urteil vernommen hatten, trennten sie sich voneinander, Toni, um mit ihren jüngeren Brüdern in die Villa Granada zu gehen und Liselotte abzuholen, Theobald, um mit Philipp und den Doktorskindern ihre Wohnung aufzusuchen.
Suse wich auf dem ganzen Weg dorthin nicht von Philipps Seite. — Die Aussichten, die Hans auf Freisprechung hatte, mußten mit dem Freund aus der Heimat eingehend beredet werden. — „Es wird schon alles gut werden, es wird schon alles gut,“ tröstete jener immer wieder. — Dann sprachen die beiden zusammen über Martin und sein Leiden. Von einem künstlichen Bein, das Hans und sie dem armen, verkrüppelten Freund dermaleinst schenken wollten, wenn sie genügend Geld zusammen hätten, plauderte Suse. Auch von Martins Fertigkeit im Schnitzen. — Einen wunderschönen Nähkasten habe er neulich ihrer Mutter geschnitzt, und jetzt gedenke er ein Kreuz für die Kirche anzufertigen, erzählte sie.
Mit stillem Stolz hörte Philipp ihren Lobpreisungen zu.
Theobald aber spielte derweil Erzieher bei Hans und rief, ihn am Arm schüttelnd: „Ich hab’ gemeint, ihr seid schon daheim hier und wißt, wie ihr euch zu benehmen habt. Aber läßt man euch mal aus den Augen, wupp, da habt ihr auch schon ein Kamel am Bein und sollt noch außerdem fünftausend Mark dafür auf den Tisch des Hauses legen! Wie auf die Wickelkinder muß man auf euch aufpassen! Gräßlich! Man läßt sich doch nicht so einfach von jedem Lügenbold sagen, daß man was getan hat, wenn es nicht wahr ist. Wozu hat man denn seine männliche Faust? Doch nicht dazu, daß man sie in die Tasche steckt, sondern daß man damit um sich boxt. Verstanden?“
„Ja!“ sagte Hans kleinlaut.
Vor dem Haus der Frau Cimhuber bat Suse ihren Landsmann eindringlich, doch ein wenig mit hinauf zu gehen und Frau Cimhubers Wohnung anzusehen, damit er allen Freunden und Bekannten daheim erzählen könne, wie fein sie wohnten. — Sie hätten nämlich auch eine Negerstube.
Doch Philipp drückte den Hut tiefer in die Stirn und meinte verlegen, der Pfarrfrau sei es sicher nicht angenehm, wenn ihr ein fremder Mann die Stuben voll Schmutz trage. — Drum wolle er sich mit ihnen lieber an einem dritten Ort noch einmal treffen. — Einen Tag bliebe er voraussichtlich noch hier. So verabredeten die drei aus Schwarzenbrunn denn eine Zusammenkunft für den andern Morgen bei der roten Brücke, wo Philipps Kahn lag, nicht weit von Frau Cimhubers Wohnung.
Nachdem diese Verabredung getroffen war, verabschiedete sich die Gesellschaft voneinander.
Und nun wurde es den Geschwistern mit einemmal wieder recht beklommen zu Sinn.
Jetzt hieß es ja, Frau Cimhuber beichten, was sich zugetragen hatte.
Zurzeit saß die Pfarrfrau gerade strickend in der Negerstube und sagte so recht voll Behagen zu Ursel: „Nun müssen die Kinder bald kommen. Ich freu’ mich schon. Es ist so schön, wenn ihre Augen blitzen und sie erzählen. — Die Jugendzeit kehrt mir wieder ins Gedächtnis zurück. — Sie haben solch eine lebendige Auffassungsgabe für alles und ein wirkliches Erzählertalent. Nicht wahr?“
— Da klingelte es schüchtern.
Die alte Magd ging zur Tür, öffnete, sah zwei kreideweiße Nasen, stutzte und schob die beiden Pechvögel stracks vor das Antlitz ihrer Herrin. „Ich will gar nichts hören, ich seh’ schon genug,“ sagte sie.
Frau Cimhuber nahm langsam ihre Brille ab und schaute die Kinder erwartungsvoll an. — Da standen sie nun. —
Und Suse begann zu erzählen, und je mehr sie erzählte, um so jämmerlicher wurde ihr Ton, und um so größer wurden ihrer Pflegmutter Augen; schwer sanken ihre Hände in den Schoß, und zuletzt stieß Suse schluchzend hervor: „Und der Herr Direktor hat gesagt, Hans bekommt das Kamel. Es kostet fünftausend Mark. Es kommt hierher. Morgen vielleicht schon. Wir dürfen’s behalten.“
„Was sagst du da? Ich versteh’ nicht recht!“ sagte Frau Cimhuber und ließ vor Schreck ihr Strickzeug samt dem Garnknäuel auf die Erde fallen.
Da wiederholte Suse jämmerlicher als vorher: „Und da hat der ‚Granadasohn‘ Jose ein Kamel mit Sand geworfen, Frau Pfarrer, und hat gesagt, Hans hat’s getan, und da hat der Direktor gesagt: Hans soll fünftausend Mark bezahlen und das Kamel gehört dann uns. Ganz bestimmt, das hat er gesagt, Frau Pfarrer. Das Kamel ist dann unser!“
„Das ist zuviel,“ sagte Frau Cimhuber.
Suse aber sah unentwegt nach Ursel hin, die wie verwandelt war. Sie saß da, die Schürze vors Gesicht gedrückt und weinte. „Ein Kamel,[S. 88] Frau Pfarrer,“ rief sie. „Lieber Gott in deinem gerechten, großen Himmel, ein Kamel! Wer denkt denn so was! Alles andere hätt’ ich mir eher träumen lassen, nur kein Kamel! Wenn das so fortgeht, weiß ich nicht, was noch wird. — Anständige Leute haben überhaupt kein Kamel!“
„Vielleicht hat der Herr Edwin in Afrika eins,“ warf Suse kaum hörbar ein und hoffte durch diesen gescheiten Einfall Ursel umzustimmen.
Aber nichts dergleichen traf ein.
Vielmehr jammerte sie ärger als bislang weiter: „Frau Cimhuber, haben Sie jemals daran gedacht, daß wir noch einmal in unserem Leben ein Kamel bekommen werden? Ich nicht. Nur Bärenführer ziehen damit herum.“
„Aber Ursel, beruhigen Sie sich doch!“ rief Frau Cimhuber. „Das Kamel ist ja überhaupt noch nicht da. Wir wissen ja noch gar nicht, ob es kommt.“
„Es kommt, haben Sie keine Angst, es kommt!“ rief Ursel. „Das sag’ ich Ihnen aber, ich verreise, wenn es kommt. Ich will nicht sehen, wie die Leute die Fenster und Türen aufreißen und lachen, wenn sie’s da unten vor unserer Haustür stehen sehen und warten.“
Hansens Verstörtheit nahm angesichts dieser Verzweiflung zu. Und es war ihm zu Sinn, als habe sich das gräßliche Tier bereits zur Tür hereingedrängelt und wolle nicht mehr weichen.
Mit Suse schlich er hinaus.
„Du brauchst keine Angst zu haben,“ sagte die Schwester, den Arm um ihren Bruder schlingend. „Du hast das Kamel nicht geworfen, und deshalb darf dir auch keiner was tun.“
„Wenn sie’s aber doch glauben, daß ich es gewesen bin.“
„Aber sag’ mal, Hans,“ meinte hier Suse vorwurfsvoll. „Weshalb hast du denn nicht gleich gesagt, daß du’s nicht gewesen bist?“
„Ich hab’ mich so geschämt,“ sagte er leise, „wie sie so gelogen haben. — Ich habe kein Wort sagen können vor Schreck, Suse. — Die lügen ja, Suse! Die lügen!“
„Aber Hans, wir dürfen uns nicht alles gefallen lassen,“ mahnte die Schwester. „Das hat auch Theobald gesagt. Wenn wir recht haben, dürfen wir auch sagen, daß wir recht haben.
Du hättest überhaupt nicht bei dem gräßlichen Jose stehen bleiben und zugucken dürfen, daß er geworfen hat. Du hättest weitergehen sollen.“
„Ich bin gar nicht stehen geblieben. Sieh, Suse, ich bin gerade dazu gekommen, wie er das Kamel geworfen hat. Und wie es vor Schreck mit den Augen gezwinkert hat, hat er gelacht. Da hab’ ich ihm gesagt: Laß das sein, das tut ihm weh!
Da sind alle miteinander wütend geworden, am wütendsten die schwarzen Frauen, und haben gesagt: Geh fort, du hast uns hier nichts zu sagen. Du und Suse, ihr seid beide schmutzig und arm.“
„Was?“ rief Suse blitzenden Auges und kirschrot vor Zorn. „Das haben sie gesagt? Oh, wie häßlich!
Das sind die gräßlichsten Menschen auf der ganzen Welt. Und wir sind viel sauberer als sie. Und wir baden uns jeden Tag. Und das schreib’ ich jetzt alles dem Vater und der Mutter hin, und der Vater soll ihnen die Wahrheit sagen. Und sie sollen so Angst bekommen, so Angst, daß sie sich gar nicht mehr aus ihrem Garten ’raus trauen.“ Und die Rede der Fremdlinge wurmte Suse so, daß sie heute abend an nichts anderes mehr denken konnte, sondern mit dem Gedanken daran ihr Lager aufsuchte.
Hans drehte und wendete sich des Nachts unter Stöhnen hin und her. Suse merkte nichts davon.
Am andern Morgen ganz früh waren die beiden schon wach und rüsteten sich für ihren Gang zu Philipp. Frau Cimhuber und Ursel waren mit dem Vorhaben der Kinder einverstanden, denn alle Schritte, die Hans in seinem Abenteuer mit dem Kamel von Vorteil sein konnten, sollten gefördert werden.
Besonders Ursel drängte zum Aufbruch.
„Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen, gerad’ zusammengeschlagen bin ich,“ jammerte sie. „Kein Auge hab’ ich zutun können. Leibhaftig hab’ ich das Kamel vor mir gesehen.“
Die Kinder waren derartig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß sie Ursels Klagen kaum verstanden! Schnell packten sie ein schönes Notizbuch sowie einen Bleistift für Martin zusammen und traten schon um halb sieben Uhr vor die Haustür. Quer liefen sie über die Straße hinüber zum Ufer des Kanals, um an ihm entlang den Weg auf die rote Brücke zu nehmen.
Suse war so ausgelassen und froh heute, wie sonst nur auf ihren Schulwegen daheim. Sie warf den Kopf in den Nacken und rief dem strahlenden Himmelsgestirn über sich voll Übermut zu: „Brenn’ mich ins Gesicht, liebe Sonne, brenn’ mich, es macht mir nichts. Heute macht’s mir nichts. —
Gedörrte Zwetschgen und Apfelschnitzen will Philipp uns schenken,“ fuhr sie dann eifrig zu ihrem Bruder fort. „Er hat’s mir gestern versprochen. Er hat noch welche von zu Hause. Gestern hat er gesagt, er will uns heute welche geben.“
„Oh, wie freu’ ich mich,“ rief Hans, „die mag ich ja so gern.“
Die beiden eilten schneller als bislang vorwärts. Nur zehn Minuten[S. 90] hatten sie noch bis zum Ziel ihrer Wanderung. Je näher sie ihm kamen, desto aufgeregter wurden sie. Zuletzt sprachen sie kaum noch ein Wort. Ihre Blicke richteten sich gespannt geradeaus. Jetzt tauchte das Gemäuer der roten Brücke auf und die eisernen Lichterträger an ihren Enden. Jeden Augenblick mußte jetzt ihres Freundes Philipp hohe Gestalt dort zu sehen sein. Sicher wartete auch er schon voll Ungeduld auf seine Landsleute. Nur noch ein paar Schritte, dann standen sie am Ziel. Doch enttäuscht sahen sie sich um. — Kein Philipp war zu sehen, und am Ufer lag sein Kahn nicht mehr. Weithin auf und nieder konnten sie über das Wasser des Kanals sehen, aber kein Lastkahn schwamm auf seinen toten Fluten. Nur der Sonnenschein spielte darauf, und der Strahlen Blinken traf zuweilen wie spitze Nadeln die Augen der Kinder.
Keines von den Geschwistern sprach ein Wort. Traurig sah Suse auf Martins Geschenk und dachte bei sich, daß Philipp wohl im Morgengrauen, als alle noch schliefen, an Frau Cimhubers Haus vorübergefahren sei und keinen Gruß in die Heimat mitgenommen habe.
Minutenlang verharrten die beiden so in gedrücktem Schweigen, bis Hans schließlich leise sagte: „Er ist fort.“
Suse nickte mit Tränen im Auge. Wieder verfielen die beiden in Stillschweigen. Dann zupfte Hans plötzlich seine Schwester am Ärmel und zeigte auf ein paar Arbeiter, die am Rande des Kanals standen und Steine aufschichteten.
„Wollen wir die nicht fragen, ob sie nicht wissen, wann Philipp fort ist?“ meinte er schüchtern.
Suse stimmte ihm zu.
Und er ging langsam von der Kanalbrücke herab auf eine Treppe zu, die von dem hochaufgebauten Straßendamm hinunter zum Kanal führte. Suse folgte ihrem Bruder herzklopfend und hörte, wie er den Arbeitern, die hemdsärmelig und sich laut unterhaltend, am Ufer verweilten, seinen Morgengruß bot.
Jene hielten mit Arbeiten inne und hörten dem Anliegen zu, das er ihnen vorbrachte. Der eine von den Leuten, ein stämmiger und verwegen aussehender Geselle, nickte mehrmals zu Hansens Reden. Und plötzlich spie er einen Mund voll ausgekauten Priemtabaks scharf über Hansens Kopf weg, mitten in die Steine hinein, worauf er, auf Suse deutend, fragte: „Gehört die zu dir?“
Das kleine Mädchen fuhr erschreckt zusammen und nickte mehrmals aus der Ferne.
„Dann stimmt’s mit euch,“ meinte der Riese da vor ihnen in versöhnlichem Ton. — „Dann gehört ihr dem Doktor aus Schwarzenbrunn? So ist’s doch? Gelt?“
„Ja,“ riefen beide.
„Dann kommt mal her. — Einer von denen, die heute morgen mit dem Kahn fort sind, hat gesagt, es kommt ein Bub und ein Mädchen, die gehören dem Doktor aus Schwarzenbrunn. — Das seid ihr doch, gelt? Denen soll ich ein Säckchen voll Apfelschnitzen und Zwetschgen geben.“ — Damit griff er in eine Höhlung zwischen den Steinen und holte einen karierten Beutel hervor. Über Susens Gesicht ging ein Leuchten, als sie des Säckchens ansichtig wurde. Solche karierten Beutel hatten ja alle Leute von daheim. Christine und die Eltern von Susens Freundin und Rosel, alle, alle. Darin nahmen sie ihr Vesperbrot mit, wenn sie zur Arbeit aufs Feld gingen.
„Da nehmt,“ sagte jetzt der Mann, indem er ihnen das Säckchen reichte und abermals einen Strahl Tabaksbrühe pfeilgerade zwischen Hans und Suse durchschickte. — „Ich soll euch von dem Philipp aus Schwarzenbrunn sagen,“ fuhr er fort, „daß er eure Grüße daheim ausrichtet. Er mußte schon früher fort, als er gemeint hat.“
„Danke, danke vielmals,“ rief Suse, und griff nach dem Beutel, in dessen straffgespannter Leinwand die Form der getrockneten Früchte deutlich zu erkennen war.
„Und wann ist der Kahn fortgefahren? Wissen Sie es noch?“ fragte sie, „bitte, bitte.“
„Oh, so eine Stunde,“ meinte einer von den Männern.
„Dann holen wir ihn noch ein,“ jubelte Suse. „Komm, Hans, komm. Martins Geschenk soll er ja auch noch mitnehmen.“
Und nachdem die Kinder die Richtung erfahren hatten, die der Kahn eingeschlagen hatte, liefen sie davon. Die rote Brücke lag an den Grenzen der Stadt, und so kam es, daß sie das Häusermeer bald hinter sich hatten. Nur vereinzelte Villen trafen sie noch auf ihrem Wege. Doch auch die blieben binnen kurzem hinter ihnen zurück, und sie waren im Freien.
Nachdem sie eine halbe Stunde, mehr laufend als gehend, zurückgelegt hatten, blieb Hans plötzlich stehen und erklärte, er sei zu müde, um weiter zu rennen. Auch Suse hielt erschöpft im Laufen inne. —
Drei Kähne hätten sie schon angetroffen, meinte Hans, und auf keinem wäre Philipp gewesen. — Wer wisse, ob er vielleicht nicht doch auf einem gewesen sei und sie hätten ihn nur nicht erkannt. —
„Wir kennen seinen Kahn ja gar nicht,“ erklärte er. „Und wir können doch nicht nach jedem Kahn hinüberrufen, ist der Philipp dort?“
Eine Weile blieb Suse nachdenklich stehen, und dann kam auch ihr die Einsicht, daß es Torheit sei, weiter zu laufen. So schlug sie denn ihrem Bruder vor, eine kleine Rast am Wege zu nehmen. Er war’s zufrieden, und beide setzten sich unter einem Pappelbaum auf der[S. 92] grünen Böschung nieder, die zum Kanal hinabführte, und sie fanden es sehr schön hier. Niemand störte sie. Tiefe Stille herrschte ringsumher. Nur die Blätter der Pappel über ihnen schüttelte leise der Wind, und es hörte sich an wie Regenrauschen. Doch nur das helle Sonnengold rieselte durch die Zweige zur Erde nieder, wo die Kinder saßen.
Drüben auf der andern Seite des Kanals war eine hohe Parkmauer zu sehen. Schwere Buchenzweige hingen darüber. Eine kleine Tür führte aus der Mauer zum Wasser hinab. Sicher wohnten dort auch Leute, die ein so schönes Haus hatten wie die Granadakinder, durchschoß es Suse. Und vielleicht, vielleicht waren auch sie so lieblos und unfreundlich.
Doch sie hatte keine Zeit, diesem Gedanken nachzuhängen, denn Hans hatte bereits den karierten Beutel geöffnet und ihr den ganzen Inhalt in den Schoß geschüttet. — Apfelschnitze und Birnen lagen kunterbunt vor ihren Augen und lachten sie verführerisch an.
„Viel, viel schöner sind sie als die, die uns Ursel kocht,“ meinten beide und langten tüchtig zu. Dann teilten sie den Rest in zwei gleiche Hälften, eine für Hans, die andere für Suse. — Gretel und Peter in der Schule sollten auch ihr Teil davon bekommen.
Als sich die Kinder nun eine gute Weile ausgeruht hatten, dachten sie endlich daran, daß es Zeit sei, in die Stadt zurückzuwandern. Zuvor aber faltete Suse schnell noch einmal das Papier auseinander, das Martins Geschenke enthielt, betrachtete sie mit seitlicher Kopfhaltung zärtlich und sagte leise, indem sie vorsichtig darüber streichelte: „Wunderschön.“ —
„Wir bringen es Martin mit, wenn wir nach Hause gehen,“ meinte sie halb zu Hans gewandt, halb sich selbst zum Trost.
Der Bruder stand auf und steckte seinen karierten Beutel in den Ranzen. Dann setzte sich das Geschwisterpaar in Bewegung der Stadt zu.
In der Schule, wo Hans mit Theobald und seinen Geschwistern zusammentraf, wurden die Ereignisse des gestrigen Tages mit größter Erbitterung durchgesprochen. Unternehmungslustig und rachelüstern glänzten die Augen der Vettern wie die von Banditen. Sie hatten sich einen Plan zu Hansens Rettung ausgesonnen. Wie das Licht des Tages sollte seine Unschuld glänzen, erklärten sie und forderten den Pechvogel deshalb auf, sich um drei Uhr mit Suse am Kriegerdenkmal einzustellen. Dort sollte er alles erfahren.
„Die Fremdlinge sollen vor uns zittern wie die Hasen,“ riefen sie, „die Kinnbacken sollen ihnen schlottern, die Knie sollen ihnen einknicken, das Herz soll ihnen in die Hosen rutschen, alles durch unsere tipp toppe Umsicht.“
Daheim trafen die kühnen Rettungsengel dann emsig Vorbereitungen zu den Taten des Nachmittags. In einer Geheimsprache klärten sie zuerst die Schwester und Vertraute Toni über ihre Absichten auf, und nach Tisch verschwanden sie in wilder Flucht im Garten.
Wieserl, der kleine, kugelrunde Knirps, ihr jüngstes Schwesterchen, das Mühe hatte, auf seinen dicken, kurzen Beinen zu stehen, stolperte hinterdrein, um auch ihr Teil an der allgemeinen Aufregung zu haben. Sie fiel der Länge nach mitten auf dem Kiesweg hin und lag schreiend und zappelnd dort. Dann raffte sie sich wieder auf und setzte die Verfolgung fort.
Schließlich, als sie einsah, daß all ihr Laufen nichts nützte, kehrte sie wieder um.
„Mutter, Vater,“ sprudelte sie hastig heraus, „der Jockel... und der Jockel... und in den Korb gesetzt, und Stroh und Heu... und alle fort, aus der Gartentür... der Jockel in dem Korb, und der Jockel und alle haben sie einen Stock. — Und ade, Wieserl, haben sie gesagt, und Toni hat geweint.“
Der Vater schüttelte seinen Kopf. Er hätte ihn aber noch viel mehr geschüttelt, hätte er jetzt schnell mal einen Blick auf seine Sprößlinge werfen können.
Beim Kriegerdenkmal standen sie, Hans und Suse in ihrer Mitte, und sahen begeistert zu ihrem Führer Theobald auf, der wie ein Held auf der zweiten Stufe des Denkmals stand und einen Korb im Arm hielt. Er redete: „Geliebte Freunde, ihr wißt, hier drin im Korb sitzt der Jockel, unser Eichhörnchen. Der soll uns heute aus Not und Gefahr erretten. Ihr wißt, zweimal hat diesen armen Jockel der miserable Granadasohn Jose mit Sand geworfen. — Also hat er auch das Kamel geworfen. Was ein Häkchen werden will, krümmt sich beizeiten. — Wer das Eichhörnchen mit Sand wirft, wirft auch das Kamel, darum schreiten wir jetzt zur Rache. Wir lassen uns zuerst bei dem Onkel Gustav in der Villa Granada melden. Ihr haltet euch höflich im Hintergrund. Ich rede. Erst kommt die Geschichte von dem Kamel daran, darauf die mit unserem Jockel. Auf ein Zeichen von mir trittst du, Henner, vor, öffnest den Deckel von dem Korb und hebst das kranke Eichhörnchen ihm entgegen.
Das wird ihn an die Wand werfen. Er wird blaß werden bis in die Lippen und an die Schuld seiner nichtsnutzigen Söhne glauben.
Dies wäre Fall Nummer eins.
Nun kommt Fall Nummer zwei. Das wäre, wenn der Onkel nicht da wäre. Also ist er nicht da, so müssen wir die Granadasöhne in das große Billardzimmer bitten, dort haben wir Platz und können uns umdrehen.
Zuerst verlangen wir kurz und bündig, daß Jose seine Schuld bekennt. Ganz gemäßigt werde ich sein. Sagt er die Wahrheit nicht, so öffnest du, Henner, auf ein Zeichen meiner Hand den Korb. Schweigend gehen meine Blicke zwischen dem Eichhörnchen und den Granadasöhnen hin und her. Kein Wort fällt. Macht dies alles nun noch keinen Eindruck, so tut ihr das Eichhörnchen hübsch in seinen Korb zurück. Und nun beginnt der Kampf. Auf ein Zeichen von mir schreiet ihr alle: „Hurra, hurra, Rache, Verderben den Lügnern, den Feiglingen!“ Und dann fallen wir über sie her und klopfen sie windelweich, bis sie die Wahrheit bekennen. Dann ziehen wir uns befriedigt zurück.
Es wird ein harter Kampf werden. Wir sind vier gegen drei. Die zwei von ihnen sind aber viel älter als wir und glatt wie die Aale. — Ich habe mir aber schon gestern und heute die japanische Boxermethode angesehen. — Feines Buch. — Kostet zehn Pfennig. — Ich werde mich bewähren.
Es kann auch sein, daß sich das ganze Haus dazwischen wirft. Aber aushalten! Verstanden!“
Die Knaben nickten.
Toni und Suse standen zitternd daneben.
„Theobald,“ flehte die erstere, „laß uns doch auch mitgehen, wie die Feiglinge können wir doch unmöglich draußen stehen bleiben.“
„Ausgeschlossen,“ erklärte Theobald streng. „Der Vater will nicht mehr, daß ihr die Raufereien mitmacht. Auch die Großmutter hat geweint, als sie uns das letztemal besucht hat und gesehen hat, wie dir der Henner ein Stück vom Zopf geschnitten hat und damit die Friedenspfeife geraucht hat. Und obendrein ist es Onkel Rudolf seine gute, geschnitzte Pfeife gewesen, und er sagt, man riecht’s noch jetzt zehn Schritt gegen den Wind. Es sei eine Barbarei.“ —
„Hier habt ihr zehn Pfennig,“ setzte er milder hinzu. „Kauft Verbandstoffe und wartet hinter dem Gitter der Villa auf den Gang der Ereignisse. Kommen wir in wilder Flucht aus der Villa, so rennt ihr mit uns was ihr könnet. Verstanden? Nicht umsehen. Nur rennen, rennen — rennen. —“
Seufzend nickte Toni und schloß sich mit Suse dem Zug der Rachedurstigen an. Alle Knaben, bis auf Hans, trugen einen Stock in der Hand; und damit auch er bewaffnet sei, holte ihm Theobald unterwegs aus der Wohnung eines seiner Freunde einen derben Eichenknüppel.
Fünfzig Jahre wäre dieser Stock schon in der Familie gewesen und hätte bereits dem Urgroßvater gute Dienste getan, hatte der Freund zur Empfehlung des Steckens gesagt.
Hans nahm ihn dankend an.
Vor dem Eingangstor der Villa Granada verabschiedeten sich die Knaben von den Mädchen. Die bewaffnete Schar drang nun in den Garten ein, vorüber an dem kleinen efeubesponnenen Pförtnerhäuschen, dessen Bewohner ihnen mit Erstaunen nachsahen.
Hansens Gesichtsfarbe wurde jetzt blässer. Die Augen saßen tief in ihren Höhlen. Seine Nase schien spitz geworden. Nur die Lippen hielt er fest zusammengepreßt mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck. Theobald, der Leiter der Bewaffneten, räusperte sich zuweilen und warf seinen Kopf herausfordernd in den Nacken, als stehe er bereits an der Anklagestätte. Christoph schritt am kecksten einher. Sein spanisches Rohr flitzte zuweilen pfeifend durch die Luft, als wittere es bereits die Granadasöhne.
Ein gutes Stück hinterher trottete Henner. Ihm war die hohe Aufgabe zuteil geworden, den Korb mit dem Jockel zu tragen. Zärtlich schmiegte er sein Ohr an das Geflecht des Korbes und flüsterte mit sanfter Stimme: „Jockerl, sei still, gutes Tier, sei still. Unser aller Rettungsengel bist du. Unser lieber, guter Jockerl. Denen wollen wir mal Mores lehren, gelt? Ich werde dich herausnehmen, wenn’s Zeit ist.“
Und als sei der Knabe bereits bei dem Onkel angelangt und walte seines Amtes, so begann er jetzt an dem Verschluß des Korbes zu zerren, zu rütteln und zu heben. Der Deckel sperrte sich. —
„Das verflixte Ding,“ grollte er, zerrte heftiger und riß plötzlich den ganzen Deckel weit auf. — Es rührte sich im Korb. Heraus sprang der Jockerl und jagte davon.
„Er ist fort,“ schrie da gellend sein Wächter, „er ist fort!“
Die vier Helden vor ihm fuhren wie von der Kugel getroffen herum.
Hans fiel vor Schreck der Eichenknüppel aus der Hand.
Theobald, der in Gedanken gerade zu seinem Onkel gesagt hatte: „Angesichts des Eichhörnchens ist Hansens Unschuld erwiesen, so rein, so sonnenklar, so hell wie der Tag,“ stürzte laut schreiend auf seinen Bruder los. „Unglücklicher, was hast du gemacht!“ rief er. „O du jämmerliches Trampeltier, einfältiger Eselskinnbacken! Käsweiser Rabenvater! Was jetzt? Was jetzt?“
Der Bruder war leichenblaß, er hatte ein Gefühl, als hätte er einen Schlag auf den Kopf bekommen. Seinen Händen entglitt der Korb.
Jockerl jagte derweil auf den nächsten Baum zu, kletterte daran in die Höhe und hüpfte bald als ein braunes, kleines Etwas im Gewirr der Äste herum. Mit Geschrei verfolgten ihn die Kinder. Auch Toni und Suse kamen von draußen herein und schlossen sich der Verfolgung an. Jockerl kletterte vom Baum herab, rannte dreimal um das große Blumenbeet und verschwand in den Ziersträuchern am Wege. Auf das[S. 97] gräßliche Geschrei der Kinder hin kam nun der Gärtner der Villa herbei, und, sie für Eindringlinge von der Straße haltend, warf er ihnen seine Schaufel und Hände voll Erdklumpen hintendrein. Der Sand prasselte und stob ihnen um die Ohren.
Sie kümmerten sich nicht darum. Sie schlugen mit den Knüppeln an die Bäume und schrien: „Jockerl, Jockerl, komm herunter! Jockerl, Jockerl!“
Der Jockerl aber schwang sich immer weiter fort. Noch einmal jagte er um die schönsten Blumenbeete herum und in die Ziersträucher hinein. Dann verließ er den Garten auf Nimmerwiedersehen. Im Park der gegenüberliegenden Villa verschwand er.
Voll dumpfen Grolls auf ihren Bruder Henner traten sie darauf den Heimweg an.
In dem Haus der Frau Cimhuber aber wuchs die Angst vor dem Kamel von Stunde zu Stunde. Vor allen Dingen Ursel zweifelte nicht mehr daran, daß es komme. Erschallte unten auf der Straße Lärm, oder ließen sich aufgeregte Stimmen vernehmen, so beugte sie sich ängstlich über die Fensterbrüstung und spähte in die Tiefe.
„Es kommt, es kommt,“ rief sie an einem Morgen so laut, daß auch Frau Cimhuber herzklopfend herbeieilte und sich weit über die Fensterbrüstung beugte. Ihre Brille fiel dabei in die Tiefe.
Die ganze Aufregung war einem Reklamewagen zu verdanken, der mit bunten Tierbildern bemalt, am Kanal entlang fuhr.
„Ich sehe Gespenster am hellen Tag,“ erklärte Ursel seufzend, „das endet nicht gut.“
An demselben Morgen, an dem sich dieser Zwischenfall ereignete, erschien ein Beamter des Zoologischen Gartens, um nach der Adresse von Hansens Vater zu fragen. —
Die Würfel waren gefallen. —
Keiner zweifelte mehr daran.
Hans war wie verstört. Er sah Kamele an allen Ecken und Enden. Sie schauten über seine Schulter, wenn er Diktate schrieb, sie gingen vor dem Pult auf und nieder, wo der Lehrer saß; sie warteten an der Haustreppe, wenn er aus der Schule kam. Fünf schreckliche Tage vergingen.
Da — am sechsten, als Hans und Suse aus der Schule heimkehrten und zur Tür hereintraten, flüsterte ihnen Ursel zu: „Er ist da in der Negerstube.“ —
„Wer?“ fragten die Kinder erschreckt, „der Direktor? Der Wärter?“
Da erschien Frau Cimhuber und forderte sie auf, in die Negerstube zu treten und ihren dort wartenden Onkel Gustav zu begrüßen.
Schnell brachten sie ihr Haar und ihre Kleider ein wenig in Ordnung und schritten dann erwartungsvoll dem hohen Besucher entgegen.
„Schau den Onkel fest an, Hans, und guck nicht auf die Erde,“ ermahnte Suse den Bruder, „sonst denkt er, du hast das Kamel geworfen. — Sieh so, Hans,“ und Suse trat mit kühner Miene in die Negerstube und erhob ihre Stupsnase so keck, als wollte sie den Onkel damit aufspießen.
Hans versuchte es seiner Schwester gleich zu tun. Aber das war gar nicht nötig; denn der Besucher hatte eine so herzlich gewinnende Art und sah einen mit seinen hellen Augen so gütig an, daß man gleich Zutrauen zu ihm haben mußte. Freundlich forderte er die beiden Kinder auf, sich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen und begann dann allerlei mit ihnen zu reden, das sie interessieren konnte. — Von ihrer Heimat sprach er, von ihren Eltern, von den Bergen. Man konnte meinen, er sei schon einmal auf Besuch dort gewesen. Am liebsten hätte Suse ihm gleich allerlei von Rosel, Christine, Minnette und dem Käterle von Michel und Genoveva anvertraut.
Doch der Onkel leitete das Gespräch geschickt auf den Besuch über, den die Kinder vor einigen Tagen in seinem Hause gemacht hatten. Dann mußte Hans erzählen, wie es ihm im Zoologischen Garten gefallen habe, welches Tier für seinen Geschmack das schönste sei. Und so allmählich kamen die drei auch auf das Abenteuer mit dem Kamel zu sprechen.
Durch Suses lebhafte Zeichensprache ermuntert, erzählte Hans frei und offen alles, was sich gestern zugetragen hatte.
„Hast du nicht vielleicht auch Lust gehabt, ein ganz klein wenig mit Sand zu werfen, wie du sahst, daß die andern es taten?“ forschte sein Onkel.
Hans sagte ganz erschreckt: „Das tut man doch nicht, das tut den Tieren ja weh.“
Da trat ein bekümmerter Zug in das Gesicht seines Onkels und wich nur ganz langsam wieder. Dann leitete der Besucher das Gespräch auf harmlosere Dinge über und fragte schließlich die beiden, ob sie nicht Lust hätten, ihn und seine Kinder bald einmal wieder zu besuchen. Er werde ihnen dann Geschichten erzählen, und seine Sammlung von wilden Tieren zeigen.
Da wurden Bruder und Schwester sehr verlegen, bekamen rote Köpfe und drucksten an einer Antwort herum. Endlich stotterte Hans: „Ihre Kinder und die schwarzen Frauen haben gesagt, wir sind schmutzig und arm, und jetzt dürfen wir niemals mehr zu ihnen auf Besuch kommen. Unsere Eltern wollen’s nicht.“
Und Suse setzte verlegen hinzu: „Unsere Mutter hat noch geschrieben, sie möchte nicht, daß wir immerzu daran denken, daß wir auch so wunderschöne Dinge haben möchten wie Sie, einen so schönen Pfau und solch einen schönen Garten und solche ausgestopften Tiere und Schlangen in Spiritus. Dann würde sie sich für uns schämen. Wir sollen nicht neidisch sein. Wenn wir älter sind, dürfen wir sie einmal wieder besuchen, jetzt nicht.“
Wieder kam der bekümmerte Ausdruck in das Gesicht des Onkels. Er sah nach seiner Uhr und sagte: „Es ist Zeit, daß ich gehe. Ich habe mich schon etwas verspätet. — Dann also, adieu. — Das mit dem Kamel wird sich machen. — Wo ist Frau Cimhuber?“ fragte er Suse.
Darauf holte das kleine Mädchen die Pfarrfrau, und als er sich freundlich von ihr und den Kindern verabschiedet hatte, ging er die Treppe hinunter...
Zwei Stunden mochten seit seinem Weggang verstrichen sein, da klingelte es, und als Ursel die Tür aufmachte, befand sie sich dem Briefträger gegenüber, der einen großen Brief in der Hand hielt. „Von der Direktion des Zoologischen Gartens,“ murmelte sie erschreckt. — „Also doch, es kommt!“
Und mit diesen Worten trug sie den Brief zu ihrer Herrin in die Negerstube.
„Lesen Sie, lesen Sie,“ sagte sie bestürzt, „ich will nicht hören, was in dem Unglücksbrief steht. — Ich bin wie geschlagen. Ich fühle es in allen Gliedern, es kommt.“
So sprechend hielt sie sich die Ohren zu und lief in die Küche, um hier die Tür fest hinter sich abzuschließen.
Hans und Suse, die auf Ursels aufgeregten Ruf von vorhin in die Negerstube geeilt waren, standen mit großen Augen neben Frau Cimhuber und fühlten ihr Herz klopfen. Ihre Pflegemutter setzte die Brille auf, öffnete den Brief mit einem Falzbein und begann langsam zu lesen. Mit einemmal seufzte sie tief, tief aus Herzensgrund.
Gleich darauf hörte Ursel in der Küche einen lauten Schrei der Kinder und schrie aus Entsetzen mit. — Jetzt mußte die Nachricht verlesen worden sein.
Aber was war das? Das waren ja Jubelrufe!
„Das Kamel ist gesund, das gräßliche Kamel ist gesund,“ tönte es draußen, und als Ursel durch eine Türritze spähte, sah sie Hans und Suse wie die verzückten Derwische im Gang auf- und niederwirbeln, laut jubelnd: „Es ist gesund, das schauderhafte Kamel ist gesund.“
Hans schlug einen Purzelbaum mitten im Gang.
Da liefen Ursel die Tränen über die Backen und sie rief, die Küchen[S. 100]tür weit öffnend: „Lacht und singt, Kinder, lacht und singt! Heute soll’s nicht darauf ankommen! Fünftausend Mark! Eure Eltern wären bankerott gewesen. — Und was für eine Schande für uns, wenn es hier angekommen wäre. Lacht und singt!“
Und als etwas später Gretel und Peter kamen, um wie gewöhnlich in den letzten Tagen des Nachmittags nach einer Nachricht von dem Kamel zu fragen, kochte sie den Gästen Schokolade und setzte ihnen kleine Kuchen vor. Alles aus reiner, seliger Freude über das genesene Kamel.
Als Hans am andern Morgen seinen Vettern in der Schule die frohe Nachricht von dem glücklichen Wechsel der Dinge überbringen wollte, ließen sie ihn erst gar nicht zu Worte kommen, so brannte sie eine eigene, wichtige Nachricht auf der Zunge. —
„Die Täter sind entlarvt,“ rief Theobald seinem Vetter von weitem zu.
„Unser Vater war gestern bei den Fremdlingen. Fein hat er’s gedeichselt. Und sie haben alles gestanden, diese miserablen Granadasöhne, und die schwarzen Ungeheuer auch...“
An demselben Tag traf der Doktorssohn zufällig auf seinem Heimweg mit seiner Schwester Suse zusammen, und die beiden gingen die letzte Strecke Weges miteinander. Hans lachte und summte fortwährend vor sich hin und sprang alle paar Schritte eine Elle hoch vor Freude.
„Nicht wahr, wie schön, daß wir nicht mehr an das Kamel zu denken brauchen?“ fragte er.
Seine Schwester nickte beifällig.
Aber trotzdem blieb sie nachdenklich, und mit einemmal seufzte sie tief vor sich hin.
„Was hast du?“ fragte der Bruder besorgt.
Eine Weile blieb sie die Antwort schuldig, dann stotterte sie etwas verlegen: „Weißt du, Hans, wenn wir recht viel Geld hätten, wäre es doch wunderschön, wenn wir ein Kamel für uns ganz alleine hätten. Denke dir wie herrlich wäre es, wenn es jetzt bei Frau Cimhuber auf uns wartete. Ich möchte wohl eins haben.“
Doch Hans entgegnete: „Nein, weißt du, Suse, früher hab’ ich Kamele sehr gern gehabt, aber jetzt wird’s mir ganz schlecht, wenn ich nur an eines denke. Noch nicht einmal in Bilderbüchern mag ich sie mehr besehen.“
Doch Hans änderte seine Meinung mit der Zeit, als Onkel Fritz ihn und Suse des öfteren mit in den Zoologischen Garten nahm, und er das Tier in seiner ganzen Harmlosigkeit betrachten konnte. Nur in die Villa Granada ging keines von den Kindern mehr. Auch Onkel Sepp hatte nach dem Vorfall mit dem Kamel seinen Kindern verboten, ihren Besuch dort zu wiederholen. — Wie an fremder Erde gingen sie nun an der Villa der Fremdlinge vorüber. Zuweilen sahen Hans und Suse wohl[S. 101] den Pfau mit seinem prunkenden Gefieder durch die Gitterstäbe leuchten und blieben ein Weilchen stehen, um ihn zu betrachten. Aber zu ihm hinein verlangte es sie nicht mehr. Und so erfuhren sie auch nie, wie sehr sich Onkel Gustav grämte darüber, daß seine Kinder von allen gemieden wurden.
Zwei Jahre waren vergangen, seit Hans und Suse bei Frau Cimhuber, der Pfarrfrau, in dem hohen weißen Haus am Kanal wohnten, und manch inhaltsreicher Brief war in dieser Zeit aus der Stadt nach dem Heimatsort der beiden gewandert. Die Eltern und Freunde der Kinder waren die glücklichen Empfänger dieser abwechslungsvollen Schreiben gewesen.
Da erhielt nun eines Tages Christine, ihre alte Kinderfrau, einen ganz besonders langen Brief Susens. Es traf sich, daß bei seiner Ankunft gerade Rosel, die Magd der Doktorsleute, zugegen war und die las ihn vor.
„Jesus, Maria und Joseph,“ schrie sie mit einemmal und sprang mitten in die Stube. „Hört, Tante, was Suse schreibt: Der Herr Edwin kommt zu Frau Cimhuber auf Besuch; er hat schon eine Leiche vorausgeschickt. Die Leiche ist schon viele tausend Jahre tot. Schon viele Jahre vor Christi Geburt. Sie steht im Gang bei Frau Cimhuber. Sie ist etwas größer als Hans.“
Das war zuviel für Rosel. Sie schleuderte den Brief weit von sich.
„Scht,“ mahnte Christine, „heb den Brief auf. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Das ist nicht geheuer, was Suse schreibt. Wir müssen zur Frau Doktor gehn und ihr den Brief zeigen. Sie weiß Rat.“
Der Brief, der Rosel und Christine in solche Verwirrung versetzte, war von Suse am vergangenen Sonntag in größter Aufregung geschrieben worden; denn vor dem Kirchgang hatte Frau Cimhuber plötzlich zu Hans und ihr gesagt: „Mein Sohn Edwin aus Afrika kommt nach Hause.“ Die Kinder waren zusammengefahren, und Susens Herz hatte laut geklopft.
Herr Edwin kam! Ihr Held, ihr Vorbild! Alles was groß, schön, herrlich, erhaben war, verkörperte sich für sie in seiner Person; denn in den zwei Jahren, die sie bei Frau Cimhuber verbracht, hatte sie soviel Außergewöhnliches von ihm und seinen Taten gehört, daß er ihr wie ein Welt- und Meerwunder vorkam.
Herrn Cimhubers Gepäck traf einige Tage vor ihm ein: eine Kiste und ein umfangreiches, in Sackleinwand eingenähtes, längliches Bündel. Er selbst verzog noch eine Woche in seinem Missionshaus in einer entfernten Stadt.
Die Doktorskinder gingen von nun ab nur noch flüsternd durch den Gang, die Augen in stiller Ehrfurcht auf des Missionars Gepäck gerichtet. Ein Duft von fremden Ländern haftete ihm an.
Sie berieten hin und her, was es wohl enthielte. Suse meinte, die große Kiste sei voll schrecklicher Götzen, Schwerter, Spieße und dergleichen fremdländischer Gegenstände mehr.
Aber was mochte der große Ballen enthalten? Leise strichen die Kinder darüber. Auch Theobald und seine Geschwister wurden eingeweiht und tauschten Betrachtungen über den möglichen Inhalt des seltsam geformten, in Wachstuch genähten Bündels aus.
„Hört,“ meinte Toni mit einemmal, „ich glaub ich hab’s. Herr Edwin interessiert sich für Altertümer. Es könnte eine Mumie sein.“
„Eine Mumie.... was ist das?“ riefen Hans und Suse.
„Nun, ein einbalsamierter Mensch,“ entgegnete Toni. „Oder besser gesagt, ein durch Spezereien für alle Zeiten unvergänglich gemachter, menschlicher Leichnam.“
„Welch ein Blödsinn,“ seufzte Theobald.
„Durchaus nicht, mein lieber Bruder, vielleicht ist die von Herrn Edwin herbeigeschaffte Mumie sogar eine ägyptische... ein Pharao, ein ägyptischer König.“
„Ja,“ rief Suse, „ein Pharao.“
Sie war Feuer und Flamme für die Erklärung. Das Bündel, das bei Frau Cimhuber im Gang stand, konnte nur eine Mumie sein... ein ägyptischer König, vielleicht jener, der die Kinder Israel aus Ägypten getrieben hatte. Wie geheimnisvoll!
Auf Zehenspitzen schlich sie von nun an daran vorüber. Alle ihre Freunde und Bekannten wurden von dem interessanten Paket unterrichtet, und so geschah es, daß jener oben erwähnte Brief an Christine geschrieben wurde.
Hans redete weniger von der Mumie als seine Schwester, brannte aber in demselben Maße wie sie darauf, jene von Angesicht zu Angesicht zu sehen.
Frau Cimhuber mochte er nicht behelligen. So fragte er denn eines Tages die alte Magd: „Was will denn der Herr Missionar mit der Mumie anfangen, Ursel?“ Die Magd sperrte den Mund auf. „Was schnatterst du da?“ rief sie endlich. „Was für ein Kauderwelsch? Willst du mich utzen, raucht’s dir im Kamin?“
„Nein... nein, Ursel, durchaus nicht... die Mumie mein ich... da draußen auf dem Gang. — Er... er... der Pharao, der König von Ägypten. Kommen Sie, schauen Sie doch her... hier.“
Er lockte die Magd hinaus.
„Saperlott,“ schrie Ursel, als sie nichts sah wie das Bündel. „Willst du mich zum Besten haben? Soweit ist’s denn doch noch nicht mit uns gekommen. Ich will sehen, wer Meister ist, du oder ich...“
Hans stürzte Hals über Kopf die Vorplatztür hinaus und in fünf Sätzen die Treppe hinab.
Am andern Tag hatte er sich aber bereits wieder soweit gefaßt, daß er von neuem beginnen konnte: „Ursel, sollen denn die Sachen noch lang im Gang stehen, die Kiste und das andere Paket?“
„Warum frägst du?“ entgegnete die Magd. „Sind sie dir im Weg?“
„Nein, nein, durchaus nicht, im Gegenteil. Ich freue mich, daß die Sachen da sind. Ich interessiere mich dafür, auch Suse. Wir möchten die Gegenstände mal von inwendig besehen.“
„Was?“ rief Ursel erzürnt. — „Die ‚Gegenstände‘ — — —. Die ‚Gegenstände‘ wollt ihr durchschmusen? Was habt ihr in meinen Sachen verloren? Überall müßt ihr eure Nase drin haben.“
„Das sind Ihre Sachen?“ stotterte Hans und machte überlebensgroße Augen, „den König von Ägypten schenkt er Ihnen — Ihnen — Ihnen — na, da können Sie sich aber freuen.“
„Freuen soll ich mich?“ rief Ursel und rückte ihm auf den Leib. „Sag’s noch einmal, und du wirst es büßen.“
Hans flüchtete. Verwirrt keuchte er: „Da können Sie sich aber freuen. Das hätt’ ich nicht im Schlaf gedacht — Ihnen — Ihnen schenkt er den Pharao.“
Hinterdrein kam Ursel. „Ich will euch lehren, mir Mordgeschichten vom Pharao zu erzählen,“ schalt sie. „Wartet, euch sticht der Hafer. Nichts hört man mehr von dir und Suse als vom Pharao. Euch ist eine Schraube los. Gleich will ich dir einen Pharao mit dem Kochlöffel geben.“ —
„Kriegen wir bald zu sehen, was in den Paketen ist?“ fragte Suse einige Tage darauf schüchtern Ursel, als Hans sie auf Kundschaft ausgeschickt hatte.
„Niemals,“ entgegnete Ursel, „zur Strafe für eure Neugier.“
Theobald, der sich ebenfalls für die Mumie interessierte, erklärte eines Tages, er werde, um allen Streitigkeiten ein für allemal ein Ende zu machen, hingehen und die Mumie rauben.
„Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni mit erschrecktem Gesicht. „Du weißt doch, Frau Cimhuber verachtet dich. Wie kannst du es wagen, ihr Haus zu betreten?“
„Abwarten,“ entgegnete Theobald, „die Sache will überlegt sein.“
Inzwischen kam der Tag immer näher heran, an dem der Missionar erwartet wurde. Immer aufgeregter wurde Frau Cimhuber, und eines Morgens da konnte sie sich endlich, endlich sagen: „Heute kommt mein Sohn.“ Hoch schlug ihr Herz, und immer wieder suchte sie das Zimmer auf, das zu seinem Empfang bereitet war. — Es war Susens Zimmer, das der Missionar in seiner Kindheit bewohnt hatte und das er jetzt wieder beziehen sollte. Drum war das kleine Mädchen in ein Gemach neben der Negerstube verbannt worden.
Ein Waldstrauß, den die Kinder am Sonntag mit Ursel geholt hatten, schmückte Herrn Edwins zukünftiges Reich. Die Mullgardinen am Fenster leuchteten blütenweiß, und in der Ecke stand ein kleiner Schrank, der angefüllt war mit den Spielsachen aus des Missionars Kinderzeit. An Frau Cimhubers Seite durften sich die Doktorskinder das festlich geschmückte Zimmer betrachten. Ihre leuchtenden Augen flogen bewundernd durch den Raum, und Suse sagte leise vor sich hin: „Wie an einem Weihnachtsfest so schön ist’s hier.“
Die Pfarrfrau küßte sie und sagte leise: „Mein liebes, liebes Kind.“
Geschmeichelt fuhr das kleine Mädchen fort: „Ach, wenn wir doch so artig wären, wie Ihr Sohn gewesen ist, nicht wahr, Frau Pfarrer? Dann hätten Sie mehr Freude als jetzt. Dann würden Sie sich niemals über uns ärgern.“
Die alte Dame strich Suse liebkosend über den blonden Scheitel.
Hier runzelte Hans die Brauen und sagte seiner Schwester etwas später erzürnt: „Du wolltest dich natürlich bei ihr anschmusen, alte Schmeichelkatze; ich merkte es wohl. Schäme dich. Gepiepst hast du, als könntest du keine drei zählen.“
Jetzt aber fragte Suse Frau Cimhuber weiter: „Er bleibt doch lange da, der Herr Edwin, nicht wahr, Frau Pfarrer?“
„Ich weiß es nicht, Kind,“ erwiderte jene. „Mein Edwin ist krank. Aber wir pflegen ihn wieder gesund, nicht wahr? Jeden Tag muß er spazieren gehen. Bald bekommt er wieder rote Backen und wird frisch und blühend. Alle seine Leibgerichte bekommt er.“
„Ißt er auch Kalbshaxen und Knödel gern?“ fiel Hans schüchtern ein.
Hier war es nun an Suse, die Brauen zu runzeln und hernach ungehalten zu ihm zu sagen: „Sie hat natürlich gemerkt, daß nur du die Kalbshaxen wolltest. Du brauchtest sie doch an einem solch schönen Tag durch deine Gefräßigkeit nicht zu kränken. Toni hat auch gesagt: ‚Das ist ein Markstein in Frau Cimhubers Leben.‘“ —
Inwiefern man an einem Markstein in seinem Leben nicht an Kalbshaxen mit Knödeln erinnert werden dürfe, war Hans schleierhaft, und er[S. 105] sah Suse deshalb wie versteinert an, um hernach zu erklären: „Aber so was Dummes, aber so was Dummes, Suse! Seit der Herr Missionar kommt, meint man grad, du bist närrisch. Wie verdreht bist du. Immer piepst du so und gehst wie auf Eiern und tust so fein, grad als wärst du die Kaiserin. Ich kann es bald nicht mehr mit ansehen. Theobald hat auch gesagt, wenn du so fortmachst, wirst du eine auf Draht gefädelte Zierpuppe.“
Um vier Uhr wurde der Missionar erwartet. Kurz nach eins lagen auf der Pfarrfrau Bett schon der schwarze Hut, ihr Schleier und die Handschuhe bereit, die sie anziehen wollte, um ihrem Sohn zum Bahnhof entgegen zu gehen. Je weiter die Stunde vorschritt, je unruhiger wurde sie. Ursel fürchtete schon, sie würde krank werden.
Auch die Doktorskinder waren in großer Aufregung. Nach Schulschluß eilten sie zum Bahnhof, wo Toni und Theobald sich bereits eine Nische neben dem Hauptportal ausgesucht hatten; und hier erwartete die ganze Gesellschaft nun Mutter und Sohn.
Sie mußten sich eine gute Weile gedulden. Ein Schwarm junger Mädchen kam durch das Portal, ein Herr, der seine Zigarre wegwarf, ein paar schwatzende Frauen. — Frau Cimhuber mit ihrem Sohn kam immer noch nicht.
„Da sind sie,“ flüsterte plötzlich eins der Kinder. — Suse fühlte, wie ihr Herz still stand.
Die Pfarrfrau kam daher und an ihrer Seite — er... er... nein, das konnte doch nicht er sein, nicht Herr Edwin. — Wie den Engel Gabriel hatte sie sich ihn vorgestellt. Und nun ging dort ein gebrechlicher, kranker Mann. —
Suse mußte an ihren Zeichenlehrer denken, den alle Mitschülerinnen sehr häßlich fanden. Dem sah Herr Edwin ähnlich. Konnte er’s denn sein?
Hans stieß seine Schwester an und sah ihr bedeutungsvoll in die Augen. Susens Herz zog sich immer mehr zusammen und schmerzte sie wie von lauter kleinen Glassplittern angeritzt.
„Rappeldürr wie ein Fenchelstock ist der Edwin,“ brach endlich Theobald das Schweigen. Entrüstet fuhr Toni auf: „Dummes Geschwätz. Über einen Missionar spottet man nicht. Vater sagt auch, du bist der grünste Junge, der ihm vorgekommen ist.“
Eine Zornesröte stieg Theobald in das Gesicht. — „Weil du mich so abkanzelst,“ rief er, „werde ich mich rächen. Ich breche heute noch bei Frau Cimhuber ein und mache mich an die Mumie ran.“
Alle durchfuhr ein Schreck.
„Nein, Theobald, das tust du nicht,“ rief Toni. Auch Suse wollte[S. 106] zürnen. Aber in ihrem Herzen lockte plötzlich der Versucher: „Theobald hat recht. Gewiß, er hat recht. Eine Enttäuschung habt ihr schon erlebt. Nun sollt ihr wenigstens eine Überraschung haben, eine freudige Überraschung. Nur Mut, nur nicht so kleinlich.“
„Toni,“ stotterte sie da, „Toni, am Ende ist es keine Sünde. — Eine Mumie ist doch nicht wie ein gewöhnliches Paket aus Europa. Das ist doch was Außergewöhnliches.“
„Ich leid’ es auf keinen Fall, Suse.“
„Wir wollen’s ja nur begucken, nur einmal schnell angucken,“ drängte Suse. „Du hast ja selbst gesagt, Toni, der gebildete Mensch muß wissen, wie eine Mumie aussieht.“
„Natürlich gehen wir ihr an den Kragen,“ rief Theobald laut dazwischen.
Seine Schwester seufzte tief.
„Aber, Toni, sei doch nicht so sauer wie ein Essighafen,“ bat Theobald, „und mach lieber mit.“
Wieder seufzte die Schwester und sagte dann schweren Herzens: „Allein laß ich dich nicht hingehen, Theobald, sonst gibt’s wieder gräßliches Unheil.“
„Wann soll die Mumie durchforscht werden?“ fragte der Bruder jetzt.
„Um acht Uhr, gelt, Suse,“ meinte Hans.
„Ja, ja, das ist die rechte Zeit. — Frau Cimhuber hat nämlich gesagt, wir sollen gleich nach Tisch in unser Zimmer gehen. Und dann ist Ursel in der Küche und wäscht das Geschirr und klappert gräßlich damit und singt Volkslieder und Choräle und hört nichts.“
„Vorzüglich,“ rief Theobald, „dann setzt eure Lampe auf die Fensterbank zum Zeichen, daß alles sicher ist und daß wir kommen können.“
Nach dieser Vereinbarung trennten sich die Verschwörer, Suse mit einem tiefen Seufzer. —
Bei Tisch daheim im Hause der Frau Cimhuber ging es heute recht feierlich zu.
Unnahbar und ihnen weltenfern entrückt, kam der Missionar Hans und Suse vor. Susens tiefen Knicks beim Eintreten schien er ebensowenig beachtet zu haben wie Hansens Verbeugung, die tiefste Ehrerbietung bekundete. — Und nachher während des Mahles, als er ein Glas Wasser verlangte und Hans auf ein Zeichen der Pfarrfrau davonstob und wiederkehrend stolperte und sich und Herrn Edwin bis zum Ellbogen naß goß und Entschuldigungen stammelte wie ein verwirrter Kellner, verzog er keine Miene.
Suse aber glaubte unter den Tisch kriechen zu müssen aus Scham für ihren Bruder.
Da hob der Missionar plötzlich seine Augen, sah Suse lange an, dann Hans.
Dem kleinen Mädchen klopfte das Herz, und Hans verschluckte sich vor Schrecken. — Jetzt sah Edwin Suse wieder an. Ihr Atem stockte. — Sollte er? — Sollte er...
Nein, das ging ja nicht an. — Er war ja nicht der liebe Gott. — Er konnte ja nicht wissen, daß sie vorhatte, einmal Missionarin zu werden.
Einen Augenblick schwand ihre Angst. Da kam ihr plötzlich ein anderer schrecklicher Gedanke.
Vielleicht hatte er ihren Plan mit der Mumie erraten! Wie ein Frevel kam ihr jetzt der Vorsatz vor, den sie vorhin so leichten Herzens gefaßt hatte.
Und nach Tisch, als die Zeit immer näher kam, in der die kleinen Verschwörer eintreffen mußten, wurde sie ganz mutlos.
„Hans, lauf’ runter,“ drängte sie schließlich, „und sag’ Toni und Theobald, sie sollen nicht kommen.“
„Warum nicht gar, ich bleib’ hier,“ entgegnete er.
„Nein, Hans, du gehst.“
„Nein, ich bleib’ hier.“
„Doch, du gehst.“
„Das tu ich nicht, ich beseh’ mir die Mumie.“
„Nein, nein, Hans, das dürfen wir nicht. Wir stellen kein Licht ans Fenster, wie wir gesagt haben. Mit einemmal fühl’ ich ganz genau, daß es nicht recht ist.“
„Aber, Suse, das ist jetzt zu spät, das hättest du früher fühlen müssen. — Ich will jetzt, daß wir das Licht hinstellen.“
Und damit hatte er auch schon die Lampe ergriffen und wollte zum Fenster gehen.
In demselben Augenblick griff auch Suse danach und mahnte: „Hans, laß los; es gibt eine Feuersbrunst.“
„Nein, laß du los.“
Feindlich sahen sich die beiden an. Da klingelte es schwach an der Flurtür.
Sie fuhren zusammen und setzten zitternd die Lampe hin.
„Sie sind da,“ hauchte Suse. „Hans, jetzt ist es zu spät.“
Leise öffneten die beiden die Tür, die ins Treppenhaus führte, und herein schlichen der Stadtvetter und die Base. Toni flüsterte: „Der Vater und die Mutter sind ins Konzert. — Keiner weiß, daß wir hier sind.“
Theobald aber drängte: „Wo ist die Mumie?“
Zitternd zeigte Suse auf den Ballen in der Ecke. Theobald umfing ihn mit kräftigen Armen und schleppte ihn in Susens Zimmer neben[S. 108] der Negerstube. Aus der Küche tönte es laut: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen?“ Wie im Takt klapperte dazu das Geschirr.
Theobald rollte den Ballen einige Male mit seinem Fuß hin und her und murmelte: „Na, wenn das ein Pharao ist, bin ich der Sultan von Marokko.“
„Rasch, rasch, mach auf, daß wir sie wieder an ihren Platz zurückstellen,“ flehte Suse, „rasch, Theobald.“
Die Vettern begannen im Schweiß ihres Angesichts geräuschlos die dicken Stricke zu lösen, während Suse das Licht hielt und Toni mit einer Schere die Nähte löste.
Im Nebenzimmer hörte man Frau Cimhuber und ihren Sohn reden. Doch es währte nicht lange, so verstummten die beiden, und es wurde still.
„Jetzt packt er seine Geschenke aus,“ flüsterte Theobald.
Aber schon nach einer Weile wurde es im Nebenzimmer wieder laut: eine Geige wurde gestimmt, und gleich darauf begann ein wunderschönes Spiel.
Der Missionar geigte.
„Er spielt,“ sagte Suse verklärt, und ihr ganzes Gesicht leuchtete. Ihr Vorbild war also doch etwas Besonderes und überstrahlte die andern Sterblichen. Er spielte so schön, wie sie es noch nie gehört hatte.
„Hans, horch,“ flüsterte sie und faßte ihn am Arm, „horch.“
Aber es bedurfte dieser Aufforderung nicht. Hans stand da mit gänzlich verändertem Gesicht. Auch ihm kam es vor, als habe er noch nie jemand so schön spielen hören.
Selbst Theobald lauschte erstaunt und meinte: „Das kann doch nicht Herr Edwin sein.“
In diesem Augenblick machte Toni ein Zeichen Und wies auf ein Loch oben in der Wand, durch das einmal ein Klingelzug geführt hatte, und das unverschlossen geblieben war. Dort konnte man durchsehen. Sofort schleppten die beiden Mädchen einen Tisch herbei, kletterten darauf und spähten in das Zimmer nebenan.
„Und ist sein Antlitz auch noch so verbrannt, das Mutteraug’ hat ihn doch gleich erkannt,“ deklamierte Toni leise vor sich hin; denn im Nebenzimmer bot sich ihr ein rührendes Bild.
Im Lehnstuhl saß mit gefalteten Händen die Mutter des Missionars, wandte kein Auge von ihrem Sohn und achtete nicht der Tränen, die in ihren Schoß fielen. Ihr Kind spielte immer schöner mit einem weltentrückten Ausdruck, und nur von Zeit zu Zeit streifte ein leuchtender Blick seine Mutter.
Inzwischen waren auch Hans und Theobald auf den Tisch gestiegen und drängten ihre Köpfe zwischen den beiden Mädchen durch. Keiner[S. 109] sagte ein Wort. Alle lauschten atemlos. Schließlich brach der Missionar sein Spiel ab, legte seine Geige vorsichtig auf das Klavier und sah sich nach einem Stuhl um.
„Setz dich, Edwin,“ bat die Mutter, „setz dich, mein liebes Kind, und ruh’ dich aus, es wird dir sonst zuviel für den ersten Abend.“ Und sie führte ihn zum Sofa und legte ihm vorsichtig ein Kissen in den Rücken.
„Wie schön ist es daheim bei dir, Mutter,“ sagte er und griff dankbar nach ihrer Hand. — „Wie schön!“ Er lehnte sich müde zurück und sah sie leuchtenden Auges an.
„Nimmt der Edwin seiner Mutter alle weichen Kissen weg,“ flüsterte Theobald. „Na, wenn ich einmal nach Hause käme, und es wär’ vom Krieg und ich hätt’ eine Kugel im Rücken und könnt’ nur auf einem Bein herumhuppen, soviel weiß ich, meiner Mutter nähm’ ich die Kissen nicht weg. Wie unmännlich! — Komm, Hans, an die Gewehre,“ fuhr er dann fort. — Sie kehrten zu der Mumie zurück.
Toni und Suse blieben auf ihrem Beobachtungsposten stehen und gewahrten, wie Frau Cimhuber sich neben ihrem Sohn niederließ.
„Gelt, Edwin?“ fragte sie, seine Hand nehmend, „nun bist du doch auch glücklich? Schwer ist dein Beruf. Aber es geschieht ja zur Ehre des Herrn. Nicht jeder kann ein großer Künstler werden. Und es ist ja auch der Wunsch deines Vaters immer gewesen, daß du Missionar würdest, und du bist doch auch glücklich? Nicht wahr? Vielleicht hättest du ja ein großer Künstler werden können. Aber so führst du doch ein reicheres, gottwohlgefälligeres Leben?“
Er hustete, und man merkte ihm wohl an, wie erschöpft er war. Dann sagte er einfach: „Ja, Mutter.“
„Er wollte Künstler werden,“ flüsterte Toni, „genau wie ich. Aber ich glaube, es wird nichts draus. Der Vater will nichts mehr davon hören. — ‚Schwamm drüber‘, hat er gestern gesagt.“
Suse hörte nicht zu. Sie stand noch immer da mit gefalteten Händen und strahlenden Augen.
Wie schön, wie schön hatte Herr Edwin gegeigt. So schön wie sonst niemand auf der Welt!
Jetzt sah Toni, wie im Nebenzimmer die Tür zum Gang aufging und Ursel eintrat. Sich mit ihrer Küchenschürze die Augen abwischend, sagte sie: „So schön hat der Herr Missionar gespielt, so schön, ich habe gemeint, die Orgel geht am Sonntag in der Kirche.“
„Setzen Sie sich zu uns, Ursel,“ bat Edwin.
„Ach nein, vielen Dank, ich habe soviel zu tun.“
„Immer, immer zu tun, Ursel,“ meinte Edwin Cimhuber, „gerade noch wie früher.“
„Ja, die Pflicht geht vor, Herr Edwin,“ philosophierte Ursel, „und Arbeit versüßt das Leben.“
Wenige Minuten später war sie schon wieder nach der Küche unterwegs.
Toni war begeistert von der Szene, die sie von ihrem Auslug in der Höhe wahrgenommen hatte.
„Selbst Ursel hat einen versöhnlichen Gesichtsausdruck heute,“ flüsterte sie.
Im nächsten Augenblick aber zitterte sie wie Espenlaub und suchte vor Schreck nach einem Halt. Auf dem Flur erscholl Geschrei. — Ursels Stimme. — Theobald, Hans und Suse ließen vor Schreck das Bündel, an dem sie trennten, hinfallen und schauten sich entsetzt an.
„Gestohlen, gestohlen, die Matratze ist fort. Diebe, Diebe,“ rief es vor der Tür. — Jetzt in Frau Cimhubers Stube: „Denken Sie, Frau Pfarrer, die Matratze ist fort, sie ist gestohlen. Vor einer halben Stunde noch war sie da. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Die Kinder, die haben mal wieder die Tür aufstehen lassen. Sie ist gestohlen, sie ist gestohlen.“
„Was sagt sie... die Matratze?“ stotterte Theobald.
Im nächsten Augenblick schoß Ursel auch schon wie eine Glucke mit gesträubtem Gefieder zur Tür herein und erblickte die Kinder mit der Trennschere und den Messern in der Hand. Sie ergriff ohne Federlesens das halb ausgepackte Bündel, riß die letzte Hülle los und entrollte vor den Augen der Verschwörer eine blau und weiß gestreifte Matratze. Keine Mumie. — Die geheimnisvolle Mumie war Ursels Matratze.
Suse war blaß wie der Tod.
Und nun stand auch die Pfarrfrau in der Stube, entdeckte den kostbaren Gegenstand und atmete erleichtert auf.
„Da ist sie ja, Ihre Matratze, Ursel,“ sagte sie, „und schon fix und fertig ausgepackt.“
„Habt ihr das getan?“ fragte sie Suse. Diese nickte mit schuldigem Gesicht. Toni aber kletterte beschämt von ihrem Tisch herunter, Theobald sprang mit höflicher Verbeugung in die Höhe, und Hans machte ein Gesicht wie die Katze, wenn’s donnert.
Den vier Ertappten war es schwül zumute. Die Pfarrfrau sagte: „Ihr wolltet Ursel überraschen, ihr wolltet ihr eine Freude machen, nicht wahr? Sie hat sich eine Matratze von ihren Verwandten kommen lassen. Ihre eigene hat sie in mein Bett geschafft und meine hat sie meinem Sohn gegeben. Edwins Matratze ist zu hart. Er muß zwei haben, sonst kann er nicht schlafen. Er ist krank. — Ihr lieben, lieben Kinder! Ihr wußtet, wie sie heute vor lauter Arbeit nicht zu Atem kommt. Nun kommt mal mit zu meinem Sohn!“
„Hier sind die Diebe, die Missetäter,“ begann sie zu dem Missionar, indem sie Hans und Suse zärtlich bei der Hand faßte, „unsere kleinen Heinzelmännchen, die Ursel die Matratze geöffnet haben. Sie wollten ihr die Arbeit abnehmen. Nicht wahr?“ fragte sie und strich den beiden über den Kopf.
„Nein, nein,“ stotterte Suse, „helfen wollten wir nicht, wir wollten ja nur sehen... wir wollten nachsehen — wir meinten, die Mumie sei drin.“
„Oh, dieser Blödsinn von Suse,“ dachte Theobald und schlug die Augen zur Decke empor.
„Was sagtest du, mein Kind?“ forschte Frau Cimhuber. Da fühlte Suse Theobalds Blick auf sich ruhen. Sie schluckte nur zweimal trocken runter vor Schrecken und stotterte: „Wir... wir... wir...“
Doch Frau Cimhuber drang auch gar nicht weiter in sie, sondern forderte sie auf, Platz zu nehmen und eingemachte Früchte zu essen und Kuchen, den sie ihnen hinreichte.
„Du ißt doch auch gern Kuchen, Theobald,“ wandte sie sich an den Stadtvetter.
„Da, nimm dir hier dieses Stück. Dieses ist besonders gut. Du hast’s verdient.“
Theobald knirschte innerlich vor Ärger. Wie die kleinen Kinder wurden sie behandelt, wie die richtigen kleinen Kinder. Und man fütterte sie wie die Piepmätze.
Lieber schon wäre es ihm gewesen, Ursel und der Missionar wären plötzlich aufgesprungen und hätten mit ihm zu boxen angefangen. Aber dazu war wenig Aussicht vorhanden.
Erleichtert atmete er deshalb auf, als Toni nach zehn Minuten aufstand und sich verabschiedete. Und draußen wurde es ihm erst recht klar, in was für einem Backofen er gesessen hatte, und mit dem Ruf: „Wie die Kamele, gerade wie die Kamele haben wir uns benommen,“ sprang er die Treppe hinunter, drei Stufen auf einmal nehmend.
Auch Hans und Suse zogen sich bald zurück, denn ihr Gewissen schlug schuldbewußt angesichts der vielen Liebenswürdigkeiten, die Frau Cimhuber ihnen erwies. —
Am andern Tag zur Mittagszeit sahen sie dann den Missionar wieder. Er war heute wie in der folgenden Zeit sehr zurückhaltend.
In der Schule, wo Suse so viel von dem Besuch des interessanten Afrikareisenden erzählt hatte, der Frau Cimhuber und mit ihr ein wenig auch Hans und Suse beehren werde, begann man sich bereits zu wundern, daß die spannenden Geschichten, die Suse von ihm erhofft hatte, ausblieben.
Nun nahm in diesen Tagen Susens Klasse in der Geographiestunde gerade die Westküste Afrikas durch. — Dorther kam Herr Edwin — von der Goldküste.
„Ach, wenn er doch einmal reden würde,“ dachte Suse voll Verlangens.
Welche interessanten Dinge würde man da zu hören bekommen! Und welch bedeutenden Eindruck würde Suse in der Schule hervorrufen, wenn sie verkündete, daß sie einen Menschen kenne, der selbst in jenen Ländern gewesen war, der mit eigenen Augen die Menschen, die Tiere, die Pflanzen dort, alles, alles gesehen hatte, der viel mehr wußte, als in den Geographiebüchern stand. Wenn er nur redete!
Da, am Tage vor der Geographiestunde, konnte Suse sich nicht mehr beherrschen und fragte mit einemmal bei Tisch, zu Hans gewandt, während sie im Grunde Herrn Edwin meinte: „Du Hans, wo seid ihr jetzt in der Geographiestunde? Wir sind jetzt an der Elfenbein-, Sklaven- und Goldküste; da herum.“
„Wir nicht!“ sagte Hans und aß ruhig weiter. „Wir nehmen Deutschland durch.“
Frau Cimhuber und ihr Sohn aber hatten von der Unterhaltung überhaupt nichts gehört.
Suse räusperte sich deshalb und sagte lauter als vorher: „Hans, wir sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen Sklaven-, Gold- und Elfenbeinküste.“
„Das hast du ja eben erst gesagt,“ meinte Hans und sah sie groß an.
Da wandte sich Suse unter heftigem Erröten an Frau Cimhuber selbst, indem sie sagte: „Wir sind jetzt in der Geographie an der afrikanischen Sklaven-, Gold- und Elfenbeinküste, Frau Pfarrer.“
„Nein, das ist ja interessant,“ meinte die Pflegemutter mit einemmal aufmerksam. „Wie gut trifft sich das. Du, Edwin, die Kinder nehmen jetzt in der Schule die Goldküste durch,“ sagte sie zu ihrem Sohne. — „Da weißt du ja am besten Bescheid.
Soll euch mein Sohn einmal davon erzählen?“ fragte sie die Geschwister.
„Ja,“ riefen beide hochbeglückt.
„Heute abend könntest du’s tun, wenn wir vom Spaziergang zurückkommen!“ forderte die Mutter ihren Sohn auf. „Wie denkst du darüber? hast du Lust?“
„Warum nicht? Sehr gern!“ antwortete er und nickte den beiden zu. Und sie nahmen seine wohlwollenden Blicke hin, als wär’ es schon der schönste Anfang einer Geschichte.
Am Abend nach Tisch versammelte sich dann die ganze Gesellschaft;[S. 113] Frau Cimhuber und ihr Sohn saßen im Sofa, Ursel und die Kinder auf Stühlen, und auf seinem Ständer in der Ecke der Negergott, der wieder auf seinen alten Platz verpflanzt worden war, nachdem die Kinder vor anderthalb Jahren ihre Pflegemutter gebeten hatten, ihn doch wieder hervorzuholen, sie fürchteten sich nicht mehr vor ihm.
Totenstille herrschte, als Herr Edwin zu erzählen begann. Alles lauschte. Nur zuweilen hörte man Hans und Suse tief atmen. —
Von den großen Weltmeeren, über die er gefahren war, erzählte er, von den großen afrikanischen Wüsten, wo nachts der Ruf wilder Tiere herüberklang, von den undurchdringlichen Urwäldern, wo sich Schlingpflanzen mit Tausenden von bunten Blumen von Baum zu Baum zögen und ein köstliches Gewebe vor den Türen des geheimnisvollen Waldes bildeten.
Hansens und Susens Augen glänzten.
Wie ein Schauer ging es zuweilen durch sie durch, als er von der Größe und Schönheit von Gottes wunderbarer Welt sprach, und eine große Sehnsucht nach der Ferne kam über sie. —
Das war ja alles viel, viel tausendmal schöner, als sie sich vorgestellt hatten.
Da redete Herr Edwin aber mit einemmal von ganz anderen Dingen, und die Mienen der Kinder verdüsterten sich. Von den armen, elenden Menschen in den Tropenländern sprach er, die zuweilen ein Leben führten, schlimmer als die Tiere, die verkamen in geistiger und leiblicher Not. In ihrer Angst errichteten sie sich selbst Götter, aber was für Götter! Jammerbilder, Fratzen, sogenannte Fetische, die zuweilen nichts anderes waren als ein Stück bemalten Holzes oder bemalten Steines.
„Dort die Figur in der Ecke,“ meinte Herr Edwin, auf das Negergöttlein auf seinem Ständer zeigend, „ist ein ganz besonders schöner Gott, verglichen mit vielen andern, die ich gesehen habe. — Ein wirklicher Staatsgott!“
„Ein Staatsgott?“ sagte Suse ungläubig.
Hans mußte das Lachen verbeißen, wenn er an den drolligen Wicht dort hinten in der Ecke dachte, dem der rechte Mundwinkel herabhing, als hätte er jahrelang eine Tabakspfeife drin gehalten und könne die Lippen nun nicht mehr heraufziehen.
„Den beten sie an?“ fragte Suse erschreckt.
„Ja, das ist ihre Gottheit!“ sagte Herr Edwin fast schmerzlich. „Ein solches Stück Holz ist ihr Gott.“ — „Ach, wie leiden sie unter dem Aberglauben!“ fuhr er fort. „Sie glauben sich von hunderten von bösen Dämonen umgeben. Das sind die Seelen der Verstorbenen, die sie Tag und Nacht verfolgen und nur auf Greuel sinnen. — All ihr Unglück[S. 114] schreiben sie ihnen zu, alle ihre Krankheiten, und dabei ist es doch nur die eigene Unsauberkeit und Unwissenheit, die ihre Krankheiten begünstigen.“ —
Der Herr Missionar erzählte nun den Kindern einzelne Fälle von besonders unglücklichen Menschen, die er kennen gelernt hatte.
Hans und Suse rückten mit ihren Stühlen immer näher an den Erzähler heran, fast auf ihn drauf.
Sie waren jetzt ganz mit ihm in Afrika. — Es war Nachmittag. Sie fühlten die heiße Tropensonne, die auf sie herunterglühte, sie gingen durch hohen, gelben Sand, der ihnen stechend wie Nadeln durch die Kleider drang, sie sahen die Blätter der Palmen, die am Wege in der Glut der Sonne welkend herabhingen. Sie litten in der erstickenden Schwüle brennenden Durst. Sie fühlten, wie sie gleich Herrn Edwin von Fieberschauern geschüttelt wurden und vor Müdigkeit kaum mehr vorwärts schreiten konnten. — Aber sie mußten weiter, sie mußten vorwärts, denn vor dem nächsten Dorf am Wege lag ein Sklave — man hatte es ihnen gesagt — der vom Innern aus den Bergen mit einer Last gekommen war, und dem durch einen Unfall beide Beine zerschmettert worden waren. Voll rohen Sinnes hatten ihn seine Begleiter am Wege liegen lassen, unbekümmert darum, ob er in der Hitze sterbe oder nicht. — Nur ein Fetischpriester hatte ihm ein Amulett aus Leopardenhaar und Katzenwirbelknochen verkauft, das sollte ihn wieder gesund machen.
Der Missionar und Hans und Suse erreichten den armen Menschen und sahen ihn vor sich liegen, ein Bild des Jammers. Herr Edwin verband ihn unter ihren Augen, und ihr Herz war von Dankbarkeit gegen den Helfer erfüllt.
Je mehr der Herr Missionar erzählte, um so mehr empfand Suse einen schweren Druck auf ihrer Brust. Es waren ihre Pläne über Afrika, die sie quälten und bedrückten. Sie sah sich wieder dort mit ihrem Hofstaat von Affen und Papageien in einem Schloß wohnend, das viel schöner war als das der „Fremdlinge“, umgeben von Sklaven und gefeiert wie eine Königin. — Und daneben erblickte sie Herrn Edwin, der ein so hartes, ein so einsames und entbehrungsreiches Leben führte, ohne Lohn, ohne Dank, nur von dem Glauben beseelt, daß er Gutes tue Gott zur Ehre.
Vor Beschämung wagte Suse nicht mehr aufzusehen. Und schließlich, in einer Pause, da hielt sie’s nicht mehr aus und sagte: „Ich hab’ mir auch vorgenommen, ich wollte Missionarin werden, Herr Edwin!“
Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen. Suse saß da wie vor ihrem Todesurteil.
Aber der Herr Missionar sagte ruhig: „Warum solltest du das nicht werden, Kind?“
Suse glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. — Was hatte er gesagt? Sie durfte auch Missionarin werden, sie?
„Das darf ich auch werden?“ fragte sie glückselig. „Gerade so wie Sie, Herr Missionar?“
„Ja,“ sagte er.
Auch Hans sah begeistert zu ihm hin. Da verdüsterte sich aber Susens Miene wieder und sie beichtete stockend: „Ich hab’ aber immer gedacht, Herr Missionar, wenn ich einmal Missionarin bin, möchte ich dafür schöne Sachen aus fremden Ländern haben.“
„Aber, Suse!“ rief die Pfarrfrau entsetzt.
„Nun,“ sagte der Missionar ganz ruhig, „das ist gar nicht so schlimm. Du kannst auch schöne Sachen dafür haben. Ich glaube aber, du wirst selbst bald einsehen, daß die im Grunde nebensächlich sind, und daß deine schönste Belohnung das Gefühl ist, den Menschen geholfen zu haben.“
„Helfen wollte ich immer, Herr Missionar,“ sagte Suse mehr flüsternd als redend.
„Die Helferei kenn’ ich,“ murmelte Ursel. Aber keiner hörte auf diesen Einwurf. Die Kinder achteten nur auf Herrn Edwin, der jetzt sagte: „Das ist ein schöner Vorsatz, den du da gefaßt hast, Suse, andern zu helfen und Gutes zu tun. — Die Welt ist ja so groß, und für jeden ist Platz drin, der etwas Tüchtiges und Gutes leisten will. Auch ihr könnt helfen. Ihr müßt nur die Zeit in euerer Jugend anwenden, damit ihr was lernt und hernach auch was könnt. Denn wer selbst nichts kann, kann auch andern nicht helfen.“
„Das hat auch unser Vater schon gesagt,“ fiel Hans ein, „wenn ihr andern helfen wollt, müßt ihr erst selbst was können.“
Herr Edwin nickte und erzählte weiter, und die beiden hingen jetzt mit doppelter Begeisterung an seinen Lippen, denn sie hatten die stolze Empfindung, daß auch sie ein Recht hätten, dermaleinst große Taten zu vollbringen wie Herr Edwin.
„Sehen Sie, Ursel!“ sagte Suse vor dem Zubettgehen strahlend zu der alten Magd. „Ich kann auch Missionarin werden. Der Herr Edwin hat’s gesagt.“
Ursel seufzte und sagte: „Wenn’s der Herr Edwin gesagt hat, wird’s wohl stimmen.“
Lange konnten die Geschwister heute abend nicht einschlafen. Herrn Edwins Worte beschäftigten sie noch immer, und sie hatten ein Gefühl, als wären sie heute ein paar Jahre älter geworden und wüßten mehr als andere Leute. Die Welt erschien ihnen so groß und wunderbar wie nie zuvor.
Von Tag zu Tag schlossen sich die Kinder nun mehr an den Besucher an und hörten manches gute Wort von ihm, das sie nicht so leicht vergaßen. Fast täglich sah man sie, glühend vor heimlicher Freude, an seiner Seite durch die Straßen gehen. Wer konnte sich auch rühmen, mit einem richtigen, leibhaftigen Missionar spazieren zu gehen, der so viele fremde Länder kannte, und so viel zu erzählen wußte? — Auch lustige Dinge berichtete er ihnen hin und wieder. Ach, einmal war sogar ein Neger, der nicht mehr viel sah, zu Herrn Edwin gekommen und hatte ihn gebeten, ihm ein paar Hunde- oder Katzenaugen einzusetzen, damit er wieder besser sehen könne. —
Leider verging die schöne Zeit, in der Herr Edwin da war, nur allzu rasch. Nach ein paar Wochen schon, als er sich erholt hatte, ging er wieder fort. Hans und Suse begleiteten ihn allein zur Bahn, da die Pfarrfrau, von Abschiedsschmerz überwältigt, ihm das Geleite nicht geben konnte. Sie hatte eine Ahnung, daß sie ihn nie mehr wiedersehen werde.
Hans sah auf dem Gang zur Bahn finster drein, um seine schmerzlichen Gefühle zu verbergen. Suse weinte zum Herzzerbrechen. Sie ließ es sich nicht nehmen, Herrn Edwins Geige bis zuletzt zu tragen und eigenhändig in das Gepäcknetz über seinen Platz zu legen.
Noch einmal drückte er ihnen die Hand zum Abschied und sagte: „Ich bitte euch, bewahret euer reines Herz und bleibet immer gut!“
Dann fuhr er davon. —
Sie sahen ihn niemals wieder. Eines Tages starb er in den fremden Ländern, von denen er Hans und Suse so viel Wunderbares erzählt hatte, und wurde dort im Schatten einer Palme begraben.
Aber das geschah alles zu einer Zeit, als die Doktorskinder nicht mehr bei Frau Cimhuber weilten.
Am nächsten Pfingstfest wurden Theobald und seine Geschwister von ihrem Onkel und ihrer Tante in das Doktorshaus eingeladen. Die Ferienzeit mit Hans und Suse verlief lustig, wie es zu erwarten war. Die ganze Gesellschaft tollte sich nach Herzenslust aus. Ausflüge in die Berge wurden gemacht, alte Bekannte im Dorf aufgesucht. Hans und Theobald strichen die Gartenmöbel an und besserten den Holzzaun des Vorgärtchens aus. Christoph und Henner machten gerade soviel dumme Streiche wie einst ihr Bruder Theobald vor Jahren.
Am letzten freien Tag waren die Kinder bei Christine, dem alten Mütterchen mit dem freundlichen, guten Gesicht zu Gaste gebeten. Punkt zwölf Uhr sollten sie bei ihr sein. Sie zögerten lange.
Da hörte sie endlich helles Lachen und das Laufen von vielen Füßen. Gleich darauf flitzen ein paar helle Köpfe am Fenster vorüber. Die Gäste waren gekommen.
In zwei Sprüngen nahmen sie die steinerne Treppe vor dem Haus und standen atemlos im Stübchen.
„Entschuldige, entschuldige,“ rief Suse, „wir konnten nicht eher kommen. Der Henner ist in den Brunnentrog gefallen und mußte sich erst trocknen und umziehen.“
„Wirst du dich auch nicht erkälten, Kind?“ wandte Christine sich an Henner und strich ihm über das noch feuchte Haar.
„Nein, nein, alles geht vorzüglich,“ meinte der.
Da trippelte sie in die Küche, um das Essen anzurichten.
„Kalbsbraten?“ fragte Suse ganz erstaunt, als sie in die Schüssel sah, die die alte Frau auf den Tisch stellte. — Das war ja ein Luxus, den sich die armen Gebirgsbewohner sonst nur an hohen Festtagen leisteten.
„Kalbfleisch?“ fragte sie deshalb noch einmal in vorwurfsvollem Ton.
Doch Christine verstand Suse falsch und flüsterte mit erschrockenem Blick nach den übrigen Kindern hin: „Mögen sie es nicht, Suse? Ist es ihnen nicht gut genug? Gelt, sie sind an Besseres gewöhnt? Es ist aber doch das Feinste, das wir hier haben.“
„Viel zu fein ist’s,“ rief das Doktorskind. „Eine Suppe wäre gerade gut genug für uns gewesen.“
„Nein, nein,“ wehrte Christine, „Kalbfleisch ist besser.“
Nun halfen Toni und Suse beim Auftragen der Speisen, und die Gesellschaft fing zu essen an.
Die Kinder mäßigten ihren Appetit etwas, weil der Doktor ihnen daheim anbefohlen hatte, Rücksicht auf der alten Frau geringe Vorräte zu nehmen.
Aber Christine beängstigte ihr Maßhalten, und sie fragte deshalb wiederum erschreckt Suse: „Gelt, sie mögen mein Essen nicht? Gelt, sie ekeln sich vor mir, weil ich eine alte Frau bin?“
Da flüsterte Theobald seinen Brüdern zu: „Eßt, ihr Dächse, wie die Nudelgänse, sonst geht’s euch schlecht. Immer Takt haben.“
Da begann die Gesellschaft zuzulangen, daß Christine ihre helle Freude dran hatte.
Ein halber Laib Brot verschwand, ein Kuchen folgte ihm nach, und von dem Kalbfleisch blieb auch nicht mehr viel übrig. In den Wassergläsern schenkte Christine den Kindern Waldbeerwein ein.
Unter fröhlichen Gesprächen verging das Mahl.
Die Doktorskinder brachten Christine einen ihrer alten Lieblingswünsche vor.
„Christine, besuch uns doch einmal in der Stadt!“ rief Suse, „tu es doch.“
„Ja,“ fielen auch die andern ein, „tun Sie es, bitte.“
„Tu es, es wird herrlich,“ meinte Hans. „Dann sollst du alles in der Stadt zu sehen bekommen. Alles, alles.
Den Zoologischen Garten, wo mein Kamel drin steht. Weißt du, das ich mal fast bekommen habe, das gräßliche Tier!“
„Wenn ich dran denke, wie Ursel damals gejammert hat,“ rief Suse, „muß ich noch jetzt lachen. Ich hab’ gemeint, sie wird verrückt.“
„Christine muß vor allen Dingen Ursel selbst sehen,“ erklärte hier Theobald, „diese blitzsaubere Person. Das Herz lacht einem im Leib, wenn man sie ansieht. So gut ist die, so liebenswürdig, so entgegenkommend, ein Engel in Menschengestalt.“
„Und Frau Cimhuber, die ist auch sehr interessant,“ rief Toni.
„Ja, die wird Ihnen den ganzen Tag von ihrem Sohn erzählen,“ meinte Theobald, „bis Ihnen ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Edwin, Edwin, weiter hört man nichts von ihr.“
„Das kann ich vollständig begreifen,“ erklärte Toni. „Sie hat nur einen einzigen Sohn, also redet sie von ihm. Der ist nämlich in Afrika, müssen Sie wissen, Christine, und den größten Gefahren ausgesetzt. Jeden Tag kann ihn der Tod überraschen, und seine Mutter ist fern von ihm.“
Suse nickte.
„Toni hat ganz recht,“ wandte sie sich an die alte Frau. „Nicht wahr, du würdest doch auch in großer Sorge sein, wenn du nur ein einziges Kind hättest und das wäre nicht bei dir und stürbe womöglich eines Tages. Ich denke es mir gräßlich, wenn man nur ein einziges Kind hat und das stirbt einem noch obendrein.“
Christine nickte traurig vor sich hin und faltete ihre Hände.
Da stieß Hans seine Schwester unter dem Tisch an, und Suse biß sich auf die Lippen, erinnerte sie sich doch plötzlich, daß sie eine große Taktlosigkeit begangen hatte.
Christine hatte ja auch nur ein einziges Kind gehabt, eine Tochter, und die war gestorben in demselben Jahre, als Suse geboren wurde.
Rosel hatte den Kindern einmal von diesem Trauerfall gesprochen und zwar mit geheimnisvoll düsterer Miene.
„Gräßlich, gräßlich ist’s gewesen,“ hatte sie geflüstert, „man sollte nicht meinen, daß es solche Menschen gibt. Aber redet nicht davon. —[S. 119] Redet nicht davon, redet nicht davon.“ Mehr hatten sie nicht vernommen. Und die Frau Doktor, die von ihren Kindern gebeten worden war, ihnen einiges von Christines Tochter zu verraten, hatte nur gesagt: „Christine hat sehr viel Trauriges durchgemacht, aber erinnert sie nicht daran. Wenn ihr einmal größer seid, sollt ihr’s wissen.“
Und nun hatte Suse eine solche Dummheit gesagt. Schnell rief sie deshalb dem alten Mütterlein zu, um sie abzulenken: „Das Haus von den Fremdlingen mußt du auch sehen, Christine. Wir führen dich dran vorbei.“
„Und die herrlichen Granadasöhne auch,“ warf Christoph ein. „Wie die geschniegelten Äffchen auf der Stange sehen sie aus. So unmännlich,“ sagte Theobald.
„Und die Kathedrale müssen Sie sich auch betrachten, Christine,“ rief Toni. „Es ist ein rein gotischer, wunderbarer Bau. Wir haben ihn in der Kunstgeschichte neulich durchgenommen.“
„Ja, Kirchen magst du ja so gern,“ stimmte Suse bei. „Da kannst du beten, und Hans und ich werden derweil hinten im Dunkeln zwischen den Säulen auf dich warten.“
„Ins Kino muß Christine auch,“ rief Henner. „Vielleicht dürfen wir mit. Wir dürfen nur jedes Jahr einmal an unserem Geburtstag hin. Und auch nur, wenn’s ein Seestück zu sehen gibt oder ein Aquarium.“
„Und das Museum sehen wir uns alle an,“ rief Hans.
So zählten die Kinder immer weitere Sehenswürdigkeiten der Stadt auf. Einer wollte noch mehr wissen als der andere, jeder den besten Rat erteilen. Schließlich verstand keiner sein eigenes Wort mehr. Christine lachte fröhlich mit. Dabei ermahnte sie die Kinder immer wieder, ja auch tüchtig zu essen. Beim Abschied drängten Hans und Suse noch einmal: „Besuch uns ja, Christine, besuch uns in der Stadt!“
„Vielleicht,“ antwortete die alte Frau nachdenklich, „vielleicht.“
Da sprangen sie die steinerne Treppe hinunter, blieben aber an der kleinen Gartentür noch einmal stehen und riefen: „Gelt, Christine, du kommst? Gelt, du kommst? Sag’ ja, sag’ ja.“
„Wenn der liebe Gott mich gesund erhält, komm’ ich,“ antwortete die alte Frau, und die Kinder stürmten freudig davon.
Auf dem Weg, der zum Dorf hinaufführte, drehten sie sich zum letztenmal um und winkten ihr zu: „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen.“ Dann waren sie ihren Blicken entschwunden. Die alte Frau aber blieb noch lange, in schweren Gedanken versunken, an ihrem Gartenzaun stehen. Sie dachte an die ferne, fremde Stadt, von der ihr soviel erzählt worden war und die sie schon lange einmal besuchen wollte. Nicht der Wunsch nach ihrer Schönheit und ihren Wundern trieb sie dorthin, auch[S. 120] nicht die Doktorskinder allein, sondern Dinge, von denen sie nicht reden wollte...
Seit Wochen waren die Kinder nun schon in der Stadt, und Christine war noch immer nicht gekommen. Sicher hatte sie ihr Versprechen ganz vergessen.
Und auch die Kinder, die in der ersten Zeit viel von ihrem Besuch gesprochen hatten, dachten zurzeit nicht mehr daran. Ganz andere Dinge bewegten sie. Ursel war wieder einmal nicht gut auf sie zu sprechen. — Hans trieb nach Ursels Ansicht die Anmaßung zu weit. Er wollte Geigenstunde nehmen. — Geigenstunde. Außer dem Herrn Missionar hatte nach ihrer Ansicht kaum noch ein anderer Sterblicher die Berechtigung zu geigen. — Und nun Hans erst. — „Der werde doch nie etwas Vernünftiges lernen,“ meinte sie. — „Der Herr Edwin hingegen, der Herr Edwin! Den hätten die Kinder in seiner Jugend mal geigen hören sollen. — Das war eine Freude, das war ein Hochgenuß. Der ergriff den Bogen und die Geige und geigte herrlich wie die Engel im Himmel.“
„Wer’s glaubt!“ hatte Suse keck dazwischen gerufen. „Der Herr Edwin wird grad auch kein Orchestrion gewesen sein, wo man einen Groschen hineinwirft und dann musiziert’s und donnert’s los.“
Kaum war Suse das Wort entfahren, so sagte sie über und über rot: „Nein, das war zu frech von mir. — Ich glaube wirklich, daß Herr Edwin mehr konnte als andere Kinder.“
„Suse, du verdienst den Teller Suppe nicht, den du ißt,“ rief Ursel.
„Und ich?“ forschte Hans, „am Ende ich auch nicht? Aber denken Sie daran, Ursel, meine Eltern wollen es, daß ich Geigenstunde nehme.“
„Meinetwegen,“ brummte Ursel, „geige wo du willst, aber nicht in der Negerstube.“
Die Kinder spitzten die Ohren. Aha, da lag der Hase im Pfeffer! Sie wollte nicht, daß die von Sauberkeit blinkende und blitzende Negerstube verwohnt werde.
Zum Glück nahm sich diesmal die Pfarrfrau Hansens an und bestimmte, daß die Geigenstunde wirklich stattfände.
Zweimal in der Woche geschah’s. Dann kam Herr Schnurr, der Lehrer.
Welch ein verstruwelter, zerzauster Herr! Wie sehr stach Hans daneben ab, gar als er sich jedesmal vor der Stunde schniegelte und bügelte wie ein Offizier und mit blankgewichsten Schuhen und glänzendem Scheitel daherkam.
Sein Lehrer war der Tumult selbst. Sobald sich die Tür der Negerstube hinter ihm geschlossen hatte, traf er umständliche Vorbereitungen zur Stunde. Er band seinen Schlips und Kragen ab, warf sie auf den[S. 121] nächsten besten Stuhl und reckte seinen Hals einige Male befreit in die Höhe. Dann klopfte er mit dem Geigenstock auf den Tisch zum Zeichen, daß der Unterricht beginne. Hans kletterte herzklopfend auf ein noch von Edwin Cimhuber stammendes Pult und stimmte mit Herrn Schnurr seine Geige. Das Spiel begann. Wehe, wenn die Töne falsch herauskamen oder der kleine Junge nicht im Takt spielte! Dann wurde Herr Schnurr zum wilden Löwen. Er stampfte mit dem Fuße auf, er rüttelte an den Stühlen, er sprang im Zimmer umher und fuhr sich in die Haare. Hans zitterte. Der Lehrer drückte seine Geige fester unter das Kinn, zählte laut eins, zwei, drei, sang a, a, a, wand sich in ohrwurmartigen Windungen immer höher, immer höher, bis er auf den Zehenspitzen stand wie eine Tänzerin und mit schmerzlich verzogenem Gesicht in dieser Stellung verharrte.
„Halt, halt,“ schrie er plötzlich und warf die Geige hin, „willst du wohl aufhören, willst du mich ins Irrenhaus bringen!“
Und Hans stand einen Augenblick da mit verglasten Augen und Schweißperlen auf der Stirn.
Dann, als der Geigenlehrer wieder zu sich gekommen war, ging der Tanz aufs neue los.
Im Zimmer nebenan saß Suse und konnte ihr Lachen nicht bändigen. Von Zeit zu Zeit spähte Ursel mit argwöhnischer Miene zur Tür der Negerstube herein, als fürchte sie, der Geigenlehrer prügele die Negerprunkstücke von den Wänden herab oder trommele auf den Polstermöbeln herum, anstatt zu geigen.
Frau Cimhuber aber ging jedesmal spazieren, wenn Herr Schnurr kam.
Einmal trat Ursel bei Suse ein, und als sie das kleine Mädchen lachend vorfand, wollte sie zornig werden. Aber Suse umarmte sie und rief: „Ich kann nicht mehr. So was Schönes hab’ ich noch nie gehört.“
„Laß die Albernheiten,“ meinte Ursel streng.
Aber als sie aus dem Zimmer ging, merkte Suse doch an dem Wackeln ihrer Schultern, wie sehr sie lachte. Also war selbst Ursel für die Geigenstunde gewonnen. —
Nun mußte nur noch für Suse Rat geschaffen werden. Das Doktorskind wollte gern, daß die alte Magd ihr für eine Einladung, die nächste Woche stattfinden sollte, zwei Napfkuchen backe. Ursel aber wollte von einer solch üppigen Tafelei nichts wissen.
„Umstände werden nicht gemacht,“ erklärte sie klipp und klar. „Honigbrot und Butterbrot bekommt ihr und jede zwei Tassen Malzkaffee. Und damit basta.“
„Das ist alles?“ rief Suse und faltete vor Schreck die Hände. „Ist das Ihr Ernst, Ursel? Aber denken Sie an, was das für einen Eindruck[S. 122] auf den Besuch macht. — Meine Freundinnen haben immer Marzipan und Kuchen und Biskuit und Schokolade und Schlagsahne, die reine Konditorei.“
„So, und da schämt ihr euch nicht und eßt das alles auf einmal auf?“ rügte Ursel. „Und das erzählst du mir auch noch? So ein Schwelgerleben steht noch nicht einmal im Kalender. — Sodom und Gomorrha werden nicht mehr lange auf sich warten lassen bei eurem Sündentrubel.“
Suse lachte hell.
Kaum hatte sie sich aber soweit vergessen, da bereute sie es auch schon; denn Ursel sah sie an wie die strafende Gerechtigkeit. Umsonst schmeichelte Suse jetzt: „Bitte, bitte, liebe Ursel, machen Sie mir doch einen Stärkepudding und zwei Napfkuchen. Hans und ich wollen auch eine ganze Woche lang kein Fleisch essen.“
Die Magd schwieg. Suse flehte weiter: „Wenn Sie wüßten, wie gut es die andern Mädchen haben im Vergleich zu mir, würden Sie barmherzig werden. Denken Sie sich, bei manchen gibt es auch süßen Likör und Blumensträußchen.“
„Blumensträußchen könnt ihr haben, soviel ihr wollt. Die könnt ihr euch im Walde holen. Dagegen hab’ ich nichts, aber Stärkepudding gibt’s nicht und keinen Kuchen.“
„Und in der Negerstube wird auch nicht getafelt. Eßt in deiner Stube.“
„Was,“ rief Suse, „fünfzehn Kinder kommen ja gar nicht in mein Zimmer rein. Das ist doch nicht fein für eine Einladung, daß man aufeinander sitzt wie die Heringe. Heutzutage ist alles für Licht und Luft. Meine Freundinnen werden krank vor Hitze in meinem kleinen Zimmer.“
„Ach was, so leicht wird sich’s nicht krank,“ meinte Ursel kaltblütig. „Eßt nicht zu viel und trinkt schön langsam und nicht so viel auf einmal, macht fleißig Durchzug mit Türen und Fenstern und trinkt kaltes Wasser von der Leitung, dann bleibt ihr frisch wie die Fische im Wasser.“
„Aber Ursel,“ rief Suse entrüstet, „glauben Sie, meine Freundinnen kommen zu mir, weil sie Wasser schlucken wollen wie die Fische. Die wollen doch unterhalten sein und was Feines essen.“ —
Das Doktorskind weinte.
Ursel blieb hart.
„Anderer Leute Kinder haben’s viel besser als wir,“ seufzte Suse etwas später zu ihrem Bruder.
„Warum nicht gar!“ rief der entrüstet. „Wer denkt denn an solche Sachen! Wer hat denn so gute Eltern wie du und ich?“
„Freilich, freilich, du hast recht,“ antwortete die Schwester kleinlaut, „aber sie sind ja so weit.“
Suse seufzte für sich allein weiter. Sie hatte große Bedenken, ob ihre Einladung auch schön genug ausfallen würde. Von jeher hatte sie es ja schmerzlich empfunden, daß die meisten Kinder ihrer Umgebung in glänzenderen Verhältnissen lebten, schönere Feste gaben und feinere Kleider anziehen konnten als sie selbst.
Hans und seine Freunde fragten viel weniger nach diesen Äußerlichkeiten. Was machte es aus, wenn einer der Knaben auch mal einen besseren Anzug anhatte als der andere! Das merkte Hans kaum. Außerdem fiel es ihm und seinen Freunden auch nicht ein, einander einzuladen oder mit schönen Dingen zu beschenken. —
Zum Glück hielten aber auch bei Suse die trüben Betrachtungen über des Lebens verschieden ausgeteilte Lose nicht lange an. Und sie sah voll geheimer Freude dem Fest, das sie ihren Mitschülerinnen geben wollte, entgegen. Von daheim traf zur rechten Zeit noch ein Paket mit Blumen und Gebäck ein und ließ Susens Herz vor Freuden hüpfen. Stolz konnte sie nun zur Schule gehen und ihre Einladungen dort verteilen. Jubelnd wurden diese von den Schülerinnen ihrer Klasse in Empfang genommen, weil sie wohl wußten, wie gar lustig es bei der muntern Suse hergehen werde. Nur einige von ihren Schulgefährtinnen überging Suse mit ihrer Einladung. Zu ihnen gehörte auch die schwarze Karla, das hübscheste, begabteste Mädchen der Klasse, dessen Eltern in glänzenden Verhältnissen lebten. Von jeher hatte dieses Mädchen Susens größte Bewunderung auf sich gezogen wegen ihrer Sicherheit, Schönheit und Klugheit. Aber gerade weil das Doktorskind jenen Stern unter den Schülerinnen so sehr bewunderte, hielt sie sich abseits. — Sie mochte sich nicht auch noch aufdrängen, wo schon so viele andere Schulgefährtinnen um die Gunst jenes Mädchens warben. Und dann fürchtete sie auch die Spottlust der schwarzen Karla. Denn als Suse vor Jahren aus ihrem kleinen Gebirgsdorf gekommen war, hatte niemand belustigter hinter ihr hergesehen, als jenes Mädchen.
Zu ihrem größten Erstaunen bemerkte nun Suse, wie Karla betrübt und enttäuscht drein sah, als sie mit der Einladung übersehen worden war, und nach Schulschluß, als Suse die Treppe hinunterging, kam sie sogar hinter ihr her und steckte ihren Arm unter den des Doktorskindes und fragte in ihrer liebenswürdigen Weise: „Weshalb lädst du mich nicht auch ein, Suse? Ich möchte doch so gerne zu dir kommen. Sicher wird es sehr fein bei dir.“
Susens Herz klopfte laut. Sie konnte vor freudiger Erregung zuerst kein Wort herausbringen. Das schönste und begabteste Mädchen der Klasse bemühte sich um sie. Andere warben um Karlas Gunst, und sie trug ihr die Freundschaft selbst an.
Arm in Arm trat sie jetzt mit ihrer neuen Freundin durch das Tor hinaus auf die Straße. — Noch immer vermochte sie kaum zu reden. —
Jenseits, auf dem Steig der Fußgänger, hatte wohl schon eine halbe Stunde lang ein altes Mütterchen gestanden, die Augen sehnsüchtig auf das Tor ihr gegenüber geheftet. — Sie war in die Tracht der alten Frauen vom Lande gekleidet und trug am Arm einen Henkelkorb mit einem weißen Tuch bedeckt und in der Hand einen dicken Schirm. Als die ersten kleinen Mädchen aus der Tür traten, leuchtete ihr Gesicht hell auf. Man sah’s ihr an, sie hatte auf eins von ihnen gewartet. — Zufällig flogen Susens Blicke zu ihr hinüber und sie fuhr zusammen. — Das war ja — das war Christine! Wie kam sie hierher? War ihr wirklich kein Weg zu weit gewesen, keine Reise zu mühselig, um die geliebten Kinder aufzusuchen? Sie wartete auf Suse. Man sah’s ihr an. Sie wollte auf sie zukommen. Aber weshalb lief Suse jetzt nicht zu ihr hin und umarmte sie und zeigte ihr Entzücken? Weshalb wendete sie sich krampfhaft auf die andere Seite? —
Sah denn Christine wirklich so komisch und armselig aus mit ihrem Kapothut, der ihr wie ein kleiner Kobold auf dem Kopfwirbel saß und seine Bänder flattern ließ, mit ihrem Rock, der viel zu kurz war, so daß man ihre mageren Beine mit den grauen Strümpfen und die bunten Pantoffeln sehen konnte? Mußte man sich ihrer wirklich schämen?
Schämen gerade nicht. — Aber die feine, stolze Karla! Was würde die darüber denken? Suse ging weiter, ohne Christine zu grüßen.
Eine Weile stand die alte Frau erschrocken da und blickte Suse nach. Das kleine Mädchen mußte sie erkannt haben. — Deutlich hatte sie ihren Blick gefühlt. Doch warum hatte sie sich abgewandt und war nicht jubelnd auf sie zugekommen wie sonst wohl? Langsam, langsam wurde es da der alten Frau klar, daß sich Suse ihrer schäme und sie nicht kennen wolle. Noch einen langen, sehnsüchtigen Blick schickte sie hinter dem jungen Mädchen her, dann wandte sie sich traurig um und ging mit gesenktem Kopf die Straße hinunter. Ihr war es, als habe sie ihr Herz verloren. Sie kam sich so ausgestoßen und fremd vor, hier in dieser großen Stadt, wie in einer Wildnis. Suse hätte doch fühlen müssen, wie einsam sie hier war und hätte zu ihr kommen müssen. Aber sie hatte es nicht getan.
Die alte Frau wanderte nun ratlos hin und her durch mancherlei Gassen und Straßen, ohne zu wissen wohin. Schließlich brachte ihr Weg sie in die Anlagen der Stadt, wo frischer Rasen grünte, hohe Bäume wuchsen und hier und da vor blühenden Sträuchern Bänke standen. Auf einer davon ließ sich Christine müde nieder. Sie sah noch immer erschrocken drein. Aber kein bitterer Gedanke gegen das kleine Mädchen bewegte ihr Herz. —
Suse hatte ja recht, daß sie so vornehm tat. — Suse war ja ein so großes, kluges Mädchen geworden und hatte so viel gesehen und so viel gelernt in dieser herrlichen Stadt. —
Und Christine war die arme, alte, unwissende Frau geblieben, mit der man keinen Staat machen konnte. Längst vergangen waren ja die Zeiten, in denen Suse ein kleines unschuldiges Kind war, das Christine über alles liebte. Aber die alte Frau murrte nicht, sie wußte wohl, alles Schöne und alles Gute hatte der liebe Gott ihr nur für eine bestimmte Zeit gegeben, um es ihr dann wieder zu nehmen. So war es sein Ratschluß.
Lange Zeit saß Christine, in diesen Gedanken versunken, auf der Bank und konnte noch immer keinen Entschluß fassen, wohin sich wenden. Zu Frau Cimhuber wollte sie nicht gehen. — Sie fürchtete, auch dort nicht willkommen zu sein. — Und dann hatte sie noch einen andern Besuch vor, den wichtigsten und schwersten, der ihr Geheimnis war, von dem selbst die Doktorskinder nichts wissen sollten. — Den wagte sie nun nicht mehr auszuführen. —
Wenn Suse schon so ablehnend zu ihr tat, was konnte sie erst von jenen fremden Leuten erwarten, denen der Besuch gelten sollte?
Mitten in diesen Betrachtungen fuhr sie zusammen. Ein Windstoß hatte das weiße Tuch, das über ihren Korb gebreitet war, aufgehoben und trieb es in die Sträucher hinter ihr. Ein Heidelbeerkuchen, den sie den Kindern mitgebracht hatte, wurde im Korbe sichtbar.
Die alte Frau erhob sich umständlich, legte ihren Schirm vorsichtig neben sich und sah sich nach ihrem Tuche um. In diesem Augenblick ertönte ein Jubelschrei, und von dem Wege her, der in einiger Entfernung von der Bank vorüberführte, kamen zwei Knaben auf sie zugerannt. Es waren Hans und Theobald. Zufällig hatten die beiden Vettern ihren Heimweg aus der Schule durch die Anlagen genommen und trafen jetzt unerwartet auf Christine. Beide gerieten in große Freude. Hans sagte in einemfort, Christines Hand drückend: „Wo kommst du her, wo kommst du her? Oh, wenn Suse wüßte, daß ich dich zuerst getroffen habe, wie würde die sich ärgern!“
Theobald aber schlang seinen Arm um das alte Mütterchen und deklamierte in seiner närrischen Art: „Habe ich dich endlich wieder gefunden? Ruhe an meinem Herzen, mein süßer Schatz.
Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben...
Wissen Sie noch, in jener Zeit, Christine, als Sie mich im Bett versteckt haben, weil der Schmied mit dem Dreschflegel vor der Tür stand[S. 127] und mich versohlen wollte, weil ich seinem jüngsten Flachskopf auf den Kopf gespien hatte?“
Die alte Frau hatte sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholt. — Hier war Hans, und da war Theobald, die beiden Knaben, und einer freute sich noch mehr als der andere. — War es denn kein Traum? — Merkten sie denn nicht, daß immerzu fremde Leute vorübergingen und zusahen, wie sie eine arme, alte Frau voll Liebe begrüßten. Die Knaben sahen es wohl, aber sie machten sich nichts daraus.
Da breitete sich langsam über Christines Gesicht ein glückliches Lächeln, und sie drückte Hans dankbar die Hand.
„Sie müssen natürlich bei uns zu Mittag essen,“ fiel Theobald hier ein, „meine Mutter hat schon immer gesagt: ‚Wenn Christine kommt, ladet sie ein.‘ Was wollen Sie auch bei der Cimberklinkerin und der Ursel? Ich sage Ihnen, das unzutunlichste Geschöpf meines Lebens. Die rechnet ja doch gleich nach, wieviel Margarine und sonstigen Tutti Frutti sie in die Pfanne tun muß, wenn Sie mitessen!“
Und mit diesen Worten hatte der Stadtvetter auch schon den Schirm der alten Frau ergriffen und Hans ihren Korb übergeben. Dann machte sich das seltsame Kleeblatt auf den Weg nach Hause.
„Eins, zwei, drei,“ kommandierte plötzlich Theobald, und die Knaben gingen in einen Polkaschritt über.
„Laßt doch, laßt doch,“ wehrte Christine, „das darf man ja nicht hier.“
„Was darf man nicht?“ rief Theobald, „alles darf man, was man will. — Wenn sich einer untersteht und seinen Mund auftut, so spieße ich ihm Ihren Paraplü mitten durch den Leib.“
Und nachdem der Stadtvetter also großspurig geredet hatte, wurde er wieder liebenswürdig und erkundigte sich nach allem aus Christines Heimatsort, nach ihrem Häuschen und ihrer Ziege, nach ihren Kartoffeln und Bohnen, selbst nach dem Reiserbesen, den er ihr in den letzten Ferien gebunden hatte. Und zuletzt steuerte er mit seinen Begleitern auf ein schmuckes Haus in einem großen Garten zu, indem er erklärte: „Nun wollen wir gemeinsam in unsern Wigwam einfallen.“
Damit öffnete er weit und einladend die Tür seines Vaterhauses...
Was war inzwischen aus Suse geworden? — An der Seite der schwarzen Karla war sie in entgegengesetzter Richtung davongegangen wie Christine, beherrscht von dem Gefühl des Triumphes, den sie errungen hatte. — Wie in einem Taumel war sie zuerst befangen. Sie war die Königin der Klasse geworden, umworben von dem einflußreichsten Mädchen unter ihren Mitschülerinnen. Und an ihrer Seite redete jenes schöne Mädchen nun lauter angenehme Dinge, die ihr kleines, eitles Herz erfreuten. — Sie beide gehörten zusammen, meinte[S. 128] Karla. Sie seien ja die begabtesten Kinder der Klasse. Suse müsse sie recht oft besuchen, ihre Eltern hätten schon häufig darum gebeten. Was für schöne Stunden würden sie gemeinsam verbringen!
Doch je weiter sie sich von der Schule entfernten, je weniger achtete das Doktorskind auf der Freundin schmeichlerische Reden. Scheu blickte sie sich einmal um und sah Christine ganz in der Ferne davongehen. —
Da wurde des kleinen Mädchens Gang zögernder, ihre Antworten unsicherer, ihr ganzes Wesen unruhig. Sie zog ihren Arm unter dem ihrer Freundin hervor und blieb unschlüssig stehen.
„Was hast du, Suse?“ fragte ihre Freundin.
Das Doktorskind antwortete nicht und ging langsam mit ihr weiter. — Sie sah jetzt immer Christines erschreckte Augen hilflos auf sich gerichtet, und langsam wurde ihr klar, was sie eigentlich getan hatte. Mit verstörtem Gesicht sah sie sich abermals um. Da sah sie ihre Freundin Gretel, die sich in der Schule etwas verspätet hatte, des Weges kommen.
Und das kleine Mädchen erzählte ganz aufgeregt von einem armseligen, altmodisch gekleideten Mütterchen, das vor der Schule gestanden sei und so verirrt und traurig ausgesehen habe, daß es sie gedauert habe.
„Sicher ist sie vom Lande,“ meinte Gretel, „und wußte nicht wohin. Ach, wie tat sie mir leid. Sie sah so ängstlich um sich. Am liebsten hätte ich sie mitgenommen.“
Schon gleich bei den ersten Worten ihrer Freundin war Suse zusammengefahren.
Nun gab es kein Halten mehr für sie.
„Das war Christine,“ rief sie, „Christine, von der ich dir schon so viel erzählt habe, Gretel. Aus meinem Heimatsort. Hansens und meine alte Kinderfrau. Sie ist gekommen und will uns besuchen, Hans und mich. Sie hat uns so lieb und ist so gut zu uns, und ich hab’ sie verleugnet. Ach, wenn sie jetzt fort ist, ist alles aus.“
Und vor den erstaunten Augen ihrer Freundin riß sie sich los und flog davon zur Schule zurück. Aber als sie dort ankam, war weit und breit niemand mehr zu sehen. Da irrte sie weiter durch die Straßen und Gassen, in denen sich die heiße Glut des Mittags fing, und suchte nach der alten Frau. Umsonst. Auch im Hause von Frau Cimhuber, wo sie nach ihr forschte, war sie nicht gesehen worden. So bestand denn nur noch die Möglichkeit, daß sie mit dem nächsten Zug in die Heimat gefahren sei. Aber auch vom Bahnhof mußte Suse unverrichteter Sache wieder umkehren. Erschöpft kam sie daheim an. Ein freundlicher Empfang ward ihr hier nicht zuteil. Denn als sie ängstlich durch die Küchentür spähte, sah sie von Ursels Scheuerwasser Spritzer und Strahlen aufsteigen, wie von spielenden Delphinen, und ihr entgegen klang es zor[S. 129]nig: „Zweimal ist schon nach dir gefragt worden. Christine und Hans sind bei deiner Tante Hedi und essen zu Mittag. Jeder ist schon in Angst um dich. Frau Cimhuber hat schon ihre Migräne.“
Da machte Suse, so schnell sie konnte, die Tür hinter sich zu und lief in ihr Zimmer. Dort schloß sie sich ein und weinte. Christine war da, Christine war gefunden. Kein Mensch hatte ihr ein Leid zufügen dürfen. Kein Weg hatte sie irre geleitet. Sie war in Gottes Hand gewesen.
Noch saß Suse stumm da, die Hände wie im Gebet gefaltet, da hörte sie Besuch kommen. Sie horchte hin und hörte Hans reden und noch eine andere liebe Stimme. — Christine war gekommen. —
Im nächsten Augenblick rüttelte Hans auch schon an ihrer Tür und rief: „Mach auf, mach auf, wir sind draußen.“
Und als sie öffnete, stürmte er über die Schwelle, Christine mit sich ziehend, und rief mit blitzenden Augen: „Hier, hier, sieh, wen ich hier habe, ich habe sie gefunden. — Was sagst du nun, was sagst du nun?“
„Was ich sage,“ tönte da ungefragt eine Stimme aus der Küche, wo Ursel herumwirtschaftete. — „Was ich sage, in einer Minute kommt Herr Schnurr. — Kein Pult ist zurecht gerückt, kein Geigenkasten steht am Platz, kein Bogen ist eingerieben! Soll ich’s vielleicht besorgen?“
Diese Nachfrage fuhr Hans derartig in die Glieder, daß er auf der Stelle zurückflog, in die Negerstube eilte, dort rückte und schob und in den Gang zurückkehrte, wo er sich bürstete und glättete, und gleich darauf mit höflicher Miene den Lehrer empfing.
Christine aber stand auf der Türschwelle mit ihrem Korb und Schirm in der Hand und wagte nicht einzutreten.
„Christine komm, Christine komm,“ sagte Suse und zog sie an der Hand herein.
Und mitten in der Stube blieb sie plötzlich stehen, drückte beide Handrücken vor die Augen, wie sie oft als Kind getan, und begann bitterlich zu weinen. Da nahm die alte Frau ihr die Hände vom Gesicht weg, zog sie fest an ihre Brust und hielt sie dort verborgen.
„Weine nur nicht,“ tröstete sie, „der liebe Herrgott weiß alles, und er macht alles, alles gut. Sei still Suse. Sei jetzt nur ganz still, Kind. — Ich habe euch auch Heidelbeerkuchen mitgebracht. — Sieh her! Es sind nicht mehr viele Beeren darauf, du weißt ja, ich kann nicht mehr so weit gehen und sie suchen. Ich bin eine alte Frau. — Ganz nahe am Fuchskopf, wo ich sie sonst immer geholt habe, finde ich jetzt keine mehr. Die Kinder holen sie alle weg. — Aber er hat euch ja immer am besten geschmeckt, der Heidelbeerkuchen. — Glaubst du, du magst ihn noch? — Er ist ja sicher nicht so gut wie der, den ihr in der Stadt bekommt. — Und ihr scheut mich doch nicht, weil ich eine arme alte Frau bin?“
Und Christine hob vorsichtig den Kuchen heraus, der auf einem Teller im Korb stand, und stellte ihn auf den Tisch. Und Suse schnitt sich ein Stück ab und fing an zu essen, obwohl der Kuchen und die Tränen sie am Schlucken hinderten.
„Gelt, Christine, du denkst jetzt nicht mehr gut von mir?“ fragte sie, nachdem sie sich ausgeweint hatte. „Es liegt dir jetzt nichts mehr an mir. Und du frägst auch nichts mehr nach der Stadt?“
„Aber freilich, Suse. Ich will doch die schöne Stadt sehen, von der du mir immer so viel erzählt hast. Ich bin ja nur einmal in meinem Leben hierher gekommen, und wenn ich jetzt fortgehe, komm’ ich niemals mehr wieder. Das spür’ ich, ich bin viel zu alt dazu.“
„Wollen wir gleich gehen und alles besehen?“ drängte Suse.
„Nein, nein, wir warten erst, bis Hans mitgehen kann.“
„Gelt, du hast Hans jetzt lieber als mich,“ flüsterte Suse. Christine schüttelte den Kopf. „Nein, nein, ich habe euch alle gleich lieb.“ Und sie wischte Suse mit ihrem Taschentuch das Gesicht ab.
Danach führte das Mädchen die alte Frau durch ihr Zimmer und zeigte ihr die ganze Einrichtung, auch den Schrank mit ihren Heften und Büchern. Mit gefalteten Händen stand die alte Frau davor und richtete ihre Blicke bewundernd auf Suse. — Alle diese Hefte hatte ihr Liebling, die Suse, vollgeschrieben, in all diesen Büchern konnte sie lesen, fremde Sprachen lernte sie sogar. — Was war sie doch für ein bedeutendes Mädchen geworden.
Aber noch heller strahlten Christines Augen, als sie plötzlich ihren Wachsengel im Glaskasten auf der Kommode entdeckte. — Unversehrt stand er dort, heilig gehalten von den Kindern. Wie waren sie doch gut!
Ein dankbarer Blick traf Suse, aber dem jungen Mädchen stieg eine heiße Röte in die Wangen, und schnell führte sie ihren Besuch zum Fenster, damit sie einen Blick in die schwindelnde Tiefe tue, wo die Menschen klein wie Mücken spazieren gingen. — Gerade beugte sich Christine voll Staunen über die Fensterbrüstung, da trafen laute Stimmen ihr Ohr und sie fuhr zusammen. Der Lärm kam aus der Negerstube, wo Herr Schnurr wieder einmal außer Rand und Band umherhüpfte, weil Hans aus lauter Freude über den Besuch seiner alten Kinderfrau zum Erbarmen spielte.
Als der Lärm lauter wurde, bekreuzigte sich Christine, nahm Suse bei der Hand und sagte gefaßt: „Komm, Kind, wir gehen, hier ist es nicht geheuer.“ Aber Suse hielt sie zurück und erklärte: „Ach, Christine, das ist ja nur Hans seine Geigenstunde.“
„Seine Geigenstunde?“ fragte Christine ganz verstört. — So was vermochte sie nicht zu fassen. —
„Wir wollen ihm helfen,“ sagte sie deshalb. „Das endet nicht gut.“
„Nein, nein, Christine, so geht’s immer. Zuerst ist Herr Schnurr oft wie außer sich, und hernach streicht er Hans über den Kopf Und sagt: ‚Brav, Büberl, mach’s das nächstemal wieder so.‘“
Trotz dieser zuversichtlichen Rede beruhigte sich Christine keineswegs. Bei jedem neuen Schelten fuhr sie zusammen. Ihren Schirm und Korb in der Hand stand sie auf dem Sprung da.
Ihre Angst vor der großen Stadt, wo alles drüber und drunter ging, wo man nicht ein noch aus wußte, wurde immer größer, und schließlich beschlich sie ein unheimliches Gefühl, als könne sie den weiten Weg nach Hause nicht mehr zurückfinden.
„Christine, gelt, du bleibst noch ein paar Tage bei uns?“ bat Suse.
„Nein, nein, ich will morgen wieder fort,“ sagte die alte Frau ängstlich. „Ich muß nach meiner Ziege sehen und nach meinem Garten.“
Suse machte ein trauriges Gesicht und fragte leise: „Gelt, Christine, du willst wieder fort, weil ich so häßlich zu dir war?“
„Nein, nein, ich bin ja nicht zu euch allein gekommen, Suse, ich bin noch wegen einem andern kleinen Mädchen gekommen, das will ich aufsuchen.“
Suse horchte verwundert auf.
„Zu einem andern kleinen Mädchen?“
Die alte Frau nickte. „Freilich.“
„Aber, Christine, hast du Verwandte hier?“
„Ja, es ist eine Enkelin von mir, ein kleines Mädchen, so alt wie du.“
„Was, Christine, du hast eine Enkelin?“ rief Suse ganz erstaunt, „und wir wissen’s nicht. Weiß es denn niemand auf der Welt?“
„Doch, dein Vater und deine Mutter wissen’s. Euch hab’ ich nur nie davon erzählt, weil ihr zu klein wart und weil ich nicht wollte, daß ihr auch traurig würdet.“
„Ach, Christine, bitte, bitte, erzähl’ mir. Ich bin ja jetzt schon sehr groß und werde mich beherrschen, auch wenn deine Erzählung sterbenstraurig wird. Ganz still will ich sein und dich nicht durch dummes Reden stören,“ drängte Suse.
— So erzählte denn Christine, die sonst ihre Sorgen ängstlich vor aller Welt hütete, ganz verwirrt durch die Ereignisse des Morgens und erschreckt durch die Eindrücke der geräuschvollen Geigenstunde, Suse den schweren Kummer ihres Lebens.
Das Doktorskind hörte still zu, und je mehr sie erfuhr, um so schwerer wurde ihr Herz.
Von einer einzigen Tochter hörte sie ihre Kinderfrau erzählen, die sich an einen bösen Menschen verheiratet, der getrunken und seine Frau[S. 132] schlecht behandelt habe und schuld an ihrem Tod geworden sei. Das Kind aus dieser Ehe, ein kleines Töchterchen, Resi genannt, habe die alte Frau nach dem Tode ihrer Tochter zu sich nehmen und erziehen wollen. Aber der Vater des Kindes habe verlangt, sie solle ihr Haus verkaufen, ihm den Erlös davon geben und mit ihm zusammen in die Stadt ziehen.
Durch Susens Vater sei indes jener Plan vereitelt worden, und Christine sei von Not und Elend verschont geblieben, wie der „Herr Doktor“ schon so und so oft gesagt habe.
Der Schwiegersohn der alten Frau habe sich schnell wieder verheiratet und sei in die Stadt gezogen. Von ihrem Enkelkind habe Christine nie mehr etwas erfahren, auch dann nicht, wenn sie ihm Geschenke gemacht oder um seinen Besuch gebeten habe. Nur um Geld habe ihr Schwiegersohn immer wieder geschrieben. Jetzt sei Christine gekommen, um ihr Enkelkind zu suchen, damit sie es vor ihrem Tod noch einmal sehe, denn sie wisse ja nicht, ob sie noch lange lebe.
Da nahm Suse Christine in den Arm und sagte in demselben Ton, in dem sie gewohnt war, ihre alte Kinderfrau sonst selbst reden zu hören: „Sei still, Christine, der liebe Gott weiß alles und hilft uns sicher. Christine, wir finden dein Resi ganz gewiß, und du wirst sehen, es wird dir viel Freude machen.“
Doch die alte Frau meinte mit Tränen im Auge: „Am Ende läßt mich der Vater das Kind nicht sehen und schickt mich fort von seinem Hause.“
„Aber nein, Christine, wir gehen ja alle mit, Hans und ich und Theobald und Toni. — Wenn wir gleich fünf Mann hoch anrücken, wird er schon Respekt bekommen. — Und dann fällt mir noch was ein, Christine, ich hab’ noch ein Fünfmarkstück von Onkel Fritz für ein schönes Buch geschenkt bekommen. Das geb’ ich deinem Schwiegersohn. Wenn dieser scheußliche, geizige Mann das Geldstück sieht, läßt er sicher viel besser mit sich reden. Und eines von meinen Kleidern nehmen wir auch mit und eine Schürze und Strümpfe und Schuh.“
Und in Suses Phantasie wurde dieser Gang zu Christines bösartigem Schwiegersohn zu einem glänzenden Triumphzug, in dem sie sich alle mit Ruhm bedeckten und Freude über Freude einheimsten.
„Wo wohnt denn dein Enkelkind?“ fragte die eifrige Suse.
Und die alte Frau zog ein Stück Papier hervor, auf dem eine Adresse von Rosels Hand geschrieben stand.
„Kleinstraße,“ las Suse und schüttelte den Kopf. — „Kleinstraße, die kenn’ ich nicht.“
Aber mit einemmal ging ein Leuchten über ihr Gesicht, und sie rief strahlend: „Weißt du, wer sie kennt? Fräulein Hirt kennt sie, die kennt[S. 133] alle Straßen und alle armen Kinder. — Die ist in vielen frommen Vereinen. Die weiß es. Komm, komm. Ich glaube bestimmt, daß sie es weiß. Sie wohnt jetzt über uns im vierten Stock, seit ihre Großmutter gestorben ist.“
Christine folgte ihr eilig mit trippelnden Schritten, das Herz schon viel froher und zuversichtlicher als bisher. Nur im Gang blieb sie wieder einmal erschreckt stehen. Hier streckte nämlich Ursel ihren Kopf zur Küchentür heraus und verkündete: „Um vier Uhr ist der Kaffee fertig,“ mit einer Miene, als wollte sie sagen: „Um vier Uhr sollt ihr alle gefressen werden!“
„Vergelt’s Gott,“ sagte die alte Frau und folgte Suse zur Tür hinaus und die Treppe hinauf.
In Fräulein Hirts Zimmer wurden die beiden von der liebenswürdigen Lehrerin auf das freundlichste begrüßt, und Christine bekam sogar den Ehrenplatz im Sofa angewiesen. Während sie nun dort verschüchtert und ängstlich saß, den Blick trostheischend auf Suse gerichtet, erzählte diese mit glühenden Wangen, ganz durchdrungen von dem Ernst der Stunde und von der Wichtigkeit ihrer Rolle, Christines Schicksal. Ab und zu flog ein mütterlich beruhigender Blick zu ihrer alten Kinderfrau hin oder sie streichelte jener sanft die Hand, indem sie sagte: „Es wird schon gut, es wird schon gut, Christine.“
Fräulein Hirt aber hörte gespannt Susens Erzählungen zu. Und schließlich, als diese fragte: „Kennen Sie die Straße, wo Resi wohnt?“ antwortete sie lächelnd: „Nicht nur die Straße, ich kenne Resi selbst. — Sie ist bei mir in der Sonntagsschule.“
„Resi selbst?“
Suse wurde dunkelrot vor Freude, sprang auf und rief: „Siehst du, siehst du, Christine! Alles kennt sie, alle Leute, und allen hilft sie und uns auch. Wir sind gerettet.“
Und das Doktorskind sprang auf, umarmte Fräulein Hirt und Christine und hätte sie am liebsten sofort zu Resi entführt.
„Weißt du was,“ rief sie, „jetzt warten wir keine Minute mehr! Jetzt gehen wir sofort zu Resi. Warum noch lange warten! Je eher du Resi siehst, Christine, je lieber ist’s dir ja doch.“
„Nein, nein,“ wehrte da Fräulein Hirt, „ich hole das Kind allein hierher. Es ist besser, Christine macht den weiten Weg dorthin nicht. So viele Anstrengungen nach einer solch langen Reise kann sie nicht ertragen.“ —
Aber den wahren Grund, weshalb sie den Besuch Christinens bei ihren Verwandten verhindern wollte, verschwieg sie. Sie fürchtete, daß die alte Frau von ihres Schwiegersohns Tür gewiesen würde. —
Zur Zeit des Nachmittagskaffes verließen die alte Frau und das kleine Mädchen ihre liebenswürdige Helferin.
In der Cimhuberschen Wohnung wurden die beiden in größter Ungeduld von Hans erwartet, dem es gar nicht angenehm gewesen war, unter Herrn Schnurrs Lehrmethode zu schwitzen, während seine Schwester ihr Leben genoß.
Auch Toni hatte sich eingefunden, um die Doktorskinder samt ihrem Besuch zu einer Wagenfahrt abzuholen. Strahlend erzählte sie, ihr Vater habe ihr fünf Mark für das Vergnügen geschenkt, und Theobald käme gleich in einer Droschke an.
Bei der Spazierfahrt mit den Kindern konnte Christine von dem weichen Sitz des Wagens aus bequem die Wunder der Stadt erschauen. Aber so schön sie auch waren, ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zurück nach Frau Cimhubers Haus, wo etwas viel Schöneres und Besseres ihrer wartete. — Ihr Enkelkind.
Und nach ihrer Rückkehr aus der Stadt bekam sie das Kind endlich zu sehen. An Fräulein Hirts Hand drückte sich Resi schüchtern zur Tür herein und stand verwirrt vor ihr.
Der alten Frau liefen die Tränen über das Gesicht, und sie brachte nur mühsam die Worte hervor: „Ich bin deine Großmutter, Resi.“
Stumm sah das kleine Mädchen zu ihr auf.
Da nahm Suse sie bei der Hand und sagte strahlend: „Ja, deine Großmutter, deine liebe Großmutter, unsere gute Christine. Die haben wir alle schrecklich lieb. Sie gehört dir. — Willst du ein Stück Heidelbeerkuchen haben? Den hat Christine uns mitgebracht. Wunderschön schmeckt er. Komm, iß. — Und du besuchst deine Großmutter, gelt? Und dann werden wir Freundinnen. Und Christine hat eine weiße Ziege und ein kleines Häuschen und viele Blumen im Garten. Das wird dir Freude machen, wenn du das alles siehst.“
Aber trotz dieser sprudelnden Rede taute Resi nicht auf, und kein Wort ging über ihre Lippen. Nur ganz am Schluß ihres Besuches, als Suse sie aufforderte, doch zum Abendessen zu bleiben, schüttelte sie den Kopf und sagte ängstlich: „Nein, nein, ich muß fort, ich werde sonst gescholten.“
So wurde sie denn entlassen, nachdem sie aber Fräulein Hirt versprochen hatte, am andern Tag noch einmal wiederzukommen.
Als Resi fortgegangen, war für Hans endlich der langersehnte Augenblick gekommen, an dem er Suse über die geheimnisvollen Dinge zur Rede stellen konnte, die sich hinter seinem Rücken abgespielt hatten. Er wünschte zu wissen, was für Beziehungen zwischen Christine und dem kleinen, fremden Mädchen beständen, und warum man gerade ihn nicht eingeweiht habe.
Nichts Angenehmeres konnte Suse widerfahren, als ihn über alles, was sich während der Geigenstunde zugetragen hatte, drei lang, drei breit aufzuklären.
„Christine schien wirklich froh zu sein, daß sie eine Stütze an mir hatte,“ schloß Suse voll Eingebildetheit ihren Bericht. „Ohne mich hätte sie Resi sicher nicht so leicht gefunden.“
Sei es nun, daß diese Aufgeblasenheit Hansens Zorn entfachte, oder daß ihn das schlechte Betragen von Resis Vater Christine gegenüber wirklich empörte, jedenfalls ergriff er plötzlich den ersten besten Stuhl und stieß ihn mit einer Gebärde auf, als wolle er ihn seiner vier Beine berauben. Dazu rief er: „Den Kopf sollte man ihm abhacken, diesem Lumpen, diesem scheußlichen, gemeinen Kerl, diesem Vater von Resi.“
„Sei still, sei doch still,“ mahnte Suse, „man meint ja gerade, du seist Herr Schnurr. Nächstens springst du auch hier herum wie von Sinnen. Wer benimmt sich denn so ungebildet!“
Etwas später, als Suse zu Bett gegangen war, da kam ihr wieder die Begegnung von heute morgen ins Gedächtnis zurück, und die Schamröte stieg ihr heiß ins Gesicht.
Sie mußte an die Zeit denken, als Herr Edwin dagewesen war und an ihre Vorsätze von damals, dem Missionar nachzueifern und immer nur Gutes zu tun. — Große Taten wollte sie vollbringen — in fremde Länder wollte sie ziehen und unbekannten Menschen helfen. — Und nun? Ihre alte Christine hatte sie verleugnet, die Frau, die, solange sie lebte, ihr nur Gutes getan hatte! — Wie hatte Herr Edwin doch beim Abschied gesagt: „Bewahret euch euer reines Herz.“ Da begann Suse laut zu schluchzen und schlüpfte unter die Bettdecke. Und bat Gott um Hilfe gegen ihr eitles Herz.
Am folgenden Tage rüstete sich Christine zur Abreise. Ihr Gesicht strahlte wieder in dem lieben, freundlichen Glanze. Der schwere Gang in die Stadt war ihr schließlich doch zum Segen ausgeschlagen. Von all den fremden Menschen, die sie hier kennen gelernt hatte, war ihr nur Gutes widerfahren. Und was das Schönste war, sie hatte ihr Enkelkind wiedergefunden. Es bestand sogar Aussicht, daß sie das kleine Mädchen bald für immer zu sich nehmen konnte. —
Fräulein Hirt hatte ihr Hoffnungen darauf gemacht. Mit mütterlich beschirmendem Blick hatte Suse ihre Versprechungen angehört und war sich fast erwachsen vorgekommen. Wußte sie doch viel mehr als Christine und Hans, nämlich, daß Resi mit Gewalt ihren Eltern genommen werden würde, weil sie so schlecht behandelt wurde.
Aber Christine sollte davon nichts wissen. Sie sollte leichten Herzens in ihre Heimat zurückkehren.
Es war im Winter vor Susens vierzehntem Geburtstag. Das Doktorskind war ein großes, schlankes Mädchen geworden, und ihr Haar, das Rosel einst mit soviel Geschick in zwei knochenharte, steif abstehende Zöpfchen verwandelt hatte, hing ihr jetzt als langer, loser Zopf über den Rücken. Heimlich freute sich Suse an dieser leuchtenden Haarpracht, aber im Kreise ihrer Freundinnen hütete sie sich wohl, ihre Eitelkeit durchblicken zu lassen.
Auch Hans war genau wie sie, lang und rank geworden, und seine Jackenärmel waren ihm immer gleich viel zu kurz.
Frau Cimhuber und Ursel waren nun genötigt, zu ihren Pfleglingen aufzublicken, nachdem sie noch vor zwei Jahren so erhaben auf sie herabgesehen hatten.
Der Pfarrfrau Urteil lautete im allgemeinen über der Kinder Charakter: „Gute, liebe Kinder.“
„Zu ausgelassen,“ setzte dann Ursel jedesmal hinzu, „zu ausgelassen. Am liebsten sprängen sie über Tisch und Stühle. Immer über Tisch und Stühle, vom Morgen bis zum Abend.“
Nun hatte ja allerdings niemand mehr, als gerade die alte Magd, unter der Ausgelassenheit der Kinder zu leiden. —
Wie oft geschah es, daß die zwei, als Antwort auf eine von Ursels Ermahnungen, die Predigerin ohne viel Federlesens auf ihre zum Sitz geschlungenen Hände setzten und mit ihr im Sturmschritt durch das Haus rannten! All ihr Schreien, all ihr Wehren nützte der alten Magd nichts. — Sie mußte eben aushalten. — In einer Redeschlacht zog Ursel erst recht den Kürzeren, namentlich der mundfertigen Suse gegenüber.
Wenn Ursel etwa anhub: „Zuviel Dummheiten macht ihr, zuviel Dummheiten. — Ihr wart eben von jeher zu sehr verwöhnt. Schon im Wickelkissen ist es euch zu gut ergangen,“ fiel Suse lachend ein: „Im Wickelkissen hat’s jedermann gut. — Ach, Ursel, wenn Sie jetzt mit einem Schlag im Wickelkissen drin säßen! Wie herzig müßte das aussehen!“
„Gräßlich dumm,“ ließ sich Ursel vernehmen. „Aus dir und Hans wird euer Lebtag nichts. Ihr habt eben zu viel Dummheiten im Kopf. Der Ernst fehlt euch. Ernst ist das Leben.“
„Aber, Ursel,“ rief Suse, „unser Vater sagt doch immer, lieber ein bißchen zu übermütig, als die Mundwinkel bis unters Kinn herunterhängen lassen. Ganz elend kann es einem werden bei mißvergnügten Menschen.“
„Hm, hm,“ sagte Ursel, „mir scheint, das hast du geträumt, so spricht ein ernster Mann nicht.“
„Doch, Ursel, so hat er gesprochen, und erst bei unserem letzten Besuch hat er gesagt, er ist sehr zufrieden mit uns. Hören Sie, Ursel, sehr, sehr zufrieden mit unserem Lernen.“
„Na, das fehlte auch noch, daß ihr nichts lerntet,“ brauste da Ursel auf, „bei dem vielen Schulgeld, das ihr bezahlt, und bei der guten Kost, die ihr hier bekommt, und bei der guten Aufsicht, und bei den Tausenden von Stunden, die ihr schon auf der Schulbank herumgesessen seid. — Das fehlte auch noch, daß ihr da nichts lerntet.“
„Aber, Ursel, es gibt sogar recht viele Kinder, die trotzdem nichts lernen.“
„Was sagst du da?“ rief Ursel empört. „Was sagst du da? Wiederhol’s noch einmal, die lernen nichts, meinst du? Na, da sollte ich der Schuldirektor von euch sein,“ fuhr sie sich auf die Brust schlagend mit rollenden Augen fort. „Da würde ich euch an einem schönen Montag oder Dienstag alle miteinander auf die Straße jagen, und eure Schulsäcke würde ich obendrein hinter euch herwerfen.“
Suse lachte hell und zog sich dann schnell zurück, da die alte Magd Miene machte, einem rachesüchtigen Schuldirektor nachzueifern.
Frau Cimhuber sagte im ganzen wenig zu den Reibereien, die sich nicht selten zwischen der alten Magd und den Kindern abspielten. Sie wußte, sie vergingen schnell wieder, wie sie gekommen waren, und Sonnenschein folgte dem Gewitterregen. Dann kochte Ursel den Kindern ihre Leibgerichte und strich ihnen dicke Schichten Zwetschenmus auf ihr Brot. „Aha, die Zwetschenmushäfen sind geöffnet, es weht ein guter Wind,“ pflegte Suse bei dieser Gelegenheit auszurufen. —
In Ursels Gemüt hatte sich mit der Zeit auch ein heilsamer Umschwung zugunsten des Herrn Schnurr, Hansens Geigenlehrer, fühlbar gemacht.
Erst hatte sie nichts als finstern Haß gegen den fremden Eindringling verspürt, dann war ein gottergebenes Sichfügen in seine Besuche gekommen, hierauf ein vorurteilsloses Betrachten seiner Person, dann Nachsicht für sein Tun, Verständnis für seine Lehrweise, und ganz zuletzt das Keimen freundschaftlicher Gefühle.
Der Grund zu einer wirklichen Freundschaft zwischen ihr und Herrn Schnurr wurde aber gelegt, als dieser gemeinsam mit den Doktorskindern zu ihrem sechzigsten Geburtstag eine kleine Feier veranstaltete.
Am Nachmittag ihres Wiegenfestes, als die alte Magd ihre Arbeit in der Küche vollendet, ihre Werktagsschürze gegen die seidene Sonntagsschürze umgetauscht und ihr Haar noch glätter als sonst gestrichen hatte, wurde sie an Susens Arm in die Negerstube geführt, wo Hans[S. 138] mit seiner Geige wartete und Herr Schnurr mit verstruweltem Haar am Klavier saß, bereit, die Choräle, die er mit Hans zu Ursels Ehre eingeübt hatte, ertönen zu lassen.
Auf dem Tisch, über den ein blendend weißes, mit Tannenzweigen geschmücktes Tischtuch gebreitet war, lagen die Geschenke für die Sechzigjährige ausgebreitet: ein hohes, auf einem Sockel befestigtes Alabasterkreuz von Frau Cimhuber, eine Vase mit Immortellen, Ursels Lieblingsblumen, ein Geschenk von den Doktorskindern, eine schwarze Seidenschürze von der Mutter der beiden und das Bild einer Tänzerin, von Herrn Schnurr gestiftet.
Leider hatte er es mit dem richtigen verwechselt, dem Bilde Melanchtons, das seine Frau daheim los sein wollte.
Geistesabwesend, wie Herr Schnurr war, hatte er das erste beste Paketchen ergriffen und war damit davongegangen. Sein Irrtum störte aber die Feier nicht.
Ursel nahm, die Hände gefaltet, auf einem mit Tannengrün geschmückten Stuhl Platz und erwartete die Huldigungen. Auf ein Zeichen von Herrn Schnurr ergriff Hans die Geige, und unter Violin- und Klavierspiel erklangen die schönsten Choräle: „Wer nur den lieben Gott läßt walten.“ — „Was Gott tut, das ist wohlgetan.“ — „Harre, meine Seele.“ — „Befiehl du deine Wege.“ — Und noch eine Menge andere Lieder.
Eine feierliche, erhebende Stille herrschte in der Negerstube. Ursel saß nickend und mit einem weltentrückten Ausdruck auf ihrem Stuhl, und vor ihrem Geist zogen all die schweren Jahre ihres Lebens vorüber, in denen sie nur Mühe Und Arbeit gehabt und sich zufrieden gefühlt, wenn sie am Sonntag mit einer schwarzen Schürze vor dem Tisch in der Küche hatte sitzen können, das Gesangbuch offen vor sich und in den Liedern Kraft findend. — Die Tränen liefen ihr in den Schoß.
Auf ihren besonderen Wunsch spielten die beiden Musikanten zum Schluß noch ihr Lieblingslied: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ — Man hätte meinen können, Ursel selbst werde zu Grabe getragen, so ernst und dumpf klang die Weise. Sogar Suse konnte die Tränen nicht zurückhalten, was Ursel nicht ohne Genugtuung bemerkte. —
Seit jenem Tage nun konnte die alte Magd Herrn Schnurr nicht mehr die Tür öffnen, ohne an ihre schöne Geburtstagsfeier zu denken.
„Ja, damals haben Sie sehr schön gespielt,“ sagte sie öfters zu ihm, und nickte lebhaft, „oh, so schön.“
„Ja, das macht die Kunst,“ erwiderte Herr Schnurr, indem er den Zeigefinger so steil nach oben hob, daß Ursel seiner Richtung folgte.
„Die Kunst, die hebt uns nach oben.“
Ursel nickte beifällig.
Allerdings, die Kunst in der Negerstube, die sich in wilden Sprüngen, in einem Trommeln auf Tisch und Stühlen anzeigte, die behagte ihr noch immer nicht.
Deshalb konnte sie trotz ihres Wohlwollens für den Lehrer es nicht unterlassen, ihr Ohr an die Tür der Negerstube zu legen, wenn er drin sein Wesen trieb. Und das war schlimm, erfuhr sie auf diese Weise doch allerlei, was im Grunde nicht für sie bestimmt war. — Herr Schnurr, der sich in der ersten Zeit seines Amtsantrittes Hans gegenüber als finsterer und gestrenger Lehrer gezeigt, hatte mit der Zeit geruht, den Knaben zum Freunde zu erwählen. Es war ein merkwürdiges Verhältnis. Herr Schnurr erzählte, und Hans hörte mit offenem Mund und offenen Augen zu.
Da kamen Bekenntnisse aus des Lehrers schweren Wanderjahren, als er in einer größeren Musiktruppe von Ort zu Ort gezogen war. Viel Lug und Trug habe er gesehen, aber ein ehrlicher, rechtschaffener Mensch sei er doch immer geblieben, erwähnte er stets aufs neue. — „Rechtschaffen müsse der Mensch sein, vor allen Dingen rechtschaffen...“ Auch seine häuslichen Sorgen enthielt der Lehrer dem Schüler nicht vor, und dem fuhr kein übler Schreck in die Glieder, als er seinen Geigenmeister eines Tages in jämmerlichen Tönen von mißratenem Essen erzählen hörte, das ihm täglich vorgesetzt werde, von unordentlichen Stuben, in denen er sich herumtreiben müsse, und in die er Samstags mit Galoschen an den Füßen und einem Besen und Eimer in der Hand eindringe, um eine rauschende Sintflut darüber niedergehen zu lassen. Immer beklommener wurde es Hans bei diesem Geständnis, und schließlich, als er Herrn Schnurr Trost zusprechen wollte, stotterte er verlegen: „Herr Schnurr, können Sie sich nicht eine Magd nehmen, wie Ursel, oder unser Rosel daheim, wenn Ihre Frau Gemahlin die Haushaltung nicht versteht.“
„Eine Magd!“
Etwas Dümmeres hätte Hans nicht sagen können.
„Was soll ich nehmen?“ rief Herr Schnurr und machte einen Sprung rückwärts vor Entrüstung.
Hans hätte vor Schreck fast die Geige hingeworfen.
„Was soll ich nehmen, eine Magd? Was soll denn die essen, wenn wir selbst am Hungertuch nagen? Oh, du einfältiger Gockel, komm jetzt her und spiele deine Tonleiter, das ist besser, als deine Weisheitssprüche Salomonis da herunterzulispeln, unpraktischer Held.“
Und Hans tat, wie ihm gesagt worden war, und atmete dreimal tief auf, als er den tüchtigen Lehrer wieder sein Handwerkszeug ergreifen und in gemäßigte Bahnen zurückkehren sah.
Ursel aber, die Herrn Schnurrs Beichte mit angehört hatte, überlegte, ob sie sich nicht augenblicks in die Negerstube zwängen und dem Lehrer eine gesalzene Botschaft an seine pflichtvergessene Gattin daheim mitgeben solle.
„Lieber nicht,“ sagte sie sich aber voll Klugheit.
Indes sein häusliches Elend ließ ihr keine Ruh, und viel, viel später, Anfang des Frühjahrs, da mischte sie sich endlich doch einmal in seine Verhältnisse. Allerdings geschah es auf eine recht barmherzige und christliche Weise.
„Bringen Sie mir mal Ihre Strümpfe mit, Herr Schnurr,“ sagte sie, als sie ihn über sein zerrissenes Zeug klagen hörte. „Ihre Frau stopft sie ja doch nicht. Für mich ist das eine Kleinigkeit, und aus Dankbarkeit tu ich’s gern.“
Suse, die zufällig hinhorchte, war erstaunt. Sie lachte belustigt. Ursel und Herr Schnurr gut Freund! Das war ein Spaß.
Rasch entschloß sie sich, es ihrer Vertrauten, der schwarzen Carla mitzuteilen, die mit der Zeit ihre beste Freundin geworden war. Da die Herzensgenossin, die häufig leidend war, augenblicklich zur Pflege ihrer Gesundheit im Süden weilte, schrieb ihr Suse die längsten Briefe. Carla mußte von all den bunten Ereignissen im Cimhuberschen Haus unterrichtet werden. Leichtsinnig und unüberlegt pflegte Suse drauf los zu plaudern, und genau wie beim Reden, was immer ihr durch den Kopf schoß, sofort auszusprechen. So schrieb sie denn an dem Brief, an dem sie gerade angefangen hatte, weiter.
„Du erkundigst Dich nach Theobald, liebe Karla, er ist lange nicht mehr derselbe gräßliche Geck wie früher, obwohl er noch immer große Volksreden hält. Onkel Fritzens Heirat war sein Glück. Sein Vater meinte es auch. Er findet, Onkel Fritz hat seinem Sohn nur lauter Raupen in den Kopf gesetzt.
Nun frägst Du auch nach Ursel und Herrn Schnurr. Zwischen diesen besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets vervollkommnende Freundschaft, ein unaustilgbarer Herzensbund. Nächstens geben sie sich einen Kuß. Wie die Verlobten sind sie. Wie Braut und Bräutigam. Denke Dir, Ursel will sogar dem Herrn Schnurr die Strümpfe stopfen! Jedesmal, wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, süß wie ein Honighafen. Und immer horcht sie an der Negerstube, wenn drin seine süße Stimme erschallt, damit sie jedes Wörtlein von ihm aufschnappt.“
Und dieser Brief voll leichtsinniger, loser Redensarten sollte die schlimmsten Folgen haben.
Es fügte sich nämlich, daß Suse während des schriftlichen Ausbruches[S. 141] ihrer buntschillernden Geistesraketen von ihrer Freundin Grete überrascht und zu einem Spaziergang abgeholt wurde.
Kurz entschlossen packte die Schreiberin den unvollendeten Brief nebst ihrem Tagebuch in das Bett, das neben ihrem Tisch stand, da jenes ihr heute als sehr gutes Versteck erschien, alldieweil Hans den Kommodenschlüssel mitgenommen hatte und sie nicht an den eigentlichen Aufbewahrungsort ihrer Schreibsachen — die Kommodenschublade — gelangen konnte.
Frohgemut nahm sie hierauf von Frau Cimhuber und Ursel Abschied und ging von dannen.
„Bleib nicht zu lange,“ rief Ursel ihr nach, „du weißt, wir haben große Wäsche, und du sollst mir helfen.“
„In anderthalb Stunden bin ich wieder da,“ tönte es zurück.
Klar wie der Himmel, der sich hoch über ihr wölbte, war es Suse zu Sinn, und munter schritt sie fürbaß.
Daheim ging inzwischen Ursel ihrer Beschäftigung nach und brummte allerlei mißmutige Worte vor sich hin. Die Arbeit häufte sich für sie. Je weiter die Zeit vorschritt, um so mürrischer wurde sie deshalb.
Sonntag war Susens Geburtstag, den sie eingedenk des eigenen genossenen Festtages recht schön gestaltet wissen wollte. Aber die Vorbereitungen gingen nicht von der Stelle. Die Tannenzweige zum Ausschmücken von Susens Stube lagen noch immer im Gang. — Suse blieb auch lang über die Zeit weg und dachte nicht an ihre Arbeit. Dabei sollte sie im ganzen Haus die Bettbezüge abnehmen, die Kissen mit neuen Leinen bekleiden und die schmutzige Wäsche Ursel an das Waschfaß bringen. — Indessen, das flatterhafte Doktorskind hielt es für besser, im lichten Frühlingswäldchen vor der Stadt spazieren zu gehen.
Als nahezu drei Stunden seit ihrem Fortgang verstrichen waren und noch keine Spur von ihr zu entdecken war, machte sich Ursel selbst an die Arbeit, die sie dem jungen Mädchen zugedacht hatte. Schlürfenden Schrittes ging sie von einem Bett zum andern und nahm die Bezüge ab. So kam sie schließlich auch an Susens Lagerstatt, in der, verhängnisvoll wie ein Geschenk aus der Büchse der Pandora, der leichtsinnige Brief schlummerte. Seufzend trat sie an das Bett. Jetzt breitete sie ihre mageren Arme aus, um das Deckbett zu heben. — Hätte sich in diesem Augenblick die Tür geöffnet und Suse sich gezeigt, so wäre alles noch zu retten gewesen. — Aber die Übeltäterin war ja weit. Zorniger als bei den ersten Betten zog Ursel an Susens Leinenbezug, schleuderte ihn in die Höhe und riß ihn zu sich heran in die Stube. Polternd fiel etwas Schweres hinterher. Ursel bückte sich und hob ein Buch und einen Brief auf.
„Unordnung, Unordnung,“ murmelte sie. „Wozu ist denn die Kommode da? Aber das wird alles hingestopft, wo es gerade hingeht.“
Vielleicht hätte nun die alte Magd den Brief ungelesen zur Seite gelegt, wenn nicht auf dem ersten Blatt, nahe seinem untern Rande ein großer Tintenklecks gewesen wäre, der ihre Blicke auf sich gezogen hätte. Ganz mechanisch griff sie danach und prüfte, ob er auch trocken sei. Und da legte sie ihren Finger mitten auf ihren eigenen Namen. Ursel stand dort, dick und groß geschrieben. — „Ursel.“ — Sie sah näher hin. Ja, es hieß Ursel. Sie hielt den Brief dichter vor ihre Augen. Wahrhaftig, es war ihr Name. Ursel, Ursel stand dort.
Und nun begann sie zu lesen, und ihr Gesicht wurde immer länger. Sie glaubte schließlich, sie sei nicht mehr recht bei Verstand.
„Du erkundigst dich nach Ursel und Herrn Schnurr,“ stand dort. „Zwischen diesen besteht jetzt eine innige, minnige, sich stets vervollkommnende Freundschaft..., ein unaustilgbarer Herzensbund. Nächstens geben sie sich einen Kuß... Wie die Verlobten sind sie, wie Braut und Bräutigam.“ Ursel konnte nicht mehr weiter lesen. Träumte sie denn, ging denn die Welt unter?
Nein, nein, da stand klar und deutlich, „nächstens geben sie sich einen Kuß, wie die Verlobten sind sie. Wenn er erscheint, lächelt sie ihn an, süß wie ein Honighafen.“
Das war zuviel. Stöhnend sank Ursel auf Susens Bett.
Das war die Schändlichkeit in ihrer höchsten Vollendung! Das war der Gipfel der Erbsünde! Das war schlecht, schlecht, erbärmlich! Das war höllisches Gift!
Ursel faßte sich an den Kopf.
In diesem Augenblick klingelte es, und die alte Frau, in dem Wahne, Suse komme, sprang mit Brief und Buch in die Höhe auf den Flur und öffnete die Tür, um die Sünderin zu packen und zu richten.
Der Einlaß Begehrende, der draußen stand, war aber nicht Suse, sondern der unschuldige Knabe Hans, der einen großen Sprung rückwärts tat, als er Ursels zornfunkelndes Gesicht vor sich sah.
„Heilige Maria und Joseph, was ist denn los!“ rief er. „Sie blasen mich ja um, Ursel, Sie blasen mich um.“
„Soll ich vielleicht noch nicht mal mehr blasen?“ schrie Ursel. „Unverschämter Bub! Hinter die Ohren will ich dir eins geben! Was los ist, willst du wissen? Hier, hier steht, was deine saubere Schwester von mir geschrieben hat. ‚Wie Braut und Bräutigam sind sie, wie die Verlobten küssen sie sich, sie stopft Herrn Schnurr seine Strümpfe, sie lächelt ihn wie ein Honighafen an.‘ — Willst du’s hören, willst du’s hören?“ Und die alte Magd drückte ihm das Tagebuch mitsamt dem Brief so[S. 143] fest gegen das Gesicht, daß er kaum imstande war, zu atmen, geschweige denn ein Wörtlein zu piepsen.
Nur ein eiskalter Schreck schoß ihm durchs Gebein. — Er wußte, nun war Susens Geburtstag verdorben.
„Wo, wo, wo haben Sie denn das gefunden?“ stotterte er.
„Wo, wo, wo! Ei, da, wo’s lag. Und jetzt kommt’s in den Herd.“
Und mit diesen erregten Worten eilte die alte Magd an Hans und Frau Cimhuber vorüber, die seit dem ersten Entsetzensschrei ihrer alten Dienerin bestürzt herbeigekommen und nicht mehr gewichen, sondern händeringend gefolgt war.
Ursel nahm ihren Weg in die Küche. Dort riß sie die eisernen Herdringe zur Seite, und mit einem Schwung lagen Brief und Tagebuch im Feuer.
„Halt, halt,“ rief Hans, „halt, halt,“ faßte in die Glut und zog das versengte Tagebuch wieder heraus.
Nun stürzte die alte Magd auf den Knaben zu, um ihm den Schatz zu entreißen, und eine tolle Jagd um den Tisch herum hub an. Ursel sprang hinter Hans her wie der Hund hinter dem Wild. Jetzt hatte sie ihn beinahe gepackt, da war er um die Tischecke herum, und sie schoß geradeaus gegen die Tür.
Dann war sie wieder hinter ihm und riß im Laufen einen irdenen Topf vom Tisch herunter, der polternd auf den Boden stürzte. Da brach Hans in lautes Lachen aus, so lustig fand er das Spiel.
Hierauf ging Ursel stumm hinaus.
Aber es währte nicht lange, Hans stand noch immer auf derselben Stelle wie vorhin und schnappte nach Luft, da öffnete sich die Tür wieder, und Ursel kam zum Vorschein und trug eine große Pappschachtel schweigend vor sich her.
„Sie will fort,“ durchschoß es Hansens verängstigtes Gemüt. — „Jetzt packt sie.“
Aber vor seinen erstaunten Augen löste die alte Magd die Schnüre der Schachtel und entnahm ihr ein schwarzes Kaschmirkleid, einen Orangeblütenkranz und einen Schleier, indem sie mit Tränen im Auge sagte: „Da ist mein Brautkleid und mein Schleier und mein Kranz, und bei Königgrätz ist mein Bräutigam gefallen. Und mein ganzes Leben lang bin ich ihm treu geblieben. Und hier ist seine Photographie. Und nun muß ich auf meine alten Tage soviel Schande erleben.“
Hans wurde es ganz schwarz vor den Augen bei dieser Beichte und so beklommen und elend zu Sinn, als habe er selbst auf Ursels Bräutigam die Todeskugel abgefeuert. Was sollte er nur sagen! Was sollte er nur sagen!
„Aber Ursel, das ist ja doch nicht Susens Ernst, das ist doch Spaß,“ stotterte er schließlich.
Noch hatte er seine Worte nicht ausgesprochen, da klingelte es wiederum, und allen dreien fuhr es wie ein Schlag durch den Sinn, daß jetzt Herr Schnurr zur Stunde komme.
„Er bleibt draußen,“ rief Ursel mit halberstickter Stimme. „Ich will ihn nicht sehen. Er soll mir nicht mehr vor die Augen kommen.“
Frau Cimhuber war so verwirrt von den Ereignissen der letzten Viertelstunde, daß sie nicht mehr recht wußte, was sie tat und selbst zur Türe ging, um Herrn Schnurr abzuweisen und zwar mit einer Lüge, der ersten, die sie seit Jahren über die Lippen brachte. Aber die Sorge um Ursel machte selbst ihre Grundsätze wankend.
„Hans ist krank,“ sagte sie leise.
Kaum hatte der Lehrer das Wort „krank“ vernommen, so bestand er erst recht darauf, seinen Schüler zu sehen und trat, Frau Cimhuber sanft auf die Seite schiebend, in den Gang. Als er an der Küchentür vorüberging, erspähte er Ursel, die dort vor ihrem Brautstaat tränenden Auges stand. Den Finger schalkhaft erhebend, meinte er: „Na, na, Ursel. — Sie werden doch nicht. — Ein schwerer Schritt das Heiraten! Da heißt’s überlegen.“
Hier fielen seine Blicke auf Hans, der wie ein verschämter Bräutigam errötend hinter Ursel stand. Und kurz entschlossen nahm er ihn am Arm und führte ihn mit sich fort.
Nach Herrn Schnurrs wilden Ausrufen und dem Schall seiner Schritte, die aus der Negerstube drangen, konnte man erkennen, wie eifrig er bei der Sache war. —
Der temperamentvolle Lehrer war schon längst wieder von dannen gezogen, da kam endlich die Ausreißerin Suse nach Hause.
Wie ein gezackter Gebirgsstock, über dem ein schwarzes Wetter steht, kam ihr Ursels Gesicht bei der Begrüßung vor. Und in dem Glauben, die Ursache von soviel finsterem Groll zu kennen, begann sie schmeichelnd: „Bitte, bitte, liebe Ursel, entschuldigen Sie, daß ich so lange fort war, seien Sie mir, bitte, nicht böse. Ich werde ihnen jetzt mit neuen Kräften helfen wie eine Scheuerfrau. Es ging einfach nicht, daß ich früher kam. Wir haben eine unserer Lehrerinnen getroffen, die wir so gerne haben, und sie nahm uns mit in den Wald und zeigte uns Plätze, wo schöne Anemonen stehen, herrlich! Ursel, es ist so herrlich, in das Pflanzenleben einzudringen, dies Wachsen und Blühen und Gedeihen. Überhaupt das ganze Pflanzenleben. Wie schön ist doch die Natur!“
Ursel verzog keine Miene.
Suse schwärmte weiter: „Sehen Sie, ich habe Frau Cimhuber einen[S. 145] ganzen Arm voll Blumen mitgebracht. Wie ein Frühlingsgarten wird’s bei uns sein. Ursel, der Vorfrühling ist gekommen. Man spürt’s. Und der Kuckuck ruft. — Und der Waldesduft, und das Moos...“
Ursel blieb stumm wie das Grab. Eine dicke Hornhaut schien sich über ihr Gemüt gelegt zu haben; über die eindruckslos wie Zephyrfächeln über Felsgestein Susens Schmeichelworte hinstrichen.
Da beschloß das Doktorskind, die alte Magd nicht mehr durch Worte, sondern durch Taten zu versöhnen, und sie ging von dannen, um sich eine große Schürze vorzubinden und Arbeit zu suchen.
Zu ihrem Erstaunen erwiderte aber auch Frau Cimhuber, die eben in die Küche trat, ihren Gruß nur mit knappem Dank.
„Wie auf einem Geisterschiff,“ murmelte das Doktorskind leise vor sich hin, als sie die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.
„Komm nur herein, komm nur herein!“ tönte es ihr dort aus dem Hintergrund entgegen. „Was Gutes hast du angerichtet! Was Sauberes! Einen feinen Salat, den wir jetzt zusammen ausgrasen können!“
Und in die Stube tretend, sah sie ihren Bruder auf Zehenspitzen umherlaufen, während er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatte und beschwichtigende Bewegungen machte.
„Es hat zwölf geschlagen, es hat zwölf geschlagen,“ rief er. „So was haben wir noch nie erlebt, noch nie.“
„Was ist denn los?“ fragte Suse. „Was ist geschehen? Was läufst du denn so närrisch da herum?“
„Schau,“ sagte Hans und deutete mit ausgestreckter Hand auf Susens Bett, „guck, dann weißt du alles.“
Suse folgte mit ihren Augen der Richtung seines Fingers, stieß dann einen lauten Schreckensruf aus und ließ sämtliche Anemonen zu Boden fallen, so daß sie mit verwirrten Köpfchen und Stielen dort lagen, wie vom Sturmwind zerwühlt.
„Wer hat das Bett abgezogen?“ stotterte Suse.
„Ursel.“
„Und meinen ganzen Brief hat sie gelesen?“
„Ja.“
„Alles, was ich zusammengeschmiert habe von Braut und Bräutigam und Verlobtsein und Küssen und herrlicher Freundschaft und Herrn Schnurr und gestopften Strümpfen und all das dumme Zeug?“
„Ja, von A bis Z.“
„Und schlecht ist mir’s noch,“ fuhr Hans fort, „wenn ich nur daran denke, wie sie gejammert hat. Und ihr Brautkleid in einer Lade hat sie hinterher geholt und hat drauf geweint. Entsetzlich!“
„Aber eine so alte Frau kann sich doch ihr Lebtag nicht in einen solch[S. 146] jungen Mann wie Herrn Schnurr verlieben,“ jammerte Suse, ihr Gesicht in den Händen vergrabend und laut weinend. „Da lachen ja die Hühner. Sie muß doch wissen, daß es nur Unsinn war.“ —
„Nun ist alles, alles aus, mein ganzer Geburtstag. Und nie in meinem ganzen Leben hab’ ich mich so auf einen Geburtstag gefreut, wie auf diesen. Gelt Hans, nun ist alles verloren?“
Der Bruder nickte begossen.
„Was wolltet ihr denn eigentlich anfangen an meinem Geburtstag?“ fragte Suse nach einer Weile, in Tränen zerfließend.
„Ich kann dir’s jetzt ja sagen,“ entgegnete Hans zage, „denn aus ist’s ja doch. — Die Papierschlangen und Lampions sind bereits wieder zu Pastor Brauers zurückgeschickt worden, die sie uns geliehen hatten. Wir hatten dir herrliche, dreistimmige Lieder eingeübt, Herr Schnurr, Ursel und ich. Herr Schnurr ist zuweilen fast aus der Haut gefahren, so falsch hat Ursel gesungen. Aber schließlich hat sie’s doch kapiert. Und zur Dankbarkeit für Herrn Schnurrs Bemühungen wollte sie ihm die Strümpfe stopfen. Dann beabsichtigten wir, dir noch eine wunderbare Laube aufzubauen, von Tannenzweigen und Papierschlangen, und die ganze Negerstube abends mit Lampions zu erleuchten, zu singen und zu tanzen.“
Susens Tränen flossen reichlicher bei dem Gedanken an den prunkvollen Ehrensitz, um den sie sich durch ihren Leichtsinn gebracht hatte. Hans aber fuhr fort: „Außerdem wollten Christoph und Henner mit ihrem Kasperletheater ankommen und ein selbsterfundenes Stück vorspielen. Es heißt: „Wie die Fremdlinge die Kühe melken.“ Und das darf ich nicht vergessen, Ursel wollte sich eine ganze Marzipantorte von einem halben Meter Durchmesser abzwacken. Das ist nun alles Essig. — Ich glaub’, sie wollen jetzt sogar der Mutter abschreiben, daß sie nicht kommt.“
„Die Mutter wollte kommen?“ rief Suse aufspringend. „Die Mutter? Seit wann wollte sie denn kommen? Seit wann? Sag’ Hans, seit wann? Gelt, das ist meine Überraschung von daheim?“
„Ach, ich dummer Papagei,“ rief Hans, sich mit beiden Händen an den Mund fassend. „Das ist mir jetzt herausgewitscht. Ich weiß nichts, ich weiß nichts. Ob sie kommt, ob sie nicht kommt, frag’ mich nicht.“
Suse erhob sich langsam, sammelte ihre Blumen vom Boden auf und ordnete sie zierlich. Köpfchen neben Köpfchen, und Stiel neben Stiel, und steckte sie, mit Tränen benetzt, in eine Vase.
Eigentlich waren die Anemonen für Frau Cimhuber bestimmt gewesen, aber wie hätte sie es unter diesen Umständen gewagt, der Pfarrfrau Blumen anzubieten.
Nach einer Weile schlich sich Hans in die Küche, um dort zu sehen, wie der Wind wehe. Aber schneller, als Suse gedacht, kehrte er wieder zurück und flüsterte: „Ursel sitzt noch immer, in Tränen gebadet, auf ihrem Stuhl und hat die Schachtel mit dem Brautkleid offen vor sich stehen.“
Susens Herz klopfte schuldbewußt. Und der Abend verlief in gedrückter Stimmung. Nur Hans fühlte, obwohl von Mitleid für Suse ergriffen, wie sich ein kleiner Freudefunken in seinem Herzen rührte, der immer lebhafter wurde, so daß er ihn schließlich herausspringen lassen mußte.
„Bin ein fahrender Gesell, kenne keine Sorgen,“ tönte es erst leise, dann immer lauter werdend von seinen Lippen, „labt mich heut der Felsenquell, tut es Rheinwein morgen...“
Morgen ging es ja fort von hier, fort, hinaus in die köstliche Freiheit, in die Berge, wo der frische Wind wehte. Mit Theobald und Peter und einigen andern Knaben hatte er eine Wanderung verabredet. —
Zwei Tage war ja keine Schule des Examens wegen. — Seine Brust dehnte sich, und seine Augen leuchteten, und sein Gesicht rötete sich, und mit einemmal stieß er einen solch durchdringenden Jauchzer aus, daß Ursel und Frau Cimhuber in der Küche zusammenflogen.
Schnell erinnerte er sich aber wieder an die unheimlichen Nachtgespenster, die zurzeit im Cimhuberschen Haus umgingen, und er schwieg.
Behutsam holte er seinen Rucksack von der Wand herunter, schnürte ihn auf und packte alle möglichen Dinge ein, die er zur Wanderschaft brauchte: Strümpfe, Wäsche, Nähzeug, auch Brot in einen Beutel und Suppenwürfel. Dann nähte er sich die grüne Schnur, die von seinem Lodenhut abgerissen war, wieder kunstgerecht fest und erzählte Suse dabei allerlei von seinen Wanderplänen. — Die erste Nacht gedachten Theobald, Peter und er in einem größeren Ort, Wildershausen, zu übernachten. — Wie Suse sich vielleicht noch entsinne, meinte der Bruder, habe der Vater diesen Ort in seinem Brief ein- oder zweimal erwähnt, und zwar mit dem Vermerk, Hans solle das Städtchen auf seiner Wanderung doch einmal aufsuchen und ihm dann schreiben, wie es ihm gefallen habe. — Weshalb der Vater das wissen wolle, sei ihm allerdings nicht klar. —
„Ach, könnt’ ich doch nur mit, ach, könnt’ ich doch nur mit,“ seufzte Suse.
„Sei nicht traurig,“ tröstete Hans, „Samstag abend komme ich ganz bestimmt wieder, und wenn Ursel uns nicht haben will, so wird dein Geburtstag eben bei Tante Hedi gefeiert. Ich werde schon dafür sorgen. Das Theaterstück bekommst du auf alle Fälle zu sehen. Es ist, um an[S. 148] den Wänden heraufzukrabbeln vor Lachen. Solche verrückten Dinge, wie drin vorkommen, hast du noch nie gesehen. Die Reden für das Kasperle hat Theobald gedichtet.“
Hier holte Hans seine nägelbeschlagenen Gebirgsschuhe aus dem Schrank hervor und beschloß, sie in die Küche zu tragen und dort einzufetten.
„Heute muß ich acht geben, daß ich keinen einzigen Spritzer Öl vorbeitröpfeln lasse,“ flüsterte er Suse zu, als er zur Türe hinausging, „sonst schlägt mir Ursel die Hasenpfoten um die Ohren, die ich ihr neulich eigenhändig zum Schuheinschmieren gestiftet habe.“
Etwas später suchte Suse Frau Cimhuber auf, um sie zu bitten, doch den dummen Brief zu entschuldigen und ein Wörtlein zu ihren Gunsten bei Ursel einzulegen. Aber die Pfarrfrau sagte streng: „Selbst im Spaß schreibt man keine solch’ dummen Verleumdungen, wie du es getan hast, Suse. Ich verstehe Ursels Empörung vollständig. Wenn sich zwei junge Mädchen weiter nichts zu schreiben haben als Narrheiten wie ihr, dann geben sie das Briefschreiben besser ganz auf.“
„Wir schreiben uns doch auch noch andere Sachen,“ entgegnete Suse kleinlaut.
„Herrliche Naturbeschreibungen stehen manchmal in unseren Briefen, und noch andere, viel, viel ernstere Dinge, von denen ich nicht reden darf, so ernst sind sie. Über manchen Brief von Karla hab’ ich schon geweint. Wir schreiben uns nämlich zurzeit gerade darüber, daß wir uns später einen Beruf erwählen wollen, in dem wir recht viel zum Glück der Menschheit beitragen. Ich habe in diesen Tagen auch schon an Herrn Edwin deshalb geschrieben.“
Aber Frau Cimhuber war nicht umzustimmen. Und Ursel verschloß ihr Gemüt erst recht.
Sie antwortete nicht. Sie seufzte nicht. Sie war ein Fels geworden. Sie deckte den Tisch auf wie eine Salzsäule. Sie deckte ihn wieder ab. Sie räusperte sich noch nicht einmal. Und das Brautkleid lag noch immer in der Küche und quälte Suse durch seinen Anblick. —
Am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe, als die andern noch schliefen, machte sich Hans dann auf die Wanderung.
Nun war Suse allein. Trübselige Tage folgten. Die Welt erschien ihr wie ein Grab. Kein Kuchen-, kein Schokoladeduft verkündete ihr, daß ein Umschwung zu ihren Gunsten eingetreten sei. Die Kuchenbleche blieben unangetastet an der Wand hängen, die Rosinen ruhten in ihrer Tüte, die Vanillestangen in ihrer Büchse. Es roch nach Negerstube, nach Schmierseife, nach den altbekannten Düften des Cimhuberschen Hauses, nach nichts anderem.
Endlich, endlich kam der Samstagabend heran, und mit ihm das Ende ihrer Qual, wie Suse hoffte. Heute mußte Hans ja wiederkommen. Er hatte es versprochen. Und vielleicht auch, vielleicht auch — die Mutter. Ganz auszudenken wagte Suse diesen herrlichen Gedanken nicht. Als es aber Abend war, lief sie zum Zug, der aus ihrer Heimat kam, um die Mutter in Empfang zu nehmen. Doch umsonst.
Auch Hans kam nicht.
Den ganzen Abend wartete sie vergebens auf ihn. Es schlug zehn, es schlug elf, es ging auf Mitternacht. Er kam immer noch nicht. Müde und verängstigt suchte sie da ihr Bett auf. Erst spät fand sie den Schlaf.
Der erste Gedanke, der Suse am andern Morgen beim Erwachen durchfuhr, war der an ihren Geburtstag. Vierzehn Jahre war sie heute alt. Vierzehn Jahre! Es war ein Sonntag heute. Die strahlende Sonne lachte über die ganze Welt. Die Anemonen am Fenster hatten ihre Kelche weit geöffnet und fingen das helle Licht in ihrem kleinen Blütentellerchen auf.
Die Uhr sagte Suse, daß es schon sehr spät sei. Schon neun Uhr.
Nicht wie sonst hatte Ursel sie um sieben geweckt, damit sie zur Kirche gehe. Sie hatte sie schlafen lassen. Kein Laut regte sich im Haus. Totenstill war es, als wären Ursel und Frau Cimhuber gestorben. Auch Hans war nicht gekommen. Suse schlüpfte unter die Decke und machte die Augen zu. Am liebsten wäre sie in einen hundertjährigen Schlaf verfallen. Aber wie das anfangen.
Es blieb ihr nichts anderes übrig als aufzustehen, sich anzuziehen und Frau Cimhuber und Ursel, die aus der Kirche kamen, zu begrüßen und nachzusehen, wie der Wind heute wehe. — Die Geburtstagswünsche fielen mager genug aus. Und als Suse heimlich den Tisch in der Negerstube betrachtete, auf dem sonst die Geschenke ausgebreitet lagen, sah sie, daß er leer war wie eine frischgemähte Wiese. Keine einzige Gabe schmückte ihn. Noch nicht einmal ein Brief aus der Heimat war zu sehen. Wüstenartig öde kam Suse die Welt vor. Auch kein Kuchen war in der Speisekammer zu entdecken, wohin Suse ihre Streifzüge ausdehnte. Und als sie ihre Pflegemutter schüchtern fragte, was aus ihrer Nachmittagseinladung werden solle, wurde ihr der betrübende Bescheid, daß diese unter den obwaltenden Umständen natürlich unterbleiben müsse. So fiel Suse denn die recht beschämende, peinliche Aufgabe zu, ihre sämtlichen Gäste wieder auszuladen.
Auf ihrer Morgenwanderung kam sie auch in das Haus von Onkel Sepp und Tante Hedi und fand hier die ganze Bewohnerschaft in großer Aufregung.
Theobald war genau wie Hans am gestrigen Abend nicht zurück[S. 150]gekehrt, und hatte auch kein Wort der Entschuldigung geschickt. Hingegen war ein Trupp ihm befreundeter Knaben, die auf einer Wanderschaft begriffen waren, aus einer entfernten Stadt eingetroffen, und jetzt wußte kein Mensch, was mit ihnen anfangen. Auch sonst hatte es noch allerlei gegeben, was die Gemüter in Aufruhr versetzte. Am Abend vorher hatte sich Liselotte, Theobalds älteste Schwester, verlobt, eine Gelegenheit, die Christoph und Henner dazu benutzt hatten, sich in ihrem vollsten Glanze zu zeigen.
Bei der Verabschiedung des Bräutigams von der Braut hatten sie durch das Treppenhaus einen bekleisterten Zeitungsausschnitt mit dem Aufruf: „Wasche dein Haupt mit Javol“ auf die Glatze ihres zukünftigen Schwagers fallen gelassen und saßen nun, eine harte Strafe verbüßend, eingesperrt in der Bodenkammer.
Kein Wunder, daß unter diesen Umständen Tante Hedi ihrer jungen Nichte Geburtstag ganz vergaß.
Das Doktorskind mußte darum betrübter, als sie gekommen war, von dannen gehen. Im Vorgarten des Hauses traf sie mit Liselottes Bräutigam, einem sehr feinen Herrn, zusammen, der mit höflicher Verbeugung zu ihr die Worte sprach: „Guten Morgen, gnädiges Fräulein, wie geht es Ihnen?“
Gnädiges Fräulein, wie achtungsvoll, wie angenehm das klang! — Suse richtete sich an dem Gruße auf wie der erschöpfte Wanderer an einem Stab. Nach all den Niederlagen der letzten Tage war ihr diese Erfrischung zu gönnen.
Allein, als sie wieder zu Hause angekommen war, ging ihr Freudefünkchen jäh in der allgemeinen Begräbnisstimmung unter.
Von Hans war noch immer keine Nachricht gekommen. Und Frau Cimhuber und Ursel fingen an, sich zu ängstigen. Wie zwei aufgescheuchte Fledermäuse huschten sie durch das Haus.
Und nach Tisch zog sich jeder in seinen besonderen Unterschlupf zurück, Frau Cimhuber in die Negerstube, Ursel in die Küche, Suse in ihr Zimmer, um die Nachmittagsstunden nach Einsiedlerart, in sich gekehrt, zu verbringen. Aber die Trauergesellschaft hatte die Rechnung ohne den Wirt, in diesem Falle ohne Herrn Schnurr, gemacht.
Mit einemmal trat er lächelnd mit einem Blumenstrauß in der Hand durch die Tür der Negerstube und begehrte, Susens Wiegenfest in der geplanten Weise zu feiern, ohne Auslassung einer einzigen Programmnummer.
Frau Cimhuber und Ursel fuhren zusammen bei seinem Anblick und quälten sich mit dem Gedanken an das Versäumnis, das sie begangen hatten.
Sie hatten ja ganz und gar vergessen, den Lehrer abzubestellen. Sie hatten ihm ja kein einziges Wörtlein von der verhängnisvollen Donnerstagkatastrophe verraten, durch die das Cimhubersche Haus sozusagen auf den Kopf gestellt war. Nichts wußte er. Unschuldig wie ein neugeborenes Kind stand er da. Treuherzig lächelte er Frau Cimhuber und Ursel an. Seine Seele war rein und durchsichtig wie ein Bergkristall. Kein Schatten trübte sie.
Und nun war es zu spät, ihn wegzuschicken. Das sagten sich die zwei Frauen, die ihn genau kannten und wohl wußten, daß er sich nicht mehr verdrängen lasse. Er war ja störrisch wie ein Maultier.
„Wo steckt denn der Hans?“ rief er. „Ich bin doch nicht für die Katz gekommen, wir haben doch nicht wochenlang im Schweiße unseres Angesichts gespielt und gesungen, daß wir uns heute stumm wie die Fische gratulieren.“
„Hans ist auf einer Wanderung,“ stotterte Suse.
„Noch besser,“ sagte Herr Schnurr, „geht der auf eine Wanderung, wenn ich hierher bestellt bin. Das ist so die Art der modernen Kinder. Rücksicht auf Eltern und Erzieher kennen sie nicht.“
„Hans hat Ihnen doch einen Brief geschrieben, eh’ er fortging,“ sagte Suse stotternd. „Ich selbst hab’s gesehen. Haben Sie ihn denn nicht bekommen? Mein Geburtstag darf nämlich nicht gefeiert werden, weil hier allerlei vorgefallen ist.“
„Brief — Brief?“ fragte Herr Schnurr. „Ich hab’ keinen Brief bekommen. Na, ich kann’s mir schon denken, wo der hingekommen ist,“ sagte er mit einemmal. — „Der ist mal wieder bei uns in den Papierkorb gewandert mit den Drucksachen. — Das kommt öfters bei uns vor.“
„Ja, Susens Betragen war sehr ungehörig in den letzten Tagen,“ fiel hier die Pfarrfrau ein, „und deshalb haben wir von einer Feier ihres Geburtstages abgesehen.“
Herr Schnurr setzte sich auf einen Stuhl und erklärte kalt lächelnd, er sei jetzt da, und er bleibe auch da. Und die einstudierten Lieder würden trotz allem gesungen.
„Gelt, Ursel?“ wandte er sich vertrauensvoll an die erschrockene Magd. „Wir zwei singen zusammen. Wir zwei haben uns ja immer gut miteinander vertragen. Wir zwei werden jetzt unser Licht leuchten lassen.“
Ursel fuhr zusammen und wurde blaß bis an die Nasenspitze. Ihr Herz zitterte vor Zorn.
Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als vor der Sünderin Suse zu singen. Wie Knödel steckten ihr die Töne im Hals, aber tapfer sang sie ein Lied nach dem andern, aus lauter Angst vor ihrem Peiniger.
Suse aber fühlte angesichts des fleißigen Vortrags eine tiefe, tiefe[S. 152] Beschämung über sich kommen, so daß ihr die Tränen in die Augen traten.
Dort stand die gute Ursel in ihrem Sonntagsstaat und sang voller Verzweiflung die schönsten Lieder.
Und hier saß sie wie eine Königin und ließ sich feiern und hatte es so wenig verdient.
Schließlich konnte sie nicht mehr zuhören und beschloß heimlich davon zu schleichen und die zwei allein weiter singen zu lassen.
Aber Herr Schnurr hatte erraten, was sie wollte, packte sie am Arm und drückte sie unerbittlich auf ihren Stuhl zurück.
„Innsbruck, ich muß dich lassen,“ klang es begeistert von seinen Lippen in Gemeinschaft mit Ursel.
Dann empfahl er sich.
Ein Alpdruck wich von den drei Frauen. Suse stürzte, einen verwirrten Dank stammelnd, an Ursel vorbei in ihr Zimmer und wollte keinen Menschen mehr sehen.
Allein nur wenige Minuten verstrichen nach Abbruch des Vortrags, dann öffnete sich die Tür ihres Stübchens, und Frau Cimhuber trat ein, um ein Paket auf den Tisch zu legen.
Es sei schon einige Tage da, aber in dem allgemeinen Aufruhr der letzten Woche vergessen worden, sagte sie entschuldigend.
Suse betrachtete das Paket mit freudigem Erröten und entdeckte, daß es von Christine sei. Zärtlich wie einen lieben Bekannten drückte sie das Geschenk an sich. Es war ihr erster Gruß aus der Heimat. Mit aufgeregten Fingern löste sie die Schnur der Schachtel und entnahm ihrem Innern ein buntbesticktes Seidentuch, ein Erbstück von Christines Großmutter, das sie oft bei ihrer alten Kinderfrau bewundert und um ihre Schultern gelegt hatte.
Sie erfreute sich auch heute wieder an dem Glanz der leuchtenden Rosen- und Veilchensträußchen, die in das lila Tuch gestickt waren, und spürte mit Entzücken den Duft getrockneter Kräuter, der aus Christines Kommode kam, wo Steinklee in Büscheln zwischen Hauben, Tüchern und den sonstigen Habseligkeiten der alten Frau lag. Leibhaftig sah Suse Christines friedliches Reich vor Augen, und es wurde ihr ganz sehnsüchtig zu Sinn. Zu unterst in der Schachtel entdeckte sie dann einen Brief, der von Rosel geschrieben, aber von Christine diktiert war.
„Mein liebes, liebes Kind,“ stand darin, „Du weißt, ich kann nicht schreiben. Ich hab’ es in der Schule nicht gelernt. Wir brauchten nicht in die Schule. Rosel schreibt diesen Brief für mich. Und sie soll Dir viel Glück wünschen und Gesundheit und ein langes Leben. Und das Seidentuch in der Lade will ich Dir schenken, weil Du es ja immer so[S. 153] gerne hast leiden mögen. Und ich weiß ja nicht, ob ich noch lange lebe. Und vielleicht, wenn ich einmal gestorben bin, gibt’s Dir keiner.
Und wenn ich auch schreiben gelernt hätte, so könnt’ ich doch jetzt nicht mehr schreiben, liebe Suse, denn ich bin blind geworden, ganz blind. Du kannst es auch Hans sagen. Schon Weihnachten, wie Ihr daheim gewesen seid, und wie Du mir unter dem Tannenbaum so schön vorgelesen hast, unter dem Tannenbaum hab’ ich’s gespürt. Ich kann Euch jetzt nicht mehr sehen, wenn Ihr heimkommt, aber ich kann Euch noch sprechen hören und Eure Hände in meine nehmen. Erst im Himmel, wenn wir wieder alle zusammen kommen, kann ich Euch anschauen und sehen, ob Ihr noch Eure lieben, guten Gesichter behalten habt.
Es ist mir immer schwärzer vor den Augen geworden, und zuletzt habe ich nur noch einen dicken Nebel gesehen, und jetzt ist es ganz dunkel um mich wie in der Nacht. Euer Vater sagt, mir ist nicht mehr zu helfen. Jetzt kann ich die schöne Welt nicht mehr sehen. Siebzig Jahre lang hat unser Herrgott sie mich sehen lassen und hat es immer so gut mit mir gemeint, und jetzt hat er mir die Augen zugemacht, und ich bin blind. Und jetzt sitz’ ich immer draußen in der Sonne auf der Treppe und rieche die Veilchen, die aus der Erde kommen, und höre die Vögel. Und ich weiß doch, wie alles aussieht. Resi führt mich an der Hand durch den Garten und den Weg ins Dorf hinauf, wenn ich zu Euern Eltern gehe. Ich weiß, daß Ihr bald fortziehen werdet, weit, weit fort, und nicht mehr wiederkommt. Eure Mutter hat’s mir gesagt. Ich weiß auch, dann sehen wir uns hier nicht mehr wieder. Ich weiß, daß ich nicht mehr lange leben werde. Der liebe Gott hat mir die Augen zugemacht, das ist ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll. Aber ich kann ruhig sterben, denn jetzt ist alles gut. Für mein Kind sorgt der Herr Doktor und die Frau Doktor, und ich weiß, daß auch Ihr gut zu ihm sein werdet. Alle Leute hier sind traurig, weil Ihr fort wollt, und sie sagen, so ein guter Doktor kommt nicht wieder...“
Da konnte Suse vor Weinen nicht mehr weiter lesen. Christine war blind geworden, und die Eltern wollten von zu Hause fort. Das war zuviel des Traurigen auf einmal. Sie legte den Kopf auf das bunte Tuch und schluchzte zum Herzzerbrechen.
Ursel hörte sie draußen weinen. Aber sie hatte jetzt keine Zeit, nach dem Grund ihres Schmerzes zu forschen. Eine merkwürdige Zeitungsnachricht, die sie im Sonntagsblatt gelesen, hatte sie erschreckt. —
Ein Brandunglück war dort vom Freitag abend aus einem Ort namens Wildershausen gemeldet. — An verschiedenen Stellen sollte es gebrannt haben. Mehrere Scheunen sollten eingeäschert, und drei Knaben, die im Heu übernachtet hätten, schwer zu Schaden gekommen sein.[S. 154] Wildershausen — Wildershausen, ging es Ursel durch den Sinn. Das war ja der Ort, in dem Hans am Freitag abend übernachten wollte. Ja, ja, so hieß der Ort. Er hatte ihn ihr genannt, als er beim Schuheinfetten am Donnerstag abend in der Küche neben ihr gesessen war und sie auf andere Gedanken zu bringen versucht hatte.
Und nun war er nicht heimgekommen. —
Ursel hatte sich schon den ganzen Morgen um ihn geängstigt. — Am Ende... Ursel wurde es ganz schwarz vor den Augen..., die Knaben waren ja immer noch nicht da. Es ging auf fünf Uhr. Kein Mensch wußte, wo sie waren. Gestern abend hatte Hans bestimmt kommen wollen.
„Frau Pfarrer,“ rief da Ursel, „Frau Pfarrer, hieß der Ort nicht Wildershausen, in dem Hans übernachten wollte?“
„Ja, Wildershausen,“ sagte Frau Cimhuber.
„Sehen Sie,“ rief die alte Magd und reichte ihrer Herrin das Zeitungsblatt, „sehen Sie, da steht’s, Brand. Die Scheune brannte nieder. Zwei Knaben kamen ums Leben. Nein, zu Schaden,“ verbesserte sie.
„Hören Sie, das ist Wildershausen, und da wollte Hans die erste Nacht hin. Am Ende er wird doch nicht... es wird doch nicht... unser Hans... ich sag’s ja immer, das ist nichts mit diesen gräßlichen Wanderungen. Da erkälten sie sich, sie essen schlecht, und zuletzt fallen sie in die Flammen hinein. Das ist das Ende vom Lied. Haben sie es daheim nicht viel besser!“
Ursel begann nun um den Doktorssohn laut zu klagen. Er, den sie am Donnerstag abend noch einen unverschämten Bub genannt hatte, war mit einmal der liebe, gute, freundliche Hans, der ihr so oft das Geschirr abgetrocknet und das Feuer angemacht hatte, wenn ihre Hände vom Rheumatismus angeschwollen waren. Immer wieder hatte er ihr neue Mittel zur Heilung gebracht.
Noch einmal vertiefte sie sich in die Zeitungsnachricht und erklärte dann: „Er ist’s. Drei Knaben steht hier. Das ist Theobald und Hans und Peter. Die schlafen ja immer des Nachts in Kuhställen und auf Heuböden. Ich will jetzt mal hingehen und sehen, was mit Theobald los ist, ob der immer noch nicht da ist.“
Damit legte sie ihren Sonntagsstaat an, einen abgelegten Capothut von Frau Cimhuber und eine schwarze Pelerine, und machte sich auf den Weg zu Susens Verwandten. Leider verfehlte sie Toni um einige Minuten, die mit einer inhaltsreichen Depesche von Theobald in der Hand ihren Weg zu Frau Cimhubers Wohnung hinauf genommen hatte.
Während sich all dies in der Stadt zutrug, hatten Hans und Theobald ereignisreiche Tage verlebt.
Im Kreise einiger Freunde waren sie am Freitag morgen dem Gebirge zugefahren, hatten dort die Bahn verlassen und waren zur Höhe emporgestiegen, von wo sie eine Kammwanderung angetreten hatten.
Hans fühlte sich am Wandertage nach den beklemmenden, letzten Ereignissen im Cimhuberschen Haus so frei wie der Vogel in der Luft. Sein Hut hing am Rucksack. Der Wind spielte ihm frisch um die Stirn. Ein herber, stärkender Hauch wehte hier oben. Große landschaftliche Schönheit breitete sich vor seinen Augen aus. Von der Ebene her leuchteten die Dörfer und Ortschaften, von der Sonne beschienen, weiß herauf. Am Bergeshang tief unten lag ein zarter Schleier über den Wald gebreitet. Es war das erste Frühlingsgrün, duftig wie ein feiner Hauch. Hier oben, wo es nur niedere Tannen und verkrüppelte Buchen gab, merkte man noch nichts vom Blühen und Wachsen.
In dem unermeßlichen Äther in der gleichen Höhe mit den Knaben zog ein Bussard über der Tiefe des Tals in wunderbarer Ruhe seine Kreise. Die Knaben blieben eine Weile stehen und folgten ihm mit den Blicken. Dann zogen sie weiter auf dem Gebirgskamm, der sich wie eine hochgespannte Brücke unter Gottes Himmel hinzog. Mittagsrast hielten sie in einer verlassenen Burgruine, die auf einem Gebirgsvorsprung lag und zu der sie nach einer zweistündigen Wanderung vom Kamm heruntergestiegen waren. In dem alten, eingeschlafenen Burghof machten sie sich ein Feuer an, um abzukochen. Bald brodelte eine kräftige Suppe im Kochtopf.
Hans langte mit großem Heißhunger zu. Die Vorstellung, daß jetzt eine gräßliche, dumpfe Stimmung über dem Cimhuberschen Haus brüte, schien seinen Appetit noch zu verdoppeln.
Nach beendigter Mahlzeit holten einige Knaben von einem nahegelegenen Quell Wasser und wuschen das Geschirr ab. Einer der Wanderer, ein begeisterter Redner und Sänger, drückte sich von der Küchenarbeit und erklomm das Gemäuer des verfallenen Rittersaals, um von einer Fensterhöhlung herab eine flammende Rede zu halten über die Zeit, als hier der Bauernkrieg wütete. — Hans hörte, den Kopf im Nacken, mit großem Interesse zu. Theobald hingegen zuckte die Achseln und verzog sich auf den Bergfried, wo er aus schwindelnder Höhe sich das Tal betrachtete und sich an der Hand einer Karte orientierte.
Nach einer guten Stunde fand der Aufbruch der Knaben statt, und die fröhliche Schar zog singend von dannen.
Bald lag der Burghof wieder vereinsamt da. Eine Eule, die erschreckt beim Nahen der Knaben davongeflogen war, kehrte mit schwerem Flügelschlag in ihr Reich zurück. Von unten, vom Bergeshang, tönte der Gesang der Wanderer verhallend herauf.
Es fing schon an zu dunkeln, als die Knaben ins Tal zurückkamen. Drei von ihnen beschlossen, in einem kleinen Dorf am Fuß des Gebirges zu übernachten, die andern, Theobald, Peter und Hans, weiter in die Ebene hinaus zu gehen, nach dem eine Stunde entfernten Städtchen Wildershausen.
Hans, der schon etwas müde war, gähnte und zog die Füße nach. Theobald pfiff einen Marsch, um seinen Vetter aufzumuntern.
Plötzlich aber stieß er einen Jauchzer aus und rief: „Famos wird das heute, Hans. Wir logieren beim Onkel Brettelkern, beim Doktor Brettelkern. Das hat mir der Vater geraten.
Kennst du den Brettelkern?“
Hans schüttelte den Kopf.
„Hat dein Vater nie davon erzählt?“
„Nein.“
„Das wundert mich,“ meinte Theobald, „der Doktor Brettelkern ist ein Onkel von uns, ‚zehnmal um die Ecke rum‘, das heißt von meinem Alten. Dein Vater kennt ihn aber genau, denn dein Vater und meiner waren schon in ihrer Jugend unzertrennliche Freunde. Und der Onkel Brettelkern hat an den beiden einen Narren gefressen gehabt, bis es eines Tages zum Krach gekommen ist. Widerspruch konnte der Brettelkern nämlich nicht ertragen. Und als die beiden jungen Dächse einmal in irgend einer Frage, ich glaube, es war die Alkoholfrage, gegen ihn gewesen sind, da wurde er fuchsteufelswild und hat sie vor die Tür gesetzt. Ich glaube, jetzt nach Jahren hat er endlich mal wieder an deinen Vater geschrieben wegen seiner Praxis, die er abgeben will.“
„Davon weiß ich nichts,“ meinte Hans ganz verwundert.
„Na, das ist ja auch nebensächlich, die Hauptsache ist, daß wir auf seinem Heuboden übernachten wollen,“ erklärte der Vetter. „Und am andern Morgen bringen wir ihm ein Ständchen und stellen uns vor als die Söhne vom Sepp und vom Hermann. Schmeißt er uns dann zum Hof hinaus, so ist’s ja noch immer Zeit zum Laufen meint der Vater.“
Dieser Plan wollte Hans keineswegs einleuchten. Und auch Peter schien es viel besser, sich einen Unterschlupf für die Nacht zu suchen, wo man am andern Morgen aufrechten Ganges davongehen konnte.
Indes die beiden fügten sich schließlich doch Theobalds Anordnungen. Bald hatten sie das freundliche Städtchen Wildershausen erreicht, und mußten nun den ganzen Ort durchwandern, ehe sie die Wohnung ihres Onkels gefunden hatten. Sie lag an der breiten Hauptstraße, ganz am andern Ende der Stadt.
„Aha, da sind wir,“ meinte Theobald, der zuerst das Schild mit dem[S. 157] Namen des Doktors an einem der weißgetünchten Häuser entdeckt hatte. „Dann können wir also drei Mann stark in seinen Wigwam einfallen. Hoffentlich laufen wir ihm nicht gleich in den Weg. Sonst wirft er am Ende einen Blick auf unsere klassischen Gesichter und drauf uns alle drei am Kragen hinaus.“
Durch die Gitterstäbe des großen eisernen Hoftores mit dem kleinen Eingangstor an seiner Seite spähten die Knaben in den Hof. Im Hintergrund gewährten sie eine Scheune mit einem Stall, zu dem rechtwinklig ein Schuppen angebaut war. Eine Menge Holz war darunter aufgeschichtet.
Daneben stand ein Mann, augenscheinlich der Kutscher, der damit beschäftigt war, Pferdegeschirr zu reinigen.
„Sollen wir’s wagen, sollen wir’s wagen?“ fragte Theobald. — „Hopp, wagen wir’s.“
Und die drei traten schnellen Schrittes ein, grüßten höflich und trugen ihr Anliegen vor. Theobald redete dabei wie ein Wasserfall. Der Mann vor ihm sah ihn zuerst mit leichtgeöffnetem Mund ganz verständnislos an. Dann aber begriff er langsam, langsam, lächelte verschmitzt und nickte beifällig.
„Guter Vetter, ich weiß schon, was du willst,“ meinte er, Theobald kameradschaftlich auf die Schulter klopfend. „Wir verstehen uns in der Angelegenheit. — Die letzte Woche sind nämlich schon ein paar von eurer Sorte dagewesen. Die haben bei uns übernachtet. So jemand wie euch können wir schon unterbringen. Das tun wir gern. Das macht dem Doktor Freude. Die letzten hat er sogar im Bette schlafen lassen.“
„Nur nicht in dem Brettelkern seiner Betten schlafen,“ riefen die Knaben und dachten mit Schrecken an das Erstaunen des Doktors, wenn dieser plötzlich die Sprößlinge der mit ihm verkrachten Verwandtschaft in seinen warmen Federbetten entdeckte.
„Auf dem Heuboden, wo es am dunkelsten ist, wollen wir schlafen,“ rief Theobald. „Der Heuboden, das ist unser Fall. Der Heugeruch, der ist gesund. Der schläfert ein. Wir sind sehr für die Natur, immer für die Natur. Gucken Sie unsere Kräfte. Alles von der Natur!“
Und damit ergriff er den verdutzten Peter am Kragen und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm dem Mann hin, indem er sagte: „Hier sehen Sie, alles mit einem Griff. Alles von der Natur.“
„Du gefällst mir, du kannst so bleiben,“ meinte der Kutscher und klopfte Theobald wieder befriedigt auf den Rücken.
„Kommt jetzt mit herein,“ setzte er zu den andern hinzu. „Die Luise soll euch ein gutes Abendessen kochen. In einer Stunde wird der Doktor da sein. Der wird seine Freude an euch haben. Es kommen auch noch[S. 158] andere Herrschaften mit, ein Herr und eine Dame. Was sehr Feines, glaube ich.“
„Heilige Genoveva,“ rief Theobald erschreckt, „nur nichts sehr Feines heute abend. Für Herrschaften sind wir nicht angezogen. Und dann fallen uns die Augen zu. Man muß uns so wie so schon Hölzchen dazwischen stecken, damit sie offen bleiben. Aber morgen um fünf Uhr bringen wir dem Doktor ein Ständchen. Was sagen Sie dazu? Studentenlieder spielen wir ihm auf. Die beiden da geigen wie die Engel im Himmel und ich singe wie eine Orgel.“
„Das wird den Doktor freuen,“ erwiderte der Mann lachend, „ja, das könnte ihm Freude machen.“
Hierauf brachte er den Knaben heißes Wasser aus der Küche, womit diese sich schnell einige Tassen Kakao anrührten.
Hans äugte ständig nach dem Hoftor hin wie eine Gemse, die auf Wachtposten steht. „Hoffentlich kommt er nicht,“ murmelte er vor sich hin. „Der wirft uns ja raus.“
„Iß und jammere nicht,“ mahnte Theobald.
Die Knaben verzehrten nun ein paar Stücke Brot und tranken ihren Kakao dazu und schickten sich hierauf an, ihr Eßgeschirr zu reinigen.
Da sagte der Kutscher so beiläufig mit größter Ruhe vom Hoftor herüber: „Dort unten kommt der Doktor.“ —
Die Knaben rafften ihre Rucksäcke und ihr Geschirr zusammen und rannten davon wie die Räuber.
„Kommen Sie, kommen Sie,“ rief Theobald, den Kutscher mit sich ziehend, „und zeigen Sie uns unser Nachtquartier! Erst morgen früh wollen wir den Doktor sehen.“
Und wie die Katzen kletterten sie an einer Leiter in der Scheune auf den Heuboden.
Sich die Seiten vor Lachen haltend, wackelte der Kutscher hinterdrein. Und oben breitete er ihnen ein Segeltuch auf das Heu, um es zu schonen, damit die empfindlichen Pferde morgens nicht seine Annahme verweigerten.
„Endlich, endlich in Sicherheit,“ meinte Theobald sich streckend und dehnend, als der Kutscher gegangen war. „So einen Heuboden, den lob’ ich mir. Das ist doch das Beste. Neulich der Kuhstall, der war zuviel für meines Vaters Sohn. Erst der Kuhgeruch und dann der Hühnergeruch, und kaum ist das überstanden und man ist eingeschlummert, da erwachen gleich so ein paar gefiederte Bestien, die mit uns zusammen logieren, und fühlen sofort das Bedürfnis, Eier zu legen und ihre Funktionen mit lautem Geschrei in die vier Winde zu rufen. Schauderhaft! Und dann, als sie damit fertig sind, fällt es ihnen ein, spazieren[S. 159] zu gehen, und sie nehmen ihren Weg direkt über unsere Köpfe und unsere Brust hinweg, voran der Gockel. Und wie ich aufwach’, steht mir der, weiß Gott, mitten auf der Brust und schlägt mir seine Flügel um die Ohren und schreit ‚Kikeriki‘, daß ich aufgefahren bin und ihn gepackt habe. Fast hab’ ich ihn ermördert.“
Hans und Peter lachten und vergruben sich im Heu.
„Sei still, Theobald,“ rief sein Vetter, „sonst hört uns der Brettelkern und holt uns von seinem Heuboden runter.“
„Lacht doch nicht bei dieser ernsten Geschichte,“ wehrte Theobald, „es kommt noch besser. Kaum sind die Hühner fort und wälzen sich mit dem vermalefitzten Gockel, dem ich ein paar Schwanzfedern abgebrochen habe, in den Hof hinaus, so fängt einer von unsern Freunden, der Philipp, so laut an zu schnarchen, daß man es durch drei Wände hören konnte. Und denkt euch, da sitzen in demselben Stall mit uns ein paar Truthähne. Die bilden sich ein, wir wollen sie uzen mit dem Schnarchen. Und jedesmal, wenn der Philipp mit der Stimme überschnappt, fangen die an so mordsmäßig zu kollern und zu glucksern, als wollten sie an den Wänden in die Höhe fahren vor Geschrei. Wißt ihr, eine Musik war in dem Stall, als wenn einer Ziehharmonika spielt, und der andere fällt der Länge nach von rückwärts auf das Klavier, auf sämtliche Tasten mit einem Schlag. Hinreißend! Na, da bin ich aufgestanden...“
„Und?“ fragte Hans.
„Laß mir meine Ruh,“ sagte Theobald, „ich will jetzt schlafen.“
Und damit drehte er sich auf die andere Seite. Bald verrieten seine tiefen Atemzüge, daß er schliefe. Und auch seine beiden Begleiter ruhten bald, von tiefem Schlaf übermannt, auf ihrer Lagerstatt.
Da — es mochte so vier Uhr morgens sein, wachte Hans plötzlich von einem lauten Geräusch auf, das im Pferdestall nebenan erklungen war. Er hörte Pferde wiehern. Mühsam richtete er sich auf und spürte, wie ihm ein schwerer Druck auf der Brust lag. Sein Kopf schwindelte. — Es roch nach Qualm und Rauch. Weit riß er die Augen auf und sah einen roten Schein von der Öffnung, die zum Pferdestall führte, herüberleuchten. Da war ihm plötzlich klar, was hier geschehen war. Mit einem Sprung war er auf den Beinen, riß seinen Freund Peter mit in die Höhe und schrie durchdringend: „Hier brennt’s! Es brennt! Feuer!“
Der Freund war sofort wach, und nun rüttelten die beiden an Theobald, der noch immer schlief wie ein Sack. Als sie ihn endlich aufgeweckt hatten, bedurfte es nur noch weniger Sekunden, bis er sich gefaßt hatte. Dann kommandierte er wie ein General: „Jetzt erst mal raus an die Luft.“
Mit großer Schnelligkeit ließen sich die Knaben an der Leiter hinunter und eilten durch die Scheune ins Freie.
Hier sahen sie den Hof tagehell erleuchtet. Der Holzstoß unter dem Schuppen brannte lichterloh, die Flammen schlugen zum Dach hinaus und griffen nach dem Stall hinüber.
„Schöne Bescherung,“ murmelte Theobald.
„Wir müssen die Pferde rauslassen,“ meinte da Hans Und die Knaben drangen sofort in den Stall ein, schirrten die Füchse los und führten sie ins Freie. Die Tiere drängten aufgeregt dem Feuer zu. Theobald wurde dabei zu Boden geschleudert und schlug seinen Kopf gegen einen Stein. Hans und Peter wurden gegen die Wand gedrückt und scheuerten sich das Gesicht blutig.
Noch rechtzeitig kam ihnen ihr Freund von gestern, der Kutscher, zu Hilfe und brachte die Pferde, unterstützt durch einige Männer von der Straße, ins Freie.
„Es brennt an verschiedenen Stellen in der Stadt,“ hörte Hans jene Leute rufen, und atmete erleichtert auf. Der Kutscher hatte ihn eben, anscheinend nicht recht bei Sinnen, angefahren: „Ihr vermalefitzten Lausbuben, habt ihr vielleicht das Feuer angemacht!“ — Fast wären sie also noch in den Geruch von Brandstiftern gekommen.
Theobald hatte sich inzwischen die Wunde mit ein paar Taschentüchern umwickelt und ging auf das Wohnhaus zu, indem er Peter erklärte: Er werde jetzt den Onkel „Zehnmal um die Ecke“ retten, ihn auf seinen Händen ins Freie tragen und im Namen seiner Familie Versöhnung feiern.
Als Theobald in den Hausflur eingetreten war, bemerkte er gleich auf der Spitze der Treppe im ersten Stock einen Herrn im Nachtgewand und rief ganz bescheiden hinauf: „Herr Doktor, kommen Sie gefälligst. Es brennt bei Ihnen. Soll ich Ihnen helfen? Es ist nicht gefährlich.“
„Aber Theobald, Junge, wo kommst du her?“ tönte da oben eine wohlbekannte Stimme herunter. Theobald stutzte. Dann hatte er den Rufer erkannt. Es war sein Onkel Hermann, der Vater von Hans Und in einigen Sprüngen war er bei ihm.
„Du hier, Onkel?“ rief er.
„Ja, du hier? das frag ich dich auch, Theobald,“ antwortete jener ganz betroffen. „Wo kommst du her?“
„Auf einer Wandertour, Onkel. Hans ist auch da.“
Und in demselben Augenblick kam der Knabe, von dem eben die Rede war, im Sturm die Treppe hinauf und rannte den Vater fast über den Haufen. Und nun erschien auch die Frau Doktor und war ganz bestürzt, als sie in dem unheimlichen Lichtschein, der das Treppenhaus erleuchtete, ihren Sohn gewahrte. —
Bis vor einer Stunde noch war sie mit ihrem Mann und dem Be[S. 161]sitzer des Hauses, dem Doktor, aufgewesen, und nun war sie im ersten Schlaf durch einen furchtbaren Lärm emporgerissen worden.
Gerade wollten Theobald und Hans den Doktorsleuten die nötigen Erklärungen über ihr Hiersein geben, da rannte ein dicker, alter Herr im Sturm an der Gruppe vorüber und warf sich seinen Rock über.
Es war der Doktor Brettelkern.
„Entschuldigt, ich muß mit in den Betrieb,“ rief Theobald und folgte seinem Onkel in den Hof. Schreiende Menschen drängten hier zur Tür herein, die Feuerwehr rasselte heran, die Pumpen wurden in Tätigkeit gesetzt und die Spritzen auf das Haus gerichtet.
Theobald suchte sofort irgendwo einzugreifen und half beim Pumpen mit einem Eifer, als hänge das Geschick Wildershausens von seinen Muskeln ab. Mitten im schönsten Arbeiten fühlte er plötzlich, wie ihm jemand die Taschentücher vom Kopfe riß, ein dickes Stück Watte mit einer brennenden Flüssigkeit in die Wunde stopfte und dann seinen Kopf mit einer Gazebinde so fest umwickelte, daß er sich zwischen die Kinnbacken eines Riesennußknackers geraten glaubte.
Es war der Doktor Brettelkern, der ihn verbunden hatte.
Unverzagt pumpte Theobald weiter, unterstützt von Hans und Peter.
Als nach einer Stunde der Brand gelöscht war und die Menschen sich vom Hofe verzogen hatten, fanden sich der Besitzer des Hauses und seine Gäste, die Doktorsleute von Schwarzenbrunn und die drei Knaben aus der Stadt, in dem gemütlichen Eßzimmer ein, wo sie sich an einer Tasse warmen Kaffees stärkten, die ihnen die Haushälterin des Doktors schnell bereitet hatte. Das Fragen und Erklären nahm nun kein Ende.
Hans, der sich schon die zwei letzten Stunden über den Kopf zerbrochen hatte, warum seine Eltern wohl hier seien und allerlei Ahnungen verspürte, erfuhr nun, daß sein Vater gekommen sei, um mit dem Doktor Brettelkern über seine Praxis in Wildershausen zu reden, die er in aller Kürze übernehmen werde. — Von Pfingsten ab sei der Doktorsleute und ihrer Kinder Wohnort Wildershausen.
Da stieg dem Knaben das Blut so heiß zu Kopf, daß seine Schrammen im Gesicht wie Feuer brannten. Für die nächste halbe Stunde kam ihm kein Wort über die Lippen.
Theobald aber betrachtete fortwährend mit sichtlichem Wohlgefallen sein zu einem Riesenkürbis angewachsenes Haupt im Spiegel ihm gegenüber.
Was Schöneres konnte er sich nicht denken, als hier sozusagen als Held zu sitzen.
Am schweigsamsten war der Hausherr, der Doktor Brettelkern. Aber schließlich riß er sich von seinen Gedanken los, sprang auf und meinte[S. 162] kopfschüttelnd: „Da hört man zwanzig Jahre nichts von einander. Und nun sieht man sich so wieder. Der ist genau wie sein Vater,“ meinte er, auf Theobald zeigend. „Der redete einen auch tot und lebendig.“
Seines Neffen Gesicht rötete sich vor Stolz, und er erklärte: „Ja, die Mutter sagt auch immer, Sepp, das haben sie von dir.“
Bis zum Sonntag blieb nun die Gesellschaft noch im Hause des gastfreundlichen Doktors. Früh am Morgen sollte eigentlich der Aufbruch in die Stadt vor sich gehen, aber da die Knaben in einen Murmeltierschlaf versunken und nicht aufzuwecken waren, bat ihr Gastgeber, daß man die Reise noch bis zum Mittag verschiebe. So kam es, daß Hansens Eltern erst gegen Abend von Susens Geburtstag im Hause der Frau Cimhuber eintrafen.
Kaum hatte Suse, die in inniger Umarmung mit Toni auf dem Sofa saß und die Depesche, die jene gebracht hatte, durchlas, die Stimme ihres Vaters und ihrer Mutter vernommen, da fuhr sie mit einem Jubelruf in die Höhe und stürmte auf den Flur zur Begrüßung.
Sie wollte ihren Vater und ihre Mutter nicht mehr loslassen. Sie umarmte sie immer wieder. Auch Hans zog sie an sich.
Aber der Bruder geriet gleich in Ursels Fänge, die ihn mit Fragen bestürmte. Sie hatte nur ein Auge für ihn.
„Lebst du noch Hans?“ rief sie. „Gelt, du bist’s doch gewesen, von dem in der Zeitung geschrieben stand?“ fragte sie ihn. „Komm her und sieh mich an. Dein ganzes Gesicht ist ja zerkratzt. Gott sei Dank, daß du noch lebst.“ —
„Seit wann soll ich denn gestorben sein?“ fragte Hans erstaunt.
„Seit’s in der Zeitung stand,“ erwiderte Ursel. „So was Ähnliches hab’ ich gelesen.“
Nachdem der erste Begrüßungssturm vorüber war und Suse an Ursels mildem Gesichtsausdruck merkte, daß Hader und Groll von ihr gewichen waren, wagte sie verstohlen ihren Arm unter den der alten Magd zu schieben und zu fragen: „Sind Sie mir böse? Haben Sie alles vergessen?“
„Das wäre ja eine Sünde, jetzt böse zu sein,“ entgegnete Ursel. „Wir wollen froh sein, daß Hans wieder da ist, und nicht an unsere Fehltritte denken. Wir wollen alles vergessen. Unser Kummer ist jetzt nebensächlich.“
Und sie rief die beiden in ihr Zimmer und holte aus ihrer Kommode ein silbernes Kreuz hervor, das sie Suse zum Geburtstag bestimmt, heute aber in ihrem Zorn unterschlagen hatte, und band es dem Doktorskind um. Und dann griff sie nach der berühmten, von Hans schon beschriebenen Marzipantorte, die mitten auf ihrem Bett stand, und reichte[S. 163] sie den beiden hin. Arm in Arm mit ihrer gütigen Geberin traten die Geschwister wieder vor das Angesicht ihrer Eltern, und so erfuhren diese nie, wie heftig die Wirbelstürme gewesen waren, die in der vergangenen Woche die Freundschaft des Kleeblattes hin- und hergezaust hatten.
Den Abend verbrachten die Doktorsleute nun mit ihren Kindern bei Theobalds Eltern in der Stadt, und erst am andern Tage setzten sie Frau Cimhuber von all den Beschlüssen, die sie in letzter Zeit gefaßt hatten, in Kenntnis.
Nach dem Städtchen Wildershausen wollten sie verziehen.
Ihre Kinder wollten sie zu sich nehmen, da in ihrem neuen Wohnort höhere Schulen seien.
Frau Cimhuber traf die Nachricht wie ein Schlag.
„Jetzt hat man sich gerade an die Kinder gewöhnt, und jetzt soll man sie wieder hergeben,“ sagte sie wehmütig vor sich hin. „Scheiden und Meiden, das ist das Leben.“
Ursel weinte drei Tage lang, als sie die traurige Nachricht erfahren hatte. Dann aber faßte sie sich und sagte zu Hans und Suse: „Ja, es ist viel besser für euch, daß ihr fortgeht. Besonders für dich, Suse. Ich habe es jetzt gesehen. Euer Vater ist ein ernster Mann. Er wird euch zum Ernst erziehen. Suse, nächstes Jahr wirst du konfirmiert. Da hast du eine strenge Aufsicht nötig und eine ernste Umgebung.“
Die schwersten Stunden aber standen Ursel noch bevor. Das waren die Wochen nach dem Fortziehen der Kinder. Mittags, wann die Zeit gekommen war, zu der die beiden sonst aus der Schule zu kommen pflegten, horchte sie oft, ob nicht ein stürmisches Klingeln erschalle und ob nicht zwei fröhliche Stimmen riefen: „Was gibt’s heute zu essen? Was Feines? Was Gutes?“ Oder sie meinte zuweilen zwei Hände zu fühlen, die sich ihr von rückwärts um die Augen legten und jemand fragen zu hören: „Wer ist’s, Hans oder Suse?“
Am Tage aber, an dem sonst Herr Schnurr zu erwarten war, übermannte sie häufig eine große Wehmut. Wie im Traum befangen, rückte sie dann die Stühle und Tische in der Negerstube zurecht und dachte voll Sehnsucht der Zeiten, in denen er hier wie ein verzückter Derwisch seine Tänze aufgeführt hatte.
Ja, die Einsamkeit im Cimhuberschen Haus wurde mit der Zeit so drückend für sie, daß sie nicht ruhte, bis ihre Herrin neue Zöglinge aufgenommen hatte.
Und von ihren Lippen ertönte zur Ermunterung der eben eingezogenen Kinder ständig der Ausspruch: „Oh, Hans und Suse hättet ihr sehen sollen! Ja, Hans und Suse. Die waren artig, die waren gut! Die hatten ein Herz wie Gold! Und so fleißig, so gescheit waren sie! Der Hans[S. 164] konnte geigen wie die Engel im Himmel! Und an den Augen sahen sie einem ab, was sie einem helfen konnten. Und immer waren sie vergnügt. Bei denen war’s immer Sonntag. Nie ließen sie die Ohren hängen. Hans hatte sich einmal den Daumen gebrochen in der Turnstunde und dazu pfiff er...“
Es war ein Glück, daß die Doktorskinder die Lobpreisungen nicht hörten. Wie hoch sonst Suse wohl ihre Nase getragen hätte.
Daheim aber in Schwarzenbrunn im Doktorshaus wurde es still, sehr still. Für lange Zeit kam kein Arzt mehr in das einsame Dorf, und das Haus stand leer. Die Fensterläden blieben geschlossen. Der Hof war vereinsamt. Büsche und Blumen wuchsen wild im Garten. Es wurde ein Märchengarten daraus.
Babette Buntrock und die übrigen Hühner waren mit ausgewandert nach Wildershausen. Minnette und das Käterle hatten bei Rosel, die sich kürzlich verheiratet hatte, eine Heimat gefunden. Michel war zum Förster gekommen. — Der Aufenthalt in der Stadt tauge ja doch nichts für ihn, hatte der Doktor behauptet. Es sei die reine Quälerei.
So konnte der tüchtige Waldbursche Michel denn jetzt ununterbrochen in seinem geliebten Forst bleiben, wo es ihm so wohl gefiel. Zum großen Glück hatte der Förster auch keine Kinder. Und so brauchte die Bracke, die mit zunehmendem Alter immer hochmütiger und abwehrender gegen die Menschen geworden war, sich ihre unangenehmen Aufdringlichkeiten und albernen Zärtlichkeiten auch nicht mehr gefallen lassen. — Zuweilen führte ihn sein Weg am Doktorshaus vorüber. Stolz kam er die Straße herunter, seinen Schwanz trug er wagrecht abstehend wie ein Lineal. Einmal blieb er stehen und sah zum Hause hinüber, als entsinne er sich vergangener Zeiten. Doch niemand könnte sagen, ob das wirklich der Fall war.
Minnette und das Käterle dehnten ihre Streifzüge noch immer auf den Hof und die Scheune ihres alten Wohnhauses aus. Aber abends fanden sie sich regelmäßig bei Rosels Milchtöpfen ein.
Manchmal saßen sie auch noch auf der hintern Gartenmauer, wo im Frühjahr der Schlehdorn schneeweiß leuchtete, und sonnten sich wie in den Zeiten, als Hans und Suse noch hier waren.
Und die alte Tanne, die dort hinten in der Ecke stand, rauschte noch immer so geheimnisvoll wie früher, als das kleine Mädchen zu ihrem Bruder gesagt hatte: „Hörst du, Hans, jetzt kommt der Wind. Jetzt fängt die Tanne leise zu singen an. Und der Wind erzählt ihr was. Ein feines Lied. Das hat die Mutter gesagt. Hörst du, summ, summ...“
End of Project Gutenberg's Hans und Suse in der Stadt, by Trude Bruns *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HANS UND SUSE IN DER STADT *** ***** This file should be named 60878-h.htm or 60878-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/6/0/8/7/60878/ Produced by the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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