The Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 3, by Albrecht Schaeffer

This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
whatsoever.  You may copy it, give it away or re-use it under the terms
of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
www.gutenberg.org.  If you are not located in the United States, you'll
have to check the laws of the country where you are located before using
this ebook.



Title: Helianth. Band 3
       Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der
              norddeutschen Tiefebene

Author: Albrecht Schaeffer

Release Date: December 4, 2019 [EBook #60845]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 3 ***




Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.






HELIANTH

Bilder
aus dem Leben
zweier Menschen von heute
und aus der norddeutschen Tiefebene
in neun Büchern dargestellt

von
Albrecht Schaeffer

Der drei Bände dritter

Im Insel-Verlag zu Leipzig
1920

Siebentes Buch.
Hochsommertag
oder
Der große Mummenschanz

Dann der traum höchster stolz steigt empor

Er bezwingt kühn den gott der ihn kor

Bis ein ruf weit hinab uns verstößt

Uns so klein vor dem tod so entblößt.

Erstes Kapitel

Firmament

Unablässig funkelten die Gestirne.

Georg, auf dem Dache der Sternwarte, schräg auf der niedern, steinernen Brüstung sitzend, hatte die goldübersäte Wand des südöstlichen Himmels vor Augen; wieder und wieder jedoch zog das lebendige Gefunkel zur Rechten seinen Blick herum, und folgte er dorthin, so brach weiter rechts neue Funkelbewegung auf und zwang sein Auge weiter und abermal weiter und so fort, — er mußte sich drehen, den rechten Arm hinter sich aufgestützt, so daß die rauhe Fläche von Stein in seinen Handballen brannte, und bis sein Nacken sich weigerte, weiter herumzugehen. Dann loderte über seinem Haupt andere Heerschar; ein geheimnisvoller Strom, weißlich und nebelnd, ergoß sich die Milchstraße vom Zenit bergunter, alle Ufer umblitzt und umglitzert vom Sterngetümmel in tausend Formen, in schweren Klumpen gleich Waben, gefüllt mit Nacht, in reichen Trauben und Gewinden, in seltsamen Kränzen und durchbrochenen Reigen, alle lebendig, beweglich von Licht, zitternd, strahlend, keiner dem andern gleich, winzige und einzelne gewaltige, nahe scheinende und unsäglich ferne, vergehende Lichter im Hauche der Finsternis. — Aber da war der Schattenumriß des Schloßdaches hinter Georgs rechter Schulter in der Nacht, der Schatten des hangenden Fahnentuches in selten fallender Bewegung, eine bleiche Geste, welche die Sterne hin und wieder verdeckte, unkenntlich, doch schimmerte einmal — wie ein Antlitz — das bleiche Weiß ...

Kein Laut war in der Nacht. Schweigsam im Nachtblau standen die abertausend stillen, in sich beweglichen Goldpunkte, die wachsamen Posten, durch alle Räume der Himmel hin verteilt auf den ewigen Bergen. Nun schienen es Gefäße, glasklare, voll von einer feurig leuchtenden Flüssigkeit, in der geheimnisvolles Dasein sich regte, Kristalle vielleicht, riesige, in denen gefangene Götter die Glieder bewegten, Göttinnen oder heilige Tiere, ruhend das Einhorn, still blickend der Widder, großhäuptig, wachsam schläfrig der Leu, scharfäugig der Greif. Schöne Kugeln waren auch da, gefüllt mit Lebensessenz, in der liebliche Kinderseelen atmeten mit ganzem Leib, — denn immer atmete es dort oben und lächelte, immer ging eine Woge von Odem, eine stürmisch sanfte Welle von Lächeln über ganze Scharen der Goldenen hin, und sie flackerten wehend auf wie Felder von Fackeln.

Daß auch nicht Einer dem Andern glich! So wie unten das menschliche Gewimmel erst gleichförmig erscheinen mag und doch zehntausendfach und mehr wandelbar und wechselvoll ist an Charakter und Art, an Seele und Leidenschaft, an Schicksal und allen Farben der Stunden und der Jahre, der Freude und des Schmerzes, so waren auch dort oben die Völker an Seele mannigfalt, Alle nur einander ähnlich durch Liebe, durch Ruhe, durch Glanz. Oh, und das waren keine kleineren und größeren Lampen, entzündet am harten Gewölbe, an dem sie hafteten! Sondern der Himmel war nachtblaue Tiefe, farblos fast, bräunliches Dunkel, ewig beschattete Weltenräume, in denen die Erden schwebten. Ach, wogten sie nicht nieder und auf in einem gewaltigen Takt? — Nein, sie ruhten! Sie zogen wie lautlose Schwäne jeder seine Bahn, zeitlos, spurlos in der riesigen Flut, und sie lächelten im Entschwinden. Tauschten sie Fahrtzeichen und Wink im Vorübergleiten? — Da schienen scharenweise die flammenden Feuer zu wanken und zu erlöschen, scharenweise aber loderten sie höher empor — Georgs Herz zog sich schaudernd zusammen —, das Firmament bewegte sich! Heere zogen klirrend auf über ungeheure Brücken, Heere schwärmten, Geschwader kamen triumphierend entgegen, sie teilten, sie schlossen sich wieder, sie wanderten im Takt, unerschöpflich überstiegen neue mit Bannern und Panzern den finstern Rand der Tiefe, ein lautlos unbeschreiblicher Jubel wogte mit ihnen herauf, — wie Heere der Erde in Wolken des Staubes, in Wolken von Jubel wanderten diese, — o es war Seligkeit in den Sternen, rieselnde, feurige, bebende Seligkeit des nächtlichen Daseins, Seligkeit im Übersteigen der Nachtgebirge, Seligkeit, zu strömen in goldener Woge, Millionen Tropfen zur Woge geschlossen, Seligkeit, einsam dahinzuziehen, Seligkeit, in luftigen Ketten zu hangen, in Kränzen sich zu wiegen, in Bildern sich zu ordnen, Seligkeit, sich anzutönen mit Licht, in Strahlen sich zu umfassen, in dunkler Kraft einander schwebend zu erhalten, Seligkeit, grenzenlose Seligkeit des unendlichen Nichtwissens von Anfang und Ende, und millionenstimmig brach aus goldenen Lippen der Schrei ihres leuchtenden Schweigens: Ewigkeit! Ewigkeit! Gott will es! Gott will es! — —

Namenlos geworden, der unten lauschte, beugte die betäubte Stirn, glühend und frierend voll Schauder. Verschleierte Augen schauten, kaum noch die Höhe der goldgestirnten Gebirge ertragend, wie der Himmel wankte, Massen von Sternen herunterstürzten; Goldrutsche, entfesselt, schlugen mit lautlosem Dröhnen gegen die Wandung seines Daseins und zerstäubten in Musik; es kreiste, in schmetternder Eile, sausend aus Unermeßlichkeit daher, in Unendlichkeit dahin, jagten Welten über Welten einander nach, tönend ohne Schwingen, klirrend von Licht, aufblitzend und erlöschend im Eise der Finsternis, Sturmatem schnob ihnen nach, die gewaltigen Tiere, auf riesigen Flößen aufrecht stehend, flogen durch die Nacht, aufrecht in den Zenit starrte des Einhorns goldene Stirnlanze, der Löwe hob die Pranke und brüllte goldenen Donner über die Eisfelder der Einsamkeit, riesig ausgebreiteter Schwingen schwebte der Greif, schlug die Fittiche knatternd und warf sich in schwingenden Bögen gewitternden Tiefen zu, und riesigen Wuchses, auf seinem Schilde stehend, den gewaltigen Bogen spannend, daß die bis zum Ohr gezogene Sehne klang, stürmte der titanische Orion aus der Nacht herauf, die Sehne klirrte, der Pfeil stürzte sich und fuhr unten in ein Herz, aufschreiend riß es die Augen auf und sah — den stilleren Himmel, sah still stehn, zur großen Kuppel gewölbt, das ganze Firmament, leise flackernd in zehntausend Leuchten, ruhig blickend mit zehntausend Augen, eine zitternde Welle von Innigkeit überlief sie, — sie schlossen sich lächelnd, sie öffneten sich wieder, und — ach, nun, nun quoll wieder aus der Tiefe der Welt der ruhige Atemzug, der Hauch des Unsterblichen aus seiner dunklen Ferne, von dem alles lebte, was war. —

Georg nahm das nasse Gesicht aus den Händen. Er glaubte, sie ganz eingetaucht zu haben in den Himmel, in die unsterbliche Flut, — ja, entströmte ihnen nicht noch Duft, der letzte Hauch andern Lebens, wie Leben und Frische aus schlafenden Blumen bei Nacht? Unablässig aber funkelten die Gestirne, wogten, schwiegen. Sie schwiegen, doch kein Gedicht und keine Musik tönte so beredt wie die Sprache ihres Schweigens in das Herz, denn Wissen senkte sich von ihnen zur Unwissenheit unmittelbar, mit Glanz, mit Lächeln, mit Stille, mit blickender Gewißheit. Die Sterne wußten und schwiegen ihr Wissen in die Welt aus, die Sterne wußten und hielten nicht an sich mit Wissen, zeigten es unverhüllt in ihrer ruhigen Gestalt von oben, neigten sich sprachlos und teilnahmsvoll in der Höhe, und Zuversicht strömte aus ihnen, ein milder Regen in die keuchende, seufzende, ratlose, beklemmte Brust, — da war sie schon aufgetan, sicherer, leichter, atmend und wunderbar beruhigt. Der Augenblick, wo unten das Auge und ein Auge dort oben sich begegnen im sprachlosen Austausch des Sinnens, der Augenblick ist ohne Zeit, nichts geschieht, nichts löst sich, bewegt sich und fällt, und nichts steht auf. — Nein, Herz, sagte es leise in Georgs Tiefe, von deinem Schicksal wissen die dort oben nichts, was könnte es sie kümmern? Was geht es sie an, ob du das Auge hier aufschlägst zu einem Blick oder ein Andrer? Deine Handlungen und deine Träume, dein ganzer Wandel ficht sie nicht an, sie gehören sich selber an, sie wissen nur, sie wissen! Schau du in diesen Spiegel heut und nach einem Jahr, einmal und noch einmal zwischen Tod und Geburt; sehen wirst du nichts, doch zitterst du wohl, und das Schauen genügt.

Sternwarte

Georg, unfähig, den Anblick länger zu erdulden, senkte die Augen, wandte sich um und gewahrte auf dem Steintisch das matte Leuchten des goldenen Bechers und der Kanne. Gleich durstig, erhob er sich, trat hinzu, goß langsam den farblos klaren Wein, in dessen rinnender Falte es glitzerte, in den Becher und umfaßte ihn mit beiden Händen. O wie kühl, wie eisig kühl! — Er setzte ihn an die Lippen. Seit anderthalb Jahren der erste Tropfen Wein, dachte er und trank langsam Schluck um Schluck das süße und herbe, kühle Getränk, in dem deutlich ein Hauch von Adel, ein Duft von Alter, von Würde, Fürstlichkeit und großer, männlicher Seele mit einströmte in sein Inneres. Den noch halbvollen Becher in der Hand, trat er an die Brüstung zurück und blickte unter dem Sternenhimmel hinweg wie unter einem fast zur Erde gesenkten Vorhang über das schlummernde Nachtland. In der Tiefe zu Füßen waren dunkel lebendig die Laubmassen der Wipfel, in denen es da und dort bleich erschimmerte; der Wassergraben blinkte verkleinert, dahinter standen finster die Schatten anderer Bäume, Geruch des Laubes und von Blumen stieg auf, ein Stück der Mauer glänzte kalkweiß, dahinter war undeutlich das flache Land, die Wiesen, ganz fern darüber ein, zwei rötliche Lichter. Die laue Nacht atmete kaum.

Alsbald erhob sich das gedämpfte Getöse eines Orchesters in Georg. Ah, Bennos Sinfonie von der Ebene, am Abend gehört, klang wieder aus der Ferne, in die sie entströmt war. — Ja, — bei aller Weichheit seiner Musik, die im Schmelz größer war als in der Bändigung, im Sehnsüchtigen größer als in der Vollendung — es war doch ein Gewebe von strahlender Großartigkeit geworden, in dem — so fern jedes rationale Vortäuschen von Wirklichem blieb — doch der Geist der Ebene so mächtig hauchte wie der Geist des Heros in der heroischen Sinfonie, wo dann auch der Gedanke: Ebene — sie wohl sichtbar werden ließ, sie, breiten Abfluß des sinnenden Gebirgs, flutend von Handlung, glänzend in Strömen, duftend in Wäldern und Äckern, das Antlitz von Sternen behaucht, gebettet in den väterlichen Odem der See. Und war seine Kunst auch romantisch, von der sehnsuchterregenden Art, die eher bezwingen möchte und eindringen, als Maße aufrichten, die aus sich selber wirken, der deshalb das Süße lieber ist als die Feste, der Ansturm lieber als der Schritt, — zu welch erstaunlicher Form war er selber gewachsen! Ungeschickt, hülflos, wie zwängte er sich noch als schutzloser Eindringling durch die Reihen seiner sicheren Mannschaft! Aber der Augenblick, wo er, die Hörerschaft im Rücken, das unmerklich klappende Zeichen gab, zauberte ihn um, unglaublich zu sehen! In seinem Profil wechselten Strenge und kindliche Weichheit, drohende Befeuerung und lächelnde Beruhigung in kaum erkennbaren Wellen, doch in deutlichen, in spielend gemeisterten Übergängen; sichtbar magisch geworden, seine Hände entströmten Zwang oder Verlockung, Ergreifen oder Verschenken, und seine lange, kaum sich regende schwarze Gestalt lebte allein im geschmeidigen Zucken der Arme, der gebieterisch gewordenen Hände, sich zusammen — und alles an sich reißend nur an den gewitternden Stellen, — solch ein Befehlshaber war aus dem Scheuesten aller Scheuen geworden, nun der eigene Geist ihn weit, wie ein Gestirnsnebel, tönend umwölkte. — Ja, Benno, du hast das Ziel erreicht, dachte Georg glücklich und schwer, — weißt du, ich könnte dich beneiden aus einem Grunde! Denn dir ist der Augenblick gegeben, der Glanz der Krise, der Blitz, der Zeit spaltet in Links und Rechts und das ewige Juwel zeigt im Schacht. Ich soll nun lenken in der breiten Zeit, im Unsichtbaren, im alltäglichen Tage, im ...

Georg verlor die deutlichen Begriffe im Bangen vor leibhafter Vorstellung, lächelte noch einmal dem Freunde zu und wandte sich um.

Im Osten war der Nachthimmel gerötet, unten glühend weißlich und rot über der Stadt. Die Schattenrisse der Türme von der Universität standen drüben; nahe dahinter eine bleiche goldige Kuppel; ziemlich vorn die weißrötlich wie ein Feuerloch glühende Tiefe war der Platz an den Kasernen, deren beleuchtete Fronten schimmerten, dunkel befenstert. — Stumm erstreckten sich die finstern Wipfeldämme der Lindenalleen; ganz vorn, im Dämmer des Sternlichts, ruhte das Rasenrund in den Wegen. Es rauschte auf, — und jetzt, seltsam lieblich zu hören, scholl aus der Tiefe, aus dem Stall das Klirren einer Kette, ein stampfend aufgesetzter Huf und ganz leise das Husten eines Pferdes. Ach, da unten stand der gute alte Unkas in seiner warmen Stalldämmerung, das Haupt schlaftrunken gesenkt, nur atmend, blind, mit sich seelenallein, dürftig, ein gefangenes Tier, das nichts wußte, nie fragte, nichts wußte ... Georg, lächelnd erst, wurde ernst. Ein Tier, das fromm war, frommer vielleicht als er hier oben in der Freiheit, dieser Aufgerichtete, immer Denkende, Sehende, Sternumstellte, in Gottes Odem schweigend, viel wissend, alles nennend, immer irrend, immer nur für Augenblicke sich erhebend und schon wieder gesenkten Hauptes nichts haltend mit den Augen als das wechselnde Vorwärtskommen und Zurückschwinden der eigenen, wandernden Füße. Sondern dies Pferd war fromm in unerschütterlicher Folgsamkeit, fragte nicht, klagte nie, sprach nie sich aus, war immer zufrieden, nur laufen zu können, es kannte keinen eigenen Weg. Nicht einen einzigen Schritt hatte es allein gemacht, mit eignem Willen, — Georg stockte und erinnerte sich dunkel: ja, auch damals, wann war es noch? In Helenenruh, ich stand im Hof, Unkas schritt zum Stall, blickte her, schien klug, schien zu verstehen, und tastend stieg er davon, — ja, damals auch ging er blindlings dahin das kurze Stück von meinem haltenden, winkenden Auge zum Stall, angelockt und gelenkt vom duftenden Heu und dem eigenen Mist. Immer war er geführt wie ein Blinder, immer war ein Wille über ihm, und er folgte gern, — er — der nicht einmal ein Er war, nicht männlich, nichts Eigenes mehr, sondern ein menschliches Gemächt, ein Enterbter, ein verschnittener Wallach, ausgeschlossen aus dem feurigen Ring der Hengste und Stuten, gebrochen in der Jugend, in Zeugungslosigkeit gebannt, unfruchtbar wie ein Pfahl in der Schöpfung, — o der war fromm ... Ja, so Gott will, Unkas, sagte Georg sonderbar wehmütig, reite ich einmal auf dir in Elysium ein, dort, wo alle Trennungen sich ergänzen, wo alles heil wird, wo du auch nicht froh wärst ohne meine Nähe, — dort wirst auch du dein Männliches wieder haben, ein stampfender Hengst, selig wiehernd und trabend über den saftigen Wiesen ...

Georg sah wieder in das Land hinein, bewegte den Becher und leerte ihn langsam in die Tiefe aus; Blätter klatschten getroffen und rauschten leise, sonderbar war das Geräusch des Tröpfelns in der schweigsamen Tiefe. — Mein Land, murmelte er, sich schämend, mein Land ... Weiterhin versagte sein Denken, und dies genügte ja wohl auch. Er stellte den Becher wieder auf den Tisch, rückte den Sessel der Weite des Himmels gegenüber und setzte sich. Ein wenig müde, vom Weinrausch umnebelt, sah er die Sterne sich zusammenziehn, sich dehnen, heller glitzern und schwanken. Er war glücklich. Morgen, dachte er, morgen ... und prallte von unvorstellbaren Bildern und am Wunsch, dieses Schönste und Farbigste seines Krönungstages sich nicht durch Vorahnung zu entstellen, ins Gestern zurück, glitt unmerklich in den fahnen- und blumengeschmückten Saal des Landtages, hörte die Eidesformel verlesen und sah den Vorbeizug der bärtigen Gesichter, selber feierlich und ergriffen die vielen, unterschiedlichen Drücke der glatten und rauhen, schlaffen und kräftigen Hände verspürend.

Vor den halbgeschlossenen Lidern die Felder der Sterne, kam ihm jetzt die Frage, woran nur dies unablässige Auffunkeln, heller und schwächer Brennen, Wogen und Wanken und Zittern der unzählbaren Leuchten erinnre, und bald darauf senkte er sich in die Helenenruher Wiesen nieder. Wie dort das Gewoge der Halme —, nein, nicht das! Das Glitzern und Brennen der Sonnenstrahlen —, auch nicht! — Ah, das Gezirp der Grillen war es, das wogte so lodernd auf, brodelte und senkte sich schwächer, entfernte sich und schwoll laut und nahe heran. Helenenruh, ja, Helenenruh, sang es beseligt in Georg, das war Vater und Mutter und Kindheit, das war ja wie Ewigkeit so lang! Immer Sommer und Sonne, immer Ferien und Faulheit, Reiten und Schwimmen, die blaue See und die Wiesen, die ewigen Wiesen. Er wünschte, mehr aus seinen jüngsten Jahren wiederzusehn, aber es war sonderbar, er gelangte nicht tiefer in die Zeit zurück als bis zu irgendeinem Tag vor ein paar Jahren, wo er schon erwachsen war. Ja, in dem Sommer nach dem Examen, da war es wohl am schönsten; niemals wieder waren die Tage so lang, jedoch — das Ende war seltsam. — Mit meinem Geburtstag muß es aufgehört haben, eigentlich wars ein langweiliger Tag, so viele Gäste, Fremde, nur Bogners Gesicht wohltätig dazwischen. Auf einmal sah er das Gesicht des Malers an einem Fenster, ein Gewitter war, ja, Artaxerxes ... er flog ja wohl plötzlich ... Und Magda, — Georg seufzte, — Anna nannte ich sie damals und liebte sie sehr ... Richtig, das war der sonderbare Tag vor meinem Geburtstag, mit Jason al Manach, und — ja, da begann ja auch alles eigentlich! — Das Gesicht seines Vaters erschien ihm dicht über dem seinen, wie eingebrannt in die Luft, — jede Falte, der Mund und die Augen vor allem. Georg konnte sich nicht auf ein einziges Wort mehr besinnen, das er gesagt hatte, nur daß sie alle wunderbar klangen, und sein Gesicht, dachte er, werde ich noch in meiner Todesstunde unverblichen und unverändert sehn, wie es damals war. Ja, damals muß er auch zuerst von dem Vertrag gesprochen haben ... Da erschien, blaß und verwischt wie ein halber Mond am Nachmittag, Sigunes Gesicht, ein Seufzer, der durch Georgs Brust hinzog und sie hob und verhauchte. O das arme, kranke Kind! Wärest du doch niemals geboren! Badenbach, dieser Jesuit! Aber, wie er dastand — oder habe ich das nur geträumt? — Georg besann sich, aber er schien ihn doch wirklich gesehn zu haben, als er kam, um Sigunes Hinscheiden zu melden, — richtig, fiel es Georg ein, ich war ja krank, Virgo war dabei, nein, sie war schon fort, — seltsam, Papa küßte sie auf die Stirn, und später sagte er, ob ich nicht auch gefunden habe, wie sie Mama ähnlich gesehen habe ... Ich konnte es eigentlich nicht finden, ihn täuschte wohl das kurzgeschnittene Haar, und Mamas Nase habe ich immer so viel hagrer gesehn, — allerdings — in ihrer Jugend ... aber auf der Miniatüre ist die Biegung unsichtbar ...

Wie groß der Orion dort stand, ungeheuer deutlich und fast erschreckend menschlich, Füße, Schultern, Haupt, Gürtel und sogar das Schwert, inmitten des Schwarmes ungeordneter Sterne. Tiefer in das goldne Bildnis sich hineinschauend, ließ Georg die Lider sinken und fühlte sich empor und angesaugt von dem leuchtenden Riesen; schwebte er wirklich? Plötzlich stand er selber als Orion am Himmel, unter sich Nacht und Tiefe; eine fahle, zackig abgeteilte Mondscheibe, die dampfte, schwebte die Erde, ihn schwindelte, er stürzte, erschrak flackernd und fuhr mit einem Ruck in seinen Körper und den Sessel.

Gottseidank lächelte er matt, es war wieder ein Traum! — Wie still es doch ist! — In diesem Augenblick aber rasselte es in der Luft, ein heller Schlag durchdröhnte das Schweigen, es rasselte, ein zweiter riß sich los, es rasselte wieder, ein dritter ... dann war Stille. Erst dreiviertel eins? dachte Georg verwundert, ich bin doch eine Ewigkeit hier oben! — Aber das Zifferblatt seiner Uhr zeigte keine andre Stunde im Zwielicht der Sterne. Wie absonderlich das Uhrglas glänzte und die Zahlen so verändert in der Dämmerung! — Und warum habe ich es denn nicht viertel und halb schlagen hören? Jetzt fängt der Wein an zu wirken, dachte er schläfrig, fühlte aber gleichzeitig ein leises Angstgefühl in sich aufsteigen oder heranschleichen. Wie still es nur ist! — Und doch — es ist ja, — als wäre ich nicht mehr allein! Unsinn! — Er setzte sich tiefer zurück, seine Gedanken lockten ihn spielend wieder ins Morgen hinüber, Renate erschien, — wie würde sie nur aussehn in der mittelalterlichen Tracht? Er hatte sie ja Wochen nicht gesehn und empfand Sehnsucht. Ich habe doch immer nur sie geliebt, dachte er schwermütig, warum nur ließ ich mich so oft irren? Cora, — nun das kann freilich kaum gelten, aber Esther, — ach Cordelia, du warst doch unsagbar lieblich und süß! — Einmal dachte ich sogar, Virgo zu lieben, aber das war denn doch ein Irrtum, weil ich krank war und ich sie Esther ähnlich fand, aber — ja, von Renate hielt sie mich doch ein Weilchen fern ...

Mein Gott, es ist doch wer in der Nähe! dachte er plötzlich. Seine Kopfhaut krauste sich. Ja, was soll denn sein, dachte er ärgerlich, wenn was da ist, solls kommen! Aber sein Herz klopfte. Er streckte die Hand nach der Kanne aus, schenkte den Becher voll, setzte die Kanne hin und lauschte. Die Stille rieselte über ihn hinweg, es wurde kühler. Wieder zwang er seine Gedanken, aber sie gehorchten schlecht und nur begrifflich, so daß er dachte, er lebe und bewege sich eigentlich erst seit drei Jahren, seit er den Plan des Vertrages mit sich herumtrage. Da erinnerte er sich an Berlin und seines Sofas in der Kantstraße. Ja, dieses Sofa! Darauf verbrachte ich die halbe Zeit des Winters, o es war ja grauenhaft! Diese Nachmittage, wenn ich lag und lag und die weiße Lampe auf dem Schrank ansah, bis sie verschwamm und schließlich verschwand in der immer tieferen Dämmerung, auch die Tür und alles, und von draußen kam das Laternenlicht über den Hof herein und malte die Schatten der Gardinen und des Fensterkreuzes an die Decke und auf den Schrank, und ich konnte nicht aufstehn, ich konnte nicht, mein Kopf glühte, ich konnte kaum noch liegen. Dieser Winter war das Verruchteste in meinem Leben. Und der in München war nicht besser! Ach, und vor allem, all die Jahre lang dieser grauenhafte Druck, diese niemals weichende Angst, diese sinnlose, die eigentlich noch immer nicht gänzlich —, jedenfalls — wäre nicht Vater ...

Georg fuhr mit einem Ruck im Stuhl herum und sah mit flimmernden Augen im grauen Dämmerlicht der Sterne eine dunkle Gestalt hinter sich stehn, am Treppenschacht ... Er sprang heftig klopfenden Herzens auf; nun, es war ein richtiger Mensch, groß, dunkel gekleidet, und griff jetzt höflich nach dem Hut, nahm ihn ab und sagte:

„Ich bitte tausendmal um Verzeihung, königliche Hoheit, wegen meines Eindringens, — übrigens, erkennen Sie mich nicht?“

Georg nahm sich zusammen, faßte mit Anstrengung das bleiche, sonderbar starre Gesicht ins Auge, dachte: Ja, das ist doch ... „Herr von Montfort?“ sagte er zögernd; und mit deutlichem Erkennen hastig: „Aber natürlich, natürlich! seien Sie mir willkommen! Wo kommen Sie her?“

Georg ging um den Tisch, nicht allzu leicht, er merkte den Wein, gab Montfort die Hand, der seltsam lächelte mit seiner einen Gesichtshälfte.

„Ich klopfte unten,“ sagte er mit Heiterkeit, „bekam keine Antwort und trat ein, denn ich hatte Ihren Schatten hier oben gesehn, und ich dachte es mir wunderbar, hier oben unter den Sternen zu sitzen und von erhabenen Dingen zu reden. Ja, — ich kam so vorbei ... Die Heimgekehrten ergötzt es, wissen Sie, Stadt und Gegend zu durchwandeln und an den leisen Veränderungen den süßen Kitzel des Unwandelbaren der Heimat zu verspüren, und so geriet ich in diesen Park. Nun kommen Sie, wir wollen die Sterne betrachten!“ Georg fühlte sich leicht am Arm ergriffen und folgte an die Brüstung.

„Ach, da steht ja auch Wein!“ bemerkte Josef, „oh, erlauben Sie mir einen kleinen Schluck?“

Er trat an den Tisch. Georg murmelte etwas und benutzte die Gelegenheit, um sich völlig zu sammeln, beruhigte sein klopfendes Herz, die Hände auf die Brüstung stützend und in die Sterne blickend; der Himmel war ihm jetzt nur eine verschwommene, über und über glitzernde und funkelnde Wand von Gold, in der seltsam blaue, rote und grünlichweiße Lichter zuckten. Sich wendend, sah er Montfort mit dem Becher am Munde und streckte die Hand aus.

„Geben Sie mir auch“, sagte er, sich räuspernd. Montfort gab ihm den Becher, er trank begierig, der Wein schien noch einmal so kühl und duftend. Er stellte den Becher hin und ließ sich, da Montfort auf der Brüstung Platz genommen hatte, in den Sessel fallen. Josef, mit einer umfassenden Geste des rechten Armes, sagte:

„Der Mensch und die Sterne — das heiße ich den Gipfelpunkt des Irdischen. Obendrein sind Sie seit gestern zur Hälfte Großherzog, — ah, nicht wahr, Sie bejahen das Leben?“ Er lachte leise.

„Sie sagen das so sardonisch“, lächelte Georg.

„Mich,“ versetzte Josef, „mich lächert es immer, wenn ich so in den Zeitungen lese von großen Autoren als den Bejahern oder Verneinern des Lebens. Auf tief pessimistischer Basis, so las ich neulich von irgendwem, bejahte er dennoch das Leben. Hanswürste, die sie sind! Da sehe ich jemand vor vollbesetzter Tafel sitzen, hungrig wie ein Löwe, und essen, was sich essen läßt, aber — er verneint das Essen, er schreit: Nein! nein! zwischen jedem Bissen und jedem Schluck. Begreifen Sie, Prinz? Ich kann das Leben verneinen durch Handlung, indem ich mich hinausbegebe, aus dem Leben oder zumindest aus der Gemeinschaft, also aus dem menschlichen Leben. Aber das Leben zu verneinen durch Meinung, zu leben unter Neinneingeschrei ... welch ein abscheulicher Unsinn! Und nun erst gar die Bejahung. Ich bin am Ertrinken und sage zu dem, der mich über Wasser hält, unablässig: Ja! ja! ja! du hältst mich über Wasser. Was soll das? Kann der bejahen oder verneinen, der gar nicht gefragt wurde? Aber natürlich: Charakter muß der Mensch haben, so heißts, und zudem eine deutlich erkennbare Weltanschauung. Ach, und über uns sind die Sterne! Wer darf noch an den Nachtraum — die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? Kennen Sie diese Verse von Rilke?“

Georg, tiefer in sich versinkend, hörte mit mächtiger Ergriffenheit über sich die kostbare, tönende Stimme in der Nachtluft:

„Siehe, dies — Bedürfte nicht und könnte, der Entfernung — Fremd hingegeben, in dem Übermaß — Von Fernen sich ergeben, fort von uns. — Und nun geruhts und reicht uns ans Gesicht — Wie der Geliebten Aufblick, schlägt sich auf — Uns gegenüber und zerstreut vielleicht — An uns sein Dasein, und wir sinds nicht wert.

„Vielleicht entziehts den Engeln etwas Kraft, — Daß nach uns her der Sternenhimmel nachgiebt — Und uns hereinhängt ins getrübte Schicksal. — Umsonst. Denn wer gewahrts?

„Und wo es einer — Gewärtig wird: wer darf noch an den Nachtraum — Die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? — Wer hat dies nicht verleugnet? Wer hat nicht — In dieses eingeborne Element — Gefälschte, schlechte, nachgemachte Nächte — Hereingeschleppt und sich daran begnügt?“

Die letzten Worte mit Härte niederschmetternd, schwieg der dunkle Sprecher vor den Gestirnen, und Georg, hingerissen und bis zum Weinen erschüttert, stammelte: „Ja, ja, ja! so ist es, es ist wahr, oh, hören Sie nicht auf, sprechen Sie weiter, es muß weiter gehn!“

Montfort schwieg, begann nach einem Schweigen, während Georg mit verschwimmenden Augen, vorgebeugt im Stuhl, zu ihm aufsah:

„Wir lassen Götter stehn um gohren Abfall, — Denn Götter locken nicht. Sie haben Dasein — Und nichts als Dasein, Überfluß von Dasein, — Doch nicht Geruch, nicht Wink. — Nichts ist so stumm wie eines Gottes Mund. — Schön wie ein Schwan — — Auf seiner Ewigkeit grundloser Fläche — So zieht der Gott und taucht und schont sein Weiß ...“

Georg fühlte Tränen über sein Gesicht laufen und wehrte ihnen nicht. Nie, dachte er, in keinem Traum erfuhr ich solche Wonne der Tränen. Siehe, da stand Montfort groß und schwarz vor den beweglichen, schlagenden, strömenden Sturzfalten von Nacht und Gold, und es war, als ob er sänge:

„Nur der Gott! — — Wie eine Säule läßt der Gott vorbei, verteilend, — Hoch oben, wo er trägt, nach beiden Seiten — — Die leichte Wölbung seines Gleichmuts ...“

Georg, von kalten und wilden Schaudern überronnen, schloß die Augen. Wie war es? wie hieß es nur? Auf seiner Ewigkeit grundloser Fläche, so zieht der Gott und taucht und schont sein Weiß ... Oh ... oh! schont sein Weiß! Es war kaum zu ertragen. An allen Gliedern gelöst, fühlte er sich in ein grundlos Weiches mit unsäglicher Wollust einsinken, hörte aber jetzt laut durch das Sausen und Singen in seinen Ohren drei starke Schläge gegen eine Tür. Wild zusammenfahrend, setzte er sich auf. Niemand war bei ihm.

Was war das? Habe ich geträumt? — Das Herz klopfte ihm dicht unterm Halse, er fühlte sich seltsam schlaff, elend und an alles ausgeliefert. Wüste Furcht krauste ihm die Haut des Rückens, des Kopfes und der Stirn. Er schüttelte sich und fühlte sich sehr müde im Körper; aber der Geist war frei. Er sah nach dem Orion, aber nachdem der einen Augenblick über ihm aufgeblitzt war, war er völlig verschwunden, die Nacht ganz leer an seiner Stelle.

Georg fuhr sich mit der Hand über die Augen. Das ist ja unheimlich, murmelte er. Die Augen wieder öffnend, sah er zu seinem heftigen Entsetzen die Umrisse eines Riesen von flammend blauer Farbe am Himmel schweben; sie entfernten sich langsam, wurden kleiner und kleiner und verschwanden.

Da! Wieder die drei starken Schläge an der Tür — — es mußte unten die Tür der Sternwarte sein. Georg stand wankend auf, packte mit letzter Kraft seine Furcht und stieß sie fort. Einen Augenblick stand er wütend, konnte nichts sehn, dann lief eine große, schneeweiße Kugel auf der Mauerbrüstung vor ihm bis zum Rand, schwebte dann und entfernte sich nach rechts. Da peitschte das Entsetzen auf ihn ein, er stürzte zum Treppenschacht, die eisernen Stufen dröhnten unter seinen Füßen, er stolperte, rutschte am Geländer hinab, gewahrte dann den Lichtschein in der getäfelten Halle. Kaum aber, daß er die sieben Flammen des Kronleuchters und die beleuchtete Tischplatte ins Auge gefaßt hatte, einen Pulsschlag lang beruhigt, waren sie verschwunden. Er warf den Kopf herum, sah die Tür, die zum Gang ins Schloß führte, wollte drauf zu, aber sie war nicht mehr da.

Vor Angst kaum noch wissend, was er tat, ging Georg mit vorgestreckten Händen tastend auf die Pforte zu, erlangte einen Pfosten, ertastete die Klinke, riß auf und taumelte zurück vor einer finster schwarzen Gestalt, die darin stand, augenlos, eine spitze Gugelkappe anstatt des Kopfes auf den Schultern. Georgs Schrei vergurgelte, da die Gestalt im selben Augenblick spurlos verschwunden war. Statt ihrer sah er jetzt seinen eignen Schatten riesenhaft über die wieder sichtbare Tür ins Getäfel heraufsteigen, ein furchtbar beängstigender Anblick, so daß er beide Fäuste in die Augen stieß. So, einen Augenblick in sich selbst zurückgepreßt, gelang es ihm, sich zuzustammeln: du fürchtest dich nicht, nein, das ist seine Furcht, das ist — er fand nicht, was es war, fühlte sich wehrlos, ergrimmte, würgte sich minutenlang herum mit der Furcht, riß die Augen auf und sah zu seinem unermeßlichen Staunen einen feurig roten Engel dicht vor sich stehn, leider ohne Haupt, die Fittiche weit entfaltet, doch schrumpfte er alsbald zusammen und schwand, während Georg, zerrissen von Wut und Entsetzen, mit geballten Fäusten auf ihn zutaumelte.

Da stand er vor der Tür, die ins Freie führte und stieß sie auf. Gott im Himmel, es stand wieder der Schwarze darin, ohne Haupt und Augen, nur die Gugelkappe zwischen den Schultern.

Nein, was denn, was denn? Nichts war da, sondern ein wunderbarer Gang von milchfarbenen Säulen, die von innen bläulich erleuchtet waren, hunderte in einer Reihe, die ins Endlose führte. Georg starrte so lange hin, bis sie in sich zerflossen. Da war die Nacht draußen, am Pfosten, zur Seite getreten, stand der Schwarze, und dort, mitten auf dem weißen Wege, in der Dämmrung, ein zweiter, still, ohne Bewegung. Georg warf sich herum ... Es waren drei! Der dritte stand — es war der erste — in der andern Tür, und Georg wich, gefühllos geworden, rückwärts bis zur Wand, fühlte sie mit den Händen hinter sich und lehnte sich daran. Der Schwarze in der Gangtür war schon wieder fort, aber der andre war ins Zimmer gekommen, wo er sofort verschwand, jedoch in die Tür trat der dritte und verschwand, aber nun war der erste wieder sichtbar, war näher gekommen und stand dicht neben dem siebenarmigen Leuchter, der im selben Augenblick ausgelöscht und nicht mehr da war.

Georg schloß die Augen, versuchte zu lauschen, hörte aber keinen Laut.

Als er die Augen zu öffnen versuchte, standen da drei Schwarze mit Gugelkappen in einer Reihe, einen Augenblick, dann waren sie fort. Alsbald jedoch erschien der linksstehende wieder, der in der Mitte alsdann, zuletzt der rechte. Kalte Tropfen liefen über Georgs Stirn, sein Haar knisterte, er krallte die Finger hinter sich in die Wand und hörte jetzt eine sanfte und schöne Stimme sagen:

„Nicht fürchten ...“

Er richtete sich schlotternd auf. „Ich fürchte mich nicht,“ stammelte er, „was willst du?“

Da standen die drei Schwarzen wieder, in Abständen voneinander, es war aber schon tröstlich genug, daß sie nicht entschwanden, sondern blieben. Lange Zeit war kein Laut zu hören. Endlich machte die tiefe und ruhige Stimme sich wieder auf:

„Wir sind gekommen, aber wir kommen nicht aus der Zeit. Aus Zeit ist unser Kleid, das schwarze, fremde. In Zeiten wüst und abenteuerlich, ging auch das Rechte und das Wahre, das im Licht verstummte, in Nacht gekleidet und vermummte sich in schwarzes Kappenzeug und schwarzes Hemde; zu richten über Ritterhelm und Diademe, Wirrnis zu schlichten, Böses zu vernichten, kam bei Nacht die Feme, Tore öffnend mit dem Zauberring, und nichts, das ihr entging.

„Fürchte dich nicht! Sei wie die sieben Lichter in unsrer Nähe nicht voll Angst und Graun, obwohl zu schaun nicht unsre Angesichter und unsre Namen dir verborgen sind. Dein Herz, das von Entsetzen noch gerinnt, samml’ es getrost, denn wir sind keine Schlimmen, sind Kläger nicht, noch Henker oder Richter, sind nur Stimmen, und was mit unsrer Zunge spricht, ist das Verborgene in deinem Herzen, sonst ists nichts.

„Denn wir sind eingedenk des Lichts wie du; obwohl wir gleichen ausgelöschten Kerzen, leuchten wir dir zu, auf daß es helle wird in deinem Herzen.“

Die Stimme schwieg. Georg, aus Schaudern in Schauder stürzend, fragte angstvoll, da das Schweigen dauerte:

„Was wollt ihr?“

Eine härtere, hellere Stimme, die von rechts zu kommen schien, sagte:

„Prinz Georg Trassenberg.“ Und nach einem Schweigen: „Vorgeblich.“ Und nach aber einem Schweigen: „In Wahrheit Sohn der Kaja Moscherowska.“

Georg fuhr mit dem Oberkörper nach vorn, öffnete den Mund, stammelte: „Ka—“ Aber der Sprecher zur Rechten erhob die Hand und sagte:

„Still! Wir klagen nicht an, wir urteilen nicht, wir richten nicht, wir nennen. Wir sind nur Stimme. Anklage, Urteil und Vollstreckung übt allein dein eigenes Herz.“

Um Georg zuckte und schwirrte der Raum. Die Drei standen unbeweglich, hinter sich ihre die Wand emporsteigenden Schatten. Die sanfte, erste Stimme tat sich auf:

„Das Kind Esther schläft an dem Grunde des Meeres. Ist in deinem Herzen nichts, das sich verflochten fühlte mit dem Untergang einer ratlosen Seele?“

Georg zitterte heftig, senkte schwer die Stirn, bewegte die Lippen ohne Laut, zitterte nur. In weiter Ferne sagte jemand: „Sigune ...“

Sie lebte ohne mich noch, bewegte es sich in Georg, sie lebte, sie lebte ... Eine ungeheure Angst drang auf seine Seele ein, er fühlte seine Glieder an sich hängen wie erschlagen, totmatt, schwer wie gefüllt mit Steinen.

„Wir reden nicht von Schuld und nicht von Sünden“, scholl es sanft und fast liebevoll nahebei. „Wir sind allein gekommen, zu verkünden, was in der Brust dir schlummert eingelullt. Bedenke: nichts auf Erden wird durch fremden Griff und äußres Handeln. Aus dir selber mußt du werden, kannst dich aus dir selbst nur wandeln! Aus der Ferne kann nichts an dich heran, nur du selbst allein kannst dich gefährden. Daß vom Dache fällt auf dich der Stein, lenkst du selbst in jene Straße ein. Niemand kannst auch du verletzen, aus ihm selber kommt ihm Pein, Lust erkaufst du nicht mit Schätzen, du bist selber Rausch und Wein. Niemand stürzt durch deine Hand, Schuld verstrickt sich nur mit Schulden, nie bedacht und nie erkannt, — aber du mußt es erdulden. Hiermit schweige unser Chor. Nicht von außen, nein, von innen tönten wir zu deinen Sinnen, stiegen aus dir selbst hervor; wandeln wir auch jetzt von hinnen, keiner sich von uns verlor. Sieh uns schwinden ... tausendmal, über Bergen, im Tal, du hast keine Wahl, — immer wirst du uns wieder finden.“

Traum

— — — — — — — — — — Kaja! — — — — — — — — — — — Hell sprang ein Klingen in Georgs Gehör auf, es summte lange nach, er merkte, daß er in allen Gliedern zusammengefahren war, glitt ganz langsam in alle Enden seines körperlichen Daseins zurück und fühlte, daß er aufrecht saß. Da brannten die Kerzen, nur noch Stümpfe, über und über tropfend von Wachs. Gott sei gelobt, dachte Georg schwach lächelnd, das war ja ein fürchterlicher Traum! Aber wie elend mir ist! Ich glaube, es geht auf Morgen. Ich möchte zu Bett, — aber — ich — kann — — nicht ...

Ohne Bewegung hockte er im Sessel, sank endlich zusammen, legte das Haupt auf die Lehne und fühlte sich im selben Augenblick mit atemraubender Schnelligkeit fortgerissen, daß der Raum um ihn sauste und toste. Es war dämmrig umher, er flog, wie es schien, in großer Höhe, und alsbald erkannte er, ohne Schwindel und mit Entzücken, unter sich das Meer, schimmernd blau in gewaltiger Tiefe. Wogenzüge, gebogen und in Schlangenlinien, schoben sich schimmernd weiß in der metallenen Fläche hin und her, er flog, da stieg in der Ferne eine schneeweiße Klippe auf, er stürmte darauf zu, hoch über ihr, und allmählich wurde sie zu einer riesenhaften Säule, die wiederum sein Herz hüpfen ließ vor Wonne mit der Schönheit ihres schlanken Wuchses und der geschwungenen Räder ihres jonischen Kapitäls. Auf dessen Platte war eine farbige Bewegung, Gestalten in bunten Gewändern, und im Näherfliegen erkannte er, daß eine in der Mitte stand, die war glänzend golden, und rings im Kreise waren eine Menge, zehn — oder zwölf? — ja, zwölf aufgestellt. Deren jede hielt eine goldene Stange neben sich stehend, und oben daran, über den Häuptern der Gestalten — ihre Gewänder leuchteten rot und gelb, violett und grün und weiß und in noch mehr Farben — blitzten große goldene Ziffern, — Georg erkannte und las eine Neun, Zehn und Zwölf, Sieben und Acht, und jetzt sah er auch die Gesichter, die ihm bekannt erschienen, ohne daß er Namen für sie finden konnte. Aber da bewegte sich etwas, nämlich ein uralter Mann, weißhäuptig mit langem weißem Bart, in einem schwarzen Talar. Dieser schritt gebückt und die Hände auf dem Rücken außen im Kreise um die Ziffernträger, und nun wußte Georg, daß es eine Sonnenuhr war und der Greis ihr Schatten. Die goldene Figur in der Mitte drehte sich mit den Schritten des Greises, und da jetzt eben ihr Gesicht aufleuchtend herumkam, so erkannte Georg deutlich Renate, erkannte ihren Seligkeitsmund, die blaue Farbe ihrer Augen, in denen das Meer aufgebrochen zu sein schien, und ihr bräunliches Haar. Erhob sie nicht die Hand, lächelte und winkte ihm zu? Ja, waren denn alle Ziffern schon da? Er suchte verkrampften Herzens im Kreis, auf einmal selber auf der marmorweißen Platte stehend, dicht neben einem der Zifferträger, dem er ins Antlitz sah, — es war Bogner; sehr groß, fremd und verhärtet stand sein Antlitz in die Mitte des Kreises gerichtet, er zuckte nicht mit der Wimper, und Georg eilte angstvoll weiter, gewahrte fern drüben eine Stelle leer, ging hinter Josef Montfort herum, der ganz wie Bogner unbeweglich gradeaus sah, ebenso hinter Ulrika Tregiorni, hinter Saint-Georges, hinter Magda, da begegnete ihm der wandernde Greis, der alte Montfort wars, — mein Gott, es wird gleich schlagen, dachte er in unsäglicher Furcht, wo war denn der leere Platz, sein Platz? Seine Füße wollten nicht mehr fort, er schleppte sie wie bleigefüllte Säcke, da war Erasmus Montfort, düster und schweigsam, Esther stand da, ihr Bruder, Irene war da, nun Klemens, — Cordelia, ach hilf mir doch, liebe Cordelia, stöhnte Georg, aber ihr Gesicht war eine weiße, lächelnde Maske, seine Kniee versagten, er sah undeutlich Dora Vehm, auch Benno, ach Gott, ach Gott, da stand schon wieder der Maler ... Auf einmal rührte jemand seine Schulter an, er fuhr entsetzt herum, atmete aber beseligt auf, als er Jason al Manachs freundliches kleines Antlitz sah, ganz klein, ja, wie eine Hand, und die Hälfte davon war Stirn. „Ist denn für mich kein Platz, Jason?“ stammelte er flehend. „Es muß jeden Augenblick zwölf schlagen, und dann ists ja aus.“ Er riß sich wieder los, schleppte sich zu Esther hin und sagte mit unterdrückter Stimme: „Du bist ja tot, was willst du denn hier?“ und versuchte, sie wegzudrängen. Da seufzte Esther, alle Gesichter im Kreis blickten vorwurfsvoll auf Georg, er raufte sich das Haar, keuchte, stammelte: Ja, ja, ja, ich bin der Mörder, ich bin der Mörder! — Unter ihm glitzerte die blaue Meeresfläche, er stürzte kopfüber hinab, stürzte, stürzte, — schlug die Augen auf und lag still, nichts empfindend durch Minuten als das göttliche Gefühl der Rettung.

Einige Zeit danach schien es ihm, als stünde er vor seinem Bett; danach kam es ihm vor, als läge er in Kissen, dann versank er in Müdigkeit.

Zweites Kapitel

Frühstück

Renate, schon in ihrem lavendelblauen Festkleid, wollte sich eben vor ihren Frühstücksteller setzen, als ihr der Herzog gemeldet wurde. Leicht innerlich zuckend, fragte sie sich: Morgens um acht Uhr, was soll denn das bedeuten? — Sie wußte, was das bedeutete, aber sie verschwieg es sich, ging in die Halle und sah ihn eben zur Tür hereinkommen, ein wenig ungeschickt, aber ganz leicht, den Stock kaum benützend, ein großes Bündel Lilien in der Hand. Sie lachte ihn an, er blieb stehn, lachte auch, und — „Lieber Freund,“ sagte sie, „das ist ja wundervoll, so früh am Morgen und auf so tapferen Füßen!“

Nun ging sie zu ihm hin und gab ihm die Hand, zugleich die Lilien aus seiner Linken nehmend und an die Brust drückend. Sie neigte das Gesicht in die Kelche und hörte ihn sagen, während er ihre Hand festhielt:

„Ja, Renate, das ist wahr, was Sie sagen: tapfere Füße, und es sind auch — besondre Füße, auf denen ich hereinkomme.“

„Ja?“ sagte sie zögernd. Er legte auch die andre Hand um die ihre, zog sie zur Brust empor, wollte lachen, atmete mit ganzer Brust auf und sagte ernsthaft: „Freiersfüße, Renate.“

Hart stand ihr Herz auf und lief. Ich wußte es ja, sagte eine Stimme in ihr, wußte es längst, aber ich wollte es nicht wahrhaben. — Es gelang ihr, ihn anzusehn, da mußte sie lächeln. Wie er keuchte! Sie drehte ihre Hand in den seinen hin und her, bis sie losgenestelt war, ging zum nächsten Fenster, legte die Lilien auf die Fensterbank und stützte das Kinn in die linke Hand, den Ellenbogen in die rechte setzend. Sie blickte auf, ließ die Hände fallen und wandte sich langsam zum Herzog herum. Der schloß eben die hängenden Hände und spreizte sie wieder. Sie sah ihn voll an, fühlte, wie sie errötete, und sagte leise: „Ja — ich möchte — — ich möchte sehr gern — —.“

Hastig lief sie wieder auf ihn zu, legte die Hände auf seine Brust, sah, die Brauen ganz zusammenziehend, angstvoll in sein großes, starkes Gesicht und hörte ihn sagen:

„Ich liebe Sie, Renate, das ist der ganze Grund, ich liebe Sie sehr. Ich bin fünfundzwanzig Jahre älter als Sie, aber ich — ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich in fünfundzwanzig Jahren noch so jung bin wie heut, wenn Sie ...“

Er verstummte und tastete nach ihren Händen. Sie merkte, daß er zitterte, und alle Macht strömte aus seinem Zittern frohlockend in sie zurück. Lange stand sie und sah nichts als seine fast schwarzen, flehenden, besorgten, zuckenden, befehlenden Augen. Langsam glitt sie mit den geschlossenen Händen an seinem Gesicht empor und deckte seine Augen zu, drückte sie dann gegen seine Lippen, seine Wangen, trat plötzlich zurück und sagte, aufhorchend bei dem tiefen Klang ihrer Stimme: „Nun Geduld! — Geduld ...“

„Geduld“, sagte er mit zuckenden Brauen, „ist das Schwerste auf der Welt.“

Nun konnte sie strahlend lächeln und rief: „Das Schwerste von der Welt ist grade noch leicht genug für Renate Montfort!“ Sie stampfte leicht mit dem Fuß auf: „Weißt du das nicht?“

„Doch!“ sagte er ehrlich. Alle weiteren Worte schnitt sie mit einer Handbewegung ab, ging zur Tür, drückte auf die Klingel und blieb dort wartend, die Hand am Klingelknopf, indem sie lächelnd auf den Herzog blickte, der sich umgewandt hatte. Als das Mädchen kam, bat sie um eine Vase für die Blumen und um noch ein Gedeck für den Herzog.

„Ich habe Hunger,“ sagte sie freundschaftlich, „wollen Sie mit mir frühstücken? Wir müssen uns beeilen, um neun Uhr kommt Georg und holt mich zum Festspiel.“ Als sie an ihm vorübergehen wollte, merkte sie, daß er nach ihr greifen wollte, schlug geschwind einen Bogen, raffte ihr Kleid vorn mit beiden Händen und lief schwebenden Schrittes und vor sich hinlächelnd zur Tür des Frühstückszimmers; dort blieb sie stehn, ließ ihr Kleid fallen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Türfüllung, faßte den Rahmen mit den Händen und sah ihn so von dort aus an, lächelnden Mundes, mit weit offnen, liebevollen Augen. „Komm!“ verlockte sie, kaum die Lippen bewegend, und dachte: Ich habe ja Künste in mir aufbewahrt, — oh, dann will ich sie brauchen! — Damit ging sie leicht und die Stirn gesenkt wieder bis zu ihm und reichte ihm die Hand. Während er sie an die Lippen hob, neigte sie den Kopf tiefer und tiefer, unvermögend, einen Gedanken zu fassen.

Renate kam erst eigentlich zu sich, als sie am Tische saß, dem Herzog gegenüber, Kaffee in seine Tasse füllend. Da merkte sie plötzlich, daß ihre Augen heiß und feucht wurden, sie setzte hastig die Kanne hin, schüttelte, den ängstlichen Ausdruck in seinen Zügen gewahrend, den Kopf, daß zwei Tränen abfielen, und sagte ernst: „Lieber, ich habe dies Haus hier zu hüten, was soll ich tun? Ich habe mir geschworen, nicht hinauszugehn, als bis alles wieder so ist, wie ich kam, — ja, das tat ich nun,“ sagte sie fest, „das müssen wir behalten. Du weißt ja alles vom Onkel, ich kann ihn nicht im Stich lassen. Was ich mir gedacht habe, kann ich dir auch nicht sagen, aber das ist auch gleich; du bist nun gekommen, und es muß wohl irgend etwas geschehn. Du mußt dich gedulden, bis ich das erledigt habe. Rede ich zuviel?“ fragte sie wehmütig, lächelte ihn an und streckte ihre Hand über den Tisch nach ihm hin, zog sie aber schnell fort, als er danach faßte, ergriff ihre Weißbrotscheibe, zog den Honigtopf heran und begann zu essen.

„Mein Sohn Georg“, hörte sie den Herzog sagen, „hatte einmal eine Redensart, die hieß: quid quod? auf deutsch: Was soll man dazu sagen? Also ich sage: quid quod? Nämlich,“ fuhr er eiliger fort, während sie leise lachte, „ich wollte ja erst morgen kommen, wenn all das mit Georg erledigt sein würde, aber heut morgen hat es mich doch übermannt.“

„Oh,“ meinte Renate nachsichtig, „zu früh aufstehn kann man nie.“

„Und den Tag über heut“, fuhr der Herzog fort, „habe ich keine Zeit; da mein Sohn Festspiele aufführt, muß ich die Gäste empfangen, und heut nachmittag sind ja die großen Vereidigungen.“

Die großen Verneigungen ... klang es sonderbar in Renate, sie suchte, wann und wo sie das einmal gehört hatte, hörte zerstreut zu, was der Herzog sagte, ohne etwas zu verstehn, und wurde langsam mit Essen und Trinken fertig. Plötzlich übergoß es sie dann, da sie den Herzog groß dasitzen sah, mit durchdringenden Augen, während er sagte: „Sie sind ja so über alle Begriffe schön, daß — — daß —“

Die drei großen Verneigungen, klang es wieder, die drei großen Verneigungen. Dann merkte sie, daß er Sie gesagt hatte, und gerührt von dieser Zartheit, erhob sie sich, ging um den Tisch zu ihm hin und legte einen Arm um seinen Nacken. Langsam hob er das Gesicht, sie beugte sich und küßte seine Stirn.

„Genug für heut,“ sagte sie mit plötzlicher Entschlossenheit, „und nun muß ich mir das Haar machen lassen, in einer Stunde kommt Georg.“

„Georg,“ sagte der Herzog aufstehend, „ja, ist er eigentlich blind?“

Renate verstand nicht, obwohl sie gut verstand. „Leb wohl“, sagte sie und streckte die Hand aus.

Wieder stand er vor ihr, sehr groß, fast überwältigend, und sie bebte leicht, bog sich zurück, ließ aus aller Glut, die sie in Schnelle zu sammeln vermochte, einen strahlenden Schein aus ihrem Antlitz über das seine gehn, verschattete sich wieder, neigte kurz das Haupt und ging, von ihrer Seide umrauscht, mit kleinen und festen Schritten hinaus.

In ihrem Zimmer oben stand sie, an unfaßliche Vorstellungen verloren, so lange, bis die Zofe mahnte; die nächste halbe Stunde verging ihr gedankenlos unter dem mühseligen Aufbau ihres Haars und der Zieraten.

Verkleidung I

Georg erwachte, hob langsam die Lider und sah, daß es Morgen war. Ungeblendet sahen seine Augen ins Zimmer, — ja, wie ist mir denn? dachte er, — oh, mir ist wunderbar! — Unvermutet mußte er die Arme mit geballten Fäusten von sich stoßen und aus dem Bett springen; im Aufsprung taumelte er, stolperte auf einen Stuhl zu und hielt sich daran, lachte und hielt erstaunt einen kostbaren Gegenstand in der Hand, eine seidene Strumpfhose, deren eines Bein weiß, das andre schilfgrün war. Das ist ja meine Hose, dachte Georg, ah, nun merke ich, daß der wunderbare Tag anfängt. Er bauschte in den Händen die weiche Seide zusammen und betrachtete entzückt die hineingestickten Wappen, Blumen und Ornamente von Silber auf beiden Beinen. Da hing auch der Rock überm Stuhl, gleichfalls zur Hälfte weiß, zur Hälfte grün, und am Bügel darüber der kurze Mantel, tiefblau, glänzend von Seide, mit Hermelin leicht verbrämt, und am Stuhl lehnte die Laute, still, umschlungen von weißen und schilfgrünen Bändern, — alles genau so, wie er selber es am Abend zuvor aufgebaut hatte. Nun sprang er ans Fenster, riß den Vorhang auf und bemerkte enttäuscht, daß es grau draußen war; aber siehe, der Himmel blendete leicht, naß und schwer hingen die Büsche und die Hopfenranken jenseit des Weges, und schon glaubte er zu sehn, daß dieses Morgengrau mit goldenen Hefteln, zum Abstreifen lose, befestigt war. Die Sonne kommt, frohlockte er, Renate kommt, und nun bin ich Großherzog. Seine Brust dehnte sich schwer, er mußte einen Augenblick die Hände darauf drücken, er suchte die alte Angst im Herzen, aber nichts da, nichts gab es als eine seltsam üppige Kraft, ein stilles Feuer, von dem sein Innres glühte bei seltsam klarem Kopf. Nie war mir so wohl, flüsterte er sich zu, nie im Leben, ach das ist ja herrlich, ich möchte — was möchte ich nur? Einen Kiefernbaum ausreißen und den Staub von Renates Türe kehren, ja, das möchte ich! — Aber erst will ich baden.

Er streifte den Schlafanzug ab, ging nackt ins Badezimmer und stellte sich unter die kalte Brause. Da ward ihm so unbändig zumut, daß er glaubte, er sei berauscht. Ich habe doch Wein getrunken in der Nacht, aber eine solche Wirkung habe ich noch all mein Lebtage nicht bemerkt. Er trocknete sich flüchtig ab, trat dann mit einem plötzlichen Entschluß an das Fenster, und — jetzt in einer süßen Beklommenheit zum Beten entschlossen — öffnete er die Flügel. Er blieb so, die erhobenen Hände an den Fensterflügeln, sehr aufrecht; und nun, aus blinder Beschämung, alles vergessend, hineinwachsend, als ob er sauste, in eine Inbrunst ohnegleichen, in der er, wie in gewaltigen Schwingen stehend, zum sicheren Absturz in unendliche Tiefen bereit war, sammelte er die Worte der Andacht.

„Licht, du selber verhülltes!“ sagte er, „sieh mich nun! Verhüllt, siehst du mich doch. Sieh mich nackt, sieh mich auf meinem Gipfel! Groß ist der Tag, zu dem ich entschlossen bin. O Licht, du siehst, ich bin heiter, — aber nicht würdelos, nein. Nein, sieh doch die letzte Stunde der Freiheit, gönne mir, noch einmal heiter zu sein, gönne mir noch einen Flug, noch diesen Trunk aus dem Leichten, diesen Kuß der schönen Vergänglichkeit! Dann will ich die Arme gern ausstrecken, die eisernen Handschellen darumlegen zu lassen, die ich mir selber geschmiedet habe. Verachte mich heute nicht, Licht, entzieh mir nicht deine ewige Gnade, erleuchte mich morgen und allezeit, laß mich, wie in diesem feurigen Augenblick, nur allezeit wahr sein, ganz sein, der ich bin, wahr, wahr, ein Gemächt des Schicksals, aber ein stolzes!“

Er öffnete die schamvoll geschlossenen Augen, da ihn die Worte verließen, wandte sich und atmete, als wäre er in sich zurückgekehrt, tief auf, gleichsam beruhigt, sich so einfach zu finden. So einfach, ja, aber auch so hundertfältig wohl.

Aus den Poren seiner Haut strömte nicht Wärme, sondern Kühle; von sich selber umfächelt trat er vor den Spiegel und war durchaus mit sich einverstanden, außer mit seinem Gesicht, das stark gemagert war, — ja, das war gerechte Folge der Arbeitsmonate, — und dafür hatte er seine Augen noch nie so groß und leuchtend gesehn; sie blitzten wie durch Glas, und die Pupillen schienen ihm vergrößert, als hätte ihm jemand Belladonna eingegeben. —

Georg begann sich anzuziehn, die seidenen Hosen auf die nackte Haut, eine kühle Wonne, in die er sich kleidete. Dabei fiel ihm ein, daß er schwer und seltsam geträumt hatte bei Nacht. Er besann sich, auf dem Bettrand sitzend, die Hosen erst halb übergestreift, und für einen Augenblick wälzte sich schwer und wolkig ein Stück Nacht in sein Innres, gefüllt mit schaurigen Beängstigungen. Ich stürzte ja immer, erinnerte er sich, zuletzt von einer Klippe ins Meer, — wie war es doch nur? Sonnenuhr ... aber die Ziffern waren Menschen, und ich — ich konnte meinen Platz nicht finden. Nein, viel schlimmer waren ja diese Gugelmänner! Und wie sie fortwährend schwanden! Dann redeten sie kostbare Dinge, Verse glaub ich, die mich durchschauderten, aber das habe ich schon oft erlebt, daß mir im Traum etwas wunderbar erschien, was sich im Wachen als sinnlos und albern herausstellte. Als Esther noch lebte, träumte ich einmal eine ganze Novelle von ihr, noch im Wachen war ich entzückt davon, und dann zerstob es wie Nebel in sinnlose Stücke; daß eine Droschke darin vorkam, weiß ich noch. — Sieh da — habe ich nicht auch den Orion gesehn diese Nacht? Den Orion, den Winterstern! ist es zu sagen ...

Kaja ...

Plötzlich sanken ihm die Hände, er erschrak, aber — was war denn zu erschrecken? Er suchte und fand nichts, als wieder dies Wort Kaja, und dann — er lächelte — ach, meine Mutter, sagten die Schwarzen, habe Kaja geheißen. Ich Kajus, nehme dich, Kaja, so hieß doch die alte römische Trauformel, und: Wo du bist, Kajus, da bin auch ich, Kaja. — Es ist aber doch eigentlich schauerlich mit dem Träumen, dachte er, aufstehend und den Hosenbund zusammenschnürend, sie machen, was sie nur wollen, mit uns, wir müssen lieben oder hassen, bekämpfen oder fürchten, ganz ohne unser Zutun, und was uns längst abgetan schien, das kommt wieder, immer wieder, auch die Toten ...

Überdem war er wieder vor den Spiegel geraten und vergaß alles über dem unverhofften Glanz seiner Beine. Dann fuhr er in den Rock und hakte ihn zu, von der Achselhöhle zur Hüfte; er fiel über die halben Oberschenkel herab, in der Mitte leicht eingerafft; die Ärmel, der weiße und der grüne, umgekehrt wie die Farbteilung der Beine, lagen eng wie die Haut selber an, aus dem Halsausschnitt kräuselte sich der gewellte Ring des Hemdes am Halse empor. Während er das verwirrte Haar mit dem Kamm glättete, sah er im Spiegel, daß draußen das Grün schon leuchtete und sich vergoldete, und plötzlich glänzte es zu seinen Füßen, und ein breiter Streif Sonne stand, in Milliarden Stäubchen schimmernd, mitten im Zimmer. Ach, und kühl war es, kühl! Er griff nach dem kurzen Schwert, dessen Gürtel über der Stuhllehne hing, und der aus verhakten Quadraten von Silberfiligran und dunkelblauem Email bestand; die Klinge stak in schwarzlederner Scheide mit silberner Spitze. Er nahm den Gürtel auseinander und legte ihn um die Lenden, unterhalb des Leibgurtes, wo er an kleinen Haken festhing. Auf die Uhr blickend, fand er, daß es gleich dreiviertel Neun war, er eilte ins Eßzimmer und aß mit starkem Hunger Eier, Brot, kalten Braten und warmen Haferbrei mit Milch. Im Hause war es still, Egon mußte längst draußen sein, auch die Hausmeistersleute waren gewiß schon auf der Wandrung zu ihrem Tribünenplatz.

Georg legte die Zigarette unangebrannt noch einmal fort, trat in die offne Gartentür, atmete tief und lang die Kühle des Morgens und begrüßte mit immer leichterem Herzen die hervorsegelnden Bläuen überm Nebelmeer der Lüfte. Sein Gesicht zuckte von innen heraus mit Lächeln und Freudigkeit, kein Gedanke tat sich hervor, er konnte nur atmen und sich wohlfühlen und dem Himmel danken, daß er Augen hatte zu schaun, Lungen zu atmen und eine brennende Seele, die alle Welt umher an sich zog wie Luft, um sie zu verzehren und höher davon zu leuchten. Alles funkelte ihn an, jede Farbe, das Grün, das lichte Gelb und Zinnober der Stockrosen; das Blau der Glockenblumen im Garten schien ihm noch einmal so tief, er begriff es nicht, er wollte es nicht begreifen. Keine Kontur war je so deutlich, kein Blatt ihm je so stark und lebendig gekrümmt, gezahnt und beschattet erschienen, ach, wie mußte erst blühen Renate! — und er kehrte um, lief zur Tür, besann sich auf seine Laute, suchte sie in allen Zimmern, dachte: sie wird brausen und klingen unter meinen Fingern, obwohl ich keinen Griff verstehe, fand sie endlich auf dem Bett, halb unter der Decke, sprang auf den Gang und zur Tür hinaus, wo bei Gott ein Automobil stand, als wäre es hergezaubert. Nach einem kleinen Versuch, mit dem Kopf voran durchs Fenster ins Innre zu springen, öffnete er ernsthaft den Schlag, schrie dem Kutscher zu: Güntherstraße fünf! warf sich in den Rücksitz und schloß die Augen.

Wenn wir nur erst zu Pferd wären! wünschte er begierdevoll und öffnete die Augen wieder; sogleich wogten zu beiden Fenstern bunte Stürze von Stoffen, Fahnen, Blumen und Bewegung herein, er packte die Ringe der Vorhänge und zog sie straff herunter, er wollte nichts sehn, wollte die ganze Vollkommenheit des Schauspiels sich bewahren, drückte sich wieder in die Ecke, stöhnte vor unbezwinglicher Ungeduld und kniff die Augen zu. Alsbald brandete die Woge der Erregung wilder und kälter um sein Herz, so daß er sich leiblich umklatscht fühlte von einer großartigen Kühle, die ihn trug und aufrecht machte, ja, deutlich unterschied er im lauten Toben seines Blutes die geistige, fast eisige Stille seiner Kaltblütigkeit. Sein ganzer Leib dehnte sich in allen Fugen und Nähten vor fiebrischer Erwartung Renates, es knatterte in ihm, wie eine Stichflamme aufschießend mitunter, schien er sich als ein riesenhaft gebauchtes Segel, eine tönende Gefäßwand voll praller Windvölle über einem tosenden Geroll strömender Wasser zu stehn, zu prasseln, zu fliegen, unsagbar leicht und straff, strotzend von Kräften. Draußen unsichtbar, dumpf murmelnd und brausend, rollte das farbenreiche Getümmel der sich zur Freude sammelnden Mengen, und mit ihnen — so war es! — rollte aus allen Fesseln die Gewalt seines durchkühlten Bluts, schlug wogenhoch an Häuserfronten, spritzte klatschend zu Fenstern hinein, wirbelte um auf Plätzen und ergoß sich vollen, stürmischen Schwalles durch die Gassen, während er selber dasaß, wie ein Gott in sich zuhaus, in einer flammenden Wolke von Inbrunst, berauschten, tönenden Herzens, in den Ohren Musik und Gelächter, die Lippen überquellend von Jubel; und um so lautloser all dies in langen, lang schwankenden Minuten sich ergoß, um so magischer war es auch, — wie Legende, so wars. Und schon hielt der Wagen an.

Verkleidung II

Und schon sprang Georg, federnd wie ein Ball, von sich selber um- und angeschillert mit seidener Buntheit, durch einen fremden, sonnigen Vorgarten, auf ein fremdartiges, grau und sonniges Haus zu, über Stufen hinweg durch ein gläsernes Tor, warf sich durch einen kühl dämmrigen Flur wohlbekannten Geruches, vorbei an wohlbekannten Bildern, Spiegeln, weißen Türen auf eine dämmerweiße Doppeltür zu, die von selber vor ihm sprang, und schon stand er vor dem Wunder.

Lavendelblaues Wunder! Er stand nicht, er stürzte an den Boden, leicht, in sich gefaßt, geworfen und gehalten, auf das rechte, gebogne Knie, die Arme aufwerfend und breitend und senkend, die flachen Hände angeströmt von Lust und Glanz, das Haupt im Nacken, brausend unter allen Gliedern wie ein niederströmender Aar aus Lüften und Gewölk, und rief mit heller Stimme: „Herrlichkeit! Herrlichkeit über Herrlichkeit! ich bin da, ich bin gekommen!“

Renate, unter sich Georgs lachendes, magres, knabenhaftes, leuchtendes Gesicht, bewegte sich nicht, da Magda hinter ihr den Schleier auf ihrem Kopf befestigte, sah steifen Gesichts, die Augen gesenkt, auf ihn nieder, faßte, um ihn zu begrüßen, in die Falten ihres Kleidrocks über dem Knie und hob ihn an, so daß der starre Saum von Silberbrokat an sein Gesicht rührte. Er faßte mit beiden Händen zu, Inbrünstigkeit spielend, so tief er sie empfand, und küßte sie lachenden Mundes. Dann bat er um Erlaubnis, aufstehn, und nachdem sie ihm gewährt worden, die Wundererscheinung betrachten zu dürfen. — Renates Gelächter schwang über ihm wie eine Glocke, da sie erklärte, das Wunder sei erst halb, noch fehlten die Überärmel und der Mantel, ja, es sei alles schon verpackt, jedes zu seiner Zeit ... Georg stammelte, daß er dann nicht wüßte, wie er das Ganze ertragen solle, und fing an, um sie herumzugehn. — Ihr Haar sah er, das bräunliche; es schimmerte durch ein fabelhaftes Netz von großen Perlen, vorne aber fielen die Zöpfe, wie Taue so dick, Haarsträhnen, durchflochten mit Perlenschnüren und schilfgrünen Bändern, über die Brust bis zu den Knieen herab, und die Enden der Bänder bebten bei jeder Bewegung leise dicht über den Füßen in silbernen Schuhen. Die lavendelblaue Seide, grauschiefrig schillernd in der Nähe der Nähte, umschloß Brust, Leibesmitte und Hüften eng, ergoß sich dann in großem, starrem Faltenwurf; vom runden Ausschnitt des Halses senkte sich zwei Hände breit eine glitzernde Borte von Silberbrokat vorn herab bis zum Saum, der starr stand, drei Hände breit, silberner Brokat. Und in all dem Silbernen, dem lichten Blau, Perlweiß und lichtem Grün glühte das meilentiefe Blau ihrer Augen, hauchte die rosene Zartheit ihrer Wangen, glühte das Rot ihrer Lippen, der göttlich geschwungenen, alles in allem ein Pokal voll Unersättlichkeit, in den Georgs Herz hineinsprang mit einem Satz wie ein Panther. — In der Nacht, wo ich dies umarme, dachte er, werde ich sterben und das ewige Leben davontragen wie eine Harfe, auf der ich — ach, ich weiß es nicht, aber warum sage ich es ihr nicht? Ich werde es ihr sagen, doch nicht jetzt, am Mittag vielleicht, am Abend, ich will — noch — noch! — kein Band und keine Fessel zu ihr hinüber als mein trunkenes Empfinden, und er sagte: „Jetzt wollen wir fahren. Aber Magda, — was ist denn mit dir? kommst du nicht mit?“

Sie schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: erstens müßte sie das Haus hüten und den Onkel ...

„Und zweitens?“

Zweitens hätte sie kein Kleid. Er erinnere sich ja wohl noch, daß er selber das Gebot erlassen habe, daß niemand in andrer als in alter Tracht sich heut öffentlich zeigen dürfe ...

Georg mußte es zugeben. Allein in plötzlicher Liebe zu ihrer dürftigen Gestalt, bestand er darauf, ihr am Abend das Feuerwerk und den Tanz in den Gärten zu zeigen. Ob sie nicht eines von Renates Trachtkleidern anziehen könne, — und nun gab sie gerührt nach.

Und schon saß Georg, nachdem Renate lächelnd zugegeben hatte, daß er die Vorhänge herunterzog, auf dem schmalen Rücksitz des Wagens ihr gegenüber, genau genommen, dachte er, in ihr, denn sie füllte den halben Wagen mit ihrem Kleid und den Luftraum ganz mit Duft und Blühen. Sie schauerte ihn an wie atlantischer Wind, er schloß die Augen und sah sie in brennenden Umrissen dasitzen, in ihrer sinnenden Haltung, die sie liebte, die er liebte, das Kinn in die rechte Hand gestützt, den Ellenbogen auf dem übergeschlagnen rechten Knie, in der Linken im Schoß den kostbaren Haufen ihrer Zopfenden und der Seidenbänder. Ihr leibliches Leben strahlte über und über aus ihr; in allen Falten raschelte, in allen Nähten lief, im äußersten Saume brannte und zitterte noch die Süßigkeit ihres rosigen Lebens. Georg sah und sah, — sah alles Unsichtbare: unter dem lavendelblauen Kleidhimmel wie eine lockre Schar schneeweißer Fittiche das Gewoge ihrer Leibwäsche in weißer Dämmrung; darein stiegen von unten, aus Silberschuhn, die schlanken Schäfte ihrer Beine, glatt bespannt mit blauem Flor; da wölbten sich unbeschreiblich die Rundungen der Knie, blau bespannt bis zu einer Handbreit höher hinauf, wo es kaum sichtbar schimmerte — nicht wie Marmor und nicht wie Rosen, wie Schnee nicht, noch Elfenbein, noch Mandelblüte, — Magnolie vielleicht, — nein, davon nichts, sondern lebendige Haut, unfaßliche Glätte, Süße, Hauch, Schimmer, Duft, Verwirrung aller Sinne unter dem weißen Spitzenschaum und — Georg dehnte ein wenig die Brust, breitete die Arme zu beiden Seiten aus, sich anlehnend, und suchte umsonst zu begreifen, wie er so gelassen dasitzen konnte, die sanften Schwellungen ihrer Brust offnen Auges betrachtend, dazu die zarte Linie ihres Profils, der gebogenen Nase, lieblichste Wölbung der Oberlippe und flügelnde Entzückungen der tiefgezogenen Mundwinkel, von kaum sichtbarem, weißem Fruchtflaum umhaucht, — anstatt in all dies hineinzuwühlen Haupt und Mund und erblindende Augen, an allen Sinnen gesträubt und betäubt, geglättet, unersättlich, rauchend und begraben im klirrenden Schutt seines Daseins.

Fahrt

Renate, still vor sich niederblickend, sehr glücklich, atmete tief und leicht, gewahrte von Georg gegenüber in der sonnigen Dämmrung des kleinen Raums den Schatten seines blassen Gesichts, dachte an seinen Vater, lächelte sanft auf, indem sie bemerkte, daß sie ja seine Mutter sein würde, blickte ihn voll an und fand ihn so hübsch, so liebenswert, so jung und schmal wie je; freilich nur ein schmaler Baum war er neben dem Turmbau seines Vaters.

„Wie mager Sie geworden sind, Georg,“ sagte sie leise bedauernd.

Die letzten Wochen, erklärte Georg, seien schon schlimm gewesen, er habe sich hineingefressen in den ganzen Trassenberg und kaum Atem geschöpft.

Sie fand ihn leidender aussehend, während er so sprach. „Und obendrein waren Sie krank“, sagte sie.

„Ach,“ äußerte er munter, „das war ganz schön, — die paar Tage! — und da ist mir auch alles eingefallen. Ja, was Sie heute sehn, und ich hoffe, einiges davon wird Sie erstaunen, das habe ich mir ausgedacht, als ich krank lag. Ja, geben Sie schön acht, damals lag ich wie ein brennender Saturnring um Ihre —“

Sie hob warnend den Finger, lächelte und sagte: „Georg! Ich mag sehr gern, wenn man mir schöne Dinge sagt, aber man muß niemals übertreiben, dann verraucht die Wirkung spurlos.“ Übertreiben? dachte Georg, ach, du lieber Herr Jesus! „Erzählen Sie mir, wer war Heliodora!“ befahl sie.

„Heliodora“, erklärte Georg, „war eigentlich Libussa. Kennen Sie Libussa?“

Renate nickte und sagte, Libussa sei ihre Lieblingsgeschichte gewesen als Kind.

„Meine auch“, log Georg und fuhr fort. „Ich wollte Libussas Geschichte aufführen lassen, Sie sollten Libussa sein, aber als ich mit Onkel Salm darüber sprach — Papa hat ihn mir überlassen, er mußte alle meine Pläne ausführen — sagte er, wieso ich nach Böhmen wolle — er weiß ja alles —“

Wie Georges, dachte Renate gerührt; wie er sich freuen wird, der Gute, und sie unterbrach Georg mit der Frage, was Saint-Georges darstellen würde, aber er wußte es nicht. Ihr hatte er nichts verraten wollen.

„Also, da sagte er,“ fuhr Georg fort, „warum ich nach Böhmen wollte, da wir doch die Heliodora hätten. Aus dem Festspiel kennen Sie ja dieselbe, sie war, richtig wie im Festspiel, eine byzantinische Prinzessin, verstand allerdings leider nicht, ihre Legendenschönheit zu vererben, — oder — was meinen Sie?“

Renate meinte, er könne ganz zufrieden sein, aber woher denn die schiefe Nase seines Vaters komme.

„Nicht von Heliodora freilich, sondern eben von dem Bauern, dem Gregor, oder Georg, den sie zum Mann nahm, — es steht ja alles im Festspiel. Auch das weiße Pferd und der Tisch von Eisen ist Legende, nur waren es in der Überlieferung die Sachsen, nicht die Beuglenburger Markgrafen, mit denen Heliodoras erster Mann und sie selber kämpfte, und Trassenberg war damals natürlich noch nicht Herzogtum, wie im Festspiel, sondern Freigrafschaft. Heliodora,“ sagte Georg langsam und leise, „Sonnegabe, ein schöner Name ...“

Sonnegabe, wiederholte Renate, sich erinnernd, daß der Herzog seinen Antwortbrief auf den ihren, in dem sie ihre Mitwirkung im Festspiel erwähnte, mit diesem Wort begonnen hatte, — und da, dachte sie, wußte ich schon alles, aber ich wollte es nicht wissen ... „Zwölfhundertsiebenunddreißig“ hörte sie Georg murmeln, und der Wagen stand still. Georg öffnete den Schlag, sprang hinaus und reichte ihr die Hand hinein. So stieg sie gebückt vorsichtig ins Freie hinab. Da standen sie auf der Landstraße neben dem Reitweg und sahen sich um.

Allein Georg, von plötzlichem Argwohn herumgeworfen, mußte vor Renate hintreten und fragen, indem er ihre Hände ergriff:

„Renate! begreifen Sie es, oder nicht, daß ich mich hier unter Trachten und bei Festen herumtreiben kann und heute nachmittag die Verantwortung für ein ganzes Volk auf mich nehmen soll?“ —

Renate, sein blasses Gesicht mit angstvollen Augen dicht über dem ihren, sah ihn nur gut an und antwortete nach einer Weile, ihm zu helfen: „Ist es nicht auch Ihre letzte Freiheit, heut? Ich habe ja wohl manchmal gestaunt,“ fuhr sie leise fort, „wenn ich im stillen bedachte —“ sie lächelte, da seine Züge sich schon glätteten, „— was Sie auf sich nahmen, aber — nun, Sie haben das Herrschen wohl im Blut ...“

Was hatte sie gesagt? — Er zuckte zusammen. „Im Blut ...“ wiederholte er tonlos, „nicht im Blut, Renate ...“

Er senkte den Kopf, und sie sagte leise und begütigend über ihn: „Ich weiß ...“

Gleich warf er den Kopf auf. „Sie wissen? Ach, dann ist es gut, dann ist es gut! Und Sie verstehn mich doch?“ Sie nickte. „Papa hat es Ihnen verraten?“ Sie nickte. „Aber ich habe gelogen vorhin,“ murmelte er beschämt, „als ich von der Heliodora sprach. Ach, gute Renate,“ fuhr er glühend und eifrig fort, „mir ist so unbeschreiblich heute ums Herz, so wild und zugleich sanft und kühl, kräftig und wunschlos und glücklich, nur eins fehlt, nur eins müßte man können!“ Er hob die linke Hand und ballte sie: „Sein können, was man ist!“ Er trat zurück, wies mit leicht gebreiteten Armen auf seine Tracht und sagte: „Wie locker und gewandelt fühle ich mich nicht schon durch diese Kleider, und doch — von der göttlichen Laune, die mich erfüllt, kann ich nichts nach außen schlagen lassen, da ist alles beladen mit Ketten dieser hundert Hemmungen, ich kann mich nur fühlen, geben kann ich mich mit keinem Blick, keiner Geste und keinem Wort, wie ich bin; ich bin vielleicht nicht einmal geschickt genug dazu, aber selbst wenn ichs wäre, wäre immer mein Anzug von Neunzehnhundert um mich herum, Kragen und Manschetten, Weste und Stiefel und alle Allüren meiner großstädtischen Erziehung, die nur zum Verbergen da sind, nicht zum Ausdrücken, zum Zurückhalten, nicht zum Ausströmen. Anno zwölfhundertsiebenunddreißig wäre ich ein Schwärmer gewesen, ein Dichter, jedem ins Gesicht hinein und — aber genug!“ er brach ab. „Jetzt will ich siebenhundert Jahre zurück, geben Sie acht, sehen Sie mich fest an, wo sind wir? Freigrafschaft Trassenberg, Heliodora, Sonnegabe, Zwölfhundertund —“ „Siebenunddreißig,“ ergänzte Renate lächelnd. „Nun wollen wir uns umsehn!“

Mummenschanz

Georg behielt freilich ihr sonneglänzendes Profil vor Augen, dahinter die Äcker, Roggenfelder, wogend in reifem Gelb, dahinter den grünen Traum der Hügel und ein Stück der dunstigen Stadt, Türme grau und Neubauten, flimmernd im Sonnenglast. Nach links gewandt sah er mit Freude die weiße Straße unter schwer tragenden Kuppeln der Fruchtbäume weithin betupft mit leuchtenden Farben; ein Zitronengelber wandelte ganz vorn heran, weiter hinten zog ein ganzer Haufen, aus dem zwei Zinnoberrote glühten, und er berührte Renates Arm, damit sie es auch sähe.

Dann mußte er aufhorchen. War das wirklich oder nur in seinem Gehirn? Ein weiter Ring von sanft hallendem, ruhigem Glockengeläut schien ihm alle Fernen zu umschließen, — darinnen war tiefe Sommerfülle, — nein, es klang wohl doch nur in seinen Ohren, — aber waren nicht alle Weiten erfüllt mit heiter schwirrender Musik? — Ah, Mandolinen und Gitarren, sie kamen auf der Landstraße heran, leise rauschend im Takt. Wo nun die Pferde seien, hörte er Renate fragen, wandte sich und sah mit ihr zur Rechten hinauf; dort enteilte die Straße leer, von den Schatten der Obstbäume leicht gegittert, zur Ferne der Landschaft, und dort flackerte es bunt, rot und gelb. Nahebei drehte ein einzelner Geharnischter sein braunes Pferd um sich selbst und lenkte herbei, die lange Lanze im Bügelschuh, den Kopf im spitzgewölbten blanken Helmtopf, das Kinn vom stahlmaschigen Halskragen umschlossen, im grauen Kettenhemde mit anliegenden Ärmeln, die Beine in ebenso anschließenden, stahlmaschigen Strümpfen, — die Vermummung eines Feldgendarmen, der für Ordnung zu sorgen hatte. Wieder nach links schauend, glaubte Georg in der Ferne, von der Stadt her, hinter den Zinnoberroten etwas schwarzrot Vermummtes mit einem braunen Pferdekopf zu sehn, daneben ein silbernes, dann auch einen Reiter in Weiß und Grün; das waren die Pferde. Er zeigte sie Renate.

Indem war drüben auf dem Fußsteig unter den Bäumen der Wandrer im faltigen Zitronenhemd nahe gekommen, ein rüstiger Greis von fünfzig Jahren in schönen, grünen Strümpfen, am Wanderstabe, einen spitzen Strohhut auf dem Kopf, hager und braunbärtig. Jetzt blieb er stehn und starrte, Augen und Mund weit offen, auf Renate. Georg lachte.

„Mit Permission,“ sagte der Gelbe, „ob dies wohl die Heliodora ist?“

Georg zog zwei arg verbogene Zigaretten aus dem Wams, schlenderte frohgelaunt zu dem Staunenden hinüber und reichte ihm eine, seine Frage bejahend und um Feuer bittend. Der Gelbe bedankte sich höflich, krempte sein Hemd auf, eine mächtige, manchesterne Hose kam zum Vorschein und aus ihrer Tasche alsbald eine alte Streichholzschachtel, die der Mann halb auseinanderzog, um Georg in der Höhlung das brennende Streichholz zu reichen. Georg bemerkte, als die Zigaretten beide qualmten, es sei ein schöner Tag.

Jeder Tag, sagte der Gelbe, sonderbar im Stehn beständig die Füße wechselnd wie ein Tanzmeister, jeder Tag sei schön, an dem der Christenmensch sich nicht zu schinden brauche. Er blinkte Georg verschmitzt zu und sagte: „Heliodora, eiweih! die heilige Dora! ha, ha, ha, ha!“ und wechselte die Füße, seinen Stock hinter sich aufstützend.

„Frei Essen und Trinken obendrein“, bemerkte Georg leutselig, aber der Mann kratzte sich den Kopf unterm Hut, daß er ihm über das halbe Gesicht rutschte, nahm ihn ab, schwenkte ihn und meinte, was zum Teufel er morgen mit dem gelben Hemde machen solle.

„Menschenskind,“ rief Georg entrüstet, „müßt Ihr denn immer was zu sorgen haben?“

Der Gelbe grinste. Indem war die schwirrende Saitenmusik nahe gekommen, Georg sah das bunte Menschenhäuflein, die Zinnoberroten voran, hermarschieren mit Mandolinen und Lauten im festen Takt eines muntern Marsches. Wandervögel, dachte er und hörte den Gelben sagen, er wäre Professor am Orientalischen Seminar, wozu er da ein gelbes Hemd brauchte? — Georg fuhr lachend und erschreckt herum, aber der witzige Professor winkte großartig ab und wanderte fürbaß.

Hinter den Jungens, die ihre Instrumente spielten — sie waren ähnlich wie Georg gekleidet, einer in Schwarz und Gelb, einer in Grün, — kamen die Mädchen, schön flatternd in Gewändern, Kränze im Haar, eine schieferblau, eine rostrot, eine grün und weiß gestreift, Arm in Arm kamen sie daher. Jetzt hoben die Jungens die Instrumente vor der Brust hoch, vollführten ein betäubendes Saitengerassel und fielen mit Klängen und Stimmen in das rasche Lied: Horch, was kommt von draußen ’rein? — Sie sangen aber, kräftig ausschreitend, die Augen stramm auf Renate geheftet:

„Seht, was steht denn dort am Rain?

Hollahe! hollaho!

Das muß Heliodora sein!

Hollahehaho!

Hel—io—do—ra, lächle mal!“ damit kamen sie taktfest vorüber. Georg wollte sich umdrehn, um Heliodora lächeln zu sehn, wäre aber ums Haar überritten worden, sprang zurück vor einem feueräugigen roten Roßkopf und sah darüber das volle, brennend braun und rote Gesicht eines Geharnischten, barhaupt, mit gestutztem Armeeschnurrbart und funkelnden schwarzen Augen, der lachend sein Streitroß zur Seite nahm, Georg im Bogen umtrabte und sich verneigte. Georg rief ihm nachblickend zu — erfreut vom Anblick den blauverstählten Panzerhemdes mit aufgesetzten Messingplatten an den Kniescheiben, Achseln und Ellbogengelenken —: „Wer sind Sie?“

Mit schallender Stimme: „Rittmeister Freundlich, königliche Hoheit, vierte Eskadron Beuglenburgische Jäger zu Pferde!“ rief der Trabende winkend zurück, und da schaukelte sein weiß und roter Knappe an Georg vorüber, Schild und Lanze seines Herrn in Händen, den Helm am Sattelbug, aber das rosige Gesicht war umflogen von langem, braunem Haar, eine Frau wars, und „Ich bin seine Frau!“ rief sie strahlend, aber da war die Eskadron heran und polterte klirrend vorbei, rote schwitzende Bauerngesichter unter den Helmen, auf und nieder, auf und nieder im englischen Trabe, nickende Pferdehäupter, Mähnen, Hufschlag, wirbelnde schwarze Schweife, weißrote Dreieckfähnlein und wogendes Wippen in den fesselartigen Eisensätteln, Geklirr und Geklapper, zwei hüpfende Reihen dunkelgrauer Kettenhemden. Einer der Unteroffiziere oder Wachtmeister hob die Lanze aus dem Schuh, tippte mit der Spitze nach einem der offnen Mundes anstaunenden Mädchen, die bog Brust und Hals zurück und erwischte den Wimpel, hielt ihn schreiend fest und wollte nicht loslassen, scheltend wie ein Sperling und hinterdrein springend; die reitenden Kerle in Eisen lachten dröhnend, da wars vorüber, reitende Schatten verschwanden in weißem, wolkig steigendem Staub, und von den am Straßenrand aufgestellten Musikanten waren schwirrend und rauschend die heitern Takte des Radetzkymarsches zu hören. Sie fielen Georg ins rauschende Blut, oh er hätte tanzen mögen, und eins der Mädchen, das in Schieferblau mit violettrotem Rocke, sah aufs Haar wie jene Riemenschneidersche Madonna aus, Kranz im Gelock, Schultern und Brust glatt bedeckt vom Stoff, der über den Hüften locker auseinanderfiel auf den weitfaltigen Kleidrock, und wie entzückte sie Georg mit Erröten und Knicks und Lächeln, denn nun wußten sie ja Alle, wer er war.

Ritt

Da kamen die Pferde. Ja, da staunten sie. Die Wandervögel staunten, Georg staunte, Renate staunte höchlich. Unkas ging, bis zu den Hufen vermummt im steifen Umhang dunkelroter Decken mit schwarzen Wappen und Ornamenten, was aber neben ihm schwebte, das war die silberne Unwirklichkeit in Gestalt eines Pferdes: milchweißer Kopf und Nacken unter breitfallender, gewellter Mähne und starrer Deckenumhang von silbernem Brokat mit blauen Wappen und Arabesken; ein weißer Gießbach, ergoß sich der gewellte Schweif, und unter den handbreiten, blauen, silbergestickten Säumen hoben sich und traten die versilberten Hufe. Die großen, braunen Augen aber blickten aus vergilbten, faltigen Lidern fremd und fromm wie die eines Fabeltiers. — Renate, ganz gerührt, bedankte sich feierlich bei Georg für diese schöne Erfindung, er aber lachte und sagte, dies wäre nun noch gar nichts, aber jetzt wüßte sie wohl, was ihrer noch wartete ... Ferdinands, des Reitknechts, blankes und schurkisches Gesicht — wie das aller Reitknechte — fuhr dazwischen, er schwang sich vom Pferde, weiß und grün halbiert wie Georg, doch nicht so schön, und auf der Brust das silberne Wappen in Metall. Er führte den Schimmel vor, aber nun stürzten sich sämtliche Wandervögel auf den Steigbügel, einer stand ab nach Kampf, nahte sich ritterlich Renate, verbeugte sich tief und bot ihr die Hand. Wie ein kostbares Gefäß aus Kristall wurde sie aufs Pferd gehoben, Georg fragte, ob sichs gut sitze, Renate fand, sie sitze weich wie in einem Heuberg, und Georg saß selber auf. Stracks fuhr sein ganzer, heftiger Geist dermaßen in Unkas, als sei Georgs Leib eine elektrisch geladene Zange; er brachte unleidliche Verwirrung in das alte, kalte Wallachenblut, es drängte ungestüm gegen die Schimmelstute, sie stob schnaufend auf und davon, Georg folgte, Unkas mit voller Armkraft in die Trense nehmend, aber das half alles nichts, er raste wie ein Untier davon, holte den locker laufenden Schimmel ein und bohrte, gegen ihn anstürmend, die linke Schulter gegen seine Hinterhand. Renate erschrak leicht und galoppierte weiter, aber Georg, Unkas zurückreißend, merkte, daß der die Trense aus dem Maul genommen hatte und damit herumfletschte; er stieg ab, schaffte unter milden Verwarnungen Ordnung, stieg wieder auf und folgte einem Hauch von Blau und Silber oben auf dem Hügelrücken, den die Landstraße überstieg.

Oben winkte ihm herrliche Aussicht. Von rechts strömte eine breitere Chaussee heran, über und über bedeckt mit farbiger Bewegung, Kavalkaden von Edelleuten und Frauen, wandernden Mönchen in schwarzen und weißen Kutten, reisigen Pilgern aus dem Morgenland im Schatten ihrer breitkrempigen Muschelhüte. Leiterwagen rollten heran, geschmückt mit Kränzen, unter wallenden Bannern, gefüllt mit schmetternder Musik und Scharen buntfarbener Männer und Frauen in weiten Mänteln, die sich blähten; überall wandelten gelbe, weiße, grüne Hemden, grüne, weiße, rote Strümpfe, bekränzte Mädchen. Stimmen, Zurufe, Scheltworte und Gelächter schollen, der Himmel flammte mit goldenen, weißen und blauen Strahlen hinein, Wolken Staubes ballten sich so leicht wie himmlische dazwischen, ringsum schweiften die Ebenen, Felder in breiten gelben Wogen, Wiesen, kleine, dunkle Haine über Gehöften, — eine Augenlust unbeschreiblich. Schon war Georg das silberne Pferd im Getümmel verloren gegangen, er ließ Unkas die Zügel und stob bergunter, vorbei am rollenden Strom der Wagen, Rosse und Wandrer, an Geharnischten zur Seite, die aufrecht Wache hielten; um ihn sauste die Kälte der durchschnittenen Luft, hinter ihm weg schnellte fortgerissen das schreiende Bunt gelber, violetter, schwarzblauer, brauner und birnengrüner Mäntel und Mantelfutter, ein Knabe vor ihm, dahinwandernd, schwenkte großartig von rechts nach links an kurzem Fahnenstiel ein ungeheures, blau-weiß-schräg kariertes Banner mit grüner Bewimpelung an der unteren Kante, — dann war die Straße vor ihm leer und weiß, in der Ferne schimmerte das silberne Pferd und in dessen Nähe etwas Blutrotes, das Georg im Näherfliegen als zwei Beine in blutroten Strumpfhosen erkannte; auch die linke Schulter des Mannes war blutrot, und was so blendende Blitze von Silber schleuderte, das war — es war ein riesiges Beil mit geschweiften Seiten und konkav gewölbter Schneide. Ein Henker. — Neben ihm trabte der Schimmel, da war Georg heran, der Mensch mit dem Beil auf rotem Mantel über der linken Achsel, im kurzen schwarzen Büffelwams drehte sich um und zeigte Bogners langes, graues Gesicht. „Halloh, Bogner!“ rief Georg, „machen Sie den Henker?!“

Der Maler nickte lachend, sprang aber im selben Augenblick mit hurtigem Satz seiner langen roten Beine neben Renate auf den Reitweg, und Georg verstand nicht, was er sagte, denn da kam unter prasselnden Becken und schallenden Posaunen vierspännig ein ganzer Leiterwagen voll Musikanten und schwerer Ratsherren, pelzverbrämt und mit blitzenden Amtsketten, vorbeigerollt, ein zweiter dahinter voll von lustigen Matronen, ein dritter gefüllt mit Töchtern und Schwiegersöhnen und Bräutigamen bis zum Rand; sie schwangen Keulen und ganze Leiber gebratener Hühner, Enten und Tauben, Becher und Gläser und sangen „Weg mit den Grillen und Sorgen!“ daß es in Georgs Ohren brauste. Vor ihm saß Renate, weich wie auf einem Stuhl in einem Kahn; auf der silberweißen Kruppe ihres Pferdes saß Rücken an Rücken mit ihr ein kleiner, schmaler Windgott wie ein Faun, der hielt das Ende ihres durchsichtigen Kopfschleiers in braunen Fingern und blies mit vollen Backen hinein, daß der luftige Bogen hinter ihr stand.

„Ist es schön, Renate, ist es schön?“ schrie Georg überlaut.

Renate, wohlig dahingleitend, die Finger der rechten Hand mit dem Trensenzügel im Nackenwirbelhaar des Pferdes, in der Linken im Schoß die Enden ihrer Zöpfe und der Bänder, drehte sich um, lächelte und nickte. Bogner getroffen zu haben, war schön, er erinnerte angenehm an den Herzog, er war trotz Beil und Blutfarben ein gewisser Halt in all dem Lärm und Getriebe, der bunten Lautheit, die sie nie gewohnt gewesen, zumal in den letzten, stillen Jahren.

„Seht ihr die Burg?“ schrie Georg. „Bogner hat sie ganz neu aus Pappe gemacht!“

Renate sah zur Linken auf dem niedern Berge die längsterblickten klobigen grauen Rundtürme, drei, über deren Plattform, weit ausgebreitet, schwer Falten schlagend, die blauweißgrünen Banner standen; dazwischen graue Mauern mit mächtigen Streben und breiten Zinnen, fast so hoch wie die Türme selbst.

Jetzt war eine blauweißgrüne Schranke neben der Landstraße, von zwei Geharnischten bewacht; dahinter führte ein Feldweg zur Burg, der im Bergwalde verschwand. Einer der Reiter erkannte Georg, stieg ab und öffnete die Schranke, sie ritten hindurch, auf schmalem Pfad zwischen dem hohen Roggen, Georg mußte zurückbleiben.

„Sie sehen so schön aus, Maler,“ sagte Renate leise, „es ist schade, daß Sie sich nicht immer so kleiden können. Haben Sie die Gesichter der Menschen gesehn, wieviel freier, leichter und schöner sie alle geworden sind durch die Tracht? Und wer ein Gesicht von Bedeutung mitgebracht hat, der sieht gleich wie ein König aus oder mindestens wie ein Minister.“

Georg erinnerte sich des gelben Professors, des Rittmeisters Freundlich und gab Renate eifrig recht. — Es ging bergan, die Sonne glühte schon, doch nahm jetzt der Wald sie in Kühle und grünes Dunkel seiner schönen Wölbungen auf; es roch strömend nach Buchenblättern, Brombeeren und den herben Farnen. Die Hufe der bergansteigenden Pferde rauschten im braunen Laub, Georg saß, träumerisch bewegt vom Schreiten des Pferdes, im Schweigen lauter tönenden Herzens, verklärt aufblickend in die laubigen Baldachine von durchbrochenem Grün und Himmelsblau, hörte im Traum einen schneeweißen Wasserfall rauschen und murmelte sich trunken zu, das sei der Schweif von Renates Stute. Ich träume wieder, dachte er, ich träume, wann werde ich wieder stürzen? Ich werde nicht stürzen, lächelte er, all dies geht vorüber, der Nachmittag naht Schritt vor Schritt mit dem Ernst, mit der Last, mit der Sorge, dann werde ich glücklich sein, all dies gesehn zu haben, und Renate — Renate —, die Gedanken verließen ihn, er sah über sich im Wald den Fuß der grauen Mauern und ringsum die Räume des Waldes bevölkert mit Gestalten, Trupps lediger Pferde, langhalsig angelnd mit dem Maul nach Gras und Gestrüpp, farbige Menschen wandelten umher, lagerten in Gruppen beim Frühstück und waren allesamt unsterblich guter Dinge.

Da ritten sie in den Burghof ein, Renate glitt vom Pferde, sie konnten keinen Schritt weiter, denn der Hof war vollgepfropft mit essenden Menschen. Georg sprang ab und versuchte, sich zur Schenke durchzudrängen, wurde alsbald erkannt, und schon bestürmte ihn vorn und hinten ein Getümmel der reizendsten Frauen und Mädchen, die ihm Schinkenbrote, Gläser voll Wein und Backwerk hinhielten und bettelten: „Von mir, königliche Hoheit, bitte von mir!“ oh es war herrlich! So viel er fassen konnte, teilte er weiter an Renate und Bogner, schlang selber, was der Mund halten konnte, mußte aber mit randvollen Backen bald versichern, von jetzt ab nähme er nur schon Vorgekautes. Eine Weile später, umringt, lachend, scherzend, immer ausgelassener, hatte er dunkel das Gefühl, in einen strudelnden Gesundbrunnen verwandelt zu sein, plätschernd in allen Becken, und deren Ränder waren dicht besetzt mit Schwärmen äußerst bunter, wild durcheinander schwatzender, flatternder und zwitschernder Papageien, Kolibris und Eisvögel, oder was es sonst ganz Buntes gab. Diese Vision wurde jählings weggefegt von drei schmetternden, an allen Mauern widergellenden Fanfarenstößen, und schon toste herum die gewaltigste Aufregung; Alles rannte gegeneinander, bekämpfte sich, rang, umschlang und entwand sich einander. Geschrei, Gekreisch und Gelächter. Herrgott, wo ist denn bloß mein Mann? — Mein Hut, um Himmelswillen, mein Hut! Sie haken ja an meinem Hut fest! Und eine ungeheure Baßstimme sagte: Ja, will sich denn keiner meinen Kaffee bezahlen lassen? — — Georg, ob er wollte oder nicht, wurde ins Freie geschoben, dachte, der Traum geht weiter, wo finde ich Renate? wo ist Unkas? Unkas stand da, Ferdinand dabei, das gnädige Fräulein, hörte Georg, wäre schon fortgeritten. Hastig saß er auf, befahl dem Reitknecht, sich hinter ihm zu halten, versuchte, das Getümmel von Bäumen und lauter plötzlich Berittenen zu durchspalten, gab es auf und lenkte den Abhang hinunter und im Bogen auf den Waldrand zu. Die Buchenzweige zur Seite stemmend, gelangte er ins Freie.

Mein Gott, das war ein Ausblick! Er schoß, ein riesenhafter Fächer, aus Georgs Augen so gewaltig nach allen Seiten dahin, daß er taumelnd nach Himmel und Gewölkedunst griff, um sich zu halten, und er schaute ...

Ausschau

In der Tiefe, ausstrahlende Meilen weit nach Süden, Westen und Norden hin, nicht zu ermessen mit Augen, lagerte sein Land, Ebenen an Ebenen geschoben, hineingefügt azurblaue Seen und das silberne Geschlängel des Stroms, hauchend von heiterer Glut, rauchend von dunstigem Golde, grüne Flächen, gelbe, und bräunliches Gehügel der sich rötenden Haide, lagernde Bergrücken in den Fernen unter grauen Dünsten. Unten aber, zu Füßen seines Hügels, erst klein im Vergleich zur Unendlichkeit ringsum, sah er die grüne Ellipse der Arena ruhen, völlig leer, im farbenreichen Kranze der Tribünen und Zuschauerringe, und bemerkte nun auch ihre Riesigkeit, denn von hier oben war nichts zu erkennen als ein Gewirr und Gemenge von Farben, Gesichter wie Punkte klein; selbst die vielen großen Banner, an Stellen zu schattigen Wäldern gesammelt, knatternd und schlagend über den glänzenden Tribünendächern, schienen wie Taschentücher klein. Ringsum in dem bunten Kranze lief ein ununterbrochenes Glitzern, Funkeln und Blitzen von sonnegetroffenen Metallspitzen und Schmuck, Wellen von Bewegung rannen zugleich rundum, viele rote Tupfen flammten auf einmal an jener Stelle hervor, plötzlich war alles weiß gesprenkelt, und immer wieder strahlten das Blau, das Weiß und das Grün der Landesfarben hervor, — keine schöneren kann es geben, dachte Georg: des Himmels Blau, Grün der Natur und das schöne menschliche Weiß. — Er entdeckte nun auch den zum Walde den Hügel hinansteigenden Damm, der aus der Arena dort kam, wo sie den größten Durchmesser hatte, und hier unten konnte er allerlei unterscheiden: Strohhüte, rote Hemden, weiße, gelbe, das Rosige von Händen und Gesichtern, und er sah Männer und Frauen, Mädchen und Kinder, hörte ihr leises Brausen und die seltsame Stille, in der sie sich unablässig bewegten, drehten, gingen und setzten und über die Schranken vorbeugten. — Unsichtbar blieb ihm das obere Ende des Damms hinter dem Vorsprung des Waldrandes, er trieb sein Pferd an und erkannte, seltsam deutlich wie manchmal im Traum, daß die Hufe in einer tiefen Furche am Rand eines stillen, wehenden Haferfeldes entlang schritten. — Noch einmal ließ er die Augen ins Weite schweifen, sie flogen wie Greife dahin, schwebten groß unter der bläulichen Kuppel in der Sonne, stürzten herab aus Lüften mit Getön und rissen nun jählings mit Zauberkraft zu sich herauf das Unerkennbare: die Schwärme von Gesichtern, Agraffen, Pelzkragen, Halsausschnitte in violettem Samt, in weißer Seide der Frauentrachten, die schönen, geschatteten Falten ihrer Mäntel, die sie im Arme trugen, und ihre Bewegungen, wie sie lachten und sich bogen, im Stuhl sich drehend, nach oben sprachen zu Männergesichtern, die sich neigten, — und er schnellte ab und warf sich über den breiten Bannerschwarm hin wie über einen faltig rauschenden See, — und siehe, etwas noch Ungesehenes war da, nämlich ein dunkel herwandernder Strom von Geharnischten, der aus der Ebene kam und jenseits in die Arena mündete, tausendfach überhüpft vom Gefunkel der Lanzenspitzen und Helmbügel und den winzigen Segeln der weißroten Dreieckfähnlein. Tausend Pferdeköpfe bewegten sich nickend, die Gesichter der Männer glühten in Staub und Schweiß, — alles sah Georg, die linken Fäuste über der Vorderlehne des Eisensattels, aus denen die vier Zügelriemen flossen, sah die Beine in Stahlmaschen, die ledernen Bügelschuh der Lanzen und unten im Schatten das wirre Durcheinander der braunen und weißfüßigen Pferdebeine. Die ganze Beuglenburgische Kavallerie und Rittmeister Freundlich, murmelte Georg im Traum, Dragoner und Jäger zu Pferd, oder der einziehende Beuglenburgische Heerbann.

Indem schmetterte nahebei aus dem Walde hervor die Fanfare, Georg sah und erblickte undeutlich, hinter einer langen Reihe dunkelgrauer Geharnischter auf lauter Apfelschimmeln: Waldinneres, wie ein Bild, angefüllt mit Fahnen, Standarten, Helmen, Gesichtern und bunten Farben, ganz vorn das brennende Scharlachrot zweier Kardinäle oder Äbte auf Maultieren. Die Reihe der Berittenen setzte sich eben langsam talwärts in Bewegung, alsbald begannen sie zu traben, zwanzig grünweiße Fähnlein senkten sich miteins nach vorn, sie galoppierten leicht rasselnd den Damm hinunter, verteilten sich unten, schwärmten, entfalteten sich durch den ganzen Durchmesser der Arena und hielten auf einen Ruck in langer, loser Reihe. —

Georg holte den Blick von unten herauf. Jetzt — wo war Renate? — Im Grün des Waldes und der Menge sah er ein braunes, südliches Gesicht auf dem Grund eines weißen Banners von Seidendamast; vorne schritten zwei Reihen von Herolden in Weiß und Grün, an den hochaufgesetzten Trompeten viereckige Standarten von dunkelblauer Seide mit silbernen Fransen. Die Klänge prasselten lustig und leicht umher, sie schritten zu Tal. Unter den Buchenkronen war jetzt ein berittener Halbkreis sichtbar, — ah, die Geistlichkeit, Mönche, Äbte, Kardinäle, — und schon löste es sich vorn heraus, in grandiosem Pomp, Kopf und schmaler Hals eines Maultiers, vorsichtig schreitend unterm großen grünen Behang mit goldenen Wappen und Verzierungen, auf dem Rücken einen schwankenden Turm von Weiß und Gold: der Erzbischof, ein faltig rosiges, mächtiges Gesicht, Kinn und starke braune Augen unter der goldenen und weißen, mittwärts gespaltenen Mitra, den Krummstab in der Hand. Ihm folgte der Klerus, eine erlauchte Schar von hundert Berittenen, Mönche in weißen Chorhemden mit handbreiten goldenen Säumen, alles glitzerte von Gold und weißer Leinwand, da waren scharlachne Pelerinen und Hüte, Kasulen und Stolen funkelten von bunten Steinen, prachtvolles Violett loderte dazwischen, Decken von weißem Samt, von Wiesengrün, ein riesiges gelbes Banner mit schwarzen Greifen entfaltete sich, zeigte sich groß und schloß sich zufrieden, und alles umrahmten, umwallten und trugen die langen Schlangenbänder der blauweißgrünen Fahnen. Es schwankte zu Tal.

Aber jetzt ... Wo blieb denn Renate? Georg fieberte, sein Herz tobte nach ihr, wieder war da eine schwarze Mauer Geharnischter, zwanzig Rappen bewegten sich und stiegen Schritt vor Schritt bergab, — da — ach, da war sie, da hielt sie ja, ein wenig blaß, er sah es deutlich, mitten im Halbkreis ihres waldumdämmerten Hofstaats, der Ritter, Knappen, Frauen, hielt sie auf ihrem silbernen Pferd, jetzt weit umwallt von dunkelroten Mantelfalten. Der Schimmel hob den Kopf; in der Tiefe entwogte der glitzernde Haufe der Klerisei, Georg mußte den Kopf senken und seine zitternden Hände sehn, eiskalt vom Kopf zu den Füßen. Er sah auf, — das silberne Pferd bewegte sich und schritt vor, langsam, beseelt von seiner Einsamkeit und sehr stolz; es tänzelte leicht seitwärts, Georg sah Renates Körper sacht nach vorn rucken bei jedem Schritt des Pferdes, einsam lenkte sie den Berg hinunter, — aber jetzt, unten in der Ebene, war wilde Bewegung in den Kranz der Menschen gefahren, ein Brausen, erst dumpf, dann heller brandete herauf, alle Fahnen wankten, senkten sich und stiegen und stürzten wieder, Wellen um Wellen von Geglitzer, Wellen um Wellen von geschwungenen Tüchern, Hüten, Schleiern, Händen jagten sich im Ring, Musikchöre schmetterten hoch auf, unerschöpflich toste der Jubelsturm, — unendlich einsam und königlich trug das kleine, silberne Pferd seine Last, purpurumwogt, langsam, langsam — in die Ebene hinunter.

Georg fuhr mit der Hand über die Augen; sie brannten. Er glaubte nicht, was er sah, fühlte sich nun vom Getümmel des Gefolges aufgenommen und ritt, sich selber unsichtbar, umhüllt von kostbarer Dunkelheit, tief im Traum, Renate nach.

Traumspiel

Ja, nun war der Traum vollkommen.

Georg hielt zu Pferde — weshalb zu Pferde? — und wie war dies Pferd vermummt! aber es war Unkas! — in fremder, grün und weißer Tracht — warum in fremder Tracht? — inmitten einer dichten Menge von Frauen und Männern zu Pferde und in fremden Trachten, deren Gesichter, neben ihm, vor ihm und hinter ihm, fremd ihm eines wie das andre, allesamt unbeweglich gradeaus eingestellt waren. Es erinnerte seltsam an das teilnahmslose Beieinandersein der Menschen auf der vorderen Plattform eines Straßenbahnwagens. Und wie still war es? Was ging hier vor? Wozu war er, waren all diese versammelt?

Er hielt wie in einem Dickicht; es bestand, statt aus Bäumen und Gebüsch, aus verzauberten Menschen; traumhell brannte Sonnenglut herein, und alles beschattete sich gegenseitig. Er gewahrte vor sich einen kurzen, mit schwarzem Pelz verbrämten dunkelgrünen Mantel und die runde Kruppe eines glänzend schwarzen Pferdes, die Wurzel des Schweifs und die rote Schlinge, aus der er wuchs, den Schweif, — wie still er hing auf die starken Pferdehacken; darunter waren die Füße weiß, von den Hufen stand einer fest auf, etwas einwärts, der andre auf seinem vorderen Rand, und dies Bein war gewinkelt; am andern Huf glänzte noch ein Streif der schwarzen Wichse durch den Bezug von Staub. — Und nun, unten wandernd mit den Augen, sah er überall dies andre, dies untere Leben, das für sich war, ganz für sich allein und im Schatten, Pferdebeine und Hufe überall, große Decken, verändert durch das Dunkel, grün und braun und gelb leuchtete nicht mehr und Wappen und Zierate waren stumpf umdunkelt; er sah die still hängenden Falten der Schleppröcke, einen roten, einen grauen, einen violetten, sah die Linien der Pferdebäuche, Gurten, an deren Rand das eingeschnürte Fell manchmal zuckte, und die prallen, runden Leiber dehnten sich atmend, er roch das Pferd. Ein Huf bewegte sich wie ein lebendes Wesen, schlug vor, setzte sich stampfend auf im Gras, — und dort im winklig verhängten Schattendunkel von Kleidern und Decken kam eine weiße Frauenhand nach unten, tastete in grünen Falten, raffte sie, ein farblos dunkler Fuß wurde sichtbar, ein leer hängender Steigbügel, und der Fuß suchte nach dem Bügel, stieß daran, angelte, erlangte ihn, die Falten fielen, Fuß und Bügel waren völlig fort. —

Diese Stille! — Aber sprach nicht jemand, ganz allein?

Georg richtete sich in den Bügeln auf und war plötzlich ganz hoch und im Freien. Ein paar Gesichter links und rechts drehten sich, blickten nach ihm. Fern drüben, wie eine Blumenterrasse, war die Tribüne, menschenvoll, noch eine links von ihr, eine dritte rechts; tausend Farben und Gesichter glänzten in der Sonne, schräg gestreift vom Schatten der Dächer, in dem alles farbloser und dunkel war; darüber glänzten wie Silber die Dächer; schlaff hingen die Fahnentücher, unkenntlich.

Unterhalb war der grüne Rasen, ein Trupp lediger Pferde stand dort, alle Zügelriemen liefen zusammen in die Hände zweier Menschen, die rot und weiß gestreift waren von oben bis unten, sich anstießen und unterhielten. Über die fast leere, grüne Fläche schritten Geharnischte von verschiedenen Seiten heran, einer hatte den Topfhelm im Arm, etliche knieten; mit jedem zog im Grase sein kurzer Schatten und machte jede Bewegung mit, manchmal kaum zu erkennen flüchtig. Diese waren in einer unverständlichen Handlung begriffen. Einer trat vor und verbeugte sich; ganz schnell, als müßte er eher fertig sein, tat sein Schatten dasselbe.

Georg spähte verwirrt und ängstlich nach Renate, — und sieh — — ganz nahe zur Rechten, erschreckend nahe, über ein paar Reiter hinweg, sah er einen großen Thronhimmel mit plattem, viereckigem Dach und darunter, in seinem Schatten, ein sehr stilles Bild von Renate, ganz entfremdet, nur ein Bild, ihr beschattetes Profil; sie saß in einem Stuhl mit hoher Rückwand, die Unterarme flach auf den Seitenlehnen; neben ihr, etwas zurück, stand ein Riese in schwarzem Kettenhemd und dem abenteuerlichen Topfhelm mit spitzer Wölbung. Grade vor ihr, zehn Schritt in die Wiese hinein, stand ein andrer Geharnischter und schien zu reden. Jenseit gewahrte Georg den Erzbischof zu Fuß auf der Erde, eine große, weiß und goldne Puppe mit dem Krummstab vor der bunten und glitzernden Mondsichel seiner Kirchendiener.

Georg hörte auf einmal sprechen, horchte, verstand aber keine Silbe. Jählings zusammenfahrend, mit den Augen schon wieder im unteren Schatten, vernahm er Renates Stimme, so hell und klingend, daß er vor Bestürzung die Worte nicht erraffen konnte, er hastete nach und hörte ein paar zerstückte Wendungen, die wohlbekannten vom eisernen Tisch und vom Leibroß. Plötzlich brach Geschrei aus auf allen Seiten, Bewegung, alle Arme fuhren empor und winkten, Georg selber schrie und winkte mit und sagte zu sich: Ah, jetzt ist das Bündnis geschlossen. — Aber da, ganz entsetzt, mußte er denken: Nein, es ist ja genau, genau wie im Traum! wie oft habe ich mir da einen Vorgang mit solchen Worten bekräftigt, die, wenn ich mich im Wachen erinnerte, ohne Sinn und albern waren. Einmal — wie war es doch? — das große Hurra, etwas vom großen Hurra sagte jemand, und im Traum begriff ich es ...

Ich träume aber doch nicht! ermannte er sich aufgeregt. Also paß auf! Beuglenburg und Trassenberg konnten sich nicht besiegen und schlossen auf einer großen Wiese vor Altenrepen ein Bündnis. Aber die Beuglenburger verlangten, daß Heliodora einen von ihnen zum Mann wählte, denn sie fürchteten sich sonst vor ihr. Da erzählte sie von der Weissagung, ihrem Pferde, das den vom Schicksal Erlesenen finden würde, und von dem eisernen Tisch, an dem er tafele, und das bezogen sie auf ihre eisernen Schilde, gemeint war aber die Pflugschar des Bauern Gregor ... Georg setzte sein Pferd in Bewegung, da Alles umher sich bewegte; er träumte nicht, das war klar, aber diese Wirklichkeit war allzu traumhaft. Dazu ward ihm jetzt sehr müde im Kopf, er schloß die Augen, öffnete sie nach einer Weile wieder, da es bergan ging; rings war blendendes Getümmel, die blauweißgrünen Wände der Fahnen standen ihm riesig und flammend vor Augen, und plötzlich erkannte er nicht weit von sich entfernt, mitten im Gedränge, das Gesicht Ulrika Tregiornis; sie blickte vor sich hin, ganz ernst, sie sah Georg nicht, und er schrie innerlich verzweifelt: Ist es denn doch ein Traum? Auf einmal dies bekannte Gesicht unter all den fremden, und sie ist da und sieht mich doch nicht, ganz wie — wie — wer war es denn? — Renate? — Nein ... Dora! Dora Vehm ...

Plötzlich, wie ein Gewölk, riß das Gewimmel in bunte Fetzen auseinander und zerstreute sich. Georg hielt auf der Plattform der Dammhöhe nahe dem Walde, ein Geharnischter näherte sich zu Pferd und schien etwas sagen zu wollen, aber, Georg erkennend, wurde sein Gesicht ehrerbietig, er kehrte um. — Der Raum ward leer, mitten darin, einsam, hielt Renate.

Sie war ja todbleich! sah starr gradeaus. Georg sprang ab, eilte auf sie zu, dabei immer müder von Sekunde zu Sekunde, stand unter ihr, streckte die Hand empor. Da schien sie ihn zu sehn, sie wandte das Gesicht herab, unendlich fremd und hoffärtig, — aber langsam kehrte Blick und Erkennen zurück, die Starre schmolz, doch waren die Züge noch ohne Bewegung, als sie das rechte Knie über das Horn weg hob und zur Erde glitt, ohne Georg anzurühren.

Einen Augenblick stand sie geschlossenen Auges, gegen das Pferd gelehnt, wankte dann und fiel gegen Georg. Er glaubte, vor Müde und Seligkeit umzusinken, hielt ihren weichen, seltsam sich lösenden Körper, sah die rotbekleideten Schultern, dicht unter sich die großen Perlen des Haarnetzes, das seltene Braun des Haars, atmete seinen Duft und merkte, daß sie weinte. Ihre Schultern zuckten, sie schluchzte mehrere Male heftig auf, den Kopf auf seiner Schulter, hob ihn dann, öffnete die verschleierten Augen, aber da standen sie mit einem Schrecken starr, über Georgs Schulter hinweg gerichtet.

„Was ist denn?“ flüsterte er, sah sich um und starrte schaudernd: da, neben einem weißgolden flimmernden Mönchshaufen, stand einer der schwarzen Gugelmänner aus seinem Traum. — Ach, Unfug! schnob er innerlich, das ist ja Zuf— und sah im selben Augenblick, daß Renates Schrecken in ein süßes Lächeln schmolz.

„Es ist ja ...“ murmelte sie, denn der Schwarze erhob eben die flache Hand und winkte.

„Wer?“ fragte Georg; er hatte nicht verstanden.

„Saint-Georges“, wiederholte Renate, völlig wach. „Ach, bitte, Georg — — ja, wie stehn wir denn da?“ fragte sie erstaunt und trat ohne weiteres Befremden zurück. „Bitte,“ fuhr sie fort, „gehen Sie hin und sagen Sie ihm, er möchte — ja, er möchte nachher vor dem Ankleidezelt im Burghof auf mich warten.“

Ja, was ist denn nun? dachte Georg. Er schwankte vor Müdigkeit, suchte unwillkürlich nach einem Halt und sah den guten, ruhigen Unkas dastehn, gesenkten Halses, mit geraffter Oberlippe im kurzen Gras rupfend. Er ging zu ihm hin, nahm ihn bei der Trense und schritt, doch wieder schaudernd, auf den unbeweglich dastehenden Gugelmann zu.

„Fräulein von Montfort läßt Sie bitten,“ sagte er, „nachher am Ankleidezelt zu sein, im Burghof.“

Der Schwarze neigte nur den vermummten Kopf und fuhr fort, durch die Augenschlitze gradaus zu spähn, — denn so schien es. Todmüde wandte Georg sich um und sah Ulrika und Renate zusammenstehn, Renate auf den Gugelmann blickend, wie er auf sie. Er zog Unkas hinter sich her, waldeinwärts, stolpernd mit halbgeschlossenen Augen, und dachte noch schlaftrunken: So führt ein Blinder den andern. — Dann zog sich alles in flimmernde, farbige Kreise auseinander, und mehr wußte er nicht.

Drittes Kapitel

Theater

Renate, ohne den Blick von Saint-Georges zu wenden, tastete nach Ulrikas Hand und faßte sie. „Was war dir denn?“ hörte sie Ulrika fragen, „du weintest.“ Jetzt entfernte der Gugelmann sich mit einem Winken, sie wandte sich zu Ulrika, sah erfreut das zarte und ernste Gesicht, ein wenig entfremdet von der großen, dunkelroten Krone von Haar, die mit grünen Bändern durchflochten einem maurischen Turban ähnlich war, und sammelte ihre Gedanken. „Laß dich anschaun,“ sagte sie, „wie köstlich du aussiehst!“

Ulrika ließ sich mit ein wenig ironischer Miene betrachten und befühlen in ihrem großen, grünen Mantel, dessen weißseiden gefütterte Falten sie im linken Arm trug, die goldene engärmlige Tunika darunter, und den weiten, mattlila Kleidrock. „War es denn nicht schön?“ fragte sie, wieder besorgten Gesichts, „ich meine, — weil du weintest ...“

„Habe ich geweint?“ fragte Renate erstaunt. „Richtig, Georg war ja da, — wo ist er denn geblieben? — Ja, es war schön, aber — es war schauerlich — oh!“ sie zog die Schultern zusammen. „Ich bin völlig zu Eis geworden, weißt du.“ Sie lachte. „Nun, und das hat halt schmelzen müssen. Du weißt doch, Herz, man weint nie, wenn etwas grausig ist oder so, sondern wenn man sich nicht anders zu helfen weiß.“

Wieder schaudernd blickte sie in die letzte Stunde zurück, fand jedoch wenig und sah nun nahe vor sich den Schimmel, dem eben Decken und Sattel abgenommen wurden, auch das Kopfzeug.

„Mein Gott, sieh doch nur, wie schön sie ist!“ rief Ulrika entzückt, als die Stute nackend dastand in der Herrlichkeit ihrer edlen Glieder, gedrungen, doch nicht plump, zierlich die Hufe voreinander wie eine Tänzerin, breit von Brust, dicken, kurzen, zum kleinen Kopf stark verjüngten Halses, mit dem starken Wirbelhaar über der Stirn, schnobernd mit den Nüstern, daß leises Wiehern quoll.

„Ja, du bist sicherlich grad so erleichtert wie ich, aus deinen warmen Decken“, sagte Renate, zu ihr gehend, um ihr den Hals zu liebkosen. „Ohne Furcht und Tadel bist du wie ich,“ murmelte sie dabei, „was wird aus uns werden?“

Die Stallknechte und ein Geharnischter, der Spielleiter, kamen, legten der Stute eine Trense in weißem Halfter an, in deren Ringen dünne und viele Ellen lange, rote Lederriemen befestigt waren; zwei Edelleute auf schönen, goldroten Pferden lenkten heran und ergriffen die Riemenenden.

„Bitte, wollen Sie nun —“ hörte Renate den Schauspieler sagen. Sie griff in den Halfter und führte die Stute einige Schritte gegen den leeren Damm vor, besann sich vergeblich auf ihre Verse und bat endlich unsicher: „Ja, nun mußt du laufen!“

Sie trat seitwärts. Einer der Reiter schnalzte mit der Zunge, hinten knallte eine Peitsche. Die Stute fuhr zusammen, trat drei Schritte vor, blickte sich erschreckt und verwundert mit klugen Augen um, wieder knallte die Peitsche, da sprang sie heftig an, trabte ein Stück, setzte sich in Galopp, die Reiter folgten, und plötzlich schnellte sie ab, flog, ein weißer Pfeil, der Tiefe zu, die Reiter jagten bergunter nach, aber schon schienen die Riemen sich erstaunlich zu verlängern, und schon, gedankenschnell, war der weiße Ball durch die leere Hälfte der Arena geschnellt, auf die vielen weißen Zelthüte der Beuglenburgischen Ritterschaft zu, und, wie ein Blitz wegzuckend, war sie die breite Gasse hinab und draußen im Dunste der Ebenen verschwunden. Nachhetzend, weit zurück, leuchteten noch eine Weile die roten Pferde und schwanden. —

Im Kreis der Zuschauer hinter Renate gab es Gelächter. Sie wandte sich zu Ulrika, die lachend meinte, sie sei neugierig, ob der gute Schimmel richtig von selber zum Bauern Gregor hinlaufe, der draußen im Felde warte. Renate legte den Arm um ihre Schulter und sah wieder weiße Wolkenballen, wie Stiere scheinend, über den fernen Erdrand heraufklimmen.

„Es fing an, weißt du, als ich hier den Damm hinunter reiten mußte,“ sagte sie tief in Gedanken, „oder vielmehr —, da hörte etwas auf. Kannst du dir diese Vereinsamung vorstellen, mit der ich da plötzlich der riesigen Tiefe und den zehntausend Augen ausgesetzt war? Ich weiß nur noch, daß ich furchtbar fror, meine Augen wurden unermeßlich weit, aber ich sah trotzdem nichts als den Himmel und diese gewaltigen, weißen Wolken, und wie stürmten sie gegen mich herauf! Wie Stiere sahen sie aus. Wie aber dann der Jubel ausbrach — —, sehen konnten sie, wenigstens mein Gesicht, ja noch kaum, aber es galt doch mir, und das gab einen Sturm, der mich leer ausfegte und mit Eis, — ja mit Eis anfüllte. Ich mußte mich zusammenraffen — furchtbar!“ Sie lächelte und fuhr eifrig fort. „Da konnt ich denn freilich merken, — das heißt, weißt du, ich merke es erst jetzt, — wie wenig ich in Wirklichkeit allein gewesen bin, denn es sind doch immer Gedanken dagewesen, Erinnerungen und immer doch auch die Nähe vertrauter Menschen. Psyche auf dem Wege zum Hades, weißt du, der muß so ums Herz gewesen sein. Und erst unten, weißt du, — ja, was lachst du denn?“

„Ich lache, weißt du,“ sagte Ulrika, „weil du, weißt du, immer weißt du sagst!“

„Sage ich das? Ja, weißt — nein wirklich! — aber da kannst du sehn, wie ich durcheinander geraten bin. Nein, der Jubel unten, sie rasten, und nun wußte ich doch auch, daß sie mich wirklich sahen —“

„Ha,“ unterbrach Ulrika ihren Wortschwall, „das hast du doch gemerkt!“

„Ich habe es gefühlt, du Närrchen,“ sagte Renate lachend, „aber ich weiß es erst jetzt!“

„Ist das ein Unterschied bei dir?“ fragte Ulrika verwundert. Renate sah sie an. „Ja, bei dir etwa nicht?“

Ulrika schien innerlich zu kämpfen. „Du magst recht haben,“ gestand sie endlich, „aber — wenn es so ist — dann —“

„Ist es unsre ganze Macht“, funkelte Renate. „Nein, weißt du, sie rissen mich in Stücke mit ihrem Lärm.“

„Und das war das Grausige?“

Renate blickte versonnen vor sich hin, lächelte, hob die Achseln. „Das Schöne“, sagte sie leise. „Es war nur noch Brausen, ich war wie — weit fort, und doch war ich es, die groß umherging und galt. Es war gut, das einmal erlebt zu haben, — ein zweites Mal ...“ Sie schauerte.

„Und den Festzug hast du noch vor dir“, neckte Ulrika.

Renaten zog ein schönes Wort durch den Sinn:

Verschmolzen mit der tausendköpfigen Menge,

Die schön wird, wenn das Wunder sie ergreift ...

Tiefer schauernd, schloß sie die Augen. War sie verschmolzen gewesen? — Nein, und — nein, das verschmolzen bezog der Dichter ja nicht auf den Dargestellten, sondern auf einen der Gläubigen in der Menge, wenn sie sich recht erinnerte. Die Menge aber, war sie wirklich schön geworden? Im Herzen vielleicht, die Hände lärmten sehr. Aber das war nun so ihre Art ... Die Augen öffnend, rief sie: „Sieh nur, was kommt da?“

Durch die Gasse der weißen Zeltestadt und die Gruppen der dunklen und blitzenden Harnischleute kam von jenseit ein großes, braunrotes Pferd dahergebraust; sein Reiter schien sehr klein, — ah, es war der Botschafterjunge! In der einen Hand schwang er etwas Gelbrotes wie eine Fahne. Nun stürmte er über die Wiese heran, der Gaul bockte am Damm, kam aber dann in großen, heftigen Galoppsprüngen herauf, der Knabe, nacktbeinig in kurzer schwarzer Hose und weißem Hemd, schwenkte ein mächtiges Bündel bäurischer, gelber und roter Stockrosen, — jedoch in der Tiefe ward jetzt wieder das weiße Pferd sichtbar, das unter einem Reiter leicht zwischen den Zelten zurückgaloppierte; dahinter die Füchse der Edelleute. — Jetzt war der Knabe heran, warf sich noch im vollen Ansprung von seinem braunen Elefanten, stolperte, fiel aber geschickt und anmutig auf seine Knie vor Renate, die Arme ausbreitend, den Kopf im Nacken, offnen Mundes minutenlang nur keuchend, flammenrot im Gesicht, das mager war mit großen, braunen Augen voll Entzücken. Endlich konnte er mit heller Stimme rufen: „Sie kommen! Der König kommt! Es lebe Heliodora!“

„Herzog muß es heißen,“ flüsterte Renate lachend, über sein beflammtes Gesicht huschte leichter Schreck, dann lächelte er und fuhr richtig fort:

„Am eisernen Tische fand dein weißes Roß

Den Auserwählten, doch es war kein Schild;

Des Bauern Pflugschar wars, von der er schmauste

Sein karges Brot!“

Renate, hinter sich das erstaunte Bühnengemurmel ihres Hofes, sagte: „Da, komm, mein braver Junge!“ und, den süßen Botenlohn ihrer Jamben verschluckend, hob sie den Jungen kräftig von der Erde auf, drückte ihn — er war klein wie ein zehnjähriger — an die Brust und küßte ihn fest auf den Mund. Der Junge schloß die Augen, hing einen Augenblick still, riß sich erschrocken los, machte eine Bewegung mit dem freien Arm, als ob er sich den Mund wischen wollte, schüttelte sich plötzlich und sprang, sich umwirbelnd, davon. Renate lachte ihm mit der Umgebung fröhlich nach.

Nun waren auch Schimmel und Reiter nahe heraufgesprengt, der Schauspieler im weißen Bauernhemd und blauen, riemenumwundenen Strümpfen, nicht ungeschickt auf dem ungesattelten Pferd, hielt, sah sich staunend um. — Theater, dachte Renate, ist doch was Sonderbares! — Das bartlose, ungeschminkte Gesicht erinnerte weitläufig an Georg, aber die tönende Stimme, mit der er nun sein: „Wo bin ich? Welch ein Traum umfängt mich denn?“ hervorsang, enttäuschte Renate. Sie erklärte mit natürlichem Hochmut:

„Heliodora siehst du, Herzogin von Trassenberg. Und wie es scheint, sollst du mein Gatte sein!“

Über ihre eigne Nichtachtung lächelnd, froh, daß eine Schauspielerin im nächsten Akt Heliodoras Zähmung darzustellen habe, fuhr sie fort: woher er komme, wer er sei. — Gregor, der erstaunte Bauer, sprang nun vom Pferde, es wurde fortgeführt, er sank aufs Knie, flüsterte: „Sakrament, Sakrament, Fräulein, wie schön sind Sie!“ und ließ die Jamben des Stadtpoeten rollen:

„Wie leicht ist Fragen, — Antwort, ach, wie schwer!

Du fragst: Wer bist du? Frage, wer ich war!

Kaum weiß ich dies; verzaubert bin ich wohl,

Ein Roß, ein holdes Weib ...“

Renate überhörte den folgenden Schwall, nahm beim Nahen ihres Stichwortes den Mantel von der Achsel, schleuderte ihn über eine Schulter des Knieenden, indem sie dachte: Handeln ist besser als Reden! und herrschte ihn kühl an:

„Ich erkenne — Den Spruch des Schicksals an. Da ist mein Mantel. — Zeichen der Würde, weiter nichts. Ich selbst — Bleibe mein eigen, hörst du wohl —“ Sie endete, plötzlich selbst erregt: „Mein eigen!“

Das Übrige ging sie nichts mehr an, sie drehte sich um, sah Ulrika dastehn, trat zu ihr und sagte, den Arm um ihre Schulter legend, lächelnd: „Das Stück ist aus, — nun wollen wir zu Georges, der Bauer machte Augen wie ein Dorsch!“ worauf sie, zierlich und hochmütig angelehnt, wie es die Rolle wollte, mit ihr durch die Gasse ihres Hofstaats in den Wald hineinging.

„Verstehst du denn die Menschen?“ fragte sie, stehen bleibend, und drückte die Handflächen lachend gegen die Wangen. „Du weißt doch, was für einen Kampf es gegeben hat, bis die Schauspielerin zugab, daß ich ihr diese paar Worte raubte, weil Georg darauf brannte, mich den Ritt aufführen zu sehn, — ja, wo ist er denn nur geblieben?“

Ulrika bückte sich zu einem Grashalm am bemoosten Wegrand, riß ihn aus und sagte nachdenklich im Weitergehn:

„Ich verstehe sie, ja. Wenn ich gespielt habe, wenn ich fertig bin und die Leute klatschen, und ich gehe hinaus und komme wieder, sooft man mich hineinschiebt, — das ist — Lärm, davon verstehe ich nichts. Aber vorher — — die Erwartung, und das Gefühl: zu können, Macht zu haben, und — das Zurechtrücken im Stuhl, und das Präludieren ... ja, es ist sonderbar und ist doch so: besser spiele ich wohl nicht, als wenn ich mit dir oder sonst jemand im Zimmer allein bin, — aber anders spiele ich, ganz anders, und sie Alle spielen mit ...“

Renate vergaß, etwas zu antworten, denn sie waren im Burghof; die beiden Ankleidezelte waren da, aus dem einen spähte eine Frau mit nackten Armen, eine andre ging hinein, Saint-Georges war nicht zu sehn.

„Eins,“ hörte sie Ulrika sagen, „du hast es leider nicht gesehn, das war köstlich. Der Junge, den du geküßt hast, — ich sah ihn nachher unter dem Gedränge stehn, versteckt, nur den Kopf streckte er nach dir hin, und auf einmal zog er ihn zurück, sah seine Hand an, und dann legte er sie auf den Mund, — so —“ Ulrika machte es vor, den Kopf in den Nacken legend, als schütte sie Beeren in den Mund. — „Danach nahm er die Hand wieder fort, schaute hinein, als ob es nun darin wäre, deckte die Hand drüber, ganz vorsichtig, und schlich sacht damit fort.“

Renate begriff noch nicht recht. „Ach, er konnte meinen Kuß nicht im Mund behalten?“ sagte sie lachend. „Ja, wie alt war der Junge denn?“

„Dreizehn,“ versetzte Ulrika, „er sieht viel jünger aus, weil er so klein ist. Bogner hat ihm die Rolle gegeben, er ist sein kleiner Schüler, und Bogner sagt, er könnte jetzt schon mehr als er.“

„Ja, so ist Bogner“, lachte Renate, den Vorhang hebend.

Zelt

Stühle und Tische im Zelt waren mit den Teilen des zweiten Kleides bedeckt, die Zofe drängte, Renate ließ sich entkleiden, setzte sich in Unterrock und Leibchen vor den Spiegeltisch und sah über sich Ulrikas Gesicht im Glas, etwas schief, aber auch, wie es schien, sehr ernst, während ihre Hände das Perlennetz behutsam aus dem Haar lösten.

„Du siehst so dunkel aus“, sagte Renate in den Spiegel. Ulrika antwortete nicht. Erst nach einer Weile, als die Zofe sich entfernt von ihnen beschäftigte, sagte sie halblaut: „Mio marito e ritornato.

„So ...“ Ihr Mann war wiedergekommen ... Renate mochte nicht gern vor einer Dienerin in fremder Sprache reden und fragte erst nach einer Weile: „Anderthalb Jahr war er fort?“

Ulrika antwortete, er sei vor ein paar Tagen gekommen, sei nun in Wilhelmshaven stationiert, komme aber alsbald zum Admiralstab nach Berlin ... Weiter ließ sich zur Zeit wohl nichts sagen.

Nun war auch das Haar zu kämmen und zu bürsten, die Zöpfe mit Perlen und Goldbändern neu zu flechten, dann der grade Kronenring auf dem Kopf mit weißem Flor unter dem Kinn zu befestigen. — Renate stand auf.

Die Zofe kam, auf den Armen den mächtigen Bausch des dunkelvioletten Kleidrocks. Renate, vor Ulrika stehend, fragte leise: „Was soll denn nun werden?“

Sie schüttelte traurig lächelnd den Kopf, faßte in die Falten des Kleides und zog sie nach unten, während die Zofe sie oben über Renates Kopf und Schultern auf die Hüften senkte. Dann fuhr sie in die schilfgrüne, engärmelige Tunika mit goldenen Säumen und Stickerei; Ulrika brachte einen Gürtel aus schwarzen und goldenen Quadraten.

„Den kenne ich ja gar nicht“, sagte Renate verwundert und betrachtete voll Freude die Bildnerei in den Goldvierecken, die Tiere der Wendekreise und Figuren aus den Sternen. „Seine Durchlaucht“, gestand die Zofe lächelnd, „haben ihn mir heute morgen gegeben.“ Ulrika sagte nur: „Ha!“ während Renate errötete und sich freute. Das war schön, das war ein schöner Gedanke, sie heute zu gürten. Sie hakte den Gürtel wortlos über den Lenden zusammen, sah das freibleibende Ende mit einer großen goldenen Scheibe daran zwischen den Knien niederfallen, dann stand die Zofe da mit den schneeweißgefütterten, goldenen Überärmeln, riesengroßen Tüten, deren Zipfel, als sie übergezogen waren, bis auf die Füße hinunterhingen.

„Bin ich schön?“ fragte sie, sich vorm Spiegel drehend und zurücktretend, die händefaltende Ulrika, „ach, es ist eine Lust heute, schön zu sein! Den Mantel nachher,“ sagte sie und mußte plötzlich zum Türvorhang eilen, im Gefühl, jemand stehe draußen. Die Falte hebend, sah sie wirklich den Gugelmann, streckte freudig die Hand nach ihm, erfaßte die seine und sagte leise: „Komm herein, Georges, ich bin so froh, daß du —“

Die Gugelkappe bewegte sich langsam, verneinend, hin und her. „Wir befinden uns in einem Irrtum“, sagte eine nicht völlig unbekannte Stimme; er lüpfte die Kappe über der Achsel; im Dunkel, dort wo das Gesicht war, wurde etwas häßliches Rotes sichtbar.

„Josef!“ stieß sie halblaut hervor, erschreckt. Er ließ die Kappe wieder fallen und nickte. Sie sah jetzt durch die Schlitze dunkel den Schein seiner Augen, dazu auch seine Größe, da er Georges doch um einen Kopf überragte. Sie ließ seine Hand fallen.

„Komm herein“, sagte sie und trat zurück. Er folgte.

Für Minuten verwirrt, nach zwei Seiten gerissen von wünschenden, hoffenden, begierigen Gedanken, rauschte Renate in den großen Raum hinein, bemerkte einen Karton, an dem die Jungfer packte, und bat sie, einen Augenblick ins Freie zu gehn. Rauschte wieder zurück, sah den schwarzen Josef still an der Tür stehn, drehte sich um, stand und sagte kurz zu Ulrika hinüber: „Es ist mein Vetter Josef.“

Ulrika grüßte freundlich und murmelte etwas. — Renate vergrub die Unterarme in die Ärmelfalten, dachte schwirrend deutlicher an den Herzog, an ihren Onkel, warf den Kopf in den Nacken und sagte: „Ich habe damals nicht gewollt, daß du meinetwegen zum Vater gingest. Sagtest du nicht, daß du gehen würdest?“ Die schwarze Kappenspitze bewegte sich bejahend. „Heute muß ich wünschen, daß du um meinetwillen gehst, meine Gedanken verkehren sich, ich weiß nicht mehr, was Recht und was Unrecht ist.“

„Wie unverständlich“, hörte sie Josef sagen. „Wenn du dir von meinem Kommen etwas versprichst für deinen Onkel, so dürfte es wohl gleich sein, aus welchem Grunde ich komme.“

„Ich wußte es längst,“ murmelte Renate unwillig, „ich fühlte es.“

„Wir sind es immer,“ hörte sie Josefs kühle Stimme sagen, „die alle fremde Angelegenheit durch unsre eigenen entstellen. Immer müßt ihr selber zwischen euch stehn und den Dingen.“

„Du sprichst gegen dich selbst, Josef?“

„Ich sehe, was kommt,“ versetzte er ruhig, „und außerdem äußere ich eine Meinung, weiter nichts. Wenn jemand imstande ist, von sich selber abzusehn, so bin ich derjenige, — du weißt.“

Renate mußte da lächeln, heftete die Augen fest auf ihn und sagte: „Seit heute morgen bin ich die Verlobte des Herzogs.“ Ihre Augen glitten zu Ulrika, die überrascht und heiter den Kopf zurückbewegte. Josef regte sich nicht; aber es verging eine halbe Minute, bis Renate etwas vernahm, das halb ein Pfeifen war, halb ein Seufzer, schwer, und doch wieder — erleichtert. Dann hörte sie ihn sagen:

„Ich gratuliere. Ziemlicheres ließ sich kaum erdenken. — Er ist ein Mann,“ setzte er großmütig hinzu, kam zu Renate, sie ließ ihm die rechte Hand, er ergriff und küßte sie. Auch Ulrika kam und umarmte sie schweigend und mit Innigkeit.

„Du kommst also mit mir, Josef? Ich verlasse das Haus nicht, eh dein Vater dich gesehn hat.“ Er neigte den Kopf.

„Dann fort!“ rief Renate, „auf dem Festwagen wird Platz für dich sein.“ Sie lief zur Tür, winkte der Zofe, die herlaufend rief, Herr Bogner ließe sagen, das Automobil stünde am andern Ende der Burg. — Sie verließen das Zelt.

Im Wagen

Durch den Burghof, am Fuße der Mauern hin, gelangten sie zur Fahrstraße; dort, in der Nähe des schwarzen Wagens, saß auf einem Baumstumpf der rotbeinige Maler; sein kleiner Schüler lehnte ihm am Knie und zeichnete auf einem Block. Nun blickten Beide auf, der Junge sprang zur Seite und errötete tief, vielleicht weil er seine linke Hand mit dem Taschentuch verbunden hatte, und da Renate ihn sacht herbeiwinkte, kam er trotzig hergeschlendert, die Hände mit seinem Zeichenblock auf dem Rücken und mit der Miene eines jungen Hundes: es paßt mir gerade diesen Weg zu gehn ... Renate fragte leise, sich zu ihm bückend: „Was hast du mit deiner Hand gemacht?“

„Mich gerissen,“ log er finster und flammenrot im Gesicht.

„Laß mal sehn“, lockte sie, aber er schüttelte nur abweisend den Kopf. Da ehrte sie seinen männlichen Ernst und stieg in den Wagen, Ulrika zu sich nehmend. Die Zofe nahm mit ihrem Pappkarton den Platz neben dem Fahrer, auch der Junge kletterte zu ihr. Bogner und Josef standen noch, miteinander sprechend, zusammen, es schien, sie hatten sich schon begrüßt, — kletterten dann auf die hochgeklappten Vordersitze nebeneinander, so daß Renate Bogners Rücken und Hinterkopf vor sich hatte, Ulrika Josefs Gugelkappe. Sie rollten ab.

„Welch ein schöner, keuscher Junge, Bogner,“ sagte Renate nach einer Weile, „keusche Männer sind so selten.“

Bogner, sein Profil herwendend, fragte spät: „Warum keusch?“

Renate fand nicht gleich eine Antwort, und Josef, sich herumsetzend, sagte hurtig: „Keusche Männer sind etwas Unleidliches. Ich sage nichts gegen deinen Knaben Tobias, der ja kein Mann ist.“

„Heißt er Tobias?“

„Er heißt nicht so, wird aber so genannt, weil er ein Hündlein hat und einen Engel in Bogner.“

„Und keusch ist wie Tobias,“ lachte Renate, von dem Gleichnis erfreut, „oder betete Tobias nicht drei Nächte mit seinem Weibe Sarah, ehe er sie nahm?“

„Sarah, siehst du,“ erwiderte Josef, „war keusch; sieben Männer mußten Todes sterben und durften nicht an sie heran, dann kam der rechte, und ‚Azaria, mein Bruder‘ trieb den Teufel der Unkeuschheit aus.“

„Was ist denn unkeusch, Josef, bitte, ich habe dich so lange nicht plätschern gehört!“

„Vielleicht stehts im Tobias, Renate, du wirsts wissen.“

Renate, alle väterliche Bibelkenntnis zusammenraffend, suchte und fand: „Höre zu, ich will dir sagen, über welche der Teufel Gewalt hat. Nämlich über diejenigen, welche Gott verachten und allein um der Unzucht willen Weiber nehmen, wie das dumme Vieh.“

„Oh, verblüffend!“ staunte Josef, „wie das dumme Vieh!“ und Renate erkannte mit heller Freude trotz der Maske seine Lieblingsbewegung, da er über dem schwarzen Zeug mit der flachen Hand nach unten strich, und sie sah sein Gesicht darunter, ganz und heil wie je, hochgezogne Brauen, hängende Mundwinkel und trüb lächelnde Augen, während sie, Hoffnung und Zuversicht im Herzen, eifrig und skandierend fortfuhr:

„Wenn aber die dritte Nacht vorüber ist, Josef, so sollst du dich zur Jungfrau zutun mit Gottesfurcht, Bogner, mehr aus Begierde der Frucht, denn aus böser Lust, Josef, daß du und deine Kinder den Segen erlangen, der dem Samen Abrahams zugesagt ist, Bogner, — ach Gott, jeden und jeden Sonntag nachmittag habe ich Papa das predigen hören in seinem Zimmer, und dann kamen sie mit gesenkten Ohren heraus wie die Pudel, aber Papas Traugelder erhöhten sich in keinem Jahr, in keinem, und als ich geboren wurde, da sollen die Ammen das Haus gestürmt haben, Ulrika!“

Ulrika sah geistesabwesend auf und lachte gezwungen. — Mio marito ... klang es Renate im Ohr, sie konnte aber ihr Lachen nicht gleich zerdrücken, sah sich vielmehr genötigt, es zu erneuern, da sie Josef sagen hörte: „Caramba, Kusine, was bist du doch unkeusch!“

„Rede weiter, Josef“, befahl sie, ihn anblitzend.

„Jedermann,“ sagte Josef, „der handelt, ist gut, also Mönche, Asketen, Einsiedler. Eine Frau kann keusch sein, nicht bloß so in der eben beliebten Art: die keusche Dirne, — denn wer, Bogner, hätte sich nicht eine letzte Zelle im Gemüt reinlich erhalten? — sondern durchaus bis zu einem schönen Grade von Prüderie, nämlich: in ihrer Haltung, in ihrer Geste, in dem, was sie angreift, tut und läßt, nicht in den Büchern, die sie liest, sondern in der Art, wie sie darin liest. Was aber Keuschheit beim Weibe ist, das ist Selbstzucht beim Mann. Unterhält es Sie, Frau Tregiorni? Vielleicht wundert es Sie, daß ich mein Gesicht verhülle? Glauben Sie mir, es würde Ihnen keine Freude machen, es zu sehn. In einem Lande —“

Ja, wie er nun plätschert, dachte Renate und glaubte fast schon zu sehn, wie das weiche, leichte Geriesel die Starre seines Vaters auflöste.

„In einem Lande, wo die Gesichter weniger kostbar sind als Spiegelglas, hielt jemand es für eine Fensterscheibe, so ging es in Scherben. Erinnerst du dich übrigens an Dorian Grays Bildnis, Renate? Sein Gesicht blieb das gleiche an die dreißig Jahr, derweil seine Seele sich schandbar verwandelte. Nun sehen Sie, Frau Tregiorni, mit mir verhält es sich genau umgekehrt, obgleich ich dir damals weissagte, ich würde an Antlitz und Seele gleicherweis —“

„Du schweifst ab, Vetter!“ unterbrach ihn Renate. Sie fühlte wieder die alte, stolze Dankbarkeit für die Leichte, mit der er all und jedes, nicht zum wenigsten sich selber, aufnahm und zur Schau trug, Haltung und Gebärden wie eines Tierbändigers, der einen funkelnden Jaguar auf der Achsel um die Arena trägt.

„Keuschheit“, erklärte Josef, „hat mit der Selbstzucht wie mit allen übrigen Tugenden das gemein, daß sie allesamt aufhören, Tugenden zu sein, sobald sie von sich wissen. Ach, zum Schriftsteller bald wird der einst so poetische Jüngling! Wird der Knabe zum Mann, wird er wissend, wird er klug. Eine Frau braucht nicht zu wissen —“ Ulrikas Züge spannten sich aufhorchend —, „sie verfügt über die verblüffende Gabe der Willkür, diese Gabe — — es giebt ein Augenleiden, das besteht in sogenannten Ausfällen im Gesichtsfeld, das heißt in einer Lückenblindheit für eben die Stelle, die das Auge fassen will — und solche Ausfälle hat sie dann in ihrem seelischen Gesichtsfeld. Der Schmutz ist da, hell in der Sonne, aber sie sieht ihn nicht, sie sieht ihn wahrhaftig nicht, sie übersieht, was ihr mißfällt, überdenkt oder überfühlt, was ihr Empfinden verletzen müßte. Es ist nicht keusch, von Mutterschaft, Zeugung oder Liebeskrankheit nichts zu wissen, sondern es ist keusch, dergleichen auf keusche Weise zu wissen, ebenso wie es nämlich nicht genial ist, anders zu sein, zu handeln als die Andern, sondern: was jeder sein könnte, auf geniale Weise zu sein, das ist genial, — glauben Sie mir, Bogner, wenn Sie ein Genie genannt zu werden verdienen, so geschieht das aus keinem andern Grunde, als weil Sie eins sind,“ Nun spricht er genau wie Georges, dachte Renate wehmütig, wo bleibt er nur den ganzen Tag? —

Josef hatte Atem geschöpft und spielte leicht und rauschend weiter:

„Nicht anders verhält es sich mit der Selbstzucht. Die Frau kann Gefahren vermeiden. Da sie nicht zu lernen braucht, sondern alles eingeboren auf die Welt bringt wie ein Tier, so weiß sie, gesetzt sie ist grade beschaffen, in jedem Notfall das Richtige und Heilsame zu treffen; sie tut es blindlings, sie verjagt als Henne blind den Sperber, sie gebiert blindlings ein Kind ums andre und kennt keine Furcht und keinen Schmerz, weil eins not ist! Der Mann muß all und jedes ganz von vorne lernen, und er kennt keinen Lehrmeister als die eigne Erfahrung. Darum sucht er die Gefahr, bildet sich an der Gefahr, nährt sich mit ihr. Er will wissen, er soll wissen, er hat sich nirgend zu verschließen, denn er soll zeugen. Wer zeugen soll, muß wählen, wer wählen soll, muß forschen, erkennen, wissen. Die Frau kann sich rein halten, der Mann kann das nicht, aber er kann sich reinigen. Die stärksten Seelen gehn am längsten fehl, las ich bei einem Dichter. Es kommt nicht darauf an, sich nicht zu verlieren; sich immer wieder zu gewinnen, darauf kommt es an. Und darauf freilich, gute Renate, daß es ein Gewinn wirklich sei, nämlich ein Mehr, nicht bloß ein Ebensoviel. Ich zum Beispiel verlor ein halbes Gesicht und verdoppelte die Spannkraft meiner Seele. Aber auch die verbliebene Hälfte meines Hauptes, sei überzeugt, werde ich nicht verloren geben, und hier endet unser Gespräch.“ Der Wagen hielt.

Festzug

Renate, an Bogners Hand nach rechts aus dem Wagen auf die leere und sonnige Landstraße kletternd — sie seien dicht vor der Stadt, erklärte Bogner —, fand sich nahe gegenüber einer haushoch scheinenden goldenen Wand, die fast die Breite der Straße ausfüllte und über und über mit einer leuchtenden Malerei von altertümlichen Figuren bedeckt war. Indem kam um die Ecke, staunend nach oben verdrehten Kopfes, der eine himbeerfarbene Kugel war, der Erzbischof, unterm Arm die gespaltene Mitra, ein golden und weißes Faß auf Füßen, warf gegen Renate einen verwirrten Blick, fuhr sich mit dem Taschentuch über den blanken Schädel und fuhr fort, zu schauen und zu staunen. Die Wand war in hohe und schmale gotische Flachnischen geteilt, drei oben und sechs darunter; die Umrahmungen waren von Gold, golden auch der Grund des Inneren, das die gemalten Figuren füllten. Bogner hinter ihr sagte, es sei die Rückwand des Festwagens. Die Gestalten — Heilige schienen es in reichen Trachten — waren so schön gemalt, daß sie nach dem Künstler fragte. Statt Bogners antwortete nun Josefs Stimme hinter ihr, Bogner habe sie entworfen, und Tobias und sein Hündlein hätten sie gemalt. Ja, da stand Tobias, blaß und mit ängstlich gerunzelten Brauen. Renate nahm ihn beim Kopf, lobte ihn sehr und sagte, nun müßte er ihr die Bilder auch erklären.

Es wären die neun Monate, fing der Junge an.

„Neun, Tobias, seit wann haben wir neun?“

Tobias sah verlegen zu Josef auf. „Weil es“, hörte Renate seine Stimme hinter der Maske, „nur neun giebt, mein Knabe. Ihr könnt das erstens daran erkennen, daß der Mensch sich neun Monate im Mutterleib aufhält und nicht zwölf, seine Natur müßte sich also an eine ganz neue Rechnung gewöhnen. Ihr wißt aber, daß es die Eigenschaft der Natur ist, sich an nichts und niemals zu gewöhnen. Du kannst aber auch anders rechnen, mein Junge, indem du dir sagst, daß von unsern zwölf Monaten drei keine Gezeiten sind, sondern nur Zeit, nämlich Dezember, Januar und Februar, wo die Erde schläft oder sich erholt. Im ersten Falle müßtest du jedem unsrer Monate vier Drittel seiner jetzigen Tageszahl zuteilen, und wenn du dann das Ganze durch Drei teilest, so bekämest du drei schöne Jahresstücke, die ungefähr unserm März bis Juni, Juli bis Oktober und November bis Februar entsprechen würden, mit Werdezeit, Reifezeit und Sterbezeit. Deinen Lehrer Bogner aber siehst du hier das Jahr mit dem Frühling, mit dem März beginnen, einem schönen Sankt Sebastian, dessen Stricke gesprengt zu seinen Füßen liegen, der ins Goldgewölk lächelt, und dessen Leib und Marterstamm über und über gespickt sind mit farbigen Krokus, Schlüsselblumen, Hyazinthen und Narzissen, in die sich die Pfeile oder Hagelgeschosse des Winters verwandelt haben, — aber, Renate, es wird Zeit, wenn du den ganzen Wagen noch beschauen willst ...“

„Nein, diesen noch,“ bat Renate entzückt, „das scheint Sankt Christofer —“ sie zählte ab, „— Oktober, warum Oktober?“

„Siehst du nicht,“ sagte Josef, „daß es nicht Sankt Christofer ist, sondern der griechische Gott Herakles mit seiner Keule, der den kleinen Dionysos-Christus auf der Schulter trägt, Weinlaub im Haar, und daß es die große, blaue Traube in seiner Kinderhand ist, die dem Alten so viel Beschwerde macht? Du kannst es dann bei Hölderlin nachlesen.“

„Was doch dieser Maler alles weiß!“ lächelte Renate verwundert und bemerkte, sich umdrehend, ihre Zofe, welche die goldene Wand ihres Mantelfutters entfaltete. Sie ließ sich den dunkelblauen Mantel auf die Achseln legen und wollte den hohen, nach außen gebogenen Kragen der Wärme wegen offen lassen, aber nun bat Josef: „Einen Augenblick!“ hakte den Kragen zu, raffte die dunkelblauen Falten unten, belud ihr den linken Arm damit, spreizte auch leicht die Finger der Hand unter dem Bausch, trat zurück und sagte: „Erstaunlich! Wem gleichst du nun auf ein Haar?“

Renate, an sich herunterblickend, meinte: „Der Naumburger Uta? Seh ich so hold und kindlich aus?“

„Oh, sie hat ja auch keine Zöpfe,“ sagte er, „aber die Hand mit dem Bausch und dem Faltensturz und die blaue Farbe, das ist kostbarer als der alte graue Stein. Komm weiter!“

Er zog Renate um die Wagenecke, aber sie prallte heftig zurück, denn dort hinten, vor den riesigen Wagen geschirrt, standen zwei Elefanten, nein vier, nein sechs! zu zweien hintereinander, Ungetüme von hellgrauer Farbe, seltsam von einem rötlichen Hauch bedeckt, und von Josef hingezogen, sah Renate, daß es die künstlichsten Ornamente, Ranken, Blumen und Tiere waren, mit feinem, rotem Pinsel aufgetragen.

„Dein Ritter Georg hat es so gewollt,“ äußerte Josef, „man macht es so in Indien, aber ohne meinen Chinesen hätte er es nicht bekommen.“

„Chinesen? Ach, der auch deine Maske —“

„So hast du sie gesehn? Sie taugt nicht viel, außer bei Dämmrung,“ meinte Josef, „aber der Brave liebt mich sehr und brachte sie eines Tages an.“

Renate fuhr in diesem Augenblick, langsam weiter schreitend, von einem Anblick zusammen, dessen Art und Gewalt sie fürs erste gar nicht begriff. Wo war sie denn? Ein schneeweißes Tier hielt ein langes weißes Horn auf sie gerichtet ... Auf der leeren Straße, einsam in einem weiten Kreise von seltsam bunten Menschen, stand, die Vorderhufe zierlich eingestemmt, milchweiß — das Einhorn. Das Legendentier, das heilige, — am Nacken breit fiel das gewellte Tuch der weißen Mähne nieder, vor der Stirne, gerade auf Renate gerichtet, stand — wunderbar — die lange Düte des großgewundenen weißen Horns.

Schauder von Furcht, Schauder von Süße durchwirbelten Renate; sie faltete die Hände, ihr ward glühend heiß und jetzt auf eine unerklärliche Weise furchtsam, immer furchtsamer zumut, bis es sie kalt durchlief und sie sich ermannte. Da stand Josefs schwarze Gestalt mit unsichtbarem Kopf neben ihr, unheimlich genug, aber, kaum wissend, was sie tat, trat sie dicht vor ihn hin, drängte sich an seine Brust und sagte angstvoll zu den Augenschlitzen hinauf:

„Was will das Tier, Josef? Oh, Josef, das schreckliche, heilige Tier!“ Seltsam fern hörte sie Josefs Stimme:

„Erkennst du denn deinen Schimmel nicht wieder, Renate? Das Horn ist Papiermasse und mit einer kleinen, silbernen Platte befestigt, siehst du?“

Sie lächelte nun, denn er sprach ihr zu wie einem Kinde. Nachdenklich stützte sie das Kinn in die linke Hand, den Ellbogen in die Rechte setzend, und betrachtete das Wunder, wie es den Kopf senkte und aufwarf und das weiße Horn stieg und fiel. Die Stute war so viel kleiner geworden und sah zugleich mutwillig, fromm, klug und ganz und gar fabelhaft aus.

„Welch gutes Herz du doch hast, Renate,“ hörte sie Josef sagen, „aber das kommt davon, wenn man nie ins Theater gehn will, dann nimmt man alles für Natur.“

Sie lächelte zerstreut. Dazu die Trachten ringsum, tiefes Mittelalter ... Ein wenig entfremdet wurden für Renate all diese Edelleute, Frauen in Mänteln und engärmeligen Tuniken, diese Mohren in reichen Gewändern, Sarazenen, durch ihre Buntheit, da sie eben noch das graue Mittelalter der steinernen Uta vor sich gesehn, aber nun wurden es schon die alten Evangelienbilder Stefan Lochners und der namenlosen Meister von Cöln und Niederland, und schließlich erschien langsam die neue Zeit in den von der Tracht veränderten Zügen der Gegenwart, zudem in einem Schwarm von Negerknaben in dunkelblauen Hemden mit kleinen goldenen Kardinalskäppchen auf dem Kopf, die, sich balgend, über das Feld zur Seite dahinstoben. Ah, die gehörten wohl auf den Rücken der Elefanten, wo auf kleinen grünen Schabracken dunkelblaue Enziankelche, wie Kessel groß, befestigt waren. Nun sah sie auch die Straße hinab das wogende Getümmel, hochgetürmte Wagen hintereinander, seltsame, riesige Puppen, Tiere, Berittene in Kettenhemden und ringsum den Hain der Masten, Fahnen, Wimpel und Banner in allen Farben, vor allem den heiteren Blau, Weiß und Grün, und dieser Strom war am Straßeneingang links und rechts flankiert von den fensterlosen Ziegelwänden zweier Neubauten wie von den Wänden eines Steinbruchs. Die Häuserfronten an der Straße waren kaum sichtbar vor hangenden Fahnentüchern, Teppichen und den Gesichtern und Oberkörpern in allen Fenstern. Gläsern wie über Korn oder Haide flackerte darüber die Sonnenluft in den heißen, blauen Himmel.

Josef mahnte, den Wagen zu besteigen. Sie wandte sich, — sieh, da stand auf der untersten breiten Plattform, — mit buntem Steinmosaik belegt, zwei Schuh hoch über dem Pflaster, — der riesige Erzbischof mit dem Krummstab auf einem flachen Podium, eine weiß und goldene Glocke, die gespaltene Mitra noch in der Hand. Ritterlich bot der dicke Mann — in Wahrheit der Postdirektor, sie kannte ihn vom Sehen — ihr die Hand, sie stieg die Stufen zur Plattform empor und stand vor einer Terrasse in fünf Streifen, breit von der obern Plattform droben herunterströmende Gefälle von mannshohen Lilien, drei, an den Seiten und in der Mitte; dazwischen die schmaleren, goldenen Streifen waren sechs oder sieben fußhohe Stufen mit goldenen Geländern. Darauf kämen viele holde Jungfrauen zu stehn, erklärte Bogner, der plötzlich wieder da war und ihr nach oben verhalf. Im Hinaufsteigen sah sie die obere Plattform; zwei schwarze, überlebensgroße Reiher standen da links und rechts, die scharfen langen Schnäbel senkrecht eingestellt, und in der Mitte ein goldner Sessel ohne Rückenlehne vor einer ganz goldnen Wand von drei grünspangrünen gotischen Bögen, die blendend glitzerte, mit gehämmertem Goldblech belegt. Ja, dieser Georg! Wo war er nur geblieben? — Er hatte scheinbar Wert darauf gelegt, daß alles an diesem Wagen echt sein sollte. Ganz verwirrt ließ sie sich zwischen den Reihern nieder, aber nur um jählings zusammenzuschrecken von dem unverhofft schwindelnden Niedersturz ihres Blickes aus dieser Höhe. Sie mußte sich halten und sammeln, die Lilienkatarakte wimmelten schon von bunten Mädchen, Kränze im Haar und lange Lilienstengel in den Händen, unten der Erzbischof war klein geworden, klein sogar die Elefanten, und klein wie ein Zwergtier stand vor ihnen die Stute in der Tiefe, jetzt von Renate abgekehrt, an langen, dünnen Goldketten den Rüsselungetümen vorgespannt. Aber kühn geworden jetzt, wie eine Seeschwalbe schweifte ihr Blick über den wogenden Strom der Straße, wegschnellend über Bannerwälder in die Täler der brodelnden Menge des Zuges und der Zuschauer tief hinunter, zu kleinen Gesichtern, Händen, Schwertern und Blumen, hundert durchschatteten, flimmernden, beweglichen, hundertfach wechselnden und sich verändernden Farben, und jählings durch ein riesenhaft erschreckendes, in die Flucht schlagendes Wanken, Schwanken, Wogen und Gebausche von Fahnen über Fahnen hoch hinauf in den Himmel rechts, anprallend, zurück und um taumelnd vor einer gigantischen, still im Azur hangenden, smaragdgrünen Raupe, von deren Bauchseite lange blauweiße Fahnentücher in sachter Faltenbewegung nach unten hingen, zum Lachen schön und gelassen und deutlich mit jeder Schattenregung auf einem der Farbenstreifen, — und schon — weit in die Ferne davongeschossen, kreiste ihr Blick um eine andre, in der Entfernung kleinere Raupe, schneeweiß blitzend, unterwärts behangen mit langen Purpurtüchern, und schließlich verging ihr das Schauen an einer flimmernden goldenen Riesenkugel hoch über dem Dächermeer der Stadt.

Gottseidank, da lächelte und nickte Ulrikas Gesicht aus dem Schwarm der Frauen herauf. Und sieh da, zu ihren Füßen kniete ja Bogner, mit den violetten Falten ihres Kleiderrocks beschäftigt, die er — ganz mit den Bewegungen eines gefälligen Ladeninhabers — um ihre Füße die Stufen hinunter in gebrochene Wellen fallen ließ. Blutrotbeinig und schwarzbewamst — Bogner war doch sehr vertraueneinflößend, und obendrein wand sich auch jetzt mit vieler Mühe ein schwarz Geharnischter durch die kreischenden und sich windenden Mädchen, unter dessen Topfhelm das graue und heiße Gesicht des Erasmus sichtbar wurde, ungemein passend zu diesem Rahmen von Helm und stahlmaschigem Halskragen, der fest das Kinn umschloß. Nun war er oben, lachte vergnügt, indem er Renate die Hand hinstreckte, und setzte sich alsbald zu ihren Füßen links auf die oberste, frei gebliebene Stufe. — Bogner ordnete noch ihre blauen Mantelfalten, daß der Goldstoff seines Futters und ihrer Überärmel sichtbar wurde, turnte dann durch die Frauen nach unten und setzte sich auf den Wagenrand unterhalb des Erzbischofs neben sein Henkerbeil, das auf dem roten Mantel lag, so daß seine Beine herunter hingen. Im selben Augenblick fühlte auch Renate schon, daß sie sich bewegte. Die Elefantenbeine in der Tiefe schritten; eifrig, vornübergebogen mit stählernen Schenkeln zog das weiße Pferd an, und unaufhörlich im Auf und Nieder zeigte sich und verschwand das lange Horn.

Sanft, kaum schaukelnd auf weichen Rädern fühlte Renate sich hinbewegt in der Höhe des ersten Stockwerks an den Häusern vorüber. Sie freute sich, alle Furcht war verflogen, sie lächelte heiter und gelassen, als nun wieder der Jubel, unten überm Pflaster und die langen Reihen der Fenster und Balkone hinunter, aufbrach bei ihrem Nahen, immer neue, weiter wallende, voraufeilende Bewegung, geschwungene Hüte und Tücher, winkende Hände, hundert und tausend eifrige Arme, hundert und tausend staunende, bei ihrem Anblick sich einander zudrehende und zurufende Gesichter, Augen und schallende Münder, so viele immerhin, daß die Häßlichkeit nicht eines einzigen sich gewahren ließ, wenn es sie gab. Zu ihren Füßen Ritter, Bischof und Henker, die Träger ihrer Macht, gezogen von Fabel- und Legendengetier, — es war eine sonderbare Wanderschaft durch die Stadt. Sie hatte nie dergleichen geträumt, aber wie töricht war es auch, zu erschrecken! sie mit Heiterkeit und Gelassenheit zu ertragen, war das einzig Mögliche, das Nötige mit Anmut zu leisten. Wie war sie nur dahineingeraten? — Sie konnte sich im Augenblick nicht besinnen, jedoch wurde nach einer Zeit das Gesicht des Herzogs hinter diesen transparenten bunten Wänden sichtbar, sie nickte ihm zu und sagte: Guter Woldemar, so komme ich nun zu dir, was sagst du denn dazu? — Ein großer Mummenschanz, Renate, hörte sie ihn gutmütig murren.

Jesus, wie schwefelgelb war diese Riesenfahne, zehn Meter lang gewiß, die der Kerl da auf dem Schornstein schwenkte. Da bog der Wagen um die Ecke, langsam, langsam in eine breitere Straße hinein, die nun unabsehbar vor ihr dahinrollte, ein tosender Strom, kochend von Sommerhitze und Geschrei, brodelnd, überschäumend in Blumengirlanden, Teppichen, Teppichen, Fahnen, Fahnen, Fahnen, schlagenden, Schatten groß niederwerfenden, brandend aufwärts, klatschend und spritzend die steilen Ufer empor, über Gesichter und Gelächter in die Fenster, in die Zimmer hinein und wieder hinausgeschüttet mit vollen Händen: es regnete Blumen. Renate fühlte ihren Aufschlag auf Kopf und Schultern und Schoß, um sie her bedeckte der Boden der Plattform sich mit kleinen Sträußen, einzelnen Rosen, Reseden und Kornblumen, ununterbrochen kreuzten sich in der Luft vor ihr von beiden Seiten die Sturzbögen des bunten Regens, die Mädchen schleuderten sie wieder nach den Seiten empor und nach unten, Erasmus — da hatte er den ganzen Helm voll gesammelt im Arm und schien begeistert und schleuderte Blumensträuße, wohin sichs schleudern ließ, mit ungeheurem Eifer. Unübersehbar vor ihr wankte die Wagenreihe, ohrbetäubend scholl das Gebrause, Toben und Gelächter, in Lüften tauchten auf und schwebten vorüber andre Ungetüme, Lindwurme mit beweglichem, feuerzüngigem Rachen und schlagenden, gezahnten Schweifen, aus der Gondel eines drohend und gewaltig daherlenkenden schneeweißen Luftschiffes regneten blitzende Schauer grünweißer Fähnlein, ein feuerfarbener Flieger, ein zitronengelber mit blauen Ringen, ein flammendblauer, schlugen herzbeklemmende Kreise, schleuderten sich in schwingenden Bögen durcheinander und hoch davon, wieder rollte zu Renates Füßen der Strom, der tausendstimmige, und wieder, in seiner Einsamkeit immer wieder fremd und ganz Legende, erschien das weiße, gehörnte Tier, ein kleiner Knabe in himmelblauem Kaftan ging daneben mit einem Mandelzweig, jetzt sah sie es erst, aber sonst schien alles sich fern zu halten, immer schritt es in freiem Raum, immer voll Eifer in seiner Arbeit, als schleppe es die sechs rüsselschwingenden Riesentiere auch, die ihm großmütig nachschritten. Da warf jemand von einem Eckbalkon einen ganzen Schwarm weißer Tauben in die Luft, daß es überall von geschwungenen Flügeln blitzte; eine, zwei, dreie strichen, laut flatternd, dicht über und vor Renate dahin; sie hielten Blumen in den roten Krallen. Ach, da unten saß ja dieser geduldige Bogner auf dem Wagenrand! Was tat Bogner? Er hielt eine Banane in der linken Hand, zog mit der rechten das Fell sorgsam in Streifen nach unten und biß hinein mit Behagen, während er schon mit der freigewordnen Hand nach einer neuen griff, denn ein ganzer Haufen davon lag in den auseinandergeschlagenen Falten seines roten Mantels.

Welch süßer Wohlgeruch aber, welcher feuchte Regen von Frische umstäubte mit einem Mal ihr erhitztes Gesicht? Ah, diese Reiher! Da stießen sie in Pausen haardünne Silberstrahlen aus den Pfeilschnäbeln in die Lüfte, wo sie zerstäubend Kühle und Erquickung nach unten regneten. Dieser Georg hatte an alles gedacht. Aber wo war er denn? Diese Fahrt mit ihr zu machen, war doch sein ganzes Trachten gewesen ... Herr des Lebens, und nun tat sich der Boden vor ihren Füßen auf, eine Klappe schlug hoch, und herauf stiegen schwarze Gugelkappe, schwarze Schultern und Arme, die Josef, Renate den Rücken wendend, zu beschwörender Gebärde über die Tiefe ausbreitete. Wie der Teufel aus dem Kasten, dachte Renate, lachend und entrüstet mehr als erschreckt, raffte ihr Kleid und stieß ihm die Fußspitze zwischen die Schultern. Seinen Namen zu rufen, verhinderte sie sich rechtzeitig, gewahrte freilich mit einem Seitenblick, daß Erasmus weiter unterhalb so in seinen Blumenschleuderkampf verwickelt und vertieft war, daß er von dem Auftauchen seines Bruders nichts merkte.

Ob das auch zum Programm gehöre, fragte Renate leise, sich vorbeugend, da Josef sich langsam zu ihr umdrehte.

„Nicht eigentlich,“ hörte sie ihn raunen durch das Getose, „ich sitze unten bei dem Mechaniker und der Musik und wollte mich nur überzeugen, ob die Reiher ordentlich arbeiteten.“

„Musik?“ fragte Renate erstaunt.

„Ja, hast du sie nicht gehört? Gieb acht, sie fangen gleich wieder an!“

Die ganze Luft war zum Bersten und Reißen gefüllt mit Musik, Fanfaren, Märschen, Glocken und dem menschlichen Gelärme dazu, aber jetzt plötzlich prasselte, rasselte und stampfte aus der geöffneten Klappe ein seltsam barbarisches Getöse von gestopften Hörnern, Fagotten, Becken und Schellen. Vor Josefs Gesicht bewegte sich das schwarze Zeug, aber Renate konnte nichts mehr verstehn. Die Gugelkappe nickte und tauchte langsam in die Tiefe, die Klappe fiel, gedämpfter scholl die Janitscharenmusik und verging im übrigen Brausen.

Jetzt, da sie erst des Getöses bewußt geworden war, ermüdete Renate schnell. Ihre Ohren weigerten sich, ihre Augen ebenso. Neue Taubenschwärme, neue Luftungeheuer, rosige und schwarze Fische mit ungeheuren, schleierartigen Schwänzen und Flossen, neue Riesenraupen, Paradiesvögel, Böllerschüsse, Kanonenschläge, Glocken, Schreie vernichteten allmählich alle Empfindungen, sie saß kalt und matt, aufatmend, da am Ende der verengten Gasse der Marktplatz sichtbar wurde und die blumenbunte gotische Front des Rathauses; bald hielt ihr Wagen vor der Treppe, allein; der übrige Zug war abgeschwenkt, um von andrer Seite her vorbeizuziehn.

Irgendwie nach unten gelangt, fühlte Renate mit schwachen Beinen das Pflaster unter den Füßen, als sei sie von einer Seefahrt gelandet, jetzt schwankend auf festem Boden. Irgend jemand half ihr die Seitentreppe zur Empore hinauf, sie fand sich in einem Saal, sie saß in einem Sofa, vor ihren Augen kreiste es und zuckte, ein Glas berührte ihre Lippen, sie sah aufblickend Ulrikas gute, besorgte Züge, trank und schmeckte kühle Limonade von Zitrone. Vor ihr stand der gute Erzbischof, ein Weinglas in der Hand und zu Tode erschöpft, auch den Spielleiter sah sie und sagte ihm ein paar Worte, da er nach ihrem Befinden zu fragen schien. Sie hatte sich nun wieder und war bereit, den Vorbeizug abzunehmen, aber nun fehlte die königliche Hoheit. Der Darsteller des bäurischen Herzogs erschien in großem Krönungsornat, bereit für Georg einzutreten, wenn er ausblieb. Sie warteten.

Viertes Kapitel

Getümmel

Georg, in einer sonderbaren Dunkelheit, bestieg Unkas, der ungewöhnlich hoch und breit war, nämlich ein Elefant, ein brauner Elefant ohne sichtbaren Kopf für Georg von oben, und er wunderte sich flüchtig, daß er diesen gewaltigen Rücken mit den Schenkeln umspannen konnte, jedoch ging es bequem. Dann war es ein angenehmer Kitzel für ihn, zu spüren, wie folgsam und sicher das Ungetüm unter seinem leichten Schenkeldruck ging und Wendungen machte — denn er hatte keine Zügel — immer schön in ruhigem Trabe auf dem braunen Hufschlag an der Wand der dunklen Reitbahn herum, in der übrigens noch Andre, Undeutliche sich bewegten, Tiere und Menschen, und in der Mitte stand sein Vater im Frack mit vielen Orden auf der Brust und um den Hals, und es lächerte Georg, daß sein Vater auch die rote, weiß gewässerte Schärpe des Beuglenburgschen Hausordens umgelegt hatte, bloß weil sein Sohn ihn bekam. Nachgerade aber fing Georg an sich zu ärgern, daß sein Vater in einem fort mit Magda schäkerte, die ein langes, hellblaues Schleppkleid und Blumen im Haar trug, auch entzückend anzusehn war, — anstatt seine Reitkünste zu beachten, zumal der Elefant jetzt im Traben sich immer schräger nach der Mitte der Bahn neigte und wieder aufrichtete, ganz wie ein Segelboot, und nun merkte Georg auch, daß der Koloß nicht lief, sondern schwamm, seine Beine waren nicht mehr zu sehn in einem braunen Wasser, das an den Wänden der Bahn plätscherte und angenehmerweise Georgs hineinhängende Füße nicht naß machte, und nun schwammen sie durch die Tür in ein Zimmer, wo die Möbel vergnüglich umhertaumelten, Sessel, ein Sofa und ein Klavier, auf dem Benno saß, die Beine an sich gezogen, und nachdenklich sagte: Du hast es gut, Georg, aber was machst du, wenn die Überschwemmung bis an die Decke steigt? Benno sah eigentlich genau aus wie Ulrika Tregiorni, war es auch wohl in Wirklichkeit, Georg rief ihr zu, sie solle schnell hinter ihm aufsitzen, aber da war er schon wieder zu einer Tür hinaus und schwamm sachte ins Tal hinunter, auf ein schönes, rotes Dorf zu, wo in einer sonderbaren farbigen und düstern Luft dreifarbige Fahnen hingen, für deren sonderliche Tönung er lange keine Namen fand, bis sie ihm violett, grau und braun zu sein schienen. Da war er schon mitten im Dorf und stand auf einem der Dächer, aber nun war die Überschwemmung auch schon bis an die Dachkanten gestiegen, und wie er höher klettern wollte, so neigte sich das ganze Dach wie ein Tuch nach innen, er glitt weich und sehr angenehm zu Boden, dann gab es einen Ruck ...

Georg riß heftig die Augen auf, starrte in blendende Luft, kniff die Lider wieder zusammen, öffnete sie langsam und hatte ein wehendes Haferfeld mit riesengroßen Halmen dicht vor sich, doch entfernte es sich langsam, die Halme nahmen natürliche Größe an, eine tiefe, grabenartige, braune Furche war davor, in der seine Füße standen, und er saß mit vornüberhängendem Leibe in etwas Grünem, Moos und Grashalmen; über ihm waren Zweige, die Sonne schien grell und glühend, dunstig golden in allen Tiefen lagerte die Ebene.

Müde, schläfrig, mit langsamen Gedanken kehrte Georg zu sich zurück. Wie? Er hatte sich ein wenig ausruhen wollen, weil Renate sich doch erst umkleiden mußte ... Aber was? Vorher kam doch erst der Lauf des Schimmels ... Nach der Uhr tastend, bemerkte er mit ängstlichem Mißtrauen die Stille umher und dann, die Uhr in der Hand, daß Arena und Tribünen in der Tiefe völlig leer waren. Die Uhrzeiger standen vor drei Viertel und eins. Noch gelähmt entdeckte er ein paar Schritte weit rechts, vorn im Haferfeld, den vermummten Unkas, das Maul still in der Luft, aus dem lange Halme mit ihren Wurzeln nach allen Seiten hingen. Georg fuhr zusammen, in jäher Angst ward ihm klar, daß um ein Uhr der Festzug begann, er hatte geschlafen, geschla— — Er sprang in rasender Wut und Angst auf, zu Unkas hin, suchte mit flatternden Händen die Verschlüsse der Decke, brachte mit unsäglicher Mühe eine nach der andern der neuen, harten Schnallen auf, riß die Decken zu Boden, war im Sattel. Unkas drehte sich unter Zügelriß und Absatz, Georg zerrte ihm wutschnaubend den Hafer aus den Zähnen, dann brach er durch Gestrüpp und Unterholz in den Wald ein, ins Freie der steilen Böschung und Buchenstämme. Den stürzenden Gaul konnte er noch eben hochreißen, dann zwang er ihn in schräger Linie den Abhang hinunter, der linke Vorderfuß trat zweimal, dreimal ins Leere, ehe er Boden fand, dann brach Unkas vorne nieder und stürzte um. Georg gelang es, den Fuß aus dem Bügel zu nehmen, ehe er gegen einen Baumstamm flog, mit der Stirn so kräftig anknallend, daß er schrie, Funken und Sterne spritzen sah und einen Augenblick, halb gelähmt, schmerzzerrissen, an dem Baum hing, auf den er in tobendem Grimm mit Fäusten hätte einhämmern mögen. Betäubt nach Unkas blickend, sah er ihn geduldig auf dem Rücken liegen, kletterte etwas tiefer, redete ihm gut zu, haschte nach dem Zügel, Unkas wälzte sich, schlug mit allen vieren um sich, kam auf die Vorderfüße, sprang auf und schüttelte sich. Georg reinigte ihn und sich obenhin von Moos, Zweigen und welken Blättern und zog ihn hinter sich den Abhang hinunter, durch Haselgesträuch ins Freie und saß auf.

Danach hielt er lange Sekunden in völliger Lähmung. War dies wirklich? fragte er sich entsetzt. Was war mit ihm vorgegangen? Wie hatte er schlafen können? Und wie war ihm jetzt elend zumut! Gott im Himmel, war die strahlende Ausgelassenheit am Morgen nicht ein Wahnsinn gewesen, Unnatur, Wahnsinn?

Gleich rechts lief der Feldweg gegen die offene Schranke und die Landstraße; Georg, jetzt fast besinnungslos vor würgender Angst, zu spät zu kommen, klemmte die Schenkel an, da streckte sich Unkas, und weinend vor Rührung empfand Georg im Davonjagen: Zwölf Jahre, alter Unkas, zwölf Jahre hast du mich getragen, du fühlst, was ich fühle ... da waren sie in spritzendem Bogen unter der Schranke weg um den Baum auf dem Reitweg der Landstraße. Georg lachte vor Angst, als er unter sich die wirbelnden Vorderbeine und Hufe des Pferdes sah, die Bäume flogen vorüber, ach, es ging längst noch nicht schnell genug, er legte sich, so lang er war, über den Pferderücken, am weitausgestreckten Arm die Hand unter der grunzenden Kehle, die er liebkoste unter weinendem Stammeln: Gott segne Napoleon, Gott segne den verfluchten Kaiser der Franzosen, der die Straße so breit gemacht hat, daß es Reitwege giebt! lauf Unkas, bitte, schneller, lieber Unkas, schneller, viel schneller! Lauf! lauf! du sollst bis ans Lebensende goldenen Hafer aus marmorner ... großer Gott, das steht ja in alten Kindergeschichten! Und nun sah er den Festzug, den Elefantenwagen und Renate, Alle warteten, der Festzug bewegte sich schon, da kam er angestürzt, — um Himmels willen, die ganze Straße war versperrt von bunten Menschen, Planwagen, Kindern, und heraus ragten die dunklen Oberkörper einer ganzen Beuglenburgischen Schwadron. Er schäumte vor Wut, riß das Pferd zurück, jagte es zwischen den Bäumen durch in den trocknen Graben und stob weiter, unter den Zweigen her, die an ihm rissen, Unkas lag unter fortwährendem Stolpern fast mehr auf der Erde, als er lief, endlich war die Straße wieder frei, der Wallach erlangte sie von selber mit einem Satz und arbeitete sich wieder auf dem Reitweg dahin, während Georgs rechte Kniescheibe wie Feuer brannte vom Anprall an den Apfelbaum. Ein gelber Kerl, der vor ihm hintrottete, warf auf Georgs Wutschrei die Arme hoch und taumelte zur Seite, aber gleich darauf war er verfitzt in ein Getümmel von Reitern, die entsetzlich langsam dahintrabten, auf seinen Anruf sich unwillig und langsam umdrehten, dann aber, als sie sein Gesicht sahen, schleunig auseinanderwichen, ebenso die nächsten, denn sie schrien hinter Georg her: Achtung! der Großherzog! — Großherzog, es war zum Totlachen und die ganze Straße querüber vermauert mit grellbunten Fußgängern. Georg wollte und mußte hindurch, schrie, so laut er konnte: „Platz! Platz für den Großherzog!“ Zweie vor ihm sprangen zur Seite auseinander, die Andern drehten sich um, sahn ihn, sprangen seitwärts, schrien, es gab eine Gasse, und links war Bennos erschrecktes Gesicht. Georg nickte ihm im Vorübertraben zu und fragte angstvoll: „Wie spät ist es?“ Eine Stimme schrie hinter ihm: „Gleich zwei!“ dann noch mehrere durcheinander: „Dreiviertel! Zwei! Gleich zwei!“ Georg hielt, riß die Uhr heraus, sie zeigte unwandelbar drei Viertel eins.

Ich habe sie nicht aufgezogen in der verwünschten Nacht, murmelte Georg fassungslos im Weitertraben. Die Leute standen überall und sahn ihn an, er bemerkte, daß er dicht vor der Stadt war, ritt langsam weiter, begriff, daß der Zug um zwei Uhr am Rathaus sein sollte, — also dorthin! aber wie kam er durch die Stadt? — Nun waren da Häuser, er kam nur noch im Schritt vorwärts, Gott sei gelobt, da glänzte der weiße Zylinder eines Taxameterkutschers, der auf Georgs Anruf sofort nach Zügeln und Peitsche griff. Georg stieg ab, ein Mann hielt dienstfertig das Pferd, Georg griff in die Tasche, gab ihm, was er faßte, und fragte ihn, ob er das Pferd zum Schlosse bringen wollte, worauf sich von allen Seiten Hände streckten. Er lachte, nickte ihnen verloren zu und sprang in den Wagen, keuchend: „Zum Rathaus, so schnell wie möglich, durch leere Straßen!“ Völlig verschlagenen Atems, legte er sich in eine Ecke und schloß die Augen. Sein linker Augenbuckel schmerzte, hinfassend fühlte er die Geschwulst, das war ja reizend! Zuckend an allen lahmen Gliedern, hätte er auf der Erde liegen mögen, so lang er war, aber er fuhr wieder hoch, erkannte, daß er durch leere, verlassene, düsterrote Straßen fuhr, saß nun vornübergebeugt, die Uhr in der Hand, zog sie auf und stellte die Zeiger auf fünf Minuten vor zwei. Ich komme ja doch zu spät, murmelte er matt. Und nun ging es endlos durch Straßen und Straßen, breite und schmale, über einen kleinen stillen Schmuckplatz, über eine Brücke, und wieder Straßen und Straßen. Er las alle Schilder über den Läden, die Reklamen, Straßenweiser ... Rackows Handelsakademie stand da. Kramläden zögerten vorüber, zeigten alles, Bilder von roten Kindern und Katzen mit Kakes, Pakete, aufrecht stehend, mit Kakao, Schüsseln voll Erbsen und Linsen, Lindener Warenhaus stand über einem kleinen Weißzeugladen voll Frauenwäsche, Packen länglich aufgerollter Langettenkanten und Anordnungen von Weißknöpfen auf blauen Papptäfelchen, aufgehäuft. Er sah in den Spiegelscheiben, in den dunklen Parterrefenstern zwischen Blumen und schwärzlichen Gardinen dunkel sein Gesicht im Vorbeiziehn, das Weiß und Grün seines Anzugs, versuchte, auch die Beule zu sehn, und bemerkte, daß er sich in der schwarzen Hälfte des Fahrtmessers spiegeln konnte. Gottlob, es war nur ein roter Fleck zu sehn, die Beule fühlte sich wohl nur so stark an, weil der Augenbuckel unter der Schwellung war. Auf einer breiten Straße mit Baumreihen in der Mitte hinrasselnd, durch Menschen, elektrische Bahnen, setzte er sich wieder in die Ecke und stützte den Kopf in die Hand, um nicht gesehen zu werden, in seinem Schädel war eine Feuersbrunst, aus der es zuckte. Niemals endete diese Fahrt, nun warf ihn der Wagen schüttelnd, aus einem Bahngleis gerissen, hin und her, dann gings um die Ecke, in eine schmale, einsame Straße, ein Überdach war rechts, das Deutsche Theater, Gottlob, nun kam die Altstadt, es ging wieder um eine Ecke, ein blauer Zettel klebte daran, halb zerrissen, mit großen schwarzen Lettern: Wählt Plate! — Wieder um eine Ecke, vorbei an rundgebogenen Eckläden voll von Anzügen, alten Büchern, Harmonikas und nebeneinander aufgereihten Revolvern an einer Schnur; der Wagen rollte schneller auf Asphalt, aber die Zeiger der wahllos gestellten Uhr waren schon über zwei und zwölf, ich komme nie hinein! stöhnte Georg, und sofort darauf sagte eine Stimme: Sie kommen nicht hinein ...

Georg starrte. Da saß Josef Montfort an einem Kaffeehaustisch und sagte: Sie kommen ... Josef von Montfort, dieser Scharlatan, heute nacht war er bei mir, er legte mir damals meinen Traum aus, vor drei Jahren, ach, es ist zum Tollwerden, zum Tollwerden ... Georg sah sich und die Droschke, Pferd und Kutscher wellig in den großen Spiegelscheiben des Warenhauses dahinziehn, dämmrig, vermischt mit Herrenhemden und Spazierstöcken, nun mit Kleiderstoffen, die in Stürzen von Stöcken fielen, nun mit Pyramiden und Säulen von Konservendosen, dann wurde er rechts um die Ecke geschüttelt und sah vor sich die Straße vollgepfropft mit Menschen. Ein Stück noch ging es weiter, er stand schon im Wagen, drückte dem Kutscher etwas in die Hand, sprang hinaus und versuchte, sich durchzudrängen. Dies war eine Lage zum Rasendwerden. Da war er mitten unterm Volk, im Theaterkostüm, so mußte es kommen: — Na, na! junger Mann! sagte jemand, aber da war ein Schutzmann, er erkannte ihn, nun gab es entsetzliches Aufsehn, aber er kam durch, plötzlich war da der leere Platz, Georg zitterte und jauchzte, lief die Straße hinunter, am Fuß des Domes vorüber, da war das Lutherdenkmal, da die Seitentreppen zur kleinen Empore, sie war leer, Männer in Fräcken wollten auf ihn eindringen und prallten in der Luft zurück, er sprang die Stufen hinauf, und Renate wandte sich nach ihm um aus einer Gruppe ...

Verspätung

Jetzt, dachte Georg, auf Renate zuschreitend, die lächelte, jetzt ist der Augenblick da, wo es nur mich giebt, mich allein und sie, keinen Großherzog, kein Drum und Draußen, nur meinen Willen und mein Handeln. — Renate raffte ihr Gesicht aus der Müdigkeit mit einem erfreuten Lächeln auf, streckte ihm die Hand entgegen und fragte: „Nun?“ Er faßte sie, da standen überall Menschen, aber dort war das Innere eines kleinen Zimmers durch die offene Tür sichtbar, und er sagte heiser, sich räuspernd: „Bitte, kommen Sie dort hinein“, und zog sie mit sich.

Renate fragte sich, ob etwas geschehen sei, das er ihr allein mitteilen wollte; Georg sah gradeaus, während ihm Anfänge über Anfänge durch den Kopf schossen: Ich bin zwar erst zur Hälfte Großher— — wie dumm! — Renate, heute morgen habe ich vor Ihnen gekniet, aber ... Er fühlte sich kalt vor Angst, da waren sie in dem Zimmer, er stand vor ihr, wollte sagen: Renate, seit drei Jahren ... brachte auch dies nicht heraus, keuchte ... Renate wurde ängstlich vor seinen Augen; das eine war kleiner als das andre, ein roter Fleck darüber; da wußte sie schon alles, brachte es nicht fertig, es wirklich zu wissen, aber als Georg nun sagte: „Renate ...“ flog sie furchtbar erschrocken auf ihn zu und drückte die linke Hand auf seinen Mund.

Er ergriff taumlig ihr Handgelenk, die Augen fielen ihm zu, da merkte sie, daß er ihre Handfläche küßte, daß er ihre Gebärde falsch verstanden hatte, aber als sie jetzt an seinen Vater dachte, konnte sie sich nicht bergen vor einem unwiderstehlichen Lachgefühl, das sie lächeln machte, und sie senkte den Kopf und stotterte ganz ratlos und beschämt: „Lieber Junge, du kommst ja zu spät ...“

Durch Georg zischte ein blendender Schwerthieb. Er riß die Augen auf, starrte sie verständnislos an und hörte sie sagen, während ihre Mundwinkel zuckten, immer heftiger zuckten und die Augen glänzten und funkelten: „Dein Vater war heut morgen schon ...“

Renate konnte nicht mehr an sich halten, drehte sich um und stopfte sich die ganze Mundhöhle mit den Mantelfalten aus, um nicht zu lachen, aber auch das half nichts, mein Gott, was sollte das nur? ihre Nerven, die Aufregung ... sie erstickte beinah, riß die Seide wieder aus den Zähnen und brach in ein so erschütterndes, endloses Lachen aus, daß sie sich auf einen Sessel werfen mußte, die Stirn auf der Lehne, gestoßen und geschüttelt vom Lachkrampf.

Leer stand Georg da. Fenster, so, Fenster ... Eins, zwei, drei ... Andersherum: Eins — zwei — drei —. Gotische Bögen. Renate lachte und lachte. Wie? Dein Vater war ... Im Munde hatte er noch das Beseligende und den ganz leisen Salzgeschmack ihres Handballens, und noch zuckte und zitterte sein Herz von der schwellenden Trunkenheit ihrer Berührung. Vater! dachte er endlich. Ja, ja, — ja, freilich, so etwas denkt man wohl nie von seinen Vätern. Wie gut, daß er doch nicht mein Vater ist ... Warum gut? — Nun Haltung! sagte er sich fast bewußtlos, merkend, daß er schwankte. Renate lachte noch immer. Einen Augenblick lang empfand er Hohn und sagte vor sich hin: Nur die Ruhe kann es machen! dann durchflammte ihn der Ingrimm auf diese alberne Redensart.

Renate hatte sich endlich erholt, fand ihr Taschentuch, trocknete sich die Augen, schneuzte sich, lachte noch einmal schluchzend auf, nahm sich zusammen und stand auf. Da sie Georg mit gesenktem Kopf vor sich hinstarren sah, ging sie leise auf ihn zu, legte eine Hand auf seine Schulter und wollte sagen: Lieber Georg ... Aber er zuckte vor ihrer Berührung zurück, trat seitwärts, biß die Zähne zusammen, sagte sich: Jetzt nur Haltung! senkte den Kopf und brachte leise hervor: „Verzeihen Sie, Renate, ich konnte nicht wissen ...“

Nun streckte sie die Hand aus, er legte die seine zögernd hinein, Renate durchzuckte es, daß dies doch böse war, für später, was sollte daraus werden? Georg zog still ihre Hand nach vorn, indem er sich etwas drehte, so daß ihr rechter Arm in seinen linken zu liegen kam, und führte sie hinaus.

Dann standen sie auf der Freitreppe, die Musik spielte Tusch, es regnete Blumen, die Menge war außer sich. Georg lächelte und winkte, Renate hielt sich zurück, neigte ein, zweimal den Kopf und ging schnell wieder in den Saal, indem sie bedachte, daß mindestens die Hälfte dieser Menschen sich jetzt etwas Verkehrtes einbildete. Dann ging auch Georg in den Saal zurück. Er fragte irgend jemand, ob ein Wagen da sei, ging mit außerordentlich leichten und freien Gliedern die Treppen hinunter, fand ein Automobil in einem Kreise von Menschen, welche die Hüte schwangen und Hurra schrieen, stieg ein, setzte sich zurück, winkte, lächelte und fuhr davon.

Unterwegs sah er nach der Uhr. Es war noch nicht halb drei. Um halb war er zuhause, um halb vier mußte er auf dem Bahnhof sein und Prinz Adelbert empfangen, um vier Eidesleistung der Stände, Umkleiden, Uniform und Vereidigung des Füsilierregiments Großherzog in Stellvertretung der Armee, dann Paroleausgabe, es konnte halb sechs werden. Um sieben Galatafel im Schloß, große Cour, Défilée, um neun Anfang des Balles in der Universität, Terrasse, Gärten, Masken ... Illumination und offizielle Huldigung ... Wozu das alles? Renates Gesicht erschien, er schluchzte trocken ... Niemals — niemals — niemals ... Und sie würde die Frau seines Vaters ... Herrgott, was soll das werden? Das war niemals zu ertragen. Er legte das Gesicht in die Hände, ihm war, als ob er weinte, aber er weinte nicht. Gelacht hatte sie, krampfartig gelacht. Ja, es war wohl sehr komisch. Um halb neun war ich bei ihr, dachte er nüchtern, und Vater — oh Vater war der Mann der Tat und stand früh auf. Warum hatte er übrigens bis heute gewartet, und warum nicht bis morgen? — Niemals — niemals —. Ihm brannte die Brust, er fühlte sich matt und elend. Dieser wahnsinnige Ritt. Ich komme nicht hinein, dachte er, Montfort hat recht in jeder Beziehung.

Heimkehr

Vor der Tür des Schlößchens erwarteten ihn zwei unbekannte Lakaien, die er wegschickte. Seine Zimmer sahen ihn fremd an und fürchterlich unnütz. Er ging durch das Schlafzimmer ins Badezimmer, holte das Schlüsselbund hervor und öffnete das heimliche Gemach. Schön dämmrig lag es in der Nachmittagssonne, die breite goldene Dämme durch die Fenstervorhänge hineinstellte. Still, sehr schön, edel — trotz Cora — stand das wolkige Himmelbett. Er dachte: Ja, Cora war darin, so konnte es wohl nichts werden ... und fiel vor dem Kopfkissen auf die Knie, legte die Stirn auf den Bettrand und verlor sich. Er sprang wieder auf und ließ sich rücklings auf das Weiche hinfallen, lag ausgestreckt, dankbar für die Wohltat des Ruhens. Da schrillte fern im Zimmer das Telephon, aber erst, da es gar nicht wieder aufhören zu wollen schien, entschloß er sich aufzustehn, ging hin und nahm den Hörer ans Ohr. Er wollte sagen: Prinz Trassenberg, — aber — nein, Großherzog war er ja noch immer nicht ganz, so sagte er nur wie Birnbaum „Ja?“

Eine Männerstimme fragte: „Hoheit?“

„Ja.“

„Zwillinge!“ schrie die Stimme Schleys so fürchterlich laut, daß ihm das Ohr schmerzte, „Zwillinge! Zwei Sozialisten!“

Georg begriff Augenblicke lang gar nichts, dann entfuhr es ihm: „Was? Virgo? deine Frau? Donnerwetter!“

Schley drüben schien zu lachen, rief dann: „Ich glaube, Hoheit, du bist der elfte, der Donnerwetter sagt, das scheint bei Zwillingen das einzig Mögliche.“

Georg wußte nicht, was er denken sollte. Der Begriff Zwillinge verdeckte für den Augenblick alles, er konnte nur fragen: „Und Virgo?“ wobei er nun denken mußte: Dieser Name — und Zwillinge ...

„Danke, vortrefflich,“ hörte er Schley sagen, „ein wenig sehr matt, aber sie ist immerhin im besten Alter, — freilich, als der zweite heraus war, bin ich dem Tode fast so nah gewesen wie sie, ohne mich brüsten zu wollen, — stell dir vor! Ich war am Ohnmächtigwerden vor Wut. So ein kleiner Mensch wie sie und in Stücke gerissen ...“

Georg schauderte plötzlich; er sah zwei unflätige Riesen, und Virgo im Bett, schreiend, sich wälzend, und die Riesen zerrten an ihren Beinen ... Er schüttelte sich.

„Ich habe geflucht und gebetet,“ sagte Schley, „und der Arzt, es war zum Tollwerden, er tat wie ein Athlet, der seine Tochter Kunststücke machen läßt und lacht, wie gut sie’s kann. Aber nun stehn die Namen wenigstens fest.“

Georg erinnerte sich der unzähligen Verhandlungen über die Namensfrage, und wie Virgos Mann sich erbost hatte, daß ein Junge Georg, ein Mädchen Georgine heißen sollte.

„Nun?“ fragte er. „Ja, weißt du,“ hörte er Schley kleinlaut sagen, „beim ersten schrie sie immerfort: Georg! ...“ Georg zuckte das Herz. Da hatte sie gelegen und seinen Namen geschrien ... Und er, wo war er? — „Beim zweiten“, fuhr ihr Mann muntrer fort, „sagte sie gar nichts, da knirschte sie nur, aber als ich dann ins Zimmer durfte, sagte sie nur: Wolf... — mit ihrer tiefen Stimme, und wie sie dalag —“ Georg sah sie daliegen, sah die übermenschlich groß gewordenen braunen Augen unter dem knabenhaften Haarbusch im kleinen, weißen Gesicht — „und mich ansah,“ sagte Schley, „ja, — da bin ich umgefallen ...“ Seine Stimme zitterte heiser. „In meinem Leben habe ich nicht so geweint“, sagte er.

Sie schwiegen Beide. In Georgs Gehör brach Gesang auf, die Glucksche Melodie: Ach ich ha—be sie — verlo—o—ren ...

„Also heißen sie Georg und Wolfgang“, sagte Schley.

„Hoffentlich“, meinte Georg matt, „kann man sie unterscheiden.“

„Na, vorläufig ist nicht dran zu denken, einer wie der andre ist eine rote Zuckerrübe mit einem schwarzen Busch auf dem Kopf, ich weiß längst nicht mehr, wer Georg und wer Wolfgang ist, die Hebamme ist der einzige Zeuge, und Virgo will ja nun durchaus, daß dem Georg ihr einer Ohrring, der kleine goldene, eingeklemmt wird, und ob du einverstanden wärst?“

Ja, Georg war einverstanden. „Und bitte: tausend Grüße, und wenn ich nur einen Augenblick heute frei hätte, so käme ich.“

„Ja, höre, Georg, noch etwas —“ sagte Schley, „hast du meinen Schwager getroffen?“ Georg verneinte. „Er wollte dich treffen und ging schon früh fort; er hatte kein Kostüm und wollte sehn, daß er noch eins bekäme, er müßte dich heute noch sprechen. Zurückgekommen ist er nicht, auch nicht zum Essen, aber er hat angeläutet — ich war grade in die Apotheke hinüber — und hat sagen lassen, falls ich erführe, wann du Zeit für ihn hättest — er würde wieder anrufen ...“

Georg dachte nach. Halb vier, fünf, — „Ja, zwischen sechs und sieben wäre es möglich“, sagte er.

„Schön, zwischen sechs und sieben! ich habe leider keine Ahnung, um was es sich handeln mag. Adieu, Hoheit! Wie fühlst du dich denn? Der Festzug soll ja großartig ...“

„Ja, es war schade, daß ihr gar nichts zu sehn bekamt. Also leb wohl, leb wohl!“

„Adieu, Georg!“

Georg legte langsam den Hörer nieder und glitt in den Armstuhl zurück. Die Sonne, die den ganzen Schreibtisch vor ihm bedeckte, blendete seine Augen, er setzte sich zurück, beschattete die Augen, den Ellbogen aufstützend, und sah, undeutlich hinterm blitzenden Glase, Virgos Photographie, während es durch ihn hinsang: All mein Glück — ist nun — dahi—in ... Esthers Bild nahm ich fort, dachte er, ich gab Esther für Renate, ich gab Virgo für Renate. Esther starb, und Virgo bekam Zwillinge. Sonderbar, man sagt doch immer: bekam, obgleich eigentlich ... Freilich, ich gab sie nie ganz, und infolgedessen legte Renate sich über den Stuhl und bekam einen Lachkrampf. Kann man das so aufreihn: Bekam Lachkrampf, bekam Zwillinge, bekam Tod ... Schwer und verdumpft fühlte er seine Brust, er sah Renate, auf dem silbernen Pferde ganz klein am Fuß des Dammes, wie sie in die Arena ritt, dann ihr Profil unterm Thronhimmel ... Immer wieder kehrst du, Melancholie ... hörte er sagen. Von wem war das noch? Von Trakl, zuerst hörte ich es von Josef, oh ich weiß noch, in der Droschke, als wir zu Lenusch fuhren, und Cornelia Ring, — Cordelia ... An seinen Lippen brannte plötzlich Renates Hand, er schmeckte ihre Haut, Tränen schossen ihm in die Augen, — oh nicht weinen! sagte er sanftmütig. Ich war ja glücklich heut, oh wie war ich glücklich! Es war ein Rausch, ich glaube, es war im Grunde ganz unnatürlich. Ja, sehr — denn wie konnte ich so tief und lange schlafen am Waldrand? Was ist hier nicht in Ordnung? fragte er scharf, sich vorsetzend.

Ach, ich ha—be sie ... Die kleine Uhr vor ihm schlug dreimal hell, er sah die Zeiger auf drei Uhr stehn. Schwerfällig stand er auf. Nun also Haltung! mahnte er sich und kam nicht weiter. Alles schien grau. Nur die Sonne brannte und brannte. Die Farbe Renate erlosch, und — richtig, sagte Georg, alles kam, wie es kommen mußte, sagt Georg Hermann; wer Renate will, hat allein sie zu wollen. Wer Renate will, hat allein sie zu wollen. Wer Renate will ... Wer Renate will ... Jählings faltete er die Hände, seine Lippen zitterten, das Weinen stieg ihm in die Kehle, er wand sich, die Knie sanken ihm ein, er flüsterte: Renate, Gott im Himmel, Renate, ich kann ja nicht, oh mein Gott, ich kann ja nicht! Dann schüttelte er sich barsch, ging zur Wand und drückte auf den Klingelknopf. Er schwankte, sein Kopf fiel vornüber, er stand, den Arm gegen die Klingel gestemmt, als der Lakai eintrat. Drei Sekunden hatte er verständnislos ein uralt scheinendes, faltiges, gütig aussehendes Gesicht über einer grünen Livree vor sich, dann dachte er langsam: Ach so! es geht ja weiter, immer weiter ...

„Wie heißen Sie?“ fragte er leise.

„Albert Neffe, königliche Hoheit“, sagte eine farblose Stimme. Das Wort königliche Hoheit machte Georg sonderbar hochgehn. Er gab dem alten Manne die Hand und sagte, unfähig, laut zu sprechen:

„Gut, Albert. Sie sind ein alter Mann. Ich verlange nicht viel. Sie erfahren meine Gewohnheiten von Egon. Ich pflege alles allein zu tun. Heut können Sie mir helfen. Also hurtig!“

Er lächelte. Als der Kammerdiener ihm den Rücken drehte, fragte er ihm nach: „Wie alt sind Sie?“

Der Alte drehte sich und stand still, Georg sah seine weißen Strümpfe und hörte ihn sagen: „Königliche Hoheit, zweiundfünfzig.“

„Na, da sind Sie ja noch ein ganz junger Mann!“ Der Diener lächelte gütig, aber dabei ward eine Zahnlücke im linken Mundwinkel sichtbar, und im Augenblick erschien hinter dem ersten, faltig vornehmen ein ganz anderes Gesicht, das heimlich kümmerliche eines gewöhnlichen alten Mannes. — Er verschwand im Schlafzimmer.

Merkwürdig, dachte Georg, was es für Menschen giebt! Der sah erst aus, als ob er die Livree auch nachts nicht auszöge, auch nicht im Traum. Er war ja nur Gesicht, alles Übrige waren Leib und Beine, ausgestopft und nur — Stütze. Sowas lebt auch. Tante Henriettes Mann sieht aufs Haar so aus wie er, — und eigentlich ists auch kein Gesicht mehr, es sind nur — — Er fand nicht, was es war, verlor Zusammenhang und Gedanken. Das macht die Gewohnheit, sagte er mit jäher Erkenntnis, ja die Gewohnheit ... Er fuhr heftig zusammen. Dann richtete er sich auf und ging schnell, aufrecht und ganz blind ins Schlafzimmer.

Fünftes Kapitel

Heimkehr (die andre)

Renate ging zu Ulrika, blieb vor ihr stehn und merkte, daß ihr Gesicht sich wieder in Lächelfalten verzog. „Komm bloß fort,“ raunte sie ihr zu, „es ist furchtbar mit mir, ich — ich sage dir gleich alles!“

Im Treppenhaus, nach dem Geländer fassend, blieb sie stehn, aber kaum daß sie, zu Ulrika gewandt, herausbrachte: „Georg —“ prustete sie nur, ergriff Ulrika am Arm, zog sie die Treppe hinunter und zwang sich unterwegs, heftig den Kopf aufrecht stellend, zum Ernst. „Wie ist es denn,“ fragte sie unten, „kommst du mit mir?“

Während sie Ulrika leise sagen hörte: „Ja, ich möchte gern“, fiel ihr Josef ein — wo war er geblieben? — und alles andre, ihr Herz wollte sich zusammenziehn, aber der helle Sonnenglanz über dem bunten, lebhaften Gedränge im halben Schatten der Gasse und, da ihr Blick von selber aufwärts ging, große, schimmernde Wolkengebäude im starken Blau, die zwischen die scharfen, altertümlichen Dächer und Kanten herabzusinken schienen, machten sie leicht und sicher. Josef wird schon dort sein, dachte sie, jedenfalls kann ich mich auf ihn verlassen; es wird alles gut. „Komm nur mit, Ulrika, ich sage dir alles unterwegs.“ Der große Türsteher murmelte etwas ... „Ja, meinen Wagen,“ antwortete sie, sich umsehend, „da steht er ja!“ Sie gingen hin, stiegen ein, rollten ab.

Ernsthaft jetzt und wehmütig dachte sie Georgs. „Ich habe den guten Georg eben sehr gekränkt,“ begann sie, „weißt du — ich bekam einen Lachkrampf, ach, gar nicht seinetwegen, er war nur der Anlaß, weißt du, es hatte sich wohl alles mögliche angesammelt, das brach nun auf diese Weise los. Ja, weißt du — Nein,“ unterbrach sie sich verstimmt, „dies beständige Weißtu —, ich bin ja ganz kindisch geworden. — Ich sagte dir ja,“ fuhr sie gefaßter fort, „daß der Herzog und ich uns zusammengefunden haben, und eben nun — kommt Georg und will mir einen Antrag machen. Siehst du, nun lächelst du sogar!“ Sie fiel der lächelnden Ulrika um den Hals, küßte sie und stammelte: „Ach, Kind, ich bin ja so glücklich! Nicht wegen Woldemars, — das heißt, natürlich auch seinetwegen, zumeist seinetwegen, aber — du weißt ja nicht: Josef ist schon lange wieder hier, seit wir aus Helenenruh zurückkamen im vorigen Herbst, erinnerst du dich des Tages? Bogner und du, ihr wart da, ihr lachtet soviel — Kind, was ist denn mit dir?“ unterbrach sie sich, da Ulrikas Gesicht sich schmerzlich verdüsterte.

„Nur weiter,“ bat sie freundlich, „ich komme nachher schon mit meinen Geschichten.“

Besorgt und zaudernd, Ulrikas kalte Hand in ihrer warmen, fuhr Renate fort: „Er wollte sich aber seinem Vater nicht zeigen, und ich, weißt du, ich war so töricht —, ach, wie war ich doch töricht!“ Sie schwieg, sich verlierend, sprach dann hastig weiter:

„Einen Grund, weshalb er nicht zu seinem Vater gehen wollte, sagte er nicht, aber da er mich merken ließ, daß er überhaupt nur um meinetwillen wiedergekommen war, und weil er auch gleich sagte: Wenn ich es von ihm verlangte, so — ja, da war ich so töricht — — ach, aber das war es ja nicht, — was man tut und denkt und sagt, das ist es ja alles nicht ...“ Sie legte das Gesicht in die Hände, sah sich in Josefs Armen, grübelte, murmelte endlich: „Es läßt sich nicht ausdrücken. Ich habe ihn lieb, Josef, er zieht mich unweigerlich an, und so fürchte ich ihn wohl —, nein, du kannst es nicht verstehn. Ich weiß bestimmt, daß ich ihn niemals lieben könnte, aber wenn er da ist, so bin ich — schwach, — wehrlos, weißt du, irgendwie, — ja — es läßt sich eben nicht sagen. Ich bin nicht schwach, wenn er da ist, im Gegenteil, ich bin durch und durch hochmütig und bin kälter und abweisender als je, aber hinterher könnte ich manchmal zu Boden sinken vor Schlaffheit, und dann merke ich wohl, was die aufrechte Haltung vorher mich gekostet hat. Und so, weißt du —, ja, so stand er eben, so stand ich eben zwischen ihm und dem Onkel, du hörtest vielleicht, er sagte es selber heut, und — er war fort, die Zeit ging hin, ich kämpfte, ich — —

„Es war — unmöglich“, schloß sie. Danach schüttelte sie alles ab, setzte sich zurück, nestelte den Schleier unter dem Kinn los, nahm den Kronenring ab und behielt ihn im Schoß. Ihr war sehr warm; auch die Luft, die voll durch die offenen Wagenfenster hereinströmte, war allzu lau, um zu erfrischen. Sie sah, daß sie schon die Steigung der Döhrener Heerstraße hinanrollten, rechts lagen die roten, festungsähnlichen Werke der Zuckerfabrik, in der Tiefe die Bahngleise.

„Und du?“ fragte sie leise und liebevoll, sich wieder zu Ulrika wendend und ihre Hand fassend.

„Du,“ antwortete Ulrika nach einer Weile, „sage, was du willst, du bist doch immer frei und rein und triffst das Rechte. Ich bin am Klavier aufgewachsen, damit ist wohl alles gesagt. Wie so ein Klettergewächs habe ich mich von allen Seiten immer nur um meinen schwarzen Freund gerankt, der Flügel war alles, und dann —“

Da sie verstummte, hörte Renate Worte Jasons undeutlich vorübereilen: Ulrika Tregiorni hatte bis zum Heimkehrtage Benvenuto Bogners niemals nachgedacht — hieß es nicht so? Wie seltsam er gleich alles in einen Anfang zusammengefaßt hatte ...

„Und dann“, hörte sie die Freundin weitersprechen, „merkte ich eines Tages, daß einer mich dicht über der Wurzel abgeschnitten hatte. Ich verdorrte nicht, oh nein!“ sie lächelte glücklich und verloren, „im Gegenteil, es war ja herrlich, ich blühte mir noch einmal so schön und reich, nur — — ich hatte keine Wurzel mehr.“ Sie brach ab.

Renate sah, aus dem Fenster blickend, Tore, Kapellen, rote Mauerzüge und die Gruftgiebel und Lebensbäume des Friedhofs hinter den staubigen, sonnigen Äckern und Gärtnereien neben der Straße. Da irrten ihre Gedanken schon ab und vorauf in das nahe Haus, sie mußte Atem schöpfen und fühlte die Beklemmung. War er wirklich schon da? — Oh, Josef war ritterlich, vielleicht hatte er sie das Geschehnis schon fertig vorfinden lassen wollen, oder auch — es konnte ja fehlschlagen — ihr den Anblick der Enttäuschung ersparen. —

„Ja, wie ist es denn nun?“ hörte sie Ulrika fragen, „Josef kommt also heute?“

„Ich hoffe, er ist schon da.“

„Ja, störe ich dann aber nicht ...“

Da merkte Renate, daß sie bei aller Zuversicht doch heimlich einen Halt in Ulrika mit sich genommen hatte, umschlang sie zärtlich und beschämt und dachte — ihr versichernd, daß sie gewiß nicht stören könne —, wie grausam besinnungslos der Mensch doch immer um sich fasse, sobald er nur eben ins Schwanken geriet, unbekümmert, ob der, nach dem er griff, nicht heftiger selber im Schwanken war.

„Ach, vielleicht“, sagte sie verstört und furchtsam, „ist die Krankheit meines Onkels ja doch unheilbar, und dann — dann wird es gut sein, wenn ich dich in der Nähe ... ach, vergieb nur, Liebste, nun belade ich dich auch noch mit mir!“

Ulrika zeigte eine zuversichtliche Miene und versicherte, der Arzt habe es doch wiederholt gesagt, daß es sich gewiß nicht um eine Gehirnkrankheit handle, sondern um ein Gemütsleiden, und — „ja, ja,“ fiel Renate erleichtert ein, „er war immer ein so weichmütiger Mensch —, und sicherlich giebt es das, daß ein Mensch sich etwas so zu Herzen nimmt, daß er — daß er eben aus dem Gleis kommt, sich selbst vergißt und nur den einen Gedanken verfolgt ...“

„Wir kennen es“, sagte Ulrika langsam, „ja Alle selber so gut, die Anfänge davon, dies —“ sie schauderte — „oh dies besinnungslose Dastehn, mitten in irgendeinem Tun, nicht weiter Wissen, minutenlang, und — wir sind da!“ schloß sie hastig. Der Wagen hielt.

Veranda

Das Herz schlug Renate in den Hals hinauf, als sie durch den Vorgarten zum Hause ging, aber dem entgegenkommenden Hausmädchen war nichts anzusehn, Renate wagte nicht, zu fragen, warf im Flur den Mantel ab und trat in die Halle. Durch das offne Fenster sah sie den Tisch in der Veranda gedeckt, dann, durch die Tür, draußen Erasmus, noch gepanzert, mit Magda, die einen seiner Arme hochhob und ihn betrachtete, und Renate hörte ihr Lachen. Dann wurde Erasmus ihrer gewahr, Beide kamen auf sie zu, Erasmus in bester Haltung, aber — was war mit seinen Augen? Sie glühten und glichen Georgs Augen, als der ... Ihr Herz zog sich ängstlicher zusammen. Wäre nur Josef erst da! dachte sie, alles von ihm erhoffend.

Erasmus nahm ihre Hand, küßte sie sogar und sagte mit seiner dunklen Stimme: „Na, endlich, wir haben einen bärenmäßigen Hunger.“

Renate umarmte Magda. — „Du siehst wirklich vortrefflich aus,“ sagte sie mühsam zu ihm, sich von Magda losmachend, „du solltest immer so gehn, weißt du!“

Er lachte verlegen: es sei etwas warm, — und sie hatte ihn im Verdacht, daß dies gute Aussehn der Grund war, weshalb er sich noch nicht umgezogen hatte. Doch zog es sie nun zum Onkel, sie bat die Andern, auch Ulrika, die hereinkam, um Entschuldigung und ging hinaus, die Treppe hinauf und stand vor der Tür, hinter der sie Schritte hörte. Er ging wieder auf und ab! Nun machte er halt; nun ging er wieder zurück ... Sie öffnete leise und trat ein. Er stand mitten im Zimmer und sah ihr entgegen.

Seine Augen hatten Blick, er sah. Sekunden stand sie fassungslos, ihre Hände falteten sich, sie flüsterte: „Onkel ...“

„Ja,“ sagte er, „ja, was ...“

Er sprach ja! Er sprach ja wieder!

Aber was nun? Josef, oh wärst du da! Sinnverwirrt, angstvoll, die einzige Minute, diese, verstreiche ungenutzt, senkte sie die Stirn, wußte nichts. Als sie wieder aufsah, hatte er sich abgewendet, blickte nach dem Fenster, nach der Straße. — Stand Josef unten? — Sie machte zwei Schritte vor, unten die Straße war leer. — Aber — war er nicht größer geworden? Der seltsame, ganz kahlglatte, hohe und gerundete Schädel, die steile, von den Brauen fast vornübersteigende Stirn und dicht unter den Augen das weiß und glatt nach unten fließende lose Barthaar machten ihn trotz der schwarzen Joppe zu einer Figur der Zeit, aus der sie kam; er glich einem heiligen Antonius oder Hieronymus.

Sie ging nun zu ihm und berührte seinen Arm. Er wandte das Gesicht, ein wenig tiefer als das ihre, mit einem Zucken, sah sie fremd an. Nein, nicht völlig fremd, nicht wie sonst, und — Unruhe ist es, frohlockte Renate, und allen Willen und Einfluß aufbietend, bat sie: „Komm, Onkel, es ist Essenszeit!“ Schob die Hand in seinen Arm, zog und drängte sanft. Er folgte.

Zitternd, sich gewaltsam haltend, weinend, lachend, angstvoll, triumphierend im Innern, führte sie ihn die Treppe hinunter in die Halle. Erasmus stand draußen an der Verandatreppe, an den Eisenpfeiler und die Weinranken gelehnt, herunterblickend auf Ulrika und Magda mit einer fast leutseligen Haltung. Jetzt sah er seinen Vater, die Frauen wandten sich, Renate legte den Finger vor den Mund und sah, wie Erasmus seine erschreckten Züge beherrschte. In der Verandatür, an Magda vorübergehend, flüsterte Renate: „Noch ein Gedeck!“ und führte den Onkel um den Tisch, wo er sich ohne Widerstand auf den Stuhl am weitesten rechts, vor der Seitenwand der Veranda niedersetzte. Sie setzte sich in seiner Nähe mit dem Rücken zum Garten, winkte Erasmus seinem Vater gegenüber und sagte, so leicht sie konnte: „Nun erzähle, Erasmus, wie war es! Hoffentlich hast du nirgend Schaden angerichtet mit deinen Blumen!“

Ulrika setzte sich ihr gegenüber, auch Magda kam herein, dann der Diener, der vor dem alten Mann deckte. Erasmus bewährte sich außerordentlich und sagte, es sei ungemein lustig gewesen. Dann redete er kräftig darauflos, er sei überhaupt der einzige, der richtig begreifen könnte, wie schön so ein Tag sein könne, er plagte sich jahrein, jahraus, daß genug Essen auf den Tisch komme, — oh, er gab sich glänzend preis! — und ob Renate wohl ein einzig Mal bedacht hätte, daß es sein saurer Schweiß wäre, in den sie sich kleidete, niemals dächte sie daran. „Kinder, Kinder,“ sagte er, „was Mädchen, was Mädchen! Eine Zeitlang dachte ich, es wären immer dieselben wie im Theater, wo immer dieselbe Korporalschaft über die Bühne marschiert im Triumphzug des Germanikus, oder war es in Aida?“ Und er fing an zu erzählen, wie sie als Schüler Statisten gemacht hatten, — Renate lachte das Herz im Leibe, wie sie ihn heiter und gelassen die Augen von Einem zum Andern bewegen sah, nur seinen Vater vermeidend, der indessen in sich versunken war, die Hände neben seinem Teller auf dem Tischtuch, ohne etwas zu essen.

Erasmus schenkte Wein ein. Plötzlich sah Renate das Gesicht Magdas, die eben ihr Glas aus Ulrikas Hand nahm, stillstehn, indem sie nach draußen blickte. In die Augen kam Schrecken, Renate drehte sich langsam, von ihrem Onkel abgekehrt, um und sah im Garten Josefs Gesicht, frei, die heile und die schreckliche, rote Hälfte; er trug noch die schwarze Kutte, deren Kapuze hinter seinem Kopf abstand, seine Hände unten waren etwas gespreizt, er sah nicht seinen Vater, sondern seinen Bruder an, vorbei an Renate, die sich langsam wandte. Erasmus setzte eben den Pfropfen auf die Flasche und stellte sie vor sich auf den Untersatz, ergriff sein Glas und wollte sich wohl zu Renate wenden, aber sie drehte sich weiter, — und da saß Josefs Vater und hielt das Gesicht in den Händen. Renate preßte ihr Herz gewaltig zusammen, stand ruhig auf, trat zu ihrem Onkel, faßte nach seinen Händen und sagte: „Josef ist im Garten, Onkel, soll er nicht hereinkommen?“ Und sich zurückwendend, winkte sie Josef mit den Augen.

Jetzt hatte ihr Onkel die Hände fallen lassen, sie sah seine Augen, die erst angstvoll und suchend nach den ihren griffen, aber gleich glitt der Blick weiter, und dort stand Josef, den Kopf etwas gesenkt und sah seinen Vater an. Neben ihm Erasmus war an die Wand zurückgetreten, seine Augen standen auf seinen Bruder gerichtet, als sollten sie ihn durchbohren, Renate sah etwas in seinen geschlossenen Händen, das — nein, das nicht ein Obstmesser zu sein schien! Und da war auch schon wieder das Gesicht seines Vaters, der sich langsam vom Stuhl erhob, während Josef mit seltsam heller und klingender Stimme sagte: „Da bin ich wieder, Vater, aber ich habe mich abscheulich verändert. Laßt euch nicht stören“, sagte er zu Ulrika und Magda, die aufgestanden waren.

Sein Vater fuhr mit der rechten Hand über die Stirn, lächelte und sagte: „Wahrhaftig, Josef! Ich dachte fast, du hättest uns vergessen! Da kommst du ja grade recht zum Essen.“

Josef trat zu ihm, sie drückten sich die Hände, Josef legte seinem Vater einen Augenblick die Linke auf die Schulter, Renate sah, wie der alte Mann sich duckte, seine Lider zitterten, aber er bezwang sich, mit einer ungeheuren Kraft, wie es schien, blickte leicht in Josefs entstelltes Gesicht empor, schüttelte langsam den Kopf und meinte: „Ein Adonis bist du gewesen, mein Junge.“

Josef lachte herzlich. „Du weißt ja, Papa, es ist Adonislos, daß ihn die Evierinnen zerfleischen!“

Sein Vater fiel munter ein und sagte: „Setz dich, setz dich doch, iß und trink und erzähle!“

Da nahm er Renates Stuhl. Sie drehte sich um. Erasmus war nicht mehr da, und sie setzte sich schnell an seinen Platz. Der Diener, der schon gewartet hatte, kam leise und sammelte die Teller ein. Renate faltete unter dem Tisch die Hände, mußte aber unter ihren Gebetsworten bemerken, daß es doch das Obstmesser gewesen war, denn es fehlte. Sie zuckte einen Augenblick, Erasmus nachzugehn, hörte jedoch ihren Namen, blickte rundum, lachte und sagte, atmend aus voller Brust:

„Also wären wir Alle wieder beisammen. Wie lange warst du fort, Josef? Keine drei Jahre, weißt du, schreiben hättest du wohl einmal können, wo du überall gesteckt hast.“

Josef wandte sich halb zu seinem Vater und bemerkte halblaut: „Iphigenie! sie hat sich nicht verändert, oje-oje!“ und Renate merkte, daß sie den rechten Unterarm auf der Tischplatte vor sich liegen hatte, den linken aufgestützt und das Kinn in der Hand.

Ein wenig später war Renate unter fernem Stimmengeschwirr und Lachen sich nicht mehr klar, was sie tat, sprach oder empfand, fühlte sich selber undeutlich in lebhaftester Erregung und Bewegung und hörte nur einmal Josefs Stimme, wie er zu seinem Vater sagte: „Sieht sie nicht aus, als ob sie einen ganzen Nachtigallenschwarm in der Brust hätte, Papa?“ und er sagte noch weiter etwas von Rosen und Lilien ihres Gesichts, die von diesem, unten hineingesetzten Nachtigallenschwarm ins Wanken und völlig durcheinandergekommen seien. Sie hörte ihr eigenes Lachen fern, dann schien es ihr, als sei von ihrer oder Ulrikas Kleidung die Rede, — nein, er beschrieb das mittelalterliche Bild, das er vom Garten aus gesehen habe: Ulrika und Renate in ihren farbigen Kleidern und Kopfzierden, Erasmus im Panzer, der Eremitenkopf seines Vaters, — ein bißchen Veronese, aber sonst ganz ...

Plötzlich stand alles für einen Augenblick still, sie sagte: „Ja, nun müßt ihr aber etwas hören! — Ich habe mich verlobt.“

Es war still geworden.

„Verlobt?“ fragte ihr Onkel leise; seine dunklen Augen standen fest, dann senkten sich langsam die Lider darüber. „So. — Ja, mit wem denn?“ hörte Renate ihn noch leiser fragen.

Erschreckt blickte sie auf Josef, sah den roten Fleck seines rechten Gesichts und die linke Braue leicht angehoben.

„Mit dem Herzog, — Herzog Trassenberg, Onkel,“ sagte sie unsicher, für Sekunden ratlos, was dies bedeute, und fügte mit wankender Stimme hinzu, er habe zwar ihr Wort noch nicht, aber ... Da wußte sie, daß ihr Onkel an seinen Sohn dachte. Sie sah ihn ängstlich zur Seite nach Josef spähn; Josef beugte sich ein wenig zu ihm und sagte ironisch: „Ja, willst du eigentlich nicht gratulieren, Papa?“

Nun stand er langsam auf, aber diesmal, merkte Renate, gelang ihm die Beherrschung nicht, er legte die Hände zusammen und fragte furchtsam: „Josef — verzeih, aber — ich habe immer gedacht ...“

Jetzt rückte Josef, vor Staunen fassungslosen Gesichts, seinen Stuhl nach hinten, sah zu seinem Vater auf, erst wie völlig verwirrt, dann fragend, endlich strafend, und sagte: „Ja, nun brennen alle Kandelaber, Papa! Renate, ists nun hell genug? Ich und du, stell dir vor! Eiweih geschrien!“

Renate lachte, so hell sie konnte, es fiel ihr schwer, da Josef das heile Auge zusammenkniff, wodurch sein Gesicht zu einer scheußlichen Grimasse wurde, aber sein Vater konnte es nicht sehn, und sie atmete erleichtert auf.

„Ja, dann,“ sagte er zögernd, „dann wird der Herzog wohl zu mir kommen wollen?“

Renate nickte und hörte Josef sardonisch fragen, ob er Angst vor Herzögen habe. Nun lachte er gütig, ergriff sein Glas und richtete sich mit Würde auf. „Dein Wohl, mein Kind,“ sagte er, „von Herzen dein Wohl und das seine! Ich werde den Herzog mit viel Freude empfangen, denn von ihm hat man ja nur Schönes und Gutes und —“ Er stockte, und Renate vermeinte, er erinnere sich, daß der Herzog verheiratet war, dann fuhr er mit plötzlich bebender Stimme fort: „— und Edles gehört.“ Das Glas entfiel seiner Hand, Tränen brachen stromweise aus seinen Augen, er drehte sich zu Josef um und stammelte: „Josef! Josef! Mein Sohn ist wiedergekommen! mein Sohn hat mich nicht verlassen, er war tot und ist wieder lebendig — geworden —“

Er brach ab, schluchzend an Josefs Brust, der, selber ganz grade stehend, ihn mit den Armen umschloß, einmal schnell und fest die Lippen auf seinen Kopf drückte und wieder grade stand.

Renate wandte sich glücklich ab und sah den Garten in der Sonne, den hellgrauen Sockel der Uhr und seltsam deutlich den Schatten des Zeigers auf der braunen Metallscheibe; die Stunde freilich war nicht zu erkennen; dann verschleierten sich ihre Augen. Bald darauf hörte sie das Weinen ihres Onkels leiser werden und Josefs liebevolle Frage, er sei gewiß müde, ob er sich nicht niederlegen wolle? — Ja, er sei müde, sehr müde ... kam die Antwort. Sie sah, sich wendend, wie er gebückt, glücklich lächelnd durch nasse Augen, sich von Josef fortführen ließ, und spürte, als habe das Wort ‚müde‘ sie verzaubert, nun eine rieselnde und süße Mattigkeit in allen Gliedern, die zugleich alles umher in Goldstaub und grünes Geflimmer auflöste. Sie überwand sich aber, plötzlich von einer Woge der Dankbarkeit und Liebe zu Josef überspült, rührte seinen Arm an, und da er sich umwandte, so legte sie die Arme auf seine Schultern, hob ihren Mund zu seinem, hatte aber nun so nah und deutlich die stramm gezogne, glatte und rote Haut seiner rechten Wange und darin das Augenloch mit den von allen Seiten zusammen- und hineingezerrten Falten dünner Haut vor sich, daß sie zurückgeschaudert wäre, wenn sie nicht wieder sein heiles Auge gesehn hätte und den Blick von sonderbar weichem Staunen, so daß ihr Mund nun stehn blieb, nicht weit von dem seinen, sekundenlange, während sie lächelte und ihn mit großer Zärtlichkeit anblickte. Zurückweichend, fühlte sie noch, daß er ihre rechte Hand ergriff und, das Gesicht sehr tief beugend, an den Mund drückte, und hörte ihn sehr leise sagen: „Es genügt. Ich habe nun nichts mehr zu wünschen und kann —“

Danach entschwand er ihr; sie verging sich selber in Schlafverlangen, empfand noch, daß sie im Gehen, daß da Ulrikas und Magdas Gesichter waren, daß sie sprach und ferne Stimmen hörte, dann, daß sie durch den Garten schwebte, und endlich, daß sie sehr tief lag. Sie öffnete mit Anstrengung die Augen, hoch über ihr war wunderbares Grün, von Bläue durchbrochen, ganz nahe über ihr Ulrikas Gesicht und das Ende einer Hängematte. Sie wollte die Hand zu Ulrika hinaufheben, brachte es aber nicht fertig, und dann war nichts mehr.

Sechstes Kapitel

Garten

Renate, die Augen aufschlagend, staunte über die Schönheit der Welt.

Vom Schlummer tief erquickt, lag sie im Grase, leicht, ungeblendeten Auges, im Innern zart im Entflüchten abwärts lächelnde, farbige Träume, vor Augen die nahe von allen Seiten herangedrängten grünen Nischen und Bögen von Flieder, Goldregen und Holunder — voll großer, noch grüner Beerenscheiben —, durchspannt von einer leeren Hängematte, durchstochen von langen, haarfeinen Goldstrahlen der Sonne, und nahe gegenüber seltsam schön und nachdenklich die durchsichtigen Züge Ulrikas; sie saß, seitwärts die Knie unterm blaßvioletten Rock, am Stamm der Kastanie; auf der goldenen Tunika mitten vor ihrer Brust brannte in feuriger Stille ein Sonnenfleck; das dunkelrote Haar war wieder in Flechten schwer aufgenommen; sie hatte die rechte Hand neben sich ins hohe Gras gestützt; die linke lag im Schoß zwischen einer großen, grünbeerigen Holunderscheibe und einigen aufgebrochenen Kastanien, grün mit noch weißem, feuchtem Kern. — Glücklich in sich, glaubte Renate sich atmend zu fühlen mit ganzem Leib, wie in der Mutter ein Kind, auswärts strebend nach keiner Richtung, sondern alles in sich habend, Natur und Menschen, Gegangenes und Kommendes. Ich bin glücklich, dachte sie dankbar, nun darf ich es sein! Oh, wie gut ist der Schlaf! Josef ist im Haus, Onkel gesund und froh, und Woldemar fern und nah ... Holunderbeeren ... Wann sah ich die einmal schwarz an Ulrika? Zu Irenes Hochzeit trug Ulrika sie im Haar, ein schwerer, böser Tag, und nun ist doch alles wieder heil.

„Sage, was denkst du, Ulrika?“ fragte sie leise. Ulrika wandte langsam das Gesicht herüber, ihre Augen glitten über Renate hin und blieben stehn; mit einem eigentümlichen Blick von Glücklichkeit und Ferne, den Renate nicht recht verstand, sagte sie: „Ich horche ...“

Bemüht zu lauschen, glaubte Renate in der Kapelle hinter sich Magdas Singstimme zu hören. Allein es war still. Ein kleiner Vogel zirpte entfernt im grünen Dickicht. Meinte sie den? Eine Scheu hinderte Renate, zu fragen.

„Du“, sagte Ulrika nach einer stillen Weile, „hast eine Stunde geschlafen, und ich war glücklich unterweil.“ Sie hob den Stoff im Schoße ein wenig an, so daß Holunder und Kastanien ins hohe Gras rollten, glättete ihr Kleid, ein paar winzige Blätter und Stacheln fortstreifend, und fuhr fort: „Glücklich. Eine volle Stunde. Freilich auch der Vormittag war schön, er war so heiter —, aber all das Bunte war nicht in mir, sondern lose herum, und auch das Glück meine ich nicht, das heiter ist, sondern das ernste. Eine Stunde davon, — vielleicht ist das so viel, wie ein Mensch wünschen darf, wenn ein Wunsch ihm freigestellt würde vom Schicksal. — Und nun geht es wieder weiter.“

Sie sprach sehr gefaßt. Ungewohnt tief klang Renate ihre langsame Stimme. „Sage nun alles“, bat sie schlicht.

Ulrika faltete die Hände um das Knie, lächelte, sah aufwärts, und mit einem Schlage war ihr ganzes Gesicht so heilig, daß Renate auf das tiefste erschrak und sich und alles vergaß, kaum hinzuschauen wagend und bald nur noch hörend.

„All meine Gedanken?“ sagte Ulrika leise. „Ich will es versuchen. Eben stand alles still. Ein Vogel zirpte irgendwo, und mehr war nicht. Die Sonne wanderte, ihre Strahlen kamen schräger, und so füllte sich langsam die Schleuse. Nun steht die Flut bis zum Rand, die Fahrt geht weiter. Es geht langsam im Anfang, da kann ich noch allerlei am Ufer sehn, das geräuschlos zurücktritt, und es dir nennen.

„Von ihm und mir, was früher war, weißt du alles. Zwischen Seele und Seele blieb alles so unverändert, wie ich es dir damals beschrieb, du wirst es noch wissen. Einmal machtest du einen Vers auf ihn, das ist lange her. Ein Selbsterzeugter und ein Selbsterzogner, so hieß es, und daran dacht’ ich heut, als dein Vetter Josef von der Selbstsucht sprach. Auch er hat mir einmal davon gesprochen. Die Bienen, so sagte er, lassen die Giftblumen aus, aber nicht so das männliche Herz im Flug durch die Welt. Auch aus Unrat und Gift den lebendigen Honig zu schmelzen, das ist die Aufgabe des Werdenden bis zum siebenzigsten und achtzigsten Jahr. — Alle seine Worte stehn unverlierbar in meinem Herzen.

„Doch liebe ich ihn nicht. — Ich fürchte ihn vielleicht.

„Zwanzig Jahre und mehr wuchs ich auf an mir selber, glaubte den Anforderungen des Lebens zu genügen, liebte meine Mutter und die Freunde, schrieb Briefe und las, nannte mich stolz eine Dienerin und fühlte daneben immerhin das Fehlende. Ich liebte niemand. Ich wußte es nicht, denn ich liebte die Kunst.

„Er aber liebt nicht die Kunst, und: man darf sie nicht lieben, sagt er, man darf sie nur haben. Zu lieben ist die Welt, Kunst ist nichts. — Der Schatten auf einem Blatt, die Runzel in einer Stirn, an einem Stuhlbein das zögernde Licht, des Baumes Wuchs und große Haltung, die Ebene, menschliches Lächeln, alle menschlichen Verwandlungen durch Trauer und Hoffnung, Trübsal, Geduld, Gram, Leichtheit und Tiefen, die sind seiner ernsten Seele lieb, und über diese gebeugt, macht er sie nach mit einer ungeheuren Kunst, die er hat, daß sie sich wieder erkennen und ihn ansehn und sich verwundern und sagen: Wir sind es. — Und dann sind sie schön.

„Oh, er sah sie so großäugig an, wie liebten sie ihn, sie sahen ihm lange nach, wenn er vorüberging, er wanderte ja tastend im Irrsal, aber er erzog sein Herz. Er diente. Er wurde weit, alles Land zog in ihn ein, Schicksale kamen und schlugen ihre Zelte in ihm auf, der Strom rollte um sein Herz, Vögel brachten Samen, und Bäume schlugen Wurzel auf ihm, und die Vögel spielten auf im Gezweig. Wir sind es! sangen sie, wir sind es! — In seinem Schatten schlief ich ein und war froh.

„Er sagte, er liebe mich, und ich wunderte mich nicht. Er liebte so vieles zu seiner Zeit. Er wollte mein Herz, er sagte, es sei weich, und ich gab es und gern. Er trägt ja das Abbild fremder Gesichter in Büchern nach Hause, und uns sind es Lichter und holdes Gebrause. Er malt sie mit flüchtigem Strich auf den reinen Grund seiner Liebe zum Lachen und Weinen, — wie schön ist die Welt!

„Und alles war gut.

„Alles schien gut, ich wußte es, ich fühlte es nicht. Denn ich war immer nur ein armer Mensch; das, was ich konnte, tat ich wohl, jedoch am Grunde meines Lebens wucherte es fort, die trüben Gedanken, wer kann sie verscheuchen? Denn ich liebe ihn nicht.

„Oh, nicht dies ist es, mein Gott, nicht die Kluft zwischen ihm und mir, nicht daß, wenn er liebend und eifrig sein ganzes Innres vor mich hinschüttete, daß hinter den goldenen Bergen immer die graue Wand sichtbar blieb, daß ich seufzen mußte und sein fernes Herz hören hinter dieser Wand, wo es im Ewigen wandert mit Stürmen und Flüssen, dort, wo ich nicht bin.

„Dies ist es nicht.

„Wenn es still ist und ich lausche, höre ich es von fern. Oh — jenseit ist sein Land, das Allerseelenland; in dem er wandert fern und wohl zu Hause ist. Du kannst es heute sehn und morgen, wann du willst — betreten kannst du’s nicht. Dort ist ein jeder Baum sein Haus, Nachtlager, Traum, und jede Frucht ihm Speise. Oh nein, er hat es selbst gemacht, es ist nur, weil er ist.

„Ich liebe ihn nicht, weil ich ihn niemals genug lieben könnte, weil ich nicht hineingelangen kann dort. In meinen grauen Stunden liege ich davor, die Stirn gebeugt auf die Knie und klage. In den heiligen Stunden lege ich die Stirn gegen seine Mauer und die flachen Hände und fühle im kalten Stein den zuckenden Schlag seines Herzens, denn voll von ihm, so voll ist jenseit die göttliche Luft, daß es den Stein schwellen und tönen macht, — ich aber bin dort nicht.

„Oh, wer kann sich denn genug tun in der Liebe, wenn er liebt? Wer kann jemals aufhören, zu begehren, wo alles unendlich ist! Wer kann sich an die Brust schlagen und sagen: Genug! Wer wollte die Arme breiten um die Welt und sagen: Ich habe! Ich fliege und bin doch kein Vogel, ich flute und bin doch kein Strom, ich singe und bin nicht Gesang, ich brenne und bin nicht die Glut, ich schöpfe und schöpfe mich aus bis zum Boden, und es ist nicht Liebe genug, nicht Liebe genug.“

Ulrika legte die linke Hand unter die linke Brust und sagte nach langer Zeit kaum vernehmbar leise:

„Aber doch ist er zu mir gekommen, und ich — wenn ich nun lausche auf das ferne Pochen seines Herzens, so höre ich es näher und näher, nahe, ganz nahe, und endlich ist es hier; nicht im Herzen, sondern darunter trage ich das seine. Drei Monate sind es bald ...“

Blaß, leuchtenden, schwimmenden Auges blickte sie aufwärts, ihre Lippen zitterten, sie schluckte, dann fiel die Hand unter ihrem Herzen fort, sie setzte einmal, zweimal zum Sprechen an, bis die Worte kamen, ein Hauch:

„Gott! — Gott! — Gott! — Nun habe ich dir alles gesagt, was göttlich und schön war. Rein, rein, rein habe ich es dir hingehalten, habe keine gemeine Schlacke daran gelassen und es gehalten, wie einen schweren Spiegel, vor dein Gesicht. Nun — laß ichs — — fallen.“

Lange war es still. Mit brennenden und vergehenden Augen richtete Renate sich langsam auf, kniete, bückte sich auf Ulrikas Hand und küßte sie. In demselben Augenblick stürzte sie seitwärts mit Gesicht und Brust so schwer auf den Boden, daß Renate ein leises Dröhnen durch die Knie bis zum Herzen zittern fühlte. Die Luft war noch ganz voll von dem leisen Gesang der Liebe; Renate, hülflos auf die Daliegende blickend, weinte vor sich hin und sah mit grenzenlosem Mitleid diese goldenen Arme und die Hände über ihren Kopf lang hin geworfen, so daß sie dalag wie eine Angespülte. Schicksal und alles hatte sie ausgegossen und verströmt und war nun wohl so leer in dünner Hülle, daß der Schritt der Stunde, der sie träfe, einbrechen müßte; aber vielleicht stand die Stunde still, getraute sich nicht und ging leise einen andern Weg.

Renate wagte es endlich, legte sich zu Ulrika, faßte nach einer ihrer Hände; aber wenn sie auch neben einer Gestürzten lag, so empfand sie doch nur, daß sie ihre eigne, geringe Demut zu einer unendlich größeren gebettet hatte, und daß die Hülflose immer noch wie ein Engel war gegen sie. „Weine nicht, oh weine nicht!“ bat sie. Ist nicht Josefs Vater heil und gesund, fragte sie sich, Rettung suchend, ist nicht dieser Tag sonnig, begünstigt, was kann denn nur fehlen?

Ulrika setzte sich auf, auch Renate mußte es tun und sah, daß Ulrika nicht Tränen geweint hatte. Ihre Augen waren heiß, aber trocken, sie griff nach ihrem Haar, steckte eine gelockerte Flechte fest und sagte ruhiger:

„Was wußten wir von Kindern, Renate! Sage die Wahrheit! Sie kommen und sind da wie so vieles in der Welt, Häuser, Blumen, sind Freude oder Plage, und wir wußten wohl, daß wir eine bestimmte Beziehung zu ihnen haben sollten, aber wir bedachten es nicht. Im Gegenteil, man hat uns so erzogen, daß wir alles eher bedenken als sie. Du freilich bist klüger als ich, aber ich gehörte doch zu denen, die nichts wissen, denen am Hochzeitstage ihre Mutter weinend um den Hals fällt und unverständlich von grausigen Dingen spricht. Eine von denen, die beim Einrichten der neuen Wohnung hin und wieder so etwas hören wie: Vorläufig genügen ja vier Zimmer, aber wenn erst Kinder kommen ... Und man hört das nicht, denn hier ist — wie sagte dein kluger Vetter? — eine Lücke im Gesichtsfeld, die weiß der Himmel mit Keuschheit so viel zu tun hat wie der Teufel mit Gott.“

Renate, die unter unklarem Empfinden zustimmen mußte, hörte sie immer härter und zorniger weitersprechen:

„Und wenn wir auch dies und das in Büchern gelesen haben, um zu wissen, du wirst es ja zur rechten Zeit immerhin getan haben, wie ich es nicht tat, so lasen wir doch nur, — wie man auch von einer Löwenjagd liest, ohne zu denken, daß man je dazu kommen könnte. —“

Sie schwieg grüblerisch, Renates Gedanken waren weit fortgeeilt, sie faßte wieder Ulrikas Hand und sagte eilig: „Du, sage doch gleich: soll ich Magda bitten, daß wir nach Helenenruh fahren, wenn es soweit ist? Du weißt, ihr gehört Helenenruh, und —“

„Du weißt ja noch nicht alles,“ unterbrach Ulrika, aber sie lächelte danach und sagte: „Du bist doch ein praktisches Mädchen, Renate, ich hatte das gar nicht gewußt.“ Wieder dunkler blickend, fuhr sie fort:

„Ich fürchte mich vor dem Kind, ich erschrak zuerst namenlos, und noch heut kann ichs nicht glauben.“ Ihre Augen glänzten stumpf, als sie sagte: „Wir werden von bösen Geistern erzogen, Renate, zum Grimm erzogen, und —“ sie jammerte jetzt fast — „was soll ich mit einem Kind? was weiß ich von einem Kind?“ Sie lachte plötzlich verzerrt, ja grausam, indem sie schloß: „Ich hab nun schon seit Wochen die Vorstellung, daß ich sehe, wie mein schwarzer Flügel Kinder bekommt, immer eins nach dem andern.“ Sie brach schluchzend ab und verbarg ihr Gesicht.

Da merkte Renate mit leisem Schauder, daß etwas in ihr war, das dies nicht an sich herankommen lassen wollte. Sie wehrte sich Augenblicke lang besinnungslos nach zwei Seiten hin, und plötzlich stand der Herzog vor ihr. Entsetzt sprang sie auf, glühte und stieß rauh hervor: „Nein!“ Sie streckte die Hände von sich, krallte wild die Finger, biß sich auf die Lippen und sagte wieder: „Nein!“ und ein drittes Mal: „Nein!“ Sie sah Ulrika vor sich stehn, unbegreiflich dunkel glühte ihr das rote Haar. „Was sagst du?“ hörte sie von einer fremden, nahen Stimme und stammelte: „Was hast du gemacht, Ulrika, um Gottes willen, was hast du ...“

Dann wurde sie ihrer bewußt, rüttelte sich hart zusammen, strich mit der rechten Hand den linken Arm hinunter, mit der linken den rechten, schloß einen Haken am Halsausschnitt, zog am Saum der Tunika über den Knien und arbeitete unterdes mit gewaltiger Anstrengung innerlich an einem Koloß, der aus dem Wege sollte und mußte, und dann hatte sie ihn aus dem Weg. Eine schneidende Stimme zwischen ihren Schläfen sprach: Das war Unsinn. — Mit flackernden Augen und zitterndem Mund sagte sie zu Ulrika: „Man denkt diese Dinge nicht, man tut oder läßt sie.“ Noch brauste es um sie, sie stand frierend im warmen Schatten und sah einen feinen Sonnenstrahl durch das Laub, vorüber an einem zitternden Blatt, dessen Spitze er vergoldete, nach dem Stamm der Kastanie stechen, wo ein talergroßer Sonnenfleck erschien und drinnen, sehr deutlich und ganz hell, die Flecke und Falten der Borke. Rundherum war Grün und Schatten.

„Ja, und nun ist es genug,“ sagte sie kalt, „komm, sprich nun weiter, du Gute!“ und zog sie, an den Boden gleitend, mit sich nieder. Ulrika zauderte noch mit besorgten Augen, besann sich eine Weile und fing ruhig an zu sprechen:

„Damals, vor drei Monaten, schrieb ich an meinen Mann. Er lag damals vor Valparaiso, der Brief reiste ihm nach und erreichte ihn erst in Deutschland. Ich schrieb ihm, daß — daß wir ja nie verheiratet waren, daß ich bei ihm geblieben sei, weil er sagte, daß er mich liebe, und es wollte; daß ich nie gewußt hätte, was das heiße für ihn; daß ich seine Güte kaum begriffe, die nie gefordert habe, obgleich er doch im besten Vertrauen auf mein Wissen und meinen Willen vor Jahren den Bund mit mir schloß, dessen Erfüllung ich dann verweigerte; und dann schrieb ich, daß ich nun alles verstünde, weil ich selber liebte; daß ich ihn um Freiheit bitten müßte ... Mehr wagte ich damals nicht zu schreiben; es war ja auch wohl alles, für mich war es das, — freilich, was wissen wir von den Gedankengängen eines Andern?

„Dann kam er. Ein wortkarger Mensch war er stets, jetzt brachte er kaum ein Wort heraus. Seine Haut war braun von Meer und Sonne, aber es schien kein Blut darunter zu sein, sie war grau. Wenn es sein müßte, sagte er, so solle ich einen Andern lieben; meine Pflicht sei freilich, diese Liebe zu bekämpfen, doch sei das meine Sache, er habe ja mein Herz nicht in der Hand. Aber daß ich einem Andern gehören solle, das wäre nicht zu ertragen. Er ließe mich nicht frei.

„Vielleicht glaubst du, daß es in diesem Augenblick viel schwerer gewesen sein müßte, den Mut zu haben, den ich vor Monaten nicht hatte. Es war wohl auch kein Mut, es war — die Henne verjagt den Habicht blindlings, — hieß es nicht so? — Ich war eiskalt vor Angst, aber ich sagte ihm die Wahrheit.

„Er kam auf mich zu und sah mich nur an. Oh sein Gesicht, sein Gesicht! Laß! laß!“ rief Ulrika, die Hände vor den Augen. Sie ließ die Hände fallen, sah vor sich hin und sagte: „Wie Asche von Papier, so war es. Dann ging er hinaus. Er ist bei meiner Mutter gewesen und hat wohl den Namen erfahren. Aber das war vorgestern, bei Benvenuto ist er nicht gewesen, auch weiß niemand sein Haus, selbst seine Eltern wissen nur ungefähr, wo es liegt, und — du lieber Gott,“ schloß sie kopfschüttelnd, „was könnte Benvenuto geschehn!“

Seltsam klang Renate auf einmal der Name Benvenuto im Ohr, — als sei der Maler plötzlich ein andrer Mensch dadurch geworden, zarter gleichsam und nicht mehr so abgewandt. Indem sah sie Ulrikas stille, traurige Züge sich heben und von einem Lächeln kräuseln, als ob sie jemand ansehe, und hörte sie gleich darauf sagen: „Sieh da, Jason!“

Richtig — Renate wandte sich — stand dort Jason, halb verdeckt vom Buschwerk wie ein guter Geist der Gewächse, schwarz gekleidet, sehr weiß von Gesicht durch das Grüne ringsum; so nickte er von oben auf die im Grase Sitzenden mit freundlich glänzenden, schwarzen Augen und sagte: „Ein schöner Anblick, ihr Beiden, das muß ich sagen.“

Renate, ein wenig hochmütig über diese äußerliche Art, zu sehn, sagte, wie ihr selber schien, einfältig: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt, Jason.“

„Es sieht doch aber gut aus,“ versetzte er beharrlich, „ihr kennt nur viel zu wenig meine Vorliebe für schöne Gegenstände. Jetzt zum Beispiel habe ich Lust, Brahms’ deutsche Tänze zu hören. Ich glaube fast, ich bin deswegen hergekommen.“

Renate blickte kopfschüttelnd und forschend Ulrika an, aber die erhob sich gleich, stand frei da und sagte: „Gern, Jason, wenn Renate will ...“

Da dachte sie, daß Jason doch wohl insgeheim das Rechte meine; daß es gut sei, eine Zeitlang die Ohren mit schönem Geräusch zu füllen und das Herz zu erleichtern, sie nahm Ulrikas Arm und wollte sie durch das Gebüsch auf den Weg ziehn, doch mußte sie sich noch einmal umdrehn, da sie Jason sagen hörte: „Was liegt denn da?“

Im hohen Grase lagen zusammen eine Schildpattspange Renates, eine Holunderdolde und zwei grüne Kastanien, ein seltsam armes Häuflein, wie Spielzeug von einem Kinde, das plötzlich fortgerufen wurde.

„Blumen, Früchte und eine Spange,“ sagte Jason, sich bückend, nahm die Spange auf und gab sie Renate, indem er leicht bemerkte: „Das übrige Spielzeug kann da liegen bis nächstes Jahr; vielleicht findens dann andre Kinder und spielen damit.“

Jason wußte, schiens, wieder alles.

Kapelle

Sie saßen in der Kapelle an den beiden Flügeln, im rechten Winkel zu einander, so daß sie sich sehen konnten, und spielten ohne Noten einen der heiter und festlich stampfenden Tänze nach dem andern, zuweilen sich zulächelnd, so daß Renate heitrer gestimmt, wenn Ulrikas Gesicht leicht emporgedreht von ihr abgewandt war, durch die laute Musik wieder ihre leise, fast nur atmende Stimme hörte, mit der sie den reinen Gesang ihrer Liebe aus sich schöpfte.

„Bravo,“ sagte Jason, als sie geendet hatten, „das hat mir sehr gefallen. Es ist doch sehr sonderbar und kaum zu begreifen, wenn man so vier Hände sieht, immer zwei ganz für sich, springend hin und her, greifend und tanzend, und dann diese ordentliche, sinnreiche Musik hört. Aber dieser Brahms ist nun weiß Gott und wahrhaftig wie schöne Kleider. Darin ist er Feuerbach wieder ähnlich, Feuerbach ist auch lauter schöne Kleider und kein Herz.“

Renate blickte sich um; Jason saß über ihr auf dem Drehstuhl vor der Orgel, hatte das rechte Schienbein quer vor sich auf den linken Oberschenkel gelegt, ganz hoch, und hielt es mit beiden Händen wie ein delikates Instrument.

„Kein Herz,“ sagte sie, „Jason, das geht zu weit, — aber —“

„Ach, ich habe mich wohl auch versprochen,“ unterbrach er sie, „ich meinte irgendeinen andern Gegenstand mit H —, warte, wir werden das gleich haben, Halsband, Handwerk —“ er zählte, innerlich suchend, weiter —, „Herrlichkeit, Hintertür, Hoheit, Humor! das wollen wir nehmen,“ schloß er blinzelnd und zufrieden, „und nun, was wolltest du sagen?“

„Ja, nun weiß ichs nicht mehr,“ lachte Renate. „Ulrika, vielleicht weißt du es.“

Ulrika, die Hände vor sich auf dem Tapet, sah aus, als ob sie eifrig nachsänne. Jason aber war aufgestanden. „Ja. — Ja, gewiß,“ meinte er zerstreut, vor sich hinsehend, „allein ...“ Er ging die Stufen hinunter, hielt an, sah angestrengt mit gerunzelter Stirn gegen den Fußboden und ging plötzlich durch den Raum und hinaus.

„Was hatte er denn?“ fragte Ulrika. Renate machte, ohne denken zu können, ein paar Griffe im Baß, formte einen Übergang, hörte gleich darauf Ulrika in der Mittellage einfallen, und dann waren sie, ab und zu einander mit Frage und Bejahung anblickend, im leichten, verfließenden Durcheinander der kunstlosen Verknüpfungen und Lösungen, die sie sich aufgaben und ausführten, bis wieder Jason zwischen ihnen stand und gewillt zu sprechen schien. Sie hörten auf, und er sagte zu Ulrika:

„Es wird doch besser sein, wenn du jetzt gehst. — Ich habe Reinhold gebeten, vorzufahren,“ sagte er leicht zu Renate hinüber, „möglicherweise ist es eilig. Aber du mußt dich nicht sorgen, Kind, ich kann mich auch irren“, endete er ermunternd, indem er die linke Hand auf Ulrikas Schulter legte, die still saß und gradeaus blickte. Sie stand nun wortlos auf, war aber sehr weiß im Gesicht, nickte Renate fremd lächelnd zu und ging mit Jason hinaus.

Renate sah sich an der niedern Brüstung des mittleren Fensters stehn, die alle drei weit offen waren. Nur Grün, nur Grün ... murmelte sie, hinausblickend. Oben hing ein Stückchen Himmelsblau herein wie eine Fahne, und Renate murmelte wieder, tief beklommen: Die letzte Fahne vom Fest ... Sie fröstelte mitten in der Wärme. Nun erinnerte sie sich des Onkels, — ob er noch schlief —? Und sie sah ihn sich weinend zu Josefs Schulter bücken und sah Josefs schnelle und feste Bewegung und die gepreßten Lippen, als er den Kopf neigte und ihn küßte und wieder grade stand. — Überflutend plötzlich wünschte sie inständig nach oben: Wäre doch der Tag schon zu Ende! — Warum bin ich nicht mit Ulrika gefahren? fragte sie sich unwillig, wandte sich nach einem Geräusch hinter ihrem Rücken um und sah Jason wieder eintreten. „Du bist nicht mit ihr?“ fragte sie enttäuscht.

Er antwortete nicht, und sie spürte etwas Erleichterung, weil er geblieben war. Jason ging zu Ulrikas Flügel, setzte sich davor, legte leise den Deckel nieder und drückte einmal fest und weich die Handflächen darauf. — Muß ich denn jetzt überall etwas wittern? fragte Renate sich ängstlich und verdrossen, — aber was dachte ich denn bei diesem Schließen von Ulrikas Klavier? — Sie wollte sich Worte Ulrikas ins Gedächtnis zurückrufen, aus jenem schönen Augenblick, wo sie lag und sang, fand aber kein Wort mehr und sagte nur zu Jason: „Ulrika hat vorhin von der Liebe gesprochen, so wundersam ...“

Jason nickte ein-, zweimal langsam mit dem Kopf, indem bemerkte Renate, daß er nicht mehr den Kopf schüttelte, und rief hocherfreut: „Was ist mit deinem Kopf, Jason?“

Er faßte nach der Stirn. „Ist etwas?“ fragte er unsicher.

„Das Schütteln, Jason, wo ist es?“

„Das Schütteln?“ fragte er. „Ach, es ist fort? Siehst du, ich habe es gewußt und habe es gesagt,“ fuhr er fröhlich fort, „die Zeit, prophezeite ich, wird es an sich nehmen, man muß nur zu warten verstehn und nicht immer denken, das, was gerade geschieht, ist das All- und Einzige, was überhaupt geschehen kann; es kommt vielmehr immer noch andres, immer noch andres, das ganze lange Leben hinunter, und mit dem Tode ist das wirklich auch nicht alles so sicher, wie die Lehrer sagen. — So, hat sie von der Liebe gesprochen? Das ist schön. Es wird so viel Mißbrauch getrieben mit der Liebe.“

Renate, dankbar und beruhigt, ihn nur sprechen zu hören, glitt auf die Fensterbrüstung und fragte, da er schwieg: „Inwiefern, Jason?“

„Zum Beispiel sagen manche, Liebe müsse auch treu sein. Ja, wie kann sie denn? Muß sie denn nicht sein, wie sie will, hat sie nicht einen Anfang, mitten im Leben des Menschen, und muß also ihr Ende haben? Ist sie nicht eine sonderbare Gabe, die keiner kommen sieht, keiner sich verschaffen kann, mit keiner Münze und mit keiner Kunst, und da wollt ihr sie nun verhaften und binden? Wenn sie kommen darf, muß sie nicht auch gehen dürfen? Ist sie nicht mehr ein Gefühl? Da sprechen Andre zum Geliebten: Wir lieben uns Beide, aber ich liebe dich mehr, und du liebst mich zu wenig, und heute liebst du mich nicht wie gestern und die andern Tage vorher, aber du hast mir Versprechungen gemacht, und wenn ich dir nicht glauben kann, kann ich dich auch nicht mehr lieben. Dann sagen sie auch: Du hast mir Liebe geschworen, und nun liebst du an andrer Stelle, was soll das bedeuten? und mit alledem verändern sie ihre eigne Liebe, machen sie groß und klein, je nachdem, und indem sie drüben dies und jenes fordern, tun sie doch selber jenes und dies. Oder auch da heiraten sie und zeugen Kinder und meinen, damit drückten sie nun ihre Liebe aus. Sie schmieden Pläne und haben schöne Gedanken, sie streiten herum, weinen und versöhnen sich, sie verdienen Geld, kochen und backen, mieten Wohnungen und sitzen viele Tage über Tapeten und Kücheneinrichtungen, und all das halten sie für Gestalten ihrer Liebe, und nun, es ist da wohl etwas Richtiges, denn es ist göttliche Eigenschaft, alle Gestalt annehmen zu können, sie aber wollen den Gott verhaften und binden mit dieser Gestalt, verhaften und binden, und martern sich selber allein und wissen nicht, daß der Gott alsbald auch wieder die Gestalt verläßt und kehrt nach Hause und wohnt bei sich selber. So ist die Liebe ein Gefühl, wohnt allein im Gefühl und läßt ihrer nicht spotten. Ulrika hat wahrlich die wunderbare Demut erlernt, denn sie liebt nur, sie liebt. Lieben, solange der Odem reicht, nicht fragen nach Gegenstand und Erwiderung, nach Plage und Wonne, nur ganz und gar sich darbringen, unverlangt und ungelohnt, wer hat euch das gelehrt? Und dann, Renate, danach, so Gott will, wirst du nach deinem Ende in eine schöne Blume verwandelt werden, deren Anfang dein Ende ist, eine Sonnenblume vielleicht, aber auch die einfache Primel trägt ein deutliches Zeichen an ihrem gelben Kleid, daß sie die Sonne sieht und nichts sieht als die Sonne, jene uralte, der dein weißer, zarter Freund Ech-en-Aton Stadt und Tempel baute, die an demselben Tage, wo er starb, verlassen und gestürzt wurden, dieweil die Menschen gehorchen und vergessen, er aber von ihrem Wege wich und in die ewige Verwandlung einging. Komm, Renate, wir wollen in den Garten gehn.“

Lindenallee

Wie schön war es nun, im Garten umherzugehn! Zu ihrer völligen Beruhigung legte Renate die linke Hand auf des kleineren Jason linke Schulter, und so gingen sie schweigsam und friedfertig auf den kleinen, engen Wegen, an der Veranda vorüber und um den Rasenplatz. Dem Haus gegenüber, an dem ihre Augen hinaufglitten, blieb Renate vor einem überraschenden Bilde stehn. Im Schlafzimmerfenster des Onkels war, nicht hoch über der Fensterbank, sein hoher Kopf und weißer Bart zu sehn, wie sie ihn des öftern während dieses Sommers sitzen gesehn hatte, da er den Blick von oben auf den Garten zu lieben schien; jetzt blickte er zu Josef auf, der in der linken Fensterhälfte ein wenig zurückstand und rauchte und sprach, die rechte Hand gegen den Rahmen gestützt, und in dieser Haltung beugte er sich eben vor und ließ mit klopfendem Zeigefinger ein Stück Asche von seiner Zigarre tropfen, wobei er Renates gewahr wurde, nickte und winkte, und jetzt wandte auch der Onkel die stillen, dunklen Augen her, lächelte und nickte. — Welch ein Frieden, ach, welche Erleichterung!

Schon im Weiterschreiten glaubte Renate im Fenster über den Beiden, dem des Erasmus, etwas zu gewahren, ging aber weiter, hörte Jason etwas sagen und sah währenddem aus dem unkenntlichen braun und grauen Haufen auf der Fensterbank, den sie bemerkt hatte, den Kopf und die eisenbekleideten Schultern des Erasmus werden, als ob er hinter der Fensterbrüstung kniete, eine sinnlose Vorstellung, da Erasmus in der Fabrik sein mußte. Es mochte ein Stück seiner Rüstung gewesen sein. — Sie fragte Jason, was er gesagt habe, und hörte ihn wiederholen, indem er stehen bleibend sie zum Halten zwang:

„Ich fragte, ob du dich eigentlich über nichts wundertest, wenn du mich solche Sätze sagen hörst wie soeben.“

Seine gedämpften, leise fragenden, ganz wenig ironisch zusammengezogenen Augen unter sich, versetzte sie: „Nein, Jason, ich finde es immer so schön, daß ich zu keinem andern Gedanken komme.“

„Das,“ sagte Jason, die Stirn senkend, „das ist es. Du triffst den Nagel auf den Kopf wie immer. So schön, daß ihr euch nicht das geringste dabei denkt, das tut ihr, ja, das tut ihr, oh welch unsagbar kümmerliche Einrichtung!“ Mit unendlichem Bedauern den Kopf wiegend, wanderte er weiter, indem er sagte: „Ich weiß es alles und trage es in schönen Perioden vor, ich, der ich kein andres Leben mehr habe als eben dies, zu wissen und zu sagen, und die Andern leben es, und das heißt: sie leben es nicht. Sie wissen nichts, auch du, wenn du in irgendeiner solchen Lage bist, auf die meine Sprüchlein passen, erinnerst du dich dann vielleicht des langmütigen Jason und seiner blühenden Erkenntnisse? Nein, denn dann seid ihr alle höchlich kurzmütig, dann ist da nur die fassungslose Geschwindigkeit, nur die Lage ist eben da, blindlings muß gehandelt werden, keiner besinnt sich, keiner befolgt andern Ratschluß als das brennende Verlangen seines gepeinigten Herzens, — ja, könntet ihr wohl an einem meiner Sätze gehn wie an einem sichern Geländer, könntet ihr darauf reiten oder fahren, wenn eure Füße müde geworden sind? Hundert und tausend Menschen kenne ich wohl, denen ich und meine Reden immer willkommen sind, aber würde vielleicht ein einziger dadurch klug? — Man hört, sagt ja, spricht von andern Dingen und vergißt, und dieses nennt man das tägliche Leben.“

„Es ist deine Schuld, Jason,“ sagte Renate mit leichter Wehmut, stehen bleibend vor den ersten Sonnenblumen an der Rückwand der Kapelle und undeutlich dies und jenes bedenkend, woran die zu stolzer Neigung erhobenen kleinen und strengen Antlitze sie erinnerten. — „Es ist deine Schuld, denn du sagst es zu schön. Du sagst es, wie soll ichs nennen, sanft einschläfernd. Du bist zu gut, Jason.“

„Und wäre ich böse, Schwester Sonnenblume, wer denn, glaubst du, wollte mich hören?“

Schwester Sonnenblume — tönte es seltsam in Renate nach, wer hatte das einmal zu ihr gesagt? Ach, sie selber hatte einmal eine Sonnenblume so angeredet an jenem Tage, wo Sigurd —, wo die Todesnachricht von Esther kam. — „Nun, was giebt es denn da?“ hörte sie Jason indem halblaut sagen und wandte sich.

Innerhalb der kleinen Lindenallee in der Nähe der Kapelle stehend, über die Kohlköpfe und Erdbeerpflanzungen des kleinen Gemüsegartens hinweg sah sie die rote, häßliche Rückwand des Herzbruchschen Hauses im Schatten, dann hinter dem Zaun eine Bewegung in dem dichten Holundergestrüpp, dessen Zweige schwerbelaubt und doldenvoll herüberhingen. Irenes blonder Kopf und schwarze Schultern wurden jenseits sichtbar, sie schien einen schweren Gegenstand durch das Buschwerk zu heben und zu drängen, einen Stuhl, und Renate fragte sich verwundert: Will sie herübersteigen? es ist doch eine Tür da! — Indem erschien am Ende der Lindenallee eine abenteuerliche Figur in schwarzem, faltig zerknittertem Hemde von Kaliko und brennendroten Strümpfen mit gerollten Wülsten unterhalb der Knie, und das wild aussehende, rote und schwarzbärtige Gesicht war das von Klemens, der, ohne sie und Jason zu sehn, stehen bleibend nach Irene hinüber starrte, deren Gesicht eben deutlich im Blätterwerk auftauchte und still blieb, gegen Klemens gewandt. Klemens schwang jetzt ruckweise einen und den andern Arm, stieg mit weiten Tritten über die Beete, hielt mitten und schrie außer sich Irene an:

„Was wollen Sie denn schon wieder? Wollen Sie mich bis ans Ende der Welt verfolgen? Sie — oh Sie, ich leugne diesen Vorfall, ich leugne ihn, ist Ihnen das noch immer nicht klar geworden? Soll ichs Ihnen beibringen?“

Mit zwei Sprüngen war er am Zaun, Irene streckte die Arme aus, über den Zaun zwischen ihnen faßten sie sich und fingen an sich zu küssen, so daß Renate vor besinnungslosem Staunen die Augen nicht abwenden konnte, und erst als sie gar nicht aufhören wollten, drehte sie sich, die Unterlippe zwischen den Zähnen, weg, sah den unverwandt und sehr teilnehmend das Schauspiel betrachtenden Jason neben sich, wollte etwas äußern, fühlte aber seine Hand am Arm, und er sagte, ohne den Kopf zu heben, leise: „Scht! man spricht nicht in der Tragödie.“

War das Ernst oder — —? — Sie wagte es, wieder zum Zaun zu blicken, da stand Klemens allein und keuchte, in den Büschen rauschte es noch. Er wurde jetzt der Beiden ansichtig, schüttelte den roten und schwarzen Kopf mit blinden Augen wie ein Stier, versuchte zu lachen, starrte an die Erde und kam langsam zwischen den Beeten heran. Vor ihnen blieb er stehn, stützte sich wie vorm Umfallen an einen Stamm und sagte: „O Gott!“ und noch einmal: „O Gott!“ so zerbrochen, daß Renates Herz klopfte. Dann sah er verloren auf, betrachtete seinen Ärmel, faßte den Saum mit den Fingern und wischte sich mit dem schwarzen Zeug überm Handrücken die Schweißtropfen von der Stirn.

„Nein,“ sagte er endlich, „geleugnet kann es wohl doch nicht werden, und nun kann ich ja hingehn und meinen Freund umbringen.“

Er schluchzte haltlos auf, die Tränen liefen ihm hell übers Gesicht. Mit beiden Händen am Leibe nach Taschen tastend, schien er seinen Anzug zu bemerken und schnob: „Der verfluchte Mummenschanz! Der verfluchte Mummenschanz ist an allem schuld!“ trocknete sich die Augen mit den Händen und blickte Renate trostlos an.

„Es war ja schon das zweite Mal,“ sagte er leise; „wenn wir uns sehn, geraten wir aneinander, so oder so. Ja, wie bin ich denn hier hereingekommen?“ fragte er, stecken bleibend.

„Ich vermute,“ sagte Jason ruhig, „Sie wollten eigentlich ins Herzbruchsche Haus, und da Sie an diesem vorüberkamen, sind Sie in Ihrer Verwirrung hineingegangen, weil Sie’s kannten.“

„Das wird es gewesen sein“, versetzte er stumpf.

Am Ende der Lindenallee tauchte Irene auf; im schwarzen, wehenden Kleid, kam sie leicht und schwebend daher.

„Hören Sie nur,“ sagte Klemens, der sie nicht sah, „ich habe sie immer geliebt. Aber das ging mich allein an, und sie haßte mich ja, ich sie auch wegen ihrer lächerlichen Lebensführung.“

Irene, nicht mehr weit von ihnen, blieb stehn, faltete die Hände unter der linken Brust, sah zugleich schmerzlich und beseelt und fast glücklich aus.

„Da hatten wir heut morgen wieder einen Zweikampf, oder mittags meinetwegen. Ich war den ganzen Vormittag draußen gewesen, um zum Großherzog zu gelangen, konnte nicht zu ihm und kam todmüde zu Herzbruchs. Da fingen wir wieder an, uns wegen dieses verfluchten Zeuges zu zanken, — es durfte ja keiner ohne Kostüm draußen herumlaufen, da bekam ich dies geliehn, und sie verhöhnte mich wegen meiner Teilnahme an dynastischen Festen, und da —“ Indem drehte er sich seitwärts und sah Irene dastehn.

„Ich war bei meinen Eltern,“ sagte Irene leise, „aber es ist niemand im Haus. Da kommst du wieder, und es ist wohl recht, und — da bin ich.“

„Zu mir?“ fragte Klemens entsetzt. „Da sei Gott vor! Und dein Mann?“

„Ich — du — zu meinem Mann schickst du mich?“ fragte sie leiser. „Und ich war doch schon da ...“

„Schon ...? Bist du ...? Was hast du denn da gemacht?“ stöhnte er.

„Ich habe ihm gesagt, daß ich nun nicht mehr bei ihm bleiben könnte. Es war schrecklich ...“

Renate suchte ängstlich nach einem Ausweg für sich, aber Irene kam nun zu ihr, faßte ihre Hand, und Renate fühlte, daß sie innerlich zitterte.

„Was sagte er?“ fragte Klemens.

Irene, heftig Atem schöpfend, brachte heraus: „Nichts. Gar nichts. Er saß da und — sah mich an. Da bin ich wieder gegangen.“

Klemens hob die geballten Hände und schüttelte sie und schluchzte: „Du! schämst du dich denn nicht?“

„Eins, zwei, drei, marsch,“ sagte Renate kräftig, „entweder Sie beherrschen sich jetzt, Herr Doktor, oder Sie gehn Ihres Weges, Punkt.“

„Klemens! Klemens!“ flüsterte Irene angstvoll, aber er bearbeitete seine Stirn mit den Fäusten und weinte in sich hinein.

„Es fällt ihm ja so schwer, sich zu beherrschen,“ flüsterte Irene an Renates Ohr, „wir müssen Geduld haben.“

Überdem wurde er still, ließ die Hände fallen, blickte Irene verstört an und sagte: „Meinst du denn, ich wollte meinem Freunde seine Frau wegnehmen? Meinem Freunde, von dem ich alles habe, was ich bin? Das einzige, was er hat?“ Er kam auf Irene zu, sie streckte die Hände aus, er packte ihre Handgelenke, schüttelte sie rasend, drehte um und stürzte den Weg hinunter wie ein Trunkener. Irene hob, ihm nachsehend, ihre Handgelenke, wischte um die roten Eindrücke und sagte leise: „Du tust mir unrecht, Ot—, Kle—“ Sie schrak zusammen und flüchtete sich zu Renate.

„Ich habe noch niemals“, sagte Jason ganz ergriffen, „an einem sonst vernünftigen Menschen ein so schreckliches Verhalten bemerkt. Und nun kehrt er wieder um.“

Klemens kam wieder zurück, ruhiger, wie es schien, blieb ein paar Schritte entfernt stehn und sagte:

„Noch ein Wort, Irene. Du befindest dich in einem Irrtum, denn: ich glaube dir nicht. Ich weiß von Otto, daß du seine Frau gar nicht gewesen bist, daß du ihn betrogen hast; endlich bist du zu ihm gegangen, und das war aus Angst vor mir, zu dem du nun von ihm wegläufst. Das genügt mir. Wenn du doch Kinder hättest! Dann könnt’ ich denken, du hast wenigstens deine Pflicht getan. Aber so — bloß mit einem Manne gelebt und gelacht und geschlafen, und jetzt das selbe mit mir —, und dann wirst du eines Tages kommen und sagen, du hättest dich wieder geirrt — so wie damals mit deiner Gottesmutter.“

„Warum so hart?“ sagte Renate, da sie Irene heftiger zittern fühlte, doch ließ die jetzt ihre Hand los und fragte: „Geirrt? wie meinst du das?“

„Ich meine,“ versetzte er und jetzt nicht ohne Haltung und Würde, „daß du damals ebensogut wie zu Otto zu mir hättest kommen können. Mich kanntest du freilich nicht und hättest mich schwerlich da gesucht, wo ich lag. Aber krank war ich auch, Pflege braucht ich auch, um genau dieselbe Zeit.“

Irene flog auf ihn zu, lachte, faßte seine Schultern, rief ganz erlöst: „Klemens! Aber dann wissen wir’s ja! Dann bin ich falsch gegangen! Dann war’s meine Schuld! Dann ist ja alles gut!“

Ohne sich zu bewegen, sah er sie an und versetzte: „Das meinst du! Ich finde aber, diese Erkenntnis kommt dir etwas spät. Wievielmal, sage, willst du denn noch fehlgehn? Sicherheit will ich. Deine Ehe und meine Freundschaft — all das soll hin sein? Sicherheit! Glaubst du, daß ich so eines Aberglaubens wegen der Dritte sein will?“

„Der Dritte?“ fragte sie zurückweichend.

Klemens warf einen Blick auf Renate und sagte: „Hattest du nicht einen himmlischen Bräutigam zuerst? Da gab dir der Himmel ein Zeichen, und du nahmst einen Andern. Nun erzählst du mir, das Zeichen war falsch, und kommst zum Dritten. Das soll ich glauben? Waren denn Otto und ich die einzigen Kranken in der Stadt? Wirst du nicht morgen kommen und sagen: Das Zeichen war falsch, es hieß überhaupt, daß ich Krankenschwester werden sollte? Darum sage ich —“ Er brach ab, sein Gesicht wurde weich, er sagte erschüttert: „Gott verzeih mir, Irene, ich bin zu hart zu dir gewesen. Das war wohl Unsinn, was ich geredet habe, aber auf all das kommt es ja gar nicht an, und auf unsre Liebe kommt es nicht an, sondern nur auf die Treue. Ich halte sie, ich halte sie, und wenn ich in Stücke gehe. Vergieb mir, vergiß mich! Aus uns wird nie was. Leb wohl!“ Er drehte sich schnell um und ging den Weg hinunter und verschwand. Irene stand hülflos.

„Vielleicht“, hörte Renate Jason neben sich sagen, „wunderst du dich nun, indem du meiner Reden gedenkst. Welch wunderbare Erläuterung! Wie hinfällig sieht doch die ganze schöne Liebe aus, vom Gesichtspunkt der Treue aus betrachtet.“

Sie machte vergebliche Anstrengungen, das Ganze zu begreifen, entschied sich vorläufig zum Mitleid mit Irene, zog sie an sich und fragte: „Was soll nun werden?“

„Ich kann nicht weiter“, erwiderte sie erschöpft, widerstand aber Renates Bemühung, ihren Kopf an die Brust zu ziehn, stumpf zu Boden blickend.

„Ja, nun — immer gleich helfen lassen“, sagte Jason. Irene blickte ihn fragend an. „O nein, nein, Kind,“ fuhr er gelassen fort, „möchtest du vielleicht Redensarten von mir hören? Nun sag uns nur einmal: warum willst du nun durchaus von deinem Mann fort?“

„Ach, Jason, du bist furchtbar,“ seufzte Irene, „glaubst du denn auch nicht, daß ich Klemens liebe?“

„Aber wie denn? Hab ich das gesagt? Er hat es doch selber anerkannt, daß du ihn liebst. — Ach so, nun willst du ihn auch heiraten. Ja, weißt du, das ist doch aber eigentlich etwas viel verlangt.“

Irene richtete sich auf. „Ich will ihn nicht heiraten. Ich weiß nur, daß ich bei Otto nicht bleiben darf. Herrgott, wie mir das jetzt unaufhörlich in Augen und Ohren brennt! Da kam Klemens zur Tür herein, damals, und dann hat er schon gebrüllt, und ich lauter, und dann wurde ich wie Holz, und dann war alles Haß. Jason, kann denn ein Mensch so schauerlich verblendet sein? Wie soll ich das jemals wieder gutmachen? Er spricht von seiner Freundschaft, ich hab sie nicht verstanden. Von meiner Ehe, — ich hab sie nicht verstanden, ich verstehe mich selber nicht, wie soll ich da wissen, was zu tun ist? Und nun —“ schloß sie, sich zusammenraffend, „nun will ich zu meinen Eltern.“

Sie nickte Renate und Jason zu und schritt ganz leicht und schwebend in ihrem schwarzen Kleid zwischen den Beeten hindurch zum Zaun, öffnete die Tür und verschwand.

„Ist es zu begreifen, Jason?“ fragte Renate vor sich hin. „Sie lieben sich und bekämpfen sich doch.“

„Sie bekämpfen einander nicht,“ sagte Jason verloren nach oben blickend, „sie bekämpfen nur immer sich selbst — durch den Andern. Sie stehen in Rauch und Flammen und suchen einen Brandstifter. Sie wollen jeder das Seine und lassen sich immer hindern. Wäre ich nicht so leicht,“ schloß er leise, den Kopf senkend, „wie, meint ihr, müßte alle Last meines Wissens mich zu Boden drücken. Oder nein,“ verbesserte er sich trübe, „ich bin der Schwere, denn die Wahrheit ist immer leicht — für den, der sie nicht braucht.“

Renate hörte ihn wehmütig an, sah auf einmal ihre Hände, in die sie verloren hineinblickte, fand sie unsauber und erinnerte sich, daß sie sich im Ankleidezelt der Burg zuletzt gewaschen hatte. Gleich ergriff sie der Wunsch, zu baden, mit unerklärlicher Heftigkeit, sie setzte sich in Bewegung, Jason ging schweigend mit, so kamen sie ins Haus, wo ihnen Magda begegnete, Renates lavendelblaues Kleid über dem Arm.

„Könntest du mir wohl helfen?“ bat sie verlegen lächelnd. „Ich habe mir doch dein Kleid für heut abend zurechtgemacht, aber hier am Ausschnitt will es nicht sitzen ...“

Renate, bereitwillig lächelnd, setzte sich in einen Sessel der Halle, nahm das Kleid auseinander, hob aber den Kopf und sagte: „Bitte, Kind, erlaube, daß ich mich eben etwas wasche, ich komme dann gleich und helfe. Wie spät ist es eigentlich?“

„Es wird sechs Uhr sein,“ meinte Magda; „willst du nicht bleiben, Jason?“ fragte sie ihn, der an der Tür stand.

„Richtig, wohl,“ versetzte er mit nachdenklich auf Renate gerichteten Augen, „ich kann auch bleiben.“

Renate wollte sich erheben, indem kam er zu ihr, sah immer nachdenklicher auf sie herunter, beugte sich dann und küßte sie auf die Stirn. Sie litt es lächelnd und erfreut, sah ihm nach, wie er zur Verandatür ging und dort stehen blieb, stand auf, nickte Magda zu und ging hinaus.

Siebentes Kapitel

Garten

Georg, in einer dumpfen, ihn selber dunkel befremdenden Verfassung, betrat sein Zimmer und stand minutenlang zwischen dem Schreibtisch und den Fenstern im leeren Raum, der Tür zum Speisezimmer zugewendet, leise erstaunend über die große Pracht der Nachmittagsonne, die nebenan hinter den geschlossenen Vorhängen den Flügel, die Wände, Vitrine und die gläserne Apsis sehr geheimnisvoll und edel erscheinen ließ. Die Sonne, dachte Georg, ist dieselbe wie am Vormittag, nur aus einer andern Richtung, aber mein Herz drehte sich ganz herum nach unten. „Nun, Egon, bist du wieder da? Wie war es denn?“

Warum spreche ich so leise? Wunderte sich Georg. — Egon versicherte, es sei fabelhaft gewesen. Im Garten, sagte er, warte ein Herr, Herr Dr. Klemens ... Georg nickte, bat Egon, sich in einer halben Stunde bereitzuhalten, und konnte wieder nicht laut sprechen. Ich konnte es doch eben, dachte er, setzte sich vor den Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hand; — aber ich glaube, es kostete mich eine furchtbare Anstrengung ... Er hörte sich wieder die Rede halten im Ständehaus: „... keine Versprechungen, meine Herren, es schiene mir lächerlich, das Vertrauen, mit dem Sie nach mir blicken mögen ... Nur die sichtbare Gestalt des Mannes, den ich mit tiefster Scheu und Ehrfurcht Vater nenne, dessen jahrelanges Wirken, unermüdlich zum Wohle ... Nur er, dessen kräftiger Unterstützung ich tief bedarf und in dieser ernstesten aller Stunden erbitte ...“ Ach, dachte Georg, das war schön, das war schön! Wie es mir die ganze gelernte Rede mitten zerriß, weil er groß und mächtig dastand in dem roten Waffenrock und mir das Herz zum Springen füllte mit heiliger Sehnsucht und Liebe ... Nein, mein Gott, wenn ich der wirklich wäre, der ich sein soll, ich glaube nicht, daß ich nur halb das empfinden könnte, was ich nun empfand.

Vor ihm erschienen die bärtigen Altmännergesichter, Kneifer, Kahlköpfe, vielen Fräcke im großen Ständehaussaal, alle Arme gingen hoch, er hörte seinen Namen gerufen ... Er schauderte nach. Seine Blicke, an ihm heruntergleitend, ließen ihn die hellblaue Uniform gewahren, in der er steckte, er lächelte und dachte: Nein, diese im Viereck aufmarschierten Dragoner und Füsiliere, die waren doch nur sonderbar, ebenso wie die krähende und überlaute Stimme, welche die Eidesformel verlas. Tüchtig war’s wohl, die Hurras knallten wie mit dem Hammer festgenagelt, man müßte sie noch sehen können an der Wand. — Ja, nun werde ich wohl erst eine Weile Soldat werden müssen, vielleicht ist es das beste. Vater kann ich nicht verlieren, kann’s nicht, kann’s nicht. Aber gut, daß es schwer ist. Wenn es leicht wäre, was wäre es dann? Er sprang auf, riß Haken und Knöpfe der warmen, engen Uniform auf, ging zum Bücherbord, hob einen kleinen Band aus der Tiefe, las mit verschleierten Augen die goldenen Buchstaben B. Cellini, küßte sie hastig, stellte den Band fort, richtete sich grade auf und ging in den Garten.

Auf der Bank am Wasser saß ein Mensch, den Kopf in Händen, rote Strümpfe an den Beinen. Als Georg ihm näher kam, sah er empor, erhob sich, hatte ein schwarzes Kalikohemde an und war Klemens; sein Gesicht war so bleich mit roten Flecken, und die Augen flackerten, daß Georg, ihm die Hand reichend, fragte, bemüht, laut zu sprechen: „Ist Ihnen etwas, Klemens?“

Klemens wehrte hastig ab und sagte heiser und sich räuspernd: „Danke, nein, danke! — ja! mir ist nicht grade wohl, aber — es kommt jetzt nicht darauf an.“

„Setzen Sie sich doch,“ bat Georg, „oder wollen Sie einen Schluck Wein?“ Allein Klemens schüttelte den Kopf, er tränke keinen Alkohol.

Wer ihm denn dies Zeug gegeben habe, erkundigte sich Georg, um die Stimmung ein wenig zu heben. Es sei das Letzte gewesen, was er habe kriegen können, meinte Klemens, er habe Georg ja am Vormittag draußen gesucht, sei aber nicht zu ihm gelassen worden, und als ein Bekannter ihm Zutritt zur Burg verschafft habe, sei Georg nirgend zu finden gewesen.

„Da saß ich am Waldrand und schlief,“ meinte Georg gelassen, „und nun, was habe ich verschlafen?“

„Das“, bemerkte Klemens mit einem hastig prüfenden Blick, „kommt auf Sie an. Das heißt,“ setzte er hinzu, „das soll heißen, daß es dabei keinesfalls auf mich ankommt.“

Georg, da er nicht begriff, schwieg. Klemens blickte eine Weile geradeaus, wandte sich mit einem Ruck zu Georg und sagte: „Da wir bisher, ich darf wohl sagen, gute Freunde waren, eine grade Frage, — um das Ganze zu vereinfachen: Glauben Sie, der zu sein, für den Sie gelten?“

„Nein“, sagte Georg ruhig.

„Schön, eine grade Antwort,“ fuhr Klemens fort; „also, wenn ich Ihnen dies heut morgen als Neuigkeit mitgeteilt hätte, so würde es Sie in Ihrem Wege nicht abgelenkt haben?“

„Heute vormittag? Nein.“ Wie ruhig ich bin, dachte Georg; ja, all dies hat nun längst seine Erledigung gefunden.

Klemens, der wieder nachgedacht zu haben schien, sagte: „Wenn ich versuche, mich an Ihre Stelle zu setzen, so kann ich allerdings nicht sagen, daß ich wie Sie gehandelt hätte. Sie aber sind anders aufgewachsen, das heißt —“

Georg erriet seine Frage und antwortete: „Mein Vater und ich wissen es selbst erst seit zwei Jahren und einem halben. Meine Mutter erfuhr es nie. Sie sind in schönen gemeinsamen Stunden mein Freund geworden, wenn ich das sagen darf —“ Klemens nickte freundlich, „ich brauche vor Ihnen nichts zu verbergen. Daß ich gekämpft haben muß, wird Ihnen klar sein. Aber Sie haben recht, wenn Sie sagen, ich sei anders aufgewachsen. Daran lag es. Über alldas sprechen wir vielleicht später einmal, wenn Sie — weiter mein Freund bleiben werden ...“

Er hielt ihm die Hand hin, Klemens ergriff sie fest und, wie es schien, mit großer Rührung; er behielt sie noch, drehte sie hin und her, lachte kurz und sagte: „Sie bemerken eigentlich nichts an dieser meiner Hand?“

Georg sah sie an, Klemens machte die Finger grade, es war eine schöne, kräftige, nicht eben kleine Arbeitshand von ungemeiner Lebendigkeit.

„Was soll ich bemerken?“ fragte Georg.

„Daß es nicht die Hand eines Freundes, sondern eines Bruders ist. Wir hatten dieselbe Mutter.“

Georg zuckte leise zusammen, sah in das dunkle, bärtige Gesicht mit der fleischigen, groben Nase, dem schönen Kinn und Mund im Bart und mußte langsam lächeln, dann erröten. — Ich erröte ja wieder, durchzuckte es ihn, — wie lange nicht! Seit meiner Kindheit.

„Ja, dann sollten wir wohl du zueinander sagen, wenn du mir nichts vormachst“, sagte er leise.

„Die geistige Brüderschaft“, meinte Klemens lachend, „wird wohl doch die größere sein.“

Sie ließen sich los, saßen sekundenlang Beide in der selben Verlegenheit, bis Georg glaubte, seiner Würde die leichtere Haltung schuldig zu sein, und sagte: „Also sprich, was du zu sagen hast, ich habe kaum eine Viertelstunde mehr bis zum Umziehn, aber du kannst ja dabei zusehn und weiterreden.“

„Es wird am besten sein,“ meinte Klemens, „du selber sagst mir, was du weißt.“

„Ja, ich weiß fast nichts“, sagte Georg. „Und all das zu erklären, was ich weiß, würde lange dauern. Du kannst es später alles geschrieben lesen. Jedenfalls: wer meine Eltern waren, weiß ich nicht, ich wurde hier in der Nähe von Altenrepen geboren, nur der ehemalige Verwalter meines Vaters, Chalybäus, wußte davon. Meine Mutter soll gestorben sein; im selben Hause lag die Frau meines Vaters, sie brachte ein schwächliches Kind zur Welt, und ich wurde —“

„Das Kind war meine Schwester Virgo“, sagte Klemens.

„Mein Gott, ist das wahr? Das ist ja wunderbar! Das war —?“

„Virgo,“ wiederholte Klemens trübe; „dafür, daß ich einen Bruder bekam, habe ich nun eine Schwester verloren.“

„Unsinn!“ tröstete ihn Georg, „was könnten Sie denn da verloren haben?“ Klemens lächelte wieder. „Höre, —“ sagte Georg, „dann ist dir vielleicht auch eine sonderbare Frauensperson bekannt, die bei meiner Geburt eine Rolle gespielt hat; Nassja hieß sie und hatte ein T-förmiges Kreuz —“

Klemens nickte, während er sein Kleid unter der linken Achsel aufknöpfte und aus einer Westentasche ein zusammengeknifftes, altes und schmutziges Papier und ein Notizbuch hervorzog.

„Anastasia Petrowna Schischin, schreib Zizin,“ sagte er, „sie brachte seinerzeit Virgo ins Waisenhaus, besuchte sie auch; ich kannte sie und wurde nicht selten von ihr besucht und unterstützt, als ich aus dem Waisenhaus gelaufen war. Sie wurde über vierundachtzig Jahre alt, vor anderthalb Jahren etwa ist sie gestorben. Letzthin besuchte ich sie seltener, sie wohnte an der russisch-polnischen Grenze und schmuggelte Leute drüberweg. Sie war der wortkargste Mensch, den ich je gesehn habe, aber sie machte sonderbare Andeutungen, die ich nicht verstand und daher vergessen habe. Es muß aber etwas von einem vornehmen Verwandten gewesen sein, das warst du also. Wie es scheint, hat also sie diesen Brief hier geschrieben.“ Er zog einen alten, abgerissenen Briefbogen aus dem Umschlag. „Dieser Brief ist von meiner Mutter. Er befand sich in einem Bündel Kinderkleidchen Virgos, hier diese russischen Buchstaben auf dem Umschlag bedeuten: für meine Tochter, wenn sie erwachsen ist. Scheinbar hat die alte Rüdiger, Virgos Ziehmutter, diese Anweisung geachtet, denn der Brief kam geschlossen in Virgos Hände, als sie vor ein paar Wochen, in Muttergefühlen, das alte Bündel hervorholte. Ja, nun hat sie ja Zwillinge —“ Klemens strahlte. „Ich“, fuhr er, Georgs Ungeduld bemerkend, fort, „nahm den Brief an mich, weil ich Russen kenne, traf aber keinen von ihnen, vergaß den Brief auch, bis ich zufällig gestern den Almanach sah und ihn fragte, ob er russisch verstünde. Er hat mir dann den Brief übersetzt; gegen seine Mitwisserschaft wirst du wohl nichts einzuwenden haben.“

Georg, den Brief in der Hand, verfolgte die verwischten Bleistiftzeilen, die russischen Buchstaben, die er nicht verstand, sah am Ende die Unterschrift, zittrige Linien, wie die ersten Schreibversuche eines Kindes, und dachte wehmütig, daß dies die Schrift seiner rechten Mutter sei, solch ein welkes Blatt ... spät ihm zugetrieben.

„Ist das der Name?“ fragte er leise.

„Ja,“ sagte Klemens, „Krotkaja oder Kaja Moscherowska —“ Georgs Blick fiel ab.

Ganz deutlich standen im dämmrigen Raum der Kerzenflammen die drei schwarzen Femrichter der letzten Nacht, und eine helle, fremde Stimme sagte: Kaja Moscherowska ... Georg fiel innerlich zusammen, er hatte einen widrigen Geschmack im Mund. „Ist dir nicht gut?“ hörte er fragen. Da saß Klemens. Indem kamen Schritte auf dem Kies, Georg wandte sich und sah Egon dastehn. „Ich komme“, sagte er und stand auf. Er bemerkte den Brief am Boden, nahm ihn auf, fragte dann schwach: „Also was steht in diesem Brief?“ Klemens sagte: „Es steht drin, daß meine Mutter nicht eine Tochter zur Welt brachte, sondern einen Knaben, — der du bist ...“

Georg versuchte, zu überlegen. Etwas schien ihm an diesen Zusammenhängen noch zu fehlen, aber sein Denken war jetzt gelähmt, er verschob es auf später. Allein — da stand wieder Klemens und beanspruchte noch Aufklärungen. In einem unerträglichen Ekelgefühl riß er den Brief in kleine Stücke und ließ sie wegfliegen.

„Es ist genug“, sagte er leise. „Komm morgen zu mir. Ich sage dir dann alles, was ich weiß.“

Da war diese elende Müdigkeit wieder. Eine Mutter hatte er nun, ach, er kannte sie ja sogar, auf Virgos Schreibtisch stand ihre Photographie, ja, sie war schön, sah etwas slawisch aus, es war irgendein Rollenbild, ja, die Gräfin im Figaro, glaubte Virgo, und Georg sah die schönen schwarzen Zöpfe um jene Züge vom ‚reinsten Ebenmaß‘, wie Chalybäus es ausgedrückt hatte, schmal, die Mandelform der Augen und Virgos hochmütige Nase, nein, es war ja nicht Virgos, es war die seiner — seiner andern Mutter. Plötzlich glaubte er zu empfinden, wie das Bild seiner Mutter ihn ansah und zu sich zog ...

Dann, langsam neben Klemens den Weg hinaufgehend, fühlte er immer deutlicher und peinlicher neben der Erscheinung seiner Mutter einen dunklen Hohlraum. Ja, dort fehlte ein Vater, und Georg kam sich namenloser vor als vorher.

Im Arbeitszimmer gab er Klemens die Hand. „Du warst die Nacht nicht hier im Hause?“ mußte er plötzlich fragen.

„Ich? hier im Hause? Was sollte ich —“

„Entschuldige nur,“ lächelte Georg, „mir fiel etwas Dummes ein. Alles andre später, wenn’s dir recht ist, nicht?“ Klemens nickte ernst. „Ich werde meinem Vater sagen, daß er eine Tochter bekommen hat, das wird ihn freuen.“

„Obendrein wo sie schon Zwillinge hat,“ bemerkte Klemens mit ermunterndem Lächeln; „also auf Wiedersehn, vielleicht seh ich dich morgen bei Virgo?“

Georg nickte, drückte ihm die Hand, sah ihn die Stufen hinaufgehen zur Tür, öffnen, nickte noch einmal lächelnd und stand stumpf, nachdem die Tür geschlossen war. Egon war wieder da; er faßte vorn nach seinem Uniformrock, schlug ihn auseinander, Egon hob schon die Arme, um zu helfen, aber er riß den Rock plötzlich mit Gewalt wieder auf die Achseln und ging heftig durch das Zimmer nach nebenan. Er öffnete die Tapetentür neben der Schenke, drehte die Lichtkurbel, ging den schmalen Gang hinab und betrat die Sternwarte durch die kleine Tür. Drinnen war der Sonnenschein, breite, tausendfach flimmernde, goldleuchtende Balken, schräge von den bleiverglasten Rundbogenfenstern hernieder. Mitten in einem von ihnen stand funkelnd der Leuchter mit herabgebrannten Stümpfen von Lichten. Sonst war nichts. Georg lief dumpf und zornig die eiserne Wendeltreppe hinauf, Becher und Kanne standen auf dem Steintisch, sonst war nichts. Langsam stieg er wieder hinunter.

Den Gang schwerfüßig zurückgehend, sah er an der zugefallenen Tür zu seinem Eßzimmer etwas glänzend Blaues, Schillerndes. Beim Näherkommen ward es ein schöner, sehr großer Schmetterling von stark leuchtendem metallischen Blau, der dort steckte, und die Nadel hielt zugleich eine weiße Seidenschleife mit drei langen Bändern. Georg sah Schriftzüge auf dem einen, hob es an und las: Saint-Georges, in großzügigen, steifen, ein wenig ausgeflossenen Lettern. Er hob das zweite Schleifenende, und es stand in ganz steilen Buchstaben, deren große wie Maste und Fahnen waren, darauf: Josef Montfort. Auf dem dritten Bandende las er Jason al Manach, in kleiner, sehr zierlicher und ganz runder Schrift, die aus lauter Kreisen zu bestehen schien. —

Georg nahm das schöne, tote Tier vorsichtig ab und trug es hinaus. Sich im Schlafzimmer findend, wußte er nicht wohin damit; er ging durchs Badezimmer, die Tür zu dem besonderen Gemach war angelehnt, Georg trat vor das Himmelbett, schlug das leichte gelbliche Gewölk auseinander und heftete den blauen Falter auf das reine, weiße Kopfkissen.

Soll ich nun lachen, oder soll ich weinen? fragte er sich, das sonderbare Andenken der Nacht betrachtend.

Haus

Renate hatte alle Fenster im Erdgeschoß geöffnet, aber es blieb schwül in den langsam dunkelnden Zimmern. Sie ging durch die Räume hin und her, im Garten stand noch die Helle, kein Blatt bewegte sich, die Luft war lau und feucht. Sie stand lange an der Verandatür, auf die Sonnenuhr hinabschauend, und dachte: man müßte sie eigentlich verhängen bei Nacht wie einen Vogel, der nur am Tage singt. — Sonderbar verlassen und entseelt schien ihr der Zeiger in seiner Einsamkeit ohne Schatten, steif und schräge dastehend, wie er mußte. Sie fragte sich verworren: sind auch nicht vielleicht wir ganz Andre in den Stunden, wo das Licht uns nicht trifft und der Schatten uns verließ? — Alles gute Getier aber hüllt sich in Schlaf bei der Nacht; die es nicht tun, sind böse oder betört wie Nachtigall und — Katze und — — Dunkelfalter, fand sie noch, sich umwendend. Und das, dachte sie matt, ist auch wieder so eine Jasonische Erkenntnis, die man in der Hand hält und nichts damit anzufangen weiß ...

Sie ging durch die nie gebrauchten, fremden Zimmer der toten Hausherrinnen zur Straßenseite hinüber. Die Laterne brannte schon drüben, bleichgelb im Hochsommerzwielicht. — Da bin ich auf einmal ganz allein im Hause, dachte sie verwundert, das war ja noch nie seit bald zwei Jahren! — Aber Erasmus ... Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Wenn ich nur bestimmt wüßte, daß er nicht im Hause ist! Und wie komm ich doch nur auf den Gedanken? — Da merkte sie, daß sie nur nach oben lauschte, daß sie schon oft gelauscht hatte. Sie wollte entschlossen zum Flur und fragen —, nein, die Dienstboten waren ja alle zur Illumination fortgeschickt. Hinaufgehn? — Aber das wagte sie nicht, aus Angst, ihn wirklich oben zu finden. Erasmus läßt sich entschuldigen, sagte der Onkel beim Abendessen, sie hörte es deutlich wieder, und sie wußte nicht, war er im Hause oder in der Fabrik, fragte nicht und hörte Josefs Vater begütigend zu ihm sagen: Wir wissen ja, daß er zu allem längere Zeit braucht als wir Andern ... Ja, guter Gott, wie schnell hatte der Onkel sich in alles gefunden! wie leicht war es, seine Gedächtnislücken durch ihn selber füllen zu lassen, und Josefs zerstörtes Gesicht schien er so wenig zu sehn, daß auch Renate sich bald daran gewöhnte. — Wie munter sie gewesen waren! — Renate hörte sich von ‚Heliodora, lächle mal‘, von ihrer Elefantenfahrt erzählen, und Magda wurde geneckt, daß sie mit Großherzögen zu Balle wollte ... Und auf einmal waren sie samt und sonders auf und davon. Der gute Onkel! Die Freude ließ ihn nicht im Haus, vielleicht wollte er den Heimgekehrten zeigen, — und wie mühelos gelang es ihr und Josef, ihn zum Anschaun der Illumination und des Maskenfestes im französischen Park zu verlocken ... Und ich war so tödlich müde, — das Bad muß schuld daran gewesen sein, denn nun bin ich wacher als je ...

Sie wanderte wieder durch die Zimmer zur Halle zurück, erschrak ein wenig vor ihrer eigenen, weißen Erscheinung im schon dunklen Hohl des Spiegels, trat nahe daran, um Mut zu zeigen, und sah ihre Augen fast schwarz und entfernt hinter den dämmrigen, entfremdeten Zügen. — Wäre Jason geblieben, oh, stundenlang sollte er reden! aber nun hatte er sich mit den Andern irgendwie verloren. — Renate fiel ein, daß er sie geküßt hatte, und ihr wurde sonderbar ums Herz. Es freute dich doch, sagte sie zu sich selbst, nun suchst du wieder Bedeutungen! — Da sah sie Jason in der Kapelle Ulrikas Klavier schließen. — Ulrika, wo bist du, was ist mit dir? — Überall gehen Dinge vor, die ich nicht weiß! Es ist ja fast wie damals, als Doras Mann am Zaun stand und ich nichts wußte, und dann kam das Entsetzliche. — Nun erwartete sie wieder ein Kind, — Renate grübelte, aber was Dora empfinden mochte, fand sie nicht, nur verworrene Trauer. — Was war nur mit Ulrika? — Ach, nun hat sie wieder kein Telephon! War etwas mit ihrem Mann? — Sie sah Ulrikas heilig bleiches, innen glühendes Gesicht und hörte ihre seltsam sausende, beseligte Stimme Worte der Liebe singen. Und sie fand ein Stück davon wieder und summte, Augenblicke lang sich vergessend und heiter: Und uns sind es Lichter und süßes Gebrause, — wie schön ist die Welt!

Der Morgen war doch so schön! — Das Einhorn! — Wie sonderbar erschreckte es mich! — Armer Georg, wie war er erst glücklich! — Aber statt Georgs erschien ihr sein Vater an ihrem Frühstückstisch des Morgens. Er war so ungeschickt, er hatte fast keine Haltung, und sie freute sich leise, — wieviel leichter wäre es gewesen, sie zu haben, als sie zu verlieren, — Georg verlor die seine keinen Augenblick. — Und Irene und Klemens stürzten aufeinander los wie — ja wie Achill und die Amazone, um sich mit Küssen zu töten. Und dies war nun der Sinn vom Haß ...? Georges — Renate blieb stehn.

Georges, wo bist du denn den ganzen Tag? fragte sie fast laut. Böse auf sich selber, sagte sie sich, daß sie ihn kaum entbehrt hatte, aber so sonderbar war er doch nie! Jetzt weiß ichs, jubelte sie auf, ich fahre zu ihm! Ich werde ihn fürchterlich bestrafen. — Aber sie bewegte sich nicht. Bin ich angewachsen? fragte sie, sekundenlang gelähmt. Sie hob den Fuß, ihr Herz pochte, sie ging vorwärts. Es ist besser, ich telephoniere mit Irene, oder Anna kann hinüber ... ach, es ist ja niemand da! Ein jählings überquellendes Verlangen, eine Stimme zu hören, trieb sie zum Telephon, schon die Hand am Hörer besann sie sich vergeblich, welche Nummer sie jetzt rufen sollte, Georges’ oder Irenes, dann schämte sie sich und bezwang sich. — Sie stand wieder in der Veranda, es dämmerte nun, sie lief plötzlich die Stufen hinunter zur Uhr, erfaßte den Zeiger, bückte sich und legte die Wange auf die Metallplatte, einen Augenblick erquickt von der Kühle.

Renate ging wieder ins Haus hinauf, durch die Halle, die Zimmer, und sah auf die leere Straße. Beleuchtet, durchscheinend hellgrün hingen die schweren Laubmassen der Ulmen über der Laterne. Jetzt gab es ein Geräusch in der Ferne, es wurde schnell lauter, ein Automobil, es rauschte, — kamen sie schon zurück? unmöglich! — Begierig neigte sie sich vor, es war doch wenigstens ein Ereignis, und sie zitterte, es könnte nicht in die Straße einbiegen. Da toste es nahe, schoß, ein flacher, offner Wagen, fern links hinter den Vorgärten hervor und bog ein. Es rauschte näher, breit fächerten die mächtigen Strahlenkegel über die Straßen in die Gärten zu Fenstern und Hauswänden, im Brennpunkt glotzten grell die riesigen Augen, geblendet sah sie undeutlich eine einzelne Gestalt im Rücksitz, da stand es stampfend und klirrend still neben der Gartentür zu ihrem Hause. Die dunkle Gestalt erhob sich, Renate sah einen großen Radmantel, auf der Schulter ein weißes, ausgezacktes Kreuz und erkannte den Kopf des Herzogs. Und augenblicks im Gefühl, daß sie ihm irgendwann am Tage einmal unrecht getan habe, lehnte sie sich weit hinaus und rief: „Woldemar!“ stieß sich vom Fenster zurück, lief zur Tür, durch den Flur, riß die Haustür auf und lief die Stufen hinunter ihm entgegen.

Bei ihrem Anblick blieb der Herzog stehn; einen Schritt vor ihm hielt sie inne, die Hand ausstreckend.

„Da bist du!“ sagte sie, leise vor Ergriffenheit, „es ist wunderbar, daß du kommst! Mir war so seltsam angst.“

„Angst, Renate, dir?“ hörte sie ihn fragen, selig über seine gute, ruhige Stimme, die ihr über alles wohltuend schien. Sie zog ihn an der Hand mit sich ins Haus, machte Licht im Flur und staunte, als unter dem fallenden schwarzen Seidenmantel die rote Johanniteruniform zum Vorschein kam, die linke Brust obendrein strotzend beladen mit Orden, und das Ganze überspannt mit farbigen Schärpen.

„M—m!“ machte Renate, „weißt du, — wir sind ja zwei Schöne! Aber Herzog, wie groß ist dein Kopf! Das kommt von dem engen Kragen!“

Der Herzog hob beide Hände hoch, in der einen seinen Stock, in der andern den losgehakten dünnen Degen. „Laß mich um Gottes willen zu Worte kommen,“ flehte er, „sonst geschieht ein Unglück. Du hast ja keine Ahnung, keine Ahnung, weshalb ich komme!“

Renate schluckte gewaltsam die Enttäuschung hinunter. Nicht meinetwegen? dachte sie, lachte indes fröhlich und fühlte sich ganz kalt. „Aber komm nur erst ins Zimmer“, sagte sie noch lachend, ging in die Halle voran und machte Licht.

„Nun los,“ sagte sie, sich zurückwendend, „die Trommel gerührt, das Pfeifchen gespielt, was giebt es Gutes?“

Seine Augen funkelten; wie seine Brust von Kreuzen und Sternen, strotzte sein ganzes, gerötetes Gesicht von Gelächter und Glückseligkeit, und Renate rief sich innerlich scheltend an: Er ist da, er ist glücklich über und über, und du bist bloß gekränkt, daß er nicht deinetwegen kommt, schäme dich! Sie sah ihn zum Sprechen ansetzen, aber seine Augen schienen ihm die Rede abzuschneiden, er brachte endlich heraus: „Du! Es ist schwer, dich anzusehn und nicht zu küssen.“

Sie lächelte ihn kalt an und sagte: „Das weiß ich. Es wäre mir aber lieb, wenn du dich auch in dieser Beziehung anders bezeigtest als die Andern. Komm, laß uns sitzen.“

In einen Sessel gleitend, hörte sie ihn laut lachen, dann saß er ihr gegenüber, den Stock quer über den Knien, beugte sich vor, bat: „Rate doch! Tu mir den Gefallen und rat, was ich gekriegt habe!“

Renate tat ihm den Gefallen und riet: „Einen Orden.“

Er freute sich wie ein Knabe, lachte schallend, klimperte an seiner Brust und sagte: „Ein großer Mummenschanz, Renate.“

Da mußte sie hellauflachen, sie schlug die Hände zusammen und rief: „Sagte ich es nicht? Wörtlich, genau wörtlich hast du’s eben gesagt, wie ichs heut mittag hörte, als ich mit den Elefanten fuhr! Also keinen Orden? Ja, dann vielleicht — einen Großherzog?“

„Bei Gottes Thron!“ rief er, „beinah richtig, einen Sohn habe ich bekommen, Renate, einen richtigen Sohn, und was mehr? Eine Tochter! — Und was mehr? — Zwei Enkel, männliche Söhne, eben geboren, Zwillinge! Gott sei Dank, nun weißt du’s!“ Er setzte sich zurück und rollte triumphierend den Stock über die Oberschenkel hinunter und hinauf.

„Nun, das glaube, wer Mut hat“, versetzte Renate, gänzlich begriffsverwirrt. „Das mußt du mir er—“

„Erklären?“ Er hob Arm und Handfläche und schüttelte sie heftig. „Nimmermehr! Kein Mensch findet da mehr hindurch. Aber fest steht: Georg ist mein richtiger, echter, natürlicher Sohn, — das heißt, verzeih! wirklich: natürlich, wie man sagt ...“ Er schloß ernst und mit leiser Stimme: „Von einer Frau, die ich sehr liebte, so gut ich das damals verstand.“

Renate machte verwunderte Augen, da sie dachte, daß jene Kinder zur gleichen Zeit geboren wurden, und er hatte ihr doch gesagt, daß er damals die Herzogin liebte. Er schien dies empfunden zu haben, denn er sagte hastig:

„Du mußt es recht verstehn. Ich erzählte dir von der Frau, der Sängerin, mit der ich meine erste Reise machte. Ich trennte mich von ihr, aber sie wollte es nicht verschmerzen, sie — kurz, ich war einen Monat vor meiner Hochzeit noch einmal bei ihr, Abschied zu nehmen, wie sie sagte; sie bot alles auf, um mich zu — halten, zu binden, und — aus dieser Stunde wurde mein Sohn.“

Aus solcher Stunde kommen Kinder, dachte leise schaudernd Renate. Breit, rot und mächtig sah sie ihn dasitzen, sein Gesicht glänzte metallisch, er sagte:

„Eine brennende Stunde. Es ging aufs Blut, es war ein harter Kampf, aber — wenn Mann und Weib miteinander kämpfen, so giebts nur diesen Ausgang“, und Renate durchfuhr es: Irene! —

„Merkwürdig,“ sagte sie leise, „das gleiche, was du mir eben sagst, erfuhr ich heute an jemand anders ...“

„Die berühmte Verdoppelung der Fälle, Renate,“ hörte sie ihn leise lachen, dann fuhr er fort: „Georg wurde fast um einen Monat zu früh geboren; infolge des Erschreckens über meinen Unfall.“ Er stand auf und ging in den Raum hinein. „Ich kann nicht sitzen,“ hörte Renate ihn hinter ihr sagen, „es tut zwar scheußlich weh, aber —“

Er fing an auf und nieder zu gehn, den Stock vor sich aufstoßend. Wenn er ihr gegenüber war, sah Renate im Schatten der kleinen Schirmlampe seinen glühend roten Waffenrock und das Geglitzer von Metall und Steinen an seiner Brust. Nun redete er unaufhörlich, sie horchte aufmerksam, ohne doch recht zu hören, als gerate sie langsam weiter von ihm fort.

„Vor dem Abendessen kommt Georg, — ich weiß nicht, was der Junge hat, er sah so — innerlich geduckt aus, freilich, das Beste weiß er ja noch gar nicht, — Herrgott, ich muß aber zu ihm! aber höre noch erst ... ja, wo blieb ich? So, Georg, er sagt mir also in zwei Augenblicken ganz eilig, er hätte erfahren, wer mein echtes Kind sei, ich kennte sie selber, es sei die kleine Virgo Schley, — erinnerst du dich? ach, du kennst sie ja selbst, — ich sagte dir, daß ich sie bei Georg sah und wie ich sie Helene ähnlich fand, Gottes Thron, ich habe sie sogar geküßt, ich wußte nicht weshalb, es war mein Blut, ah das Blut, Renate, es erkennt sich durch Wände, ja, habe ich denn je und je gezweifelt, daß Georg mein Sohn sei? Nein, nein, nein, das soll mir keiner verreden! Ich hab es hingenommen, aber geglaubt habe ich es nie! — Nun das ewig lange Essen, ich verkohle vor Ungeduld nach meinem Kind, ich halte es nicht aus, ich breche auf. Kenne ja Schley, — du weißt: der neue Amtshauptmann, er wohnt noch hier, weil seine Frau guter Hoffnung —, ja, also denke dir, ich stürme ahnungslos ins Haus, sie wohnen hier draußen bei ihrer Fabrik in Wülfel, — da höre ich gleich: Zwillinge! Zwillinge männlichen Geschlechts, zwei Männer hat dies kleine blasse Wesen hervorgebracht, ja, ist es denn zu sagen? Liegt im Bett und ist ganz vergnügt, die Jungens schreien, ich kläre Schley auf, er weiß schon alles, nein, die Hälfte, das Ganze kam zutage durch einen alten Brief, der — ja, verzeih bloß, ich kann das nicht alles aufsagen — jedenfalls — Virgo ist Helenes Kind, sie lag da, ein Jugendbild von Helene, und wir saßen alle zusammen und weinten. Ich hatte ja Wein getrunken und —“

„Woldemar,“ sagte Renate erregt und stand auf, „muß denn nun immer Wein oder so was untergeschoben werden? Könnt ihr denn niemals aus euch selber weinen und euch vergessen, wenn das Herz überläuft?“

„Ihr, Renate,“ sagte er langsam, „wer ist: ihr?“

Sie blieb stehn, nahm ihre Jadekette gespannt zwischen die Zähne und sah ihn lauernd an.

„Verzeih, ist dir nicht gut?“ fragte er, auf sie zukommend.

Sie wich hinter ihren Sessel zurück, die Kette fallen lassend, daß sie klirrte, schüttelte den Kopf und rief:

„Nein, nein, verzeih nur! Weißt du, es ist so viel heut, mir ist ganz wirr im Kopf, — du weißt ja all das nicht! Das Festspiel am Morgen und der Zug, das konnte allein genügen für den Tag, und was gab es noch alles! Josef, weißt du, er ist wieder im Haus, mein Onkel ist wieder wie zuvor und glückselig, nun sind sie Alle zur Illumination.“ Sie lachte. „Ach, und das ist längst nicht alles,“ sagte sie, wieder trübe, „komm, sei nicht böse —“

Zu ihm gehend, legte sie die Hand auf seine Brust, glitt, den Daumen nach oben, unter den orangefarbenen und blauen Schärpen mit der Handfläche glättend nach unten, küßte ihn leicht mit den Augen, lachte wieder und meinte: „Ich bin freilich kein Klärchen, schöner, guter Egmont, obgleich du so wahrhaft spanisch funkelst über und über“, worauf sie zurückwich, in den Sessel glitt und ihn mit den Augen zu sitzen bat. Er gehorchte lächelnd und eifrig, indem er sagte: „Noch zwei Sekunden.“

„Und nun, wie ging es weiter?“ fragte Renate. Er besann sich.

„Du weintest“, sagte Renate ernst und weich. „Einmal weintest du, als ich deine Hand hielt, und du warst mir nicht fremd. Weißt du das noch?“

Gehalten und weich wie sie, stimmte er zu: „Ich weinte, weil jemand starb, nun weinte ich, weil geboren wurde. Damals aber“, fuhr er heiterer fort, „dachte ich nicht an dich, obgleich du vor mir standest, aber heute dachte ich an dich. — Aber weiter! Es war sehr einfach. Es fand sich ein Bild von Virgos vermeintlicher Mutter, und ich erkannte es wieder. Lieber Gott, Renate, sage, ist es nicht wundervoll? Blut — geht — zu Blut, kein Magnet hat solche Kraft, die Berge, die eisernen, brechen nicht auf und wandern, aber das Blut hebt die Füße, bricht auf und macht seinen Weg. Von Helene bekam ich keinen Sohn, aber dies Land wollte seinen Fürsten und bekam ihn, — ja, so lacht man über Weissagungen und alte Sprüche, aber innerst im Herzen lebt man schlecht und recht nur nach ihnen. Wie ich eben im Automobil zu Schley fuhr, hatte ich unablässig mit wundervollem Gefühl — wie eine große, metallene Spannung — die Vorstellung von zwei Wagen, die vor zwanzig Jahren wie von einem großen Magneten an ein und denselben Ort und zusammengezogen wurden, und in denen die Mütter meiner Kinder saßen. Alle hundert Jahre einmal vielleicht geschehen solche Dinge, und wir sind es, die sie — nein, aber nun muß ich fort, verzeih, verzeih, hätte ich nur eine Ahnung, wo ich Georg finde, in dem Maskentrubel — wo ist mein Degen? ach, draußen ...“

Sie waren Beide aufgestanden, Renate gab ihm die Hand und litt es, daß er ihre Stirn küßte, dann tappte er eilfertig hinaus. Sie folgte ihm auf den Flur, sah ihn Degen und Mantel über den Arm nehmen, nickte ihm lächelnd nach und schloß hinter ihm die Tür. — Danach fielen ihr die Arme schlaff nach unten, ihr Kopf glühte wie Feuer, sie ging dumpfen Sinnes und mit schweren Füßen in ihr Zimmer hinauf.

Achtes Kapitel

Masken

Georg nahm die schwarzseidene kleine Halbmaske vor, stieg aus dem Wagen und stand am Fuß der Freitreppe vor der Universität, über sich die beiden fleischroten, milchigen Sphären der Bogenlampen, von innen eigentümlich Licht ausquellend, umtaumelt von dicken Schwärmen weißer Nachtfalter. Georg drehte sich um und sah im weiten, hellen Schein dieses Lichts den dichtgemauerten Halbkreis der fast stillen Menge, hundert und tausend beleuchtete Gesichter rings um das springende Bronzepferd, dessen Rücken im Lichtschein glühte, quer über die Fahrstraße und unter dem lichtberonnenen, dunklen Wipfelwall der Allee. Jason, Josef, Saint-Georges — zählte Georg vertieft und ging die Stufen hinauf; es war verflucht, er kam nicht darüber hinaus, und es ließ ihn auch nicht los. Josef, Saint-Georges, Jason, was haben sie gewollt? Saint-Georges, Jason, Josef, — Josef war vorher da und hielt eine wunderbare Rede. Jason, Saint-Georges, Josef, — ich kann es drehen wie ich will, ich weiß, daß sie etwas wollten, wenn sie den Namen meiner Mutter sagten, und — Josef, Saint-Georges, Jason, es ist zum Verrücktwerden — ich weiß, daß ihre Rede eine schauerliche Wirkung auf mich hatte, — da steht ja Renate am Türpfeiler? Nun bloß nicht fürchten! Nein, es ist ja nur ihr Kleid, wer ist denn das? — Die weißmaskierte Gestalt in Renates lavendelblauem Kleid bewegte sich gegen ihn vor, — Saint-Georges, Josef — dachte er und hörte sie sagen: „Georg?“

„Ach, Anna, da bist du ja, oh verzeih tausendmal, daß ich so spät komme! Hast du lange gewartet?“

„Wie still sind die Menschen unten,“ sagte sie, „es war ganz schön hier oben.“

Georg drehte sich um und sah das schweigsame Gedränge unten in dem fremden Licht.

„Angenehm, daß sie mich nicht erkannt haben,“ sagte er leise, „ich nahm einen Wagen ohne Abzeichen. Es ist gräßlich warm, findest du nicht?“ Er trocknete sich die nasse Stirn mit dem Taschentuch. Josef, Jason, Saint-... „Komm, Magda, wir sehen alles an,“ sagte er heiser, „oder möchtest du tanzen? Im kleinen Schloßhof in Herrenhausen wird getanzt.“ Er drängte sie am Arm neben sich her, durch die Halle, die breite Treppe hinauf, bunte Trachten, Masken liefen vorüber, andre stiegen mit ihnen, stießen zusammen, drängten sich, — sie stiegen langsam Stufe um Stufe.

„Ich glaube, Magda,“ seufzte Georg, „uns ist Beiden nicht nach Masken und Tanzen zumute, aber du weißt ja,“ schloß er bitter, „ich trage eine Maske mein ganzes Leben.“

„Oh, Georg,“ sagte sie schmerzlich, stehen bleibend, „glaubst du denn unrecht zu tun?“

„Ach, unrecht,“ meinte er wegwerfend, „das sind alles so Ausdrücke.“ Die Hand am Treppengeländer, beugte er den Nacken und starrte auf die Stufen hinunter. „Wenn du in einem Buch liest: Ehebruch, dann weißt du gleich, um was es sich handelt, und hast Urteil und alles bei der Hand. In Wirklichkeit hat man vielleicht einen Mann, den man haßt, und ein verkehrtes Leben und liebt einen Andern, und all das verschmilzt sich zu einem schrecklich leidigen und treibenden Gefühl, aber mit Ehebruch hat es gar nichts zu tun.“

„Nun, Georg, wenn das wahr ist, so ist es mit deiner Maske wohl dasselbe.“

„Komm weiter“, bat er leise, in dem Gefühl, daß sie recht habe, ohne es sich selber zugeben zu wollen.

„Ich muß dir verschiedenes erzählen“, sagte er, als sie oben in der Halle waren und gegen die Tore vorgingen, durch die es von Masken wimmelte, die er kaum ansehn mochte, ein so widriges Empfinden erregten sie ihm. Von unten ertönte gedämpfte Musik, sie standen über einem Gewimmel von unzählbaren winzigen Lichtern, roten, weißen, grünen und blauen, darin lag der weite Rasen unten, umringt von alten Bäumen; von oben und bei der Dunkelheit sah es wie ein Wald aus, Georg fand es ganz schön. „Renates Vetter Josef“, hörte er Magda sagen, „ist wieder im Hause, jetzt ist er hier mit seinem Vater.“

„Hier?“

„Ja, ich weiß freilich nicht, wo sie sind, sie wollten in den Französischen Garten.“

„Dann laß uns versuchen, ob wir sie finden,“ bat Georg; „ach, Magda, verzeih mir nur, daß ich so kümmerlich zu dir bin, es ist ein bittrer Tag, und ich weiß bald nicht mehr, ob ich wache oder träume.“ Sie ergriff seine rechte Hand, drückte sie schweigend. „Diese Hitze könnte mich rasend machen,“ stöhnte Georg, „bei der Galatafel wars zum Platzen, und dann in dem grellen Licht der Vorbeizug, und der Geruch nach Puder und Parfüm und Schweiß, — ich muß noch ein paar Tage nach Helenenruh und mich in die Nordsee stürzen ...“

Stirn und das klebende Haar an den Schläfen reibend, stieg Georg die großen Terrassen hinunter. Unten gerieten sie bald auf einen dunklen Seitenweg im Gebüsch; ein einzelnes, rotes Licht hing an einem Baumstamm, es roch nach welkenden Rosen, Georg erinnerte es an eine Kirche in Athen. Josef, Jason — da fängt es wieder an, dachte er verzweifelt. Magda, vor ihm stehend, ergriff seine Hände und sagte leise und eindringlich:

„So froh kamst du heut morgen herein, Georg, und nun bist du am Ziel und doch nicht glücklich?“

Da fühlte er wieder den Hohlraum, in dem das wesenlose Wesen seines Vaters umtrieb, der Schweiß brach ihm heftiger aus, „was ist denn Glück?“ sagte er stumpf. „Jetzt bin ich Großherzog, und warum bin ich nicht Steineklopfer?“ — Und ohne etwas zu denken, fuhr er fort: „Glück? Etwas, das man hat und nicht weiß, etwas, das man weiß und nicht mehr hat. Und wenn es ein Glück gäbe, wie du es meinst,“ sprach er verzweifelt weiter, Gedanken schwerfällig aus Gedanken ziehend, „glaubst du, daß es so leicht wäre, daß man es im ersten Augenblick begreift?“

„Georg,“ hörte er ihre ruhige, weiche Stimme erwidern, „du weißt immer einen Satz und eine Erklärung, aber ich glaube nicht, daß sie mit deinem innern Zustand etwas zu tun haben, oder daß sie dir überhaupt etwas bedeuten.“

Er öffnete den Mund, um zu sagen: Das sei eben das Wesen der Tragik, zerspellt zu sein in Erkenntnis und Empfinden, aber sie kam ihm zuvor, indem sie sagte: „Jetzt willst du wieder einen Satz sagen, vielleicht weiß ich ihn sogar, oder ... Ich habe das jedenfalls an mir selber erfahren, daß Klugheit und Wissen etwas für sich sein kann, außer uns, neben uns her, und es ist wohl manchmal sehr schwer, es mit unserm wirklichen Wesen zu vereinen.“

„Nein, das meinte ich glaub ich nicht,“ sagte er, den Kopf hin und her bewegend, trübe, „aber du wirst wohl recht haben. Ja, nun meinst du, ich soll diese meine Klugheit an einem tüchtigen Strick wie — wie so einen Fesselballon in mich hineinziehn? Ach, Worte, Worte, Worte, ich werde noch verrückt davon werden, komm bloß weiter!“

Er ließ ihre Hände los, dann zwang es ihn plötzlich, die Stirn auf ihre Achsel zu legen, er stand sekundenlang so, fühlte die sanfte Erlösung dieses Ruhns, aber in ihm lehnte etwas sich auf, er sagte zu sich selber: Du liebst diese ja nicht, sie ist dir fremd, sie meint es gut, aber — „O Gott!“ seufzte er leise.

„Es kommen Menschen“, sagte Magda, er richtete sich auf, nahm ihre Hand und zog sie weiter.

Sie wanderten wortlos auf den schmalen Wegen, immer belästigt durch Geschrei, Vorbeigelaufe der Maskierten, die ihnen zuriefen oder nach ihnen schlugen, sie mußten selber tun, als ob sie daran Gefallen hätten, lachen und erwidern, endlich gelangten sie ans Tor. Von ihm zur Lindenallee war schräg über den Fahrdamm eine Gasse von Girlanden und bunten Laternen gezogen, hinter denen die zuschauende Menge sich staute. Sie eilten freier hindurch in das Dunkel der Alleen, gingen wieder langsamer unter den Bäumen hin, querhinüber und zwischen den Stämmen hindurch am Ende der Alleen schräg auf das Tor des Französischen Gartens zu. Der vorderste Block der haushohen Mauern dunkler Baumhecken stand über ihnen in der Nacht, aus der Tiefe quellend beleuchtet; hier waren weniger Menschen, in der Ferne rauschte Musik. Zwischen kleineren Hecken hindurch gelangten sie zu der ersten großen und gingen unter ihr hinunter. Am Fuße eines Baumes stand eine der Lichtquellen, sie traten hinzu und sahen auf einer kurzen und dicken Steinsäule ein metallenes Becken — „eigentlich ein Papierkorb“ sagte Georg — mit Wasser gefüllt, an dessen Grunde drei in rotes Zeug gewickelte Glühbirnen leuchteten; in der roten Flüssigkeit schwammen zwei tote Fische. Georg tauchte einen Finger hinein, das Wasser war beinahe kochend.

„Ein Genie, wer das erdacht hat,“ meinte er, „die Fische sollten das Wasser in Bewegung erhalten; der Erfinder sollte sie alle zu Mittag bekommen.“

„Arme kleine, tote Fische“, sagte Magda, und beim Klange ihrer Stimme befiel Georg ein sonderbar süßlicher Schmerz. Das war Anna Chalybäus’ Stimme, dachte er, als sie weitergingen, und eine meilenferne selige Vision von Helenenruh zog, seinen Augen unsichtbar, seiner Vernunft unnennbar, mit schmerzlichem Schauder durch seine Brust. Er mußte plötzlich an seine tote Mutter denken, sie, für die er keinen Namen mehr fand, nur einen Baumstamm auf einer Insel mit der Tafel: Helene —

Georg merkte, daß er stillstand; der Heckengang war zu Ende, rechts neben einem freien Platz mit Bäumen rauschte laute Tanzmusik aus dem großen Pflasterhof des niedrigen weißen Schlößchens; die Umrisse leuchteten, starke, weiße Linien in der Nacht; im dämmrigen Licht buntfarbener Laternen bewegte sich hinter den hohen Gittern das wogende Getümmel der Tanzenden. „Oh sieh wie schön!“ hörte er Magda sagen und sah nach links. Dort standen in den vier Ecken des weiten Quadrates haushoher, düstrer Hecken vierfarbig leuchtende Fontänen, eine schneeweiße, eine lichtgelbe, eine tiefrote und eine lichtblaue. Zwischen den Wegen, Rasenplätzen, Beeten und Bosketts wandelten die undeutlich buntgekleideten Gestalten in diesem Halbdunkel und standen auf ihren Postamenten, leise von unten beleuchtet, die Steingötter, -göttinnen und Urnen mit schweren Schatten und in starker und düstrer Bewegtheit ihrer Falten und Glieder, und Georg sah den Schattenriß eines Füllhorns in der Nähe, eine Keule zwischen stämmigen Beinen anderswo, und nun wieder, hoch über dem niederhangenden Füllhorn, ein zartes, leuchtendes Profil, dahinter einen großen, leicht zum Nacken gesunkenen schwarzen Kopf, dessen Umrisse die Umrisse von Früchten und Blumen schienen, und wieder dachte Georg Annas und des Bildes, das Bogner von ihr gemacht hatte; und nun ging er hier mit ihr wie mit einer Schwester.

Indem fühlte er sich am Arm berührt und sah ein häßliches Wesen neben sich: eine rote, lottrige Tunika über schwarzen Trikots, eine schwarze, törichte Bartmaske unter starrendem Haar nach allen Seiten, aus dem ein Schlangenkopf zitterte; eine Hand schwang einen langen Dolch oder ein Schwert. Sie warf den Kopf zurück und bewegte Arme und Oberkörper mit solchen schiefen, zuckenden Gebärden, daß Georg gleich Cora erkannte, auch ihre Stimme hinter den hohen verstellten Tönen, mit denen sie sagte: „Nun, mein Schöner?“

Es ekelte ihn unbeschreiblich; ihre sich hebenden und fallenden Schultern, das Vordehnen des Leibes erinnerten ihn an gräßliche Dinge, er schnob kurz: „Was willst du?“ im halben Gefühl, Magda nichts gewahr werden zu lassen.

„Du siehst, was ich bin?“ fragte ihre Stimme, schon weniger verstellt. Georg wandte sich zu Magda und sagte: „Sie fragt, was sie vorstellt. Ich glaube, eine Furie. Eine Furie, Erinnye oder so!“ sagte er zu Cora, ergriff Magdas Arm und wollte sie weiter drängen, aber Cora war mit einer ihrer weichen Seitwärtsbewegungen um ihn herum, ergriff Magdas Arm und zischte theatralisch: „Nun? Nun, schöne Heliodora, sind Sie nun am Ziel Ihrer Wünsche?“

„Ich bin nicht Heliodora,“ sagte Magda ruhig, machte ihren Arm los, und Georg, hinter sie tretend, fuhr Cora wütend an: „Geh zum Teufel, mit deinem Mummenschanz!“

„Der Großherzog hat befohlen,“ sagte sie höhnisch, „seinetwegen hat sich das Volk in Masken gehüllt!“ und wich zurück, schwenkte sich herum und ging schlenkernd, in den Hüften sich wiegend davon.

Georg, Magda fortziehend, hörte sie fragen: „Wer war denn das?“ Sie schien zu lachen, er vermied deshalb eine Antwort und fragte: „Lachst du, Anna?“

„Ja, es war so komisch! Erinnerst du dich, ich sagte dir einmal von einer Legende, die Jason uns erzählte, von Orest und der Eumenide, und ich mußte denken, wenn die Eumeniden so ausgesehn haben, waren sie nicht sehr zum Gruseln.“

„Nein, weiß Gott nicht“, murmelte Georg verdrossen. Ach, wie ist das wieder ganz Cora, seufzte er innerlich, im Kostüm und mit Schlangen und Dolchen als Rachegöttin vor mich hinzutreten. Aber ich muß sehn, daß sie uns nicht wieder über den Weg läuft.

Tempel

Sie traten aus dem Heckengang auf den äußeren Fuhrweg hinaus. Drüben standen die schwarzen Wipfelgruppen der englischen Anlagen unter matten Sternen, Georg roch das brackige Wasser der unsichtbaren Gracht, jenseits des Weges in der Tiefe. Sie gingen zur Rechten am Fuß der hohen Heckenwand hinunter, die in der Ferne hier und da von den unteren Lichtquellen rötlich gefleckt war, auf den kleinen Rundtempel an der Ecke des Gartens zu; eine seiner Säulen stand ganz schwarz vor ihnen, dahinter mußte der Leuchtkörper sein, von dem die Wölbung innen und die Säulen links und rechts weißrötlich glühten. Auf dem breiten Wege ging nur hier und da ein stilles Paar. —

Hand in Hand wanderten sie auf die freundliche Erscheinung des Lichts und des kleinen Tempels zu. „Dort steht eine Bank am Wasser,“ sagte Georg, „wir können dort sitzen, und ich sage dir einiges. Bald muß auch das Feuerwerk kommen. Es soll rund um das ganze Gartenviereck brennen, dann können wir’s schön sehn, auch im Wasser.“

So gingen wir vor drei Jahren, dachte er währenddem leise bekümmert, hätte gern etwas Liebreiches, Dankbares, Verzeihungbittendes gesagt, fand aber kein Wort, und sie gingen schweigsam dahin. — Was dachte sie nur? —

Vor den drei Stufen ins Innre des Tempels blieb Georg stehn und nahm die Maske ab. Magda tat dasselbe, er sah dämmrig den Schein ihres Gesichts und der Augen im Dunkel, dahinter die graue Säule und sagte, vor sich niederblickend:

„Vielleicht — —, vielleicht ist diese Stunde die beste am Tag. Es ist wieder stiller in mir, ich — ich bin so froh, mit dir zusammen zu sein.“ Er suchte, beschämt, sich zerknirschend und traurig nach Worten. „Und —“ fuhr er stockend fort, „und —“ Er wußte nicht weiter, sah verschwimmenden Auges den breiten Weg hinunter, in dessen Mitte einsam eine dunkle Gestalt stand, an der seine Augen nun festhingen, so daß er alle Gedanken verlor.

Als er sich umwandte, war Magda nicht mehr neben ihm, er ging über die Stufen in den Raum und sah sie neben einem unterwärts dunklen, innen stark leuchtenden, großen Becken stehn, das Antlitz, stark beleuchtet, leise auf das Licht gesenkt, anmutiger als es ihm je geschienen in den letzten Jahren, — wie lang doch ihre Wimpern waren, nun sie gesenkt ruhten! die Augen glitzerten feucht dahinter, die Stirn war freilich — irgendwie arm, so hoch, nicht streng, — vielleicht karg, — ach arm nur für meine Augen, dachte er trübe, weil sie keinen Reiz für meine Sinne hat. Näher tretend gewahrte er, daß vom Rande des metallenen Beckens unaufhörlich dünne Wasserfäden zu seinem Grunde niederrannen und glitzerten; in der Tiefe war eine Glasplatte, durch die das starke Licht fast blendend emporquoll.

Die Armut steht am Lebensquell ... dachte Georg, es schien ihm der Anfang eines Gedichts, und — wie töricht! schalt er sich, denn wer ist hier arm und wer nicht?

Magda sagte aufblickend: „Ich fürchtete schon wieder tote Fische, aber hier sind sie geschickter gewesen.“

„Ja, aber der Brunnen war hier immer,“ meinte Georg, „nur das Licht ist neu.“

Angenehm gekühlt und gedankenverloren schaute er in das glitzernde, unablässig rinnende Rund, legte eine Hand hinein und schauderte wollüstig von der kalten Flut. Magda hatte die beiden Hände auf den Rand gestützt und stand leicht übergebeugt, er legte, ihr gegenüberstehend, sich neigend wie sie, die Hände auf die ihren, ihre Gesichter waren dicht voreinander, Magdas Augen hafteten — ihre fast brauenlosen Augenbögen zogen sich dabei zusammen — in den seinen mit leise schmerzlichem, bekümmertem, sorgendem Ausdruck, dann bewegte sie langsam das Antlitz vor, und ihre Lippen berührten die seinen, leicht wie eine Blume, die weht.

„Gott segne dich, Georg“, sagte sie leise. — Er senkte den Kopf, ihm quoll das Herz.

Ein Geräusch hörend sah er auf. Magda lehnte drüben an der Säule, in ihren Augen war ängstliche Verwunderung, und Georg sah dort, wohin sie blickte, nicht weit rechts neben sich Cora, geduckt wie ein Indianer, den Griff des Dolches gegen die Brust gestemmt, so daß die Spitze nach vorn stand, und Georg sagte, als er das sah, hohnerfüllt: „Man stößt von unten, Cora, von oben macht man’s bloß im Theater.“

Cora zeigte beide Zahnreihen; die Maske, dumm und grotesk aussehend, hielt sie in der linken Hand.

„Ja, was willst du denn nun eigentlich?“ fragte Georg ungeduldig und bewegte sich zu Magda hinüber. Indem flog Cora empor und auf Magda zu, den Dolch in der Hand, blindlings von oben stechend; Georg, wütend in Bewegung, stürzte mit halbem Leibe über das Becken, raffte sich mit schmerzender Hüfte auf, sah Magda mit vorgestreckten Armen nach Coras Handgelenken fassen, plötzlich schrie sie auf, taumelte zurück und mit der Stirn so heftig gegen Georgs Schulter, daß es in ihm dröhnte. Sie hing an ihm, preßte den Kopf an seine Brust, die Hand vor den Augen. War sie verletzt? Und wo? — Er verspürte eine schäumende Wut, auf Cora zu stürzen, die er die Stufen hinunter ins Dunkel rennen sah, da verließ ihn alle Kraft, er mußte Magdas Gestalt zu Boden lassen, sie drehte das Gesicht weg, ihre Hand war so dunkel und fleckig im Schatten am Boden, er stand über ihr, da wurde der dunkle Boden, auf dem sie lag, zu dunkler Wiese, ihr Kleid färbte sich langsam rot, Georg roch mit fürchterlichem Grauen Kühe und Gras aus einer Entfernung von drei Jahren, er wich zurück, schlotterte, er stieß mit dem Hinterkopf an Stein, drehte sich um, stürzte Stufen hinunter, trat, niederbrechend, in weiches Gras, raffte sich hoch und stand.

Ganz langsam drehte es ihn herum. Dort am Boden lag unverändert die Gestalt. Es wandte ihn wieder fort, durch Sekunden spürte er merklich, wie sein Inneres sich leerte. Er dachte noch: So ... also hier ist nun das Ende. — Leere und eine unendliche Schwäche machten ihn so leicht, daß er umzuwehen meinte, sein Kopf sank vornüber, zu seinen Füßen war Mauer, etwas tiefer ein dunkelwässriges Glitzern, in das es ihn wonnevoll hinabzog. Ah stürzen! dachte er, stürzen! — Dann fühlte er die Erlösung des Fallens.

Aber dann klatschte sein Gesicht, seine Brust auf harte Wasserfläche, er versank, schlug mit den Armen um sich, entsetzliche weiche Bänder umschlangen ihm Hals und Gesicht, er war am Ersticken, gurgelte, schluckte, Wasser drang in gräßlichem Strom in seinen Mund, er bohrte in Todesangst den Kopf nach oben, da war Luft, er gurgelte, atmete, spie und rülpste Wasser aus, versank wieder, stieß mit den Füßen, riß sie aus Umstrickendem los, warf die Arme auseinander und merkte plötzlich, daß er schwamm.

Nasses Haar hing ihm in die Augen und verwirrte sie; indem er es wegstreifte, machte ein riesiger Kanonenschlag sein Herz zusammenzucken, dann — zischend und johlend schoß eine blendend weiße Kurve in die Nacht hinauf, heulte ganz rasend, eine Bestie, die sich vor Wut schüttelte, zerfiel aber plötzlich in eitel staunenswerte Sanftmut vieler blauer Kugeln und silberner, blendend hell strahlender Sterne, ein wundersamer Regen —, jedoch da stürzte sich wieder ein fürchterliches Winseln und Jaulen, ein lang hintanzendes satanisches Hu—ih—ih—ih! in die Lüfte empor, es prasselte plötzlich überall, rote Streifen kreuzten sich emporschießend, es knatterte, rauschte, fegte, drei — unzählbare Feuerbögen jagten gegeneinander, rote Kugeln, goldflimmernde Sterne regneten von oben, es war blendend hell, da setzte eine riesige, von Golde brennende Sonne vor seinen Augen sich in Bewegung, Goldgarben aus ihren Rändern schleudernd, eine Feuergarbe nach oben, nach unten, nach rechts, nach links ausstoßend, Georg schwamm, richtete sich auf im Schwimmen, grunzte und schrie: „Mit Feuerwerk — woll’n wir zugrunde gehn!“ und schwamm, während das ganze Ufer hinunter die Raketen sich höllisch bekämpften, Sonnen über Sonnen sprühend, sausend und brausend entfesselt wurden, über finstere Baumkugeln gewaltige rote Wolken von unten nach oben wogten, in denen die Laubkugeln rötlich leuchteten; dazwischen huschten schwarze Gestalten, die Nacht war tageshell, das grüne Wasser lag deutlich vor Georg mit großen Flecken wie Morast in dem starken Licht, aber als das grenzenlose Toben, Zerstieben von Silberbüscheln, Heulen der Flammenbögen und das besessene sich Herumwirbeln der Garbensonnen nicht enden wollte, ermattete er jählings, gewann mit zerfallenden Armen ein Ufer, kroch die Böschung triefend, schaudernd und frierend hinauf, lag eine Weile keuchend, zuckte, schluchzte und wünschte, tot zu sein. Er schleppte sich höher empor, stand; eine Feuersonne vor ihm — ihr weißer Mast, an dem sie schwebte, war hell zu sehn — drehte sich langsamer, spie schnaufend ihre letzten zwei Garben nach unten, stand still und regnete aus. Georg ging besinnungslos auf die dunkle Stelle zu, jemand rannte gegen seine Schulter und fluchte, eine dunkle Gestalt huschte vor ihm ins Dunkel mit einem Stabe, dessen Spitze brannte, gleich darauf riß ein zischendes silberweißes Band sich aus dem Grase und wand sich mit ungeheurer Schnelle in den Himmel hinein. Georg taumelte weiter, kam an eine Hecke, wankte an ihr hinunter, brach durch eine Lücke, hörte das Feuergetöse gedämpfter hinter sich und ging, bei jedem Schritt vornüber fallend, hustend und von Frost geschüttelt weiter und weiter, stand endlich still und sah in der Dunkelheit rechts vor sich schweigend und gewaltig einen schwarzen Fabrikschlot himmelhoch vor sich stehn und auf ihn hinunterblicken. Irgendeine Bekanntschaft dieses Ungetüms veranlaßte Georg, die dämmrig sichtbare Straße zur Linken hinunterzugehn, er ging und ging, fiel vor Müdigkeit gegen Bäume oder Pfosten im Weg, machte nur von Zeit zu Zeit die Augen auf, um zu sehn, wo er war, und flüsterte sich unaufhörlich zu: Fort, nur fort, ach nur fort! nur fort! — Sinnlose Angst trieb ihn weiter und weiter, auf einmal sah er, die Augenlider schwer aufreißend, seltsam die Hinterfront des Schlößchens, die er erkannte, ganz nah zu seiner Linken, er ging draufzu, der Boden wich, er stolperte bergauf und bergunter, fiel, stand wieder auf und fiel wieder und stand wieder auf, und war plötzlich vor einer Mauer. Er ging daran hinunter, sie wurde von einem Gitter fortgesetzt, er begriff, daß er hinüber mußte, und plötzlich lag er drüben an der Erde mit schmerzenden Gliedern. Nun an Gebüschen hinunter streifend, fand er die kleine Brücke, ging hinüber und befand sich gleich darauf in einem Zimmer, das er gut kannte. Die Angst hetzte ihn weiter, ich will nur noch — dachte er, — er wußte nicht was, schlich mühselig ins nächste Zimmer, hindurch und durch noch eines und fiel gegen etwas weiches Dehnbares. Das Bett ... flüsterte er, er sank zu Boden, rollte um, sein Kopf füllte sich mit Feuer, er lag und zuckte.

Jählings fuhr er auf, da er Stimmgewirr und Schritte vernahm. Er kniete und richtete sich auf, erkannte im Halbdunkel den Raum, die Fenster, ging auf eines zu, streifte den Vorhang seitwärts, hakte den Riegel auf und stieg über die Brüstung ins Freie. Draußen stand er zitternd und todmüde, schlich ins Gebüsch, entsetzte sich vor einer Helle, die von der linken Seite über ihn fiel, sah all seine Fenster hell werden, sprang ins Dickicht und schlug sich durchs Gezweige weiter, bis er ins Freie und Dunkle kam. Der Stall ... flüsterte er, schlich über den Hof, hakte die Tür auf und atmete unsäglich dankbar den Geruch des Pferdes. Dann wurde es Nacht um ihn.

Neuntes Kapitel

Zimmer

Renate lag nackend auf dem Rücken schräg über ihr Bett hin, schlaff neben sich Arme und Hände, die Füße hingen nach unten. Wie sie hingesunken war im Dunkeln, so lag sie, glaubte, schon Stunden zu liegen, schwer atmend, das Hirn im Feuer aller durchhinzuckenden Bilder des Tages. Losgefesselt von ihr jagte es haltlos durch ihre geschlossenen Augen, flatterte in Fetzen, wirbelte eins ins andre, und ineinander und auseinander zog und ergoß sich schon, was sie als Bild vor Augen sah und was sie im Halbschlaf träumend selber mit lebte. Sie glaubte, ein Bild aus einem Kinderbuche zu betrachten, eine Wiederfindung, harte Holzschnittfarben, aber es waren Klemens in seinem bäuerlichen Kleid und Irene, die über dem Zaun zusammenhingen, zum Bilde erstarrt. Sie ritt auf dem silbernen Pferd, fühlte sich gewiegt von den weichen Gängen, Ulrika stand am Weg, hielt das Pferd fest, weinte und sagte: So laß dir doch endlich erzählen, was geschehn ist! — Eine rote, brennend rote Uniform ohne Kopf wirbelte in ein Zimmer herein und fuhr wieder hinaus, — der Satan! sprach Jason mit warnend erhobenem Zeigefinger. Unter sich sah sie Rücken und Hinterbeine der Elefanten sich vorwärts bewegen, sie wurden kleiner und kleiner, es waren Hunde, weiße, kleine, sie erschrak und dachte: Sollen die den riesigen Wagen ziehn? aber das geht doch nicht, man muß es den Leuten sagen, daß es nicht geht! — Plötzlich hörte sie sich seufzen und schlug die Augen auf.

Neben ihr, beinah über ihr, sah sie die seitwärts gerafften Vorhänge des Fensters und den matten Glanz einer offenen Scheibe, aber es kam keine Kühle herein. Dann blendete sie von drüben der schmale senkrechte Lichtspalt der angelehnten Tür; sie konnte sich nicht entschließen, hinzugehn und das Licht zu löschen. Gott sei Dank, dachte sie ergeben, wenigstens ist es Nacht! Weit zurück in der Zeit glaubte sie die Heimkehrgeräusche der Andern zu hören, Schritte treppauf, Türen, — sie legte den aufgerichteten Kopf wieder hin und war wieder hineingerissen in den feurigen Strudel, Bilder aus der biblischen Geschichte, sie selber war darunter, der verlorene Sohn kniete vor seinem Vater, — abseits, verfinstert, stand Erasmus, sie seufzte und fand sich gleich darauf liegend auf dem kleinen Rasenplatz im Gartendickicht, Ulrika beugte sich weinend über sie und bat: Wach doch auf, um Gottes willen wach doch auf, sonst ist es zu spät! aber sie konnte die Lähmung nicht abschütteln, rang mit dem Nacken, spürte endlich ihr wirkliches Genick, das sich löste, und brachte den Kopf in die Höhe.

Da! — sie fuhr entsetzt zusammen, — es schlürften Schritte nebenan! Eine Stimme fragte: „Schläfst du schon, Renate?“ Es war Josef.

„Nein, Josef, was ist denn?“ fragte sie zitternd.

„Verzeih nur,“ sagte er, „ich sah im Garten unten dein Licht und kam herauf. Ich glaubte, du habest ‚Herein‘ gesagt, und eben hörte ich dich rufen ...“

„Habe ich gerufen? Ja, wie spät ist es denn?“

„Es wird bald elf Uhr sein, ich dachte, du gingest vielleicht noch etwas ins Freie mit mir ...“

Erst elf Uhr? fragte sie sich bitter enttäuscht, legte die heiße Stirn gegen den Handballen und bemühte sich, zu denken. Ja, am Wasser war es vielleicht kühl, zu schlafen war unmöglich. „Ich komme gleich, Josef!“ rief sie leise. Sie wartete dann, hörte ihn durchs Zimmer zurückgehn, einen Stuhl rücken, erhob sich lautlos, schlich zur Tür und machte sie leise zu. Dann stand sie tief aufatmend, suchte ihre Kleider, die weiß am Boden vor dem Bett lagen, ihr Kopf schmerzte heftig, sie kleidete sich hastig an, machte Licht überm Spiegel, aber nachdem sie, mit geblendeten Augen kaum ihr Spiegelbild wahrnehmend, eine Flechte aufgelöst und neugeflochten hatte, brachte sie mehr nicht fertig, ließ die Zöpfe hängen, ging zur Tür und trat leise ins Nebenzimmer.

Josef saß vor dem Schreibtisch, ihr den Rücken wendend, die Hände um das übergelegte rechte Knie geschlossen, und sah zu der kleinen, schneeweiß leuchtenden Gipsbüste des Ech-en-Aton empor. Wieder wie immer, da sie den kleinen Königskopf im zarten Licht der gelben Schirmlampe unten schimmern sah, erfüllte seine gesteigerte Süße und Schönheit sie mit leisem Schreck. Die Zartheit des schrägen Profils, der unbeschreibliche Ausdruck der flachen, ganz wenig nach außen abhängenden Augen, das wunderbare Kinn, die himmlische Blüte der küssend immer gewölbten Lippen und — vielleicht das Wunderbarste — am Halse die senkrechten beiden Muskelfalten, leise schattend und unsäglich lebendig — all dies auf dem Grunde grüner, schimmernder Blätter und Ranken, im Zwielicht so weiß, zart und locker wie von frischem Schnee — hielt lange ihre Augen fest, während sie hinter Josef trat, die Hände auf seine Schultern legte und leise sagte:

„Ich danke dir — heute erst — für ihn. Er war mir fremd im Anfang. Aber nun ist er mir von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr unbeschreiblicher und lieber geworden.“

„Er wächst“, hörte sie Josef sagen, „wie eine Blume, die Jahr um Jahr köstlicher blüht. Er blüht und wächst für sich selbst, aber wer ihn ansieht, über den wächst er selig hinaus und nimmt nur die schauenden Augen mit sich hinauf. Als ich hier saß, war er mir fast schon ein Stern geworden, bis du kamst und er wieder nahe, klein und lieblich wurde, — denn wir sind unten.“

Er sprach sehr leise. Sie schwieg und hörte bald darauf seine Stimme wieder:

„Wasser sind wir; ja, wir sind das Wasser. Wir sind das Fließende, immer sich Gleichende, nur Wellen, nur Wellen, eine der andern ganz gleich, eine verfließend zur andern, immer das nämliche Weinen und Traurigsein, nämliche Lachen und Stehn und Nichtwissen, Schluchzen auf Steinen und Schluchzen in Kissen, und Vergehn.

„Du aber bist aus dem dämmernden Strom von uns Andern getaucht ...

„Du trägst den reinen Spiegel an der Stirn, — o du Delfin des Lichts!

„Du bist der Fisch, der selige Tummler im Klaren, du weidest einsam durch die Wogenscharen, schon lange halb durchgotteten Gesichts!

„Du bist des Wachstums zarteste Lieblichkeit, wie eine Blume in Bescheidenheit — erglüht dein weißes Antlitz ...

„Die Sonne spreitet hundert goldne Hindernisse, Delfin, Delfin, du überschaukelst sie getrost dahin ...

„Du wiegst dich schnelle durch das Ungewisse, denn deine Reinheit war von Anbeginn. — Du kamst voll großer Freude aufgetaucht, Lüfte küssend, trunkener Delfin, Göttern ähnlich, so erlaucht, weil die Strahlende erschien.

„Nun stehst du in Sternen vielleicht als uns funkelndes Bild, — näher der Ewigen als wir, bald in die Flamme getaucht, die uns den düsteren Scheitel umraucht. Wir sind das Wasser, sind hier ...“

Er hatte bei den letzten Worten die Fingerspitzen leicht auf ihre Hände gelegt, die noch auf seinen Schultern waren. Sie schwieg noch eine Weile, seinen Worten nachlauschend, durchschaudert und gekühlt von Schauen und Lauschen, aber indem sie zu sagen im Begriff war, wie glücklich sie sei, daß er wieder hier war, bewegte er sich unter ihr, streifte ihre Hände sanft fort und stand auf. Undeutlich erblickte sie nahe über sich sein Gesicht im Schatten, die entstellte Hälfte erschreckte sie nicht. „Laß uns nun gehn“, sagte er; sie nickte dankbar lächelnd und ging vor ihm hinaus.

Wehr

Bald waren sie im Finstern außerhalb des Gartens unter den Bäumen. „Gieb acht!“ warnte Josefs Stimme hinter ihr, sie fühlte seine Hand an ihrer linken. „Kannst du mich denn sehn?“ lachte sie leise. „Dein weißes Kleid“, hörte sie sagen, glitt ihm davon, wäre aber fast an einen Pfosten der Schaukel gestoßen, sah nach oben blickend das Schwarze des Gerüstes gegen die mattere Dunkelheit und zwei Sterne, wandte sich und sagte: „Hier ist die Schaukel.“ Er antwortete nicht. Sie fragte: „Josef?“ „Hier!“ hörte sie weit rechts hinter sich seine Stimme, drehte sich, ging weiter, vorsichtig um den Schatten eines breiten Baumstamms, fühlte die harten Falten der Borke und sah Josefs Schattengestalt unter sich im Freien gegen den grauen Grund der Wiese. Wie kühl war es hier schon! — Sie holte ihn ein, seine feierliche Stimme klang wieder in ihrem Ohr: O du Delfin des Lichts! — — So hatte die Heimkehr zum Vater ihn doch tiefer ergriffen ... Aber, als sei noch ein andrer Ton in seiner Stimme gewesen, mußte sie nun, die rechte Hand in seinen Arm schiebend, sagen: „Du hast so abschiednehmend gesprochen, Josef, als wolltest du morgen schon wieder davon.“

„Nun, wie lange meinst du denn, daß ich bleibe?“ fragte er freundlich. Sie konnte nicht antworten, da sie sich nun fragen mußte, ob hier wirklich eine Stätte für ihn sei, und so wanderten sie wortlos weiter auf dem Sandweg. Der Himmel war besät mit den Sternen, die klein waren im warmen Dunst der Nacht; dunkel lagen die Wiesen. Josef blieb stehn, gleich darauf auch sie, sich zu ihm wendend.

„Höre einmal,“ sagte er leicht, „was ich noch fragen wollte ... Wußte —, oder sagen wir: weiß Erasmus eigentlich, daß du mit dem Herzog verlobt bist?“

Renate versuchte sich zu besinnen. „Ja, warum fragst du? Ich glaube wohl. Nein — das heißt, — ich sagte es ja bei Tisch, als er nicht da war.“

„So“, bemerkte Josef, vor seine Füße blickend. „Ich dachte, als du im Zelt —“

„Ach ja, Josef,“ rief sie rasch, im Gefühl, von etwas andrem reden zu müssen, „ich wollte dich ja auch immer etwas fragen. Nun fällt mirs wieder ein, da du vom Zelt redest!“

„Nun?“

„Warum hast du dich mir eigentlich heut gezeigt?“ Sie trat auf ihn zu, liebevoll. „Hast du doch geahnt, daß ich dich brauchte? Oder was trieb dich?“

Er antwortete nicht, sondern sah sie nur fest an durch die Dunkelheit. Alsdann wandte er das Auge fort und trat zur Seite.

„Die Antwort“, sagte er, in das Dunkel der Wiesen blickend, „ist nicht leicht. Du fragst nämlich nach meinem Geheimnis. Ich werde es dir gleich erklären. Ja,“ hörte sie ihn mit einer schönen Ruhigkeit fortfahren, „das Geheimnis meines Lebens. Es hat endlich — vor einigen Tagen — seine Lösung gefunden; und also wurde es Zeit, zur Versöhnung zu schreiten.“

„Mit deinem Vater?“ fragte sie hastig, und er erwiderte mit gesenkter Stimme: „Jawohl“, — aber das klang wie eine Verneinung, und er setzte eilig hinzu: „Versöhnung, ja, wenn du das Wort in einem sehr weiten Sinne —“ Er brach ab.

Da waren sie am Zaun, gingen durch das schief wie immer zur Erde hangende Pförtchen, über die Brückenplanke und weiter den weichen Wiesenpfad, wo Renate seine Hand wieder losließ. Bald war das Rauschen des Wehrs zur Linken hörbar, über ihnen war der rote Himmel der Stadt. Renate bat: „Komm ans Wasser!“ Sie bogen vom Wege ab und gingen unsicher und stolpernd über die sommerdürren Buckel der Wiese im tiefen Grund. Baumsilhouetten wuchsen über ihnen aus dem Dunkel, dann wurde die schwarze Linie des hohen Ufers sichtbar, da war der Hang, Renate stieg von Josef gestützt hinan, oben empfing sie das laute Brausen der stürzenden Wasser. Die Geländer der schmalen Holzbrücke waren zu sehn, die über den Fluß führte gerade dort, wo die Wasser abstürzten. Renate ging daraufzu und sah einen Augenblick mit leichtem Schwindel, umrauscht vom jähen Getöse, unter sich die dämmerweiße, schräge Ebene von Schaum, die ihren Blick in das tosende Wirrsal gelblich weißen Gischts hinunterriß und weiter hindurch, wo dies entströmte in die dunkle, langsam sich glättende Fläche des Stroms, wo gemauerte Wände dunkel standen, Bäume, und Sterne zu sehen waren. Sie faßte den dünnen Geländerbalken vor sich mit den Händen und gab sich dem Donner der Fluten und dem geheimnisvollen Niederschießen des Weißen hin, in aller Weite doch eingeengt durch die Betäubung des Ohrs; dann sah sie zu ihrer Linken dicht neben sich Josef auf dem Geländer sitzen, ganz dunkel. Unsicher hob sie die linke Hand und streckte sie nach ihm aus; er nahm sie, hielt sie mit seiner linken auf dem Oberschenkel und deckte die rechte darüber. Sie glaubte, ihn etwas sagen zu hören, verstand nichts und sah fragend in den dämmrigen Schein seines Gesichts. Nun beugte er sich näher und sagte, ihre Hand fahren lassend: „Sei so gut und tritt etwas zurück.“

Sie tats unwillkürlich, doch war gleich hinter ihr das Geländer, an das sie sich lehnte.

„Kannst du meine Stimme verstehn?“ fragte er durch das Rauschen.

Sie bejahte.

„Dann, mein Kind,“ fing er nach einer Weile wieder an, „dürfte es an der Zeit sein, dir mein Geheimnis zu sagen. Wie dir bekannt sein wird, hat jeder Mensch sein Geheimnis, das nur der Tod oder höchstens die Geliebte erfährt. So erlaube mir, dich dafür anzusehn. Höre zu. Was in meinem Brief gestanden hat, dem Abschiedsbrief, das sind lauter Lügen gewesen. Nicht so gemeine, senkrechte Lügen, wie man sie alltäglich gebraucht, sondern feine, schräge natürlich, und zwar deshalb, weil da hundert Gründe für mein Fortgehn angegeben wurden, statt des einen wirklichen. Nun höre wohl zu ...“

Er schwieg Augenblicke lang, dasitzend schräg auf dem Geländer, eine Hand auf dem Knie, die er zu betrachten schien, während er mit gelassener Stimme fortfuhr:

„Der einzig und alleinige Grund, den ich dir nun zu verraten habe, war der: daß ich auszog, das Fürchten zu lernen. Lächle meinetwegen, Mädchen,“ sagte er, flüchtig aufblickend, „du weißt nicht, was du tust. Sich nicht fürchten, denkst du, das ist weiter nichts, oder man nennts auch Tapferkeit, wovon ich freilich nicht rede. Wovon ich rede, das ist: sich nicht fürchten können und doch immer: sich fürchten wollen, fürchten müssen, ja einfach eine unwiderstehliche, eine maßlose, eine wütende Lust nach dem haben, vor dem sich grausen ließe. Verstehst du’s vielleicht? Oder soll ich dirs erklären? Was mag es denn wohl heißen für einen Knaben, daß er Tiere langsam zu Tode martern muß und dabei warten, bis aus ihren nicht verstehenden Augen das Grauen überschlägt in die eignen? Nicht gefürchtet. Siehe auch einen Jugendlichen, der die kleinen Tiere satt hat, zum Schlachthof gehn und dem Totschläger der Bullen die Axt fortnehmen und Stiere und Rinder in Reihen erschlagen, um zu sehen, wie der Tod in ihre Augen und das Feuer darin zu blauer Asche tritt. Nicht gefürchtet. Ich habe gesehn, kann ich dir sagen — denn zum andern bekam ich naturgemäß die Gabe, immer dort zu sein, wo es etwas zu fürchten gab —, wie Menschen sich von Rädern zermalmen ließen. Nicht gefürchtet. Ich sah Menschen bei Feuersbrünsten aus Wolkenkratzern hüpfen wie die Flöhe und auf dem Pflaster unten zerspritzen wie Gefülltes. Nicht gefürchtet. Ich sah den Lift aus der Höhe herunter sausen und seinen zerquetschten, noch lebenden Inhalt im Kellerschacht. Nicht gefürchtet. Ich habe Männer bei langsamem Feuer rösten sehn — nicht gefürchtet; Kinder bei satanischen Messen lebendig zerlegen — nicht gefürchtet. Ich habe mir alle Arten der Hinrichtung besehn, Strick, Stuhl, Axt und Maschine. Ich sah in China Menschen, denen die Köpfe von zurückschnellenden Bambusbäumen ausgerissen wurden, die durch Tropfen von Wasser auf die bloßen Schädel zum Rasen gebracht wurden, — nicht gefürchtet, — Frauen, die bis an den Schoß in die Erde gegraben wurden, und denen ein schnellwachsendes Gewächs ... nicht gefürchtet. Ich habe alle diese Menschen zur Richtstätte führen, in Todesangst schlottern und wahnsinnig werden sehn — nicht gefürchtet. Ich —“

Plötzlich fühlte Renate, die ganz erloschenen Leibes mit zugefallenen Lidern gehört und gehört hatte, ihre Handgelenke von Händen ergriffen, sich vorwärts gezogen und ihre eine Hand mitten auf seine Brust gelegt. Sie konnte die Augen nicht aufbringen, als sie ihn jetzt sagen hörte:

„Da! Fühlst du mein Herz? Hier mitten in der Brust, nicht wie beim gemeinen Volk links oder gar rechts, da — kannst du den Schlag fühlen?“

Er zählte, und wie er langsam, langsam die Zahlen sagte, und sie mitzählte: „Eins — — — zwei — — — drei — — — vier — —“, hörte, fühlte sie die entsetzliche Langsamkeit des Schlagens darunter, kein Herz, ein eisernes Gangwerk, und Josef sagte:

„Spürst du’s nun? Kennst du den Schlag? Er ist gar nicht so langsam, wie dirs vielleicht vorkommen mag, er ist der Schlag der Sekunde. Aber! Dies Herz, dieser Schlag ist nur in einem einzigen Augenblick meines Lebens schneller gegangen. Begreifst du, was das heißt? Ah, Kind, das heißt, sagen sie, daß meine Mutter mit diesem Uhrenschritt um die Sonnenuhr gegangen ist, als sie mich trug, um mich hart zu machen für das Leben. Ich kann mich nicht fürchten, Renate, nein, du brauchst mich nicht anzusehn, ich kann mich nicht fürchten, ich habe nur einmal — ja, hin und wieder einmal habe ich etwas gespürt, das von weitem — sehr von weitem, denn es war nur eine Möglichkeit, ein Reiz — aussah wie Furcht, ein süßer Hauch der letzten Zerstörung, des Grauens, und das war die Möglichkeit: dir Gewalt anzutun. Nun genug. Du weißt alles bis auf das Letzte. Nämlich: heut vor drei Tagen —, ja, heut vor drei Tagen habe ich das Fürchten — gelernt. Und das war freilich so, daß es mich jetzt wundert, daß ich es überlebte. Ich will dirs sagen. Ich habe —“

Plötzlich war sein zerspaltenes Gesicht so nah vor dem ihren, daß sein Mund fast den ihren berührte, daß sie nichts sah als die Gräßlichkeit des blinden zerflossenen Auges, während seine Stimme von unten her flüsterte oder zischte: „Ich habe — mich selbst erschossen.“

Renate schloß die Augen, öffnete sie wieder. Josef saß wie vorher. Ihre Haut war kraus und eiskalt geworden am ganzen Leibe, sie glaubte kein Herz mehr zu haben, als sie von ihm fort sich am Geländer dahinschob.

„Ja, geh nur,“ hörte sie ihn noch sagen, „für dich ist es Zeit. Geh nur zu, Kind!“ Er hob winkend die Hand. Sie entlief.

Gleich darauf strauchelte sie über eine Unebenheit und gewahrte in der Wiesentiefe zur Linken eine Gestalt. Sie blieb stehn, die Gestalt kam näher; erst dunkel, ward sie grau; ihre Augen umklammerten sie angstvoll, sie wußte schon, wer es war, sie wollte nicht —, da kam er den Hang herauf, Erasmus, noch immer im Harnisch, barhaupt, und sie gefror. Aber ein jähes und wütendes Grauen trieb sie zwischen ihn und Josef, sie lief zurück.

Josef stand aufrecht oben und rief jetzt mit heller Stimme:

„Hier bin ich, Erasmus, hier! Ich fürchte dich nicht!“

Da stand Erasmus oben wie ein Gespenst, schrecklich groß, sie konnte seine Augen sehn, die aus den Höhlen quellen wollten, er hielt beide Hände geballt vor der Brust, die wogte, — nie, schrie es in Renate, ist er in der Fabrik gewesen, er trägt ja immer die Rüstung noch! — Und sie riß aus dem zugewürgten Hals klingend ihre Stimme heraus und sagte: „Erasmus? Ja, willst du denn —“ wirklich jetzt immer geharnischt gehn? wollte sie fragen, aber er schlug ihr die dünne Klinge, die sie vorstreckte, mit einer Keule nieder und mitten durch, indem er sagte: „Du!“ sonst nichts, doch eben dies hob sie wieder ganzen Leibes so leicht, als ob sie flöge, und sie lächelte angstlos und sagte: „Was hier geschehen soll, das wird nie geschehn.“

Im Augenblick darauf taumelte sie zur Seite, von einem Stoß oder — sie wußte es nicht, sie sah nur, in die Knie brechend und nun von Sinnen vor Angst, Erasmus dastehn, als stürze er vornüber und hörte ihn, keuchend, schäumend, gurgelnd:

„Endlich — ists — soweit. — Du! Mörder! Dieb! Mutter—mörder. — — Gestohlen — — Mutter hast — — mir gestohlen ... Vater — Liebe — — gestohlen. Liebe — immer, immer — gestohlen, immer — stohl ... nun — nun — stehlen — diese — die — willst — diese — du — du — verlorner Sohn! Abrechnen — rech — ich — Jahre geduld — — geduldet. — — Alles — alles — alles — getan — — rechnet, ge — — schunden, Blut unter — Blut — — und — nun, nun, nun — auch diese — Re — — Renate. Weg! du! weg du! weg, weg! Oh — uh — weg!“

Renate legte die Hände auf die Augen und drehte sich um. Sie machte einen Schritt, strauchelte und glitt den Abhang hinunter, brach unten auf die Knie, richtete sich schwer und mühsam auf und sah nun ruhig staunenden Blutes hoch über sich alles rot und in dem Rot eine ungeheure Gestalt, die eine andre wagerecht über sich hochgehoben hatte.

Da floh sie besinnungslos in das Dunkel, lief, im Fallen unzählige Male sich aufraffend, lief, ihr Kleid riß, sie packte es mit den Händen und hob es vorn und lief, hakte mit dem Fuß an Latten, riß ihn los, ihr Atem versagte, sie lief, blindlings einem bleichen Streifen am Boden folgend, keuchte und lief eine Schräge hinauf, wich einem Baum aus, der ihr jählings schwarz entgegentrat, und indem schmolz aus ihren Knien alle Kraft. Sie glitt vornüber und nieder, raffte sich wieder hoch, fiel gegen den Baum und schrie, ihn mit den Armen umklammernd: „Das war die erste!“ Sie hing und sah sich selber im Dunkel, in ihrem weißen Kleid, in einem jahrfernen Traum, in die Knie gleiten und wieder aufrichten, und stammelte: Die Verneigungen, die Verneigungen, die Verneigungen ... nun kommen die Verneigungen, oh Gott! — und sie lief weiter, sie war im Garten, in der Veranda, im Flur, — da mußte sie halten.

Treppenhaus

Einen Augenblick lang in großer Leere des Herzens mußte sie plötzlich erkennen, daß die Angst, die eben noch hinter ihr gewesen, vor ihr war; vielmehr war es nicht Angst, sondern nur ein leises Grauen, mit dem sie etwas Unheimliches über sich, im Treppenhaus witterte, und da wagte sie es, dem zu entfliehen, und bewegte sich bis zur Haustür hinüber, wo sie, jetzt gelähmt, stehen blieb und sich umwandte.

War denn Licht im Treppenhaus oder nicht? Wie seltsam helle es dämmerte! Weiß stieg die Treppe mit dem blauen Läufer bis zur ersten Biegung, von da aus das weiße Geländer. Und jetzt wußte sie: oben war etwas; das kam herunter. Kein Mensch, ein Tier, ein riesiges Tier, wild, sie hörte schon das langsame Treten der Tatzen von Stufe zu Stufe, das rauhe Fell, das am Geländer schräge nach unten sich hinabschob und scheuerte, sie roch den wilden heißen Dunst, und ihr Herz stand still. Gleich darauf tauchte der riesige weiße Kopf des Tigers oben hinter dem Geländer auf, die Lichter glommen auf in den gedehnten Augen, er wandte das Gesicht herum. Plötzlich saß er auf der Plattform, ganz still, die weißen Tatzen vor sich, und Renate sah das furchtbare, streifig bemalte Tiergesicht in einem Kranz weißer Mähnenhaare, sah, vom wilden Atem auf und nieder bewegt, die gelben, roten und schwarzen Streifen der Flanken. Der lange Schweif legte sich nach vorn, er duckte den Kopf, schloß die Augen und war verschwunden.

Sie stieg langsam die Treppe hinauf ohne andres Empfinden als die furchtbare Mühsal des Steigens. In ihrem Zimmer drückte sie die Handballen gegen die Stirn, stand und hörte sich stöhnen. Sie sah einen schwarzen Menschenkörper in einer ungeheuren Höhe schweben, und dann klatschte Wasser. Wieder stieg in ihr das Grauen, sie wankte vorwärts, ertastete den Türvorhang, fiel dagegen und an dem weichenden hin auf den Fußboden.

Renate lag totenstill. Alles war still geworden. Sie bewegte die klebrigen Lippen und lallte: Nichts ... Es war ja nichts. Nichts ist geschehn. — Sie hob den Kopf hoch, tastete nach ihrem Haar, entsetzte sich vor dem Rauhen ihrer eignen Flechte und gelangte mühselig auf die Knie. So lag sie eine Weile zitternd, stellte sich dann auf die Füße, tastete nach der Bettstelle, fühlte das Holz, machte zwei Schritte und setzte sich auf den Bettrand. Wankend vor und zurück fühlte sie, daß sie ohnmächtig wurde, aber im selben Augenblick mußte sie aufhorchen. Es waren Schritte auf der Treppe. Langsam kam es herauf, Fuß um Fuß, Stufe um Stufe, sie erhob sich und ging vor, trat in die Tür, lehnte sich mit Rücken und Kopf gegen den Pfosten und flüsterte: Sein Vater — kommt, nun — nun wollen wir Rede stehn. — Sie lächelte.

Langsam kamen die Schritte über den Flur näher, immer ein wenig lauter, und nun war alles still vor ihrer Tür. Sie wartete gefühllos. Ihre Augen, im Dunkel irrend, sahen die Fenster, und weiß den kleinen Schein der Gipsbüste in der Luft. Nun ging die Tür auf; da stand Erasmus. Sie sah seine Augen, die nicht Augen mehr waren, sondern nur Entsetzen. Dann hörte sie eine Stimme leise sagen:

„Ich hab’s — getan.“ Er schluckte. Sie sah seine Hände, die sich einander näherten, dann rieb die eine die Knöchel der andern. „Nun,“ sagte er unendlich leise, „nun steht, auf der Treppe, steht — — Gott — Vater, mit dem Licht und sagt — — wo — wo ist ...“

Renate sah den alten Mann oben stehn und die Treppe hinunterleuchten. Aber als die Erscheinung verschwunden war, wurde ihr leichter um die Brust, sie sah die Gestalt des Erasmus in der Tür sich wenden, sie löste sich vom Türrahmen und ging zu ihm; da fühlte sie wieder das Grauen, biß die Zähne auf die Lippe und sagte: „Erasmus ...“ Sie mußte die Augen schließen, hörte einen Fall und fühlte seine Hände in den ihren und sein Gesicht. Dann sah sie ihn vor ihr knien, machte eine Hand los, legte sie auf seinen Kopf und fing an, ihn zu streicheln. Er weinte und sagte kindisch mehrere Male: „Er sollte ja nur weg ...“ Dies dauerte eine Weile, dann war Erasmus plötzlich verschwunden, sie saß vor dem gelben Schirm ihrer Lampe am Tisch, sah über sich das weiße Antlitz Ech-en-Atons unverändert, oder lächelte es nun? Dann war nichts mehr.

Hörsaal

Renate hing verzweiflungsvoll am Drücker einer Tür, rüttelte mit aller Kraft und brachte sie nicht auf. — Ja, was ist denn? fragte sie sich, ablassend. Es war dunkel; was sie in der Hand hielt, war der Türdrücker an Reinholds Wohnung, sie sah die dunklen Fenster neben sich, Blumenstöcke und Gardinen. Da fühlte sie wieder ihre Angst, sie weinte: Ich muß ja fort, ich muß ja fort! — Indem hörte sie links hinter sich ein Knarren, die große Einfahrt bewegte sich, Reinhold kam herein mit seiner Frau. Im selben Augenblick auch schon saß Renate in ihrem Automobil und sah durchs Fenster die Straßenlaternen vorbeiziehn. Kaum hatte sie dies gesehn, so flammte es vor ihr und ward wieder Nacht, sie erschrak und sah, daß sie durch die Stadt fuhr, daß unaufhörlich Schwerter von einfallender Helle und Dunkel vor ihr in den Wagen schnitten, und nun sah sie im schmalen Spiegel gegenüber ihr Gesicht. Jetzt kommen Leute, dachte sie, sammelte sich, so gut sie konnte, und sah, daß sie in einem goldenen Mantel saß; ich hab ihn verkehrt umgenommen, dachte sie, es schadet nichts. — Sie schloß einen Haken am Halsausschnitt der Tunika, beugte sich vor und sah im Spiegel ihre Augen, sehr dunkel und tief in den Höhlen. Man sieht mir nichts an, dachte sie verwirrt, saß in einer großen Leere und merkte, daß der Wagen stillstand. Doch fuhr er gleich wieder, ein Gesicht kam ganz nah an die linke Scheibe, sie drückte Haupt und Rücken an und saß aufrecht, die Arme nach beiden Seiten gestreckt, und zitterte. Sie hörte dumpfes Brausen, die Lider sanken ihr zu, unter ihr sah sie die gelbliche Schaumfläche des Wehrs, es zog sie hinunter, sie warf den vorübersinkenden Kopf zurück und stöhnte: Oh Gott, wie lange dauert diese Qual! — Heftig erschreckend fiel ihr ein, ob Reinhold denn überhaupt wußte, wohin sie wollte, sie rückte ans Fenster, sah die Alleebäume dunkel, umwogt von menschlichem Getümmel, dachte inbrünstig an den Herzog, an alle Beruhigung, an Schlaf. Jetzt wurde die Wagentür aufgerissen, Reinholds Gesicht war draußen, sie raffte Mantel und Kleid und dachte: Zusammennehmen ...

Langsam stieg sie aus, ging zu der breiten Freitreppe der Universität vor und hinauf. Es schwirrte vor ihren Augen, groß und größer wurde der dunkel glänzende Fleck ihres violetten Kleidrocks, auf den sie hinuntersah, sie glaubte vornüber zu fallen, und erreichte mit Mühe die oberste Stufe. Ein Mensch, ein bunter, ein Türsteher, fragte sie etwas, sie antwortete: „Zum Herzog.“ „Seine Königliche Hoheit —“ hörte sie sagen und unterbrach: „Herzog Trassenberg.“ Der Mann verbeugte sich und ging fort.

Renate stand in einer Halle, sah einen breiten Korridor mit Türen zur Rechten und ging im ohnmächtigen Verlangen, nur sitzen zu können, hinein. Musik ... sagte sie, aufhorchend, ein Klavier ... Eine helle, singende Stimme schmetterte unverständliche Worte, sie ging daraufzu, eine Tür neben ihr stand halboffen, sie sah drinnen eine Wand mit einer schwarzen Tafel, darunter ein Podium und ein Katheder. Ach, dachte sie, ein Hörsaal ... Weiter vortretend, gewahrte sie unterhalb des Podiums Kopf und Rücken eines Menschen, der vor einem Flügel saß, spielte und zu einem Mädchen mit Haarschnecken an den Ohren aufsah, das in der Einbuchtung des Flügels stand, ihn lächelnd ansah und sang. Nun wurde auch das Profil des Spielenden sichtbar, ein hängender Schnurrbart, große hängende Nase und fliehende Stirn mit schwermütigen Brauenbögen; sie sah das nach hinten gestrichene, lang fallende Haar und glaubte den Menschen zu kennen. Die Schultern waren braun, Frackschöße hingen zwischen den Stuhlbeinen, oben darüber brannte eine harte Flamme, die ihre Augen blendete. Ach, Benno ists! dachte sie dankbar, da sitzt er nun und spielt ... Renate fühlte es rieseln im Herzen, sie lehnte sich an den Türrahmen, die Augen der Sängerin bewegten sich zu ihr, aber sie sang weiter, obschon sie betroffen schien und die Augen nicht wieder abwenden konnte. Ihr Gesicht war weiß wie eine Blüte, die Augen glitzerten blank und dunkel, die Backenknochen schienen etwas vorzustehn, sie sah munter und herzlich aus, und als sie nun wieder lächelte, mußte Renate es auch tun, während eine zarte, auf und nieder schwebende Melodie ein weiches Band um ihr Herz wand und wieder davon abzog und sie die Worte hörte: „Der mich ins Zimmer trägt, mir in die Hand — Wärmend ein Herz giebt mit Glutenbestand.“ Dann wechselte die Tonart in Moll: „Kommt jetzt der Winter mit Schloßen und Schnein ...“ sang das Mädchen wehmütig, fragend, wartete ein Weilchen auf einer Fermate in der Höhe und endete mit kurz und trübselig hervorgestoßenen Lauten in der Mittellage, eintönig: „Frier’ ich am Feuer und blase hinein ...“ während aber dahinter die Klaviermusik in einem lustigen Spottgelächter einen rauschenden Dur-Aufschwung nahm und abspringend, wie ein landender Vogel, mit zwei, drei Sprüngen prasselnd endete.

„Bravo!“ sagte Benno hochentzückt, „Du hast herrlich gesungen, ganz herrlich!“

„Guck mal da!“ antwortete die Sängerin, „da steht Fräulein von Montfort!“

Benno drehte sich um und sprang auf; sein heißes und gerötetes Gesicht wurde ganz dunkelrot, als er mit vielem Dienern auf Renate zukam, die Arme schlenkernd nach außen bewegte und lächelte und etwas stammelte mit seiner gebrochenen Stimme.

„Guten Abend, Benno,“ sagte Renate ihm die Hand reichend, „war das von Ihnen? Ach, machen Sie’s noch mal, es war so lieblich, bitte, wollen Sie so gut sein?“ fragte sie das Mädchen, in dem sie nun Bennos Braut erkannte, und das gleich bereit war. „Heliodora gebietet,“ sagte sie zu Benno, der sich maßlos wand und zierte, „also los!“

„Es ist aber ganz unbyzantinisch“, suchte Benno sich herauszuwinden. — Renate schwindelte es plötzlich, sie beherrschte sich mühsam, ging auf eine graue Bank zu und setzte sich. Bald darauf hörte sie das Klavier wieder, ihr schien, wehende Gartenzweige gingen vor ihr auf und nieder und die Sonne brannte. Aus Vogelgezwitscher schmetterte eine singende Stimme:

Lieblich ist Sommer mit Ähren und Mohn,

Ach und die Bäume entlaubten sich schon ...

Die Stimme, während das Klavier rumorte und aus der Fassung zu kommen schien, wurde wehmütig und murmelte:

Warfen die Kleider hin, steigen ins Grab;

Werf ich die Schuhe, die Kleider jetzt ab,

Find’t mich doch keiner, der eilig und gut

Um mich den Mantel der Zärtlichkeit tut ...

Die Stimme schwieg, das Klavier suchte murmelnd und ein wenig schnüffelnd wie ein unruhiges Tier im Baß, Renate öffnete die Augen, glaubte Schritte zu hören, da erschien die rote Uniform und das Gesicht des Herzogs mit fragenden Augen. Es waren noch Menschen da, aber er schloß die Tür hinter sich. Renate bewegte sich nicht, sah ihn nur unendlich erquickt und beruhigt an, nur mit ihrer Haltung andeutend, daß gesungen wurde und nicht zu stören sei.

„Der mich ins Zimmer trägt, mir in die Hand —“ hörte sie wie vorhin, die Worte entgingen ihr, gegen Ende stand sie langsam auf, der Herzog bewegte sich vor, und sie faßte seine Hände. Es war still.

„Danke schön, Benno,“ sagte Renate den Kopf neigend, „dank Ihnen tausendmal, kleines Fräulein! Und — Benno, — mir ist etwas eingefallen, — ich möchte Sie gern um etwas bitten ...“

Sie sah das Mädchen bittend an, die verstand, nickte Benno zu, rief: „Ich warte auf der Terrasse!“ und lief mit halbem Knicks vor dem Herzog hinaus.

„Dies ist Benno Prager,“ erklärte Renate, „du kennst ihn wohl ...“

Benno mußte in seiner tödlichen Verlegenheit herkommen und dem Herzog die Hand geben. Da wurde wieder der Boden und alles umher weich und löste sich um sie, auf einmal saß sie, sah das besorgte Gesicht des Herzogs nahe über sich, drückte ihm die Hände und sagte leise: „Nichts — fragen, Liebster, ich — ich darf noch nicht denken. Nur ein wenig ausruhn!“ bat sie müde. Mit geschlossenen Augen raffte sie nun ihre Gedanken zusammen, merkte, daß hinter ihr etwas Hinderndes war, an das sie nicht rühren durfte, öffnete die Augen und sagte:

„Es ist nur, — ich kann nicht zu Hause schlafen heut nacht. Ich dachte erst an dich, aber —“ es gelang ihr zu lächeln — „was sollst du mit mir? Benno, nicht wahr?“

„Aber,“ fiel der Herzog ein, „Georg kann ja im Stadtschloß — — ja,“ unterbrach er sich, „was das nur mit Georg sein mag?“ Und nun glaubte Renate zu erkennen, daß er selber in Aufregung war. „Ist etwas mit Georg?“ fragte sie.

„Ach ...“ Er zauderte. „Ich weiß ja nicht. Er ist verschwunden. Um Mitternacht sollte doch große Huldigung sein vor der Universitätsterrasse, im Garten, und jetzt gehts auf Viertel —“ Er warf den Arm aus dem Ärmel vor, um nach der Uhr auf seinem Handgelenk zu sehn, und murmelte erschreckt: „Gleich halb eins.“

Renate schwieg und mußte die Augen schließen vor Schwäche. Sie hörte sprechen, es rauschte in ihrem Gehör. Die Lider mühsam aufbringend, sah sie aus weiter Ferne den Herzog und Benno miteinander sprechen, doch kamen sie näher, als sie selber den Mund öffnete.

„Wir können vielleicht“, sagte sie, „so lange in Georgs Zimmer sein, bis bei Benno zurechtgemacht ist, — Benno, nicht wahr? Sie haben ja einen so schönen Diwan ...“

Benno schien erlöst, daß es nicht sein Bett sein sollte, rang die Hände und konnte vor Dienstbereitschaft, Peinlichkeit und Wonne kein Wort hervorbringen.

Alessandro Stradella ... las Renate fortwährend in kleiner, mickriger Kreideschrift an der Wandtafel, dahinter eine ausgewischte Jahreszahl und, etwas darunter: Pugiani. — Alessandro Stradella, sagte der Herzog nun, — was wollte er denn damit? — Sein Gesicht und das Bennos entfernten sich unaufhörlich und schwebten wieder näher, — nein, um Gottes willen, flüsterte Renate sich zu, du mußt dich doch zusammennehmen!

„Wollen wir gehn?“ fragte sie und sah lächelnd vom Einen zum Andern. „Ihr dürft mich nicht auslachen, daß ich so mitten in der Nacht ankomme! — Benno, und wie reizend war das kleine Lied!“ Sie lachte leise, erhob sich, wäre aber zurückgesunken, wenn sie nicht allen Willen aufgeboten und sich zornig angeherrscht hätte. Sie ging mit halbgeschlossenen Augen, an der Treppe nahm sie Bennos Arm, bald darauf saß sie in einem Wagen und fühlte, daß er rollte. Es dauerte nicht lange, sie sah Benno vor sich aussteigen, nahm seine Hand und trat auf die Erde. Dann war sie in Georgs Zimmer, das sie erkannte.

Schlafzimmer

Sie saß in einem Sessel und sah undeutlich den roten Rücken des Herzogs sich entfernen, ein Türrahmen war herum, er wurde kleiner in einer andern Tür, die Augen fielen ihr zu, sie öffnete sie wieder, da sie die Stimme des Herzogs nahe über sich hörte. Sie sah ihn lächeln, während er sagte:

„Dieser Georg! Hier hat er noch ein Zimmer, komm nur, das ist wie für dich erfunden.“

Sie stand müde lächelnd auf, nahm seinen Arm und ließ sich davonführen. Es ist wie als Kind, dachte sie ergeben, die Augen geschlossen, wenn ich mit Vater blind spielte ... „Kann ich nun aufmachen?“ fragte sie leise, öffnete die Augen und sah den Herzog lächeln ohne zu verstehn.

Nahe vor ihr stand ein Diwan, dunkelviolett wie ihr Kleidrock mit lichtfarbigen Kissen. Große schwarze Reiher flogen schön über Vorhänge, und hinter dem Herzog war das gelblichweiße Gewoge und Gewölk eines großen Himmelbetts. Sie sah es zweifelnd an, witterte leicht mit der Nase und sagte: „Ich weiß nicht ...“

Langsam gegen das Himmelbett vorgehend, blickte sie zwischen den gerafften Falten hinein und sah einen schönen und großen, blauen Schmetterling auf dem Kopfkissen stecken. „Nein, sieh, Woldemar,“ sagte sie, „das scheint doch für jemand anders ...“

Plötzlich kreiste das Bett vor ihr, der Schmetterling wurde zu vielen, die sich auseinander schoben und umher zuckten, sie fiel vornüber und sammelte den Rest ihrer Kraft, um den Schmetterling nicht zu zerdrücken, faßte darunter, fühlte sich im selben Augenblick aufgehoben und sanft niedergelegt. Eine Weile war es schwarz um sie her, aber sie konnte die Lider wieder heben. Der Herzog stand deutlich vor ihr, besorgten Auges, sie fing an, die Ordensreihe auf seiner Brust zu zählen, deren Kreuze übereinander gelegt waren. „Wie die Schmetterlinge“, sagte sie ganz leise und sah, daß sie den blauen noch in der Hand hielt. Sie steckte ihn mit schweren und lahmen Händen auf den Brokatstreifen vor ihrer Brust, die Augen fielen ihr darüber zu, sie dachte erschreckend: ich muß es ihm doch sagen, er muß es doch wissen! Schon saß sie wieder aufrecht, blickte hart und fest in seine Augen empor und sagte, kaum ihre Stimme vernehmend:

„Du mußt noch wissen ... Es ist etwas — geschehn. Nein, laß nur,“ wehrte sie todmüde ab, da er eine beschwichtigende Bewegung machte, „einmal muß es doch sein. Nun — mußt du — ganz verstehn,“ brachte sie in Absätzen hervor, „willst du?“ Er nickte.

Eine Weile war alles fort, sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Endlich dämmerte es langsam wieder, sie hielt sich mit beiden Augen an den verschwimmenden Linien der weißlichen Wässerung in einer orangefarbenen Schärpe und sagte, seine Hand fassend:

„Josef ist — tot. — Erasmus ...“

Da merkte sie, daß ihr Kopf sich ganz tief neigte, und dann lag sie wieder. Sie brachte mit unsäglicher Mühe die Lider hoch, sah das Gesicht des Herzogs und hörte ihn, gütig zuredend, sagen: „Nun mußt du aber schlafen ...“

„Erasmus“, flüsterte sie sehr leise, „ist böse, nicht?“ Der Herzog nickte und nahm ihre Hand. „Aber Josef,“ sagte sie heller und froh, „Josef ist gut! Ist er nicht gut?“ fragte sie, sich schnell aufrichtend.

„Liebes Kind,“ hörte sie den Herzog sagen, „du drückst mir das Herz ab, es ist ja nun genug! — Mein Gott,“ stöhnte er ganz erschüttert, saß da neben ihren Füßen und hielt die Stirn in der Hand, „mein Gott, es ist ja fürchterlich, wie du dich aufrecht gehalten hast!“

Ach, dachte Renate, da ist schon wieder einer, dem ich den Kopf streicheln soll! — Sie legte die Hand auf sein Haar und hörte sich ferne sagen: „Haltung, lieber Freund, giebt es ganz umsonst, wenn das Schicksal seinen Tribut — —“

Sie verlor das Ende des Satzes und sank zurück. Aber sie konnte nicht stilliegen, schlug plötzlich die Augen wieder auf und sagte mit kleiner Stimme: „Du meinst vielleicht, — weil sein Gesicht — weil er — — nur noch halb ist ... Aber weißt du, — er hat ja eine — — Ergänzung, — oh, eine schöne! Das glaub nur ja nicht, daß sie nicht gut paßt, sie ist ja von einem Chinesen! Sieh, nun weißt du’s!“ sagte sie triumphierend und dachte: wie vernünftig ich doch sprechen kann, er merkt sicher nichts. „Und siehst du,“ fing sie wieder an, unterbrach sich aber und sagte: „Hast du’s gehört? Siehst du, habe ich gesagt, und Ulrika behauptet, daß ich immer ‚weißt du‘ sage, aber das tue ich gar nicht. Nein, siehst du, Josef, — du mußt nicht denken, daß er es nicht gewußt hat. Oh, Josef ist so gut, so gut, er ist ein solcher Held, er sagte: ich fürchte mich nicht! — Das sagte er, und es lauerte doch, weißt du, immer lauerte es schon, unter den Bäumen, wo die Schaukel ist, weißt du, und dann in den Wiesen, am Wehr, oh wie das rauschte, hörst du? ganz laut — höre ich es ...“ Sie schöpfte Atem, bewegte den Kopf hin und her und sprach heiß und eilig weiter: „Kein Wort, hörst du wohl, kein Wort hat er gesagt, so saß er da, du mußt es seinem Vater sagen, daß er kein Wort gesprochen hat, er war ein Held, war er nicht? — Was not he?“ flüsterte sie, „das ist englisch ... Ach, meine Stimme — will gar nicht mehr“, sagte sie heiser und gequält und merkte, wie ihr die Worte erloschen.

„Schlaf nun, du mußt wirklich schlafen“, sagte jemand.

„Muß ich?“ fragte sie lächelnd mit geschlossenen Augen.

„Ja, ja, du mußt“, sagte die gute Stimme wieder.

„Dann will ich gern, wenn du’s sagst“, flüsterte sie gehorsam, drehte den Kopf auf die Seite und machte die Augen fest zu. Gleich aber öffnete sie die Lider wieder, lachte leise und fragte: „Ists so recht?“

Sie hörte noch ein Gemurmel, seufzte tief, streckte sich und empfand dankbar die Dunkelheit.

Schlafzimmer (das andre)

Doch stürzte sich jetzt ein peitschender Knall mitten durch ihr Herz. Sie schnellte hoch, schrie auf: „Erasmus! Du darfst nicht, du darfst nicht mehr!“ Ein wütender Ingrimm jagte sie auf, da knallte es wieder, sie fiel innerlich zusammen, wankte gegen Hartes, fühlte einen Türdrücker, riß und zerrte ohnmächtig daran, endlich schlug die Tür nach außen auf, es war blendend hell, der rote Waffenrock ... bläulicher Dampf — — und wieder ein Knall und scharfes Pfeifen dicht neben ihr ... Dahinten stand in der Tür ein Mensch, schwarzbärtig; aber sie kannte ihn, sie rang nach dem Namen, sie mußte ihn rufen, der Herzog hob den Stock und rief wütend: „Du bist verrückt, Schurke, wirst du endlich aufhören!“ Menschen warfen sich herein, packten ihn, er schüttelte sich mit ihnen herum, es knallte wieder, Renate, am Türpfosten hängend mit Kopf und Rücken, wand sich und schrie plötzlich: „Sigurd!“

Da fielen ihm die Arme herunter, sie sah Sigurds Nase und bestürzte Augen, dann den Herzog, der an einer Badewanne lehnte und schwankte. Sie lief zu ihm, kniete vor ihn hin, stützte seine Stirn, er machte die Augen weit auf, lächelte und sagte leise: „Es ist ja nichts. Ein Streifschuß, — oder ...“

Nun giebt es zu tun, dachte Renate, aber sie bewegte sich nicht, lehnte matt in der Tür zum Badezimmer, bis ihr einfiel, was sie suchte, eine Waschschüssel, doch war keine zu sehn. Es rauschte, laut und lauter rauschte es in ihren Ohren. Sie drehte sich wieder um, da lag der Herzog furchtbar groß auf dem Bett mit riesigen, spiegelblanken Reiterstiefeln an den Füßen; seine linke Hand, die herunterhing, war ganz rot, und das Blut tropfte eilig an den Boden und bildete eine Lache. Menschen standen herum, die Tür ging auf, eine Waschschüssel, in der ein Handtuch lag, wurde hereingetragen, Renate ging draufzu und nahm sie aus den Händen eines zitternden alten Mannes, kniete neben dem Herzog nieder, setzte die Schüssel hin und wusch die Hand, es war keine Wunde daran.

„Ein Messer,“ sagte Renate, hatte gleich darauf ein Taschenmesser in der Hand und trennte die Ärmelnaht auf, schnitt und riß den Ärmel ab, knöpfte die Manschette auf, streifte den Hemdärmel hoch und sah am Oberarm einen klaffenden Riß, den sie wusch. Impfnarben kamen groß und zerflossen zum Vorschein, sie drückte das Handtuch auf den Riß und sah, einen Augenblick dahockend, das Gesicht des Herzogs, sonderbar still und bleich mit geschlossenen Augen. Er atmete. Und sie dachte, da er so in sich gekehrt dalag: Das kann doch von dem Riß nicht kommen ...?

Schritte kamen, ein Gesicht mit einem spitzen Bart neigte sich von oben, eine Hand nahm stillschweigend das Messer aus ihrer Hand und fing an, die Schärpen durchzuschneiden. Sie begriff und hakte den Waffenrock von unten auf, ließ es aber, da das Blut wieder vom Arm lief, nahm das zusammengepreßte, nasse Handtuch auseinander und wickelte es, so fest sie konnte, um die Wunde. Mit dem Taschenmesser, das sie wieder auf dem Boden liegen sah, schnitt sie das Ende des Tuches auf und knotete es fest. — Nun konnte sie die Brust des Herzogs sehn, ganz schwarz von krausem Haar, darunter sehr weiß, und in der Nähe der bräunlichen Brustwarze war ein kleiner Fleck. Plötzlich fühlte sie, daß sie sich in ihrer hockenden Stellung nicht mehr halten konnte, und stand auf.

Etwas Blaues und Weißes schaukelte zur Erde. Jemand hob es auf und gab es ihr: es war der Schmetterling mit den Schleifen. Sie behielt ihn in der Hand, ging vorwärts und atmete kühle Luft. Der Garten, sagte sie, trat durch eine Tür, lehnte die Flügel hinter sich aneinander und sank mit dem Rücken dagegen. Sie sah das Schwarze von Bäumen, eine dunkle Lücke darin und zwei weiße Sterne, der rechte ein wenig tiefer als der linke. Sie konnte die Augen nicht abwenden von ihnen, ihr Blick war unendlich fest und ruhig, bändigte den ihren, bändigte ihr ganzes Herz und Dasein.

Zu Gottes Ehr’ bin ich durch Feuer geflossen, hörte sie sagen, Matthias Zach hat mich gegossen, Hötting siebenzehnhundertundachtzig. — Sie lächelte und wiederholte willenlos: Zu Gottes Ehr’ bin ich durch Feuer geflossen ... Wie still und kühl es war! Nur das Rauschen hielt an. — Hötting siebenzehnhundertundachtzig, Matthias Zach hat mich gegossen ... Eine alte Glocke hing still im Gestühl, Schwalben schrien, kleine Engelsköpfe von Bronze glänzten dunkel auf der Glockenspitze, und sie las die Inschrift: Matthias Zach hat mich gegossen ... Die Sterne flackerten ganz wenig, als ob der Wind sie bewegte, der durch den Garten kam. Ein Tropfen näßte kühl ihre Stirn. Es fängt an zu regnen, dachte Renate und wandte sich um.

Hinter den Glasscheiben sah sie, daß die Tür zum Flur geöffnet wurde, jemand kam groß, bleich und schwarzbärtig die Stufen herab, die Hände auf dem Rücken, — Sigurd. Renate öffnete die Tür, trat ein, ging zum Fußende des Bettes, sah das bleiche und verschlossene Gesicht des Herzogs, unter einer wollenen Decke die Umrisse seines Körpers, und neben sich in der Tür den Arzt.

Der Herzog öffnete die Augen, lächelte bei ihrem Anblick, fragte dann: „Ist er da?“ Renate nickte.

Ein Offizier in blauer Polizeiuniform bedeutete Sigurd vorzutreten, — da stand auch ein Schutzmann. — Der Herzog wandte das Gesicht herum, betrachtete lange den Dastehenden, der bei Renates Anblick den Kopf senkte, fragte dann mit leiser Stimme: „Was hat das — zu bedeuten?“

Sigurd schwieg. „Ich verrate nichts“, sagte er endlich, den Kopf hebend, und senkte ihn gleich wieder.

„Sie sollen nichts“, sagte der Herzog, „verraten. Ich will — wissen, wie ich — zu der Ehre komme ...“ Er hob mühsam den Kopf, blickte zornig und brachte knirschend hervor: „Haben Sie mich denn weiß Gott mit meinem Sohn verwechselt?“

Sigurd schien erstaunt. Ob er denn nichts wisse, fragte er nach Sekunden, zögernd. Der Herzog bewegte den Kopf, und Sigurd sagte mit einem eigentümlichen, irren Aufleuchten der Augen: „Er liegt in — der Gracht. — Nicht ich!“ setzte er hastig und laut hinzu, — „er stürzte hinein, ich — ich sah es von weitem.“

Renate sah die Brust des Herzogs auf und nieder gehn, sein Atem rasselte, er stöhnte: „Unsinn! er kann schwimmen!“

„Er kam nicht wieder hoch“, sagte Sigurd.

„Ach, in Teufels — Namen,“ keuchte der Herzog, „was wollen Sie — dann von mir?“ Sigurd hob den Kopf, blickte glänzend geradaus und sagte kurz: „Den Nachfolger.“

Der Herzog sah ihn nur an. „Wir wissen alles“, erklärte Sigurd nicht ohne Stolz.

„Und — und der Sinn des Ganzen?“ fragte der Herzog leise. Sigurd blickte Renate mit flackernden Augen an und sagte: „Ich will es der Dame erklären, wenn sie verspricht, es nicht vor morgen abend weiterzusagen ...“

Der Herzog blickte Renate fragend an, sie winkte Sigurd mit den Augen und ging ihm voran in das Zimmer mit dem Himmelbett; sie ließ ihn eintreten, lehnte die Tür hinter ihm an, Sigurd stellte sich dagegen und fing sofort an, die Augen niederschlagend, zu sprechen, heiser und halblaut:

„Er ist nicht der einzige. Es handelt sich um zweierlei gleichzeitig. Wir stehen vor einem Kriege. Die einzige, wirkliche Gefahr ist der Patriotismus in Deutschland oder das dynastische Gefühl. Nur in Deutschland giebt es Fürsten. Ich bin nur ein Glied in einem großen Plan, nach dem sie Alle fallen heute und morgen. Der Schrecken wird die Gemüter bändigen. Es folgt die soziale Erhebung. Renate,“ sagte er noch leiser, plötzlich das Gesicht und die schönen Augen hebend, die — o, sie sah es! — irre waren, ganz irre! — „vor Ihnen muß ich mich nun verteidigen ... Was ich tat, war gut und — schwer.“

„Ich weiß“, sagte sie stumpf, während eine entsetzte Stimme in ihrem Herzen schrie: Er ist ja wahnsinnig, o Gott, er ist wahnsinnig! — Sigurd atmete tiefer. „Ich wollte,“ sagte er, jählings flammend, „den — den Andern, den Sohn, diesen —“

Gleich darauf lag er vor ihren Füßen auf der Erde, sie sah seine Hände von stählernen Ringen zusammengehalten und schauderte vor diesem Zeichen des Verbrechens. Sie fühlte sein Gesicht an ihren Knien, wollte es wegheben, aber eine schaurige Erinnerung zwang sie, die Hände auf seinem Kopf zu lassen: damals, als Esther tot war, damals kniete er so. — Und dann fuhr sie ein-, zweimal mit den Fingern durch das lockre und weiche Haar. — Hötting siebenzehnhundertundachtzig ... hörte sie, ihr Mund zuckte, sie streichelte wieder seinen Kopf, hörte ihn leise wimmern, fuhr, verzweifelten Herzens, fort, dem zerrütteten Haupt an ihren Knien mit den Händen wohlzutun und es zu beruhigen, und murmelte Worte, die sie nicht mehr verstand. —

Er gehorchte und stand vor ihr, die geröteten Augen verstört, voll Schmerz und Feuer. Um seinen Mund zuckte ein Lächeln, da er sagte: „Esther hat es ja nicht zu erleben brauchen ...“

Seine Blicke glitten an den Boden; als sie mit den ihren folgte, sah sie wieder den blauen Falter dort liegen, bückte sich und hob ihn auf.

„Immer“, sagte sie leise zu Sigurd, „liegt mir der Falter im Weg; sieh, wie ist er schön, und immer unverletzt.“

Sigurd schluchzte plötzlich auf und sagte: „So wie du ...“

Sie schauderte, da wurde die Tür geöffnet, der Offizier erschien, auch der Arzt, der sie zum Herzog bat.

Nun stand sie zu Füßen des Bettes. Das Gesicht des Herzogs war gelb. Er schlug die Augen auf, sah sie schmerzlich und mitleidig an und sagte sehr leise: „Tut es noch immer weh?“

Renate senkte die Stirn, ohne zu verstehn, und er sagte wieder: „Ich dachte, dir wäre längst besser — nun.“ Und nach einer langen Pause: „Arme Helene ...“

Renate ging um das Bett zu ihm, schlug die Decke zurück, legte die Finger in seine Hand und drückte sie leise. Er hatte die Augen geschlossen.

Eine Weile später sah sie die dunklen Pupillen wieder glänzen. „Ach, Renate!“ sagte er, leise lächelnd und kaum vernehmbar; dann — mit einer langen Pause zwischen jedem Wort: „Du — — warst — — sehr — — schön. — — Aber — —“

Lange Zeit kam nichts mehr. Sein Atem ging sehr rasselnd. Die Tür wurde plötzlich aufgerissen, ein halbes Gesicht fuhr herein und verschwand sofort: die Tür wurde sehr langsam zugezogen.

„Helene?“ hörte sie eine kraftlose Stimme sagen und nach langen Sekunden: „bist — — du — — noch — — da? — — Ach so!“ sagte er dann.

Renate stand auf und stellte sich in die Gartentür. Leise fiel im Dunkel der Regen. Auf dem vom Licht im Zimmer beleuchteten Wege sah sie ihren Schatten liegen, dessen Haupt im Schatten von Zweigen verschwand. Sie fröstelte, wandte sich um und trat wieder ans Bett. Vor ihr beugte der Arzt sich auf den Daliegenden, beugte sich tiefer, richtete sich nach Sekunden wieder auf, sah sie ernst an und nickte. Gleich darauf fing irgendwo ein Mensch laut zu weinen an.

Renate warf noch einen Blick ohne Gefühl auf das gelbe, entfremdete, hager gewordene Gesicht, wandte sich ab und ging zur Tür, die vor ihr geöffnet wurde, ging zwischen Menschen hindurch über den Flur und trat in die Nacht und den Regen, wo Menschen im Halbkreis geschart im Laternenlicht standen. Sie ging geradesweges zwischen ihnen hindurch und weiter, steif in sich, kalt, unbeweglich, nur langsam ermüdend, aber sie ging weiter und weiter, bog um Hausecken, ging viele Straßen kreuz und quer, jemand redete sie an, sie blieb stehn und fragte: „Ja, was wünschen Sie?“ und die Gestalt vor ihr drehte eilig um und entfernte sich. Sie ging weiter, schritt plötzlich auf ein riesengroßes, leuchtend weißes und vergittertes Fenster zu, das über ihr schwebte, erkannte eine hohe Mauer und bog um die nächste Ecke. Neben einem Hauseingang blieb sie stehn und sah zu den Fenstern auf. Drei erleuchtete gewahrte sie, sie hörte einen Fensterriegel, ein Schatten beugte sich heraus und verschwand gleich wieder. Sie konnte nicht mehr stehn, ging zur Haustür, faßte nach dem Türdrücker und lehnte sich in die Nische. Die Augen fielen ihr zu. Dann hörte sie einen Schlüssel im Schloß, die Tür bewegte sich, sie öffnete die Augen, erkannte im Dunkel Saint-Georges’ Gesicht und sagte leise und vorwurfsvoll: „Aber Georges! — wo warst du denn den ganzen Tag?“ Seine Antwort vernahm sie nicht mehr.

Sterne

Georg konnte sich nicht bewegen. Das weiße und blaue Pferd rannte in wütender Eile mit Renate bergunter, aber, obgleich sie laut um Hülfe schrie, lag er auf der Seite fest und konnte die überkreuz gefesselten Hände nicht bis zu der Pistole bringen, die dicht vor seinen Augen lag. Das Pferd galoppierte unaufhörlich, endlich hatte er nach fürchterlicher Mühe die Hände an der Pistole, aber sie war so groß wie ein Maschinengewehr, hatte keinen Lauf und einen unverständlichen Mechanismus von lauter Hebeln und Rädern, der Kolben war nicht zu finden, er ächzte und fluchte: „Wer hat denn dies verrückte Ding hierhergestellt, damit kann man doch nicht schießen!“ — Aber plötzlich knallte es, jedoch ganz leise, und Georg sah einen kleinen Hahn sich bewegen und auf ein Zündhütchen fallen, und dachte: Sonderbar! Erst schießt es, und dann fällt erst der Hahn. — Der Hahn bewegte sich von selbst wieder in die Höhe, und nun fiel das Zündhütchen herunter, fiel ins Innere der Maschine zwischen die Hebel und Stangen, und Georg sah es unten unter der Tabulatur liegen, denn nun war es eine Schreibmaschine. Ach, nun weiß ich! dachte er und drückte eine Taste; sogleich knallte es, und noch einmal, und wieder, sooft er die Taste niederdrückte ...

Georg schlug die Augen auf und fand sich in einem Halbdunkel. Irgendwo mußte ein Licht sein, da berührte etwas Warmes und Weiches seine Stirn, und er sah dicht über sich einen großen Pferdekopf. Unkas, dachte er, merkte, daß er am Boden lag, und fror. Sein Kopf glühte, ihm war sehr elend, aber nun fiel ihm ein, daß er ja gesucht wurde, daß er fort wollte, fort mußte. Er stand auf, seine Glieder schmerzten heftig, er schwankte, ihm wurde tödlich übel, und an den Pfosten der Box gelehnt, erbrach er sich mit furchtbarem Krampf. Danach war ihm etwas leichter, er sah das Kopfzeug des Pferdes dahängen, nahm es herab, trat neben Unkas und machte es mit unsäglicher Anstrengung, mit immer wieder lahm herabfallenden Armen, notdürftig fest. Er ergriff einen Zügelriemen und zog das Pferd hinter sich her. Die Stalltür war angelehnt, er kam auf den Hof, sah im Vorwärtsgehn alle Fenster seiner Wohnung erleuchtet, auch einige darüber. Die arbeiten die ganze Nacht durch, dachte er spöttisch, aber wieder fiel ihm ein, daß er gefangen werden sollte, und er zog Unkas nach links hinüber in den Garten. Nun konnte er nicht mehr gehn, streifte Unkas den Zügel über den Hals und kletterte ächzend und verzweifelt auf seinen Rücken. „Ja, nun geh, geh doch!“ flüsterte er. Das Pferd fing an zu gehn, er hielt sich an der Mähne fest, wankte mit geschlossenen Augen vor- und rückwärts, da stand das furchtbare Tier wieder still. Die Augen öffnend, sah Georg Wasser unter sich, daneben einen kreisförmigen Schattenriß strahlenartiger Latten, die den Weg am Wasser versperrten, begriff, daß er durch den Graben mußte, trieb Unkas mit Faustschlägen und den Absätzen hinein, und nun hörte er lange Zeit das schwere Planschen der Hufe im Wasser. Plötzlich ging es mit einem Ruck bergauf, er hielt sich fest, sah im Dunkel vor sich ansteigend den Pferdenacken, warf sich vornüber, und nun ging es wieder auf ebenem Boden weiter, entsetzlich langsam, und schließlich stand die Bewegung wieder still.

Da funkelten Sterne ... Drei, fünf, viele, unzählbare standen in der Nacht und funkelten unablässig. Weiter oben am Himmel jedoch waren keine, und Georg wunderte sich, daß die Sterne nur noch unten waren. Ihre kleinen Feuer loderten, andre blinzelten nur leise, aber sie waren alle seltsam in Bewegung und funkelten ohne Unterlaß. Er sah wieder nach oben, ob dort noch immer keine seien, legte den Kopf in den Nacken, verspürte augenblicks einen knallenden Schlag und starken Schmerz am Hinterkopf und lag am Boden. Vor seinen Augen zuckte und sprang das Sterngewimmel aufgelöst durcheinander, nach einer Weile wurde es wieder ruhiger, jedoch eine wahnsinnige, tödliche Angst wälzte sich zermalmend über seine Brust; er glaubte zu sterben, alles wurde weich und schwarz um ihn her, die Augen fielen ihm zu, aber unverändert noch lange Zeit blieben im Dunkel ihm Sterne sichtbar, sich verlierend in eiskalte Finsternis, funkelnd und glitzernd unablässig.

Hier enden des siebenten Buches neun Kapitel oder dreimal soviel Stunden.

Achtes Buch.
Hallig Hooge
oder
Die Kammern der Seele

Erstes Kapitel: August

Renate an Magda

am 1. nachmittags

Magda!

Schon Nachmittag, und ich bin noch hier. Georges, der Dir diesen Zettel bringt, wird Dir sagen, daß ich bei ihm bin, und alles andre! Mitleid, Liebste, meine Sorge um Dich ist grenzenlos, wer wüßte wie ich, was der Herzog Dir war, aber ich kann nicht, kann nicht in das Haus kommen, wo Du bist! Ja, Grauen überstehn, aber hingehn, wo es ist? oh nein! Ach, zu Asche gebrannt, Kind! Genug, vergieb, komme zu mir, nein, komme nicht, hüte mir — umsonst, ich kann den Namen nicht schreiben, alles versagt.

Georges gieb bitte ein Kleid für mich, Wäsche für Tag und Nacht, und was sonst nötig. In meinem Festkleid — ich sitze da wie eine Irre. Georges’ Bruder trat mir Kammer und Bett ab. Morgens als ich aufstand, da war alles leer, nur ein Zettel von Georges’ Hand, daß er seinen Bruder ins Gymnasium fuhr, da fiel mir sein erster Schultag ein, er geht ja noch ein Halbjahr hin wegen des Examens. Den ganzen Vormittag blieb er, Georges, weg, um Zitate nachzuschlagen in der Bibliothek. Es war so zart von ihm, mich allein zu lassen, aber solche Zartheit macht in die Verzweiflung einen Knoten, wenn man schon drin sitzt. Ich muß wohl aufhören zu schreiben. Innig Dein!

R.

Renate an Magda

noch am 1. nachts

Noch ein Wort in der Nacht für Dich, armes, gequältes Herz, und die Bitte, Dich meinetwegen nicht zuviel zu sorgen. Kraft ist noch da, weiß nur eben nicht wo, aber glaub schon, daß ich sie finde! Habe Dank für Dein liebes Wort durch Georges, die Franziska hat alles schön besorgt, sogar an meine Badessenz gedacht. Daß Du Dich niedergelegt haben würdest, konnte ich freilich denken, es ist schmerzlich, daß Georges Dich nicht sah, nun, morgen seh ich Dich selbst. Jetzt ist alles leer, ich fühle nur den Schmerz des Risses, er trennte mich in leblose Teile, nur wo der Riß läuft, brennt Leben, Vergangenheit und Zukunft sind wie abgehauen, der Himmel weiß, wann sie mir wieder anheilen werden.

Hörtest Du von Georg? In der Zeitung soll gestanden haben, er sei erkrankt.

Heute morgen erwachte ich aus diesem Traum, in dem Du vorkamst. Es fängt an mit etwas Kleinem, das an der Erde lag; als ichs heben wollte, wars eine haarige Spinne, ich bebte zurück, trat mit geschlossenen Augen auf ihren Leib, der war weich und regte sich, da sah ich, daß es ein widerlicher brauner Frosch war, so groß wie eine Hand; sah mich verschmitzt an und sagte: Ich bin so weich und gehe nicht entzwei! — Da lag auf einmal der Herzog auf einer Bahre, hatte die Augen zu, und ich wußte, wenn er nur die Augen aufmachen könnte, war der Zauber gebrochen, ich lag auf den Knieen, rang und weinte, da stand Erasmus hinter mir und sagte, die Hände faltend: Laß uns beten! — Wie ich aber unter sein Gesicht blickte, sah ich, daß er heimlich lachte. Ich stand vom Bett auf und sah, daß ich nichts anhatte als weißen Unterrock und Leibchen, ich schämte mich, da hing ein violettes Kleid über der Wäscheleine, es war nun im Gemüsegarten, das nahm ich herab und zog es an, und nun kam Josef über die Beete im Frack, einen seltsamen großen Zylinder in der Hand, und sagte ernst: Dein Onkel liegt im Sterben, und du hast ein rotes Kleid an. — Ich sagte: Es ist doch blau! aber es war wirklich blutrot, und da wußte ich, es war das, das Bogner angehabt hatte. Josef lachte da fürchterlich, und ich war so erstaunt und sagte: Josef, ich dachte, du wärst tot! Ach, dann hab ich das nur geträumt, oder schriebst du es nicht? Daneben war nun das große Blaue, das warst Du, die fortwährend mit einem großen Kleidrock rauschte, den Du nicht festbinden konntest, Du warfst ihn hin und her, es waren hundert Falten, es dauerte endlos, dann fingst Du an zu fliegen, flogst auf die Fensterbank, drehtest Dich wie ein Vogel und sagtest triumphierend: Siehst du, nun kann ich doch fliegen, und du wolltest es nicht glauben. — So schwebtest Du davon, machtest einen Bogen, und nun war es ein ungeheurer blauer Schmetterling, der die Flügel langsam auf und zu faltete. Das sah wunderbar aus, aber nun kam er auf mein Bett gekrochen, und als ich die langen haarigen Beine sah, die so vielgliedrig griffen, Hörner und Glasaugen und das braune, mundlose Gesicht, packte mich das Entsetzen, ich brachte aber keinen Ton aus der Kehle, und es kam immer näher gekrochen, ich dachte, ich stürbe vor Ekel, da merkte ich, daß ich alles abschütteln könnte, wenn ich es nur fertigbrachte, aufzuwachen. Es gab einen Ruck, ich lag in Finsternis und atmete auf ...

Ach, und jetzt: wenn ich es nur fertigbrächte, aufzuwachen, und auch dies wäre ein Traum gewesen, — oh mein Gott!

Und um das Haus, das mir Heimat wurde, liegt nun der magische Gürtel. Drin sitzt das Grauen mit den Augen eines alten Mannes, und statt eines Mundes steht da Kain geschrieben.

Ja, aber weißt Du es denn überhaupt? Nein! und nun sehe ich erst, daß ich vergaß, Georges danach zu fragen, und gewiß hat er Dir nichts gesagt, da er Dich nicht sah. Ich muß ihn morgen fragen. Ach, nun ist alles wieder glühend geworden.

Aus Renates Gedächtnisbuch

am 2. August

Ein stiller Vormittag. Ich schnitt mir von Georges’ Aktenbogen Blätter in der Größe meines Buches; nun soll einmal die Feder laufen statt meiner Füße, die eine Stunde lang den grauen Läufer herauf und herunter irrten, und diese hohen roten Mauern da drüben, regennaß, die schwarzen Gitterfenster und die grasbewachsenen Dächer, naß und umspült vom Regen, die grauen Wolkenfetzen am jagenden Himmel, ich kann sie nicht mehr ansehn. Als ich heut nacht erwachte, hörte ich schon den Regen in einer Dachrenne klappern so fremd! fremd wie nun die Stille. Und doch wohlbekannt seit Jahren! Ach, das Alleinsein ist fremd im Zimmer der langen, gemeinsamen Arbeit, der Gespräche, der Behaglichkeit! und was auch sonst im Leben geschah: die Arbeit war jahraus jahrein; wie wird das werden, wenn sie vollendet ist? und auch das soll nun bald sein.

Kraftlos, oh ganz kraftlos zu sein! Ich bin so müde und matt. Und wie das nun aussieht, geschrieben! Wie machen es nur die Dichter? Wenn sie dergleichen schreiben, so spürt mans in allen Gliedern, und konnten sie es mehr fühlen als ich? Georges würde sagen — o Himmel, was gehn mich alle Dichter an und Georges, jetzt wo Eins not ist? Aber die Gedanken! Sie stellen sich ein, unbekümmert darum, wer das ist, der sie denkt. — Wer hat mir das einmal gesagt? Das schrieb Magda in einem Brief, im Herbst vor drei Jahren muß es gewesen sein, ja fast um diese Zeit. Was war ich damals, was bin ich heut? Ihre elenden Briefe damals und meine stolzen! Ich saß im Überfluß wie die Königin aller Bienen und dünkte mich groß, mitfühlen zu können mit einer verfolgten Seele.

Wie wölbten mir damals die noch unverblühten Linden hinter der Kapelle den Eingang in ein reiches Leben! Düfte der tausendfältigen Erwartung regneten in mein offenes Herz. Die Orgel tönte Zuversicht, ich war fleißig, meine Kenntnisse in Kontrapunktik und Generalbaß zu vollenden, ich dachte kaum nach, Erasmus gab es noch nicht.

Du tust mir weh, Erasmus, mit deinem immer gesenkten Kopf! Armer Kain! Du hast es nicht tun wollen? — Nein, sagst du, ich wollte, weil ich mußte, man muß nicht schönreden. — Sieh, was hier liegt, ein schönes Ding, ein großer blauer Schmetterling, eine seidne Schleife hängt dran, und Abels Namen steht darauf. Als ich ihn gestern zuerst las beim Erwachen, küßte ich ihn und weinte darüber. Diese Tränen gönnen wir ihm, ein zarter Abel war er nicht und Kain seit ewig beklagenswerter als er. Gebe Gott, daß die große kalte Seele sich erwärme im warmen All, wo sie nun ist! Deine Seele war immer warm, lieber Kain, oh wer hat sie so furchtbar zum Glühen gebracht!

Mir wird wieder wirr.

nachmittags

Wie gut, daß ich den Nachtbrief an Magda Georges doch nicht mitgab! Denn was heißt nun diese Nachricht, die er mir heut von ihr bringt: „durch Zufall eine Verletzung der Augen zugezogen“? Kein Wort zur Erklärung. Bin ich übervoll? Ich kann nichts aufnehmen, verstehe nichts, und wenn ich ahnen will, geht es schon auf im allgemeinen Grauen, und ich wende mich ab ...

Kleinigkeiten erhalten Zutritt. Der graue Läufer. An drei Jahre sah ich ihn abgenützt werden, ohne ihn je genützt zu sehn, da Georges nur darauf geht, wenn er allein arbeitet. Und nun gehe ich selber darauf und denke, er muß in einer Stunde zerschlissen werden, und weiß nicht, warum mir das wunderbar scheint!

Da sitz ich am Sofatisch und schreibe. Am Fenster ganz links sitzt der Gelähmte still für sich an seinem Pult; am Fenster ganz rechts sein Bruder, die vier Kartothekenkästen je zwei zur Linken und Rechten, und ich kann ihm minutenlang zusehn, wie er die saubern Karten, die wir Beide beschrieben, im Kranz um seine Schreibunterlage ausfächert, jede, von der er abschrieb, zur Seite legt, eine auf die andre, dann den ganzen Pack in seinen Umschlag und in den Kasten zurück, und dabei nimmt er den Federhalter quer in den Mund, und wenn er schreibt, geht das wie ohne Besinnen, es ist alles schon fertig. Lauter kleine Vorgänge peinlichster Ordnung. Und so entstehn Werke; so eine Dichtung, denn die Art, wie er Geschichte schreibt, ist ganz Dichtung. Oh heroisch, oh göttlich der Mensch, der etwas entstehen sieht unter seinen Händen! Die Berührung des Werdens verleiht Unsterblichkeit ganz gewiß, Leben springt über in Funken zum toten Stoff und der lebt, Augen schlagen sich auf, Lippe färbt sich und lächelt, Stirne blinkt weiß und rein, und aus ganzem, vollem Antlitz haucht es: Siehe, ich bin! und durch mich bist erst du!

Wie nun der Regen strömt um die Zinnen der Mauer!

am 3.

Als ich heut morgen ins Zimmer kam, stand Georges entfernt am letzten der drei Fenster, die Hände auf dem Rücken. Hell war der Raum im kühlen Regenlicht. Ernst, blasser als sonst schien er mir im Entgegenkommen. Ich glaube, ich stand wohl eine Weile vor ihm, die Hände auf seinen Schultern, und sah an ihm vorüber die nasse blanke Bekrönung der roten Mauer, die Drahtnetze und Gitterstäbe der Fenster und all das andre von Gefangenschaft, und dann fragte ich: „Grünt die Hoffnungsbirke noch?“ „Sie grünt wie alljährlich“, versetzte er still, führte mich ans Fenster und ließ mich nach links sehn, und da stand die kleine, seltsame Birke oben auf der Ecke der Mauer, grün und zitternd im Regenfall. Plötzlich fiel mir ein, daß Georges noch immer nicht alles von mir wußte, ich setzte mich auf den Stuhl am Schreibtisch, wußte nicht, wie ich anfangen sollte, es war so grenzenlos traurig auf einmal. — Wir waren verlobt, der Herzog und ich, stieß ich dann hervor. Er antwortete nicht, ich hätte weinen mögen vor Hülflosigkeit, aber auf einmal stand ich mitten im Zimmer und sprach und sprach, es war schrecklich, jeder Satz wurde mir in der Mitte oder im Anfang abgerissen, ich strauchelte über meine eigenen Worte, sprach nur weiter wie im Fieber, von Josef und dem Ech-en-Aton, von Benno, von Sigurd, von Erasmus, vom Wehr und der Nacht, von Ulrika und meiner Angst um sie, das strudelte alles durcheinander, und immer sah ich Josef in seiner schwarzen Vermummung aus der Luke im Festwagen tauchen und Erasmus hinter ihm, den Helm voll kleiner Sträuße. Schließlich wars aus, ich saß wieder im Stuhl hinter Georges und hörte ihn nach einer Weile langsam sprechen.

„Ja, dort drüben wird der arme Sigurd nun sein. Über ihn wird man lesen: der feige Meuchelmörder, — da es aber unser Sigurd ist, so werden wir wissen, daß er nicht feige war, sondern vielleicht mehr ein Held als ein überzeugter Monarchist aus der Schlacht bei St. Privat, denn es ist ja, nach allem was man weiß, eine schwerere Aufgabe für den Edlen, auf einen Wehrlosen zu schießen als auf einen, der wiederschießt. — Ach, sagte ich, ich glaubte, er sei irr, — aber er meinte, deshalb dürfte es doch kaum leichter gewesen sein, und dann mußte ich ihm Sigurds Plan erklären vom bevorstehenden Krieg und den Fürsten, die allesamt fallen sollten. — „Ach,“ sagte Georges, „daran erkenne ich meinen Sigurd! Der Herzog wäre vielleicht ganz gern gestorben, wenn alldas richtig gewesen wäre. Regimenter der Unterdrückten, die riesige Internationale der Ungerechtigkeit in allen Ländern, die hörte Sigurd ja immer aufmarschieren, Juden und Polen, Iren und Finnen, Armenier und Serben, Arbeiter in England und in Frankreich und Deutschland, hungernde Rumänen und verwahrloste Portugiesen, Heere unübersehbar, alle vereint in einen Schrei nach dem Recht, — ja, wer wollte da nicht Tambour sein! Und kommt vielleicht in hundert Jahren“, fuhr er fort, die Augen heiß und schmerzlich zu den Gitterfenstern gewandt, „ein Luftschiff hoch mit Griechenwein —“ er lächelte fast schluchzend — „durchs Morgenrot dahergefahren, wer möchte da nicht Fährmann sein! — Ihr habt ihn ja nicht gekannt! Die Menschen sind uns nicht, was sie sind, sondern was wir von ihnen sehn, und wen von euch hat er beraten, betreut, ihm geholfen, wen hat er besucht in Gefangenschaft und getröstet in Krankheit und gespeist, wenn ihm die Seele hungerte, mit edler Speise des Vertrauens und der Begeisterung, und mit wessen Traurigkeit war er traurig, in wessen Heiterkeit froh? Ihr saht ihn feiertags, da spielte er Cello und war eine schöne Figur ...“

Und nun nach einer Weile fing er an, mir von Magda zu erzählen, was er mir auf ihre Bitte bisher geheimgehalten hatte; da konnte ich nicht anders als nur seufzen: Oh Gott, will es denn niemals ein Ende nehmen? — worauf ich ihn alsbald etwas sagen hörte von: Renate Montfort, die er gestern auf einem goldenen Wagen gesehen habe mit Elefanten und Einhornen, und was ich nun den Kopf hängen ließe! — „Ach, du häßlicher Spötter!“ sagte ich und sprang wieder auf, „warst du nicht auch bei denen, die mich immer auf goldenen Wagen sehn wollten und schöne Vergleichungen wußten von Bienen und Sonnenblumen!“ Ich war ganz von Sinnen und sagte, wenn ich auf goldenen Wagen gefahren wäre, so wäre ich auch tiefer herabgestürzt, als er vielleicht sehen könnte, und dann herrschte ich ihn an, mir meinen Mantel zu geben. Ich zitterte am ganzen Leib und erinnerte ihn daran, wie ich ihn einmal hinausgeschickt hatte, obgleich ich damals doch im Unrecht war. Seine Gestalt, das Zimmer, die Fenster zuckten groß auf und nieder, ich mußte noch etwas sagen, und so fragt ich: „Wo warst du am Festtag?“

Er drehte sich langsam zum Fenster um, sagte kein Wort. Ich wiederholte meine Frage, gepeinigt, um ihn zu peinigen. — „Du hast“, hörte ich ihn endlich sagen, „beinah zwölf Stunden geschlafen, denn es ist Mittag, und dich ausgeweint. Andre hatten nicht soviel,“ schloß er, „und ich war dort, wo du mich fandest, als du mich brauchtest.“ Da war meine Kraft zu Ende, auf einmal hatte ich einen Regenmantel an, legte den Kopf auf seine Brust und sagte, er möchte mir vergeben, er wisse ja immer alles. Dann bin ich hinaus, auch die Treppe ganz hinuntergegangen, aber vor dem Haustor drehte ich um und stieg wieder hinauf.

Nun sitze ich und schreibe, um nicht zu denken.

Nachmittags

Ich ließ Georges nach Hause telephonieren und um den Wagen bitten. Der Wagen, dacht ich, soll dich denn zwingen, wenn du nicht willst. Nun sitz ich und warte, weiß nicht, wie ich es fertigbringe, mir fliegen die Hände, ich muß schreiben, daß ich nicht rasend werd vor Angst. Schwach sein, oh schwach sein in der Stunde der Not, ich, ich! Gestern — was, gestern? drei Tage ists ja schon her, aber da hab ichs doch ertragen. Nein, das Grauen — Josefs Vater ... ich kanns nicht! Und wieder Magda, die mich braucht! Ließ ich sie vor drei Jahren nicht allein und begnügte mich mit redseligen Briefen?

Schuld ist es, Schuld, sag es, sag es doch, daß du dich lange schuldig fühlst! hier, sitz, schreib, schreib auf, willst du wohl! schreib: Damals, als Josef aus dem Haus wollte, konntest du ihn nicht halten? Nein, da war die Kunst vergebens, du bewegst keinen Marmor, es war zu spät! Aber Erasmus? Sah ich ihn nicht mit Fäusten losgehn, damals, auf seinen Bruder? Und dann, was sagte er? „Ich bin doch schon als Junge einmal mit dem Messer auf ihn ...“ Oh das hör ich nun, als wärs heute! Warum vergaß ichs denn inzwischen? Warum war ichs nicht eingedenk Tag und Nacht, wachend und schlafend: er ist als Junge schon mit dem Messer auf ihn losgegangen! Warum war ich nicht eingedenk Jahr um Jahr: „Lieber Bruder Erasmus, noch ists nicht Zeit! — Und warte,“ sagte Josef, „ich entgehe dir nicht!“ Wars nicht so? Oh Gott, habe Barmherzigkeit, was konnt ich tun? Liebte mich nicht Erasmus, kannt ich nicht seine Natur, die mich in keine Nähe zu ihm ließ, es sei denn die eine?

Fort jetzt, nur fort! Warum kommt nur der Wagen nicht. Ich muß hin, ich muß ihm in die Augen sehn! Sehn, sehn, ob ich schuld bin wie er, und ihn bei der Hand fassen und verbrennen mit ihm, wenn ichs bin.

in der Nacht

Wieder in meinem Zimmer.

Sonderbar und unbeschreiblich ist mir zumut. Ist das möglich, daß alles hier unverändert ist? Lampe und Sofa, Ofen und Bücher, — und mein weißer König sieht über mich hinweg wie immer.

Ja, du mein Heiland, du heilender, so laß mich dir bekennen alles, was inzwischen geschah.

Die Fahrt war so grauenhaft schnell zu Ende, daß ich kaum nach dem Hinsetzen im Wagen die Augen geschlossen hatte, als er schon wieder hielt, und da war wirklich die alte Hausfront, das Tor und die goldene Fünf in den eisernen Ranken, alles fest und still und genau. Als ich durch den Vorgarten ging, öffnete Konrad die Glastür, lächelte und sagte bekümmert: „Das kleine Fräulein, ach Gott!“ Aber kaum im Hausflur, fuhr ich entsetzt zusammen, weil das Telephon aus der Kleiderablage gellte. Ich dachte, ich sei nur wie immer erschrocken, seit Irene durch das Telephon von Doras Kindern sprach, und so nahm ich mich zusammen, ging selber in den kleinen Raum voller Mäntel.

Und dann wars Ulrikas Stimme, matt und erschöpft, die fragte, ob ich es schon wisse, und unendlich weit fort hört ich sie sagen, ach, ich weiß die Worte nicht mehr ...

Sie haben sich geschossen. Bogner ist verwundet. In der Brust. Der Arzt sagt, er wird leben bleiben. Ulrikas Mann — ja, nun weiß ich das auch nicht mehr, — ist er tot? Ich verstehe es nicht, verstand es kaum, als ich sie sprechen hörte, es schien mir so gleichgültig, — und auch — als hätte ich alles schon gewußt ...

Und im nächsten Augenblick, glaube ich, hatte ich alles vergessen; statt dessen merkt ich, daß ich furchtbaren Hunger hatte; zu Mittag hatt ich keinen Bissen hinuntergebracht. So stand ich minutenlang, konnte mich auf nichts besinnen, zwischen den Mänteln und Jacken, und da lag der große graue Hut des Erasmus auf den Messingstäben und Magdas grober Gartenpanamahut mit dem dünnen schwarzen Band. Der sagte mir denn, was zunächst kam, und ich ging die Treppen hinauf bis vor mein Zimmer. Die Klinke in der Hand merkte ich, daß ich falsch gegangen war, wollte zurück, bildete mir aber nun ein, eine Minute Schonung, nein, Aufschub sei wohl gegönnt, und als ich öffnete, saß im Sofa, eine breite, weiße Binde vor den Augen, Magda.

Wie starrt ich nur hin! Eine leise Stimme sagte: Da sitzt es! — Ihre grade Haltung und die Binde, das halb verdeckte Gesicht machten sie so zu einer Figur, einem Bilde der Gerechtigkeit oder etwas ähnlichem, so daß sie mir vorkam wie eine Gestalt all des Tödlichen und Schaurigen, das mich durchfahren hatte, so reißend schnell, daß jedes sich erst verstehen ließ, wenn es schon geschehn war. Nun saß das Unheil hier, ganz still, eine Binde vor den Augen ... Magda! schrie ich und fiel mit den Gesicht in ihren Schoß. Mit mir fiel die Erde. Sie hielt nun nicht mehr, ich wollte schreien vor Angst, als ich spürte, wie die Erdfesseln ganz lose wurden, und da rissen sie, der Boden tat einen ungeheuren Ruck, es toste, riesige Bäume wankten und schlugen um, ich konnte noch denken: Ein Augenblick, dann ist alles vorüber! Da kreiste die rote Finsternis langsamer, von unten kam die Sicherheit wieder, der Boden hielt, ich kniete, in meinem Haar glitt eine lindernde Hand ...

Dann sprach ich mit Magda. „Wir wollen nicht verzweifeln,“ sagte sie, „der Arzt meint, das eine Auge würde sicher heil bleiben —“ sie brach unruhig ab, lehnte den Kopf gegen die Wand zurück und drehte das Gesicht nach dem Fenster. Ihre Stimme war so tief gewesen wie sonst nur, wenn sie singt.

Meine Fragen wehrte sie ab und fragte selber nach Georg. Als sie hörte, daß er krank sei, stand sie gleich auf, sagte, sie müsse zu ihm, ich sollte sie führen, aber plötzlich schlug sie die Hände vor das Gesicht und rief verzweifelt: „Daß ich nun hülflos bin, mein Gott, das durfte doch nicht kommen!“ Ich hielt ihren Kopf an meine Brust gedrückt, das kleine weiße Königsantlitz flimmerte mir vor den Augen, und ich sagte zu ihm: Wir, Josef, ja, wir gehn unsre luftigen Wege und finden die schönsten Worte, o du Delfin des Lichts, aber unsre Handlungen gehn allein vor sich, bis es zum Sterben kommt, dann besinnen wir uns und nehmen grade Haltung vorm Tode. Herrgott, schrie ich innerst, und die Kinder müssen leiden, was Riesen nicht schleppen, über die Armen wird Armut gehäuft, die Hungrigen bekommen zu fasten, und wer Sonne austeilen möchte mit beiden Augen, dem werden sie ausgestochen, und ich, sagte ich außer mir, ich habe die Verneigungen nun satt, große wie kleine, und ich habe genug gelitten! — Sage doch, was du willst, antwortete es kühl aus den weißen Statuenaugen, aber du irrst, wenn du meinst, daß ich hinsehe. —

Magda machte ihren Kopf frei und sagte: „Jahre sind gekommen und gegangen, und ich habe mich in die unbekannte Einsicht Gottes gefügt und gewartet.“ Und, sie habe gelitten, sagte sie, so sei es nicht schwer gewesen, an den Tod zu denken und seine Bitterkeit mit einer rettenden Tat zu vergolden, — so daß ich nun merkte, sie hatte die alte Prophezeiung der Zigeunerin niemals vergessen. — Ihre Hände fielen schlaff herunter, sie fing wieder an: „Die Nacht ist hingegangen, die ich mit Grübeln versessen hab, die Uhren schlugen Tag, und es kamen Menschen, und ich — was soll ich glauben? Ich bin ja hülflos. Ich kann nun bloß dastehn und warten, daß der Tod jemand treffen will, und ich stehe vielleicht dazwischen, und er trifft aus Versehen mich, — was kann ich tun?“

Mir quoll das Herz. Aber jetzt auf einmal kam das Seltsamste zu Tage. Sie wußte ja noch nicht die genauen Vorgänge vom Tode des Herzogs, wie sie aber nun alles von mir hörte, fuhr sie zusammen, berichtete mir in der Hast etwas von einer Fremden, im französischen Park, einem Anfall gegen sie oder Georg, ich verstand es nicht deutlich, und daß sie Georg habe ins Wasser fallen hören, was ich ihr ja aus Sigurds Worten bestätigen konnte. „Und siehst du,“ sagte sie dann erglühend, „wenn nicht das mit mir geschehen wäre, so würde Sigurd Georg getroffen haben, und also — also wars nun das dritte Leben, das ich — gerettet habe. Und meins ist nun aus ...“

Danach wurde sie ruhig. Franziska kam und meldete, es sei zu Abend angerichtet, und sie stand auf, ich führte sie zur Tür. Draußen ließ sie meine Hand los und ging allein an der Wand hinunter, fand auch zum Treppengeländer hinüber, wo sie aber fast umgesunken wäre. Sie brachte keinen Laut hervor, richtete sich nach Sekunden wieder auf und ging die Treppe hinunter. In der Halle — nein, da riß alles ab.

Plötzlich stand ich vor Erasmus’ Stubentür. Ich wollte klopfen, aber meine Hand versagte, auch den Türdrücker bekam ich kaum herunter, und als die Tür aufging, wars, als fiele ich an ihr herunter in das Zimmer. Da saß Erasmus vor dem Schreibtisch in Hemd und Hose, über ein großes Buch auf seinen Knieen gebückt, schon umgewandt nach mir, aber ganz geduckt, und als ich seine Augen sah, schrie ich: „Mach die Augen zu, Erasmus!“ Dabei muß ich selber die meinen geschlossen haben, aber nach einer Weile sah ich ihn wieder mit gesenktem Kopf wie einen Sünder in seinem gelben Unterhemd über seinem Bibelbuch hocken. Da ging ich zu ihm, als ging ich über Wasser, legte eine Hand auf seine Schulter, und sein Nacken war so lang und ganz rostrot, und sagte leise: „Was liest du denn da, Erasmus?“ Er hatte die Unterarme über die Seiten gelegt und die Hände über die oberen Buchränder gekrallt; so blätterte er mit den Fingern die Seiten auf, zog aber endlich die Arme fort und ließ mich auf das Blatt sehn. Die schwarzen Zeilen schwammen ineinander, es war, als begingen wir eine Sünde zusammen, und ich flüsterte: „Du mußt mirs zeigen!“ Nun brachte er eine Hand über die Seite hin, der Zeigefinger krümmte sich und wies eine Stelle, und ich las hinter dem rückenden Finger her langsam die Worte: So wird mirs gehen, daß mich totschlage, wer mich finde ...

Und dann? Ich hielt sein Gesicht in den Händen, sah durch das Fenster mit blinden Augen, sah das Gartengitter unten und die Alleebäume, und seine großen Hände lagen glühend um meine Unterarme geschlossen; dann fand ich mich über ihm stehend, und er hielt meine Hände. Auf einmal hatte ich wieder Kraft, nahm das Buch von seinen Knieen, legte es fort und sagte zu ihm: Steh auf! — Mir zitterte das Herz, wie blindlings er gehorchte, und er stand da wie ein Knecht, groß, so breit und mit geducktem Nacken. Darauf ging ich zur Tür, hörte, wie er sich auch in Bewegung setzte und mir nachkam und die Tür wieder schloß und hinter mir die Treppe hinunter stieg; es brauste in meinen Ohren, alle Geräusche waren so deutlich und doch wie in weiter Ferne. Vor dem Schlafzimmer seines Vaters hab ich auf ihn gewartet. Als ich die Tür öffnete, gab es einen Luftzug, ich fühlte das Haar wehn auf meiner Stirn, und an beiden offenen Fenstern den Raumes wehten die leichten weißen Vorhänge herein. In seinem Bett, das frei dastand, saß der alte Mann; ich sah seine hohe, kahle Stirn und den Bart und die flackernden dunklen Augen, er aber sah mich nicht, sondern den, der draußen stand und die Hände rang, und dann fühlte ich mein eignes Lächeln so brennend, als hätte ich eine Sonne im Antlitz. Ja, ja, ja, die hielt ich ihm hin, die Luft brauste auf, Fittiche schlugen weiß aus der Tiefe, der Engel stieg wieder herauf, und die uralte Stimme rief laut: „Komm herein, mein Sohn, komm herein!“ Da stürzte ein schwerer Körper an mir vorüber in den wolkigen Raum, ich hörte einen dumpfen Fall und die Worte: „Vergieb mir, mein Sohn, und laß mich wieder dein Vater sein!“ — Dann war ich draußen.

Am Ende eines langen weißen Flurs sah ich das stille Einhorn auf und nieder gehn; doch entfernte es sich bald, bog um eine Ecke unter eine altertümliche Arkade ein — später fand ich sie wieder auf der römischen Abbildung, die dort hängt — und verschwand, den langen, weißwallenden Schweif sanft um die zierlichen Fesseln legend, in einer grünen Dämmerung, die sich langsam schloß und zu grünen Korridorwänden mit weißen Türen wurde.

Später fand ich mich in meinem Schlafzimmer auf dem Bett und schlief gleich.

Cornelia Ring an Renate

Altenrepen, am 4. 8.

Liebes Fräulein von Montfort,

bitte wollen Sie mir verzeihen, daß ich mich an Sie wende, aber ich habe sonst niemand, den ich fragen könnte, wo Herr von Montfort ist, und ich bin ja so verzweifelt! Nun ist schon der fünfte Tag, daß er das Haus verließ — Sie werden wohl wissen, daß er seit seiner Rückkehr nach Deutschland hier im Hause von Herrn Bogner wohnt —, und es wäre gar nicht seine Art, uns ohne Nachricht zu lassen. Mit ‚uns‘ meine ich seinen Diener, der Ihnen diesen Brief bringt, einen Halbchinesen; er heißt Li und hängt mit so außerordentlicher Liebe an seinem Herrn, daß ich Sie bitten möchte, falls Herrn von M. etwas zugestoßen sein sollte, es ihm zu sagen, und Sie brauchten dann mir nicht erst zu schreiben.

Von Herrn Bogner hörten Sie wohl? Er ist heute zum ersten Mal zur Besinnung gekommen, der Arzt meint, er soll ins Krankenhaus, was auch recht schmerzlich für mich ist zu aller Aufregung, ich meine, weil ich ihn dann nicht pflegen kann und nur unruhiger werde. Ich will nun aber schließen und grüße Sie mit nochmaliger Bitte um Vergebung als Ihre gehorsame

Cornelia Ring

Renate an Cornelia Ring

Waldheim, am 4. August

Liebes Fräulein Ring,

durch Li wissen Sie nun schon, ehe Sie diese Zeilen lesen, was geschehen ist. Glauben Sie mir, daß ich wie eine Schwester mit Ihnen empfinde, und so gerne wäre ich selber zu Ihnen gekommen, aber leider habe ich eine erkrankte Freundin im Haus, die ich noch nicht allein lassen kann. Möchten Sie nicht statt dessen mich besuchen? Ich könnte Ihnen dann vielleicht noch mehr sagen, was Sie wissen möchten. Li, der kleine, war so sehr gebrochen, ich werde nie vergessen, wie sein eben noch lächelndes gelbes Gesicht ganz grau wurde! Er bewegte sich nicht, aber er sank ganz zusammen in seinem langen braunen Mantel. Ich bin sehr in Angst um Sie, liebes Fräulein, und bitte, wenn Sie sich fähig dazu fühlen, besuchen Sie ja recht bald Ihre

Renate Montfort

Noch etwas fällt mir ein, das Li betrifft. Meine kranke Freundin, deren ich erwähnte, hat eine Augenverletzung, es ist zu fürchten, daß sie erblindet. Nun war sie dabei, als ich mit Li sprach, und da er mehrere Male ganz verzweifelt sagte: Was soll nun aus mir werden? so ging es uns durch den Kopf, daß ihn meine Freundin zu sich nehmen könnte, gesetzt, Sie selber wollen ihn nicht behalten. Meine Freundin würde einen Führer brauchen, und mir gefiel er sehr! Seine Treue, sein Schmerz, seine Höflichkeit, und was hat er für merkwürdig runde Augen in dem Chinesengesicht!

Irene an Renate

Nonnenkloster Mariabrunn, am 7. August

Ja, Renate, da bin ich wieder hier, Hals über Kopf, und da ich leider keine Ahnung habe, weshalb Du nicht im Hause warst, so bin ich ziemlich ratlos und wäre Dir dankbar für ein Wort über Dich und vor allem über Magda. Renate, was ist mit ihr? Ich sah sie, sie sprach von einem Unfall, sie war so beängstigend still!

Zu Hause wars nämlich nicht auszuhalten. Meine Eltern redeten bis in die Nacht, und am nächsten Morgen fingen sie wieder an. Und alles die reinste Neugier! Herrgott, was wollten die alles wissen! und o Himmel, diese Vorstellungen! Immer wieder die Fragen: Ob denn mein Mann nicht gut zu mir gewesen wäre? Ob ich ihn denn nicht liebte? Als ob das etwas damit zu tun hätte! Als sie sich aber bis zu dem Ausdruck Ehe verstiegen, da hatte ich denn doch die Nase voll. Ach, du lieber Gott, wenn Worte einen Menschen zu etwas machen könnten, ich wäre es geworden in diesem Augenblick. Ich hätte an mir selber irre werden können, packte meine Sachen und entfloh.

Hier ist alles, wie es war. Die guten Alten sind bis auf eine einzige noch dieselben, die Jungen sind Andre als dazumal, aber das Genre ist geblieben. Ein Aufheben gab es meinetwegen natürlich nicht, nur die Abatissa konnte sich eine triumphierende Bemerkung und einen spitzen Mund nicht verkneifen. Sie ist eine Gräfin und hat sich auch so! Vor lauter Genugtuung über meine Wiederkunft sagte sie etwas ganz Verwickeltes vom Heiland, der nicht in Häusern wohnte, sondern in Herzen. Ja, dacht ich, der wird sich grade bedanken und in deinem verprömmelten Herzen wohnen! und sagte: ich wäre dankbar, hier nur etwas Ruhe und Sammlung zu finden, bis sich herausstellte, ob mein Aufenthalt von Dauer sein würde (was der Himmel verhüten möge!) oder nicht. Da wurde sie noch spitzer und sagte, ein Herz voll Unruh wäre was Köstliches, und nur am Abgrund hin führte der Weg in den Frieden. — So eine geht nun alle Tage mit dem Heiland um, und ist sie deshalb anders als die Andern? Na, die wird sich wundern, wenn es am Jüngsten Tage heißt: Reichsgräfin Jutta von Lindenau, weiland Abatissa, verblichen im Geruche großer Heiligkeit, und sie sieht sich denn dastehn in ihrem Sündenstank, der zum Himmel schreit. Mir ging ein großes Licht auf, und ich sehe, daß es mit der Mehrzahl der Menschen so bestellt ist: der eine ist leidenschaftlich Bergsteiger, der andre sammelt leidenschaftlich Briefmarken, einer geht ins Kloster, und eine ist meinetwegen Frauenrechtlerin. Und all diese leidenschaftlichen Dinge tragen sie sauber verschlossen in einem großen Koffer mit sich herum, den sie überall vorzeigen und sagen: da ists drin! und im übrigen sind sie ganz gewöhnliche Menschen. Die Briefmarken machen sie nicht weiser, und die Berge nicht klar; die Jesusliebe nicht demütig, und das Frauenrecht nicht duldsam. Ach, ist es denn mit mir vielleicht anders gewesen? Ja, denn ich war die ganzen Jahre lang überhaupt nichts!!!

Was mit mir zu geschehen hat, ist klar. Ich muß wieder werden, die ich gewesen bin, vor der Ehe, mit Leib und Seele. Ich weiß noch nicht, wie das geschehen soll, aber es muß. Nun — damit muß ich allein fertig werden. Leb herzlich wohl, wenn ich kann, werde ich schreiben. Gedenke nicht unfreundlich Deiner

Irene

In meiner üblichen Selbstsucht vergaß ich natürlich, daß ich Dir von meiner Schwägerin Dora schreiben wollte. Daß sie mich vermissen wird, glaube ich zwar nicht, bei dem versteinerten Zustand, in dem ich sie verließ; da ich aber weiß, daß ich trotz ihrer vielen Freunde und Bekannten allein ihr ganz nahe war, so ist mein Gewissen gar nicht rein! Deshalb möchte ich Dich bitten, recht bald einmal nach ihr zu sehn und mir möglichst ausführlich zu schreiben, wie Du sie fandest! Nicht wahr, Du bist so lieb?!

Renate an Irene

Waldheim, am 14. August

Meine liebe Irene!

Daß ich Deinen Brief erst heute beantworte, geschieht deshalb, weil ich erst Bestimmtes über Magda wissen wollte. Das habe ich nun heute erfahren, und es ist sehr schmerzlich. Die Sehkraft des einen Auges ist ganz, die des andern fast erloschen. Sie sieht nichts, wir dürfen uns das nicht verhehlen, obgleich sie selber behauptet, Farben, sogar Gestalten erkennen zu können, und hell, sagt sie, sei es stets. Du siehst: sie ist, wie sie immer war! Übrigens giebt es etwas, das ihr dies Schicksal tragen hilft, aber ich finde die Worte nicht, es zu erzählen. Es ist aber das, daß sie die alte Prophezeiung, von der Du weißt, nun erfüllt sieht; und daß es Georg war, an dem sie sich erfüllte, ist ihr Trost.

Zu Dora ging ich schon zwei oder drei Tage nach Empfang Deines Briefes, fand sie über einem Berg von Schriften und Rechnungen ihrer Vereins- und Küchenangelegenheiten, und sie gestand mir ihre letzte Verzweiflung: ihr Gedächtnis habe gelitten, sie könne nicht mehr rechnen oder mit Angestellten verhandeln und dergleichen. Es gelang mir, ihr meine Hülfe aufzudrängen, ich bin seitdem fast täglich bei ihr gewesen, sie hat mich bei ihren Mitarbeiterinnen eingeführt und so nach und nach alles in meine Hände gleiten lassen. Ich werde es freilich wieder abgeben müssen, ausgenommen die Beschäftigung mit der Volksküche, Doras persönliche Domäne, denn für die Damen bin ich ein Eindringling. Bin auch wohl fähig einzusehn, daß Kampf gegen die vielen sozialen Schäden und Unvollkommenheiten notwendig ist, aber in der Welt, wo er vor sich geht, bleibe ich fremd und mag auch nicht kämpfen. Die Welt ist bisher eine männliche Angelegenheit gewesen; haben sie sie verunglimpft, sollen sie sie auch wieder rein machen, und sind die Frauen unzufrieden, so können sie ja streiken, aber als Frauen, und kein Geschrei machen wie die Männer. Daß arme Leute für wenig Geld viel und gut zu essen haben müssen, leuchtet mir ohne weitres ein, und deshalb gehe ich in die Küche.

Kaum dann, daß ich alles so weit hielt, um es weitergeben zu können, ist Dora mir fast unter den Händen erloschen. Sie lebt, sie besorgt weiter für sich und ihren Bruder das Haus, aber sie ist stumm und ganz stumpf. Jason, den ich häufig bei ihr fand, sagte mir, was sie ihm bekannte: sie erwartet ein Kind, das sie in der Nacht empfing, als die andern starben. Warum gerade dies ihr so qualvoll ist, würde ich mich vergebens fragen, wenn ich nicht wüßte, daß jede Qual den Menschen weniger bricht, als vielmehr ihn furchtbar verkehrt, und was dann Andern Trost scheinen mag oder Hoffnung: es paßt alles nicht für ihn; es wird alles nur wieder Qual.

Soviel habe ich an mir gelernt. Dir mehr davon zu sagen, bin ich noch nicht fähig, gute Irene, und muß es Deinem liebevollen Herzen überlassen, zu ahnen, was sich nicht erklären läßt. — Daß Du den Weg finden wirst, den Du suchst, will ich von Herzen mit Dir glauben. Da sehe ich Dich wieder in meiner Kapelle stehn: ‚Die Wege des Himmels sind außerordentlich ...‘ hieß es nicht so? Ach, Kind, Kind! ehe wir nicht durch die menschlichen Ordnungen gebrochen sind und rasend geworden vor Not, eher werden wir in die göttlichen kaum passen. Da sind die alltäglichen Verrichtungen für uns gut genug, und nach uns wendet kein Gott sich um, wenn wir vorübergehn.

Magda schließt ihre innig liebenden Grüße den meinen an! Stets Deine alte

Renate

Aus Renates Buch

am 21. August

Heut habe ich nun zum ersten Mal Bogner wieder gesehn, ein Anblick zum Weinen.

Er hat Schlimmes überstanden. Zu den Wunden trat Rippenfellentzündung; bei der Punktion, um das Wasser zu entfernen, muß schon Eiter dagewesen sein, es gab eine Infektion an der Stelle, und nun waren weitere Punktionen unmöglich. Später stellte sich eine schwere innere Vereiterung heraus, es mußte geschnitten werden, ein Stück Rippe heraus, und es gab einen Eimer voll Eiter. Nun liegt er mit einer Kanüle an einen Saugapparat angeschlossen. Ulrika erzählte mir das auf der Fahrt zur Klinik und bereitete mich auf seinen Anblick vor. Ihre eigenen Züge waren verfallen, oder war es schon diese unheimliche Erweiterung von innen durch die Mutterschaft?

In dem schmalen Krankenzimmer war zuerst nichts zu sehn als die hohe Rückenwand eines Metallbettes, ausgefüllt von hochgestellten Kissen, dazu ein Gestell mit dem Saugapparat, von dem aus ein langer roter Gummischlauch in den Kopfkissen verschwand. Weiter vorgehend sah ich einen alten, furchtbar vergrämten Mann dasitzen, und aus schlottrigen grauen Stoppelfalten seiner Gesichtshaut, aus den Knochenrändern seiner großen Augenhöhlen blinzelten ganz dunkle Augen in die Höhe, wo von einer der Länge nach über dem Bett angebrachten Eisenstange eine Kette mit einem Ringe hing, den er mit schneeweißer, langfingriger Hand gefaßt hielt. Ich glaubte, in einem falschen Zimmer zu sein, und wollte mich zu einer Tür umdrehn, als er mir das Gesicht zudrehte und ich ihn erkannte. Oh, hinter der Maske von Gram und Krankheit das alte, wohlbekannte Gesicht nun so erschreckend deutlich wie ein Gesicht in einem Gebüsch oder hinter einem Zaun!

Die Rosen, die ich ihm hinlegte, sah er gar nicht an, sondern griff gleich mit beiden Händen nach meiner. Dann saß ich auf einem Stuhl bei ihm, meine Hand hielt er fest, und von irgendwo kam eine kaum vernehmbare Stimme: „Renate Montfort ...“ Da seine Lippen sich bewegten, so mußte es seine Stimme gewesen sein, nun mußte er husten, es dauerte lange, bis er fortfahren konnte: „Ich wollte sagen: Renate Montfort weint. Traurig für mich,“ setzte er hinzu, „aber — hübsch! hübsch!“ Dabei lächelte er, daß mich die Erinnerung an meinen Vater durchrann; der hatte auch in den letzten Tagen dies mühselige Lächeln der dem Tode Nahgekommenen: nur ein Gesichtverziehen, als ob sie erstaunten.

24. August

Mein dritter Besuch bei Bogner. Beim zweiten bat er mich, doch täglich zu kommen. Er spricht nun viel, wird aber schnell müde; seine Stimme ist mitunter kaum zu vernehmen; seine Gedanken scheinen rastlos in Bewegung.

„Sagen Sie doch,“ fragte er heute, „ist Fuge wirklich das lateinische fuga?“ Da ich bejahte, wunderte er sich und meinte: „Also wirklich Flucht? Das ist ja abscheulich!“ worauf er mich und Ulrika nachdenklich betrachtete und fragte: „Ich möchte wirklich wissen, wie ihr es anstellt, diese unseligste aller Künste zu betreiben!“

Wir stellten uns sehr böse. Warum unselig?

„Eben,“ sagte er fein, „weil sie gradezu die Seligkeit will. Aber sie kriegt sie nie. Sie ist ja nur immer da hinterher. Sie ist so ganz — bergig! Fuga, die Flucht. Sie ist wie der Lauf eines flüchtigen Tiers über ein Gebirge.“ So sprach er unaufhaltsam weiter. Immer hätte die Musik etwas Gejagtes, könne nie stillhalten, sei zwischen ihrem Anfang und dem Ende unaufhörlich, und wenn man ja absetze an einer Stelle, so geschehe das nicht glatt wie bei einem Gedicht, sondern mit einer zackigen Bruchstelle. Immer wolle sie die Ruhe, liege immer im Sterben, „und hat sie die Ruhe doch einmal,“ sagte er, „so tritt sie schon wie ein Gewässer über ihren Rand.“

Ulrika wandte ein, wenn er ihr einmal bei einem guten Legatosatz schön zugehört haben würde, ob er dann nicht hinter der Bewegung den Stillstand gehört haben würde.

Quies in fuga?“ meinte er zweifelnd, „die Ruhe auf der Flucht?“

Schöner, erwiderte ich, ließe es sich kaum ausdrücken.

„Aber erklärt mir eins,“ fing er nach einer Weile wieder an, „warum habe ich denn immer, wenn ich genau zuhöre, das Gefühl: weshalb ist das nun so? Könnte es nicht gradsogut alles ganz anders sein?“

Weil er, erklärte Ulrika ihm lachend, jetzt genug geredet hätte und schlafen sollte.

„Das will ich,“ sagte er folgsam entschlossen, „aber noch eins!“ Er fing umständlich wieder an, wir hätten seine erste Frage nicht beantwortet, wie wir es nämlich machten, die unselige Kunst zu betreiben. Er rieb sich die Hände. „Ich wills euch sagen. Die Musik ist für gewöhnliche Menschen Gift, ihr aber habt in euch ein Gegengift, denn — ihr seid Angeli sancti, nicht wahr?“ schloß er mit einem sonderbar ängstlichen Blick zu Ulrika empor.

Diesen scheuen Blick seh ich noch immer. Denn er war nicht nur dasmal, und wenn er nicht in seinen Augen war, so doch in einer Bewegung; und stets ist er gegen Ulrika von einer so ängstlichen Zartheit, die mir, ich weiß nicht warum, so schuldvoll erscheint, und ich muß die Augen niederschlagen, wenn er nur sagt: „Möchtest du wohl so gut sein ...“, als wäre da etwas zum Schämen.

am 25. August

Auf Ulrikas Bitte teilte ich Bogner heute mit, was er von Magda noch nicht wußte. Er hörte wortlos zu, schloß dann die Augen und hielt sie lange so, wie um zu versuchen, was Blindheit sei. Als er sie wieder öffnete, sagte er, sie zukneifend, geblendet: „Unmöglich! Sterben ist möglich, aber blind werden nicht!“ Da erinnerte ich ihn, um ihn sich selber vergessen zu machen, daran, daß Magda nicht male.

„Richtig,“ sagte er, „sie hat ja auch eure Musik. Oh freilich Musik! Die Sehenden macht sie halb blind, diese blendende Sonne, aber für Blinde kann sie ja dann wohl eine schöne Quelle der Wärme sein.“

„Ich wills Magda sagen“, meinte ich leise.

„Nein,“ sagte er da, „sagen Sie ihr nicht das! Es klingt nicht gut so von Blinden ... Sagen Sie ihr —“ Er besann sich, die Lippen bewegend, sagte dann: „Der Körper ist blind, aber die Seele ein Argus mit tausend Augen; soviel Götter, soviel Augen.“

Wir hatten dann eine Weile von andern Dingen gesprochen. Auf einmal fragte er mich, lächelnd mit einem Mundwinkel, ob mein Vater nicht Pfarrer gewesen sei, und als ich nickte, ob er gewesen sei, was man so liberal nennte. — „Ach, nein!“ „Ein ganz frommer Mann?“ Ich bejahte.

„Dann“, sagte er, „will ich Ihnen noch was schenken. Jason hörte ich einmal sagen: Ein liberaler Pastor — da könnte man auch sagen: eine liberale Musik, — und nun fällt mir bei dem Seelenargus ein: das sogenannte liberale Christentum ist wie der einäugige Polyphem, geblendet vom listenreichen Ulyß,“ schloß er verschmitzt, „der Vernunft.“

Er ist nun so klügelnd geworden ...

am 26.

Ich kam von Bogner zurück, es war schon spät und dämmrig geworden, da hörte ich die Orgel. Konnte das wieder Magda sein? Gleich lief ich in den Garten, wo ich dem Getön anhörte, daß Tür und Fenster der Kapelle geschlossen sein mußten und daß es äußerst heftig war. Näher kommend hörte ich Gesang und erkannte die Musik der alten Kirchenarie von Stradella ‚Si miei sospiri‘, zu der Georg Magda einmal einen deutschen Text geschrieben hat. ‚Wer weint in Finsternis? Wer schluchzt im Dunkel?‘ fing es an. Vor der Tür der Kapelle hörte ich die Orgel allein die Schlußwendungen mit solcher Kraft brausen, daß die hölzerne Tür erbebte; ich öffnete und trat ein, es war dunkel drin, die riesigen Orgelstimmen warfen sich über mich wie Geister, schon wieder mit der Wucht der Oktavengänge im Baß des Anfangs einherstampfend. Ach, ich glaube, alle Engel meiner Brust sind aufgestanden vor einer übermenschlichen, viel zu lauten, einer rauchenden Stimme aus dem Dunkel, die hinfegte über mich durch den Raum, so tief und gewaltsam, so brechend aus allen Fugen, nach oben stürzend und sich niederschmetternd, daß ich mich nicht halten konnte und hingekniet bin und das Gesicht in die Hände gelegt habe. Und jetzt: schwarzblau durch das Schwarze der Nacht, unter Gewölben her, kam der Engel gebraust, der furchtbare, blinde. Die Stirn im Armbug trat er die Lüfte hinter sich mit zuckenden Füßen; die riesenhaften Schwingen bogen und wanden sich wie schwarze Flammen, er peitschte mit ihnen, und so jagte er unterm Gewölbe hin und über mir fort, und die Lüfte schlugen schallend hinter ihm auf wie Gewässer, heraufklatschend an den Nachtwänden. Es war ein endloser Gang, nicht breiter, als daß der Engel darin fliegen konnte, und so kam er zurück; ich, oh ich sah die Sohlen seiner Füße bleich schimmern, wie er über mir fortstürmte, und plötzlich sah ich ihn an den Stäben eines Gitterfensters hängen und daran rütteln; sein Leib fiel nach unten, er hing, so lang er war, aber er schwang die Füße hoch, stemmte sie gegen die Wand, und während hinter ihm die ohnmächtigen Flügel in rasenden Wirbeln die Lüfte peitschten, rüttelte er mit seinen langen Armen, rüttelte und schrie auf, ließ los, ermattete, tastete und stürzte ins Bodenlose ab. Ehe aber der Donner seiner Schwingen in den Tiefen verhallt war, kam er wieder herauf gerauscht wie ein Brunnen, und jetzte rannte er mit wütender Schnelle schräg nach oben und mit ungeheurem Prall gegen die Wölbung, daß sie barst.

Sechs schöne, farbige Engel, Gitarre, Harfe und Posaune in Händen, standen in einem tiefen, morgenstillen Zwielicht auf der Kuppe eines Berges; tiefer braute Gewölk. Es orgelte ruhig in den Tiefen, große Takte schlugen majestätisch herauf, der Umkreis der Himmel erschien, duftende Büschel und Hecken feuerfarbener Lilien raschelten, bewegten, ordneten sich und standen still, mit fahrender Schnelle kam das Licht, körperlos zog es herauf, goldene Dünste stiegen in triumphierenden Wolken überall, die Engel hoben ihre Instrumente, die lange Lure wies steil in das kühle Morgenblau oben. Dort stand einsam ein weißer Stern, aus dem langsam eine Träne rollte und fiel; der Stern war ein weinendes Auge, die Träne fiel naß und brennend auf meine Hand, es war dunkel.

Nun hörte ich meine Orgel leiser sausen, es war wieder das Vorspiel, aber als nun Magdas singende Stimme wieder einsetzte, war es reine Sanftmut, nur schmelzender Wohlklang, und sie leitete nun ihren Gesang, wie es schön und recht war, ohne Übermaß, beugte ihn und richtete ihn auf, ließ ihn schwellen und verhallen, ließ die Stimme schweigen lernen und sich bändigen durch unerbittliche Pausen des bemessenen Orgeltons. Und als sie zum vierten Male zum da capo al fine einsetzte, hatte sie das Maß; die Stimme gehorchte freiwillig, der lärmende Gott der Blindheit war nirgend.

Und wiederum in diesem fremden Augustmond sah ich meine Erscheinung.

Im grünenden bewegten Garten stand die Sonnenuhr. Es war heller Tag, in allen Büschen glitzerten Taulichter, aber als ich wieder nach der Sonnenuhr blickte, war der Zeiger sonderbar lang und war das gewundene Horn des Tiers. Das weiße Tier stand im Garten, es hob die leichten seligen Füße und ging vorwärts wie im Tanz, indem es sich unaufhörlich verneigte, die Stirn mit dem Horne senkte und hob, ein Tanz von der unbeschreiblichsten Sanftmut, der plötzlich endete, da das Tier den Kopf stillhielt und zu lauschen schien, und nur die Spitzen des Mähnenhaars und des Schweifs flatterten ganz wenig an dem Marmor gewordenen Leibe. Jetzt wendete es den Kopf zu mir her, und ich sah, daß es freundlich lächelte, während es auf einen großen, blauschwarz gewandeten Engel zuschritt, der plötzlich unter den hohen Bäumen stand. Er legte eine Hand auf den Rücken des Tiers und wandte sich zum Gehn, so daß ich die hohen Büge seiner gewaltigen Schwingen über seinen Schultern sah, während die gebogenen, sehr schmalen Flügel selber an seinem Leib vorüber weit nach vorne die Spitzen streckten. Der Engel und das Einhorn gingen so zusammen fort in den Wald hinein, und sonderbar nahm er im Gehn seine Fittiche unter die Arme; dann legte er die Hände auf dem Rücken zusammen; er war klein geworden in der Ferne und sah nun schon ganz wie Jason aus; er war es auch wirklich, da er sich nun umdrehte und sein Gesicht zeigte, weiß mit schwarzen Augen, aus denen es lächelte ...

Sie waren verschwunden. Es rauschte durch den Wald, dann erlosch er eilig. Ich lief, Magdas Namen leise rufend, zum Podium, sie wandte sich zu mir und sagte, wie sie im Traum gesagt hatte: „Siehst du wohl, daß ich doch fliegen kann?“ „Ich muß es glauben“, antwortete ich leise und schauderte.

am 27. nachts

Bei Bogner traf ich Ulrika heut nicht mehr an und statt dessen Jason. In der Volksküche hatte es eine böse Geschichte gegeben mit zwei ineinander verhakten Aufsichtsdamen, die auf keine Weise auseinander zu bringen waren. Um so stiller war Bogner. Es geht immer auf und ab mit ihm. Immer wieder kommt Eiter und mit ihm Fieber. So abgemagert er ist, war er doch ein schwerer Mann; er hat sich ganz wundgelegen, die Füße sind geschwollen und sollen ganz violett aussehn. Er fieberte, lag unruhig da und sprach kaum.

So verließ ich ihn in recht gedrückter Stimmung. Auf der Heimfahrt erzählte mir Jason, den ich mit zu Magda nahm, daß er vor ein paar Tagen bei Georg gewesen ist; daß er nun anfängt zu gesunden. Er liegt in dem kleinen Schloß, in dessen Nähe er auch gefunden wurde. Was mit ihm vorgegangen ist, weiß niemand, und vielleicht wäre er gar nicht entdeckt worden, wenn nicht sein Reitpferd sich beim Hause gezeigt hätte. Auch das ist nicht zu verstehn, denn der Park ist klein und von einer Mauer abgeschlossen; wie konnte er da reiten wollen?

Dies hörte Jason von Doktor Birnbaum. Als dieser dann von seiner Bekümmertheit sprach, daß er sich nicht getraue, Georg den Tod seines Vaters mitzuteilen, so hat Jason sich angeboten.

„Aber da“, sagte Jason, „hatte ich einen Versager. Vielleicht hätte ich es doch lieber mit Einschläfern versuchen sollen. Er schien ruhig zuzuhören, aber als ich besser hinsah, war er einfach ohnmächtig geworden.“

Als wir nun schwiegen, erschreckte mich das Geräusch des Fahrens, überlaut in meinem Gehör, und da merkte ich, wie alles wieder bröcklig in mir wurde. Da erschien der Festzug, ich saß auf der Höhe des Wagens, die Elefanten schritten dort, ich sah das bunte Getümmel unten und oben, und jetzt, wie es erlosch, jetzt erst sah ich alles, was geschehen war an diesem Tage, der so triumphierend begann. Alles zählte ich da Jason auf: Erasmus’ Tat, und Josefs Tod, den Jammer seines Vaters und meinen eignen, den Tod des Herzogs, und Sigurd, Georgs Erkrankung, Magda, und weiter noch Bogner und Ulrika und gar Irene. „Jason!“ mußte ich endlich entsetzt fragen, „wie war es nur möglich! all dies an einem Tag!“

Jason sagte: „Du lieber Egoismus! Warum lässest du alles Übrige fort? An jenem heißen Sommertag haben achtzehn Menschen einen Hitzschlag erlitten, woran sieben starben; drei stürzten mit einem zusammenbrechenden Balkon beinah hinter dir in den Festzug; zwei fielen vom Dach, zwei von der Straßenbahn, sechs wurden überfahren, einer brach den Arm im Gedränge, und übrigens müssen der Wohnungen, die von ihren Besitzern verlassen waren und in die eingebrochen wurde, mindestens zwanzig gewesen sein.“ Er hätte nicht gezählt, schloß er, aber was mir einfiele, alldas nicht zu rechnen?

„Nein, Jason,“ konnte ich trotz der erschreckenden Aufrechnung entgegnen, „du wirst mich wohl recht verstehn: die ich aufgezählt habe, gehörten doch Alle zusammen. Wir waren doch Alle verwandt miteinander!“

„Freilich,“ erwiderte er, „kommt ein Sturm, stürzt das Dach ein, so trifft es Alle, die darunter versammelt sind. Oh gewiß, ich erinnere mich wohl: die Friedliebende Gesellschaft hieß es, und damals fing alles an. Denn“, endigte er liebenswürdig, „ich gebe dir gern zu, daß du die Dinge so ansehn mußt, wie sie sich um dich ordneten.“

„Ordnung, Jason!“ rief ich empört.

„Ja, wer kennt denn all die Gesetze? Hat der Mensch einen Gott, muß er auch Dämonen haben.“

Mir graute es vor Jason in diesem Augenblick, und es dauerte eine Weile, bis ich fragen konnte, wie er es mache, stets gelassen zu bleiben, denn ich wisse ja, er meine es gut mit uns Allen.

„Ein bißchen schwarze Kunst vielleicht?“ riet er.

„Ach freilich, die Schwärze sieht man an den Augen! Aber worin besteht sie?“

Das sei schwierig, meinte er, jeder Zauber sei nur in einer Hand wirksam; worauf er mir ernsthaft riet, wenn ein Leid an mir zerrte, nur die Augen kräftig zuzumachen und zu denken, daß es mich gar nichts anginge.

„Du hast uns so oft wohlgetan, Jason,“ sagte ich leise, „wie willst du das denn gemacht haben, wenn wir dich nichts angingen?“

Das, sagte er, sei eine Verwechselung der Ausdrücke. „Ihr Alle geht mich viel an und auch euer Leid. Wenn aber eines davon an mir zerren wollte, an mir, nämlich an jemand, den es in Wahrheit nicht betrifft, und ich lasse das zu, und es wird nun meine Sache, was geschieht? Dann werde ich verwirrt und unnütz, und das Leid ist weiter nichts als größer geworden. Muß man ihm nicht Grenzen setzen? Kommt die Springflut über den Deich, so zieht man einen neuen. Wie soll man denn ein Leiden verringern, als indem man ihm Einhalt gebietet und versucht, es in ein ordentliches Bett zu leiten? Oh, man muß es gut schieben und zwängen, bis es an Ort und Stelle und eingepaßt ist. Dazu ist aber doch Besinnung nötig. Nun, und wenn schon der sie verliert, der darin steckt, soll ich sie auch noch verlieren?“

Ich konnte nur den Kopf schütteln und sagen: ich verstehe es nicht.

„Es läßt sich ja nicht verstehn,“ erwiderte er freundlich, „ich sagte es schon. Oder kann dirs klar werden, wenn ich sage: Man muß mit fühlen, aber nicht mit leiden?“

„Ja, wie denn nur, Jason, wie denn?“

„Nehmen wir“, erklärte er nun, „einen eisernen Topf. Der ist voll Wasser, steht am Feuer, das Wasser fängt an zu kochen. Das Feuer glüht, der Eisentopf glüht, aber die leiden nicht. Das Wasser leidet, und die Luft im Wasser, die vor Angst, hinauszukommen, alles über den Rand wirft. Sie leidet die Glut, aber der Topf? Er fühlt sie. Fühlt sie ganz ruhig so lange, bis die Luft in der Freiheit der Lüfte ist, alle schädlichen Keime tot sind, und das Wasser gekocht. Das Feuer geht aus, der Topf wird kalt, alles hat seine Richtigkeit. Du aber, sage mir, mein Kind: war ein Gott im Feuer oder ein Dämon?“

„Beide, Jason, doch beide!“ rief ich ganz aufgelöst, „aber warum, und wie macht es denn dein Topf, dein —“

Ich glaube aber, ich habe das gar nicht gesagt oder jedenfalls nicht weitergesprochen. Mir fiel nämlich etwas ein, das mit Jason zusammenhing, doch konnte ich es nicht finden; dann hielt auch der Wagen, und jetzt erst in der Nacht, wo ich mein Buch hervorholte, um zu schreiben, wußte ich, daß es darin stand, was ich gesucht hatte, und ich brauchte nicht lange, um diese Zeilen zu finden, Jasons Worte, geschrieben am 5. November im vorigen Jahr:

„Gewiß erinnerst du dich der Geschichte von den drei Männern im Feuerofen, die sangen. Ganz kühl standen sie in aller Glut und sangen schöne Lobgesänge. Das sollten eigentlich wir Alle können, ja, das ists, was wir lernen sollten. Die Glut verschonte sie ja nicht, jene Drei, was wäre das weiter gewesen? Ist Gott ein Taschenspieler, der Kunststücke macht mit seinen Heiligen? Nein, er ließ sie ganz und gar verzehrt werden von der Feuersglut, bis sie zu Asche gebrannt waren, aber siehst du, Kind,“ sagte er zu mir, „in ihnen war Gott, mit seiner himmlischen Essenz waren ihre Leiber durchtränkt, so daß ihre Asche fest wurde, fest wie gebrannter Ton, und da empfanden ihre Seelen erst, wie kühl und wie angenehm gekleidet sie mitten in den Flammen standen, und nun begannen sie unverbrennlich den Lobgesang.“

Unverbrennlich, das war das Wort. Das sollten eigentlich wir Alle können, — o Gott!

Jason, ja, und die Andern! Magda ist es geworden, Bogner wird es vielleicht, aber ich, wie weit bin ich davon! In Flammen stand ich lichterloh, aber alles, was ich davontrug, sind Wunden. Und war es nicht so, wie Jason erklärte? Was gingen jene Flammen mich an, mich, die sie nicht betrafen? Erasmus, den trafen sie und gingen sie an, und seinen Vater, Sigurd und den Herzog, aber doch nicht mich! Sie konnten brennen und verbrannt werden, ich aber lief nur zum Feuer hin und versengte mir die Hände. Nein, mein Gott, oh nein, was konnt ich denn tun? Erasmus, was konnte ich tun? Ich legte die Hände auf seinen Kopf, oh Heiland, wie das Feuer drin raste! Ich habe Woldemar einen Verband gemacht, so gut ich konnte, und ich habe Sigurds Stirn angefaßt und gefühlt, wie sie glühte, und da war meine Hand noch kühl. Ach, sie ist doch verbrannt, denn was half ich?

Was ist denn nur mit mir, was ist denn nur? Diese Schwäche, diese innere Lähme schon durch die Wochen. Es ist, als hätte ich Angst, dies könnte noch nicht alles sein, wenn aber das Letzte kommt, das Wirkliche, werde ich schwach sein und nur brennen und nicht überstehn. Sollte das möglich sein? Ein schlimmeres Unheil und eins, das nur nach mir zielt, nach mir? Ach, und die Jahre all, wie hungerte michs nach dem Glück!

Ruhig war ich früher immerhin und sagte: ich warte! Da aber, in jener Nacht, am Wehr erst, dann im Zimmer, auf der Fahrt, in der Universität, im Schloß dann, die lange Ewigkeit bis zum Schlaf bei Saint-Georges, da war ich — besinnungslos, war ich leer, von mir selber verlassen und betäubt, und da hat mich einer, der mich schon lange belauerte, der hat mich da überfallen, der schlüpfte in mich hinein und hockt nun in mir, zusammengekrümmt, und wartet, und dies alles bisher waren nur erst die großen Verneigungen.

Bist du ein Gott, du fürchterlicher in mir, sage, bist du Gott oder der Teufel? Du hast mich öfters auch trunken gemacht in diesen Wochen, hingegeben der Ferne, einem himmlisch Kommenden zugeschmolzen, und dann dachte ich gewiß: Ein Gott muß es sein! Aber ich weiß es nicht, ich weiß es ja nicht! Angst ist immer Angst, ob sie nun süß ist oder bitter, wie soll ich da erkennen?

War ein Gott im Feuer oder ein Dämon? fragte Jason, und ich schrie: Beides!

Cornelia Ring an Renate

Altenrepen, am 29. August

Liebes Fräulein von Montfort, wie sehr danke ich Ihnen für Ihre lieben Zeilen, und denken Sie bitte nicht schlecht von mir, daß ich Sie bis heut ohne Antwort ließ! Ich, wissen Sie, habe gar keine Widerstandskraft, und wenn mich etwas trifft, so kann ich nur stillhalten und mich zerreißen lassen. Es ist nun so weit vorüber, daß ich wenigstens der Außenwelt Fassung zeigen kann, aber sehen lassen kann ich mich noch nicht, ich bin am ganzen Körper geschwollen. Wenn Sie es denn erlauben, komme ich in der nächsten Woche zu Ihnen. Heute will ich Ihnen nur schreiben, weil Sie nach Li fragen. Er hat mir erst einen guten Schrecken eingejagt, denn nachdem er Ihren Auftrag an mich ausgerichtet hatte, ging er hin und wollte sich umbringen. Ja, Sie haben sein ‚Was soll nun aus mir werden!‘ wohl nicht ganz recht verstanden, denn das hieß nicht, daß er nun keinen Herrn mehr hätte, sondern daß mit seinem Herrn auch sein Leben zerrissen war; es bestand nur in ihm. Ach Gott, es war wohl sehr komisch! Er war hinaus, ich glaubte, ohnmächtig zu werden, mein Herz ist nicht gut, ich schrie nach ihm, da kommt er wieder hereingelaufen ohne Jacke, um den Hals einen Strick, an dem er zerrt, und der nicht los will. Ich habe nun gesucht, ob sich in Josefs Papieren irgendwelche Bestimmungen für Li fänden, fand aber nichts. Li selber hat sich nun eines Auftrages seines Herrn entsonnen und behauptet, seine — Josefs — Erinnerungen aufschreiben, das heißt aus seinen Tagebüchern wiederherstellen zu müssen und herausgeben. Er, Josef, erlebte ja viele und unglaubliche Dinge, es giebt mehrere Tagebücher, die meistens von Li geschrieben wurden nach seinem Diktat oder auch ganz selbständig. Schon hieraus können Sie sehn, wie sehr der Kleine sein Vertrauen hatte. Wenn er lebte, würde er Ihnen Li aufs höchste rühmen. Er spricht, glaube ich, alle lebenden Sprachen und besitzt tausend Fertigkeiten. Er hat ihn, Josef, auf allen Reisen begleitet, und seit ich Josef kenne, war er, Li, immer bei mir, wenn er, Josef, in Ihrem Haus wohnte. Er hielt es irgendwie (ich glaube fast, seinem Bruder gegenüber) für unpassend, einen Diener für sich allein zu haben. Ich habe ihm nun Ihren Wunsch mitgeteilt und auch, daß er bei mir nicht bleiben könne. Er hat sich Bedenkzeit erbeten, obgleich es ihm gewiß lieb sein wird, in Josefs Haus zu kommen. Bitte, wenn Sie oder vielleicht Herr Montfort etwas aus Josefs Leben wissen möchten: Li weiß alles, und es sind ja auch die Tagebücher da. Heute erklärte er mir, wenn er schon bei mir nicht bleiben könnte, so gefalle es ihm, daß seine neue Herrin nicht sehen könne, denn da es die alten Augen seines wahren Herrn nicht sein könnten, wären gar keine schon das beste. Das klingt ein wenig lieblos, aber Sie sehen, wie er es meint, und das ist auch ganz so, wie ich Josef einmal sagen hörte: Wenn ein Mensch ein Unglück hat und gar nicht weiß, wie er damit fertig werden kann, so macht er einen Haken und hängts am Unglück von einem Andern auf. Und ein andermal sagte er: Unglück kommt selten allein; das ist wahr, denn immer hat es irgendein Glück zur Folge für jemand anders, und aus der Birne, die ich für faul halte, klaubt mein Bruder die Kerne und pflanzt sich eine Allee.

Ich schicke Ihnen also Li mit diesem Brief. Entschuldigen Sie bitte meinen Freimut, aber wenn er nicht ginge, so würde ich mich am liebsten selbst anbieten. Einem Blinden zum Führer dient wohl der am besten, der selber kaum noch aus den Augen sieht, und mir fällt wieder ein Wort Josefs ein: Schlage mich auf den Leib, so trägt er ein blaues Auge davon; wo es aber die Seele traf, was für ein Auge wird sie da aufschlagen? — Herr Bogner wird mich ja kaum mehr brauchen; da Frau Tregiornis Mann tot ist, nehme ich jedenfalls an, daß sie zusammen bleiben.

Und nun gottbefohlen! Herzlich grüßend Ihre

Cornelia Ring

Zweites Kapitel: September

Georg an seinen Vater

I

Jason sagte (und nämlich im Auftrage der Andern, denn sie hielten ihn für den Geeigneten, und er wars auch!), Jason also sagte mir, daß Du gestorben seist. Aber das ist auch wieder so ein Ausdruck! (Übrigens, ich erinnere mich, es war ein so besondrer Augenblick, wie ich ihn noch nicht erlebt zu haben glaube, auch kaum mehr vorstellbar, doch war es so, daß Jason ganz weiß von oben bis unten in einer pechschwarzen Wolke saß, in der es donnerte. Dann liefen sie haufenweise zusammen, und diese, ich muß gestehen, ziemlich unglaubliche Erscheinung verschwand.)

Aber wie gesagt: das ist auch wieder so ein Ausdruck. Dir ist bekannt, denn wir sprachen mehr als einmal darüber, daß wir im Zeitalter des Ausdrückens leben, auch Expressionismus genannt. Dichter und Maler: was das Wesen ihres Wirkens in Wahrheit ist, nämlich: die Form, das weiß ihrer keiner mehr (ausgenommen wie immer George), und eines jeden ganzer Stolz ist es, wenn er für irgendeine Nervensache einen Ausdruck gefunden hat. So auch die übrigen Menschen, und so auch in diesem Fall und so weiter.

Nämlich, ich will sagen: die Umstände reden ja gewissermaßen zugunsten der Andern. Mordanschlag eines Irren ... ich beklage Sigurd nicht weiter, als ich ihn eben verstehe, das heißt, ich habe alles, was Vernunft und Sinnenordnung heißt unter den Menschen, so oft hirnverbrannt finden müssen, an Andern und an mir, daß ich durchaus nicht weiß, ob wir nicht in die wahren Ordnungen gerade dann eintreten, wenn die uns bekannten gesprengt scheinen, und übrigens, wer sagt denn: gesprengt? Ebensogut können sie ja nur erweitert sein. Attentate auf Fürsten sind auch von sogenannt vernünftigen Leuten nicht selten verübt worden, und so ließe sich in Sigurds Falle besonders gut annehmen, daß es für ihn, um zu dieser Tat zu gelangen, eben jener Erweiterung bedurfte, die uns unter dem Ausdruck Irrsinn bekannt ist. Auch wieder so ein Ausdruck!

Ferner Trauer im Lande, an den Kleidern, betrübte Mienen und so weiter, vor allem unbedingt Deine sonst ganz unverständliche Abwesenheit, — wie gesagt, all das spricht für Totsein, aber, wie ich auch schon sagte: das ist eben der gängige Ausdruck. Und eine Nervensache ist es ebenfalls, denn wie? Wenn ich wirklich glaubte, Du seist tot, in dem üblichen Sinn des nicht mehr Vorhanden-, des Abgeschiedenseins: müßten nicht meine Nerven reißen im Augenblick? Mit einem Wort: ich stürbe vor Angst?

Nein, mein Glaube bleibt die Form. (Übrigens ist es, wie mir einfällt, gerade Sigurd, dem ich die frühste Belehrung hierüber verdanke.) In der Form offenbart sich die Seele; Deine Seele aber, wie könnte sie gestorben sein? Ich habe es nicht gesehn. Ihre stoffliche Erscheinungsart, ja, die hat sie allerdings in außerordentlicher und besondrer Weise gewechselt, so wie die Vernunft es eben tut, indem sie rasend wird. Einzig wunderbar aber bleibt, daß die Form, in der Du nach wie vor Wesen hast und lebst, daß sie ganz und gar zusammenfällt mit der Form, in der ich Dich empfinde. Und ist nicht dieser Gedanke fast göttlich: Du, gemacht aus väterlichem Stoff, eingesetzt in die Form des Vaters für unsre Lebenszeit, nicht leiblich mein Vater, aber ganz und ewig im Geist? Nein, besondrer konnte es unmöglich erdacht werden. Mir verbleibt.

Sieh, da war er wieder eingeschlafen! Er schläft immer ein, dieser Knabe Georg! Ich dachte erst, das Schreiben würde ihn munter erhalten, aber es scheint mir doch nun wieder eine besondre Nervensache. Mein Geist, das merkst Du wohl, ist schon wieder scharf wie ein Eisbrecher (übrigens, in Chöttingen sagt man Cheist, — ich weiß nicht, es reizt mich so besonders, wenn ich nicht alles aufgeschrieben habe, was mir eben einfällt. Nicht wahr, es könnte ja grade das von ausschlaggebender, mit einem Wort von besondrer Wichtigkeit sein!), also wie ein Eisbrecher, wie gesagt, aber du lieber Gott, meine Hand ist so schlaff wie meine Beine und so weiter.

Nämlich —

Oder vielmehr —

Nein, es tut mir besonders leid, aber ich kann nun das Ende des Satzes oben nicht mehr finden. Nun, Geduld, Geduld, wenns Herz auch bricht, Mit Gott im Himmel hadre nicht und so weiter, wie der Doktor Bürger so schön singt, aber — das ist auch nicht so einfach!

II

Denn (um an meinen ersten Brief anzuknüpfen): warum bist Du fort und ich hier allein? Ist das nicht zum Hadern? Du bist freilich nun der große Strahlende geworden, ja der so blendend Strahlende, daß ich gar nicht die Augen zu Dir aufheben darf, und schon deshalb ist das Schreiben sehr dienlich, — ich aber blieb hier in der kranken Dämmerung, und wenn ich nicht die Hoffnung hätte wie einen Felsen, wie einen rocher de bronce, in nicht gar zu langer Frist dorthin zu gelangen, wo Du bist — wie wäre dies Dasein sonst zu ertragen? Lieber Papa, verzeih schon, ich weiß, daß die Äußerung von Gefühlen früher nicht üblich war zwischen uns, aber damals ging es uns Beiden ja verhältnismäßig wohl. Nun verstehst Du wohl: meine Einsamkeit macht mich mitunter recht weich.

III

Standhaftigkeit sagst Du. O gewiß, natürlich! Ich weiß ja auch: es lebt niemand in der Dämmerung, der nicht recte hineingehört, und schon daß ich darin bin, wäre mir ein Beweis. Und nun der lange schwere Weg, den ich vor mir habe, dieser furchtbare und erhabene Weg zu Dir, der mich besonders entmutigen würde, wenn ich es wagte, ihn ganz ins Auge zu fassen: ich muß schon sagen, ich bin mitunter recht verzagt. Du würdest mir ja gern helfen, ich weiß, aber da es verboten ist, so sehe ich es ja vollkommen ein. In Deine Klarheit, in Deine Hoheit, wie fang ichs an? Wo ich doch ganz unten erst auf dem Punkte stehe, wo man tausend Fehle um sich her sieht wie ein grausames Dickicht, und ganz fern — o himmlisches Grün hinter Bäumen! — dämmert die heilige Wahrheit ...

IV

Ich weiß nicht, als ich neulich meinen ersten Brief an Dich begann, war ich so besonders glücklich und munter, aber bei mir hält auch rein gar nichts vor. (So war es immer in meinem Leben. Zum Beispiel Cordelia. Kaum war sie da, war sie auch wieder fort.) Dann ist auch diese elende, besondre Müdigkeit ... Ich glaube, ich fahre bald nach Helenenruh. Da Du in Trassenberg bist, darf ich ja leider nicht dorthin, und Helenenruh — ja, Helenenruh, das steht immer vor einem wie eine Fontäne! Helenenruh war immer Sommer. Und die Kindheit, was ist die? Ein einziger Sommer. Folglich ist Helenenruh eine einzige besondre Kindheit, und daraus wieder die einfache Folge ist, daß ich nach Helenenruh fahren muß, um — wenn ich schon in die Väterlichkeit nicht gelangen kann — wenigstens in die Kindheit zu gelangen. Und führt wirklich ein Weg zu Dir hinauf: nur dort kann er beginnen.

V

Da hier nun Geist zu Geist redet, mein lieber Papa, so unterließ ich bisher eine meinen Körper betreffende Mitteilung von nicht besonderer Wichtigkeit. (Immerhin giebt es auch an ihr etwas Bedeutsames.) Ich bin nämlich krank gewesen, ja, und denke Dir, es war aufs Haar genau dieselbe Krankheit, an der Sigune starb! Ist das nicht besonders merkwürdig? Genau die selbe! Und sie starb daran, und ich lebe. Welch ein unmenschliches Glück, nicht wahr, für diesen Knaben Georg? Denn wohin wäre er gelangt, wenn er jetzt schon gestorben wäre? O die Tiefe ist ja nicht auszudenken! Nun blieb ich am Leben und bin Dir um so viel näher immerhin, das heißt: Du mußt verzeihn, wenn meine Berechnungen vielleicht ganz unsinnig sind, denn was sind Entfernungen in unserm Land? Dein letzter äußerster Strahl gelangt bis zu mir mit solcher Kraft noch, daß er mich zu blenden vermag, und das ist alles, was ich weiß.

Darüber müssen wir noch viel reden zusammen. Denn ich weiß nicht: mir wird eigentlich tagtäglich schwerer und unseliger zumut. Du bist so schwer zu fassen! Früher, ach weißt Du noch? ‚Wie wir einst in grenzenlosem Lieben — Späße der Unendlichkeit getrieben ...‘ Ja, damals war alles leicht.

Und wenn schon die gewöhnlichen Menschen sagen, der Tod trennt, und es manchmal kaum zu ertragen wissen, was soll da erst ich sagen? Sie haben es doch leicht. Um die Trennung des Todes aufzuheben, was brauchen sie nur zu tun? Sie legen sich hin und sterben gleichfalls. Haha, es ist fabelhaft! Legen sich hin und sterben. Ich aber, ich? ich muß noch lange, lange leben, muß schaffen und streben und mein goldenes Kleid aus lauter verknöselten Fäden weben.

Ach, und es geht mir so schauderbar viel durch den Kopf, was ich nie im Leben zu Papier bringen werde. Ich glaube übrigens, es wird besser mit mir werden, wenn ich erst wieder gehen kann. Dann läuft sich vieles so an den Sohlen ab. Aber die Beine, o je! Ja, das kommt von der Krankheit. Glaube mir, Papa, es war die reine Hölle! Ich will mal sehn, ob ich es Dir beschreiben kann.

Das Schlimmste war — abgesehen von dem ganz, dem besonders Schlimmen — das lange Fahren. Immer dieser merkwürdige Wagen ohne Pferde, in dem ich vorne so angeschmiedet saß, als wäre ich ein Stück mit ihm, und neben mir auf dem Bock — meist war es wohl Helene, die fuhr, aber auch Andre müssens gewesen sein, die allesamt, wenn ich mich recht erinnere, munter und gesprächig waren — untereinander —, während ich selber keinen Laut äußern konnte und nichts begriff und nichts fühlte als den entsetzlichen Druck, in den mein ganzes Sein eingepreßt war. Und dann die schaurige Langsamkeit! (Seltsam, wenn wir uns sagen, daß es in Wirklichkeit doch kaum Minuten waren, während ich umgebettet wurde, und doch diese Unendlichkeit, zu der das Delirium die Minuten dehnte! Es ist also gewiß, daß es nur außerhalb unsrer, und für uns nur insofern wir mit dem Äußern in bewußter und vernünftiger Beziehung stehn, Zeit giebt, nicht aber in uns selbst.) Fahren, fahren und nicht vorwärts kommen, manchmal zwischen den unsäglich grauen Feldern, ohne Himmel, jedoch immer bedrückt von der schweren Niedrigkeit, unter der sich alles bewegte, dann wieder die endlose Mauer entlang, endlich durch die Höfe, die zahllosen Höfe, dann die Räume dieses öden Hauses, das nichts hatte als seine Wände, langsam, grauenvoll langsam, immer wieder Stillstand, bis ich endlich lag, angeschmiedet wieder ins Liegen wie zuvor in den Sitz (und es kam wohl, weil sie mich unter den Armen und Knieen faßten beim Umbetten, daß ich mich so in halb sitzender Stellung befand — das Fahren! — jedoch schwer hing und nicht saß), bis ich dann merkte, daß sie mich ja wieder aufgehängt hatten, an den Füßen aufgehängt an der Wand, ohne daß ich mich bewegen konnte, wobei ich doch nicht eigentlich hing, sondern lag — ein im Wachen nicht vorstellbarer Zustand, das heißt ich hing, aber um mich herum war alles, wie wenn ich wagerecht läge. Und daß dies immer wieder kam! Und immer waren sie Alle herum, Onkel Salomon, Magda, Renate, Du Papa, Virgo, Schley, Klemens, sprachen miteinander, nichts war für mich zu verstehn, ich flehte, ich war für sie gar nicht vorhanden. Es war die Hölle! Ich glühte festgegossen, hing, — ach, Sigune, hast du nicht auch so gelegen, den Kopf hintenüber, das Genick schon versteift? Hast du nicht ganz das selbe ertragen? Sieh, so habe ich es dir nachgelitten!

Doch war dies alles ja nichts gegen — das Große.

Mich friert, wenn ich nur das Wort denke. Beschreiben kann ichs Dir nicht mehr, es läßt sich ja nur träumen. Es war nur Empfindung. Es war Nacht, — und ich war selber die Finsternis. Ich war ausgedehnt und überall. Es war das Große, das ungeheure schwarze Wälzen vor mir, über mir —, und ich selber war das Wälzen. Ich war zum Giganten geschwollen und hatte eine entsetzliche Angst, nicht wieder klein sein zu können. Ich sollte das Große umwälzen, es war ein grauenvoller Drang, umzuwälzen, und es wälzte mich um. Es war eine so wahnsinnige Angst ... Nein, kein Großes, kein Wälzen, kein Ich. Nur Angst. Es war das Sterben.

Und doch — ich erinnere mich — es war schon einmal da, das Große. Wie ich die Masern hatte als Junge, war es da, und als ich, ganz klein, Lungenentzündung hatte, muß es dagewesen sein. Ja, und damals selbst kann ich es nicht zum ersten Mal erlebt haben; damals schon — ich erinnere mich — muß ich mich erinnert haben, wie ich mich heute erinnere. Und ja — mein Gott! ich glaube, das Fürchterlichste war die Erinnerung, daß es schon einmal da und damals schon nicht zum Ertragen gewesen war. Und Erinnerung eigentlich war die ganze Angst, — aber wann? wann?

VI

Dieser besonders gute Jason war eben da und erzählte mir etwas Niedliches, das ich meinem lieben Papa nicht vorenthalten will, doch muß ich einige Erklärungen vorausschicken.

An jenem 31. Juli nämlich, der uns am Abend die Trennung brachte, wo der große Mummenschanz war, mit einem Wort: an jenem besondern Tag, das heißt während seiner ganzen ersten Hälfte war ich — kurz und gut: gewissermaßen berauscht. Damals wußte ich es natürlich nicht, das heißt als ich es nicht mehr war, da fiel es mir auf. Es war jedoch ein besondrer Rausch, nämlich nicht im Kopf allein, sondern in allen Gliedern, es war ein ganz rasendes Behagen, es war quasi nichts als ein ganz gewaltiges, besondres Strotzen von Lebenskraft.

Ja, und noch etwas! In der Nacht vorher hatte ich — sagen wir: Erscheinungen. Nun, wo Jason mir alles erklärt hat, erinnere ich mich erst deutlich wieder. Ich saß nämlich um die besondre Mitternachtstunde oben auf der Sternwarte, weintrinkenderweise, eine etwas romantische Idee, obwohl ich im allgemeinen kein Romantiker bin. Dann erschien auf einmal jener Montfort bei mir, Josef, dann kamen diese optischen Erscheinungen, Kugeln aus Feuer und so weiter, auch so besondre Ausfälle im Gesichtsfeld, wie man das nennt, und schließlich stellten sich drei Gugelmänner vor, so besondre Femrichter, die allerlei unvergeßliche Dinge sagten, das heißt — nun habe ich sie ja doch vergessen. Bis auf eins: den Vornamen meiner richtigen Mutter, nämlich Kaja.

Und nun höre diese entzückenden Zusammenhänge! Ja, also am 31. nachmittags kam doch jener Klemens mit einem in russischer Sprache abgefaßten Brief meiner Mutter, den Virgo ein paar Tage vorher irgendwo gefunden hatte, und in eben dem drin stehen sollte, daß die Schreiberin meine Mutter sei, ich hielts nicht für wichtig, ihn zu lesen. Mit diesem Brief in der Hand war besagter Klemens nun die Tage vorher umhergelaufen (entschuldige gütigst: vorher umher klingt abscheulich, aber es langweilt mich nun schon ein wenig!) auf der Suche nämlich nach einem besondern Russen, der ihn übersetzen könnte. Wen findet er am Ende? Natürlich jenen Jason, der bekanntlich alle Sprachen spricht, aber siehe da: dor hatt en Uhl seten, und er konnte wohl und konnte auch nicht, das heißt, der Brief war so unleserlich, Jason fehlten ein paar besondre Worte, und kurz und gut, ihm fällt ein, daß ja dieser Josef Montfort vorhanden ist und grade aus Rußland gekommen, und nun wandern sie selbander zu ihm, das heißt in das Haus von Maler Bogner, wo Montfort wohnt.

Und wie sie dahin kommen, was herrscht daselbst? Allgemeine Heiterkeit! Es hatte nämlich besagter Montfort aus Südamerika, wo er auch gewesen ist (in dem Lande der Chinesien bin ich auch einmal gewesien!) ein besondres Gift mitgebracht namens Macu, das daselbst von den Indianern zu Kultzwecken gebraucht wird, und dessen besondre Wirkung eben darin besteht, wunderbare optische Erscheinungen hervorzurufen. „Und da,“ sagt Jason, „da sitzen sie nun auf einem Berge, diese guten Indianer, und machen sich gegenseitig ihren schönen blauen Dunst vor.“ Das selbe nun taten allda jener Maler, Montfort benebst seinem Chinesen — er hat einen Chinesen! —, seine Freundin Cornelia und sein Freund Saint-Georges, der zu diesem Zwecke geladen war. Auch Jason sagte natürlich: gieb mir die rote Speise, — und so war es eben. Wie nun aber Jason, oder vielmehr Klemens seinen Brief herauszieht, was kommt zutage? Josefs Kenntnisse in Russisch sind überaus mangelhaft, aber sein Chinese, der kann es glänzend, bloß — er kann nun wieder keine russischen Buchstaben lesen, und kurz und gut: da sitzen sie schließlich allesamt und raten auf den Brief und bekommen ihn auch schließlich heraus.

Siehe, da sagte jener Montfort: bedeutsame Vorfälle und so weiter, mit einem Wort: ob ich nun schon wisse, was in dem Brief geoffenbart wurde, oder nicht, und ob Klemens es mir sagen würde oder nicht (derselbe nämlich ging wieder fort und sagte, er wollte es sich überlegen, und das tat er auch den ganzen folgenden Tag lang), ihre Pflicht sei, mir eine besondre geheimnisvolle Warnung zukommen zu lassen; ein schöner Gedanke, nämlich in Hinsicht auf die königliche Würde, die ich in jenen Tagen auf mich zu nehmen gedachte, und Montfort in seiner ungeheuren Beredsamkeit dringt so lange auf die Andern ein und entwirft so köstliche Bilder und so weiter, daß sie allesamt einsehn: es ist notwendig, es muß geschehn. So kauften sie denn am folgenden Tage — nämlich das heißt: Montfort und Saint-Georges, und Jason sollte dabei sein, weil er eine so musikalische Stimme hat und am besten Verse aus dem Stegreif aufsagen kann — kauften sie diese besondren Femrichtertrachten, und das Gift nahmen sie auch mit, um es mir zu verabreichen, dieweil, wenn ich schon vorher Erscheinungen hätte, ich auch die Gugelmänner für ebensolche halten würde. Jason, das muß ich noch sagen, war eigentlich abgeneigt, allein was geschieht? Zu ihm kommt jener Sigurd, und wie Jason das einmal an sich hat: Sigurd beichtet ihm alle Tyrannendolche, die er in seinem Gewande trägt, und Jason? Ja, da meinst Du nun wohl, er habe die Obligation gehabt, zum Kadi zu rennen, allein da kennst Du den Jason zu schlecht. Der weiß nämlich haargenau, daß er an etwas, das geschehen soll, nicht das geringste ändern kann. Er kann nicht eingreifen, er ist gleichsam handlos oder bloß Kopf, oder wie er es ausdrückt: er wäre nur eine Begleiterscheinung. — Immerhin findet er sich bewegt, Kopf zu sein und ergo mit Femrichter zu spielen, — bin ich klar?

Und siehe da, wie sie um Mitternacht zum Schlosse wandeln, was geschieht? Sie sehen meinen Schatten oben auf der Sternwarte. Nun kommt Montfort herauf, um Hausgelegenheit auszubaldowern, wie die Gauner sagen, „und da saßen Sie ja“, sagt Jason, „und tranken Ihren herrlichen Christitränenwein, oder wie solche besondren Weine heißen“. Nun, und kurz und gut, das Gift ist im Wein, ich trinke, Montfort schwand ‚und Goethe schwindet, und wer unbelohnt gelitten, strahlt in neuer Herrlichkeit‘ und so weiter. Und dann kamen sie, und es war alles schauerlich und sehr schön, bloß ich natürlich, ich schlug alles in den Wind, naturgemäß — meiner Natur gemäß —, das heißt: in diesem Fall war ich gewissermaßen unschuldig, denn eben jenes besagte Macugift hatte neben jener optischen auch die Wirkung, während der optischen äußerst schlaff und elend zu machen, hinterher jedoch eben jenes Strotzen von besondrer Lebenskraft hervorzurufen, das mich am folgenden Morgen prompt überfiel. Aber es war doch sehr schön, und ich bilde mir schon was darauf ein, so besondre Heroen wie diesen Josef und gar Jason zu meinem Seelenheil in Bewegung gesetzt zu haben, und dieser Josef hatte ja auch noch eine sehr feine Idee, nämlich einen Schmetterling, auch aus Südamerika. Er war so groß wie meine Hand, ganz blau wie lauter Türkise, und dran hing eine seidene Schleife, auf deren Bänder die Drei ihre erlauchten Namen eingetragen hatten, worauf sie das Ganze irgendwo in meinem Palast anbrachten, damit ich am andern Tage wenigstens wüßte, wers gewesen war, aber siehe da, was geschieht? Ich wußte es ganz und gar nicht.

So geht es, Papa, so geht es! Aber nun muß ich leider aufhören, ich hätte allerdings noch viel zu sagen, aber Du mußt verzeihen, ich bin so fürchterlich müde!

VII

Ach Gott, nein, sind die Menschen dumm! das ist ja nicht auszuhalten! Im allgemeinen weiß mans ja, aber diejenigen, die einem besonders nahestehen, die hält man doch gemeinhin für Ausnahmen.

Heute war mein Freund Benno da, zusammen mit der kleinen Virgo Schley. (Da ich mir bisher alle Besuche verbeten hatte, meinten sie wohl, es wäre ein Aufwaschen.) Virgo — ich irre mich doch nicht, daß Du sie einmal bei mir kennen gelernt hast? — brachte inzwischen Zwillinge zur Welt, was merkwürdigerweise auf ihr Äußeres nicht den geringsten Eindruck gemacht zu haben scheint, und sie sieht nach wie vor süß und wie ein halber Knabe aus. Nur weniger unschuldig; den besondren Ausdruck aller jungen Frauen von Wissen ohne rechtes Begreifen, weich und ein bißchen erstaunt, den hat sie schon. Von ihren Kindern erzählte sie naturgemäß tausend Geschichten. Benno schwieg sich aus in Kindheit, Rührung und vermischten Gedichten. Von Dir schwiegen sie natürlich, die überaus Zarten. Als sie im Begriff zu gehen sind, frage ich, ob ich vielleicht Grüße an Dich ausrichten soll. Was ereignet sich? Allgemeines Staunen. Nun und so weiter, ich habe keine Lust, ihre Dummheiten obendrein zu Papier zu bringen. Dennoch, dieser Mensch! Da waren wir nun so und so viel Jahre lang ein Herz und eine Seele, und nun stellt sich heraus: alldas war bloß Oberfläche. Er ist so flach wie eine Furt für Kühe. Nun, er heiratet ja demnächst auch diese japanische Ente, die er sich da angebändelt hat. Obendrein rückt er mit der Absicht heraus, durch meine Vermittlung eine demnächst freiwerdende Korrepetitorstelle am Hoftheater zu erhalten. Wer dahintersteckt, war zu erraten: die dicke Person von Schwiegermutter, der die Unterstützung eines ums Haar zu den Toten versammelt gewesenen gekrönten Freundes nicht geheuer scheint. Mag er denn hingehn zum Theater und sich die Seele vollends verschandeln lassen. Die nächste Forderung der Dicken wird wohl sein, daß er eine Operette komponiert von wegen der Tantièmen und so weiter.

Gute Nacht, Papa, ich bin heute zu abgespannt zum Schreiben. Dies mit Benno hat mich auch wieder recht aufgeregt. Armer Benno! Da hängt er nun wie der selige Absalon mit seinem langen Haar an den Ästen meines Nervenbaums, und noch habe ich die Kraft nicht, ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Ach, könnte ich nur gleich den ganzen Baum bei den Wurzeln abhacken und ins Feuer werfen! Etwas derart muß ja geschehn, ich weiß, damit die Seele ganz frei und rein werde — für Dich! Du willst keine Götter neben Dir haben — o nimm doch nur, nimm alles, was Du willst, wäre es nur mehr, was ich geben könnte, jeden Freund, jede Geliebte, alles, alles will ich Dir ja zum Opfer bringen, leichter zu werden, eisiger, ruhiger im Beschreiten des Weges zu Dir!

VIII

So nüchtern und kalt und altersschwach wie jeder bisher sah mich heute der Morgen an, der mich aus einem Traum von Dir weckte. Ich hatte schon alles zur Abreise nach Helenenruh vorbereiten lassen — Doktor Birnbaum übersiedelt mit mir, um die Verbindung zwischen mir und den Regierungspersonen aufrechtzuhalten, obschon ich gestehen muß, daß ich noch nicht mehr tun kann als unterzeichnen, was er mir vorlegt —, und nun zögere ich wieder.

Mir träumte, daß ich in Trassenberg ankam und in die Gruft hinunterstieg, zu der aber die Treppe in den Grabenrest am alten Pallas hinabführte. Das Gewölbe unten, in das ich gelangte, war aber leer, zuerst. Dann erkannte ich ganz in der Ferne vor einem bunten Fenster Birnbaum, der an einem Tisch saß und in einen sonderbaren Trichter hineinsprach. Es war sehr still, mir war ängstlich, weil Du nicht da warst, dann bemerkte ich eine Tür, und wie ich behutsam näher trat, sah ich Dich in einem kleinen, ganz kahlen und niedrigen Raum sitzen auf einem Stuhl. Du hattest Dein gewöhnliches Aussehn, saßest ganz still da, die Hände geschlossen auf den Knien, und sahst nach dem Fenster hin. Meiner hattest Du nicht acht, und wie ich dann näher zusah, waren auch Deine Augen geschlossen, und Dein Gesicht war ganz gelb. Plötzlich wendetest Du Dich, öffnetest schwer die Augen und sahst mich fremd an ...

Früher einmal gab mir Josef einige Anweisungen zur Traumdeutung, aber hier versagen sie mir ganz, und es scheint mir auch verboten.

Aber es soll wohl so sein, daß es täglich schwerer wird. Helenenruh wäre ja eine Erleichterung.

Wieder eingeschlafen über dem letzten Satz. Mich friert immer noch so trotz hundert Decken, ich sitze vor der Gartentür — das heißt also: im Zimmer — und versuche an den nassen Blättern der Büsche zu erraten, ob es regnet oder nicht. In Helenenruh, denk ich mir, scheint die Nachmittagssonne auf die Dächer, die Schwalben kreisen um die Türme, ich sehe sie, wie ich sie immer sah: die Luft über dem Schloß ist wie ein riesiger Trichter, gefüllt mit dem Durcheinanderjagen der hundert schwarzen Flügelleiber; manchmal, wenn eine sich herumwirft, sehe ich die weiße Brust; sie kreuzen sich wie lange gebogene Klingen, und außen um den fernsten Rand des Trichters streichen ein paar ganz eilige in großer, sausender Fahrt. Mariä Geburt — Ziehen die Schwalben furt. — Ich habe so eine Ahnung, als ob Mariä Geburt um diese Zeit sein müßte.

IX

So schreibe ich Dir denn doch heute aus Helenenruh, aber wenn ich zuletzt etwas von Erleichterung sagte, so muß ich das zurücknehmen. Eher dürfte es schwerer geworden sein. Ich möchte nur wissen, was es eigentlich ist! Aber es läßt sich nicht feststellen. Ich bin einfach ganz schwer geworden. Von Sonne keine Spur. Wind und Strichregen, dazu viel welkes Laub. Rosen blühn noch unter der Terrasse. Ich versuchte es mit dem Gehn, hielt auch schon eine kleine Viertelstunde aus, aber dann dachte ich, daß Du es ja auch nicht bis zum richtigen Gehen gebracht hast, solange Du hier warst, und nun sitze ich wieder unter meiner Decke, immerhin im Freien.

Es ist ja auch alles leer hier. Von uns Allen blieb nur Birnbaum mit seiner Arbeit. Übrigens bin ich mit Deiner gütigen Erlaubnis in Dein Schlafzimmer eingezogen und in das große Bett mit den geschnitzten Evangelistentieren auf den vier Pfosten — Bewunderung und Ehrfurcht der Kindheit!

Aber sage mir, warum nur dies mich so besonders erschreckte? Bei meinem heutigen Gehversuch gelangte ich bis zu Helenes Grab und betrat, um mich etwas auszuruhn, den Pavillon, in dem noch der Sessel von Dir stand. Auf einmal, wie ich da saß, entdeckte ich auf dem Bretterboden das zertretene Ende einer Zigarre von Dir. Oh Gott, ich kann nicht sagen, wie das mich entsetzte! Es war ein so leibhaft lebendiges Stück von Dir, und nun ist mir, als hättest Du mich drohend angesehn aus dem Fußboden. Die Rechenschaft, ja, ich weiß, ich weiß ja, ich schob sie immer noch hinaus, es ist die alte Schwäche, allein — gedulde Dich nur noch zwei Tage, nur noch einen! Es ist so schwer, ich habe noch immer nicht alles beisammen, es sind immer noch ein paar Lücken da, aber wer kann denn inständiger als ich hoffen, zum Ende zu kommen! Morgen ganz bestimmt, oder wenn nicht dann, übermorgen sollst Du mich bereitfinden! Rechne darauf! Ganz bestimmt!

X

Es dröhnt die riesige Posaune des Letzten Tags; an Felsen, an Grüfte, an Totes schlägt das Engelswort: Auf! und da kommen sie hervor, staunend, schwankend, erlöst, aber siehe da — welche Verwandlung ging mit uns vor nach diesem Tod? Keine, keine, denn wehe uns, wir haben nichts vergessen, es ist alles da, was wir verließen, in unsrer Erinnerung grauenvoll da, jedes Jahr, jede Stunde und Minute, jedes Wort, jeder Blick, jeder Schritt und Gedanke ist mit uns lebendig geworden, warum? Rechenschaft abzulegen darüber.

O Gabe des Vergessens, die allein

Uns möglich macht das ungeheure Leben!

Du wundervoller Allernächtewein,

Von dem wir trunken über Schlünden schweben!

Der gute Heiland wußte, was er tat,

O Lazarus, als du im Tod erschlafft;

Er kannte wohl die nicht geheime Kraft,

Er sah die süße Schwester, die ihn bat,

Und lächelte dich los aus deiner Haft.

Der Honig von der Götterlippe schmolz

Und tropfte Süße in dein krankes Herz,

Und Grünes sproß aus dem verdorrten Holz,

Da sahst du auf, und dieser Blick war Schmerz.

Der erste wars, an dem Erinnerung

Von innen saugte in die Nacht zurück.

Der zweite Kosten schon, der dritte Trunk,

Und alle andern waren wieder Glück ...

XI

Nun sieht auf einmal der Himmel mich an. Es ist Abend. Hinter dem Eichendickicht im Westen lodert ein scharfes Gold. Der südliche Himmel von graublauen zarten Zügen, leise vergoldeten, wölbt seine reine Muschel über mir. Selige Schale! Geliebtes Gold, o geliebter Hauch, geliebte Bläue, dein Anblick ist schmerzlich, wie er es dem Verbannten sein muß, der das goldene Abendwunder der Heimat sich über fremdem Ufer entfalten sieht, — erinnernd an alles, was einmal war.

Übrigens bemerke ich, daß ich nichts datiert habe in diesen Briefen. Da es mich auch nichts angeht, ob es Stunden sind, Tage oder vielleicht schon Wochen, die vergingen, während ich schrieb, und sie also einer wie der andre das Siegel einer und der selben Stunde an sich tragen, so muß es wohl heißen, wie C. F. Meyer an seine Schwester schrieb: ‚Aus allen Augenblicken meines Lebens.‘

XII

Kennst Du diese Verse von Greiner, Papa?

Und immer fremder sind mir Tag und Räume ...

Was weht um mich? Man sagt: ein Menschenwort.

Was rauscht um mich? Man sagt: die alten Bäume,

Die rauschen noch aus deiner Kindheit fort.

Und Gärten stehn im abendlichen Land,

Ihr Schatten grüßt mich kühl und altbekannt.

Ich aber wandre dunkel fort, im Innern

Ein uralt Schattenbild, das leise weint.

Die nenn ich Mutter, diesen nenn ich Freund

Und lächle tief und kann mich nicht erinnern.

Sie passen — und sie passen auch nicht. Ich kann mich nicht erinnern, wie ich einmal als ein Andrer gelebt habe, damals als all dieses um mich her war, wie es heute ist, und doch anders, oh so anders! Oder ist dies kein Leben mehr? Es wird sich mit der Zeit herausstellen, ob es Leben ist, und ob es möglich sein wird, es zu leben oder nicht. Sollte jenes der Fall sein, so müßte es mir in der Tat gelungen sein, die ganze Oberschicht menschlichen Wesens, die uns gemeinhin bedeckt, abzukratzen (grattez le Russe!), die ganze moralische Haut sozusagen, jene, in der auch das sogenannte Gewissen steckt, das Alltagsgewissen, nach dem man so behaglich lebt, dieweil es mit Gründen für alles voll steckt wie ein Brombeerbusch im Oktober. Möglich, es ist so. Möglich, das qualvolle Unbehagen, das mir das jetzige Leben verursacht, kommt davon, daß ich die Haut verlor und nun schauderbar friere in der Nacktheit. Worauf es ankäme, wäre dann wohl, nicht, wie ich es unbewußt bereits vorhaben werde, eine neue Haut zu bilden — die nur die alte werden könnte —, sondern vielmehr den Zustand der Hautlosigkeit als dauernden zu ertragen, mit Frieren aufzuhören, ihn lebensfähig zu machen.

Wie soll mans nennen? Nur — Mensch zu sein. Alle Strahlen des Lebendigseins aufzufangen — mit keiner spiegelnden Netzhaut, die Bilder hervorfluten läßt und verwirrende Gestalten —, sondern sie aufzusaugen in den innerst glühenden Kern des Menschseins, wo sich von selber zu ätherischer Reine und Klarheit die ewigen Begriffe bilden, die zeitlosen, die unwandelbaren Formen, in denen die Gottheit sich darstellt.

Aber das sind alles wohl nur so Ausdrücke ...

Fest steht, daß ich bis zum 31. Juli dieses Jahres nichts weiter war als ein blasser und nichtemal besondrer Nervenbaum. Nun sehe ich, daß ich in den Zweigen oben eine nahezu völlig unbenützte Seele sitzen habe, — leider keinen goldenen Fasan, sondern so ein besondres Zwitterding von Sperber und Nachtigall. Warum es so stille sitzt, darf uns nicht wundern. (Total verlaust!)

XIII
Rechenschaftsablage an meinen Vater

Zuvor habe ich zu gestehen, daß der einzelnen Schuldposten einerseits so viel sind, und andererseits in einem so besondren Durcheinander über die Blätter des Schuldbuches verstreut, daß ich den Vorschlag eines besondren Verfahrens machen möchte, nämlich daß ich die einzelnen Hauptposten zusammenstellen darf in der Art jener kindlichen Spielzeugkästen, bestehend aus einem Dutzend würfelförmiger Holzklötze, als welche zusammen mit jeder ihrer Seiten ein Gemälde herstellen, mit dessen Einzelquadraten besagte Seiten beklebt sind, und es bleibt nur noch zu erwähnen, daß in meinem Falle jeder Teil jedes vorgestellten Bildes so wenig im eigentlichen Sinne als Bruchstück erscheint, als jede geistige, sinnliche Vorstellung in ihrer Art immer eine Ganzheit zu haben scheint, — das heißt also gleichfalls die Form eines Bildes.

 

Ich fange an! Erstes Bild:

Ein Mädchen, das ich vielleicht liebte, hieß Esther. Hier steht sie, in der Hand eine sogenannte Gänseblume, an der sie zupft: Liebe ich ihn? Liebe ich ihn nicht? Andrerseits sehen wir hier mich selbst, eine ähnliche Blume zupfend: Ich liebe sie —, ich liebe sie nicht. — Weiter: Eine Abschiedsszene. Sie — will nach Amerika, um dort gewissermaßen zu heiraten. Will — will auch nicht. Ich — möchte sie wohl halten; will — will auch nicht. Letztes Stück: Ein Schiffsuntergang mit Pauken und Trompeten; sie ertrinkt.

Summa: Ich bin der Schuldige am Untergang dieser hülflosen Seele.

 

Zweites Bild: In einer Sylvesternacht las mein Vater Briefe einer gewissen liebenden Cordelia, genannt die arme Seele. Hier ist sie zu sehn, wie sie sich in inbrünstigem Verlangen verzehrt, mir das Geheimnis ihres Lebens zu öffnen. Hier zu sehen bin ich, wie ich gepeinigt bin von einem ähnlichen Verlangen. Hier zu sehen ist Cordelia: tot.

 

Summa: Gesetzt, ich hätte die Kraft aufgebracht, zu bekennen: wäre nicht die zwingende Folge davon ihre Erleichterung zum eigenen Geständnis gewesen? Summa: Ich bin der Schuldige am Tode dieser armen Seele.

 

Drittes Bild: Hier ist Sigune, eine blasse verwaiste Pflanze. (‚Ich wünschte, daß vom Fenster sie verschwände!‘) Hier der vielerseits bekannte Georg, eine Art besondren Wirbelwinds. Hier liegt sie, ausgerissen.

Summa, und so weiter.

 

Viertes Bild: Da wäre noch ein besondres Vorgeständnis zu machen. Ich verschwieg, daß unlängst die vielerseits bekannte Magda Chalybäus bei mir war, das heißt, ich war eben wieder einmal eingeschlafen, und sie saß neben mir wie der beste Engel, als ich erwachte. Obwohl sie mich anzusehen schien wie immer, merkte ich wohl, daß etwas keine Richtigkeit hatte mit ihrem Blick, und gleich sehe ich folgende Bilder:

Eine Frau, die einmal kürzere Zeit so eine besondre Art Geliebte von immer Demselben war. Diese und jene Szene der Eifersucht oder der ehrgeizigen Andeutungen. Trennung. Jahrelanges Nichtvorhandensein in der Erinnerung Desselben. Nun der wohlbekannte Festabend. Jene Frau, genannt Cora, in der Maske einer Eumenide. Scheint Magda wegen ihres von Renate geborgten Kleides für dieselbe zu halten. Alberne (?) Drohungen. Später Magda mit Demselben im Monopteros. Theatralischer Überfall Coras mit einem Dolch. Ich weiß nicht: galt es mir oder galt es ihr? Ehe Derselbe dazwischen fährt, sinkt Magda zu Boden.

Nun, meinem Vater ist obgenannte Magda besonders bekannt, und er kann sich demgemäß ihre Rede vorstellen auf meine Frage nach ihren Augen. Oh, sie könne recht gut sehn! Grade heute zum Beispiel sei es besonders gut, sie sehe mich ganz deutlich, sie sei auch zum Beispiel ganz allein zu mir durch das Zimmer gekommen, ja, es wäre geradezu schade gewesen, daß ich eben schlief — und so weiter. Mit einem Wort: blind.

(Aber deswegen keine Ergriffenheit! Sondern standfest jetzt, Auge in Auge, Zahn um Zahn, — auch abgesehen von noch weiteren diesbezüglichen Ausführungen ihrerseits, nämlich betreff einer gewissen besondren Prophezeiung, die endlich in Erfüllung gegangen zu sehn Derselben eine besondre, sozusagen seelische Genugtuung bereitete.)

Summa: — — erübrigt sich wohl nach Analogie der vorigen.

 

Ein Würfelklotz verfügt über sechs Seiten. Zwei blieben noch leer. Auf eine derselben würde ich ja sehr gerne mich bringen, wie ich am Tode Helenes schuldig bin, aber — ich kanns drehen, wie ich mag: es will mir durchaus nicht gelingen. Es scheint kaum erklärlich, aber vorläufig muß es dabei bleiben, daß ich tatsächlich am Tode Helenes nicht schuldig zu sein scheine.

 

Nun wären freilich die bisher aufgedeckten nur Zusammenhänge äußerer Art, und ich käme nunmehr zum Nachweis der besonderen, inneren Notwendigkeiten, nämlich folgendermaßen in der Ordnung:

Ad I.

A. Allgemein. An dem Tage, wo es sich darum handelte, Esther endgültig zu halten, war ich deshalb nicht genügend bei der Sache, weil ich am nächsten Morgen auf Mensur zu stehen hatte, einer, wie ich wußte, nicht eben leichten Mensur, und so kam es auch. Ferner ist zu sagen, daß ich in München bereits nach wenigen Wochen Corpslebens wußte: es war eine — nun, seien wir gnädig und sagen ein Irrtum. Gleichwohl wurde ich nicht nur in A. wiederum aktiv aus unbesondrer Berauschtheit, sondern beharrte auch dabei wider besseres Wissen, nämlich aus purer Schwäche, will sagen Unverstand des für mein Leben notwendigen Tuns.

Gedankenlosigkeit, Schwäche, völlige Unkenntnis des Notwendigen, des Einen, bei fortwährendem im Mund- und im Hirne-Führen großartiger Plane, Gedanken, Phantasiestücke in Napoleons Manier und so weiter — das sind die Anklagungen.

B. Besonders: Obendrein fortwährende Verwirrung. In einem Kaffeehaus oder Chantant, einer Bar meinetwegen war ich einmal Augen- und Ohrenzeuge eines besondren Gesprächs zwischen den allerseits bekannten Josef Montfort und Saint-Georges. Es wurde darin auf das glaubwürdigste nachgewiesen, daß die seelische Versetzung eines beliebigen Menschen in die Leiblichkeit eines Andern, — kurz und gut: die Vornahme einer Maske unbedingt führen müsse zum Unheil, wo nicht zum Verbrechen.

Wer schlug dieses in den Wind seiner Berauschtheit? (Immer Derselbe!) Nicht nur seiner Berauschtheit! Denn bei völliger Nüchternheit des folgenden Nachmittags, in einer Stunde höchster Notwendigkeit war ihm jenes Gespräch klarstens erinnerlich, er aber schlugs in alle Windsbräute, nahm die Maske vor, und es begann: uralte Verwirrung.

Denn: ‚so begannst du, mein Tag — Von Verheißungen voll‘: aus jahrelanger kindlicher Dumpfheit rauchte mit unbekannter Geschwindigkeit hervor die Flamme des Verstandes, die alle Dinge so überdeutlich — in einem Betracht — zeigte, daß die Beschäftigung ihres Erkennens ihm allein schon ruhmwürdig schien und ihn somit verschluckte, alldieweil das genügsame Herz, gespeist mit einigem Abfall, sich allein großzuziehn hatte.

So geschah es denn recte, daß ich — Beispiel Magdas zweite Errettung Jasons — allüberall mit Gedanken handvoll bei der Hand, zu spät kam in den Augenblicken des Fühlens oder Handelns. Die Ewigkeit habe ich allzeit großartig begriffen; den Augenblick niemals.

Immerfort mit mir selber im Schwunge wie mit einer irrsinnig gewordenen Gebetskaffeemühle sah ich von jedem, was vor mich hingeriet, stets so viel, wie der Blick aus der Dreharbeit nach oben eben hergab. So kam der Tag Esthers, und ich dachte an mich, scherte mich den Henker um sie und — lieferte sie demgemäß dem Henker aus. Seelisch immerfort großen Umgang pflegend mit Heroen und Dämonen, war ich immer unvorbereitet für Bruder und Schwester. So kam der Tag, wo Cordelia zusammenbrach vor mir, wo schon das Geständnis sich auf ihren Lippen wand wie eine flammende Schlange, aber ich ließ mich gerne beschwichtigen, auf später vertrösten, wo es zu spät war (denn immer ist später zu spät!), denn: der Mensch zwar hat eine besondre Membran erfunden, so fein, daß er über Länder und Ströme hinweg seiner Geliebten den Zustand seiner zärtlichen Gefühle mitzuteilen vermag: eine Membran aber, innerstes Empfinden der selben Geliebten ahnend aufzufangen im Augenblick, wo Leib sich preßte an Leib, die zu erfinden bemühte er sich nicht. Und ich, der ich ein Mensch bin: hatte ich nicht die Aufgabe, sie zu erfinden?

Ich? Freilich, es ist wahr, daß ich unter allen gewöhnlichen Menschen nichts bin als ein ebenso gewöhnlicher Mensch, und dennoch war ich nicht ganz ausgeschlossen vom Besondren, will sagen: der Gnade. Augenblicke erstrahlten schon ganz im überirdischen Feuer. Aus Nacht und Buschwerk hervortretend die Erlauchte — oh wie? durchflammte sie mich nicht mit einem Strahl ihres Auges? war nicht eine einzige Wimper ihres Lides stark und scharf genug zur magischen Durchbohrung, und ich brannte auf lichterloh? Was denn erlosch ich im Nu? Ich hatte doch die Kraft, das Schicksal über mir zu empfinden, das mich in jenem Augenblick an ihre Fußspur fesselte, und die Kraft, mich in meinen Grundfesten erschüttern zu lassen! Warum war ich denn so lau und so erbärmlich und gewöhnlich, daß ich nicht festhielt mit Klauen und Zähnen, und warum ließ ich mich fortlocken von jeder Stimme, die vorüberflog, jedem Bleiglanz, jeder trüben eigenen Not, all dem Zuvielen? Warum tat ich denn nicht, was not war, heftete mich an das Eine, unlösbar, mit allen Gewalten Leibes und der Seele, verfolgte es, setzte ihm zu, warf ihm immer neue Schlingen um, wenn es die ersten zerriß, ließ nicht ab von ihm, wich nicht von seiner Seite, wurde taub und blind gegen alles andre, gegen Blitz und Donner, Frühling und Winter, Leben und Sterben, nur aufdürstend, nur auflodernd in der Flamme! Statt dessen taumelte ich so umher, war immer gut und niemals mehr, verirrte mich in der Vielheit, sah immer — o holdes Wort der Gepriesnen! — nur Masse, nur Masse, richtete nichts als Unheil an und stand und stehe nun da endlich, die Hände von Schätzen leer, aber übervoll von der Schuld. Wenn ich das Eine getan hätte, wären mir nicht vielleicht Kronen und was ich nur wünschte freiwillig in den Schoß geregnet? Ich hätte gelebt, ich lebte noch, und Alle mit mir, die nun dahin sind durch mich. Warum, ja warum bin ich denn gewöhnlich, wenn ich Wort um Wort und Schale um Schale weiß, wie man es macht, es nicht zu sein!

In einer übertriebenen, wegen der Maske übertriebenen eingebildeten Sicherheit raste ich mördrisch mit Keulen umher, da im Gegenteil alles unsicher war, und unsicher in Wahrheit bis ins Mark unaufhörlich tanzte ich herum mit Lemuren und Chimären der tausend fernen Möglichkeiten, immer ins Weiteste gerichtet, augenlos immer fürs Nächste, die nächste Sigune! Ratlos bis ins Mark vor lauter gedachtem Tunwollen war ich am Ende nur immer froh, ja lieber nichts zu tun, als etwas Bestimmtes, und Esther ging in den Tod, Sigune ging, und Cordelia fragte ich nicht nach.

Dreimal kam der Tod selber, um mich zu warnen — ich überhört’ es! Oh die ewige Schande, nicht eher zu wissen von einer Not, ehe man sie selber erfuhr! nicht eher zu wissen vom Tod, ehe selber man starb.

Hemmungen, aha! Hemmungen der Tat, die hatte ich gut und gern, aber hatte ich je eine einzige Hemmung meiner Gedanken? In Erwartung der Geliebten — ich konnte ja nicht einmal den Urin verhalten und dünkte mich wahrhaftig zu lieben, als ob es möglich wäre, seine Notdurft zu verrichten in der Stunde der Unsterblichkeit. Magda, sie wars, die Jason aus dem Teich holte, Magda, die ihn vor der Windmühle bewahrte, und ach, da blüht nun meine Verworfenheit auf dem Mist, denn: Jason retten, heißt das nicht, Gott selber aus dem Wasser ziehn? Ich aber, ich wars nicht wert (obgleich dieser Bogner sich damals hinstellte und die Hände aufhob: Danken Sie Gott, Sire, daß nicht Sie diese Verantwortung und so weiter!) und kann nun heulen und mich zerknirschen und zerreißen am zu späten Tag, daß ich beim Ewigen ewig dabeistehn muß und darf es nicht tun! Ist das die Hölle? Ist das Höllenpein? Ist das auszudenken? Ja, denke, denke du nur, laß die Schwäche groß handeln und setze du den Grübelbohrer an Maler Bogner. Oh meine Herren Richter, bilden Sie sich vielleicht ein, ich hätte irgend was vergessen? Freiwillig geblendet hab ich mich, an den Augen kastriert, als mein Herr Vater mir eine gewisse besondre Mitteilung über meine Geburt machte, und da tappte ich denn ins Leben hinein wie der blinde gewesene Hengst Unkas, nur Eines, nur Eines in Nase und Nieren, daß es mir ja nicht entwiche, o du heiliger Mistgeruch aus der eigenen Stalltür: die Gewohnheit.

Gewohnheit, das leirige Gleis, zog mich widerstandslos dahin, und wo mir das Große, Heilige, Ewige entgegentrat, den Blitz in den Händen, da zog ich hurtig die Weiche auf, da hielt ich hurtig den Ableiter vor, glitt glatt weiter mein Gleis, geführt statt zu führen, und was — statt des Erlauchten, Unsterblichen — was bekam ich? Cora bekam ich, das Halbe, das Armselige, das Ding, ‚das wie Gold ist aus Lehm‘, den Antichrist!

Gnädiger Gott, der du bist! Wenn es denn möglich sein soll, wenn es aus all diesem noch einen Weg geben soll für mich, so bewahre mich vor dem einen: ja, wahrlich, wenn ich auch mit Blut und Knochen, mit all meinen Sinnen und Übersinnen wieder hinein muß ins Alte, — so sei mir gnädig und verhilf mir zu dem Einen: nicht der Gewohnheit wieder anheimzufallen mit meiner Seele! Daß ich meine eigenen Gedanken sehe wie Sterne, meine eigenen Gefühle fühle wie Blumen; daß ich nicht dem Ungefähren nachtappe, wie ich das Pferd Unkas sich selber nachtappen sah in den ewigen Stall!

Ich bin zu Ende.

Magda an Dr. Birnbaum

Waldheim, am 16. September

Lieber Onkel Salomon!

Nun siehst Du, jetzt kann ich wieder schreiben! Es geht sogar schon fast so schnell wie mit der Feder, und dabei ist die Maschine, die mein Freund Jason mir besorgte, nicht einmal eine richtige Blindenschreibmaschine; er hat nur die Tasten, die eigentlich weiße Lettern auf schwarzem Grund haben, mit weißen Plättchen belegt, weil ich die zumeist doch sehen kann, und dann hat er auf jeden mittelsten Buchstaben der drei Tastenreihen einen Tropfen Siegellack fallen lassen, so daß links und rechts sich auseinander halten läßt, und ich kam wirklich überraschend schnell vorwärts. — Heute wollte ich Dich bitten, doch so gut zu sein und Mahlmann zu veranlassen, daß er drei, oder am besten vier Zimmer im Gastflügel zurechtmachen läßt. Mein lieber Freund Bogner ist nun nach fast sechs Wochen so weit wiederhergestellt, daß er das Krankenhaus verlassen darf. Er hat allerdings noch eine offene Wunde im Rücken mit einer Kanüle darin, aber er darf sich doch schon bewegen. Ich sprach zufällig von Helenenruh mit ihm, und er erinnerte sich mit solcher Freude der hier verbrachten Wochen, daß ich ihn eingeladen habe, dorthin zu gehn. Eine sehr nahe Freundin von ihm, Frau Tregiorni, wird ihn begleiten, und wahrscheinlich auch noch das Fräulein Ring, durch die ich den Li habe, wie Du Dich erinnern wirst. Ich selbst denke, in den ersten Oktobertagen zu kommen und außer Renate den jungen Saint-Georges mitzubringen; er ist gelähmt und wird dann Schulferien haben. Ich würde eher kommen, wenn nicht Renate zögerte; ihr Onkel ist leider von sehr zarter Gesundheit und beansprucht ständig Aufmerksamkeit und Pflege; sie wird deshalb auch wohl nur einige Tage in Helenenruh bleiben. Mahlmann lasse ich dann bitten, für die zwei oder drei Wochen meines Dortseins ins Gestüt zu übersiedeln, da ich doch gern im alten Hause wohnen möchte und der Gastflügel auch besetzt sein wird. Alldas schreibe ich Dir, damit Mahlmann den Eindruck behält, daß ich bei Georg zu Gast bin, und nicht umgekehrt. Also vergieb, daß ich Dich zu Deiner vielen Arbeit auch noch behellige! Da Du von Georg nichts schreibst, so nehme ich wie verabredet an, daß in seinem Befinden keine Änderung eingetreten ist.

Auf baldiges Wiedersehen also! Ich sehne mich sehr nach Helenenruh! Ich werde ja nun eine zweite Kindheit dort haben, denn damals, nicht wahr, damals war es doch so, daß man die Dinge der Welt, die man sah, erst mit Händen fühlen mußte, um sie zu kennen, und das muß ich nun auch wieder tun. Ob meine Füße wohl die alten Wege gleich erkennen werden? Ich freue mich schrecklich darauf!

Mit vielen Grüßen an Tante Flora in Liebe Deine

Magda

Dr. Birnbaum an Magda

Helenenruh, am 17. Sept.

Meine liebe Magda, Dein Brief wird mir im selben Augenblick gebracht, wo ich mich hinsetze, um Dir zu schreiben. Du mußt nicht erschrecken, von einer großen Aufregung zu hören, in die ich durch Georg versetzt wurde, denn es scheint nun vorüber zu sein, und ihretwegen wollte ich Dir schreiben, indem ich mir vermute, von Dir, das heißt eigentlich von Deiner Freundin, Fräulein von Montfort, einige Aufklärungen erlangen zu können.

Erlaube, daß ich gleich in medias res gehe. Gestern äußerte Georg plötzlich die Absicht, den geisteskranken Sigurd in seiner Anstalt zu besuchen, wofür er, als ich ihn zu hindern suchte, als Grund anführte, es sei „gewissermaßen seine christliche Pflicht“, Sigurd zu sagen, daß er ihm den zugefügten Schmerz nicht anrechne. Er sprach die Hoffnung aus, ihn in einer klaren Stunde anzutreffen, machte übrigens auch einige Andeutungen, dahingehend, daß „Verschiedenes noch unaufgeklärt“ sei. Alles was ich erreichen konnte, war die Erlaubnis zu einer telephonischen Anfrage in Lauensee, auf die ich den Bescheid erhielt, daß der Kranke nach einem letzten Anfall vor einigen Wochen der Stumpfheit anheimgefallen, daß eine Verständigung mit ihm also wohl ausgeschlossen sei. Leider ließ ich mich dadurch beruhigen und setzte es nur durch, daß ich Georg begleitete.

Es nahm aber einen ganz bösen Verlauf. Sigurd erkannte Georg sofort, es schien, als wollte er sich auf ihn stürzen, doch begnügte er sich mit einem Strom von Flüchen und Schimpfreden, nannte ihn Mörder, mit allen möglichen Zusätzen des Wahnsinns, Vater-, Mutter-, auch Schwestermörder, bis es uns gelang, Georg aus dem Zimmer zu ziehn. Er war zusammengefallen, sein Aussehn während der Fahrt war so, daß ich mitunter glaubte, mit einer Leiche im Wagen zu sitzen. Einmal nur sagte er etwas mir Unverständliches. Ich hatte ihn angerührt, er schien mich zu erkennen, nannte meinen Namen und sagte dann: Die sechste Seite! siehst du, nun haben wir die sechste! worauf er an den Fingern rechnete und sich verbesserte: nein, es stimmte ja doch nicht, die fünfte wäre ja Helene, und das stimmte ja nicht, — oder ähnlich.

Liebes Kind, Du kannst Dir mein Erschrecken vorstellen, aber höre erst weiter! Übrigens ist er, wie gesagt, nun ganz ruhig, spricht überhaupt nicht mehr, geht aber fortwährend, auch draußen bei dem nassen Wetter umher, während er früher nur immer dasaß und sehr viel schlief und dazwischen hastig schrieb, Briefe wohl, doch bekam ich nichts davon zu sehn. Der Himmel weiß, was daraus werden soll, ich bin nun auch bald am Ende meiner Kräfte, das mit dem Herzog hat mich gebrochen, die Arbeit häuft sich von Tag zu Tag, meine alte Frische habe ich längst nicht mehr. Dazu wieder die bösen politischen Aussichten! Aber da komme ich ins Schreiben und verschwende meine Zeit.

In der Nacht nach unsrer Rückkehr arbeitete ich noch in meinem Zimmer, die Türen zu Georgs Schlafzimmer — dem früheren seines Vaters — standen offen. Plötzlich hörte ich ihn drinnen stöhnen, dann in ein so verzweifeltes Geschrei, Klagen und Anklagen ausbrechen, wie ich es im Leben nicht gehört habe. Er hatte aber alle Türen seines Zimmers abgeschlossen. Ich kann das nun nicht beschreiben, er schrie einmal minutenlang nur immerfort: die Hölle, die Hölle, die Hölle! Dann rief er wieder nach seinem Vater, er schrie wie Sigurd: Mörder! und das schien er auf sich selber zu beziehn, und auch Sigurds Namen hörte ich und den seiner Schwester. Aber genug!

Alldies ging mir nun durch den Kopf, es muß ja irgend etwas Reelles dahinterstecken, eine Einbildung, eine Täuschung vielleicht, die sich beheben läßt, und da fiel mir ein, daß Deine Freundin vielleicht helfen könnte. Möchtest Du so gut sein und sie noch einmal genauestens nach ihrem Gespräch mit Sigurd in jener Nacht befragen? Da kann ja der kleinste Umstand von Wichtigkeit sein, und mir selber war in dem, was ich durch Dich erfuhr, einiges unklar geblieben, zum Beispiel wollte mir in Sigurds Plan von der Beseitigung aller gekrönten Häupter die Ermordung meines Herzogs niemals recht passen. Also sei so gut, und wenn etwas Neues sich ergeben sollte, teile es mir doch bitte gleich mit!

Ich werde mich vor allem freuen, Dich recht bald hier begrüßen zu können! Deine Anweisungen an den Verwalter Mahlmann habe ich wunschgemäß befolgt. Ich schließe mit meinen und meiner Frau herzlichsten Grüßen, bitte auch, mich Deiner Freundin ganz gehorsamst empfehlen zu wollen! In alter Treue Dein

Birnbaum

Renate an Dr. Birnbaum

Waldheim, am 19. September

Verehrter Herr Doktor!

Auf Magdas Bitte bin ich selber es, die Ihren Brief gleich beantwortet. Allerdings glaube ich zu den erschreckenden Dingen, die wir von Ihnen hören, einige Erklärungen geben zu können, obgleich das meiste daran auch weiterhin wohl nur zu ahnen bleibt. Wenn Sie Sigurd Georg Mörder nennen hörten, so glaube ich, daß sich das auf Sigurds Schwester beziehen soll. Etwas Ähnliches hörte ich schon damals, nach Esthers Tode, von ihm, doch blieben mir die Gründe dafür unbekannt. Daß Sigurds Plan ursprünglich nicht gegen den Herzog, sondern Georg gerichtet war, sagte er selber deutlich in unserm Gespräch. Und dann weiß ich, daß er, Sigurd, der Meinung war, Georg sei in die Gracht gestürzt und ertrunken, worauf dann sein Attentat auf den Herzog nur ein schreckliches Glied in der Methode seines Irrsinns wurde. Und rechnen Sie zu diesem, daß Georg mit durchnäßten Kleidern gefunden wurde, daß auch Magda stets dabeiblieb, er sei es gewesen, dessen Fall ins Wasser sie hörte, so brauchen wir uns nur vorzustellen, in welch zerstörtem Licht Georg die Geschehnisse und Zusammenhänge sehn mag, um mit dem Scharfsinn seiner Krankheit alles zu erraten und — auf sich zu beziehn; sich also für schuldig zu halten am Tode seines Vaters. Was dem Außenstehenden nur eine wenn auch furchtbare Verstrickung von Umständen zu sein scheint, dahinein fühlt sich ja der selber Betroffene mit Leib und Seele gerissen, der Kranke sieht Krankheit überall, und wer schuldig sein will, Schuld.

Magda läßt Ihnen tausend Grüße sagen, sie leidet schwer unter ihrer Ohnmacht, die Neuheit ihres Zustandes läßt sie sich auch für hülfloser halten, als sie ist. Sie läßt Sie bitten, doch ja Georg unser Kommen rechtzeitig anzumelden. Möglicherweise ist er ja ganz unzugänglich. Wir werden, denk ich, am 1. fahren.

Ich nehme so von Herzen teil, lieber, verehrter Herr Doktor, an Ihnen und Ihren Sorgen und grüße Sie mit: Auf Wiedersehn! Ihnen von Herzen traurig zugewandt!

Renate Montfort

Georg an Magda

Aber so viel Zartgefühl scheint mir fast übertrieben, o edle Seele! Ich eile, mich durch diese Zeilen nachträglich als meinen Gast in Deinem Eigentum zu bekennen, nicht mehr als Bogner, den ich plötzlich von weitem hier aufgetaucht entdeckte, — ich mocht ihn nicht sehn. Daß Helenenruh Dein einziges Haben ist, dürfte mir bekannt sein, während mir die ganze bewohnte und unbewohnte Welt zur Verfügung steht. Dein Ergebener muß Dich jedoch bitten, ihn der Einsamkeit zu überlassen, die er für seiner nötig erachtet. Dieser Wink dürfte genügen, da mir bekanntermaßen freisteht, eine Annäherung, die als feindlich betrachtet würde, dadurch zu vereiteln, daß er sich in andre Gegenden dieses mit Recht so beliebten orbis picti begiebt.

Es verbleibt mit besonders herzlichen Grüßen in seiner Schuldigkeit:

Georg

Von Georgs Hand geschrieben

Jener, vom bekannten Baron Münchhausen mit dem Schwanz an eine besondre Eiche genagelte besondre Fuchs, als welcher durch Peitschenstreiche veranlaßt wurde, sich zu entfernen, den durch Gewohnheit lieb gewordenen Balg jedoch an Ort und Stelle zu lassen, ist eine immerhin wollüstige Vorstellung für die ins Fell der Gewohnheit eingewachsene Seele. Denn siehe da: nachdem es verwehrt ist, an Ihn zu schreiben, dessen dreimal geheiligten Namen der feurige Makkabäer zerriß und in die Winde streute, — was bleibt mir übrig, um den Tag zu ertragen, der sich inzwischen anstatt bisher üblicher sechzehn bis siebenzehn Stunden deren vierundzwanzig zugelegt hat? ‚Ein Rätsel ist Reinentsprungenes‘, sagt Hölderlin, zum Beispiel der Schlaf. Die meisten Menschen üben ihn bei Nacht aus; ich nahm ihn in kürzlich erst sich verabschiedet habender Zeit wie so eine besondre Arznei, alle Stunde einen Eßlöffel voll; aber nun hat mir so ein besondrer Beelzebub von hinterlistigem Satan die Flasche verstochen, und wo finde ich dieselbe? — Meist schleicht er sich abends herein, verabreicht mir einen Löffel voll — damit die süße Gewohnheit nicht schwinde! — und bleibt für den Rest aller Stunden unsichtbar. Was also bleibt mir? Ach: zwischen Leib- und Seelenonanieren blieb dem Menschen nur die bange Wahl! Aber so sei sie gewählt, die süße andre Gewohnheit des schriftlichen sich Niederlegens aufs platte Plättbrettbett des Papiers: das Schreiben, nicht wegen der besondren Unsterblichkeit, nicht wegen des süßen Pöbels, sondern ganz allein sui ipsius causa, um des Schreibens willen! Es ist Wollust, der eigenen Seele liebzukosen, zumal wenn sie leidet, und zugleich ist das Schreiben so ein förderliches Purgativ, ein besondres Sieb sage ich besser, den weichen Brei von Allerhand durchzurühren zur Beförderung der Erkenntnis. Man denkt zwar in Sätzen, aber merkwürdig: gedachte Sätze haben nie einen Punkt, und ein Punkt zwischen zwei Sätzen auf reinem Papier scheint mir so was unendlich Haltbares, um so mehr, je länger man drauf hat warten müssen.

Ich will einen Nachtspaziergang beschreiben. Die Menschen lassen einem ja koa Ruh net, wie Cordelia selig zu sagen pflegte, also daß man nachts auswandern muß wie die Rattenkönige, alle Seelenschwänze zu einem gordischen verknotet. Übrigens denkt es sich besser bei Nacht, und kurz und gut, beschreiben wir uns diesen wackern Knaben Telemach unter dem paßlichen Motto:

Das Steuer führt’ ein Jüngling unruhvoll,

Dem früh des ††† Rat und Hülfe schwand —

folgendermaßen:

Telemach erwacht wie üblich aus befristetem Halbschlaf. Er erseufzt, legt sich auf den Rücken und öffnet, wach und keines Schlafes bedürftig, die Augen in die Nacht. Bald darauf wird über ihm das graue Vieleck der am Tage weißen Zimmerdecke sichtbar; er schiebt sich höher im breiten Bett, erkennt die Schattenrisse der beiden hockenden Tiere, Adler und Löwe, auf den Bettpfosten, dahinter die bleichen Streifen der Fenstervorhänge und dazwischen das dunkle Rechteck der offenen Tür zur Terrasse; dann auch die dunklen und großen Flecken der Schränke und die weißen der Türen. Im Glase des Türflügels draußen glitzert es bläulich. Telemach — oder sagen wir kurz T.; kann auch wieder Topf heißen — schiebt sich bis fast zur Rückwand des Bettes hinauf, sitzt in dem großen Achteck des Raums und fröstelt. Draußen rasselt es eisern, der Uhrhammer in der Höhe fällt hell schmetternd, ein Mal, dann ist alles still. Halb zwölf. — T. seufzt vermutlich wieder. Nun wieder die Nacht, die ganze lange Nacht bis zum Morgen — und was dann? — Es wird heller und heller um ihn, die dunklen Schränke sind nun körperlich sichtbar, die Maserung, Kanten und Beschläge, und vor der Tür draußen ist die graue Fläche der Terrasse erschienen und, dunkel im Zwielicht, der Schattenriß einer großen Steinurne mit Früchten und Blättern auf der Brüstung. Das ist besonders still.

Im Dorf schlafen die Bauern eng und heiß in ihren karierten Betten. Die harte Weckuhr tickt durch die Schwüle, sie stöhnen im schweren Schlaf und schnarchen. Eine Kuh brummt im Schlaf, ein Huhn gackert im Traum, niemand hört den Spitz, der mit rasendem Geheul auf die Decke seiner Hütte sprang, weil draußen Schritte hallten, und der Hund kriecht wieder in seine warme Höhle, knurrt, muß noch einmal blaffen, dreht sich um sich selbst und fällt hin.

T. sitzt und wacht, lauscht. Die Nachtstille singt in seinen Ohren, es rauscht leise im Park, die See ist nicht zu hören.

Hier, denkt er, lag einer des Nachts, und wie oft wohl wachte er auf und glaubte über sich Schritte zu hören, ruhelos, ruhelos, so leise, ein Huschen, hin und her streifend, hin und her ... T. lauscht, alles bleibt still, er sieht den Schatten einer Hyäne, den hochgebogenen Rücken, schieftrabend in der Finsternis, nun funkeln grünlich, bläulich die Lichter, er hört die Pfoten trotten, er riecht ... Das war Mama, denkt er matt und gespenstisch, das war Mama ... Zwanzig Jahr Pein und Sehnsucht und Gänge, Gänge im Finstern, und dann — nichts mehr; der Tod. — Wie ich damals, denkt er, meine Gedichte fand ... Mein Sohn war klein, und nichts verstand ... Und sie lag und lächelte grade genug. Wenn man nachgrübe und den Sarg öffnete, würde man ihr Lächeln unversehrt darin finden, — und das war ihre Genugtuung, so viel zu lächeln. — Die Umrisse der Insel erscheinen ihm finster, die Bäume, er sieht ein bleiches Gesicht unter der Buche liegen wie eine Maske, es lächelt, oben saust der Herbst und reißt Blätter aus den Kronen, sie fährt fort zu lächeln; der Winter deckt alles zu, sie lächelt fort; im Frühling liegt ihr Lächeln unter dem ersten Krokus, den langen Sommer lang lächelt sie fort, ganz für sich allein ...

T. fröstelt, rutscht wieder tiefer im Bett und steckt die Arme unter die Decke. Es waren viele Tote. Esther — Sigune — Cordelia — Mama ... Alle schon wieder weit fort, und gelernt hatte er nichts. Nur der Eine ... T.s Brust schmerzt.

Warum lebe ich noch? Telemach stellt sich wieder einmal vor, er läge begraben. Alsbald erscheint auch der Platz in A., die Bahnen fahren, Menschen eilen kreuz und quer, die Spiegelscheiben der Auslagen glitzern, aber es quält nicht mehr wie vor einem halben Jahr. Es war niemand mehr da, von dem es schmerzlich wäre Abschied zu nehmen, oder ihn lebend zu denken, beschäftigt wie immer, während man tot ist ... Renate? — Er fühlt sie nicht mehr.

Ich sollte wohl, denkt Telemach, ein Ende machen. Aber da ist zum Beispiel das Land. Brauchte es ihn? Jener Birnbaum würde ihm schon einen besondren Telemachschwung versetzen. T. sieht den stämmigen Mann aufgeregt im Zimmer hin und her laufen, eine Hand im Ärmelloch der Weste, fuchtelnd mit der Zigarre in der andern, niesend und prustend, und er schreit: Und wenn wirs so einrichteten, daß es an Preußen fiele, — no — was denn? no? was denn? T. wußte es nicht. — Hatn dazu dein Vatter sich sein Lebtag abgerackert, un dein Großvatter, un dein Urgroßvatter vielleicht? Du bistn Literat, Hoheit, du hast gar keine dynastischen Gefühle, nee, aber gar keine! — T. lächelt und bestreitet es schweigend. Ich wills ja versuchen, beschwichtigt er sich selbst, ich bin nur so müde und innerlich kraftlos. Die Länder sind so gut im Stande ... Das heißt Beuglenburg? Und sie würden Schley dort nicht sitzen lassen, diese Preußen. Ach, nun kamen die Wahlen! Früher war die Sozialdemokratie unter der Hand unterstützt, und — und ... T.s Kopf tut ihm weh. — Ich kann noch nicht, ich kann noch nicht! — Er wälzt sich fieberisch und atmet beklommen. Es ist, denkt er, wieder die alte Angst, wie in Berlin. Berlin war nicht schuld, sondern mein eigenes Krüppeltum. Punkt. Toter T. punkt.

Er schleudert die Decke von sich, zieht die Schlafschuh an die Füße und hockt schlottrig auf dem Bettrand. Es ist nun ganz hell umher, dämmrig, doch alles deutlich erkennbar. Den Kopf drehend, sieht er über sich, überm Kopfende des Bettes die Figuren des Bildes Emmaus, den einfallenden Lichtstrom, am Tische Christus und die erschrockenen Beiden, dahinter die Nacht.

Ja, denkt er verwirrt, ich kam zu allem zu spät.

Er schlürft eilig zur Glastür, friert im Kalten, lehnt sich an den Rahmen und raunt: Was soll man denn tun? Man fährt ins Dasein hinein mit feuriger Schnelle, findet alles vorbereitet und ist es von Ahnen und Urahnen her gewohnt, eh man es besitzt. Da erkennst du dich selber, aber schon steckst du so tief im Gewohnten, daß kein Riese dich ausreißt. Wenn ich Verse machen will, und wäre ich Hölderlin, ich müßte anfangen wie Schiller, und zehn Jahre danach merke ich vielleicht, daß Sprache des Verses und Sprache des Umgangs voneinander so verschieden sind wie der Vogel vom Fisch. Ich kleide mich, rede, lache, fahre, spiele, lerne wie die Andern, und längst bin ich in zehntausend unlösliche Zusammenhänge verstrickt, und dies — ach dies wird die letzte Not sein, daß man an Tausenden hängt und nicht steht, und Tausende hängen an mir, und ich komme nicht los zu mir, nicht los zu mir ...

Ganz hell aus der Tiefe klagt jetzt ein Kinderweinen, schauerlich anzuhören, und T. zuckt merklich. Ein Gespenstergelächter folgt, ganz schnell: Hahahahaaa! und wieder das plärrende Weinen. — Kauz in der Nacht, End ehs gedacht! — Stille liegt die Terrasse, stille stehen die mächtigen grauen Urnen, besonders, verhaltenen Lebens, atmen, auch die Steinplatten atmen, Schlaf oder das Schweigen ... Über dem schwärzlichen Gewipfel des Eichwaldes quillt ein bleiches, silbriges Scheinen im Himmel, ein wenig tiefer muß die Mondsichel sein. Emporblickend sieht Telemach wenige, schwach flimmernde Sternlichter im Dunste der feuchten Nacht. — ‚Schaudernd unter herbstlichen Sternen — Neigt sich jährlich tiefer das Haupt ...‘

T. macht Licht, geht mit geblendeten Augen ins Ankleidezimmer, erhellt es und legt eilig das für morgen zurechtgelegte Unterzeug, Schnürstiefel, Reithosen und Ledergamaschen, eine braune Lederweste mit Ärmeln an, windet einen grau und grünen Schal um den Hals, fährt in den Rock und fühlt sich einen Augenblick warm und behaglich. Nachdem er das Licht gelöscht hat, geht er leise über die Terrasse in den Garten hinab.

Unschlüssig unten stehen bleibend, zum Hause zurückgewandt, findet er sich plötzlich sehr klein und einsam im Hof der drei mächtigen Fronten mit langen Fensterreihn und kalkweißen Mauern. Unendlich schweigsam und hoch steigen die zwei weißen, schwarz behelmten Türme auf den Ecken in die Dunkelheit; das Ganze, hell und doch seltsam verdüstert im nächtlichen Licht, atmet eine tiefe Gewalt aus, liegt da, ruhig in sich selber, bedrohlich für ihn, der sehr klein ist. Unbekümmert scheint es seine dämmernde Seele bei Nacht zu enthüllen; es dehnt sich, atmet vielfach, sammelt Essen und Fenster, Türme und Dächer, Simse und Mauern in eine strotzende und alte Gesundheit und ist immer bereit zu dauern. Heiliges Kindheitsland, wo bist du? zieht es da schmerzlich durch seine Brust. Jählings ist das Haus umnachtet und fremd, und er geht davon, den Kopf gesenkt, verloren in alte Erinnerungen.

Denn zum Beispiel was tun wir inbezug auf unsre Kindheit? Heraus reißen wir uns an den Haaren, ganz genau wie eben jener Baron Münchhausen sich an den Haaren zerrte aus dem Sumpf mitsamt seinem Unkas, bloß daß sie kein Sumpf ist, diese Kindheit, sondern — das Paradies. Geschah es nicht hier? T. wendet sich vermutlich und murmelt, den dämmrig erkennbaren Weg durch das Eichenwäldchen hinunter blickend: Weiß ichs nicht, als wärs heute gewesen? Hier auf der Terrasse brannte der bunte Lampenschirm und saß Bogner; und dort unten am Gatter stand ich, wußte nicht, was fort war aus mir, und war selber stillschweigend fortgegangen aus meiner Kindheit zu Annas Bett.

Da zwingt er sich mit Gewalt durch den Spalt zu einem kindlichen Aufenthalt.

Der Kaufmann in Böhne hieß Sengstaak, ein Name, den ich als Junge niemals aus dem Gedächtnis in die Luft schreiben konnte. In allen Ferien einmal war eine Monatsrechnung zu bezahlen, das tat Onkel Salomon selber und nahm uns mit. Im Laden war die Diele mit weißem Sand bestreut, durch eine geriffelte Glasscheibe sah man Herrn Sengstaak an einem Stehpult schreiben, und wir zitterten, er möchte nicht merken, daß wir da waren, denn dann bekamen wir ja keine Cakes, und einmal gab sie uns der Ladendiener, aber das war längst nicht so schön. Kisten standen da mit eingewickelten Apfelsinen, Fässer mit Mehl, mit Margarine, mit Butter, Kisten voll Eier, und wie war alles dauerhaft und dick, die Holzgriffe an den Schiebladen und die hölzernen Schaufeln in den Erbsen und Linsen. Über dem Tresen — ja, da wurde womöglich auf dickem blauen Papier ein Zuckerhut zerkleinert, ach, wie war das alles besonders und reichlich und solide! Und oben war es dunkel von ganzen Bündeln in Lagen zusammengeschichteter Tüten, rechteckiger und spitzer, brauner, blauer und roter, und sie hatten alle ein schwarzes Wappen als Aufdruck zwischen zwei wilden Männern. Ja, vor der Tür, da war ja der mächtige goldene Mohr mit bunter Federnkrone und einer Zigarre zwischen den Wulstlippen. Aber über den Düten, noch höher, war es finster wie ein Gewitter, von tausend Würsten und Schinken, und wie das roch nach Rosinen und Gurken und Vanille und Gewürznäglein, und geheimnisvolle Leitern lehnten im Winkel oder wurden von kleinen neugierigen Jungen mit wasserblanken Haaren schwierig hin und her getragen. Dann kam Herr Sengstaak aus dem Kontor, das ich nachher in Soll und Haben wiederzusehn glaubte; er hatte ein rotes längliches Gesicht, kleine Augen und Falten unter dem Kinn, rieb sich die Hände und sprach unverständlich mit eigentümlichen Bewegungen des Kinns. Er beugte sich über den Tresen, griff Anna und mir mit großer Hand unters Kinn und holte, während er immerfort mit Onkel Salomon sprach, einen der großen blechernen Kasten mit Cakes herunter und hielt ihn uns offen schräg entgegen, und jeder nahm einen kleinen Cake heraus, aber das war nicht alles. Nun wurde ein großer, brauner Papiersack abgerupft, und wie wundervoll war das, wenn Herr Sengstaak mit dem einen Arm hineinfuhr, mit der andern Hand die eine Ecke weich eindrückte, dann ganz leicht die Tüte herumwarf und die andre Ecke einknickte, und dann kam ein Blechkasten nach dem andern herunter, und die Tüte wurde voll — nicht ganz bis oben, es blieb noch genug Papier, das dann auf wundervolle Art zu parallelen Streifen zusammengelegt wurde, und dann wurden sie nach innen umgeknickt und festgedrückt, das Paket auf die Seite hingelegt, und dann kam Bindfaden aus einem verblüffenden Ding heraus, und das Paket flog links herum und rechts herum, und der Bindfaden schlang sich darum, es war herrliche Zauberei, ein Holzknebel war mit einmal da, wurde in die Schlinge geschoben, und dann wurde es mir überreicht. Dies war unser heiliges Recht, Kekse — wir sagten Kekse — von Herrn Sengstaak, aber eine Sorte war dabei, die mochten wir nicht, die hießen Dextrinkeks, denn so schmeckten sie, und die kriegte Mama.

T. denkt hierauf gebeugt, er müsse damals unmenschlich glücklich gewesen sein, daß all dies sich ihm eingebrannt habe, wovon er damals doch nichts wahrnahm, denn immer war er ein blinder Junge und hatte niemals etwas gesehn, wenn er gefragt wurde. — Oder ist das ganze Glück wirklich dieser Augenblick, wo ich es so brennend wieder fühle?

Er fährt leise zusammen, da er am Weiher steht, gegenüber der Insel, keine fünf Schritt von der Brücke. Die Bäume rauschen und bewegen sich ernst, beklommener atmend geht er zur Brücke, bleibt stehen und flüstert: Hier schläft Mama ... Er geht hinüber, achtet darauf, daß seine Füße leise sind, taucht ängstlicher in den finstern Gang zwischen Buschwerk, tastet sich langsam hindurch und tritt ins Freie der leicht übernebelten Lichtung. Drüben, über dem weißlichen Gewoge wölbt sich die schwarze Kuppe der Trauerbuche; auf einmal ergreift ihn schaurige Furcht, sie könnte dort liegen, unter dem Baum; nicht sie, ihr Gesicht, das Lächeln; nicht ihr Lächeln, Cordelias ... Und er geht mit knisternden Haaren und schlagendem Herzen hin und bleibt, drei Schritte vom Stamm entfernt, stehn. Auf dem grauen Oval glänzen leise doch sichtbar die beiden Worte: Helene — Herzogin.

Hier unter ihm steht ein Sarg, liegt eine Tote, ein Mensch, — wie war es doch möglich? Er wendet sich schaudernd. — Etwas läuft in die Lichtung hinein, bleibt still, läuft hierhin, dorthin, schnüffelt vernehmlich, ein Igel. Heftiger zitternd faßt er in das Gezweige über seinem Kopf, ein Blatt bleibt in seinen Fingern, sein Arm fällt herab, er zerknittert es und fühlt es feucht; in weiter Ferne kräht ein Hahn. — Sie schläft, flüstert er besinnungslos, dann sinkt er langsam in die Kniee, bückt sich, harkt mit der Hand im Gras und flüstert: Mutter! Mutter! hilf mir doch! Mutter, dein Sohn ist doch da! Ach, sag doch nicht, daß es zu spät ist, sei nicht hart, ich kann ja nicht mehr, ich kann, kann, kann ja nicht mehr! — So wimmert er eine Zeitlang, dann liegt er plötzlich still und steht auf. Seine Hände, sein Gesicht sind naß, er trocknet sich mit dem Schal und geht davon, schamvoll und doch erleichtert. Er horcht stehen bleibend zurück. Sie war entsetzlich einsam dort ... Er schüttelt den Kopf und geht weiter, durch den Gang, über die Brücke, am Weiher hin und den dunklen, beschatteten Weg hinab unter dem schwarz und zerrissen herabhängenden Laubwerk der Eichen.

Dort steht er und denkt wieder. Ja, was dachte er wohl? Er dachte nicht — denn das denke vielmehr jetzt ich: welch eine wonnevolle Erleichterung es für mich ist, einmal die ganze Last des Daseins auf diesen vorgespiegelten Telemach abzuwälzen und daneben zu stehn und es immerhin begreiflich zu finden, daß sie ihn quält. — Sondern er dachte vielleicht oder empfand die Höllenqual der zu späten Einsicht. Die furchtbar ironische Bitterkeit der Erkenntnis, daß alles, was heute ist, seit Jahren sich vorbereitete, daß es in all und jedem Denken, Planen und Handeln schon war, — oh ja:

Was vom Menschen nicht gewußt,

Oder nicht bedacht, (!!!)

Durch das Labyrinth der Brust

Wandelt in der Nacht.

Und weiter, daß nun mit der Erkenntnis alles ein Ende nahm und nur sie noch ist, und kurz und gut: die Schuld selber nur noch. Schuld, nichts als Schuld, an jedem Fleck, auf jedem Schritt; Schuld jeder Weg, jede Bewegung, jede Aussicht und jeder Stern; Schuld jeder Bissen und jeder Atemzug, und kein Gedanke mehr, kein Ausblick und keine Möglichkeit mehr zu etwas Neuem, — nirgend ein Anfang, nur das Dickicht.

Und dann versucht er es wohl, dieser T., und stellt die bekannten Figuren zum tausendsten Male auf, und eiskalt vor rasendem Wissen der Unabänderlichkeit will er sie doch zwingen mit Zauberei, daß sie sich anders bewegen, als sie taten, aber immer steht hier Magda und drüben Cora, hier er selber und da Sigurd und da — ER, und wenn er sie auch zwingen kann, steif dazustehn wie die Puppen, so erreicht er doch niemals, daß er selber es ist, der die erste Bewegung macht, oder Sigurd, sondern immer, immer ist es die Furie.

Und seine Stirn bedeckt sich mit Schweiß, die Figuren schwinden erlöschend, als würde ein Bühnenlicht abgedreht, im Finstern, und er denkt nun:

Daß er seine Schuld am Ende vielleicht übertrieb. Etwas scheint nicht zu stimmen. So viel kann ja ein Mensch nicht schuldig sein. Oder er könnte es allenfalls sein aus bösem Willen, aus angeborener Ruchlosigkeit, wie man gebürtiger Raubmörder sein mag, oder Muttermörder. Er selber aber, er soll dies Gebirge von Schuld über sich gewälzt haben aus keinem andern Grunde als: weil er so war!?

Worauf er dies Rätsel bis zum nächsten Mal sich selbst überläßt und sich weiterbegiebt. — Oh die Nacht ist noch lang!

Krähte nicht, denkt er, soeben ein Hahn? Hähne krähen im Schlaf. Aber ach, wie konnte er es nun wieder aufsteigen lassen fontänenhaft! Frühmorgens in der Kindheit, das Krähen der Hähne, heiser, krächzend, und hell schmetternd, ferne und nah. Sonntag war anders als die andern Tage, obgleich doch an keinem Schule war in den Ferien. Die Straße unter den Fenstern, die Felder daran, das Dorf in der Frühsonne, alles sah gleich anders aus, feierlicher wohl und viel stiller. Man hatte einen schneeweißen Anzug an und ein weißes Kleid mit zwei Hände breiter blauseidener Schärpe. Du lieber Gott, wie hoch war damals eine Roggenwand! Wir verschwanden uns, wenn wir vorsichtig kaum hineintauchten, um eine Kornblume herauszuholen oder eine violettrote Rade, die ich liebte, weil sie so geometrisch waren: vier lange grüne Blattspitzen genau in den Einbuchtungen der kleinen Kelchblätter. Der Sandweg in der Sonne wie hell! Unsre Schatten, ganz dick und kurz und mit ungeheuren Kreisen von Hüten, schoben sich voraus, ach jedes Staubkorn wie hell, die Steine im Staub, jeden einzelnen könnt ich beschreiben, denn ich liebe ihn, Brocken von rotem Klinker, halb vom Sand verschüttet, und die Krusten der Wagenspuren, und scharfe Chausseesteine, mit denen man gut schmeißen konnte, und runde, geschliffene von der See, und dann die großen, weiß übertünchten Steinbrocken am Wegrand, — ach, nur Steine, und was hatten sie Leben damals und Bedeutung! An diesen weißen kletterte aus der Grasnarbe die vielköpfige kleine Schlange der Winde mit schönen, sehr weißen Kelchhäuptern; rote Kleepflanzen wuchsen da, es waren kleine grüne Oasen von niedrigem Dreiblätterklee, und wir suchten bei jeder ein Weilchen nach einem Vierblatt. Immer schien die Sonne, nur damals schien die Sonne, ein einziger Vormittag war so lang wie ein Sommer von heut, und dann hörten wir die Lerchen. Oh die Stille nun, diese Stille überm singenden Korn, und in der Stille überall, unaufhörlich, immer wieder anschrillend, ganz hoch oben das Lerchengetriller, immer mit neuem Anlauf: ziziziziziziiih! ziziziziziziiih! — Und insgeheim glaubten wir doch immer, daß die Lerchen im Korn säßen, wir sahn uns die Augen blind im flimmernden Blau, aber niemals haben wir eine Lerche gesehn. — Dann kam —

T., denke ich mir, findet sich jetzt am Gatter, das, hell im nächtlichen Licht, als habe es ihn lange erwartet, ihn unsichtbar ansieht aus dem grauen Holz seiner Stangen. Er lehnt sich darauf, sieht oben am Himmel die dünne Mondsichel im Fahren leicht durch das fließende weiße Gewölk schneiden, sieht die dunklen und doch erhellten Wiesen und die schwarzen Linien der sich kreuzenden Hecken, aber — — aus dem schwindenden Dunkel dieses Grundes flattert ein Kohlweißling taumlig den glühend heißen Sandweg hinunter, hin und her über die Wagenfurchen, den Hügel hinauf, — er hört Annas schreiendes Lachen und sein eignes, atemlos hinlallend, wie er später Jungens hat lachend rennen sehn, im Laufen zusammentaumelnd, lachend nur Lachens wegen, laufend nur um zu laufen, — und dann liegt man da, der weiße Anzug sieht bejammernswürdig aus in einer braunen Staubschicht, aber — T. schreckt auf, da wiederum, jetzt gerade über ihm gellend und überlaut das Gelächter schallt, mauzt und weint. Er öffnet das Gatter und geht hastig den getretenen Pfad über die Wiese zum Knicktor; das senkrechte Brett über den Stufen sieht ihn wie das Gatter aus dem Dunkel mit seltsamem Glanz verhaltenen Lebens an, in sich geduckt wie ein ertapptes kleines Tier, das aber keinen Angriff befürchtet, denn es ist umgänglichen Charakters. Telemach aber bleibt stehn und heftet ihm eine Erinnerung an. Hier leuchtete Annas Haar über der Dämmerung, und sie sagte: Ach, es ist himmlisch! — Das Kind, das so sprach, habe ich niemals wieder gesehn ...

Beim Ersteigen des Deiches fällt er hintenüber, muß sich nach vorn werfen und erreicht auf Händen und Füßen im nassen Grase die Höhe, wo er sich zu tiefem Erstaunen über einem totenstillen weißen Felde befindet, — Nebel, weißem, lautlosem, regungslosem Nebel, der die ganze See bedeckt. Nur tief unten, am Fuß der Deichmauer, sind die schwarzen Pfahlköpfe der Buhne zehn Schritte weit sichtbar, dann ist nichts mehr als Nebel.

Oben am Himmel segelt die bläuliche Mondsichel durch weißes Gewölk. Die Tiefe aber zieht T. besonders an, er setzt sich und klettert mit Absätzen, Händen und Gesäß die schräge Mauer hinunter, springt auf festen Ebbeschlamm, zaudert und schreitet in den Nebel hinein.

Es ist tiefe Ebbe. Der Mond wurde zu einem bleichen Fleck im Nebel, der alsbald über ihn hinzog; er geht selber in einem dunklen Kreis, der Nebel bleibt stets ein wenig vor ihm, zurückgehaltenen Scharen sehr zusammengedrängter Gestalten ähnlich, die sich manchmal bewegen, nicht einzeln, sondern stets im ganzen. Jetzt wird der Boden weicher, und jetzt — da ist Wasser, er riecht, er fühlt es. Was sitzt denn dort? Kleine, dunkle Gestalten hocken ... Ach, hier sitzt der Tütvogel im Nebel am Wasser und schläft, — zwei, drei kleine Gesellen. Nun bewegt sich einer, ein grauer Schatten schwebt, — auch der andre, der dritte; Flügel rauschen leise, sie sind verschwunden, und gleich darauf fällt ein leiser, klagender Schrei von oben. — Wie die Seelen am Acheron im Nebel ... denkt Telemach. — Es plätschert. Hier ist Gewässer, hier, ungeheure Meilen weit die tiefe See, satt von einer Menge Land, das sie eingeschlungen hat, Marschland und die Inseln und Halligen, Frauen und Kinder, Kirchen und Gehöfte, Rinder und Schafe, Eichenwälder und die langen Deiche. Es gurgelt im Schlick, die Flut regt sich. T. fühlt seine Sohlen langsam einsinken, dreht sich genau um und geht zurück. Er geht rascher als beim Kommen, etwas kommt hinter ihm her und macht ihn eilig, sein Herz klopft, wie lange dauert es bis zum Deich! Er läuft fast und läuft so, erleichtert sich auslachend, gegen die mannshohen Buhnenpfähle von der Seite, ein Zeichen, daß er doch schief gegangen ist, worauf er die Deichmauer wieder hinanklettert und oben weitergeht. — —

So, ja so war es in jeder Nacht. In der letzten aber war auf einmal ein rotes Licht über dem Nebelfeld. Ein Schiff? im Nebel so nah? Unmöglich. Ja, wohnte denn jemand auf Hallig Hooge? — Das Licht blieb, unverrückbar, stille scheinend über das Nebelmeer. Hallig Hooge lag dort.

Hallig Hooge, dachte Telemach, wir durften niemals dorthin. Wenn wir mit Onkel Salomon segelten bei Landwind, sahen wir die grüne Insel vom weiten, und er tat uns wohl den Gefallen, herumzufahren und uns das gewaltige grüne Gebirge der aufgetürmten Deichmauern sehn zu lassen, einen Baumwipfel niedrig darüber und den roten, plumpen Rundturm der alten Sternwarte auf dem Norddeich. Olesland ... Wie mochte doch der Name Hallig Hooge aufgekommen sein, nachdem vor Zeiten nur die winzige Grasoase so hieß, die landeinwärts davor lag? Einmal beim Kreuzen auf der Rückfahrt sahen wir das langgestreckte Haus mit schwarzem Strohdach auf der Wattseite, wo es flach und offen war, und kaum noch sichtbar in der steigenden Flut das wallende Gras von Hallig Hooge. Olesland, erklärte Onkel Salomon geheimnisvoll, darf keiner mehr sagen. Er verriet uns nicht weshalb, er war nicht für Schauergeschichten, wir bettelten umsonst, denn Olesland und Hallig Hooge — beides klang so schaurig! Aber Domina verriet allerhand. Auf Hallig Hooge war Großvater gestorben, und der Urgroßvater war da umgekommen; es schien beinah ein Schicksal, und ich habe als Junge manchmal nachgedacht, ob — jemand — auch dort sterben müßte. An mich dachte ich damals noch nicht. Und Domina erzählte vom ‚Dränger‘ ...

Im Herbst, wenn die Nebel kamen, durfte man nicht an der Außenseite des Deiches gehn, wenn Ebbe war. Denn dann kam der Dränger. Auf einmal erschien eine Gestalt im Nebel, seitwärts, oder auch zurück, am Deich, und man entsetzte sich. Ja, da konnte man wohl rufen, wer hörte das? Damals, als der Dränger noch umging, war Oles—, war Hallig Hooge noch ganz vom Deich umschlossen, ein Inselbollwerk, das sich gegen die See hielt, eine kleine halbe Segelstunde vom Land, — aber merkwürdig, zu sehen war es nie, bei keinem Wetter. Domina sagte, das läge an der Spiegelung. — Anno Sechzehnhundertvierundneunzig, die große Flut ... Da verschwanden drei große Inseln und siebenzehn große und kleine Halligen spurlos in der See, Hallig Hooge aber hielt stand. — De ole Graf —? Nach ihm mußte die Insel Olesland genannt sein, aber gerade über ihn fand sich in der Chronik nicht eine Spur. Er muß ausgerissen sein aus dem Gedächtnis wie Olesland, — ja, von wem hörte denn überhaupt ich den Namen? Es muß doch wohl Domina gewesen sein. — Ja, damals also hatte Hallig Hooge noch sieben Hügel, die nach den Hügeln Roms genannt waren von einem gelehrten Mann, — wie hieß er noch? Archivarius Pontifex, Brückenbauer, Silas Pontifex hieß er. Auf dem Palatindeich stand der Deichhauptmann und rief alle seine Teufel zu Hülfe gegen die Flut, aber das half ihm nichts, Aventin und Esquilin und Palatin wurden nacheinander weggerissen, und als der Palatin stürzte, warf Deichhauptmann Waldemar Montanus sich kopfüber hinterdrein. Danach war die See gesättigt und zog sich zurück, aber im Abrollen brüllte sie noch einmal auf und nahm die ganze Wattseite mit fort samt dem Cälius. Ja, damals hörte das Watt auf, Watt zu sein, die See mit ihren Heeren ging geradewegs das Festland an und hämmerte auf die Deiche, — bloß nach einigen Tagen kam Hallig Hooge zum Vorschein wie eine Nachgeburt des Unheils, der Name Olesland verschwand, und Waldemar Montanus ging dort um und drängte die Menschen in die See. Auf den noch übrigen Hügeln starben die Bewohner aus, Viminal ... ja, Viminal und Quirinal und Capitol müssen sie ja wohl heißen. — Die See fraß einen nach dem andern, beim Fischfang kamen sie um, manche auf ganz fremden Meeren mit großen Schiffen, Waldemar Montanus paßte auf, — er lockte ja auch den fremden Reisenden zu sich, anno Siebzehnhundertneunzehn soll es gewesen sein, der nicht an den Dränger glauben wollte, — in der Chronik stand, daß es viel Aufsehens erregt habe, denn damals war doch die Wattseite schon offen; aber die Leute sagten, in den Nächten, wo Waldemar Montanus sich zeigte, wäre die ganze Insel wieder wie einst, der Deich ringsum geschlossen, und der Dränger, gegürtet mit Grauen, ließ den Furchtsamen nicht an den Deich, er mußte tiefer und tiefer in den Nebel hinein, am Ende kam das Entsetzen, und er rannte in die steigende Flut ...

T., besonders durchschaudert, erschrak vor einem riesigen, schwarzen Schattenkoloß, der plötzlich vor ihm stand. Aber es war nur Lornsens Mühle, und sie war gar nicht so nah, mindestens hundert Meter landeinwärts stand sie auf ihrem Hügel, auf ihrem weißen Unterbau, zwei schwarze Flügelarme mächtig drohend in Lüften. — Da unten in den Wiesen lief Jason al Manach heran, Magda lag dort in ihrem hellroten Kleid ...

T. gewann sich wieder in dem Gedanken, daß unmöglich dieser immer gleiche, liebliche, freundliche Jason wie ein Don Quixote die Mühle attackiert haben könne, — doch konnte er lange die Augen nicht abwenden von der unsichtbaren Stelle in der Dunkelheit, wo sie gestanden hatte und geschossen, dann umfiel und vor ihm lag, als wäre sie selber getroffen ...

Langsam erlosch alles in T.s Hirn, während er sich umdrehte und wieder das rötliche Licht über der Schneefläche des Nebels gewahrte. Wer hauste denn dort und hatte ein Licht brennen mitten in der Nacht? — — Georg, der Astrolog, hatte ein furchtbares Bollwerk von Deichen und Buhnen aus Hallig Hooge gemacht, hatte die Sternwarte bauen lassen, das Jupiterhaus für sich selbst auf dem Capitol und das Gesindehaus auf dem Viminal oder wie er nun hieß (ich entsinne mich eines Plans der Insel, sie hatte Bollwerke wie eine Festung, Bastionen und Vorsprünge und über vierzig Buhnen bei einem Umfang von einer guten halben Gehstunde). Niemand wollte wissen, wie er gestorben war. Er hauste einsam mit seinen Sternen; mit dem Tage, wo Trassenberg seine Selbständigkeit verlor, verschwand er dorthin, sein Sohn kam jung um, der Enkel starb wieder auf Hallig Hooge, — seit — — achtzehnhundertfünf —, ja, fünfundsechzig war es wohl, war Hallig Hooge unbewohnt geblieben. Dann bin ich wohl an der Reihe, dachte Telemach erbebend, und das Licht ist nur da, um mich zu erinnern und zu rufen ...

Er schüttelte alles ab. Ich frage morgen Birnbaum, was es mit Olesland ist, und dann fahre ich selber hin, sagte er sich im Weitergehn, die weiße, chaussierte Straße hinunter neben der Pappelreihe. Doch hatte er es nun eilig, wieder ins Haus zu kommen, stockte nur einmal im Hofplatz vor dem Verwalterhaus, da der Wolfshund lautlos auf ihn zusprang, aber er ließ sich leise knurrend streicheln und ging wieder davon, T. nachsehend, der durch den Heckengang das Rasenoval erreichte und bald am Fuß der Terrasse stand, wo nichts sich verändert hatte, — doch, die Urnen warfen nun Schatten, sah er im Aufwärtssteigen, und da war ja ein Lichtfaden im Laden! — Onkel Salomon war noch an der Arbeit. T. war besonders gerührt. Indem er die Uhr zog, schlug über ihm der Uhrhammer einmal an; es war halb zwei.

Er schloß leise die Tür zum Vogelsaal auf, wandte sich im Dunkel nach links, stieß, vermut ich, schmerzlich mit den Schienbein an einen Stuhl und erreichte die Tür. Leise öffnend trat er ein.

An der langen Wand der Aktenregale brennt die elektrische Lampe unter ihrem grünen Blechtrichter und überstrahlt den Wust von Papieren, Aktenstößen und Mappen und Glanzpapierdeckeln, rot und gelb und blau. Davor, den grauen Kopf auf dem rechten Arm, der auf der Schreibtischplatte liegt, schläft der alte Salomon; der linke Arm hängt herunter, zwischen zweitem und drittem Finger steckt die erloschene Zigarrenhälfte. Der papierne Berg über ihm scheint sehr sorgsam auf seinen Schlaf zu passen, — das Hörrohr über dem Telephonapparat ruht still wie ein Kahn auf hoher See, in der Nähe schwimmt als Boje, braunglänzend, die runde Platte der Briefwage. — Ja, nun braucht es Posaunentriller und Böllergeheul, wenn er nicht von selber aufwachte. Der alte Mann atmet laut und tief. T. geht, aus Ehrfurcht mehr als aus Vorsicht, leise über den Teppich zu ihm hin, gerührt und beschämt seine Krankheit verwünschend, und hat, als er sich über den Schläfer beugt, das Gefühl, dies dünn emporstehende, lichte Haar, durch das die Kopfhaut glänzt, so daß er die Haarschatten hätte zählen können, küssen zu müssen. Es geht so nicht weiter, denkt Telemach, aber Mentor läßt sich ja nichts aus der Hand reißen, und wie soll ich wissen, wer die Arbeit machen könnte, wenn er mirs nicht sagt? — Unter dem Arm des Schlafenden sehen gelbe Foliobogen hervor, ein weißer zuoberst, Telemach kann lesen: M. H.! Im Auftrage und in Stellvertretung Seiner Königlichen Hoheit und so weiter erkläre ich hierdurch den Landtag für wieder eröffnet ... Ach so, denkt er, Xylanders Vorlage zur Begutachtung ... Er klappt das Blatt in die Höhe und entziffert die kaum leserliche Bleistiftnotiz: Entw. z. Umw. v. T. i. prov. Landesdir. n. br. M. — Was? Das hieß — —, ja, das hieß? Er wollte Trassenberg in ein Landesdirektorium nach brandenburgischem Muster verwandeln ... Keine üble Idee, das würde allerhand Entlastung geben. Die ganze Verwaltungsschikane käme in eine Hand, und es bliebe für mich, — ja für mich bliebe eigentlich überhaupt nichts mehr übrig als die persönlichen Geschäfte, und die macht Birnbaum. Telemach denkt angestrengt nach, aber um so heftiger weicht alles vor ihm zurück, und er befindet sich bald völlig im Leeren. Minutenlang geistlos starrt er so auf Mentors Kopf ... Willenlos hebt er diese und jene Mappe auf und findet zum Beispiel eine zum Einklemmen mit breitem festen Rücken und der Aufschrift: Täglicher Einlauf. Die behält er in der Hand, sieht sich nach einem Stuhl um, holt einen vor einer der Schreibmaschinen am Fenster fort, stellt ihn dicht an die Schreibtischecke und setzt sich und schlägt den Deckel auf. Briefbogen und Umschläge sind fest hineingeklemmt, es ist schwierig, mit Hin- und Herdrehn und Aufklappen, zu lesen. Da liest er nun zum Beispiel:

Taubstummenanstalt Göhrde ... Einladung zur Feier des Zwanzigjährigen Bestehens und Besichtigung des Neubaus ... (Sonderbar! Da war ‚jemand‘ vom Gerüst gestürzt, — da wurde ich geboren, ein Jahr später wurde sie ... T. gewissermaßen schmerzlich versonnen, liest auf der nächsten, zugehörigen Seite verschwimmende Zeilen:) ... ehrfurchtsvolle Bitte, den Titel und die Würden eines Ehrenvorsitzenden des Vereins ... bisher in den Händen Seiner hochseligen Durchlaucht ... (T. schlägt das Blatt um, den Umschlag, der folgt, und liest:) Annenmagdalenenheim, Stiftung für lungenkranke Fabrikarbeiterinnen ... (Ach, Helene gründete sie, als Magda geboren wurde ...) Erhöhung des Anlagekapitals, da die jährlichen Kosten ... (Das kam doch aus Helenes Schatulle ...? Richtig ...) Vermächtnis Ihrer hochseligen Durchlaucht als noch nicht zureichend erwiesen ... (Ich bin ja Erbe, murmelt T., die Toten, immer die Toten ... Er fühlt, wie ihm der Schweiß ausbricht, die Buchstaben flimmern ... Krank ... krank ... krank ... tanzt es ihm vor den Augen, er bezwingt sich besonders, — warum: nicht zureichend erwiesen? Ach, es war ja halb abgebrannt, ein paar Tage vor — vor — — vor was? — T. starrt in die grelle Glühbirne, sieht die roten Fäden; vor dem großen Tralla, flüstert jemand ihm zu, und er begreift. Er nimmt bewußtlos die Hand von dem Blatt, schlägt den nächsten Briefumschlag um, senkt die Augen auf die Seite und liest:) Oberförster — — unleserlich. In Blankenheide ... einen neuen Plankenzaun notwendigerweise, weil mir sonst die Bauern das Wild totschlagen, was übrigens nichts schaden könnte — ungerechnet, daß sie es meist nicht richtig tot kriegen und ich dann die Schweinerei im Jagen fünfzehn herumliegen finde — (Der schreibt ja einen haarigen Stil, meint wohl noch, jemand vor sich zu haben ... Also warum: nichts schaden könnte?) — — herumliegen finde, Klammer, weil es doch kein Mensch abschießt. (Blankenheide? Blankenheide gehörte zu Dannel-Biebereck, Tante Henriette war kein Nimrod, Onkel Anton auch nicht, der Namenlos hatte die Verwaltung und haßte die Schießerei im Treiben. Aber es liegt ja an der Grenze, Schley kann hinübergehn, — richtig! — T. findet im Weiterlesen den Satz:) ... da mir die p. p. Beuglenburgschen Bauern wieder ein Stück von Jagen fünfzehn abschneiden wollen, und die p. p. Prozesse ... (soll wohl heißen: die verfluchten Bauern beziehungsweise Prozesse?) ... ja doch immer zehn Jahre dauern, so möchte ich ehrerbietigst p. p. — (schon wieder! so’n Pepe scheint ihm für alles gut zu sein!) — anraten, die Grenze doch gleich ein für allemal vier Meilen westlich zu legen, indem ich dann Beuglenburgisch werde und ein für allemal die Ruhe habe. (Georg dreht — matt lächelnd das Blatt um. Was kommt nun für ein Fetzen? Er sieht nach der Unterschrift, wie von einer Kindeshand gemalt:) Bombe, Kätner und Kesselflicker, — (ja, sie müssen jetzt doch jeder eine Firma haben ... Was will er denn? Kann die Pacht nicht zahlen, — ach, der scheint zu Helenenruh zu gehören. Bombe? Natürlich, der klebte doch Invalidenmarken, und der Sohn war — war Vorarbeiter bei Haupt und Ungefesselt, Dampframmen und ... verdiente fünfzig Mark die Woche und war nicht verheiratet.) Kuh gefalen ... ale Katoffeln Faul, — liest T. weiter, — Frau Hochgratig Magen Leident ... anliegent At — Apothekerrechnung soll das heißen. Georg findet das Blatt. — Opiumtropfen — Opiumtropfen — Opiumtropfen ... Lezithin, drei Flaschen, Summa acht Mark neunzig, abzüglich Kassenprozente fünf Mark und fünfzehn Pfennige, — ob ich das zahlen kann? — T. trocknet sich die mittlerweil triefende Stirn, langt einen Bleistift aus der Schale vom Schreibtisch und schreibt: Bezahlen! auf das Blatt; seine Hand klebt beim Schreiben, er muß husten und liest umblätternd weiter: Verein ehemaliger Königinhusaren ... 23. Stiftungsfest ... Weiter: Elisenhütte, Einladung zur Aufsichtsratssitzung ... Verteilung der Dividende ... T. klappt die Mappe zu, legt sie leise auf den Tisch und sitzt, das Taschentuch in den Händen; lockert den Schal vorn am Hals und starrt trübe vor sich hin und denkt bloß: Ein Fünftel vom ganzen Einlauf, und schon kaputt ...

Wozu all das, wozu? Geld ging hinaus, Geld kam herein! Warum kann ich nicht auf all das verzichten? Birnbaum machts ja doch Vergnügen, er kennt nichts andres, er weiß überhaupt nichts andres, es ist seltsam und unbegreiflich, aber sein Leben besteht darin, und er fühlt sich wohl, abgesehn von seinen Sorgen, die aber nicht durch dieses bedingt sind. Eine Abendstunde mit Dickens, ein Gespräch mit seiner Frau, ein Spaziergang am Schabbesabend, tausend Schritt genau bis Lornsens Mühle, Schachspiel, — das sind seine Freuden, und dann — ja, dann ist ihm wohl das Ganze durchwärmt und vertieft durch Liebe, zu ... zu mir ... und er würde es nicht fassen können, wenn ich die Hand davon abzöge. Er dient, und es ist ihm Wonne zu dienen, und ich —

Womit es denn nun wohl genug sein dürfte. Das ist ja alles bloße Quälerei.

Es hat aufgehört zu regnen, wie ich sehe, ich hätte Lust, nach Hallig Hooge zu fahren. Also dieser Maler Bogner haust, wie ich nun erfahren habe, dort mitsamt Ulrika, — man trifft doch überall die selben Leute. Vielleicht störe ich ihn. Wer nach Hallig Hooge zieht, den zog vermutlich Einsamkeit. Ich glaube, jetzt schreibe ich ein Gedicht.

Noch ist es hell und rein

Hoch in den Räumen, —

Schon bricht die Nacht herein

Unter den Bäumen, —

Schlafen und stille sein,

Nicht einmal träumen ....

Dunkel, o Dunkel, ohn

Arg dir ergeben,

Fühl ich die Gottheit schon

Über mir schweben:

Schlaf, gieb die Mohnenkron’,

Sanfter zu leben.

Wacht nun der Himmel, der

Goldengeäugte?

Auge, du fragst nicht, wer

Jetzt dir noch leuchte.

Nacht ist, nur Nacht umher,

Göttergezeugte.

Tief in die Dunkelheit

Antlitz vergraben,

Träume, wie fern ihr seid,

Flötende Knaben!

Abgrund der Schweigsamkeit,

Dich will ich haben.

Und endlich denn am Ende von allem das Unumgängliche: der ewige Sturz.

Auf die Knie an dem Bett unterm Emmausbild, und endlich schrei dich aus, verzweifelnde Seele! Schrei aus die Schuld und den Gram und die Not, immer schrei aus den verbotenen Namen, schrei: Ich kann nicht mehr! schlag an die Brust, jammre nur los, und lasse dich endlich durchstoßen von der verruchten Wollust immer des einen Gedankens: Oh Glück, oh Glück, daß der Träger des heiligen, verbotenen Namens doch nicht war, was er hieß! Daß ich nicht bin aus dem Blute dessen, des Blut durch mein Verschulden vergossen ward! Oh, daß heute mein Glück sein muß, was jahrelang Jammer und Elend war: nicht der Sohn zu sein ...

Und endlich das letzte Flehn: Wenn es einen Weg giebt, doch immer noch einen Weg zu dir: gieb ein Zeichen, komme im Traum, erscheine, wie du willst, aber gieb ein Zeichen, daß du noch bist, denn ich glaube es nicht mehr!

Drittes Kapitel: Oktober

Insel

Renate erwachte in Helenenruh vom lauten Zusammenschrein der Stare in den Bäumen mit einem fast schweren Gefühl des Wohlseins. In augenblicklicher Wonne des Erkennens: Nun ist alles, alles wieder abgefallen ... spürte sie sich noch aus dem Schlummer liegend heraufgehoben, spürte, wie er dünner und leichter um sie wurde, endlich aus ihr selber fortrieselte. Und nun empfand sie ihr ganzes Wesen wie durchduftet, gesättigt mit einem wundervoll kühlen Dampf, der ausquellend um ihre Glieder lag. Sie warf die leichte Steppdecke ab, setzte sich auf und sah nach dem Fenster, wo die klaren Mullvorhänge unbeweglich hingen, obgleich es offen stand, — nicht ohne leichtes Enttäuschtsein, denn da schien keine Sonne, es war grau. Die Stare schrien immerfort an derselben Stelle. Auf einmal zog ihr Herz sich empfindlich zusammen unter einem Bangigkeitsanhauch, der sehr langsam wieder entwich, und danach blieb ein Gefühl, als müßte einer ihrer Sinne beeinträchtigt sein oder gar verschwunden — und doch war da jeder: Gesicht wie Gehör, Geruch und Geschmack, und sie fühlte sich auch! — Die andern aber hatten sich zu einem süß brausenden Chaos von Musik vereint, das in ihr brodelte wie eine innere Sonnenwärme, und dies wars, wovon sie für Augenblicke blind, für Augenblicke taub zu sein glaubte, und die Stare waren jetzt kaum hörbar oder ganz fern.

Sie streifte das Nachthemd von der linken Schulter und versuchte, den nackten Oberarm an das Ohr zu halten, im Gefühl, sie müsse es darin dröhnen hören wie in einer Stimmgabel. Dabei neigte sie den Kopf und rührte unversehens mit dem Kinn an die Schulter, zuckte aber, kaum daß sie die weiche und kühle Glätte spürte, zusammen wie unter einem magischen Schlage, streifte den Ärmel wieder hoch, sprang vom Bett, ging zum Fenster und teilte vor dem offnen den leichten Vorhang.

Draußen war nichts als ein undurchdringlich dichter weißer Nebel von unbeweglicher Stille. Erst nach einer Weile erschienen schattige Massen darin, zwei große Bäume, und von dorther lärmten die Stare.

Diese Welt schien so geheimnisreich, daß Renate sich überneigte, um zu sehn, ob die Hecke noch da war, und richtig, da war die sehr stille Wand von rauhen Haselblättern, matt glänzend von schwerer Nässe, dunkelgrün und vielfach bräunlich gesprenkelt.

Als sie aber nach oben sah, verriet ihr ein ganz geringes Blenden die Reinheit des Himmels über der Nebeldecke, in der so viel Blau war wie in frischer, gewaschener Leinwand.

Baden jetzt, ah in diesem Nebel baden! wie still würde die See sein! — Renate hatte augenblicks das Nachthemd abgestreift, den daliegenden, dunkelgrünen Trikot angezogen, dann die Sandalen mit goldenen Wadenbändern angelegt, worauf sie in den seegrünen Bademantel schlüpfte und die grüne Gummikappe in die Hand nahm. Die Uhr im Armband, das sie überstreifte, zeigte ein Viertel nach sieben.

Im Nebenzimmer stand ihr Frühstück bereit, doch nahm sie nur, um nicht ganz nüchtern zu sein, einen Schluck warmer Milch und ein Stück Weißbrot mit Honig zu sich, das sie noch im Fortgehn fertig kaute.

Wie klein war dann der Hof vor dem Verwalterhause! Kein Mensch ... Schweigen, und nur vor der roten Hauswand bewegte sich ein Schatten, der Hund, der vorkam, soweit es seine Kette erlaubte, wedelte und ihr nachsah, die leichtfüßig am Gartenzaun hinlief und, an seinem Ende nach links biegend, durch das lange, nasse Gras der Wiesen in den Nebel hinein. Es war so lautlos um sie her, daß sie stehen blieb und sich umsah. Deutlich in den Nebel hinein zog sich eine dunkle Furche dort, woher sie gekommen war, aber zu hören war nichts als das Schlagen ihres eigenen Herzens; dann das leise und spitze Ticken der Uhr.

Sie ging weiter, angenehm frierend in der Morgenkühle; unter dem Nebel erschien die sanfte Schrägung des Deichs, die sie alsbald erstieg mit einer leisen Besorgnis: wenn jetzt nur nicht Ebbe ist! — Sie stand oben und sah die schräge Mauer der Quadersteine mit grünen Fugen von Tang hinab. Nein, da war das Wasser, dunkel, unbeweglich! Ohne Laut war es bis hier herangekommen. Zu sehen war nur wenig von ihm, alles verbarg der Nebel, in dem allhier ein geisterhaftes Fliegen und Bewegen war, ohne daß die Dichte und Undurchsichtigkeit sich dadurch änderte. Zerfließend weiche Füße tanzten auf der dunklen Glätte der Flut. Die ganze große See war nicht vorhanden.

Renate konnte die Höhe des Wasserstandes an der Entfernung von ihm bis zur Deichkrone messen. Sie warf den Mantel ab und legte die Uhr darauf. Als sie wieder gerade stand und die Luft an den Umrissen ihrer Glieder fühlte, mußte sie lächeln mit zusammengezogenen Augen. Sie zog die Kappe fest über das Haar, stieß dann die Arme wagerecht von sich, dehnte die Brust, legte den Kopf ins Genick und blieb so Sekunden, mit schon schärfer geblendeten Augen spürend, daß hoch über ihr ein Hauch von Bläue sich regte. Plötzlich gluckste das Wasser in der Tiefe. Sie senkte den Kopf, verscheuchte den Schauder vor dem Kalten, lief behutsam drei Viertel der Schräge hinunter und warf sich über den Rest hinweg laut klatschend in die Flut.

Aber — oh tausend Teufel! — sie schrie und schnaubte vor Schreck, wie eisigkalt das doch war! Sie schwamm heftig, merkte, als sie nach einer Weile die Füße sinken ließ, keinen Grund mehr unter sich, drehte sich halb zurück und schwamm nun, die Linie des Deiches achtsam mit den Augen haltend, in langen Stößen die Füße schließend, übergreifend mit dem rechten Arm, am Ufer hin, den Kopf schüttelnd und leise prustend nach jedem Stoß, wie alle rechten Schwimmer es machen. Als sie das Wasser lau um sich her fühlte, drehte sie um und schwamm so weit zurück, wie sie gekommen zu sein glaubte, legte sich auf den Rücken und erreichte so bald den Deich.

Kaum mehr als zehn Minuten konnte sie im Wasser gewesen sein, und doch war, als sie wieder oben stand und sich frierend und triefend nach ihrem Mantel umsah, alles schon verändert. Wind wehte jetzt. Die Sicht über die Wiesen hin war freier geworden, die Zäune sichtbar, und in der Höhe bewegten sich flüchtende blaue Löcher im Weißen. Und als Renate ihren Mantel entdeckt, ihn an- und den Trikot darunter ausgezogen hatte, war die Uhr fast acht, war die Sonne als matte Goldscheibe hinter der weißen Wand zu erkennen, und war sie selber vom Frottieren so brodelnd heiß wie ein eben neugeborenes Brot aus dem Ofen.

Voll Behagen schlenderte sie noch eine kleine halbe Stunde — gedankenlos wie ein Pferd, wie sie meinte — am Deichrand hin und her, See und Himmel beobachtend, die immer blauer wurden und immer freier, und dann lief sie plötzlich in größter Eile ins Haus zurück, um sich anzukleiden und zu frühstücken, jählings ersterbend vor Hunger.

Später dann, als vom Nebel auch nicht eine Spur mehr weit und breit zu entdecken war, fand sie sich auf einer guten Kamelhaardecke ausgestreckt im nebelnassen Gras unter den äußersten Zweigen der Parkeichen, vor sich die Wiesen, grau taugestreift in der Morgensonne, wehend von Halmen und den letzten Margueriten bis in die offen feurige Bläue des Himmels hinein. Sie holte den kleinen Kamm hervor, den sie im Strumpfband zu tragen pflegte, und eine gute Stunde verging ihr mit dem Auflösen ihrer um den Kopf gelegten Flechten und sorgsamem Kämmen, stückweis erst von oben bis unten hin, dann der langen Schweife, die sie in der Hand hochhalten mußte, in großen Strichen, wonnevoll spürend, wie die Masse weicher und lockrer sich dehnte und es darin knisterte von elektrischer Kraft.

Später saß sie auf ihrer Decke mit hochgezogenen Knien, die Hände um die Fußknöchel geschlossen, während der leichte Mantel ihres Haares um sie wehte und sich zerteilte im behutsamen Wind, und vergnügte sich damit, in den Ausschnitt ihres Kleides über ihre Brust hinunter zu blasen.

Später lag sie, schmal und lang hingestreckt, die Arme über der Brust gekreuzt, das Gesicht von der Sonne abgewandt, aufgelöst in Erd- und Himmelswärme, und dachte, halb schon im Schlaf: Nun bin ich so rein wie die Welt! —

Dann entschlief sie beruhigt.

 

Irgendwie war es Nachmittag und Abend geworden. Renate ging in einem weißen Kleid auf den gewundenen Wegen des Parks umher zwischen tiefgrünen Flächen der von Bäumen und Gebüschen langhin überschatteten Wiesen, — jetzt innerlich nur tief hinabgeneigt über die immer noch unvollkommene Musik, die dort unerlöst wogte, nicht näher kommen, nicht deutlich werden wollte. Kaum daß sie hier und da einmal aufsah und es bemerkte, wenn eine große Gruppe von Buchen ein plötzliches und gewaltiges Rauschen begann, laut zusammenredend, vorwurfsvoll, wie ein Chor, während sie die laubigen Arme und Glieder schüttelten, von denen flüchtende Blätter seitwärts hinunterwehten über die Wiese. Oder wenn eine Schar weißer Birken die ganze leichte Masse goldgelben Laubes hochausgestreckt ins blaue Leuchten der Höhe hineinwarf, in einer feurigen und weiblichen Gebärde des Fortverlangens. Für Augenblicke dann betroffen, zuckte sie mit, gleich nach innen wieder gebeugt, fast verstimmt, weil die Musik in dem Innern geringer vernehmbar geworden schien.

Als sie dann vor der kleinen Brücke zur Insel stand, fühlte sie sich angesichts der mächtigen, schattenvollen Masse der Baumkuppeln von einem unerklärlichen Zaudern ergriffen, ja, von einer Angst, so daß sie sich selbst hinüberlocken mußte mit dem Gedanken an das Grab der Herzogin, und fast hinüberziehn mit der einen Hand am Geländer. Drüben stehend, gewahrte sie zum erstenmal das kleine Rad der Winde, trat hinzu, begann zu drehen und sah mit Verwunderung die Brücke sich bewegen und hochsteigen, bis sie im Winkel von dreißig Graden stillhielt.

Nun bin ich allein! dachte sie, jedoch nicht eigentlich erleichtert, und ging leise in den schmalen Gang zwischen dem Buschwerk hinein.

Da lag die Wiesenmulde, ganz im Schatten, so einsam, so abgeschlossen im Ring der Bäume wie in der Tiefe eines Waldes. Nichts bewegte sich, kein Blatt an den dichten Zweigen der braunen Trauerbuche, an deren Stamm das eherne Schild kaum noch zu sehn war im Düster des Laubes. Darunter nichts als ein besonders grüner, geschorener Fleck im Gras: das war das Grab.

Hier dämmerte es schon. Renate sah die ganze Mulde kaum wahrnehmbar übersprenkelt von den lila Flecken der Herbstzeitlosen. Sie sah, die Augen hebend, den Himmel oben im Kranze der Wipfel wie einen ganz seligen See von Bläue, überrieselt von güldenen Funken, und ein einsamer, weißer Fittich, vergoldet, streckte sich hinein, als stünde im Jenseits ein Engel. Dann empfand sie die Wärme hier, dunstiger, feuchter, und auf einmal glühte ihr ganzes Gesicht.

Da stand zur Linken auf der niedrigen Anhöhe unter Kastanien der kleine Tempel von Rokokochinesisch, aus Baumrinde und längst ohne Glöckchen; langsam ging Renate hinüber und trat in das Innre, in dem nichts war als ein Sessel mit verblichener, grünlich goldiger Damastbespannung. Renate glitt hinein und fand, daß sie gerade gegenüber die Blutbuche mit dem Namensschild hatte. Plötzlich entdeckte sie auf dem Fußboden den plattgetretenen Rest einer Zigarre, erinnerte sich, daß der Herzog hier oft gesessen hatte, und daß er nun auch tot war.

Für eines Augenblicks Dauer, angehaucht von den Toten, ward ihr das Herz schwer, und sie fröstelte. Schwerer aber dann empfand sie ihr Haar, zögerte noch eine Sekunde, löste Spangen und Nadeln, schüttelte den Kopf und fühlte erfreut die Erleichterung der zum Rücken fallenden Last von Zöpfen.

Aber nein, das war es ja nicht gewesen! Oder es war doch nicht genug! Ihr Kleid war das Drückende, und sie glühte, und im nächsten Augenblick hatte sie die ganze geringe Bürde der zwei Röcke und Wäsche von sich gestreift und auf den Sessel gelegt, leise, als dürfe niemand es merken. Sie legte Schuh und Strümpfe hinzu und ging dann halbgeschlossenen Auges, die Hand um die linke Brust und mit dem unsicher weichen Gang der ungewohnten Nacktheit im Freien, erst nur bis zum Türpfeiler, den sie umfaßte, und an dem hin sie sich selber hinunterdrängte, sich hingleiten zu lassen ins Gras.

Augenblicks durchrann ihren ganzen Leib ein magischer Schlag von solcher Gewalt, daß ihr Herz stand. Dann lag sie angeschmiedet, hineingefügt in die glühende Erde. Schon fühlte sie weit am Ende ihrer ausgebreiteten Arme, so weit wie am Himmelsrand, ihre Hände schreckenvoll vergrößert, und nicht Gräser, nein Gesträuche, nein Bäume wuchsen zwischen den Fingern hervor, ihre Finger waren Wurzeln, sie dehnte sich, aus riesigem Gewipfel über ihr stürzte Finsternis und Gold, da war ein gewaltiges Gesicht, da brauste es aus ihren Fingern nach oben, reißenden Himmeln zu und hinein, es brauste herauf durch die Arme zu den Schultern, daß sie schmerzten. An ihrem Rücken war die ganze Erde, ein andrer, ein riesiger Rücken, ein ungeheures Tier, das sie trug, hinwandelnd langsam durch ungemessenen Raum, und dann war auch dies nicht mehr, wieder Ruhe, und nur das langsame ächzende Drehen der Kugel, mit der sie eines wurde.

Unaufhörlich aus dem Himmel über ihr fielen blaue Stücke mit goldenen Rändern und zergingen lautlos an ihr, aufbrennend in Flammen sonder Asche und Rauch.

Ein Angstgefühl, das nicht menschlich war, ergriff sie jetzt. Sie lag bewegungslos, sie wollte sich aufrichten, sich losmachen, allein umsonst. Jetzt, dachte sie plötzlich, jetzt geht der Gott durch den Wald, jetzt steht er im Tal, jetzt sieht er herauf! Sah er mich? Ach!

Unter dem qualvollen Zwange, sich aufzurichten, gab es in ihr einen Riß, und langsam, erstaunend, erhob sich die sanfte, feierliche Seele aus ihr, sah sich um ohne Bangigkeit, sah hinunter vom Gipfel des Gebirges über das gewaltige Land, zu andern, schweigsamen Bergen voll Dunkel hin, über den abendlichen Strom, über die ewigen Hügel von Grün; atmete das Gold ein der regungslosen Lüfte, der unendlichen Abgeschiedenheit, und sie erkannte mit einem Schluchzen, süß betroffen, ihre Heimat.

Dann saß Renate aufrecht und gewahrte deutlich drüben zwischen der braunen Buche und der Fichte in der schwarzen Dämmrung ein weißes, menschliches Gesicht, klein, sanft, ewig, — und sie schrie auf aus tödlich entsetztem Herzen: Ech-en-Aton!

Da begriff sie: der da kam, war Saint-Georges, aber das war ein und derselbe! — Und noch zitternd, übermenschlich sich wehrend gegen den Kommenden, schmolz sie schon hin, schmolz hin zu seinen Füßen, lag hin vor seinem Nahesein, und das Niegekannte, das Niegewußte, das Niegeglaubte, das Gefühl über allen Gefühlen, seufzte sich los aus dem Stein, nicht mehr Lust, nicht mehr Grauen, ein beides in ungeheurer Majestät nur Dasein grenzenlos, Süße grenzenlos, und mit dem Herzschlag des Wissens: es kam! und: es ist da! vergingen Leib und Seele ihr in das strömende Schluchzen, mit dem sie ihn empfing.

Da rauschte nieder zu ihr alles Leben der Höhen und vereinte sich mit den aufwärts stürzenden Tiefen. Über sie hin ging ein Regen von Küssen, in dem sie sich löste, und sie war eine Wolke von Küssen um den Gott. Bäume, brausend, warfen sich mit herunter zur Umarmung mit tausend Zweigen; herunter zu ihr schmolz der Himmel, herunter taumelten Schwärme von Gefieder, in unterirdischen Strömen ihres Blutes zogen Geschwader silberner Fische noch stumm, Vögel mit Fittichen von Sternen bewegten sich versuchend in ihrem Haar, auf und nieder wogten die Berge, wartend auf das Zeichen zum Aufbruch, da stand das riesenhafte Einhorn schneeweiß auf einer Silberzacke und senkte das Horn auf ihr Herz.

Eine Fanfare von Schmerz, ein ungeheurer Leib auf dem ihren, der sich regte, und so zog durch ihren Schoß ein die Orgelbrandung des himmlischen Sterbens. Noch verbrannte an der Berührung eines Mundes ihr Mund zur zitternden Narzisse, und eines Schlages war die Stummheit aller Kreatur aufgelöst in ihrer Umarmung zu schallender Harmonie. Es lobsangen in den Höfen die Engel, in den Lüften die Vögel, hinschweifend ohne Pfade, in den Bergen tönten die Erze, auf den Bergen die Wälder, Gebrüll der reißenden Tiere in Tälern ward Gesang, Heerscharen der Fische zogen musizierend nach Sonnenaufgang, und in Strömen und Quellen, in Teichen und Wasserstürzen standen Orgeln und wandelten Harfen, erklingend, erklingend, ewige Tage lang, bis aus dem unsterblichen Abend, einsam, die Flöte des Hirten Frieden blies, über Dämmerung, durch das Finster, und ein Stern ging auf.

Es war Nacht. Fremde Bäume rauschten gedankenvoll. Eine Kühle ging nachdenklich aus dem schwarzen Dickicht hervor, breitete die Arme und verhauchte schaudernd den Geist. Schonungsvoll zerfiel eine gealterte Vollkommenheit. Das dunkle Tier irrte zackig umher. Langsam fielen eisigklare, ruhige Tränen.

Aus den Papieren Georgs

Auf Hallig Hooge

Mir scheint, ich bin ruhiger geworden. Sollte das die Wirkung dieser ganz grünen Insel sein, auf der ich nun hause? Wir sind heute nicht abergläubisch mehr, und im Gegenteil, was diesen Telemach anbetrifft, so machen ihm die Geister und die Toten beziehungsweise ein gewisses Behagen. Übrigens sind ja auch Lebendige vorhanden, obschon auch diese besondre Untertanen des Todes, sein Zeichen tragend an der Stirn: Bogner, den er eben aus seinen Reichen entließ, und Ulrika, die — ich hoffe — nur hindurchgehen wird. Nur das Mädchen Cornelia scheint munter.

Der notwendige Hauptmann, den sie mir mitgegeben haben, scheint sich gut ertragen zu lassen; er schweigt. Birnbaum wird ihn ausgesucht haben. Da er bürgerliche Kleidung angezogen hat, könnte er der Pächter dieser Insel sein, seit langem: Einsamkeit steht um sein bartloses Gesicht wie ein fester Bart, gut und ruhig sind die Augen, immer scheint er zur Teilnahme bereit. Doch er schweigt. Ein wenig hat er etwas Russisches, vielleicht ist er Balte; die Sprache verriet nichts.

Ja, hier kann man leben und sterben! dachte ich schon im Segelboot auf der Fahrt.

Ja, so gieb nach, Georg, gieb einmal nach und sag es! Sage, wie unbeschreiblich es dich schon ergriff auf der Fahrt. Vom Festland der weiche, emsige Wind trieb das Boot in gerader Fahrt, weich reitend über die dunkle bläuliche See. Und da, wie vor dir nur Himmel noch war, zu sehen, ja fast schon zu fühlen die grenzenlose und berauschte Seligkeit, die seiner Umarmung mit dem Ozean ausstrahlt, — großes, locker bewegliches Getümmel grauer und weißer Wolken überm blauen Grund, und die Wasserwüstenei, kalt, nicht weit zu überschaun: unwiderstehlich preßte da der kühle, brausende Odem der Göttin sich in deine Brust, verdrängend den kranken Menschenatem drin, bis es nur der ihre noch war. Oh ruhiges, mildäugiges Leuchten der Nachmittagsstunde, schräge von oben durch die Breschen der himmlischen Wanderung! Oh wieder empfindliches Zittern beim Eintauchen in ihre leiblosen Schatten! Oh wieder Entschweifen weithin und voraus des entfesselten Blicks! Bis wieder ein Festes dem Auge sich bot, und plötzlich entzaubert das Inselgebirge sich schwimmend erzeigte ganz grün.

Wenn ich nun die Augen schließe und mir die Insel vorstellen will, erscheint sie mir besondrerweise immer aus der Vogelschau, — erhob mich so mein Gefühl? — Ich sehe den kreisrunden grünen Kranz des Deiches aus einer wolkigen Höhe, fest hineingefügt in die ungestüm daraufzu und an zwei Seiten vorübergewälzte dunkle See; sehe die leere Wiesenmulde im Kranz, und sehe, daß sie ein Amphitheater ist, diese Insel, denn an der Wattseite fehlt ein Stück des Deiches, dort ist flacher Strand, und dort zur Linken, schräge hinter dem Deich, liegt das Gesindehaus, langgestreckt, mit seinem schwarzmoosigen Schilfrohrdach, etwas erhöht, überwölbt vom einzigen Baum, dem Birnbaum voll kleiner, glänzend grüner Früchte, dahinter Gemüsefelder. Vom offenen Strandstück quer durch das grüne Tal führt ein getretener Pfad ganz grade zum ‚Kavalierhaus‘, das übrigens dem Gesindehaus gleicht, außer daß es Fachwerk ist, weiße, jetzt schwärzliche Balken mit blauer, jetzt weißlicher Füllung, während das andre ganz rot ist, in dem seinerzeit die Begleitung des ‚Astrologen‘ wohnte. Und keine dreihundert Meter östlich von ihm steht der achteckige Turm der Sternwarte oben auf dem Deich.

Ich glaube, ich zitterte seltsam, als ich wieder den festen Boden betrat. Ja, hier läßt es sich leben und sterben ... Die schrägen, an der Außenseite vom Seetang ganz begrünten Wände des Deiches stiegen haushoch — und das scheint berghoch dahier vor der riesigen Fläche. Vom Winde war plötzlich kaum ein Hauch mehr zu spüren, es war rätselhaft still. Rechts, am innern Abhang des Deiches, wo er endete, waren zwei weiße Ziegen angepflockt, die bei meinem Anblick sofort entgeistert die Bärte hoben, sich ungemein wunderten und sich verabredeten, so weit näher zu stelzen um ihren Pflock, als es die Kette erlauben würde. Menschen waren nicht sichtbar, und so ging ich in die tiefe, grüne Stille des Tals hinein, abgeschlossen von aller Welt durch die berghohe Umwallung, deren westliches Stück eine breite Schattendecke in das Innere legte.

Das Haus, auf das ich von ferne zuging, ist gebaut wie alle Bauernhäuser der Landschaft, langgestreckt; ein Mittelstück ist überhöht, links sind die Stallungen (hier freilich keine), rechts die Wohnräume; Vorder- wie Hintertür in der Hausmitte sind zerteilt, so daß die obere Hälfte sich allein aufschlagen läßt und man darin lehnen kann.

Wie freundlich leuchteten mir im Näherkommen dann das Blau und Weiß des Hauses im tieferen Licht und im Blumengarten davor Gebüsche von rosigem, weißem und ziegelrotem Flor! Ich glaubte, wieder wie einst, das große Wandern der Sonne spüren zu können und wieder Raum in meiner Brust.

Als ich dann zum Hause gelangt und zur Linken um seine Ecke gebogen war, hatte ich dies unvergeßlich scheinende Bild:

Zwanzig Schritte hinter dem Hause wieder die hier gelindere Steigung des Deichs, — rundum schließend wie ein Ende der Welt. Hoch oben stand, noch ganz am Rande, die Gestalt der Cornelia, die ich gleich erkannte, obwohl sie schräg von mir abgewandt stand nach der See, ganz leuchtend vom feurigen Sonnenschein, im blauen Kleidrock und weißer Bluse und in einer Haltung, als ob sie im Gehen festgewurzelt wäre. Ein paar Schritte weiter rechts saß, zur See gewandt wie sie, auf einem Feldstuhl ein grauhaariger, unbekannter alter Mann, in dem mich erst Erfahrung zu meinem tiefen Erschrecken den Maler Bogner erkennen lehrte, — und Beide über der grünen Wand waren wie vor einer sattblauen, vor dem leeren Himmel, ganz nahe davorgesetzt. — Und dann, wie ich wieder nach unten und zur Rechten sah, gewahrte ich auf einer Bank vor der Hauswand Ulrika Tregiorni in einem grünen Kleid, die Hände im Schoß, sitzend in einer solchen Ergebenheit, so sich hineinfügend in die Tiefe, über der droben die beiden Andern feierlich eifrige Ausschau hielten über ein unsichtbares Land, — daß es schmerzlich zu sehn war.

Unbeschreiblich war dann die Freude des Malers, als ich seinen Namen rief. Wie er sich umdrehte im Sitzen; wie sein gealtertes Gesicht sich veränderte in der Freude; wie er aufstand und die Arme nach mir ausstreckte wie ein Vater — leider im Stehen noch verkrümmt infolge der fehlenden Rippe —; wie ich zu ihm hinauflaufen mußte und er fast weinte, — ach, ich fürchte doch, dies ist mehr erschreckend als erfreulich, denn früher war er alles andre als weich. Mir aber blieb alles nach in der Brust und so, als ob unmerklich eine Seele wieder sich bilde, von weicher Wasserfaltung erwacht, zartes Korallengeäst in dem Dämmer der Tiefsee.

Ich bin also in den besondren Turm eingezogen und so weiter, — ich weiß nicht, mir wird auf einmal wieder so unruhig ...

 

Ah, haha! Rideamus, amici! Nun lustig, lustig, rideamus, und die See brüllt dazu wie besessen, denn warum? Ein neuer Aspekt des Todes, jawohl, jawohl, jetzt hätten wir alles besonders beisammen, rideamus nunc, was stellt sich heraus? was fördert sich, was muß ich selbst zutage fördern, wie ich nämlich mit Ulrika und Bogner abendlich dämmernd zusammensitze und keiner was zu sagen weiß und ich deswegen nach Irene frage? Dieselbe ist wieder im Kloster und warum? Nach einem endgültigen Endkampf mit diesem besondren Klemens haben sie sich zur süßen Liebe entschlossen, aber deswegen keine lieblichen Gefühle — nein, bloß nicht weich werden! — sondern er stößt sie von sich, jedoch — das ist nicht meine Sache, aber wie es entstand, das ist die besondre Frage, und zwar war es der große Mummenschanz naturgemäß, der jenen Klemens zu grausamen Schmähungen veranlaßte, weil Dieselbe trotz Verehelichung mit einem roten Sozialdemokraten es leckerte nach dem dynastischen Gepränge, und demgemäß, wer trägt die Schuld auch an dieser besondren Verwirrung? Immer derselbe. Nein, bloß nicht weich werden, und die See brüllt wie besessen, denn weiter: Spazierend am schmalen Gestade der Ebbe mit der sogenannten muntren Cornelia, will ich was Munteres sagen und öffne die Lippen zur Frage: Wie gehts eigentlich jenem Josef von Montfort? Oh erbarmungswürdige Entgeisterung! Einerseits und dann beiderseits, denn siehe da, derselbe ist maustot, umgebracht von dem eigenen Bruder! Rideaumus, es ist zum Haarausraufen, denn gleich holt mich der Teufel, wenn das sich nicht auf immer denselben Mummenschanz zurückführen läßt, bloß nicht weich werden, denn das ist freilich noch nicht alles, denn sie weint ja nun und zeigt sich besonders bekümmert, daß dies an ein und demselben Tage vor sich ging, an dem auch der bekannte Maler beinah sein liebes Leben verlor, und auf Befragen erzählt sie gern eine höllische Szene, nämlich wie sie ein grausames Schießen hört, mitten am friedlichen Nachmittag, immerzu Knallen und Knallen, und hinunterläuft und in ein Zimmer, und da steht ganz rauchend dieser Bogner, oder vielmehr er fällt schon hin, vornüber auf eine besondre Fensterbank, fluchend und röchelnd und mit einer besondren Pistole fuchtelnd, und immer in seinen roten Teufelshosen vom Mummenschanz dazu, und draußen im Freien, wer liegt an der Erde und sagt auch nicht ein Wort mehr? Natürlich der andre Duellant, tot wie eine Ratte, und sie haben sich Beide mindestens mit zwanzig bis dreißig Kugeln durchlöchert, bloß nicht weich werden, denn siehe da, worüber zerbrachen sie sich lange den Kopf, Cornelia und auch die Ulrika? Wie ihr sogenannter Ehemann ihn hat ausfindig machen können, aber Bogner offenbarte dasselbe, denn der Ehemann muß ihn beim Mummenschanz gesehen haben zusammen mit Ulrika, seinen Namen erforscht, da er ihm natürlich gleich besonders erschien, und ihm nachgegangen sein, nachgegangen wem? dem mit den roten Beinen, sie ließen sich auf keine Weise aus den Augen verlieren, im dichtesten Dickicht der Beine nicht, und so geschah’s!

Rein in die Hölle, raus aus der Hölle, und nicht weich werden und die Rechnung aufgestellt, denn nun hätten wir ja den Unheilsberg strahlend beisammen, als da sind: Esther und Sigurd, Cora und Magda, Josef, Erasmus, sein Vater und Renate, Cornelia und Cordelia, Bogner benebst Eltern und Ulrika mit Mutter, Irene nebst Ehemann und Klemens, bloß Helene ist leider noch immer nicht dabei, und über Allen schwebt — — —

Ich, ich, ich! Ich hinter der Maske, da saß ich jahraus und jahrein über Töpfen und Retorten und destillierte das zarteste Gift, verabreicht’ es an einem Tag, und da sitze ich nun mit meinem grinsenden Schädel auf dem Berge der Leichen und kann meinen Nabel betrachten!

Auf, laßt uns nun wahnsinnig werden!

Den Verstand verlieren, o mein Gott, den Verstand verlieren! All ihr Götter, wie kann ich denn einen haben, wenn ich ihn jetzt nicht verliere!

Renate an Saint-Georges

am 7. Oktober

Mein Geliebter!

Siehe da, ich schreibe und weiß nicht wohin. Der Gedanke, daß Du augenblicks in die Welt aufbrechen solltest, um das Tal und das Haus zu finden, in dem wir bis in alle Ewigkeit wohnen würden, war preiswürdig, als wir ihn dachten, nun aber jammert mich seiner, er hat gar so viel Ähnlichkeit mit einem halb ersoffenen Kätzlein. Legen wir es auf den guten warmen Ofen bis übermorgen, und trösten wir uns derweil mit der süßen Speise Wiedersehn und dem klaren Weine, der Dann-niemals-mehr heißt.

Ach, mein ewiger Geliebter, wenn es in der Welt etwas giebt, das anders ist als alles Leben und alle Dinge dieser Welt, und das Liebe heißt, was kann denn dieses anders sein als die Vollkommenheit? Und wenn sie die Vollkommenheit wirklich ist, so ist doch alles, was geschieht, in der Liebe geschehn, was der oder die Liebende tut, was sie nur denken und anfangen, es muß alles in der Liebe sein und vollkommen. Demnach ist ein jedes verständlich und ganz klar, und daß Du dort bist und ich hier, auch dieses muß Vollkommenheit genannt werden, ich sehe es vollkommen ein und begreife es, bloß: sie ist nicht so leicht zu ertragen, diese Art von Vollkommenheit, und sicher ist Übermorgen gar nicht, aber Du kommst ja erst Freitag.

Freitag, das soll auch so was heißen! Morgen ist Dienstag, übermorgen ist Mittwoch, überübermorgen Donnerstag, und was über überübermorgen geht, das kann schon kein Mensch mehr aussprechen, also was fang ich an? Soviel im Hinblick auf die Vollkommenheit ...

Übrigens:

Renate

Nachts

Aber eben als ich aufwachte aus dem Schlaf, und Du warst nicht da, als ich das Alleinsein spürte und den immerwährenden Schmerz und den Verlust, da fühlt’ ichs doch auch: daß es vielmehr ein Verlust meines Wesens ist als meines Habens, ach, und daß es vielleicht nur einer kleinen Anstrengung bedürfte, um mein ganzes Wesen, dies hier und das Stück dort, wo Du bist, wieder ganz zu fühlen, und schon wie ich es versuchte, da — nicht in mir, ach, das nicht! Aber in der Welt fühlte ich die Vollkommenheit ganz heil und unerschütterlich, und ich seufzte.

Denn Du und ich sind eins und vollkommen, und eins und vollkommen in uns ward die zerrissene Welt; darum sollten wir nicht trennen, auf keine Weise, was eben erst heilte.

am 8. Oktober

Dein Bruder hat Schülerwitze gesammelt in den letzten acht Wochen und läßt sie nun vorsichtig los. Meist kann ich sie nicht behalten, aber höre diesen: Kannst Du mir einen Satz sagen, in dem die Worte an und bis hintereinander vorkommen? Nein, Du rätst es ja nicht, Du rätst es ja ganz verkehrt! — Es heißt: Ich angelte, wo der Fisch anbiß. Ach, wie kann es so etwas Dummes geben!

Aber Du Fischiger weißt Du auch, warum diese Dummheit mein Gedächtnis anbiß? Weil Du schon ganz kalt und naß anzufühlen bist vor lauter Fischigkeit, will sagen lauter Stummheit! Ich rede den ganzen Tag mit Dir, Du hörst weise zu, aber Du schweigst wie Dein weißes Abbild vor mir auf dem Tisch. Ich sehe es an, bis mir die Augen übergehn, und dann wird mir unbegreiflich zumut.

Ech-en-Aton und Du! Ist es möglich, daß ich ihn hatte und Dich, drei lange Jahre lang, und doch glauben konnte, Ihr seid zwei? Ist es, war es wirklich möglich: drei Jahre zusammen mit Dir, am selben Tisch, im selben Raum, in derselben Luft tagaus und tagein und blind, so ganz blind ‚für was in dünnem Schleier schlief‘? Nein, wäre es möglich, daß plötzlich glühen kann, was durch Jahre hin nicht kalt war, nicht warm? Daß Augen eines Abends in lichtem Feuer stehn, in Feuer der Mund, in Feuer das Haar und der ganze Mensch, ein Feuerofen, aus dem ein selig Verbrennender singt? Ach, Geliebter, es ist wahr, und es mußte so sein, denn es ist ja kein Du und kein Außen, für das ich plötzlich Augen und alle Sinne bekam, sondern das ist meine brausende Seele, die endlich, endlich über die Ufer ging und mich himmlisch zerriß. Und ich kann es doch nicht fassen, nein, nie, nie, niemals werde ich es fassen können, daß diese Hand hier, die schreibt, an einem Tage süß geworden ist, ach, so süß durch die eine Berührung, daß ich denke, alle Bienen müssen kommen und sammeln und die ambrosische Wabe bauen in Gottes Herz! Und so süß, daß ich sie manchmal hinnehmen muß in die andre, sie halten und fühlen schwer wie von Gold. Ach, so verwandelte schon ein holder Geist den Stab des Armen auf der Straße, daß er schwerer ward und schwerer in seiner Hand und längst zu Golde geworden war, ehe der es begriff mit den Augen. Ja, ist es nicht so? Es vollzieht sich die göttliche Wandlung, wir wissen es längst, alle Sinne wissens und sagens, aber da ist noch ein letzter Sinn, der weiß nichts, und grade der ists, den wir zum Erkenner gemacht haben, und endlich, endlich erfährt es auch der, wie der einsamste Siedler in den Bergen vielleicht von einem Kriege hört, der die halbe Welt zerriß, und er ist fast schon vorüber. Ein Schiffer vor tausend Jahren fuhr durch die Nacht an einer Insel vorüber und rief hinein: Der große Pan ist tot! — Und da, als dieser Schiffer es rief, da wußte es erst die Welt. Ach, aber wenn etwas sein sollte, und es ist nur ein Ding der Erde, das nichts davon weiß, so ist es noch nicht, so kann es nicht sein.

Mein Geliebter seit Ewigkeit, das warst Du! Und Alle, Alle, alle Geister der Erde haben es gewußt, nur ich nicht, nur ich! Und ob ich es nun auch zehntausendmal weiß: ich sehe mich nur immer an und frage mich und kann nicht begreifen: Warum ist sie denn jetzt süß, diese Brust, die linke und rechte, und süß dieser Mund, süß das Haar und die Knie und der ganze Leib unaufhörlich ein schluchzendes Wunder von Süßigkeit, warum, wenn er es vorher nicht war?

am Abend

Ich habe Dich im Süden und Norden gesucht, mein Geliebter, ohne Dich zu finden, kam müde heim, und da lächelst Du mich an aus meinem Herzen. Der Mond stieg, die liebliche Sichel, aus dem Meer. Nein, nicht aus dem Meer kommt der Mond, sondern aus der Tiefe der Welt; nicht aus mir kommt die Liebe, sondern aus der Tiefe der Welt; und Mond und die Liebe, sie fahren einer im andern durch mich und das Meer in die ruhige Tiefe der Welt. Schlafe wohl, mein Geliebter!

Renate an Irene

Helenenruh, am 8. X.

Irene! Irene, muß ich wirklich, oder besser noch, darf ich es wagen, den Drachen des Schweigens, von dem Du Dich verzehren lässest, mit dem Schwert meiner Rede zu bestehn? Ich könnte Dir, arme kleine Aja, freilich auch einen richtigen Saint-Georges zu Pferde schicken, der Dir und mir den Lindwurm erlege, aber leider kann ich ihn heute noch nicht entbehren ...

Oh Worte, oh Worte! Komme zu mir, und Du wirst alles wissen. Ich bin glücklich, Du kannst es auch sein! Ich liebe, Du kannst es wie ich, ich werde geliebt, und Du kannst es werden. Kannst Du nicht lieben? Liebst Du nicht lange? Ich sage Dir, Irene, daß Du rasend bist, wenn Du andre Wege irgendwo suchst und vermutest, daß Du rasend bist, wenn Du nicht aufbrichst auf dem einen Weg, Dich hinzuwerfen und zu lieben!

Liebe, liebste Irene, muß ich Dir vielleicht noch erklären, wie Du das machst? Laß Dir sagen, Du brauchst nichts zu tun, als hinzugehn, wo Dein Georges, also Dein Klemens ist, und zu bleiben und zu lieben. Wenn er sich wehren sollte, so mußt Du ihn mehr lieben. Dann könnt Ihr Euch heiraten oder nicht heiraten, aber von nun an sollt Ihr alles gemeinsam tun, schlafen und essen, Werktage haben und Feiertage, eine Wohnung nehmen und drin wohnen, Einkäufe machen und Bücher lesen und Spaziergänge machen und keinen Armen von Eurer Türe weisen, und was es auch sei: hierin, hierin wird Eure Liebe, die Liebe sich zeigen und bestehn, und wenn dies so ist, werdet Ihr heilig geworden sein und dürft mit Eurer Berührung schon an Kranken und Beladenen, an Traurigen und Schwachen — Wunder der Liebe entfalten.

Dies verheißt Dir

Renate

Renate an Saint-Georges

Nachts am 9.

Heute nachmittag fuhren wir vom Böhner Hafen im Segelboot nach Hallig Hooge, Magda und ich mit Deinem Bruder und Li. Ulrika ist nun im siebenten Monat, und man sieht es; sie ist sehr still geworden, ihr Gesicht erschreckend verändert und auseinandergetrieben. Dem Maler — doch davon nachher. Wie die Insel aussieht, weißt Du, der Tag war köstlich, kühl, aber licht, der große, von allen Seiten her aufgebaute Himmel bewegt von reichen Scharen riesiger Wolken, schneeweiß, das Meer darunter, von ihren Schatten durchdunkelt, in Streifen schwarzblau und lebhaft bewegt, aber ganz ohne Schaum. Als Ebbe war, zogen Ulrika, Magda, die Cornelia und ich Schuh und Strümpfe aus und wandelten als Kette Arm in Arm den Strand hin, schrien und sprangen, wenn eine Welle über unsere Füße ging, und auf seinem Turm stand der arme Sternedeuter Georg mit einem langen Handfernrohr und betrachtete uns durchbohrend. Aber er zeigte sich nicht, obwohl wir Li als Boten zu ihm schickten. Armer Georg! Ach, und arme Liebe, die Magie ist nur an Zweien, an mir und an Dir! Müßte ich nicht die Hand auf seine Stirn legen können und sagen: Stehe auf und wandle? — —

Ich habe keine Grenzen an mir, wenn ich allein bin und eingehe in unsern ewigen Gedanken. Immer wieder ist sie dann, die einzige Stunde, und alles hebt wie damals an: aus unsern Herzen der einige Strom, großen Ganges durch die schlafende Welt, wir selber der Strom, nicht mehr Gestalt, nur unermeßlich Fluten, Wogenberge gleitend hingetürmt, durchqueren wir das alte Erdenland. Nicht einsam, Geliebter, nicht einsam! Sieh, es bevölkern sich unsre glücklichen Gestade, und wir, heilig leben wir, verhundertfacht wieder haben wir Herz und Odem und Gestalt in allen Wesen, die wir laben: Wenn sie, die großen Fabeltiere, sie, die erlauchte Tiere noch sind, Behausungen nur der Götter, noch Götter nicht, noch nicht Strom, die einsamen Liebenden all: wenn sie von ihren Weideplätzen hergewandert kommen scharenweis, oder auch einzeln in der dumpfen Leidenschaft der Einsamkeit; wenn dann ihr tief und frommes Schlürfen hörbar ist allein im weiten Mondesschweigen: oh wie leb ich, wie leben wir dann, tränkend, nährend, Liebe zeugend, da wir Liebe sind!

Und ich weiß, daß es einmal sein wird, weiß, daß Liebe Liebe zeugen wird, einmal, ich weiß — —

Und dennoch: es braucht nur irgendein Mensch vor mir zu stehn, leibhaft, so habe ich schrecklich nahe Grenzen überall, und kaum ein Strahl dringt aus meiner Hülle zu ihm. Wer sieht denn die Liebe, ach wer? in ihren Augen sind wir gewöhnlich wie sie selber, gekleidete Menschen mit Aussehn und Handeln: aber doch Liebende nicht! — Bogner freilich, er hat ja selbst einen Gott in der Brust, der erkannte sich gleich mit dem unsern, und sie lächelten einander zu. Noch seh ich ihn vor mir sitzen auf seinem Feldstuhl oben auf dem Deich — Stehen und Gehen gelingt ihm noch kaum, obgleich er schon ganz gut Fleisch angesetzt hat, auch braun geworden ist und sein Auge wieder das alte, helle — dasitzen und zu mir aufschaun mit seinen einzig sehenden Augen. Er sagte kein Wort, hielt nur meine Hand, und so erfuhr er alles und lächelte und war meiner froh.

Es wurde Nacht, ehe die Flut kam und wir zurückfahren konnten. Das Wattenmeer regte sich kaum, wir schaukelten auf seinen Atemzügen, schön wie ein Geist stand das bleiche Segel unter den herbstlichen Sternen. Da sah ich zum ersten Mal in diesem Jahr den Orion, Zeichen des Winters, und ich bat ihn, den großen Jäger, daß er mir Dich erjage und bald, bald die heilige Beute lege an mein zitterndes Herz!

am 10.

Du hast mir so schöne Namen geschenkt, mein Geliebter, und ich hole sie so behutsam hervor wie irgend wirkliche Kleinode, halte sie lang in den Händen und freu mich an ihnen, ehbevor ich sie anlege und vor den Spiegel trete, noch schöner als schön! Ach, und wenn jemals eine Armut war in meiner Schönheit, wie ist sie nun Reichtum geworden durch deine allsehenden Augen!

Ach ja, mein Gebieter, wenn Du sagst, daß ich die Magnetnadel sei, die niemals jemand einstellen könne als sie selber, so will ichs gern glauben, und die drei Jahre tun nicht mehr so weh. Mit Libussa aber, dieser Huldin, das stimmt doch schon gar nicht, denn wo blieb das weiße Pferd? Oder sandt ich es wirklich — im Traum? Am Morgen mags gewesen sein, als ich am Parkrand schlief nach dem Bad; der Nebel war so weiß, da machte mein Traum draus einen Schimmel und schickt’ ihn zu Dir, und da kamst Du auf ihm geritten durch das Wasser des Teichs, denn war die Brücke nicht hoch? Woher aber dann die nassen Beine, mein Fürst, wo das Wasser doch ganz flach ist für ein Pferd? Nein, nein, ich seh Dich schon durchwaten, ich seh Dich, und Du bist der umgekehrte Christoferus gewesen, — oder wars nicht so, daß die Last der Liebe auf Deiner Schulter leichter und leichter wurde mit jedem Schritt zu mir her?

Was aber mich betrifft, so werfe ich alle Bürden kurzerhand von mir und breche morgigen Tages auf heimwärts. Morgen, sagst Du, kommst Du zurück, den Zug weiß ich auch, da bin ich an der Bahn, und es ist herzzerreißend schön, wenn wir uns unter all den Menschen wieder sehn und nichts sagen können und nach Hause fahren und — und — — und — —

Weißt du nicht, daß ich ein Weib bin, sagt die gute Rosalinde im Shakespeare, und nur denken kann, wenn ich rede? — Na, glaubs schon nicht, Teuerster, ein bißchen kann ich schon, auch wenn ich nicht rede, aber nun nimmt es ein plötzliches Ende und — und —

Und ganz schön still bin ich wieder und rede nur noch unsre heilige Sprache, der Liebe einzige Sprache des Schweigens, dort, in meinem Zimmer, in meinem alten Leben, im alten Muschelbett der einst lieblosen Träume, — des Schweigens Sprache, einsilbig in immer dem selben Kuß!

Saint-Georges an Renate

Den Du erwartest, kommt nie zurück.

Es muß eine Wahrheit gesagt werden viel zu spät. Und darum ist die Schmach, sie nicht in Deine Augen sagen zu können, leicht genug zu tragen mit dem Ungeheuren.

Kommt nie zurück. — Denn —

Es sind am heutigen Tage drei Jahre und drei Tage her, als er Dich zum erstenmal sah; im ersten Augenblick das Schicksal wissend, das ihn mit Dir zusammenfügte; im nächsten auch schon das Zweite: daß Du die Magnetnadel seist, die niemand einstellt als die Kraft. Das Dritte ahnte er damals nicht.

Daß es drei Jahre dauern würde, drei niemals endende Jahre der unaufhörlichen Qual. Und daß, wenn diese drei Jahre dann ein Ende genommen haben würden, das Feuer sich selbst verzehrt haben sollte und nichts mehr sein.

Daß Du aber an ihrem Ende kommen würdest, ausgestoßen, aus einer ganz verschütteten Welt, in sein Haus, schon wissend — und doch es nicht begreifend —, daß niemand mehr war als Du und Er.

Und daß zwei Nächte der vollkommenen Hölle sein würden, Tür an Tür mit Dir und — genug!

Und danach die Erkenntnis.

Und danach die Angst, daß nun das Unselige kommen würde, nun, nun! daß die Nadel sich einstellen werde in diesem Augenblick, in jedem nächsten, der bevorstand. Und die Angst, daß die Erkenntnis ein Irrtum sei. Und so lag er über der Asche Tage und Nächte, blies und blies, bis dann beide Ängste ihn hinüberrissen zu Dir, um — was? Vielleicht — nur zu gestehn. Vielleicht wegen der Erlösung.

Da aber war die Insel. Da war die Erkenntnis ein Irrtum gewesen. Da kam der Flug in die Flamme. Und durch die Flamme. In das zeitlose Eis.

Da war sie doch wahr gewesen, die Erkenntnis.

Noch ist zu sagen von einer Flucht und einigen Tagen sinnlosen Kampfes um das, was längst nicht mehr war.

Und zu sagen vielleicht von der ruhigen Kälte Eines, der drei Jahre im Feuer stehn sollte — ganz kalt.

Und vom Ende und diesem Briefe, der keine Namen hat. —

Viertes Kapitel: November

Cornelia Ring an Magda

auf Hallig Hooge, am 1. November

Liebe Magda, heute will ich nun daran gehn, Ihren Wunsch zu erfüllen und von uns Allen hier, besonders von Ihrem Freund Georg einen möglichst ‚naturgetreuen‘ Bericht zu geben. Es ist später damit geworden, als ich dachte, aber Sie werden einerseits daran sehn, daß nichts Beunruhigendes zu melden war und ist, und andrerseits sind es ja immerhin sechs Menschen und drei Häuser, für die ich nun haushälterisch aufzukommen habe, das reicht schon für den Tag.

Ich beginne mit Bogner, und über ihn glaube ich Sie recht beruhigen zu können, jedenfalls was seine Gesundheit angeht. Ich mache ihm täglich nach wie vor selber seinen Verband neu, da Frau Tregiorni den Anblick nicht ertragen kann, begreiflich bei ihrem Zustand, und sehe, wie es eigentlich täglich besser wird. Er selber klagt auf Befragen noch immer über Schmerzen beim Gehen, aber an Stellen, wo wirklich nichts sein kann außer schmerzlicher Gewohnheit von früher her, vom Liegen oder so, das Loch im Rücken braucht natürlich Fleisch zum Ausfüllen, und da er so wenig ißt ... Doch denk ich, es wird schon werden, ich habe da allerdings mehr Vertrauen als er — obgleich er nicht davon spricht, weiß ich, daß er noch immer der Meinung ist, es gehe mit ihm zu Ende —, aber ich kenne einen ganz ähnlichen Fall aus Erfahrung.

Frau Tregiorni ist recht still geworden. An ihr zeigen sich alle Leiden dieses Zustands, Fröste, Fieberschauer, plötzliche Ängste, immer wieder Übelkeit, Abscheu vor diesem und jenem, heut einer Speise, heut einem Kleid, oder vor Menschen, nun — Sie werden wissen, wie das zu sein pflegt, und daß es an sich nicht besorgniserregend ist, obgleich ich schon sagen muß, daß es mehr ist als gewöhnlich.

Ja, und nun Georg. Sie möchten, daß ich ihn recht genau beschreibe, und in so etwas habe ich freilich gar keine Übung, wie denn meine ganze Berichterstattung wohl daran leiden wird, daß ich das Schreiben gewöhnt bin in allen möglichen Sprachen, nur nicht in der deutschen; es ist merkwürdig, wie wenig man doch weiß von einer Sprache, die man beständig spricht, und wie farblos mir selber alles klingt! — Körperlich scheint es ihm, Georg, ganz gut zu gehn; er klagt nur über Schlaflosigkeit. Das würde ich auf die See schieben — sie ist seit Ihrer Abreise fast ununterbrochen stürmisch gewesen —, aber er behauptet, „ohne die See könnte er nicht leben“. Ich kenne ihn ja auch wenig.

Aber ich kann wohl sagen, daß ich erschrak, als ich ihn zuerst hier wiedersah und kaum erkannte. Daran war allerdings hauptsächlich der dünne, rötliche Bart schuld, der ihm ums Kinn gewachsen ist, und der sein Gesicht älter macht, auch weicher und leidender. Am linken Mundwinkel hat er ein nervöses Zucken bekommen, indem es die Unterlippe ruckweise nach links zerrt, oft drei, viermal nacheinander, dann wieder versucht er es zu unterdrücken, und so kann man daran immer erkennen, wie sein innerer Zustand ist. Die Augen, die erst erschreckend eingesunken waren, kommen nun langsam wieder hervor, weil die Wangen etwas fleischiger werden. Wenn ich Ihnen nun noch sage, daß sein Haar über den Schläfen dünner geworden ist und um die ganze Stirn zurückgewichen, so werden Sie ungefähr wissen, wie er aussieht. Fast scheint es mir, er ist noch gewachsen während seiner Krankheit, das wäre ja nicht unmöglich, er ist nun fast einen Kopf größer als Sie und ich und dabei so schmal!

Es ist ja furchtbar schwer, im Innern eines Menschen zu lesen, dessen ganze Natur so wie die seine durch Erziehung und Vererbung darauf eingestellt ist, sich zu beherrschen, aber ich kann doch erkennen, daß er Unbeschreibliches erlitten haben muß und noch immer leidet. Er ist nun, wenn man mit ihm spricht, von einer solchen — ja wie sage ich nur? — Demut, möchte ich fast sagen und weiß doch nicht, indem ich das Wort schreibe, wie und wo ich sie gesehen haben will. Er hat eine so unbeschreibliche Gebärde, wenn jemand ihm erzählt, so von Menschen, die man kennt — er will immer von Menschen hören und lauscht dann mit einer fast glühenden Angespanntheit, als ob er das Wichtigste lernen und nichts vergessen müßte —, so eine Gebärde, wollt ich sagen, mit der er dann die Hand hochhebt und einen ganz vertieft ansieht und sagt: Ja sehn Sie! — mit dem Ton auf sehn —, aber es läßt sich wohl nicht beschreiben, und ich will nun aufhören, Sie werden sich schon gewundert haben über all das wirre Zeug. Ein wenig betrübt es mich schon und beunruhigt mich auch, von Ihnen und Fräulein Renate so gar nichts zu hören seit Ihrer Abreise, und ich hoffe nur, daß dem nicht etwas Schlimmes zugrunde liegt!

Ich hoffe nur, daß Sie nicht ganz unzufrieden sind mit meiner Berichterstattung, die wie gesagt besser sein würde, wenn ich unglückliches Menschenkind eine eigene Sprache hätte, aber das ist nun zu spät. Ich grüße Sie und Fräulein Renate recht herzlich! Ihre

Cornelia Ring

Georg an Benno

Mein lieber Benno, wie geht es denn Dir? Teuerster Benno, die See ist des Teufels! Heute nacht — ich hatte der Abwechselung halber einmal ein paar Stunden geschlafen — fing ein großes Rumoren an, und als der sogenannte Morgen kam — ‚ein Ding, das wie Nacht ist aus Lehm‘ —, war der Teufel los. Ich hause nämlich gewissermaßen auf einer Insel jetzt, ja, das wäre schon etwas andres als Serk, wo wir triumphierend wie die Vögel in der Höhe schwebten, sondern dies hier ist nichts weiter als ein kleiner Teller voll Erde, mitten und unten in der Unermeßlichkeit rollender Wasser, rundherum ist ein besondrer Wall, auf dem Wall ein Turm, in dem Turm ich, nicht völlig mir selbst überlassen, sondern ich habe allerlei Gesellschaft, als da sind: zwei Ziegen, eine Kuh, verschiedene Hühner, ferner Bogner, Ulrika, ein besonders notwendiger Hauptmann namens Ferdinand Rieferling, eine junge Dame mit Namen Cornelia Ring und mehrere Tote. Mein Turm steht auf dem Deich, und stehe ich auf dem Turm, so habe ich naturgemäß das ganze Panorama unter mir: Himmel, grau und schwarz in fürchterlicher Aufregung, ein unsagbares Fluchtgetümmel von Lapithen und Giganten, die vor Raserei sämtlich in Fetzen gehn, und darunter die ruhmwürdige Winterschlacht der bodenlosen Gewässer. Wie wäre es, wenn Du kämst? Hier säßest Du, wie gesagt, mitten darin und schlottertest vor Angst, die Wüstenei überrennte Dich kaltherzig im nächsten Augenblick; die Seele wird sich Dir umkrempen wollen (Notabene bist Du sicher, eine zu haben?), und wenn Du Dich nicht an der Brüstung hältst, so reißt Dich das riesige Saugen der Aussicht ins schwarze Brodeln hinunter. Tausend Satanasse von Gischt siehst Du da herumtanzen und denkst: Wie einfältig ist doch das Land gegen die See, eine fromme milchende Kuh gegen einen tollwütigen Stier. Hundert Millionen in Raserei aufgelöster Büffel sind hier zu sehn, wie sie herantaumeln, nichts in den Hirnen als die aberwitzige Vorstellung, sich allhier die Schädel einrennen zu müssen, und schon ists ein Erdbebenfeld von Legionen zertrümmerter Mauern, die dahergeschoben werden von einer entsetzlichen Leidenschaft, alldas zerspritzt und zerknattert sich zu Deinen Füßen, und das Gebrüll steigt zum Himmel, daß er davonjagt. Alles siehst Du wanken, die bewohnte Erde ist allerseits spurlos verloren gegangen, nun berennt hier die See ihren letzten Widerstand, auf dem Wir, die Letzten, herumkriechen wie die Raupen. Allein getrost! Begeben wir uns vom Turm hinunter ins Wiesental, so ist alles schon wieder ganz sanft geworden, ein wenig öde, ein wenig trostlos, aber der Teufelslärm hat sich gelegt und ist zum Orgelrumoren geworden.

Du solltest wirklich kommen! Wie war das noch? Vor einem Jahr ungefähr schriebst Du mir einen Brief in einer besondren Zeit, wo ich keine Briefe zu empfangen gedachte, und siehe da, ich war gekränkt. Nun haben wir wieder eine ähnliche Zeit, wo ich um Dein freundschaftliches Schweigen ersuchte, und Du schweigst wirklich, und ich bin auch gekränkt. So ist das Leben! Was tust Du? Korrepetierst Du fleißig mit Deiner Elfe das ewige Paternoster: Ich liebe Dich, du liebst mich und so weiter? Nein, laß das, es führt ja zu nichts, komm hierher, hier läßt es sich trefflich rasend werden, und paß auf, ich will Dir mein Haus beschreiben!

Stelle Dir vor: einen Turm, achteckig, nicht eben hoch. Kleine Tür, Du trittst ein und befindest Dich in einem großen und hohen Achteck, das dunkel scheint, nur von rechts und links und Dir gegenüber zerschnitten von bleichen Lichtbalken aus drei, nicht eben großen Fensterscharten, die gut ihre anderthalb Meter tief sind, denn so dick sind die Mauern, und außerhalb enger als innen. Sie liegen genau nach Norden, Westen und Osten, die Tür im Süden. Die Wände sind dunkelbraun getäfelt, in der Höhe befinden sich rundherum die vor Altersschwärze kaum noch erkennbaren Bildnisse der sieben Planeten. Die vorhandenen Möbel, bestehend aus einem Schreibbüro, rechts vom nördlichen Fenster, einem Ohrensessel irgendwoanders, einem runden Tisch in der Mitte des Raums nebst drei Stühlen, genügten dem letzten Wohner, genügen demnach auch mir. Eine eiserne Geländertreppe führt durch eine Luke in einen gleichen Raum, der als Schlafzimmer eingerichtet ist, und weiter hinauf zur Plattform des Daches. Der runde Tisch aber im unteren Zimmer ist besonders geeignet, immerzu rundherum zu laufen, es ist auch Platz genug für einen zweiten Läufer, also komm, Benno, wir laufen zusammen, einer so herum, einer so, wie die Daumen.

Was jedoch tue ich, wenn ich nicht laufe? Entweder ich laufe doch, bloß anderwärts, nämlich allein oder mit der gewissen Cornelia außen um den Deich, was bei Ebbe manchmal geht, aber wir müssen uns bei jeder siebten Welle an die Deichwand klemmen, — oder ich schreibe meine Memoiren. Memoirenschreiben ist wichtig, oder wie? Ein Mensch stirbt, keine Memoiren, was kommt zu Tage? Er hat gar nicht gelebt. Augenblicklich bin ich leer, darum schreibe ich erstens an Dich, und werde ich zweitens anfangen, Aussprüche von Bogner zu sammeln. Er tut immerfort ganz bedeutende Aussprüche. (Früher war er nicht so, nun ist er redselig geworden.) Willst Du einen? Da hast Du: Bei Gelegenheit unermeßlicher Ruhmreden auf allerlei Maler, darunter Kokoschka (ach, wohin verschwand mein früher so ebner und stetiger Bogner, nun ausschweifend in Empfindsamkeit und Erschütterungen?), verglich er dessen Bildnis des Schriftstellers P. Altenberg besonders trefflich mit dem ‚Hinterteil eines Engels in einem Gestrüpp‘. Die Gesichter auf Kokoschkas Bildnissen, sagte er fernerhin, seien allesamt ohne Haut, das wolle sagen, er ziehe die Haut davon ab und sehe darunter nichts als wimmelnd zuckendes Schicksal und Leben der Seele, — so ungefähr, ich werde von nun an mehr acht auf die Worte geben. Bogner ist ein seltner Mann!

Und kurz und gut, ich will Dir sagen, wie es mit Bogner steht. Er ist verrückt. Platterdings, es läßt sich nicht anders ausdrücken. Mit einem Wort: fixe Idee. Plötzlich nimmt er mich beiseite, das heißt, er führt mich von Ulrika fort in ein Nebenzimmer, legt mir die Hände auf die Schultern, sieht mich trübe prüfend an und fragt: Was meinst du, Georg, sie wird es doch gut überstehn? — womit er das Kind meint, das sie kriegt. (Beiläufig hat er mir nämlich Brüderschaft angeboten, und siehe da, so wandeln sich die Zeiten! Einst, als ich ein pickliger Hering war, wie verging ich in Ehrfurcht vor diesem besondersten Mann, und nun, wo ich inzwischen so heruntergekommen bin, daß ich keinen Bissen mehr von mir annehmen mag, da stellt er mich zur Rechten seines Throns und bezeugt mir sein Wohlgefallen. Wie besonders ergötzlich, zumal wenn man bedenkt, daß es mein telemachisches Zwerchfell natürlich doch kitzelt!) Also, ich antworte: Glänzend! sie übersteht es glänzend! — Er nickt vor sich hin, sagt: Und ich, Georg, was hältst du von mir? — Ich — wie oben und so weiter ... Lieber Georg, sagt er da trübsinnig, du irrst dich. Dies ist bloß Schein. Und, sei nicht traurig, sagt er so in seiner besondren Weichmütigkeit, aber — kurz und gut: mit mir ist es aus. — Ich bin sprachlos, murmele einiges, und da fängt er tatsächlich an, mir seine Idee zu entwickeln. Nämlich erstens: Geistig zeugerische Menschen dürfen keine Kinder haben. — Das nannte er ein Naturgesetz. Man, sagt er, darf nur auf eine Art zeugen. Gesetzt also, ich zeuge trotzdem auf eine andre, so ist damit bewiesen, daß die meine nicht gilt. Ich bin verworfen, sagt er unfehlbar, und geht und sitzt am Fenster bei den Fuchsien in Gestalt eines alten, gebrochenen Mannes. Mir brach das Herz, und er fährt mit einer feierlichen Wehmut fort: Sie — wird leben, und was aus ihr kommen wird; ich sterbe. — Ja, so stellte es sich ihm dar: sein Leben hört auf, das des Kindes fängt an. Worauf er anfängt, es mir andersherum zu beweisen.

Einsamkeit, sagt er, ist das Gesetz des Arbeiters im Geist. Dies, sagt er, habe ich an mir erprobt gefunden, denn immer, wenn ich versuchte, mit andern Menschen eine Verbindung einzugehn, gab es Unheil für sie und für mich. So auch jetzt, und jetzt das besonders Böse: Als ich mich mit Ulrika verband, tat ich unwissend etwas, an dessen äußerstem Ende mein Tod erschien. Ich legte Hand an meine eigne Form, ich zerstörte sie. Ich, schloß er, habe selber auf mich geschossen, nicht der Andre.

Und dann wieder von vorn und hundert Mal immer das gleiche in andern Gestaltungen.

Die Verwandlung dieses von mir geliebten Menschen ist zum Grausen. Früher die Stetigkeit selber und Feste, eine gotische Burg, ist er nun wie ein Erdhaufen, unter dem der Maulwurf arbeitet. Ich kann nicht umhin, unsrer ersten Gespräche vor Jahren zu gedenken. Damals — den Inhalt vergaß ich —, damals aber jedenfalls war ich der besondre Dialektiker, nicht ganz ungewandt, wenn ich auch heute weiß, daß meine Einfälle sich assoziativ einstellten, vermittels Luftwurzeln sich fortpflanzend, anstatt aus unterster Wurzel zu treiben. Heute kann ich mir immerhin einen gewissen Zwang nachrühmen, jeden Gedanken auf seinen Ursprung zu prüfen, er dagegen ist von einer Spitzfindigkeit ohnegleichen und fängt die Behauptungen aus der Luft, weil sie da funkeln. Zum Beispiel folgendes:

Nämlich die Rede war von dramatischer Kunst. Ich weiß was, sagt Bogner, das Drama ist die leibhaftigste, menschenhafteste Kunstform, und darum hat es fünf Akte wie die Hand fünf Finger. — Blendend, nicht wahr? Übrigens, fährt er fort, ist es dir auch schon einmal aufgegangen, daß sich das Drama zum Epos verhält wie das Gebirge zur Ebene? — Aufgegangen nicht, sage ich, aber wo du es sagst, kommt es mir ganz bekannt vor. — Denn siehst du, fährt er eifrig fort, so ein Trauerspiel ist wie eine Gebirgswanderung. Da giebt es überall Plötzlichkeiten, Täler, Abgründe, Schroffen, halsbrecherische Stege, einsam emporstrauchelnde Seelen, Anseilungen, und die großen unverhofften Ausblicke in dampfende Tale, Ängste und Entzückungen, mit einem Wort: Tragödie.

Als Einfall wieder blendend, wie schon bemerkt. Ich aber sagte, ohne mich zerblitzen zu lassen: Und aus diesen Gründen schrieb ja auch der Bergschotte Scott seine langen Romane, der Tiefländer Shakespeare dagegen Tragödien, Epen die Bergschweizer Keller, Meyer und Spitteler, der Tieflandfriese Hebbel dagegen nebst dem Märker Kleist Dramen, ebenso wie Grillparzer vom sanften Kahlenberge. — Bogner war ganz elend von meiner Beweisführung und wollte sich kläglich herauslügen: Keller hätte vor der Ebene gesessen (ich schrie: aber Blut und Geburt!), Shakespeare wäre als Genie überhaupt unkontrollierbar, Kleist hätte Novellen geschrieben und einen verloren gegangenen Roman (was der alles weiß!). Spittelers Werke wären erfüllt mit alpiner Landschaft und Scott überhaupt bloß ein Schriftsteller gewesen, und vor allem hätte ich vergessen: Balzac, Dickens und Dostojewski aus dem breitesten Flachland. — Ja, so spitzfindelten wir herum, und er schloß mit der tiefsinnigen Frage, ob das vielleicht deshalb so sei — wenn ich nämlich doch recht hätte —, weil, wie der Bauer seine Natur so gewohnt wäre, daß er ihrer nicht mehr gewahr würde, so auch der Dichter — und so weiter ...

So viel vom Bogner. Ja, aber Benno, was muß ich da sehn? Du sitzt und liest und liest an einem Brief, und am Ende stellt sich heraus, daß Du ihn gar nicht gekriegt hast! Nein, ich werde mich hüten, ihn abzuschicken! Eine andre Form der schriftlichen Niederlegung meiner vor Gewohnheit ächzenden Seele wars, Benno, sonst nichts!

Aus den Papieren Georgs

(von Bogner)

„Georg,“ sagte Bogner fast traurig zu mir, „ich glaube, du hast einen großen Fehler. Du willst zuviel wissen.“

Wir hatten nämlich halbe und ganze Nächte alles Denkbare bis ins Undenkbare erörtert, und ich dachte, als er mir diesen besondren Fehler vorwarf, ich hätte das auch tun können. Ich sagte deshalb, bloß um etwas zu sagen: „Wie kommst du darauf?“ Aber diese Frage war ihm grade recht.

Nämlich in seinem Zimmer steht eine alte, hölzerne und geschnitzte Wiege, die Ulrika langsam mit den fertig werdenden Kleidungsstücken für ihr Kind anfüllt. Vor dieser Wiege saß ich eben, bewegte sie mit der Hand hin und her und fragte mich, warum das eigentlich angenehm für Kinder sei, gewiegt zu werden, da die selbe Bewegung doch für den größten Teil der erwachsenen Menschheit unerträglich sei, nämlich an Bord der Schiffe auf See.

„Nun möchtest du nämlich wissen,“ sagte Bogner freundlich, „warum die Wiege hin und her geht. — Und ich weiß es“, setzte er leise hinzu.

Als ich aber nun um die Erklärung bat, wehrte er ab. „Du willst zu viel wissen, Georg, und weißt du, was du tun wirst? Du zerstörst dir deinen Gott.“

„Weißt du denn, wer mein Gott ist?“

„Alles, was dir unbegreiflich ist. Alles Rätselhafte in dir ist Gott.“

„Ach,“ sagte ich, „dann werde ich ihn nicht zerstören, sondern im Gegenteil, ich werde ihn nur wachsen machen, denn je mehr ich davon in Erfahrung bringe, um so ungeheurer werden die Umrisse im Dunkel. Sag mir, was ist mit der Wiege?“

„Du mußt,“ erklärte er nun, „wenn du es wissen willst, nicht die große Frage nehmen, sondern die kleine. Unbekannt? Also werde ich dich sie fragen: Warum geht die Wiege hin und her, von links nach rechts, nicht auf und abwärts von vorne nach hinten?“

Diese Frage kam mir schon so besonders vor ... Aber ich wußte keine Erklärung.

„Weil“, sagte er da, „die Mutter, die in ihrem Leibe das Ungeborene trägt, es wiegt, indem sie es von einem Fuß auf den andern bewegt im Gehn, von links nach rechts. Aus diesem Grunde lieben wir diese Bewegung, wenn wir geboren sind, dann erinnern wir uns an vorher.“

Ich dachte noch: Das Kind fühlt sich in der Wiege, wie in der Mutter; und es glaubt, was es fühlt; aber der Mensch hat freilich Erfahrung und ist so groß geworden, daß er selbst im Meere sich nicht mehr fühlen kann, obwohl er ganz darin ist, denn er ist nun nur noch in sich selbst, und er glaubt an nichts mehr.

Ich kann aber nicht sagen, wie sehr mich diese Erklärung Bogners ergriff, ja erschütterte. Sie traf mich wie ein Blitz, und eine Sekunde lang wußte ich alles. Das war, als hätte die vorher immer grenzenlose Welt plötzlich ein ganz nahes Ende genommen. Dort, in der Mutter, war alles zu Ende.

 

Ich fragte Bogner heut in Erinnerung an das Gestrige, ob er an Gott glaube. Er sagte, wenn ich ‚glauben‘ gleichsetzte mit Fürwahrhalten, so könne er nicht sagen, daß er glaube.

Ich fragte: Warum?

Er sagte erst nach einer Weile: „Ein religiöser Mensch, mit dem ich einmal über das Jenseits sprach, meinte, ich glaubte daran nicht, weil meine hiesigen Sinneswerkzeuge nicht imstande seien, mich über das Dortige aufzuklären und mir Beweise zu schaffen.“

„Das war nun nicht der Fall“, fuhr Bogner fort. „Zwar bin ich der Meinung, daß es sinnlos ist, mich in meinen Sinnen mit Dingen zu befassen, die für eben diese Sinne unzugänglich sind. Ich habe aber eine Seele. Und warum ich diese Seele mit einem Dort beschäftigen soll, da sie im Hier vollauf Arbeit und Nahrung und Wachstum findet, das allerdings ist mir unerfindlich. Warum aber tun dies fromme Leute wie jener Frager?

„Sie tun es deshalb, weil eben ihr hiesiges Dasein ihnen keine Gelegenheit bietet, oder im Verhältnis ihres übervollen, sorgengefüllten Daseins zu geringe Gelegenheit, um sie zu betätigen, ja nur zu empfinden. Zu Essen und Schlafen, Sichbegatten und Plagen, zu Büroarbeit, zu Kinderschelten und -kleiden, zum Spaziergang und Musikkapelle haben sie eine Seele nicht nötig. Vielleicht daß sie es meinen, aber alledies und noch viel feinere Dinge würden sie mit der Vernunft allein und ohne Seele genau so gut besorgen, und die Tiere tun das in ihrem Maße, zum Beispiel die Ameise oder der Biber. Aber doch wissen sie von der Seele durch den Tod. Sie sind arm und wollen reich werden. Sie sind so arm, daß sie sogar einsehn: für einen Reichtum der Seele ist in diesem Dasein kein Platz. Sie müssen selber wider Willen einsehn, daß sie ihre Seele hier nicht brauchen können. Wäre Mitleid von allen Lebensvehikeln nicht das gefährlichste, so könnte man Mitleid mit ihnen empfinden.

„Ich,“ sagte er langsam, „ich war ein glücklicher Mensch. Ein reicher Mensch. Ich brauchte auf keinen dortigen Reichtum zu sinnen. Ich habe durch über zwanzig Jahre meines Lebens jede Stunde und Minute jedes Tages meine Seele gebraucht. Ich war reich“, schloß er traurig.

(Dieweil er ja denkt zu sterben und also zu verarmen; er kommt immer zur selben Stelle zurück.)

Ob das alles sei, woran er glaube, fragte ich bald, um ihn abzulenken. Er schwieg lange. Endlich sagte er:

„Ich glaube ja nicht. Ich — bedarf. Du und ich, wir bedürfen des Göttlichen.“

„Und das ist?“

„Ich sage es ja: das Geheimnis. Es giebt die unbekannten Dinge, vor denen dich schaudert. Es giebt dich und mich selber, die wir uns so unbekannt sind, daß uns schaudert, wenn wir diese Stelle berühren. Warum mußte ich malen? Wenn ich diese Stelle an mir berührte, so sagte Gott: Ja. — Und ich sah ihn golden eingehüllt in sein Rätsel. Warum kann ich nicht mehr malen? Ich habe die Gnade verloren.“

Immer die gleiche Stelle. Er weinte. Wir wurden unterbrochen und kamen an diesem Abend nicht weiter.

 

Da wir heute von großen Menschen vergangener Zeiten sprachen, so malte Bogner in einer unbeschreiblich wunderbaren Weise von manchem das Wesen, mit Bildern aus drei Worten oft, wie ich es nie von ihm hörte (und immer mit diesem leichten Zittern von Tränen in der Stimme, das er jetzt bei solchen Gelegenheiten hat), und ich erinnere mich nur noch, wie er Hölderlins äußerlich rührend dürftige Gestalt hinstellte als einen abnehmenden Mond am Abendhimmel, dessen ganzes volles Rund doch im Unendlichen schwebe; wie er Jean Paul nannte: einen Pfauenschweif aus Regenbögen, und Novalis die Narzisse mit den Zeichen der Passion in Blüte verwandelt, — worauf er dann mir ganz unvermutet in Klagen ausbrach, daß es nur früher Menschen von solchem Seelenadel, solcher Reinheit, Größe, Süße und Einfalt gegeben habe. Ich mocht es nicht glauben, widerstritt aber nur unvollkommen: eben heute hätten wir andres ...

Er seufzte. Was das für ein sinnloser Einwand sei. „Du vermissest eine Blume und sagst: aber jetzt habe ich einen Edelstein. Ist nicht das Dasein jedes Dinges gegründet auf seine Notwendigkeit? Gäbe es überhaupt etwas, das wert wäre zu sein, wenn es einen Ersatz dafür gäbe? Gut aber, du sagst, du habest jetzt den Edelstein, und eins machst du damit natürlich klar: daß der Edelstein, den du kennst, im Augenblick für dich einen solchen Wert hat, daß du den der Blume, die du nicht kennst, gar nicht begreifen kannst. Und so hättest du recht. Und noch aus einem andern Grunde sogar wirst du recht haben, denn du hast den Verstand für dich, der dir sagt: ich lebe heute; also muß das Heutige mir wert sein. Ja, Georg, der Nüchterne, der Unbewegte, oder der sich so stellt, der hat immer recht, wenn er linker und rechter Hand aufs Fluten hinabsieht und sagt: da und dort ist gleiche Stromgeschwindigkeit. Wen aber eigne tiefe Wallung der Stunde selber hineinriß in die Strömung, der hat nur das Jauchzen — nach vor- — und das Klagen — nach rückwärts, und morgen, Georg, morgen, wenn du im Strome liegst und ich am Ufer stehe, wirst du mit meinen Worten zu mir aufjammern, und ich werde dich und mich Lügen strafen.“

 

Ich fand Bogner über einer Bibel am Tisch; er schien auf mich gewartet zu haben, denn er sagte gleich: „Da habe ich die ganze Schöpfungsgeschichte gelesen, und weißt du, was ich gefunden habe? Es werden alle erschaffenen Dinge aufgezählt, aber ein ganz wichtiges ist vergessen. Es könnte vergessen scheinen“, verbesserte er sich. „Wenn ich es dir nenne, wirst du seine tiefe Bedeutsamkeit erkennen. Ja,“ fuhr er eifrig fort, „angenommen, dies ist der Fall: ein Ding, das wir von Gott erschaffen glauben, wurde bei der Aufzählung des von ihm Erschaffenen nicht genannt, was muß die Folge sein?“

„Daß er selber dies Ding ist.“

„Gut, Georg!“ Er lobte mich. „Und nun weiter: Was tat Gott, nachdem er den Menschen aus Lehm geknetet hatte? Er machte ihn lebendig. Wodurch? Dadurch daß er ihm seinen Odem einblies. Was aber war dieser Odem?“

Ich sagte: „Die Luft.“

„Und die Luft,“ rief er, „die ist das Ding, das nicht aufgezählt ist unter den erschaffenen Dingen, wo doch Sonne und Sterne, der Himmel, das Meer und das Feste und was auf dem Festen wuchs, alles aufgezählt wurde. Konnte etwas wachsen, konnten Tiere sein ohne Luft? Dennoch wurde die Luft für den Menschen, für Gott vorbehalten, denn der Mensch war für den Schreiber dieser Geschichte das einzig wahrhaft Lebendige, und das Leben kam ihm und nur ihm mit der Luft. Und siehst du wohl,“ fuhr er fort, „auf schlechten Bildern, Bildern, auf denen doch alles recht und deutlich gemalt ist, was scheint dir daran zu fehlen? Die Luft. Und sie fehlt sogar auf den Bildern der einfältigen Meister aus Niederland und Köln, aber warum vermissen wir sie doch nicht? Weil sie nicht nur die Gabe hatten wie die nichtswürdigen lustlosen Maler von heut, sondern etwas ganz Einziges: den Fleiß. Einen so großen Fleiß und eine so große Sorgfalt, daß er sogar die Luft und die Gnade ersetzte, denn im Fleiß war die Liebe, und in der Liebe“, schloß er triumphierend, „muß immer auch Gnade sein.“

 

Ich hatte Bogner aus dem Gedächtnis einige Gedichte von Stefan George gesagt, darunter zuletzt den ‚Tag des Hirten‘: Die Herden trabten aus den Winterlagern ... Schon bei der ersten Zeile sah ich seine Augen weit werden; bei der himmlischen zweiten: Ihr junger Hüter zog nach kurzer Frist ... legte er das Gesicht in die Hände, und als ich dann schloß:

Er krönte betend sich mit heilgem Laub,

Und in die lindbewegten, lauen Schatten

Schon dunkler Wolken drang sein lautes Lied ...

seufzte er dermaßen schmerzlich, als wäre ihm eine Welt untergegangen. Er sprach kein Wort mehr den Abend, und erst als ich schon gehen wollte, zog er mich auf einmal in die Arme, küßte mich und murmelte etwas, das ich nicht verstand.

„Du kannst doch auch dichten, Georg,“ sagte er dann, „du bist auch ein Dichter!“ Und hierbei beharrte er eigensinnig, obwohl ich es ihm lang und breit abstritt, daß ich wohl Verse schriebe, aber kein Dichter sei. Fast wäre er ärgerlich geworden. „Wenn du es weißt, Georg,“ sagte er, „wenn du weißt, wie es ist, wenn du Sprache hast, so mußt du es doch auch sein!“ beharrte er und wurde erst unschlüssig, als ich es ihm an Malern nachwies, die zwar das Handwerk hätten, aber doch nicht die Kunst.

„Das mag für Maler stimmen,“ meinte er dann, „aber doch nicht für die Sprache! Da sind Farben, Finger und Hände und Pinsel; was geht nicht alles verloren auf so weitem Wege, wenn einer nicht die ganze Kraft hat und Gottes Beistand. Aber in der Sprache ist alles! Sie allein ist unmittelbar und enthält doch eins im andern das Beide, sonst so Getrennte: Vernunft und Gefühl, verschmolzen im Tönen der Seele!“

„Die göttliche Sprache!“ fing er nun an. „Ja, das ist das Wunderbare an ihr, das unterscheidet sie von allen andern Künsten und erhebt sie zur höchsten: daß sie so unmittelbar ist. Nichts als der zaubrische Mund! Da ist der Mensch, allein, und er selber ganz und gar und allein ist: Instrument. Die Öffnungen einer Flöte mit den Fingern betupfen, auf den Saiten einer Geige die Finger so und so stellen, mit dem Bogen so und anders anstreichen, — was andres tut denn der Mensch, der redende, wenn er die Zunge so und so an den Gaumen, an die Zähne drückt, die Lippen weit oder wenig, rund oder schmal öffnet? Und er tut ja mehr! Im Instrument ist der Ton, er bringt ihn nur hervor, tut Wissen und Handhabung hinzu, aber die Sprache, die bildet er ja selbst, er bildet das Wort, ganz und gar, außen und innen, Zeichen und Sinn, und wie aus einer Blume, so duftet die himmlische Seele daraus hervor! Und ist der Mensch selber das Instrument, so muß einer sein, der spielt, wer ist das? Der Gott. — Allem Alltäglichen, allem Irdischen und Menschlichen abgewandt, ganz hingegeben dem göttlichen Spieler allein, an seine Brust gelegt wie die Geige, — wie durchrauscht ihn sein Tönen! ‚Die Herden trabten aus den Winterlagern‘. Sieh, das ist meine Sprache, alles ist da wie in meiner Sprache, aber vom ersten Hauche an fühlst, ja, noch ehe du die Lippen öffnest, fühlst du schon: es ist ein Andrer, der dir den Mund öffnet, und nun wird eine andre Sprache ertönen, erkennbar an keinem besondren Klang, oder Bild, oder Gedanken, sondern nur an diesem allein, diesem göttlichen Anderssein, das du so spürst wie — wie wenn du schlafend auf einen Stern versetzt wärest und erwachtest auf ihm und wüßtest gleich beim ersten Atemzug aus seiner Luft, aus der anderen Luft: du bist auf einem Stern. ‚Die Herden trabten aus den Winterlagern ...‘ Oh wie es da hervorduftet aus dem Unsichtbaren, wie am dunklen Morgen der Geist der Erdenkräfte schlafkühl duftet aus dem Schlummer der Geschöpfe. Jedes Gedicht aber, das so nicht ist, an dem man nur zu Stellen, wie den Kristall im Stein, das göttliche Dasein spürt, verkalkt, getrübt und unrein, ist Lästerung des Gottes, Georg, Vergiftung des Gottes, und sie wird sich rächen und die Seele dessen vergiften, der sie beging!“

„Du meinst mich“, sagte ich hierauf.

Aber nun wollte er es nicht gelten lassen.

 

Ich saß hinter dem Tisch auf dem Sofa, hatte die Ellenbogen auf der Platte, die Hände übereinander gelegt und das Kinn darauf, und so rauchte ich, und wir schwiegen. Auf einmal lächelte Bogner. —

„Warum lächelst du?“ fragte ich.

„Ich lächelte über dich“, gab er zur Antwort.

„Du hast nämlich“, fuhr er auf mein Ersuchen fort, „mitunter eine so erinnerungsvolle Bewegung beim Rauchen. Mitunter, wenn du die Zigarette aus dem Munde nehmen willst, dann nimmst du sie zwischen zwei steife Finger, und dann schiebst du die Lippen ganz weit vor, wie zum Saugen, und dann lösest du das an der Lippenhaut klebende zarte Papier langsam ab. Dabei saugst du dich innerlich ganz voll mit Rauch, und nach einer Weile strudelst du ihn von dir mit einem traurigen Seufzer.“

„Gott segne deine Augen, Bogner,“ erwiderte ich, „und was soll das alles?“

„Darin soll“, sagte er, „eine Antwort auf die Frage liegen: warum raucht der erwachsene Mensch? Es giebt ja Unverständige darunter, die nehmen bloß den Mund voll, aber der Wissende tränkt seinen ganzen Leib durch die Lunge mit dem schönen Gift. Warum, Georg? Aus Erinnerung. Er denkt an seine Kindheit und saugt wieder. Damals weiße Milch, heute braunes Gift. Und er muß den entseelten Rest des nur halb Verzehrten wieder von sich geben und tut es mit einem traurigen Seufzer.“

Bogner lachte bis zu Tränen, zog dann seine alte Pfeife aus der Tasche, die er nicht brauchen darf, betrachtete sie wehmutvoll und roch daran. Auch ich hatte erst lachen müssen, aber nun wurde ich von Schrecken ergriffen im Gedanken an das von der Wiege und der Mutter, und ich sagte: „Ja, ist es denn wirklich so, Bogner, daß mit unsrer Kindheit alles ein Ende nimmt, und wenn wir uns an Äonenfernes zu erinnern glauben, so war es nur zwanzig Jahr her?“

„Glaubst du das?“ fragte er. „Ich weiß es seit langem.“ Und er erklärte mir, daß er besonders deutliche Erinnerungen an früheste Kindheit hätte, und zwar nicht eingebildete nach Erzählungen Erwachsener.

Und da fängt er an, von den Erscheinungen seiner kindlichen Fieberträume zu sprechen, und sagt: „Da war nämlich das Große!“

Ich wäre gern in ihn hineingestürzt. Ich schrie: „Das Große! das kennst du auch? Dies entsetzliche schwarze Anwachsen und Riesigsein und —“

„Und dann der Gang, durch den man hindurchsoll, und der zu eng ist ...“

„Ein Gang war bei mir nicht,“ sagte ich, „bei mir war das Wälzen!“

„Nun, das ist gleich,“ meinte er, „es hat ja den gleichen Sinn.“

Ich schrie wieder: „Es hat einen Sinn? Welchen Sinn hat es denn?“

„Du siehst, daß es einen Sinn haben muß, denn wie könnten sonst wir Beide es erlebt haben? Und nicht nur wir Beide. Ich glaube, daß jeder Mensch es kennt, und zum Beispiel in dem Buch von Rilke, da steht es auch darin.“

„Ja, aber was ist es denn, mein Gott?“

Er sagt: „Die Geburt.“

 

Heute will ich nur aufschreiben, was mir eben wieder ins Gedächtnis kommt aus den ersten stillen Tagen dahier.

Wir befanden uns in der noch lauen Nacht ohne Sterne oben auf dem Deich über der Ebbe des Meers. Zwei Tütvögel, die unsre Anwesenheit erregte, kreuzten unaufhörlich über uns hinweg, jeder eine Zeitlang, wenn er über uns war, anhaltend und mehrmals seinen mißtönigen Klageschrei ausstoßend, — der einzige Laut in der Stille. Ich lag auf meinem Mantel, die Füße in der Richtung der unsichtbaren See, die Hände unterm Kopf, im linken Augenwinkel, mehr gewußt als gesehn, den Schatten des sitzenden Malers auf seinem Feldstuhl. Wir hatten — nicht das erste Mal — von Ulrika gesprochen, und er deutete mir wieder Züge ihres Wesens und das Ganze auf eine unendlich innige Weise des Wissens. Dabei war es aber immer, als ob hinter seinen Worten sich das bewegte, was er mir später ‚gestand‘, wie er sagte, das Geheimnis seines und ihres Lebens und Sterbens. An jenem Abend sagte er, er habe einmal in seinem Leben, vor Jahren, eine Frau so geliebt, daß er fast daran zu Grunde gegangen wäre; „und das“, sagte er, „schien mir später zuviel für einen Menschen, dessen Auftrag es nicht ist, Menschen zu lieben, sondern —“

Er schwieg, und ich glaubte das Ungesprochene richtig zu ergänzen, indem ich sagte: „die Kunst.“

Ich wandte mich zu ihm bei diesem Wort und sah nun sein eines Auge im Dunkel, der See zugewendet in einer Haltung des Kopfes, die mir besonders verzweifelt erschien.

„Nein, Mensch, wie kommen Sie darauf?“ sagte er dann. „Glauben Sie, einer wie ich — liebte die Kunst? Denken Sie bitte einmal an das, was Sokrates im Gastmahl Platos feststellt: daß man liebt, was man nicht hat. Was ich nicht habe, ja, das liebe ich freilich, und das ist: die Form. Die Vollkommenheit. Das ist jedes Bild, das ich noch nicht gemacht habe.“

Ich sagte nun einiges Unvollkommene und Verlegene, wie daß Kunst selber eben die Liebe sei, die alles, was sie nicht habe — ewig und ewig die Form — mit solchem Wahnsinn begehre, daß sie es darstellen müsse.

„Ja, den Dämon,“ sagte er leise, „wenn Sie den meinen, — den Dämon, der treibt und widersteht, den liebt man ja wohl.“

„Und übrigens“, fuhr er nach einer Pause gequält fort, „habe ich Sie eben belogen. Früher war das so. Nun, ja nun haben Sie recht, nun liebe ich die Kunst, die ich nicht mehr habe, und den Dämon erst, der mich verlassen hat, weil ich ihn verließ und zu Menschen ging.“

„Bogner,“ sagte ich und legte die Hand auf sein Knie, „Bogner, das ist doch nicht wahr!“

Ich setzte mich auf. Der Schatten schlagender Flügel, Weißes vom Vogelleib fielen aus der Nacht herunter, deutlich scholl der Notschrei. Bogner ergriff meine Hand und hielt sie fest. Er nickte dann langsam mit dem Kopf und sagte leise und geheimnisvoll:

„Wenn es einer begreifen könnte außer mir, — was wäre es dann?“

Meine Hand ließ er nicht los. Ich fand kein Wort, und er blieb verschwiegen. Aber meine Hand hielt er fest, daß es mich jammerte im Herzen, bis wir dann aufstanden und ins Haus hinabstiegen.

(Cornelia)

Bei einer Wanderung, auf langer Straße im flachen Land, kann es uns wohl begegnen, daß wir in weiter Ferne zu unsrer Linken oder Rechten etwas Menschenhaftes gewahren, nichts weiter als einen Punkt, der menschenhaft erscheint, ohne Bewegung, und der die Weile, während der wir ihn im Auge behalten, sich nicht verändert noch deutlicher werden will. Vergaßen wir ihn dann lange Zeit über andern sehenswerten Dingen umher, so gewahren wir ihn plötzlich gar nicht weit von uns auf einer zur unsern heranführenden Straße, deutlich genug, um ihn an Gang und Kleidern als einen Menschen, wie wir selber es sind, zu erkennen, und dann betritt er vielleicht keine drei Schritte vor uns unsre Straße, hält an und erwartet uns, wir reden uns an, wir finden Gefallen genug an einander, zusammen zu bleiben für ein paar Stunden, wir verstehen uns gut mit ihm, oder auch er erscheint uns sehr merkwürdig während der nun gemeinsamen Wanderung, und schließlich fällt es uns wohl zu unserer Verwunderung ein, daß wir hier zusammen gehn und gut Freund sind mit jenem Punkt, den wir vor zwei Stunden keiner Beachtung, keines Gedankens von Möglichkeit einer Beziehung für uns wert hielten.

Es sind heut Jahre her — nach der gewöhnlichen Berechnung nur Jahre —, da sah ich Cornelia ganz von fern, nicht deutlicher, als daß sie zu erkennen war als ein weiblicher Mensch. Auf einmal sah ich sie zu meiner Straße heraufkommen; hier war es, hier sollte sie wenig Schritte vor mir meine eigene Straße betreten, ich gewahrte sie schon deutlicher, so daß, wenn wir etwa am Vormittag zusammen um den Deich gingen, heut, oder morgen am Nachmittag Tee tranken mit den Andern, oder einer las vor und wir lauschten: daß ich dies und jenes schon sicher an ihr wahrnahm: den Schnitt ihres Mantels, die Form ihrer Stiefel, Besatz an der Bluse, ihr Haar, ihren in den Fußgelenken schwingenden Gang, ihre länglichen Hände, die Lockerheit des Daumens, das Rund ihrer Augen und ihren Blick. Langsam bildete sich so ein Ganzes aus vielen Teilen, dieweil wir uns nun entschlossen hatten, nebeneinander zu gehn, — erkennbar schon als ein Ganzes, obwohl noch manches Stück fehlte und zwischen den vorhandenen die Risse und Fugen noch ungeheilt schimmerten. Aber sie heilten, denn nun kam auch Teilnahme, das formenschaffende Gefühl, ein Wesen bildend langsam, das mir wohlgefiel, das meinen Sinnen wohltat, den fünfen und jenem unbekannten, nicht mit Namen zu nennenden, jenem Tastempfinden von Mensch zu Mensch, auf dem alle Möglichkeiten und Beziehungen der Menschen zueinander beruhen, der uns den andern Menschen atmen läßt wie ein besondres Arom in unserer Luft, und in dem dann bald die süße Flamme Ähnlichkeit sich gläsern erhebt, wie die Flamme der heißen Mittagsluft überm Wachholder der Haide, — sie zeigte sich über Cornelia.

Nun erschien sie mir schon besonders; nun erschien sie mir, meiner Veranlagung gemäß, vor allem: hübsch, und es deuchte mich angenehmer, beim Gehen die Hand in ihren Arm zu schieben, und so weiter. Es war bereits immer ein leises Freuen, wenn sie kam und zugegen war; was man sagte, dem hörte sie gut zu und gab die rechten Ergänzungen oder Erweiterungen, und so man nicht sprach, war sie’s auch zufrieden und schwieg. Sie war nämlich bereitwillig.

Morgens kam sie selbst mit dem Frühstück, ich lud sie zu bleiben, und sie blieb, dann stellte sich heraus (nämlich ich mußte fragen, von selbst gab sie nichts preis), daß sie selber noch nüchtern war, und nun mußte sie ihr Frühstück mitbringen. Erlaubte es irgend das Wetter, so erwarteten wir gemeinsam am Strande das tägliche Boot mit meinem Kurier, dort trafen wir den notwendigen Hauptmann, standen in unsern Mänteln und hochgeschlagenen Kragen gegen den Wind gedreht, froren erbärmlich und sahen uns gegenseitig immer röter anlaufen.

Nun und so weiter ...

Was aber war dann eines Tages anders geworden? — Nun hielten wir uns nämlich bei den Händen im Gehn, meine Stimme hatte den weicheren Ton der Vertraulichkeit, meine Hand das Recht, den vom Wind umgekrempten Mantelkragen zurechtzuschieben oder die schiefgewehte gestrickte Mütze gradezuziehn über ihrer Stirn, ohne daß sie oder ich dabei den grade begonnenen Satz unterbrach. Ich fand alte Gedichte und las sie ihr vor, ich kannte nun den besondren Ton ihrer Haut am Nacken, dort wo die Bluse sich ablüpfte, wenn ich ihr in den Mantel half. Ich kannte genau die Form ihrer Stirn und jede Bewegung ihres Mundes, und viele ahnte ich voraus und erwartete sie, und all dies ward mir sehr lieb. Ich erinnerte mich: dies hatte ich schon früher erlebt, und doch war es dadurch nicht abgenützt worden. Ich dachte aber nicht, daß ich sie küssen möchte, denn so besonders war mir noch von der Krankheit her.

Aber siehe da, plötzlich eines Nachts, schrieb ich diese Verse auf:

Diese Nacht aus dumpfem Schlummern

Fuhr ich auf: das Schweigen dröhnte

Mir ans Ohr, doch spürt ich: andres

Dröhnen, Fausthieb, Fausthieb draußen,

Zornig auf des Tores Bohlen

Jagte mich empor.

Gleich da wußt ich draußen stehen

Ihn vorm Tore, Eros, jenen:

Eros mit den Löwenfüßen,

Eros mit den Geierschwingen,

Eros mit dem Fackelantlitz

Donnerte ans Tor.

Am folgenden Morgen dann, siehe da gingen mir die Augen auf, und ich erkannte, daß sie weiblich war.

Bald darauf stellten sich von Augenblick zu Augenblick Worte oder Handlungen ein, die sich auf keine Weise besser begleiten ließen oder gar ausdrücken als durch einen Kuß, und ich küßte sie zum Dank, daß sie das Frühstück brachte, beim Gutenachtsagen, beim Morgengruß, beim Klettern über eine Buhne, beim stillen Hinaussehn über die See, kurzum bei jeder Gelegenheit. Küssen ist, wie wenns regnet; erst wenig, dann immer mehr.

Sie aber, sie hatte auf meine Veranlassung angefangen, mit mir zu frühstücken, mit mir spazieren zu gehn, sich vorlesen zu lassen, lange mit mir zusammen zu sein, schließlich auch sich küssen zu lassen und wieder zu küssen. Ich bedachte mich zuweilen, was in ihr vorgehen mochte. Sie äußerte nichts, außer auf Befragen. Und dies mocht ich nicht fragen, denn dann hätte der immer noch in der Entwicklung sich windende Satz plötzlich ein Ende genommen, ob mit Fragezeichen, Rufzeichen oder Punkt, — jedenfalls ein Ende, und ein ganz neuer hätte begonnen. Ich dachte: sie ist doch klug, sie sieht kein Ding halb, sondern rund, wie zum Beispiel auch den Mond, von dem man weiß, daß er rund ist, obwohl scheinbar eine Sichel. Nur: sie tat zu alledem nichts dazu. Sie schien immer mit allem zufrieden.

 

Ein Winterabend. Im Dunkel trat ich aus meiner Tür, ausgewiesen nämlich vom dortigen Eros. Unwandelbar dröhnte der Ozean. Das Tal unter mir schimmerte mattweiß, eine dünne Schneedecke war drübergefallen, es rieselte noch in der Luft, es war kalt. In der Tiefe zur Rechten zwei rötliche Rechtecke — die erleuchteten Fenster in Bogners Haus; in der Tiefe mir gegenüber ein gleiches. Dorthin ging ich; nicht daß ich erwartete oder verlangte, aber — was konnte nicht möglich sein?

Mir begegnete nichts unterwegs. Tote begegnen nicht, sie sind Wink. Ein roter Becher bei einem brennenden Leuchter ... nahe darunter ein niemals vergehendes Lächeln. Jedes Lächeln nimmt ein Ende zu seiner Zeit. Dies endete niemals. Siehe da, welch eine Schattengestalt über den Lichtern? Josef Montfort. Zwei Tote. Damals zusammen, heut wieder zusammen; so stellten sie sich mir dar.

Ich kam aber durch die hartgefrorenen, dünn schneeüberzogenen Gemüsefelder an das Fenster, das zu ebener Erde liegt, und schaute hinein. Irgendwo stand ein brennendes Licht. Der Raum war klein und niedrig. Sie stand vor einem geöffneten Kleiderschrank, hängte eine blaßrosa Seidenbluse über einen Bügel, diese in den Schrank hinein und schloß die Türen; lautlos, denn in der Nacht brüllte der Eros über die See. Da klopft ich ans Fenster. Sie kam und machte auf. Ich sagte wohl: Guten Abend! und: Noch nicht schlafen gegangen? Sie antwortete dies und das; wir küßten uns dann wohl.

Und es hatte nunmehr jene Frage zu kommen, die aussieht wie alle andren Fragen, die aber am unsichtbaren Faden weit hinter sich her etwas zieht, das nicht den geringsten Zusammenhang mit ihr hat. Ich fragte nämlich, ob ihr auch nicht kalt sei. — Sie konnte nun dies oder jenes antworten, es gab auf jeden Fall ein Gelenk, und sie sagte: Es geht — und Ihnen? — Nun tat ich scherzhaft, als ob ich gewaltig fröre, um Grund zu haben, sie fest an mich zu drücken, worauf sie wiederum — übrigens aus keinem besondren Grunde — tat, als ob ich ihr wehtäte, und sagte: Ich sollte lieber hereinkommen. Da schloß sich denn der Ring zur ersten Frage mit meiner letzten, (die ich jedoch erst nach einer Weile tat, damit sie auch recht bedeutungsvoll erschiene, und während der ich sie mit Behutsamkeit an dieser und jener Stelle des Gesichts küßte:) Ins Wohnzimmer oder in dieses?

Eine Antwort erhielt ich naturgemäß nicht. Aber nach wenigen Sekunden hatte die Erwiderung meiner Küsse einen andren Schmelz, und ich hielt einen andren Menschen im Arm. — —

Und als sie wieder lagen auf bekränzter,

Ermüdete, auf schmaler Lagerstatt,

Stand auch der Geierfittich sanft am Fenster

Und lächelte auf das erglänzte Watt.

Es schien nämlich (ganz nutzlos, aber doch überaus frohgemut und strahlend über seine Anwesenheit) schien der Mond vom Himmel herab, als ich wieder aus dem Hause trat, und geleitete mich mit meinem Schatten wie mit einer Hand fürsorglich durch das Tal bis nach oben vor meine Tür, wo er zurückblieb.

Wieder einmal aber, schlafesunbedürftig sitze ich nun in der langsam verhauchenden Wärme des Ofens, verzeichne eine Stunde dieses nie zu begreifenden Daseins, blicke von unten in die Lampe, bin besonders ruhig, allem Ewigen so fern, ein kleiner Mensch im Gehäus, und ich beginne fruchtlos zu staunen über die Ahnungslosigkeit unseres Seins.

Da doch immer wir selber es sind, die alles tun, was unser Leben ausmacht, wie unbegreiflich, wenn man sich hineinversenkt, scheint es, daß wir vom tausendsten Teil des allen, solange es gegenwärtig ist, nicht die wirkliche Bedeutung erfassen. Was würden wir sagen, wenn bei der Begegnung mit einer fremden Frau ein Dritter uns darauf aufmerksam machen würde, daß uns über Jahr und Tag ihre besondre Art, das Strumpfband zu verhaken, nicht unbekannt sein würde und keine besondre Sache, und daß wir zusammenschliefen in einem noch nicht einmal gebauten Bett?

Es geschieht auch wohl einmal, daß die gewohnten Zusammenhänge mit unsrer Umgebung und uns selber unvermerkt sich in nichts auflösen; wir sehen mit einem Schlage auf uns selber herunter wie von einem Stern, sehen uns und unser Erdendasein in einem fremden Licht, im Licht der Lebensart auf jenem Stern, und da kommt es uns so fremd und ohne Sinn vor, daß wir uns fragen: Dies sind die Dinge, die dorten vor sich gehn? Dazu wird dorten gelebt? Warum sind sie so? Welche Gründe haben sie zu all diesem? Was frommt ihnen dies? Was haben sie davon?

Antworten aber giebt es keine. Aber so erkannte ich auf einmal sie und mich ganz von oben in jener Stunde, wo ich mich neben ihr in dem bäuerlichen Schrankbett fand, ausgestreckt auf dem Rücken, die Hände unter dem Kopf. Ich hörte dumpf das Brausen der See. Ein Licht in einem Holzleuchter, bestehend aus einer größeren rot- und drei kleineren grünlackierten Kugeln als Füßen, bewegte leise die goldene Flamme mit gasblauem Kern im Luftzug der nahen Fensterfuge; dahinter hingen die stillen, weißen Gardinen hellbeleuchtet; es stand auf einem einfachen Tisch, hellblau gestrichen wie die übrigen Möbel, Stühle, Waschtisch, Kommode, Schrank — mit bunter Blumenmalerei — und hinter allen, die Wände empor, waren die stillen Schatten. Zwischen mir und der Wand im Bett aber saß, die Arme um ihre Knie geschlungen, das Kinn fast darauf, Cornelia, und ihre Augen, groß, rund und dunkel, waren ohne Bewegung auf das Licht gerichtet, von dem sie erglänzten. Sie sah aus, als wüßte sie genug. Weich und gerötet war die Haut ihres Gesichts. Sie sprach kein Wort wie auch ich. Und sie und ich, so enge beisammen, sie saß und ich lag, und wir dachten Beide weit weg unsrer Toten.

(Von Bogner)

„Rembrandt,“ sagte Bogner, „er mußte nur immer malen.“

(Ich hatte Bogner mit einem großen und roten Buch voller Wiedergaben Rembrandtscher Gemälde angetroffen, und wir sprachen darüber.)

„Er mußte nur immer malen, und um ja nicht nachdenken zu müssen über einen Gegenstand — denn was ihn anging, war immer nur das Eine: das Leuchtende, wie es aufblüht aus der Nacht! — so malte er unaufhörlich sich selber. Sieh doch nur,“ sagte er blätternd, „diese ungeheure Anzahl von Selbstbildnissen! Und nun sieh nur einmal, wie er es anstellt, Abwechselung zu gestalten! Hier, hier hast du drei, sieben, vierzehn Bilder aus benachbarten Jahren, aus demselben Jahr! Immer derselbe Mensch, und immer ein Andrer. Das ist die Kunst des Entfremdens. Ja, glaubst du, er hatte sich so verändert in so kurzer Zeit? Sieh doch an, was macht er hier? Er runzelt die Stirn, und schon wards ein andres Gesicht. Er setzt einen Hut auf, eine Mütze, einen Helm, eine Sturmhaube, und die geringe Veränderung, die der Kopfschmuck bewirkte, breitete er aus über das ganze Antlitz, und es gab neue Schatten, neue Lichtflächen, und schließlich bildete er sich alles nur ein und konnte Runzeln oder Falten oder Furchen, Glätten oder Rauhen oder Rundungen sehen, wo gar keine waren, gar keine. Sieh doch das hier! das —“ er lächelte, „ja, da haben sie darunter geschrieben ‚Bildnis eines jungen Mannes‘. Meinst du vielleicht, das wäre er nicht? Und hier —“ er zeigte auf ein Bild, unter dem ein Name stand, den ich nicht im Gedächtnis behielt — „das ist er natürlich selber! Seine ganze Phantasie — glaube mirs, Georg — bestand im Verändern. Sieh doch hier diese Landschaft mit den geisterhaften Bäumen! Das ist nicht wirklich und ist nicht empfunden, nur sein Dämon griff hinein, riß und bogs auseinander und stellte sich mitten hinein.“

Er schwieg, schlug langsam die Seiten um, und ich sah, daß er zu den Altersbildern gelangt war. Gleich darauf begann er wieder, furchtbar ernst:

„Und nun sieh hier das. Siehst du, da kam es! Jahrzehntelang hatte er Mummenschanz getrieben mit seinem Gesicht, und nun — nun sitzt plötzlich einer innen und verändert willkürlich, von innen! — Da! siehst du das? Wer ist das? Ihre Majestät die Ruine. Nun kann er sich jeden Monat malen und jede Woche, jeden Tag, ja, jede Stunde — es ist immer Verfall. Er zerfällt, er zerblättert fürchterlich, es bläht ihn auf, es sackt wieder zusammen, es glotzt aus ihm, es grinst, es schluchzt, es sickert, es bröckelt, es — zerfällt, zerfällt, und er — er malt es, malt es, er ist ganz blöd, er denkt bloß, daß ihm auch das Verändern jetzt abgenommen ist, und daß diese Art des Veränderns noch genialischer ist als die eigene Methode, und er malt, halb blind, besinnungslos, ein Schwamm, ein morscher Stumpf, der phosphoresziert! Sieh die Gesichter, diese Larven einer Armenhäuslergalerie, diesen Katalog aller Krankheiten, ohne Geist und ohne Seele, ohne Zukunft, ohne Gott, nur noch Schicksal, wütendes Schicksal des Malenmüssens, das in seiner leiblichen Hülle sitzt. Und malt er denn noch, er? Seine Hände malen, in seinen Händen sitzt das Malen und rast mit den Pinseln, ohne Farbe, ohne Leinwand, ein Stück Brett und nasser Lehm, mehr ist nicht nötig für den glorreichen Triumph seiner Hände, drin die Natter Gicht sich verbiß. Und so bis zum letzten die ewige Glorie: Licht! Licht! Licht! das die vergrämte Ruine mit Seelenblut überlodert, die goldene Quelle, das ewige Rieseln aus der Nacht — Gott im Himmel, Georg, wenn aus Baumstämmen vom Druck der Jahrtausende Kohle wird, und aus Kohle Diamant: so müssen seine Augen, als er endlich tot lag, zwei Demanten geworden sein, zu lauter kristallenem Licht gepreßt in der ewigen Faust.“

Er schwieg. Ich dachte: er spricht von sich. Scheinbar aber hatte er doch an sich selbst nicht gedacht; er machte jetzt das Buch, das er im Schoß hatte, zu, legte es vor sich auf den Tisch, trocknete die übergelaufenen Augen und sagte nun mit sanfterer Stimme:

„Immer muß ich bald auch an van Gogh denken, wenn ich mich auf Rembrandt besinne.“

Ich meinte, da er wieder verstummte, das sei wohl der Fall, weil für ihn das Malen so sehr das Einzige, so sehr eine Raserei gewesen sei wie für Rembrandt.

Das nicht, erwiderte er. Dazu seien sie doch von zu verschiedenen Größenmaßen gewesen. „Raserei, sagst du. Ja, aber bei van Gogh doch nur die eines Menschen, während die Rembrandts an den Niagara denken läßt oder auch an eine dieser gewaltigen Maschinen, die still zu stehn scheint mit allen Rädern und Riemen, obwohl sie in ungeheurem Schwunge ist, und die dabei so sorgsam, zart und genau arbeitet wie eine Spitzenklöpplerin. Van Gogh flackerte ja. Nein, ich meinte den Gegensatz, nicht ein Gemeinsames.

„Ihrer beider Wollust war — bis zum Äußersten, wie bis zu einem gewissen Grade in jedem Maler — das Licht. Da war nun van Gogh leider von einem blinden Teufel besessen, der ihn zwang, geradeswegs mitten hineinzusehn in das Licht — und das malen zu wollen. Und — siehst du — da flackerte alles und zerstob zu Myriaden bunter Funken. Ich weiß nicht, wie sein leiblicher Wahnsinn an ihm sich geäußert hat, aber ich könnte mir denken — weil er so besessen war von der flammenden Erscheinung der Sonne —, daß er im Irrsinn nichts andres gewollt hat, als geradezu die Sonne malen — wie er es zuvor versuchte mit Hülfe der Landschaft —, nämlich ihre flammend brodelnde Goldscheibe selbst und sonst nichts. Und so, verstehst du? hat er die Wahrheit doch nie gesehn.

Die Sonne, Georg, was liegt denn an der Sonne? Wenn ich blind bin, ist deshalb kein Licht? Die Sonne, hat sie nicht dunkle Strahlen der Wärme? Und der blinde Leib, hat er nicht seelische Strahlen eines Lichts? Was van Gogh sah, war die Erscheinung, das Sein, das seiende Licht, das von außen in ihn eindrang. Was liegt an ihm? Was ist selbst Dasein? Dasein ist nichts, Zeugung ist alles. Und — es zeugt, das Licht, das ist die Wahrheit! Es hat gezeugt — diese Erde, diese Wälder und Äcker und das Meer, jeden Baum, die Tiere und den Menschen und seine Seele. Es zeugte aus uns den Flammengeist, und es zeugte die Weiße der Narzisse; es zeugte die Wärme des Blutes und die Glut des Herzens. Die Wärme, Georg, die Wärme! Die aber hat er gefühlt, Rembrandt, und die hat er gemalt, Rembrandt! Er sah — die Nacht. Und in der Nacht sah er sich zeugen: das Licht, das ewige Juwel, die Wonne des erleuchteten Daseins mitten im Finstern, und Entzücken strahlte ihn an aus der Nacht, und so malte er das Licht in seiner unendlichen Fruchtbarkeit. Er malte es als Maler an malerischen Dingen. Er ließ es saugen am riesigen Leibe der Nacht, und überall taten sich Adern auf, und es schmolz hervor: Juwelen und Perlen, die Brokate und die Spitzen, Fahnen und Harnische und Fackeln, Stickereien und Sammet, das Lachen der Saskia und der Körper Hendrikjes, und hundert Male immer wieder — nur noch Leuchter fürs Licht — das eigene Antlitz, und hinter dem Antlitz die eigene, brennende, brodelnde, wollüstige, trinkende, schaffende, zeugende Sonne der Seele. Das ganze Dasein war ihm eine unendliche Nacht voller tausend Geschichten, die sich fortzeugten auseinander, und die ganze Nacht nur ein riesenhafter, schwarzer Spiegel, in dem meilenfern, ein verlorener Funken Goldes, widerglänzte die eigene Seele, ein Tropfen an Gottes Wimper.“

Dies, dachte ich, als ich durch die brausende Nacht zu mir hinüberging, blindlings im völlig Schwarzen, dies ist nun Bogner? Dieser einst gelinderte, wortkarge, sparsame Mensch? Freilich: damals malte er, die Seele glühte sich schweigend aus; nun muß sie reden und verbrennt dabei. Und ich erschrak, da ich bemerkte, daß ich nicht der einzige Unselige bin auf einer so kleinen Insel.

Fünftes Kapitel: Dezember

Aus Georgs Papieren

Von Zeit zu Zeit ereignet es sich wohl einmal — zumeist wenn ich sitze und schreibe —, daß hinter meinem Rücken in der Nachtferne etwas mir vorhanden scheint, das ich mehr empfinde denn sehe als: Land. So eine dunkel verdämmernde Fläche nämlich ohne Umrisse, von unsichtbarem Leben überwebt — das Land, das meinen Namen trägt (obwohl wiederum selber ich ihn nicht trage, aber wer weiß das?). Dazu ein Staat, der in hunderttausend Gehirne geprägt ist als das Bild eines Berges, auf dessen Spitze ich stehe.

Und ich denke weiter: Hunderttausend Menschen — was liegt an der Zahl? — sind dort, die an jedem Tage zumindest einmal ein Wort sagen oder von bedrucktem Papier lesen, einen Titel, unter dem sie mich zu fassen glauben. Mitunter, wenn sich ihrer Mehrere zusammentreffen, machen sie ein Bündel aus ihren Köpfen und — nun, aus den mehr oder minder abenteuerlichen oder mitleidigen oder argwöhnischen Vorstellungen, die sie sich machen mögen, ein paar willkürliche herauszugreifen und aufzuschreiben, das hat wenig Sinn. Es kommt auf die Tatsache an, die ja nun fast von einer metaphysischen Bedeutsamkeit ist, denn was ist in Wirklichkeit an mir und ebenso an jenen Erdbewohnern, das diese Art von immerhin besondrem Schauer in ihr Empfinden von meinem Dasein mischt, denn sie mögen mich nun achten oder verachten, mich für mehr oder nur soviel wie ihresgleichen halten, gut von mir denken oder böse: dieser bestimmte Schauer ist immer da, war da von dem Augenblick an, wo ich jenen Titel bekam wie ein Kleid, also daß ich seitdem tun oder denken, sein und treiben kann, was ich will: den Schauer verliere ich so wenig, wie ein Mensch seinen Schatten verlieren kann. Es ist beinah wie mit Gott. Die Welt mag sein, wie sie will, den Menschen darin mag es ergehen, wie es wolle: Gott bleibt ihnen immer Gott, und ob der eine nun sein Wirken darin sieht, daß sein kranker Bruder gesund wird, der andre darin, daß ein Erdbeben kommt, der dritte darin, daß er anstatt den Hals nur das Bein brach, und der vierte darin, daß sein Nachbar an derselben Krankheit starb, die er überstand: Gott bleibt immer derselbe Gott, sie glauben an ihn, und er kann sich auf keine Weise verändern.

Und weiter, was jenes Land angeht, so bin ich es, der darin diesen und jenen, mir ganz unbekannten Menschen veranlaßt, eines Tages mit seiner Familie und aller beweglichen Habe von Süden nach Norden zu reisen, und einen ähnlichen von Osten nach Westen; ja, es geschieht Tag für Tag, daß nach meinen Angaben Leute von einer Stelle weggenommen und an eine andre gesetzt werden, wo wieder Andre erst fortgenommen wurden, die zu einer dritten geschickt werden, und so fort. Sterne und Kreuze aus Metall werden in meinem Namen verteilt und als besondre Geschenke von mir angesehn, Urteile ganz fremder Leute über Andre werden gültig durch meine Unterschrift, und in Kirchen wird für mich gebetet.

Telemach, begreifst du? Sollte es sich jemals verstehen lassen? Verstehen, daß wirklich du es bist, der gemeint ist? Und solltest du jemals nicht jenseit sein können von alledem, sondern darin?

Nein, dies wird niemals möglich sein, weil es niemals hat möglich sein sollen. Die Schnecke wird erst nackend geboren und bildet sich hernach ihr Gehäuse, und ich bin nackend herumgelaufen Jahr um Jahr, aber das Gehäuse, das auf einmal gebildet war, es war nicht von mir geplant, und wer hätte auch von einer Schnecke gehört, für die ihr Gehäuse eine Last ist, die sie langsam zu Tode würgt?

Nur so viel sieht Telemach ein, daß es doch möglich ist, darin zu wohnen für eine Weile.

Da ist ein Tisch, und ich gehe um den Tisch. Was liegt an Tagen? Ich gehe linksherum und rechtsherum, tagein und tagaus, und fange an zu bemerken, daß sich eine Spur bildet in der Farbe der Dielen. Was Schlaf ist, habe ich auch einmal gewußt; nun ist es ein fliegender Rauch, durch den die allstündlichen Bilder wirbeln aus Wachsein in Wachsein hinüber. Es ist nicht genügend Einsamkeit vorhanden. Die Wintersee ist so laut geworden, daß die Andern und ich es aufgegeben haben, miteinander zu reden, — dann züngelt die rasende Ungeduld aus mir, wenn ich sitze und sie sitzen sehe, der letzte bange Rest Menschenliebe windet und verzehrt sich in meinem Herzen, und ich denke, daß ich bald nicht mehr kann.

In eine hohe Flamme zu steigen wie in ein Bad und drin prasselnd zu stehn, müßte das nicht wollustvoll sein? Ich brenne allzeit, und mir wird nicht einmal warm davon. Ich rüttle an den Steinen des ewigen Geduldspiels, aber wie ich die Steine einmal zusammengefügt habe, so stecken sie nun, und keiner weicht von der Stelle. Ich hoffe, rasend zu werden, und bemerke, daß ich mit der Zeit vielmehr in Ordnung gekommen sein muß, denn nicht immer, wenn ich schreibe, muß ich wie ehedem jede Laus von Wort, die durch mein Gehirn läuft, aufs Papier streichen, sondern ich lasse sie sitzen.

Oh Himmel meiner endlosen Tage wie so grau! Wiesen des Sommers und ihre Aurikeln, blaues Wogen des Jugendtags, wart ihr wirklich einmal? Ein Knabe klettert hoch am Sockel der Sonnenuhr, deckt Zeiger und Zifferblatt zu mit dem eigenen Schatten, sucht und wundert sich, nichts drauf zu finden, was ihm die Stunde anzeigt — — es ist keine Stunde, und dies war die Jugend. In der tiefen Scharte meines Fensters sehe ich ein Stück wankender Wasser, grau und voll gelblichen Schaums, ein Hundert Wellenköpfe in jagendem Durcheinander, immer dieselben, die auf mich zutaumeln und unter mir im Unsichtbaren verschwinden, und ich sehe und sehe.

Oh ein Zeichen, das Zeichen gieb, heilige Allmacht! Halte mich doch nicht mehr auf, laß mich doch los! All ihr unendlichen Mächte, was verschlägt es denn, ob einer getröstet wird? Wenn ich auch schuldig wurde an Menschen, so warens doch immer solche, die ich liebte, und ge—, oder hätte ich besser hassen sollen? Ja, war es dies, daß ich lau war, nicht böse, nicht gut, nicht kalt und nicht heiß, und soll ich darum, darum in alle Ewigkeit sitzen zwischen Leben und Sterben?

(Von Bogner)

Das fehlte noch! Heute sagte Bogner: er fände die Welt in Ordnung. Ja, wie soll man da widersprechen? Er hat es entschieden, und nun war es so. Mitten in der Nacht war er aufgewacht und hatte diese Entdeckung gemacht. Erstens: die Welt; zweitens: in Ordnung.

Danach bewies er es mir auch.

 

Es wurde sehr spät gestern nacht über Erzählungen Bogners von Frankreich und Spanien. Später kam er auf einige besondre persönliche Erlebnisse, und dann fand ich mich dabei, wie ich ihm von Cordelia erzählte. Am Schlusse unterließ ich dann nicht eine besondre Darstellung meiner Verschuldung, zu der mir im Laufe der Zeit ein neues Ingredienz bekannt geworden war, nämlich daß ich sie nur aus Lüsternheit suchte, nicht aus Liebe; daß sie mich deshalb nicht für ihr so nahe halten konnte, um ihr Geheimnis zu beichten; daß also, wenn meine Sinnlichkeit schon in früheren Jahren ihre notwendige, regelmäßige Stillung gefunden hätte — und so weiter.

„Der Fluch der Lüsternheit über der Menschheit“, sagte er, „ist der Schatten eines Segens und darum unheilbar. Im Grunde davon wohnt einer der beiden tiefen, alles beherrschenden Triebe, deren einer zielt nach dem Lichte, deren andrer nach dem Dunkel. Niemand liebt wahrhaft das Licht, der nicht auch die Nacht liebte; niemand wahrhaft die Nacht, der nicht auch das Licht liebte. (Darum beginnt Novalis den Hymnus auf die Nacht: ‚Welcher Lebendige, Sinnbegabte liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn das allerfreuliche Licht ...‘) Im Licht ist das Wissen, im Dunkel das Geheimnis. Wir sehnen uns nach dem Wissen und sehnen uns nach dem Geheimnis. Wir sehnen uns nach dem Verhüllten, das für den Dumpfen das verhüllte Nackte ist. Er will nicht das Nackte, er will das geheime Nackte. Wäre es nicht geheim, so wäre es kaum noch.

„Der aber“, sagte Bogner, „ist der Heilige, der das Geheimnis weiß im Licht.“

Und der, setze ich nun hinzu, ist der Glückliche, der ewig ein Geheimnis pflegen kann — es besitzend, ohne es je zu durchschauen —, dem es selber zur Magie geworden ist: der Dichter.

Hielt ich mich selbst nicht für einen? Heute weiß ich nicht einmal, wie ich davon abgekommen bin. Es vollzog sich die Einsicht wohl mir selber unvermerkt im Wirbel des Übrigen, und nun erst, ganz plötzlich, fühle ich einen Schmerz.

Ich sehe Bogner, wie er war, wie ich noch immer glaube daß er ist, und sehe, daß es ein unmenschliches Glück sein muß, ein Glück über allen Glücken, Dichter zu sein. An jedem Tag die Quellen seines Lebens strömen zu lassen, sich selber hundertfach sichtbar zu sehn und zu haben im erschaffnen Gebilde! Sich im Stande der Gnade zu fühlen, einsam, einzig mit den Wenigen, oh Flügel an die Füße selbst in den erzschweren Stunden des Seins! Was könnte einem Solchen geschehn? Muß ihm nicht alles zum Besten dienen? Muß ihm nicht Honig fließen aus jedem Ding, das er selber erst zur Blüte wandelt, sei es giftig oder rein, gemein oder edel — aus jedem strömt ihm eine, die seine Kraft. Die gehäufte Welt ist sein Thron, seine Schatzkammer das Firmament, er allein besitzt die Erde, da er sie machen kann. Ungeheuer sein Stolz wie seine Demut. Mich faßt ein unendlicher Jammer an, wenn ich der Ärmsten unter den Armseligen gedenke, der Dichter, die es sind und dennoch nicht glücklich. Die eine Begierde haben können, außer der einen, tausend Jahre so leben zu wollen; die nach Ruhm begehren, nach Achtung und Liebe der Menschen, nach Brot. Die das Heilige erniedrigen können, indem sie es zu einem Mittel ihrer Notdurft machen. Denen es nicht Wonne ist, zu dulden dafür, daß sie so sind.

Da an Gott das einzig Wesentliche ist, daß er ein den irdischen Trieben und den menschlichen Zwecken nicht unterworfenes Wesen sei, so giebt es nur einen Menschen, der seiner entraten kann: den Dichter. Er allein muß ja erkennen, daß sein innerster und einziger Lebenstrieb ihn zu einem mit keinem irdischen Nutzzwange verbundenen Tun zwingt, unweigerlich, wider seinen eignen, kleinen Willen, unbeeinflußbar von ihm selber. Wenn er zeugt, so zeugt er wie der Gott: allein um des Zeugens willen. Alle können anders; er muß das Eine.

Ich aber bog den Arm an seinen Knieen,

Und aller wachen Sehnsucht Stimmen schrieen:

Ich lasse nicht — du segnetest mich denn!

 

Damals, als Bogner das Wort ‚Geburt‘ vor mich hinstieß wie die Faust mit dem Schlüssel, der den Zugang zu den Müttern eröffnen sollte, mich in meinen Festen schon als Ahnung erschütternd — damals genügte mir der Schlüssel, ich war froh, das Kleinod im Geheimnis zu haben, froh, es nur zu wissen, vom Gedanken an es mich immer wieder süß durchzucken zu lassen. Nun ist mit der Verflüchtigung der Zeit auch die Wißbegierde gekommen, der Zweifel mit seiner Stimme: ganz hinunter gelangst du ja doch nicht, so geh wenigstens tiefer. — Heute fragte ich Bogner:

„Du mußt mir nun sagen, wo der Anfang war. Ich sehe die Kindheit wie eine Wand, mit der alles ein Ende nimmt. Du sagtest das selber. Und was ist das mit dem Geheimnis? Du sagst: der Schauder vor dem Geheimnis sei unsre ganze Lust. Aber warum ist sie das?“

„Ja,“ sagte er, „auch ich glaube, daß mit der Kindheit alles ein Ende nimmt, und auch ich habe in diesen Tagen wieder und tiefer darüber gedacht. So laß uns doch einmal erinnern.

„Ich will dir sagen, was meine fernste Erinnerung ist. Zuerst ein schwarzes Unbegreifliches voll Kampf und entsetzliches Grausen. Ein Erwachen dann, ein sanfter, ferner Goldschein; ein Schatten im Golde, und in dem Schatten das nicht zu beschreibend Tröstliche, alles Stillende, Sichere, ein Gesicht, ein Paar Augen. — Solltest du das nie erlebt haben?“

Seine Worte hatten mich in eine seltsame Magie versetzt. Ich glaubte zu sehen, was ich nie gesehn hatte. Ich wollte mich schon wieder herauszerren aus diesem, weil ich glaubte, es sei Einbildung, ich sähe nur, was er zeigte. Allein plötzlich, bei der Vorstellung jenes Schattens und seiner Augen geschah das Seltsame, daß ich ihn sah — nicht aber mit zwei Augen, sondern mit nur einem. Das saß in der Mitte, unter der Stirn.

Der Maler schwieg, ich nahm alle Willenskraft um mich zusammen und dachte. Da geriet ich besondrer Weise in einen Schwarm von tausend wütend wirbelnden Vorstellungen, Bildfetzen ohne Beziehung zur Stunde. Bis dann plötzlich mit einem Ruck dieses riß, und ich sah — Ihn.

Ich war ein Knabe, er hob mich auf, er setzte mich auf sein Knie, und ich — fürchtete mich vor ihm. — Warum das? Ich soll ein wenig geschielt haben als kleines Kind, und ich fürchtete mich vor ihm: weil er nur ein Auge habe. Seine eng beisammen sitzenden Augen hielt ich für nur eines und fürchtete mich.

Es durchsauste mich, als ich es bedachte. Er, immer Er! Er war die Erscheinung, der eingeäugte Schatten, und damals hatte ich keine Furcht. Warum kam sie später?

Ich wollte es Bogner sagen, aber siehe da, ich konnte ja nicht! Wie soll ich seinen Namen sprechen? Kurz und gut, ich sagte ihm so viel, daß ich mich an Ähnliches zu erinnern glaubte.

„Und dies,“ sagte er nun, „dies war der Anfang. Wie hieß der Anfang, Georg? Angst. Nun wollen wir an unsre früheste Kindheit denken, an damals, als wir Menschen waren und noch ganz Kinder. Damals war Wald, und Verirrtsein im Wald, und die Dämonen, die hunderttausend Mächte der Angst, die böse Natur. Damals brach in den riesenhaft umgewälzten schwarzen Klumpen, der wir selber waren, ausgedehnt in die Urwaldsnacht und verschmolzen mit ihr, in ihn brach der Morgen hinein. Eine Sanftmut ging hervor, öffnete alles und machte es lind. Licht kam und war tröstlich. Uns segnete die Blaue. Und das war Gott.

„Die Sanftmut, das Heilende, die Sicherheit der Wiederkehr (‚Noch niemals blieb der Morgen aus, der lichtend — Das Tal ihr wieder wies, das duftig bläut‘) und die Hoffnung: all das und mehr wurde Gott.

„Und weiter, Georg: Wenn die Pferde einen Gott hatten, wie würde er aussehn? Wie ein Pferd. Wir Menschen gaben ihm menschliches Gesicht, und da in Urzeiten und bis spät hinauf nur der Mann etwas galt, so wurde der erste Gott männlicher Gestalt. Später kamen die Mutter, das Weib, die Jungfrau am Ende im Kleide vom himmlischen Blau.

„Aber ein Tiefers ist in diesem. Denn wer war das, Georg, der am Morgen in unsre Wälderangst trat? Wer war der Tröstliche, der im Lichtschein erschien, als wir Kind waren und vergingen in der Angst unsrer Träume? Der uns anblickte und uns zusprach und —“

Ich bat ihn, zu schweigen.

Er dachte wohl, es seien Trauer und Schmerz um einen Gestorbnen, der mich weich machte, und begann deshalb nach einer Weile an einer andern Stelle.

„Du fragtest nach dem Geheimnis, Georg. Im Anfang war das Geheimnis schwarz, war Angst, und der Schauder war böse. War die Erscheinung minder rätselvoll, minder voll Schauder? — Damals aber mischte sich Angstgrauen und Lichtgrauen, wie Nacht und Tag sich am Morgen vermengen. Geheimnis hob nicht Geheimnis auf, sondern jedes vertiefte das andre, und die ganze Lust der Süße wurde fühlbar erst durch das Grauen zuvor, und das furchtbare Grauen wurde versüßt durch die Aussicht auf Heilung. Schon das Kind, das sich fürchtet, im Dunkel einen Gang hinunterzugehn, lernte es, dieselbe Furcht süß zu finden in Geschichten. Wir waren ein unendliches Gemisch von Anfang her, aber wir lernten viele Teile davon erkennen und sie auszuspielen gegeneinander, immer auf der Suche nach: mehr Süße.

„Am Ende erlernten wir dann das Wunderbare: das Gesetz. Aller Geheimnisse süßestes, erkennbar schon am Antlitz Gottes, vor dem Schwarzes und Wüstenei sich auflösten, sich darstellten gesondert, nicht mehr erschreckend, sondern bekannt — aller Geheimnisse süßestes: die Ordnung.

„Die Ordnung aber ist das Bekannte. Das Geheimnis der Heilsamkeit ist das Wiedererkennen, ist die Sicherheit des Einen, das in jedem waltet und sich gerne verrät. Alle Dinge gingen hervor aus Gottes Hand; in allen Dingen wohnt seine Form. Wie ward da magisch unser Finger, unser Ohr, unser Mund! Morgens tropfte auf uns der Gesang der schwarzen Amsel, und wir horchten, und da war das Gesetz. Im Wasserfall schlief, und wir weckten es auf, das Gesetz. In unserm Gang das Gesetz, in unserm Antlitz Gesetz, im Tier das Gesetz; Gesetz, Bekanntes, Ordnung, Heilung, Süße, Form allüberall. Oh der süßeste Schauder, Georg, den Freund wiederzuhaben nach langen, schmerzlichen Jahren! Oh der süßeste Schauder, das Bekannte wiederzusehn im Wilden, Erschreckenden, Fremden!

„Und dieses wurde das Gute genannt, und alles andre das Böse.“

„Bogner,“ mußte ich plötzlich sagen, „noch eins! Du hast einmal ein schrecklichen Wort zu mir gesagt; eben fällt es mir ein, du sagtest: Die Menschen sind alle gut; es will sich nur niemand hindern lassen. Ich habe es wohl nie verstanden, aber jetzt sehe ich, daß ich immer daran geglaubt habe. Was heißt es denn aber? Sie wollen also das Gute — aber sie wollen sich nicht hindern lassen. Ja, was heißt das?“

„Habe ich das gesagt?“ fragte Bogner nach einer Weile. „Dann wird es dieses heißen:

„Du sagst: das Gute. Giebt es ein ‚das Gute‘? Es hat ein jeder sein Gutes, nämlich was er für gut hält, ohne daß irgendeine Beeinträchtigung seines Wesens damit verbunden wäre. So ist auch das, was uns ein Immergutes ist — Eltern, Geliebte, und was du noch willst —, nicht gut mehr, wenn es uns hindert. Wir können nur um unsrer selbst willen sein. Ob wir lieben oder hassen, töten oder uns opfern, verzichten oder erobern, bitten oder befehlen: all dies geschieht um unsertwillen von uns, weil wir so sind und so müssen. Was wir Altruismus nennen, kann nur eine Komponente des Egoismus sein, ob er bis zum Opfer, zur Selbstvernichtung geht oder nicht. Wir können ewig nur auf egoistische Weise altruistisch handeln. Und es wäre die vollkommene Art, den Egoismus zu befriedigen, indem wir ihn in altruistischem Wesen darstellen. Der Mensch kann nur sich selber gut sein; aber er kann sich in der Vollkommenheit gut sein, indem er es gegen Andre ist.

„So gut sein, daß nichts mehr mich behindern kann — das wäre zu wünschen. Es wird nicht gehn. Der Tätige kann nicht nützen, ohne zu schaden. Malen ist gut; aber wenn dein Vater nicht will, daß du malst? Wenn er aus reinem Altruismus überzeugt ist, es sei besser für mich, wenn ich nicht male?

„Darum sagte ich, sie sind Alle gut, denn das heißt: sie wollen Alle nicht das Schlechte; sie wollen sich nur nicht hindern lassen an ihrem Guten.“ Er lächelte plötzlich.

„Etwas fällt mir ein“, sagte er dann ernst. „Vielleicht wirst auch du erst lächeln, wenn ich es dir sage, und doch scheint mir, sind wir damit am Ersten und Letzten angelangt. Nämlich: das Neugeborene schreit; ununterbrochen, aus vielleicht gar keinem Grunde, als weil es weiß, daß es schreien kann, schreit es die ganze Nacht. Das vernünftige Elternpaar möchte freilich schlafen, allein was hilfts? Es will sich nicht hindern lassen an seinem Guten, dem Schlaf, aber da es vernünftig ist, einerseits, und eine Liebe hat für das Neugeborene, andrerseits, und vielleicht weiß, daß auch das Schreiende nichts will als sich nicht hindern lassen am Schreien, was tut es? Es läßt sich doch hindern an seinem Guten und steht auf und beruhigt das Kind. — Und dies ist der Anfang.“

Zu alledem — nachdem ich es gehört und geschrieben habe — kann ich nur Eines sagen: so wenig mir irgend etwas wirklich bewiesen scheint von alldem, so sehr muß ich daran glauben. Es hat mich beruhigt auf die absonderlichste Weise. Es ist, als fände ich die Welt jetzt in Ordnung wie Bogner. Ich weiß nicht; es ist mir so, es ist so. Es ist kühl und natürlich, es ist gut. Ich weiß, was zu wissen ist; innerhalb ist alles Geheimnis geblieben, und auch die Grenze rundum blieb Geheimnis wie die Linie des Himmels auf der Erde. Doch die Linie beruhigt. Es macht sicher.

 

Wir waren allein, es war spät in der Nacht, die Stehlampe brannte auf dem Tisch. Er rückte daran, stand dann auf, stand nun mitten im Zimmer, etwas schief, die Hände auf dem Rücken, ging dann ans Fenster und stellte sich davor. Von dorther begann er von seiner Mutter zu erzählen.

Er berichtete erst einiges von seinem Vater, den er als einen Mann schilderte, schlecht und recht, ohne Eigenart, ohne besondere Gaben, ein wenig kleinlich, geneigt, zu ‚nörgeln‘ oder ‚mäkeln‘, aber mit Maßen und jedenfalls ohne Heftigkeit. Von seiner Mutter sprach er nicht; nicht von ihrem Wesen. Dann sagte er:

„Als meine Mutter fünf oder sechs Jahre verheiratet war, lernte sie einen andern Mann kennen und lieben. Sie sagte es mir selber, es war damals, als ich heimging, vor drei Jahren. Ja, da kam sie in der ersten Nacht, um es zu sagen. Seinen Namen hat sie mir nicht genannt, ich weiß nichts von ihm, als daß er Schriftsteller war oder Dichter, und das ergab für mich freilich ein seltsames Gefühl von Verwandtschaft. Es giebt wohl mehr Kinder, deren Vater nicht der Mann, sondern ein Wunsch ihrer Mutter war. Mein älterer Bruder und ich selbst waren damals schon am Leben. Meine Mutter hatte meinen Vater geheiratet, weil ihre Eltern ohne Vermögen waren, weil sie viel Geschwister hatte, und weil mein Vater durch mehrere Jahre nicht abließ, sie zu nötigen.

„Nun wollte sie sich scheiden lassen. Aber er gab die Kinder nicht her und wollte es überhaupt zu keiner Einigung über sie kommen lassen. Über ein Jahr lang gab es einen furchtbar häßlichen Kampf. Dann erlahmte meine Mutter und wurde, was sie während dieses Jahres nicht gewesen war, wieder die Frau meines Vaters.

„Aber dies ist es ja nicht. Nun stelle dir vor, Georg: eine alte Frau von beinah sechzig Jahren kommt zu ihrem lange verschollenen Sohn, der heimkam. Sie war auch einmal gegen ihn gewesen. Aber nun, wo er kam und sie ihn so gealtert sah, da weiß sie auf einmal, daß er vieles gelitten hat, und da steht ihr eigenes Leiden auf, das sie immer verschwieg, und da muß sie kommen und es sagen und weiß, daß ihr Sohn sie versteht. — Und nun sitzt er vielleicht da und denkt an fünfzehn riesige Jahre, und daß es nun ist, als wären sie nur gewesen, damit sie nach ihnen zu ihm kommen könnte, und daß sie und er sich verstehen. — —

„Und also fängt sie an, eine alte Frau, die das Ihre berichtet in ihrer Sprache; die nicht erzählt, sondern der in wirrem Durcheinander hundert Züge der Erinnerung einfallen; die es nicht darstellt, wie in einer künstlichen Novelle etwas dargestellt wird, sondern die darüber spricht, sich beschuldigend, den Mann entschuldigend, den Dritten entschuldigend, sich wieder ent- und die Andern beschuldigend, und das wieder zurücknehmend oder aufhebend; immer nach Gründen suchend und doch ganz ratlos. Sie hatte es gut ertragen, und doch ballte es sich einmal zusammen und verlangte, gesagt zu werden, und da sagte sie es mir, ihrem Sohn. Es war doch das Heilige gewesen. Es war das Jahr gewesen, wo sie über sich stand, wo sie mehr wollte als sich, wo sie sogar ihre Kinder nur als einen Teil ihrer selbst empfand und sich davon trennen zu können glaubte. Und sie hatte Moral, sie sagte: die Strafe blieb ja auch nicht aus ... indem sie meinte, daß ihre Tochter klein starb, und daß ich zehn Jahre später verloren ging.

„Siehst du, Georg: man wird doch unruhig, wenn man dergleichen hört, wie ich damals. Man versuchts doch wieder mit dem Rütteln und sagt: Wenn ... und: Vielleicht ... Wenn nun ich, als meine Mutter dies erlebte, etwas älter gewesen wäre und es erfahren hätte? Ich würde mit ihr im Vater den Feind gesehen haben und sie vielleicht bewogen, von ihm zu gehen. Der Unbekannte und sie und ich, wir wären dann vielleicht glücklicher geworden, ich hätte einen Vater gehabt, sie einen Sohn und — so etwas denkt man denn.

„Ich hätte es auch zu einer Zeit hören können, wo ich meinen Vater für einen Verbrecher und ein Tier gehalten hätte. Ihn, der doch Gewalt brauchte, wo kein wahres Recht mehr für ihn war; ihn, der eine Frau in sein Bett zurückzwingen konnte, die ihn nicht liebte, die ihn haßte; und dies aus nichts als aus Lust, aus Bedürfen. Ihn, der endlich so klein war, daß er auch in diesem nicht etwas Großes sehen konnte, um sich dadurch ändern, sich nur auf sich besinnen zu lassen. Hätte er sie noch gehaßt, sie gepeinigt, sie erniedrigt, so wäre es doch Leben gewesen. Aber er blieb, was er war, kleinlich, mäkelig, alltäglich. Er war nicht schlecht; er hatte nur sein Wissen und seinen Besitz, seinen Trauschein und seine Triebe, und wollte sich nicht hindern lassen an alldem.“

Bogner sprach längst nicht mehr so gelassen wie im Anfang. Er hatte sich mir wieder zugewandt, sein zerfallnes Gesicht war gerötet, er versuchte immer wieder sich aufzurichten, und nun stieß er die gespreizten Hände hinter sich und sagte mit unterdrückter Stimme der Heftigkeit:

„Da quälen sie sich und quälen sich und verspritzen ihr Blut in den Unsinn, tun immer das Falsche, klagen immer den Andern an und weinen und sterben und haben selber die Schuld. Ich habe jahrelang gehungert, und das war es nicht! Ich habe jahrelang im Elend und im Finstern gelegen und geschrieen nach einem Einzigen, der bei mir wäre, und das war es nicht! Ich bin verzweifelt und hab sterben wollen, ich hab mich geschändet und gedemütigt und zerknirscht, und all das war es nicht! Alles das ist vergangen, ist vergessen, und geblieben ist immer nur Eins, das Eine, das ich nicht kenne, das hier in mir sitzt und sich abarbeitet, das Unbekannte, das Unmenschliche, nicht Ehrgeiz, nicht Ruhm, kein Wollen, keine Lust, keine Freude, keine Qual, nur dies — Rütteln, dies Rütteln in mir, das will, daß ich male.“

Er hatte gesprochen wie in einem magischen Zustand. Der fiel nun plötzlich ab, ich sah ein furchtbares Schaudern über sein Gesicht und seinen Körper gehen, er ging auf den nächsten Stuhl zu und setzte sich darauf wie ein Knecht.

Nach einer Weile sagte er erschöpft:

„Ich rede von mir selber. Es war nicht meine Absicht.“

Plötzlich packte er die Kante des Tisches mit beiden Händen, als wollte er ihn wegstoßen; sein Gesicht veränderte sich in einer schrecklichen und unmenschlichen Weise, ich glaubte, er würde schreien, aber er sagte all das, was nun kam, nicht laut, nur mit einer ungeheuren Gedrungenheit in der Stimme:

„Und wenn ich jetzt sterbe, und wenn ich jetzt glauben muß, daß es alles nicht wahr gewesen ist, der Schmerz nicht wahr und die Not und das Heilige, alles nicht wahr, weil ich zugrunde gehe und mich Lügen strafe, — ja, wenn es nicht wahr gewesen sein soll an mir, so will ich doch bis zum letzten Atemzug glauben, daß es Wahrheit ist in der Welt, und daß diese Not und dies Glück, dieser Druck und dies Heil das einzige ist, was Leben hat in der Welt! Es braucht keine Götter zu geben, es soll keine Götter geben, aber —

„Aber der Mensch auf seiner Erde, mit strotzenden Armen umspannt er den Baum und preßt einen Gott heraus, der seufzend sich aus den Blättern neigt, und Vaterlächeln aus rauschenden Zweigen. Er sät die funkelnde Drachensaat der Sterne in seiner Winternacht, und es steigen und beugen sich Gestalten heraus, blühende, Tiere und Menschen, der selige Delphin, die Jungfrau und der Jäger. Er zeugt dennoch, der Mensch, was größer ist als er: den Sohn. Er stellt den Sohn vor sich hin und spricht: du sollst mein Feind sein und über meine Leiche höher steigen, ich soll dein Knecht sein, dein Widersacher, dein Stachel, deine grenzenlosen Mächte zu entfesseln, und auf meinen Schultern stehend, sollst du in den Himmel reichen. Ich soll dich in Bande schlagen, und du sollst an ihnen deine Zähne wetzen. Ich soll dich verfluchen, ich soll dich durchsäuern mit meinem Fluch, daß dein Dasein genießbar werde für Geschlecht und Geschlechter. Ich bin dein Engel, Jakob, ich schlage dich auf die Hüfte, aber du wirst mir die Krone des Lebens aus den Händen reißen. Und wenn im Morgengraun nach der langen Kampfnacht über dir die Drossel singt, so soll dein ganzes Haupt wie eine kalte reife Traube am Berg liegen, berstend von Süße, ein Wunder der Erde an Erfüllung.“

Georg an Benno

auf Hallig Hooge, im Dezember.

Ich empfinde die besondre Pflicht und den Auftrag, Dir mitzuteilen, daß Deine Freundin Ulrika Tregiorni im Begriff ist zu sterben. Im Bewußtsein Deiner besondren Verehrung für ihr reines und zartes Wesen, will ich nicht unterlassen, die einzelnen, ihr plötzliches Ende herbeiführenden Umstände vor Deiner Teilnahme auszubreiten. Sollte das Ende, das wir zur Stunde nahe befürchten müssen, wider Erwarten nicht eintreten, so werde ich es Dir am Ausgange dieses Briefes mitteilen.

Nachdem bis vor wenigen Tagen ein unveränderlicher Nordwestorkan über unsre Insel getobt hatte, sprang der Wind in einer Nacht plötzlich um, wehte einen Tag lang warm und nässend vom Lande herüber, legte sich dann oder verschwand, und über die beruhigte See zog sich ein dichter Nebel, der die Aussicht verbarg. Ich erinnere mich, daß infolgedessen ehegestern oder schon vorehegestern (wer hält all die Tage auseinander?) zwischen Bogner, Ulrika und Cornelia beratschlagt wurde, ob sie, Ulrika, nicht die Tage der Meeresstille benutzen solle, um jetzt schon zum Lande hinüberzufahren, wenn auch ihre Entbindung erst in ungefähr einem Monat bevorstehe; weshalb es dann unterblieb, entzieht sich meiner Kenntnis.

Wer sich einmal an eine Abgeschiedenheit wie die unsre gewöhnt hat, der mag eben gar nicht wieder weg. Zwar ich, der ich, wie bekannt, oben auf dem Deich wohne, im Fenster also das Wasser habe und von der Plattform meines Turmes aus die ganze See, ich behielt noch ein gewisses besondres Gefühl von Welt, obschon von Wasserwelt nur. Die Andern jedoch in der haushohen Umwallung des Deiches, die sie selten ersteigen, leben in einer warmen Enge, zu der kein Zugang ist, die keinen Bezug mehr zu irgend etwas hat, die völlig für sich allein da ist, durch Tage und Nächte überwölbt von dem Donner der See. Der aber war nun verstummt; plötzlich war in den Häusern der klagende Schrei des Tütvogels hörbar, langsam dehnte und entfaltete sich die Stille mit dem Nebel und ward ungeheuer.

Damit Dir das Folgende verständlich sei, bin ich genötigt, einiges von einer Unterhaltung zu schreiben, die vor etlichen Tagen zwischen Bogner und mir stattfand, und der auch die Frauen — nebst dem notwendigen Hauptmann — beiwohnten, diese drei schweigend nach ihrer Gewohnheit. Die Rede war nämlich angelangt bei den Bewohnern dieser Küstengegend, ihren Sitten und Eigentümlichkeiten, und hielt alsbald bei der besondren Erscheinung des zweiten Gesichts, die ich Dir erklären oder, falls Du Dich an frühere Auslassungen meinerseits erinnern solltest, ins Gedächtnis zurückrufen werde. Die Erscheinung ist, wie Du weißt, nicht nur hier auf den Inseln und Halligen nordwärts, sondern auch auf dem Festlande verbreitet, in ähnlichen Formen zudem in Westfalen und Schottland. Ihr Ursprung ist vermutlich die ungeheure Einsamkeit einerseits, welche die in ihr Hausenden zwang, übersinnliche Fäden der Wahrnehmung zu weit fernen Personen hinüberzuspinnen, andrerseits der vielfältige Zusammenhang mit abwesend verstorbenen Menschen, das heißt den auf See umgekommenen Söhnen, Vätern und Gatten. Stelle Dir die Inseln vor, die winzigen Halligen, überhängt von der stürzenden See, das Leben dort, im Winter zumal, in den Nächten ohne Ende, die Einsamkeit dieser Gehöfte und Werften, abgeschnitten durch Wochen und Wochen von jeder Verbindung, dazu die jahrtausendlangen Kämpfe mit den drei ewigen Gewalten, See, Wind und Sand, die ohne Unterlaß fraßen, Land fraßen und Menschen. Da begannen die monatelang Nachricht voneinander Entbehrenden den furchtbaren Raum der Einsamkeit zwischen sich zu durchstoßen mit ihrer Seele, die jenseits hervortrat und sich zeigte. Wann gelang ihnen das? In den besonderen Augenblicken des Lebens, im einzig besondern, in dem des Todes. Begräbnisse wurden sichtbar, Sarg und die Lichter, Gesang erscholl, das Trauergefolge zeigte sich deutlich. Und es kamen die Toten aus der Nacht- und Wasserferne und zeigten sich, so daß man wußte: sie waren tot. Diese wurden ‚Gänger‘ genannt, die Gehenden, Wiedergehenden, Wiederkommenden unter den Toten. Ich erzählte Bogner den folgenden Vorgang, den mir ein Pfarrer als eigenes Erlebnis berichtet hat, ein Mensch übrigens, trocken und klar, ohne unsre Nervenphantasie, wie all diese Menschen hierzuland.

Zu Besuch bei einem erkrankten Freunde und Amtsbruder auf einer der nördlichen Inseln — große Schafherden weiden dort fast wild; ich vergaß nun den Namen —, folgte er an seiner Statt der Bitte eines Mädchens zu ihrer im Sterben liegenden Mutter. Die Strecke zu ihr, stundenweite Wege im Dünensand, wurde im Wagen zurückgelegt, sie kamen mit Einbruch der Dunkelheit an, das Haus lag hinter den Haidhügeln der Wattseite, Wiesen, bevölkert mit Schafen, erstreckten sich von ihm aus zu den Hügeln und Gletschern der Sanddünen. Du kennst die langgestreckte Form der niedrigen Häuser. — In ihrem Bettschrein lag die sterbende Frau ohne Besinnung. Der Pfarrer setzte sich zu ihr, ein mögliches Wachwerden erwartend; die Tochter kniete am Bett, in dessen Nähe ein Licht brannte. Da sieht der Pfarrer eine dunkle, menschliche Gestalt draußen an den Fenstern vorübergehn, in der Richtung der Haustür. Aus diesem oder jenem Grunde erhebt er sich und geht aus dem Zimmer auf den schmalen Hausflur zwischen Vorder- und Hintertür. Die obere Hälfte der vordern steht offen, von draußen herein lehnt ein Mensch, still, bleich, die Haare hängen ihm unordentlich in die Stirn. — Wünschen Sie etwas? fragt der Pfarrer. Kommen Sie doch herein! — Er öffnet die Tür, tritt zurück und wiederholt seine Aufforderung; wiederholt sie ein zweites Mal, schon in der Zimmertür. Jetzt kommt der Mensch ihm nach, betritt das Zimmer, sieht die Frau im Bett und setzt sich auf einen Stuhl, immer die Augen auf das Bett gerichtet. Da schlägt die Frau die Augen auf und sieht ihn. Die Tochter folgt ihrem Blick, sieht den Fremden, springt auf, stößt einen Schrei aus und sagt: Jan! — Der Mensch erhebt sich nach einer Weile wieder und geht hinaus, wie er kam. — Die Frau starb bald; die Erscheinung war die ihres Sohnes, der in jener Nacht ertrank.

Diese Erzählung erregte den Maler auf so besondre Weise, daß ich ihm gleich noch eine vortragen mußte, und zwar die von den Doggerbankfischern.

Die Doggerbänke sind Dir bekannt. Die dort mit Netzen Fischenden kehren wochenlang oft nicht zurück, leben wochenlang schweigsam, nur mit ihrer schweren Arbeit beschäftigt mitten in der riesigen See, im Regen, im Nebel; auch ihre Boote trennen sich weit voneinander; jede Mannschaft arbeitet in völliger Abgeschiedenheit, im Unsichtbaren.

An einem Nebelabend gewahrte die Besatzung eines fischenden Kutters plötzlich in fast schon gefährlicher Nähe ein andres Boot, das auf das ihre zukam ohne Laut. Sie schrieen Warnungen hinüber, sie lärmten und fluchten, allein das stumme Boot kam näher und näher, fuhr endlich so, daß Bordwand an Bordwand streifte, an dem Kutter vorüber. Drin saß die Mannschaft an ihren Plätzen, ohne Bewegung, ohne Laut. Nur der am Steuer sagte, als sie fast schon vorüber waren: „Wir dürfen keinen Lärm machen.“ Der Ton lag unmerklich auf dem Wir. — Der Kutter schwand im Nebel. Später ward offenbar, daß jenes Boot an jenem Abend an einer meilenweit entfernten Stelle untergegangen sei.

Als ich aber dies Geschehnis berichtet hatte, erhob sich Ulrika ohne ein Wort und ging hinaus.

Wir Andern, Bogner, Cornelia und der Notwendige, schwiegen ziemlich lange. Bogner zeigte sich dann besonders verwundert und ergriffen von dieser Art und Weise und der Haltung der Toten. Daß sie kamen, nicht anders als im Leben erscheinend, jedoch auf eine unbeschreibliche Weise feierlich und verschönt. Der Sohn der Sterbenden schwieg und sah nur die Mutter an; die Schwester schrie; er schwieg und ging wieder. Er hatte sich nur zeigen wollen. — In dem Boot die Lebenden lärmten, die Toten verhielten sich still, nur einer mahnte ruhig: Wir — dürfen keinen Lärm machen. — Noch so viel Güte, daß er wegen der bewußtlosen Lebenden das Schweigen brach!

Und noch dies Seltsame: die Doppelheit der Menschen! Ihr eines Halb sah die Erscheinung, hatte Verbindung mit dem Jenseits, und zwar vermittels derselben Sinne, mit denen ihr andres Halb die Erscheinung nicht begriff und sie für natürlich und ihresgleichen hielt.

Nun, so kamen wir wieder ins Gespräch, und es war begreiflich, daß ich nun auf das in unsrer besondren Nähe befindliche Gespenst zu sprechen kam, das diese Insel für Jahrzehnte unbewohnt gemacht haben soll, nämlich den sogenannten Dränger, eine Erscheinung, die übrigens auch in andern Gegenden bekannt ist. Hier ists der weiland Deichhauptmann Waldemar Montanus, der bei Ebbezeit einsamen Gehern außerhalb des Deiches im dichten Nebel erschienen sein soll mit der ausgesprochenen Absicht, dieselben in die See zu drängen. Sie verloren nämlich die Besinnung vor Angst, den Deich aus den Augen, er drängte und drängte von hinten, von der Seite, von überallher, kurzum: er drängte sie in die See. Wenn dazu berichtet wird, daß der Deichring um Hallig Hooge, der an der Wattseite ein breites Loch hat, in solchen Nächten geschlossen sein soll, so liegen dem wohl die Erfahrungen zugrunde, daß Angst erstlich die Sinne blendet, so daß der Verfolgte das Deichloch übersah, und zweitens die Zeit und den Weg unmäßig in die Länge zu dehnen pflegt, also daß der Verfolgte meinte, die Lücke im Deich, die er nach wenig Schritten vielleicht erreicht hätte, sei schon vorüber, worauf er womöglich umdrehte und nun niemals mehr hingelangte, — allein wer weiß das eigentlich? Der Betreffende konnte es kaum weiter sagen.

Heut abend nun — oder gestern, wie Du willst, es geht nun auf morgen — wollte Bogner, indem wir wieder beisammen saßen, auch wieder von diesen Gespenstergeschichten anfangen, aber Ulrika stand gleich mit einer besondern Schroffheit auf und bat zu schweigen. Sie setzte sich nicht wieder, blieb eine Weile stehen und ging dann hinaus.

Wir sprachen trotzdem nun nicht weiter. Ich dachte, was wohl auch die Übrigen dachten, daß jemand ihr folgen solle, aber sie liebte es, allein zu gehn, und ich hatte beim Herkommen aus meinem Turm den halben Mond über dem dünnen Nebel stehen sehn. So saßen wir längere Zeit schweigsam im größeren Schweigen der Stunde. Das Zimmer war voller Schatten rundum, die Petroleumlampe brannte auf dem Tisch, seitwärts dazu saß der Maler, ich im Sofa dahinter und rauchte, irgendwo waren die Augen Cornelias, dunkel und glänzend, und irgendwo das rechteckige Gesicht des Notwendigen. Dann stand Cornelia auf und sagte mir, durchs Zimmer und hinausgehend, mit den Augen, daß sie Ulrika folge.

Nein, kein Unheil hing in der Luft; es war durchaus besonders friedlich. Auch der Hauptmann, der sich einige Minuten nach Cornelias Fortgang erhob und ihr nachging, sagte später, daß er zwar einen gewissen, besondern Zwang empfunden habe, jedoch ohne jede Besorgnis.

Aber Minuten später erschreckten uns eilige Schritte im Flur, Cornelia riß die Tür auf und schrie mir zu, ich solle sofort kommen, der Hauptmann könne sie nicht allein tragen ... Bogner nämlich galt ihr noch für zu schwach, obwohl er inzwischen schon beinah grade geworden ist. Er war denn auch zugleich mit mir in der Tür, Cornelia berichtete fliegend, sie habe Ulrika nirgends gefunden, dann einen dünnen Schrei gehört, sei zur Deichlücke gelaufen, habe wieder den Schrei gehört und nach einigem Suchen, wenige Schritt weit am Fuß des Deiches Ulrika gefunden, zusammengekrümmt, sich windend und stöhnend in Krämpfen. Die Zuckungen der Wehen verhinderten den notwendigen Hauptmann, den die um Hülfe zurückrennende Cornelia traf, sie zu tragen.

Der Mond, wie gesagt, schien. Die dunkle Mulde war, fast frei von Nebel, in schönes Silber getaucht, in dem wir schon von weitem die schwarze Gestalt des Notwendigen gewahrten, der uns entgegenkam, die ruhiger Gewordene auf dem Arm. Ihr erstes Wort an Bogner war: Benvenuto, das Kind, das entsetzliche Kind! — Später hat er noch erfahren, daß sie im Nebeldunst draußen am Deich einen Schein und in dem Schein — ich weiß nicht, ob ein Kind mit einem übergroßen oder ohne einen Kopf gesehen haben will, worauf sie vor Furcht und Grauen auf den Deich zugelaufen und beim Versuch, hinaufzuklettern, abgestürzt ist.

Wolle aber bedenken, Benno, was ich schrieb: Sie war nicht mehr im Zimmer, als ich vom Dränger erzählte. Wie sollen wir das nun verstehn?

Im Haus überließen wir sie Cornelia. Der Notwendige und ich saßen drei Minuten später im Segelboot, aber — ach Benno, die Unseligkeit dieser Fahrt hätte ich selbst mir kaum gegönnt! Über dem Wasser schwebte ein Hauch von Wind, in dem zuerst gar keine Richtung war. Als wir dann weiter hinaustrieben, schien er sich für Nordwesten entscheiden zu wollen, schließlich aber wehte er, o sanfter Satan! aus Nordosten, so gut wie uns entgegen. Und was hilft es nämlich bei Fahrten wie dieser, daß man die Logik in die Hand nimmt wie eine Pistole und sich sagt: es hat keine übermenschliche Eile, denn wenn vor Minuten erst die ersten Wehen eintraten, so dauerts noch Stunden bis zur Geburt. Die Pistole geht nicht los, sie braucht auch gar nicht losgehn, aber da sitzest du bei einer brennenden Laterne, bloß mit einem zufälligen Uhrkompaß, den der Notwendige bei sich hat, mitten in der nebelglänzenden See, im Halbdunkel, wo keine Bewegung an nichts zu erkennen ist, durch Minuten, die Stunden werden, stille liegend, und du reißest Herz und Lungen und alle Organe auf, als ob du geboren wärst, im Augenblick, wo du das Leuchtfeuer vom Außenhafen siehst, Auge der Seligkeit durch die silbernen Dünste der See. Und nun Kreuzen, Kreuzen ohne Ende. Es ist schwer wie die Verdammung, ein Ziel durch Vorbeifahren zu erreichen, obgleich es im Leben nicht anders ist. Man fängt an zu beten, Benno, ohne zu wissen, was es ist! Nach einer Fahrt von beinah zwei Stunden — statt einer halben — lagen wir im Binnenhafen, und hätten nicht gelegen, wenn uns nicht der Polizeikutter geschleppt hätte, so schnell wie ein Pferd, aber all diese Dampfer und Schlepper und Kähne, die an den Molen und an den Hafenwänden lagen, die unendlichen Lagerschuppen, die Kräne, die Kohlenberge, die unerhört langen Reihen von Fässern, und wieder Dampfer, Schlepper, Ewer, Schaluppen, Pinassen, Segelboote, wo einer einsam steht und schöpft, Südamerikafahrer, wo ein paar Kerle im Dunkel über der Reling liegen und spucken, Ziegelkähne von endloser Länge, wo am Rande ein wilder Spitz rennt und bellt und am Ende eine Kajüte ist und Licht und ein rauchender Schlot, und ein Ehepaar mit den Ellbogen auf den Knieen — weißt Du, wie das sich einbrennt in die Augen auf solchen Fahrten?

Also, ich rannte denn zum Arzt (weißt Du, wieviel Vorstellungen der Orte, wo er sein könnte in solchen Minuten, da er ja auf keinen Fall zu Hause sein kann?) und fand ihn — es war gegen zehn Uhr — in seinem Zimmer bei der Zeitung. Endlich hatte ich ihn denn mitsamt seiner Tasche in einem, vom Notwendigen inzwischen geheuerten Motorboot, und wir langten eine halbe Stunde später wieder an.

Langten an, empfangen von einem Geschrei, das ich — wie bereits oben, Benno, es geht jetzt auf Morgen, noch ist immer nicht geschehen, was geschehen soll, ich sitze und schreibe nach der anfänglichen besondren Kälte mit rauchenden Händen. Ich habe ein Geschrei gehört, Benno, das Gott nicht erfunden hat. Ich habe ein Weib, das er aber erfunden hat, brüllen und heulen und pfeifen hören. Ich habe hinter der Türe gestanden und geschlottert mitsamt dem Notwendigen. Ich habe das Licht in den Türritzen gesehn wie bei Weihnachten, wenns drinnen raschelt. Ich habe an der Füllung gekratzt wie ein Hund und dazu mit den Augen gewinselt. Ich habe den Doktor herauskommen und schwitzen und klappern sehn und ihn Worte sagen hören, bei denen es mich in den Ästen meines besondren Nervenbaums aufhenkte wie Absalom, — Gebärmuttersenkung — es drehte sich schon ehemals alles in mir um, wenn ichs hörte. Weißt Du was, Benno? Wenn die Menschen anfangen, von Sinnen zu geraten, so tun sie das Allergewöhnlichste, und zwar mit einer besondern Genugtuung, und der Doktor in diesem Fall putzte seine Brille wie den Abendstern. Ich habe Cornelia völlig rasend gesehn, dieweil sie kein Wort äußerte, ab und zu ging, das Nötige besorgte und zwischenhinein bei der halb schon Zerfetzten saß und ihre Hand hielt. Ich hörte mich selber klappern und den Arzt fragen, ob der Sturz geschadet habe, und hörte ihn schnauben und sagen, ob gestürzt oder nicht, und ob heute geboren oder morgen, das wäre alles Unsinn, und sie hätte niemals dazu kommen dürfen, und das Kind würde sich höchstwahrscheinlich erdrosseln. Ein Kind, o ihr Helden, noch im Leib seiner Mutter, und hat schon einen Strick zum Erdrosseln! Ich habe, Benno, auf der Erde gelegen, im Freien und an den Nägeln gekaut. In meinem Zimmer habe ich den Finger in mein brennendes Licht gehalten, um mir eine Abkühlung zu verschaffen, und die Wunde als höchste Wollust meines Lebens empfunden. Ich habe Tränen vergossen und diese rasende Halbtote geliebt wie keinen Menschen jemals, und ich habe sie um Vergebung meiner Sünden gebeten. Gott im Himmel, Benno, ich habe angeboten, alles noch einmal erdulden zu wollen, wenn bloß dies aufhörte.

Ich habe nämlich auch Bogner gesehn, ganz besonders! Der saß all die Stunden im Nebenzimmer und hörte es mit an. Ich kam herein, ich denke, da sitzt eine Leiche. Aber er sieht ganz aufmerksam auf das Tischtuch. Als ich näher zusah, merkte ich dann, daß ich, wenn ich ihn anrühren sollte, einen elektrischen Schlag empfangen würde, denn er saß auf einem Elektrisierstuhl, gerade so geladen, daß es eben noch zu ertragen war. Nein, er saß auf durchaus keinem Stuhl, sondern auf einem pfeilschnell rennenden Tier; saß in einem rasselnden Panzer von Schnelligkeit, saß gewissermaßen auf dem hurtigsten Tier, das da trägt zur Vollkommenheit, genannt Leiden.

Es war eben wieder still; ich setzte mich und fing an zu rauchen, die Lampe begann zu stinken und gab vor unsern Augen den Geist auf, Bogner erbarmte sich ihrer und blies sie aus. Bogner gönnte sich dieses alles.

Und all diese Stunden lang in Pausen dies rauchende Geschrei wie aus einer eisernen Röhre, diese minutenlangen Strudel von Wimmern und Flehen an alle Mütter und Maler und Götter um Erbarmen.

Aber sie ertragens. Vielleicht ist dies auch nicht besonders, vielleicht nur um kleine Grade schlimmer als üblich. Cornelia scheint es ja zu verstehn. Sie erheben sich sogar hinterher und fangen wieder an zu leben. Ich will mal nachsehen.

 

Fünf Uhr. Nun muß es bald kommen, sagt der Notwendige, der es vom Arzt erfuhr. Bald, das ist ein Ausdruck!

Bogner war nicht mehr im Zimmer. Ich suchte ihn, da sah ich im Dunkel seinen Schatten auf dem Deich und stieg zu ihm hinauf. Er hatte seinen Stuhl hinausgetragen und saß dort, die Hände auf den Knien, unter sich den Nebeldunst, der Nacht zugewandt, wo sie nur dunkel war, denn hinter seinem Rücken stand der Mond. Da habe ich ihn gefragt: „Nun, Bogner, proklamierst du heut auch noch deine Vollkommenheit der Welt?“

Er wendet den Kopf zu mir, sieht mich an. Plötzlich überläufts ihn. Er wartet, bis er wieder ruhig ist, und er sagt: „Ja.“

„Bist du wahnsinnig?“ schrei ich ihn an. „Nachdem du dies gelitten hast? und sie?“

„Ja,“ sagt er nach einer Weile. „Auch daß ich leide, ist — gut.“

Da waren wir still. Später sagte er:

„Wenn ein Opfer gebracht wird — hier; und dort ist einer — der nimmt es an; dann ist alles erfüllt.“

Oh mir brannte das Herz! Bogner — ich weiß, welche Furcht vor dem Tod er erlitt. Nun hat er eingesehn, daß nicht er gefordert wurde, sondern sie. Und nun stirbt er mit ihr. Denn so stirbt der Mensch im Opfer, das er bringt. Vielleicht wäre er lieber gestorben, als so überleben zu müssen. Aber es ist Sinn in dem allen. Freilich muß man ein Kentaur sein, um ihn erleben zu können und doch zu verstehn.

Ich weiß nun nichts mehr und schließe den Brief.

Georg

Tot.

Georg an Magda

auf Hallig Hooge, am 29. Dezember.

Meine liebe Magda!

Eine schmerzliche Nachricht: Bogner bittet mich, Dir mitzuteilen, daß Ulrika Tregiorni vorgestern morgen vor Tagesanbruch verschieden ist, nachdem sie vergeblich versuchte, einer Tochter das Leben zu geben.

Ein unglücklicher Fall am Abend zuvor beschleunigte die Geburt, die sie nach der Meinung des Arztes allerdings auch unter günstigeren Umständen nicht überstanden haben würde.

Bogner ist jetzt ruhig. Sollten wir jemals über diese Dinge miteinander sprechen, so würdest Du erfahren, daß meine alte Ehrfurcht vor ihm nun fast das Maß des Menschlichen überschritt.

Wir werden Ulrika am Abend hier begraben. Bogner fuhr heute früh mit meinem Adjutanten, Hauptmann d. J. Rieferling zur Stadt und kehrte gegen Mittag mit einem ungestrichenen weißen Sarge und einem kleinen weißen Marmorblock zurück, auf dem nichts eingegraben ist als ihr Name und — darunter — das Bild eines in seinen Fittichen aufrecht stehenden Schwanes. Wir Alle, die wir hier sind, haben ihr das Grab oben auf der Nordseite des Deiches geschaufelt, wo sie liegen wird mit den Füßen in der Richtung der See. —

Ich habe zu diesem einige Worte über mich beizufügen.

Aus einem Grunde, den Du verstehen wirst, wenn Du gelesen hast, war ich nicht fähig, die Tote zu sehn. Überdies hielt noch etwas mich ab, ihr Zimmer zu betreten. Bogner saß neben ihr und zeichnete sie. Da er keinerlei Mal- oder Zeichenwerkzeuge dahier hat, so riß er vom Deckel eines bräunlichen Pappkartons die Randstücke ab und fand ein kleines Stück Rötel. Durch die offene Tür zum Sterbezimmer sah ich ihn dann schräg auf Ulrikas Bett sitzen, auf den Knien den Pappdeckel, nach ihrem, mir unsichtbaren Gesicht blickend, und so sah ich ihn jedesmal, wenn ich das Haus betrat, vorgestern, gestern und noch in der letzten Nacht, doch hatte ich nie den Eindruck, als ob seine Hände beschäftigt seien.

(Sage, kommt Dir vielleicht auch, indem Du dies liesest, ein japanischer Wandschirm in Erinnerung? Der erschien jedenfalls mir und stellte alsbald die Verbindung mit jener Frau wieder her, Judith Österreicher jener, von der uns Bogner erzählte — vor Jahren —, die er zum Leben erweckte, im Bilde, während sie daraus fortglitt. Was schien Bogner uns damals? Was scheint er mir wieder heut? Aber —

es kehret umsonst nicht

Unser Bogner, von wo er kam.)

Heute vormittag endlich, als ich eben an meinem Schreibbüro mit den täglichen Unterzeichnungen beschäftigt war, der Hauptmann und der Ordonnanzoffizier mir dabei mit Zureichen und Abnehmen der Blätter zur Hand gingen, überhörte ich das Eintreten jemandes, bis ein leiser weiblicher Aufschrei mich veranlaßte, mich umzuwenden. Von den drei, durch die kleinen Fensterscharten einfallenden und sich kreuzenden Lichtkeilen geblendet, sah ich zuerst am Tisch in der Zimmermitte Cornelia lautlos hereingekommen und mit dem Zusammenstellen des Frühstücksgeschirrs beschäftigt, dann die Gesichter der Herren und das ihre absonderlich verzerrt im Blick nach der Tür, und dort sah ich nun Bogner, der seinen Pappdeckel in der Höhe seines Kopfes hielt und uns zeigte. Anfänglich schien mir nichts darauf wahrzunehmen, als wenige und verwirrte, rötliche Linien ohne Sinn und Zusammenhang. Aber jählings schossen sie zusammen, schlossen sich, wurden Züge, umrahmendes Haar, halb geschlossene Augen, und ich sah die Meduse.

Tot, tot, tot, nichts als tot. Alles gebrochen und entstellt. Die Lippen halb geöffnet wie die Augen mitten in der Not des Lebens und Sterbens stehen geblieben, oder gleichgültig stehen gelassen von ihm, der die Seele noch lebend heraus und in Fetzen riß. Es war zu sehn, daß er das tat. Hier war alles zerstört. Hier war nichts mehr; nur Tod.

Bogner selber, scheinbar erst aufmerksam durch unser Schaudern, blickte hin und entsetzte sich. Er legte es auf den Tisch und sah uns ratlos an. Und wir starrten darauf und sahen, daß da nichts war. Ein paar verwirrte rote Linien auf ödem Braun.

Ich sah Gestorbne schon früher. Damals war es anders als hier, weniger deutlich und minder wild, und es war doch das gleiche. Nichts. Ich habe mich überzeugen wollen und Ulrika selber gesehn. Es war nur grauenvoller das gleiche. Ihr Gesicht war gelb in dem roten Haar, die Lippen bläulich, halb nur zu wie die Augen, hinter deren Lidern etwas bläulich Weißes schimmerte. Es war entseelt.

Er hat mich nicht versteinert, der Anblick der Meduse, nein. Er löschte in mir nur das Licht. Es läßt sich sehr einfach ausdrücken. Ich hatte bisher nicht geglaubt, daß mein Vater gestorben sei. Ich nahm an, er lebte in einer andern, höheren Form, und nahm an, daß sie die selbe sei, in der er mir erschien. Nun weiß ich, daß die Toten keine andre Gestalt haben als die, in der sie uns erscheinen. Das ist die Form der toten Ulrika. Mein Vater ist tot. Was von ihm noch lebendig ist, ist in mir. Es sollte golden sein; aber es ist Gift. Denn es ist nichts als Schuld.

Dies versuche mir zu glauben, ohne daß ich es erkläre.

Ich bin ruhig, seit ich dies weiß. Ich habe die Hoffnung, daß in Bälde alles zu der nötigen Ordnung kommen wird, und Du wirst dann von mir hören.

Ich schließe. Bogner wird mich morgen verlassen, und Du wirst ihn wohl über kurz oder lang selber sehn, wie er den gefesselten Riesen losmacht und zur Arbeit geißelt. Ihm ist das Tor, durch das die Tote hinausging, was es dem wahrhaft Lebenden sein soll: ein Eingang.

Ich bleibe allein zurück mit dem Hauptmann, da ein Zufall will, daß auch Cornelia geht, wenn auch unbestimmt ist, wie lange sie ausbleiben wird. Sie empfing einen Brief von der Schwester eines Mannes, mit dem sie vor Jahren einmal verlobt gewesen ist, eines kränklichen, schwer hysterischen Menschen, von dem sie sich trennen mußte. Nun soll ihm eine schwierige Operation bevorstehn, vor der er sich fürchtet ohne sie. Sie reist nach Zürich, wird aber auf der Durchfahrt durch A. bei Dir vorsprechen.

Lebe wohl! In Liebe brüderlich Dein

Georg

Georg an Bogner

Hier, am letzten Tage des Jahres.

Du bist fort. Ich kann hier nichts mehr halten, und mit Dir verließ mich auch Dein Geist. Doch ich weiß nun, wer Du bist. Als Du diese Erde betratest, gaben die Götter Dir den Namen und sagten: Benvenuto! das ist: Sei uns willkommen!

Du bist aber Herakles.

Derselbe Halbgott kämpfte mit den gewaltigen Tieren der Fabel und bezwang sich in der Knechtschaft. Zuletzt legte er das brennende Kleid an, und es ‚ging in Lüfte der Geist ihm auf‘; er betrat den Raum seiner Unsterblichkeit.

Der alle Schrecken des Lebens in sich selbst überwindende Mensch: das ist der Heros, der die Unsterblichkeit davonträgt.

Vielleicht nicht: Heroen zu werden, aber — heroisch zu sein in allen wahrhaften Augenblicken des Lebens, das ist unsre Aufgabe. Es ist die Aufgabe, die ich sieben Mal verriet.

Mein Heros, lebe wohl!

Georg

Sechstes Kapitel: Januar

Cornelia an Georg

Zürich, am 11. Jan.

Mein Lieber, Du hast mir verboten, zu schreiben, aber ich muß Dir doch sagen, daß meine Rückkehr sich noch verzögert. Die Operation ist überstanden, aber es sind im Zustand des Kranken Verwickelungen eingetreten, die mich noch bei ihm festhalten. Ich bin furchtbar unglücklich darüber, nicht nur meine Liebe, auch Angst und Sorge ziehn mich ja unaufhörlich zu Dir, aber — was bin ich Dir, und ihm hier bin ich das Einzige! Nimm dies und die innigsten, liebendsten Grüße Deiner

Cornelia

Georg an Magda

Auf meiner Insel, am 20. I.

Dieser Brief wird in meinem Schreibbüro gefunden werden, wenn das Wenige vorüber ist, das hier „alles“ genannt wird.

Nun kann ich nicht mehr. Ich bin leer, es drückt meine Wände ein. Ich bin so furchtbar müde, daß es keinen Schlaf mehr für mich giebt als einen, nach dem ich mich sehne wie ein Kind. Mitunter fühle ich meinen Körper schlummern, aber die Seele löst es nur in einen rauchenden Wirbel auf. Dann ist immer der gleiche Traum, daß ich Sindbad bin. Die Beine jenes bösen Geistes, den er auf seiner Insel schleppen mußte, liegen um meinen Hals geschlungen, sie würgen mich, und ich lauere darauf, daß der Alte einschläft und ich mich losmachen kann, und er belauert mich. Wenn ich dann erwache, so weiß ich, daß er nicht schläft, ehe ich selber schlafe.

Laß mich schlafen, Magda, tue das Eine mir nicht an und halte mich nicht für feige! Vielleicht könnte ich leben in einer Einsamkeit, unbeachtet, mit diesem und jenem Menschen, verantwortlich allein mir selber. Es ist aber all die Zeit während der letzten Jahre mein mehr oder minder bewußtes Streben gewesen, den Punkt zu erreichen — wo dann alles unter mir brach —, den Augenblick, wo ich an die Spitze eines Reiches trat. Dies habe ich gewollt und habe es erreicht, auf Kosten all dessen, was ich jetzt schleppe, und auf Kosten all Derer, die mit mir mein Leben ausmachten. Mein Recht auf sie verlor ich durch Schuld, aber es hieße sie selber ausblasen wie ein Licht, wollte ich heute verzichten und mich in mich selber zurückziehn. Entweder der Staat oder nichts. Zum Entweder jedoch gehört eine Verantwortung, die ich nicht auf mich nehmen kann. Tag für Tag wächst allein die alte Einsicht neu: Du kommst nicht hinein. Zu den handelnden Menschen, in ihre Gewohnheiten treten und selber doch frei sein vom Zwang des Gewohnten: dazu finde ich keine Möglichkeit, und ohne sie die Verantwortung einer solchen Stellung auf mich zu nehmen, das bringe ich nicht mehr fertig.

Um die Erde ist Nacht. Ich stand auf der Plattform im Frost und im Schwarzen, im uralten Donner der Freundin, der See, und ich sah im Nächtigen rote Punkte, die Lichter fahrender Schiffe, sah sie aufglühn und wieder erlöschen. Eine Flamme, die mir frei und golden schien, hat sich zum letzten glimmenden Punkt zusammengezogen. Möchte der Flügelschlag, der sie verlöscht, der des Gedankens sein, daß Du die geschwundene nur aus den Augen verlierst und nicht aus dem Herzen!

Noch ist eine Spur von Kraft in mir. Sie mag Tage reichen oder Wochen, ich verspreche Dir, daß kein Ende sein wird, ehe ich nicht den letzten Rest von mir verbraucht habe.

Dann glaube mir, daß ich erleichtert wurde, und traure mir nicht nach!

Lebe wohl!

Georg

Georg an Benno

Auf meiner Insel, am 24. I.

Mein Freund:

Du wirst wissen, daß ich hier aus Staatsraison einen Begleiter habe, einen Infanteriehauptmann namens Rieferling, Johannes. Nachdem ich mehrere Wochen in wenn auch nicht eben nahem Umgang mit ihm gestanden hatte, ohne mich um sein Inneres zu bekümmern, machte ich mir Gewissensbisse und begann, ihn Einiges nach seinem Leben zu fragen, infolge seines ernsten Wesens in der fast sicheren Vermutung, auf etwas zu stoßen, das ihm die Einsamkeit hier aus ähnlichen Gründen wie mir nicht beklagenswert erscheinen läßt. Aber nichts dergleichen. Er hatte kaum etwas zu berichten. Seine Eltern haben ein kleines Gut in den Ostseeprovinzen, haben viele Kinder, in deren Reihe er irgendwo in der Mitte steht, alles ist gesund, er hat stets nur zum Soldatenstand Lust gehabt, mußte freilich ein bescheidenes Leben führen, hat aber außer seinem Beruf nie Bedürfnisse gehabt, verließ die Kriegsakademie mit den höchsten Auszeichnungen, hat nach wie vor keine Wünsche, als einmal nach Italien zu reisen, und bedauert nur, daß der nächste Krieg eher da sein wird als für ihn das Bataillon, aber ich hoffe, für diesen absurden Fall, wenn er eintreten sollte, noch Vorsorge treffen zu können. Hier arbeitet er den ganzen Tag, kümmert sich den Teufel um die See und liest jeden Abend ein Kapitel im Neuen Testament.

Möchte man auch so sein, Benno? Wie geht so ein Leben weiter? Entweder in den vorgeschriebenen Bahnen, und er endet einmal als Generalinspekteur eines Armeekorps, die Brust voller Orden, oder der nächste Krieg kommt wirklich, und ist er noch nicht im Generalstab gelandet, so führt er seine Kompagnie zu einem glänzenden Sturmangriff, erhält das Eiserne Kreuz, und ein paar Tage oder ein paar Wochen später legt ihn eine sanfte Kugel von Gottweißwo her schmerzlos und ruhig auf den Rasen. Der Leutnant sagt: Die Kompagnie hört auf mein Kommando! und an der Stelle, die er ausfüllte, steht ein Andrer, der sie gerad so ausfüllt.

Indem ich noch dies bedachte, erinnerte ich mich Deiner und merkte dabei, daß meine Gewissensbisse in Wahrheit mit der Erscheinung des Hauptmanns nur eine Verbindung zweiten Grades gehabt hatten, und eigentlich meinte ich Dich.

Solange wir zusammen unseres Weges gingen, warst Du der Sorgenvollere, aber wie war damals zwischen uns alles einfach! Wir waren Freunde, und was das Herz beschweren mochte, sagte sich leicht. Nicht verfiel der Eine in Schweigen, so daß der Andre erst viel sich bekümmern mußte und endlich fragen. Wie es mit Dir jetzt steht, ahne ich nicht, aber ich glaube, daß nicht nur meine Bürde mit der Zeit zugenommen hat, und nun sind wir jeder allein. Freilich, die meine ist von der Art, die schweigsam und einsam macht. Aber die Deine, Benno, wie ists mit der Deinen?

Lieber Freund, dies ist eine Frage, die leider nicht mehr auf Antwort warten kann, wie Du sehn wirst, wenn Du sie vor Augen hast, so eine besondre Art von rhetorischer Frage, siehst Du. Nun ists zu spät; zu spät auch, festzustellen, was mich eben bewegt, nämlich, ob wir schon damals, vor die Entscheidung gestellt, unsre Neigung für ein ungemeines Leben durch den Entschluß bekräftigt hätten, den Weg, den es uns führen würde, bis zum bittersten Ende zu gehn. Ich kann nur hoffen, daß ich mich entschlossen hätte. Es ist, wie gesagt, zu spät, und für mich ists schon viel, daß ich aus dem Brande, in dem ich nun seit ungezählten Tagen herumjage, auf der Suche nach einem Ausgang außer dem, der mir sichtbar ist, daß ich noch einmal mit der Hand herauswinken kann. In der Ahnung, es müsse auch ein Wimpel noch irgendwo liegen, mit dem zu winken wäre, fand ich ein Gedicht unter meinen alten, das ich einmal im Gedanken an Dich schrieb und Dir damals nicht in alltäglicher Stunde geben wollte. Die heutige dürfte ungemein genug dazu sein.

Abschied nehmen bei einem Fortgang wie dem mir nahe bevorstehenden, scheint mir wenig passend; ein Wort aber dürfte schicklich sein, und ich bin in Höflichkeit geboren und erzogen, so daß es mir kaum weniger passend erschiene, wortlos zu gehn.

Darum wünsche ich Dir eins: Wenn Du einmal in Not sein solltest, in einer äußersten Not, ein gefangenes Tier, das in Herzensqual nichts mehr weiß als zu laufen, zu rennen, auf und ab, oder im Kreis, winselnden Herzens mit rasenden Füßen um den verglimmenden Rest Deiner Welt, Tage und Nächte: dann wünsche ich Dir die eine Stunde Schlaf, nach der ich durste, und die, wie es scheint, nicht für mich bestimmt ist. Dann trinke Dich satt an ihr und gedenke Deines Freundes

Georg

Das Schweigen

Gingst du je beladen, ein Mensch, und suchtest

Eines Bruders, einer Schwester Schoß,

Auszuruhen, das stet und steil

Aufwärtsragte, das überbürdete Haupt?

Und vom Schweigen, im Lärm deine einzige Wehr,

Ach, vom Schweigen, der Lippen brennendem Siegel,

Einmal zu erlösen sehnsüchtiger Lippen Dürre

An kühlen Quellen, an geliebtem Mund?

Suchtest du lang, und sank nicht der Tag, ach sanken

Viele nicht? Doch als eines Abends dein Blut

Müde verging in die ruhige Röte und Nacht,

Fandest auch du; und immer gefaltete Hände

Lösten sich still, geliebter Geschwister gewiß.

Zuckte die Lippe auch schon? und ging euer Atem

Schwer von Verlangen inbrünstigen Worten vorauf?

Aber ihr schwiegt. Durch Stummheit, die sternhelle, gingen

Aller Fülle beglänzte Ströme

Lautlos, selig, zwischen euch hin und her.

Hallig Hooge

Es war ganz dunkel.

Georg saß, die Hände auf den Knäufen der Stuhllehnen, ein wenig vorgebeugt, als ob er lausche. Der Armsessel stand an der Wand. Nichts bewegte sich. Es war still.

Als Georg merkte, daß er horchte, wußte er, daß unendliche Zeit vergangen war, während er so gesessen hatte. Während dieser Zeit mußte der Rest abgelaufen sein. Nun war nichts mehr.

Vor seinen Augen war das Zimmer dämmrig, obgleich die tiefe Nachtschwärze in den Rechtecken der Fenster stand. Das Schreibbüro war deutlich erkennbar, die weiße Kuppel der Lampe, die Umrisse des runden Tisches in der Mitte des Raums, die Lehnen der Stühle, schattenhaft alles.

Und was war dies mit der See? Still, kein Laut. Georg erinnerte sich, daß es mitten im Winter war. Vielleicht war die See zugefroren.

Er fuhr sich unbewußt mit der Hand über die Stirn.

Ja, sagte er halblaut. Ja, dann ist es wohl so weit ...

Er lehnte die linke Schläfe gegen die rauhe Wange des Stuhls, plötzlich zitternd vor Müdigkeit, und so saß er eine lange Weile, ohne Widerstand gegen das immer wieder losrieselnde Zittern. Langsam verging es. Auf einmal flatterte seine linke Hand heftig. Dann war alles still.

So wirds gut sein, dachte er dankbar. So — immer tiefer ... immer tiefer ... dann ein kleiner Ruck, — alles steht.

Aber ich schlafe ja vorher ein! schrak er auf und lächelte.

Also ... ist noch etwas? dachte er mühsam. Abschied? Von wem?

Ein Schatten kam um den Tisch, die Seele Cornelias blickte traurig zu ihm hin. Sie dauerte ihn. Hoffentlich, dachte er, findet sie sich mit dem Andern besser zurecht. Bei mir hatte sie, glaub ich, zu wenig zu tun.

Ach, ich werde schlafen! fiel ihm da ein, und das Dunkel verklärte sich. Ach, oh, ich werde schlafen!

Er rückte mit dem Oberleib vor im Stuhl und stand auf, ging zum Sekretär, zog die bestimmte Lade hintastend auf, nahm den Kasten heraus, öffnete die Verschlüsse, und weil ihm die Finger bebten, mußte er an einen Morphinisten denken, der seine Spritze auspackt. In dem heller grauen Rechteck von Samt lag das dunkle Instrument, erkennbar und wohlbekannt, anders als alle Gebrauchsdinge, eigentlich aber ohne Zusammenhang mit seinem Sinn. Wenn man es in gewisser Weise handhabte, war die Folge der Tod, und doch stellt man sich Töten gemeinhin anders vor.

Er bemühte sich nun eine ganze Weile krampfhaft, etwas zu denken, aber nichts kam zum Vorschein. Keine Menschen, keine Erinnerung, auch keine Schuld, so fest er sich an das Wort klammerte. Nur ein Gähnen überfiel ihn bald, das kein Ende nehmen wollte. Als es schließlich vorüber war, bemerkte er, daß er die Uhr gezogen hatte. Ja, ich will doch sehn, wie spät es ist, fiel ihm ein; er klappte den Deckel auf und starrte auf die kleine, bleiche Kreisfläche, bis die Zeiger hervor kamen. Sie standen auf ein Viertel nach Sieben. Er hielt die Uhr ans Ohr, allein sie tickte vernehmlich, und nun zerbrach er sich lange den Kopf, um herauszubekommen, ob Morgen oder Abend sei, aber umsonst. Er trat ans nächste Fenster und blickte hinaus. Draußen war ein grauer Schein. Von den Sternen, deren abendliche Stellungen ihm bekannt waren, fand er nicht einen.

Übrigens — dachte er — eine sonderbare Stunde, aus dem Leben zu gehn: ein Viertel nach Sieben. Ich glaube, gemeinhin tun es die Leute zwischen drei und fünf Uhr morgens.

Aber immer war da noch ein Hindernis, unerkennbar, aber es war. Da er seinen Kopf heiß und dumpf empfand, beschloß er, vor die Tür zu treten und noch einmal nach dem Meer auszusehn.

Draußen stehend mit einer übergangslosen Schnelligkeit — er dachte, das ist wie im Traum! — staunte er, wie milde die Luft war. Feuchter Dunst berührte seine Stirn. Ach, dachte er, heute ist wohl dieser Tag im Januar, wo der Frühling sich im Schlaf umdrehn soll und seufzen. — Dann ging er in schräger Linie über den Deich bis an den Rand.

Das Wasser in hoher Flut stand bis an den Fuß der Mauersteile unten, stand, dunkel, ohne jede Bewegung. Unsichtbar regte sich dann ein Laut, etwas klatschte leise an. Jetzt ein andrer Ton, näher ... Etwas glänzte zu Georgs Füßen, so sehr einem Aufblick ähnlich, daß es ihn rührte. Nun war alles wieder still.

Wie geräuschlos sie kommen kann! dachte er, die Riesige, leiser als ein Mensch! Erstes Staunen der Kindheit, — da liegt sie nun, unsichtbar. Er starrte in die Finsternis vor ihm, die er meilenweit ohne Grenzen wußte, und die schweigsamen Gewässer hauchten ihn mit dem Odem ihres übergroßen Wesens an. Ein wenig höher, wo der Nachthimmel war, bewegte sich etwas quellendes Licht, gelblich, weißlich, und seltsam erschien der Umriß eines Berges.

Plötzlich rührte das Geheimnis der Erde an seine Brust; er mußte den Kopf senken vor dieser Stille und Feierlichkeit, Scham erfüllte ihn, auf einmal bog sich sein Knie, er legte die Hände zusammen, kniete und sagte, die Worte im Munde zerdrückend, zur Erde:

„Vergieb mir! Ich bin sehr arm. Meine Augen wollen nicht mehr. Ich will fort ...“

Gras um ihn her wehte im Dunkel. Es überlief ihn glühend.

„Und ich danke auch“, sagte er. „Dank für alles! Du bist gut und schön. Deine Abende und dein Frühling, die Amsel und alldas.“

„Viel gelitten,“ sagte er plötzlich, „viel gelitten ...“

Er stand hastig auf und wollte fortgehn. Da spaltete es ihn wie ein Schwert, ein grenzenloser Jammer, und er schrie in seiner Verlassenheit ganz laut: „Mein Vater ist tot! oh Gott, mein Vater ist tot!“

Schwer und gelassen bejahend klatschte eine Welle am Deichfuße hin; Georg ging mit leisen Schritten zum Turm zurück, schloß die Tür, ging zum Schreibbüro und mit der Waffe in der Hand zum Stuhl, wo er sich in die linke Ecke lehnte.

Die Augen schließend, gewahrte er plötzlich einen Lichtschein hinter den Lidern, hob sie wiederum und sah erstaunt, daß die Lampe brannte. — Was ist denn das? dachte er, wer hat denn die Lampe angesteckt? Einen Augenblick durchrann ihn sonderbar das Gefühl, die Lampe habe sich selbst entzündet, um ihn zu verhindern. — Mag sie brennen! dachte er dann, aber nun quälte es ihn, daß dies Licht im Zimmer sein sollte, wenn er nicht mehr darin war, und auch, daß er nicht wußte, wann er sie angezündet hatte. So erhob er sich wieder, ging hin zu ihr und bemerkte, daß auf der Schreibunterlage ein Papier lag, auf dem das Wort: Mutlos stand, quer durchstrichen, worauf ihm denn einfiel, daß er das vorhin geschrieben hatte und dazu wohl die Lampe entzündet haben mußte. Es sollte ein Gedicht werden, ja, das letzte, er erinnerte sich einmal gelesen zu haben, daß man sein ganzes Leben nur ein einziges Gedicht machen sollte, vorm Tode, das würde dann außerordentlich werden. Es war aber nichts geworden, und ich, fiel ihm ein, ich habe ja auch schon früher eine Menge Gedichte gemacht. — Er knüllte das Blatt zusammen, aber, da er bedenken mußte, daß es später gefunden werden könne, zog er es wieder auseinander, hielt eine Ecke über den Zylinder der Lampe und wartete, bis es Feuer fing. Eine blaue Flamme leckte daran hoch, plötzlich lohte es zu einem mächtigen, roten Scheinen auf, in dem er geblendet das ganze Achteck des Raums taghell bis zu den Gesichtern der Planetengötter unter der Decke erkannte. Dann warf ers an die Erde, mit der sinkenden Flamme sackten schwere Schatten rundum, der einer Stuhllehne reckte sich noch einmal hochauf an der Wand, langsam verflackerte die Lohe, ward es dunkler; endlich Nacht und am Boden ein paar rote Funken.

Nun noch die Lampe. Er löschte sie hastig, lief fast auf seinen Stuhl zu, setzte sich wie zuvor, drückte die linke Schläfe an, und die Müdigkeit überströmte ihn, daß es ihn schauderte vor Wollust des nahen Schlafs. Prickeln bedeckte seinen ganzen Leib, er sank schlaff zusammen, bewegte die rechte Hand, um die Waffe zu fühlen, und lächelte. Von fern zog Musik in ihn ein, es brauste melodisch. Er hob langsam die Hand, er gähnte ein wenig, drückte sich fester an, — nun kam die letzte, große Woge, das Dunkel ...

Seine Hand glitt neben den Schenkel zurück. Cornelia erschien plötzlich im Zimmer, dann andre Gestalten; sie beschäftigten sich im Halbdunkel, er wollte zu ihnen, vermochte es nicht, und unter einem rieselnden Klingen wurden sie ferner und ferner ...

Georg schlief.

 

Georg schlug die Augen auf. Eine tiefe, aber erleuchtete Dämmerung füllte den Raum mit Wärme und Sanftmut. Auf der Platte des Schreibbüros brannte die Lampe, so daß in ihrem Licht die kleinen Schubladen mit ihren Messingknöpfen, die geschnitzten Säulen und die Treppe aus farbigen Hölzern in der Mittelnische hell und freundlich sich zeigten; aber unter die weiße, mild leuchtende Kuppel war ein Stück Papier in den Ring geklemmt, das, ein rechteckiger Schatten vor dem Licht, herunterhing und den Raum mit Dunkelheit füllte. Dies war so erstaunlich schön anzusehn und von solchem Frieden, daß Georg lange Zeit die Augen nicht davon abwenden konnte.

Er erschrak dann leise, als er entdeckte, daß er nicht allein war: im Schatten, rechts neben der Platte des Büros war ein sitzender Mensch; er schien die Beine übereinander gelegt zu haben und hielt den Kopf in die Hand gestützt.

Und sieh! — das Grauen, ohne doch schrecklich zu sein, vertiefte sich in Georg — der ganze Raum war ja voller Menschen! Ganz still waren sie da, ohne Laut noch Bewegung. Wer waren die?

Grade ihm gegenüber hinter dem dunklen, runden Tisch saß eine weibliche Gestalt; ihre bloßen Unterarme lagen flach auf der Tischdecke mit gefalteten Händen; den Kopf hielt sie so tief gesenkt, als ob sie schlafe oder bete, und Georg gewahrte deutlich die stille und lichte Furche ihres Scheitels in den leise glänzenden Wellen des Haars. Sie schien ihm nicht unbekannt.

Hinter ihr, weiter zurück an der Wand, ganz im Schatten stand ein Mann, den Kopf geneigt, die Stirn in der linken Hand, als ob er sehr tief nachdenke.

Als aber Georg die Augen weiter nach rechts hin bewegte, leuchtete es ihm von der Türe her strahlend blau entgegen, und äußerst betroffen von Verwunderung erkannte er in diesem Blauen die seidene Jacke eines Chinesen, der dort stand wie in einer tiefen Verneigung; ja, es war Georg, als habe er diese Bewegung schnell noch ausgeführt, bevor seine Augen dorthin gelangt waren. Ein großer, grün und golden feuriger Drache glänzte aus dem Himmelblau der Brust.

Dies alles begriff Georg so wenig wie seinen eigenen Zustand, der ihm zauberhaft deuchte. Sein Körper war ihm so leicht, daß er ihn kaum fühlte, die Seele so frisch und kühl, daß er kaum Atem zu holen wagte, aus Furcht, diese Frische und Kühle könne abfallen wie lockerer Schnee. Hoch über ihm sang die zarte Stimme des Schweigens, lieblich und wie ein ferner Choral. Über alles Begreifen feierlich schien dies. Augenscheinlich ein Traum.

Warum saßen und standen diese hier? Hatten sie auf sein Erwachen gewartet? Oder — plötzlich graut’ es ihn dennoch — war er vielleicht doch tot, und hier war nur seine Seele, die ohne es zu wissen gewandert und in dies Zimmer zu Fremden gelangt war, die gar nicht ahnten, daß er zugegen war? Die vielleicht um einen andern Toten trauerten? Oder um ihn? — Allein — dies war sein Zimmer; im Turm, — Hallig Hooge fiel ihm ein und alles andre.

Und jetzt auf einmal bemerkte er mitten auf der dunklen Decke des Tisches einen schwärzlichen Gegenstand, in dem er sogleich seine Pistole erkannte. Und gleich auch, mit einer traumhaften Klarheit, wußte er, um was es hier ging.

Er hier, er hatte über sich selbst ein Urteil gefällt, eigener Kläger und Richter. Da es sich aber um eine Versündigung gegen Menschen handelte, gegen Andre, so konnten auch nur Menschen, nur Andre über ihn urteilen und richten. Und zu diesem Zweck waren diese stillen Fremden nun da.

In diesem Augenblick hob die weibliche Gestalt hinter dem Tisch das Gesicht, und er erkannte mit heller Freude Magda, die ihn anzusehn schien. Ach ja, daß sie blind war, hatte er nur geträumt.

Indem richtete auch der neben dem Schreibbüro sich auf, und es zeigten sich Jasons Züge und schwarze Augen.

Der hinter Magda stand, ließ die Hand sinken; es war der Hauptmann.

Bewegung, so leise sie war, rieselte umher, und gleich darauf wurde Magdas Stimme hörbar, klar, aber gedämpft: „Ist er erwacht?“

„Erwacht“, sagte Jason. „Er wird gleich sprechen. Wir wollen guten Abend sagen, — oder gute Nacht.“

Georg sagte leise: „Schön, daß ihr da seid! Wie kamt ihr hierher?“

„Wie alle Reisenden,“ versetzte Jason, „über das Meer. Über seine beruhigten Flächen sind wir geritten auf schönen Delphinen mit Augen gleich Sternen, die blickten und schienen, dieweil sie glitten. Ihre Schwanzflossen, gebildet wie Leiern, klangen lieblich zu unserer Fahrt. Aber dies ist zu zart, um es ganz zu entschleiern.“

„Ich glaubte, daß ihr Träume wart“, sagte Georg.

„Glaube, wir sind es! — Wir kamen kraft eines geistigen Windes, jeder ein Traum, und aus Traum ist der Raum, wo wir weilen.“

„Und warum kamt ihr?“

„Um zu heilen.“

„Und wie könnt ihr?“

„Du mußt dich mitteilen. Aber erst höre, wie dies sich begab. Wir stiegen an deinem Ufer ab, hier ich, die Freundin, die du lange kennst, und dieser Diener aus dem Reich der Mitte. Hier der Notwendige, wie du ihn nanntest, führt’ uns zu dir, wir pochten, aber du gabst keine Antwort. Schliefst du schon? es war erst Abend, aber deine Fenster dunkel. Wir traten ein, und einer machte Licht. Da sahn wir gleich dein schlummerndes Gesicht in einem Schlaf, wie wir noch nicht gesehen. Wir konnten sprechen, sitzen oder gehen, du aber schliefst und wußtest von uns nicht. Am Abend hatten wir uns eingefunden. Nun ist es tiefe Nacht, du schläfst seit Stunden, du schliefst dich glühend an und wieder kühl; es wurde sanft in dir, und dein Gefühl, das schmerzliche, stieg auf wie Wasserblasen zu deinem Antlitz, wo sie sprangen zart in lauter Lächeln. Was einst Qual und Rasen gewesen, schreckenvoll mit Nacht geschart, verwandelte sich in der Schlafmagie. Nun deine letzten Träume, siehe sie um dich versammelt, da du nun genesen! Die Freundin still und ernst, stumm den Vasall, und mich, in Händen klar den Sprachkristall, und bunt und immer lächelnd den Chinesen ...“

„Aber Jason, mir scheint, dies war schon einmal, nur nicht so wunderbar und —“

„Das sind die Femrichter gewesen. Jenes war Mummenschanz, dieses ist wahr.“

„Soll ich nun sprechen?“

„Wenn du es willst. Wenn es zerbrechbar ist, sollst du es brechen, wenn es dir stillbar ist, daß du es stillst. Zwar ist der Teufel gemeinhin im Zweiten ...“

„Wie soll ichs verstehn?“

„Beizeiten! Laß sehn: Was du allein weißt — nicht wahr? — das ist gut. — Gut ist es und echt. Weiß es ein Zweiter mit dir, ist es schlecht, — dieweilen es heißt: sein Haben mitteilen. Teilst du aber dein Wissen mit Reden, so wird es zerrissen, was bleibt für jeden? Die Hälfte, nicht wahr? Und teilst du’s mit Dreien, teilst es mit Vieren, mit Hunderten gar, so wirst du’s verlieren, und keiner hat was. Darum sagt der Chinese vom Tao: Tao zu lehren, ist verwehrt. Tao gelehrt, hieße Tao geteilt, aber Tao ist das Eine. Darum ist Lao-Tse, der Reine, in die Verborgenheit gegangen. Nur im Verborgenen konnt er empfangen — den Zweiten, der mit ihm die Einheit sei.“

„Was heißt das? verzeih!“

„Gott ist immer der Zweite in Wahrheit. Was du allein besitzest in Klarheit, das hast du mit ihm. Jedes Ding ist ein Seraphim zwischen Gotte und dir. Seine Schwingen nach dort und hier aufgespannt, bilden die Brücke von dir zu dem Zweiten. Da doch alles nach allen Seiten unendlich ist, was könntest du halten, hielte das andere Ende nicht Er? Aber gestützt auf diese Gewalten, auf Gott und auf dich, wird es keiner zerschlagen und hat es die Kraft, die Erde zu tragen. Ein solches Ding, so zauberhaft, ist das Gebet, ein solches ist die Tat, die gut geschah, und jedes gute Wissen auch. Wenn du es aber teilst mit einem Dritten, so wird auch Gott — vergänglich ist sein Hauch, im Maß wie du vergänglich bist — zerschnitten. Er wird gevierteilt und getausendteilt. Christus war gut, war Gott ganz zugeheilt. Er war mit Gott, doch Paulus war schon schlecht, da er mit Christus war und Christi Knecht. Wissen, Habe, Kraft und Lehre, sei es rein und ganz vollkommen, giebs an Menschen, so wards Schwere und die Reinheit schon genommen. — Bleibe mit Gotte allein!“

„Und gäb es kein Mittel, ihn zu halten?“

„Dreieinigkeit giebt es. Es giebt das Falten der beiden Hände zum Gebet, auf deren Brückenjoch die Gottheit steht. So falte dich mit einem Andern fest. Daß nur keiner sich wanken läßt und niemals erschlafft! Euch zu halten, die Kraft ohne Gott: Gottheit erschafft. Sie wird Liebe genannt. Sie ist so bewandt, daß sie Gott teilen kann ohne Grenzen und ihn aus sich selbst ergänzen. Liebe kann ihn vielmals teilen und wieder erhalten. Nur hütet euch vor dem Erkalten, und daß kein Teil verloren geht, und daß nicht Einer den Andern von euch einen Augenblick nur und nur um ein Gran — weniger liebe, — so bleibt Gott vollkommen, und die Liebe vollkommen, und ihr selber vollkommen.“

„Ach, was ist vollkommen?“

„In Nachtgewalten — In Taggewittern — Sich süß erhalten — sich nicht verbittern!“ — —

Eine Weile herrschte das tiefe Schweigen. Leiser dann fuhr Jasons Stimme fort:

„Vollkommen war Renate, denn sie liebte. Nun ist sie die Verstörte und Betrübte; sie geht umher und kennt sich selbst nicht mehr. Sie ist geteilt in Leib und Seele, beide sind da und dort, dazwischen blitzt die Schneide; es ward die Gnade Sprache ihr genommen, sie ist verwaist und arm und unvollkommen, und ihre Augen sind wie Fenster leer. Sie fürchtet sich, sie weicht den Menschen aus. Sie sitzt im Zimmer, das Gesicht in Händen, sie schleicht sich manchmal in das Treppenhaus und tastet sich durch Zimmer an den Wänden. Gesichter kann sie nicht ertragen, sie stößt Geschrei aus wie ein Tier und läuft von hinnen. Sie war vollkommen; nun ist sie von Sinnen, und keiner weiß, wie man sie wohl erlöst.“

 

Georg hatte plötzlich die Empfindung, als sei das Licht dunkler geworden oder matter. Wollte die Lampe erlöschen? Waren seine Augen trüber geworden? Ach nein, in ihm war etwas Schmerzendes, und das gab einen Druck auf seine Sehkraft. Renate? Was war mit Renate?

„Ich verstehe nicht!“ stieß er hervor. „Was ist mit Renate?“

Jason schwieg. Georg sah, daß Magda das Gesicht in die Hände gelegt hatte. Danach sah er den Hauptmann, sah Jason und den Chinesen, der übrigens, wie er jetzt erkannte, zwar anhielt, chinesenhaft zu lächeln, aber zwei völlig europäische, ja erstaunlich runde und braune Augen hatte, glänzend wie Kastanien. Obgleich aber so alles umher natürlich geworden schien, eines Glanzes entkleidet, so fühlte er es doch nicht minder ernst, nicht minder tief. Es war nur verdunkelt; es ward traurig.

Die Hände fallen lassend, das Gesicht schmerzlich aufhebend, sagte Magda:

„Es ist, wie Jason erklärte. Sie ist — irr. Ja, sie liebte. Saint-Georges. Ich fand auf ihrem Schreibtisch einen Brief von ihm, in dem stand, daß er sie seit Jahren geliebt hat, und daß es über seine Kraft ging. Nun, da sie ihre Liebe erkannte, war es aus mit der seinen. Ich kam einen Tag später als sie nach Altenrepen zurück, da war sie schon, wie sie jetzt ist. Ihre Zofe hatte sie im Schlafzimmer an der Erde gefunden. Sie scheint sich vor uns Allen zu fürchten. Sie kleidet sich, ißt und schläft, aber sie spricht nicht, und wie es scheint, kann sie es wirklich nicht, denn sie stößt Laute hervor, die —“

Magda schwieg.

„Ich kenne sie ja,“ begann sie von neuem, „sie hat eine andre Natur als wir, und alles trifft sie ganz anders als uns. Immer schien sie kühl und beherrscht, und so leicht sie erglühte, war immer die Grenze da. Sie sparte alles auf. Oft hatte sie seltsame Gesichte. Dies Gesicht nun scheint anzuhalten, und — ach, ich habe ja immer gehofft, deshalb schrieb ich auch nie davon. Jetzt, wo so lange Zeit vergangen ist — es kam schon im Oktober —, mag dir das vielleicht sonderbar scheinen, aber die Tage jagten dahin, und an jedem hoffte ich, ich würde morgen erwachen, und alles sei ein Traum. Und ich wollte dich nicht erschrecken, denn —“ Magda errötete so tief, daß Georg es erkennen konnte durch die Dämmerung — „du liebst sie doch.“

„Aber nun wollen wir das lassen“, fuhr sie fort. „Ich bin ja gekommen ... Lange war ich ganz ruhig um dich, obwohl unsicher, aber was soll ich tun? Ich muß ja nun immer angestoßen werden. Als aber dein Brief kam nach Ulrikas Tod, und der an Benno, den er mir zeigte, — ja seitdem ist meine Angst um dich gestiegen, bis sie mich heute gepackt hat, und hier bin ich nun. Verzeih, daß ich nicht allein blieb mit dir, aber — wir sahn ja, was dir aus der Hand geglitten war, die Andern sahn es, und ich fürchtete mich vor deinem Erwachen ...“

Georg hörte die Worte nur von fern, wie zu einem Andern geredet. Er dachte mit einem bittern Schmerzgefühl an Renate, und dann, wie er sich sagte, daß sie stumm sei, nicht reden könne, stieg auf einmal wie ein Springquell in ihm die Sehnsucht nach Worten. Jetzt erst spürte er die ganze Pein des viele Wochen langen Schweigens, und Angst ergriff ihn, daß er hätte sterben können, ohne alles gesagt zu haben. Keiner hätte ihn verstanden, er sah sich selbst, sein Andenken, seine Seele, wie einen ausgegrabenen Torso zwischen ihnen liegen, ein Rätsel, an dem sie deuteten und alles falsch.

Diese Erregung aber senkte sich wieder, und hernach war ihm wunderbar ruhig ums Herz. Er begriff nun diese Magie. Daß diese Menschen in dieser Stunde um ihn waren, das war ihr Zauber, das hatte sie selber so still gemacht, das stieg wie ein friedfertiger Rauch aus ihnen und legte sich um seine Sinne.

Er beugte sich vornüber und verbarg das Gesicht in den Händen. Da erschien ihm schon alles zu Sagende in reinlicher Klarheit und als ob er es besser verstünde als jemals, dazu weder bitter noch schwer, sondern alles mitsamt der Schuld hatte nur sein einfaches Dasein, als ob es nur sich selbst angehörte. Worte zeigten sich schon, so leuchtend in Natürlichkeit, daß er zitterte vor Sehnsucht, sie sprechen zu können.

„Ja, ich will sprechen,“ sagte er, „ich will alles sagen, ihr Alle sollt es hören! Ihr werdet Alle sehn, daß ich recht hatte!“

Während dieser Worte gewahrte er, daß es doch wirklich dunkler im Raum geworden war. Jetzt blickte auch Jason in die Lampe und sagte:

„Die Lampe stirbt. Darf ich sie ausmachen?“ Und er neigte sich über die Platte zu ihr und drehte sie aus. Es war Nacht.

Georg sprach schon. Er hatte aber kaum die ersten Worte gesagt, als er sie nur noch mit Ohren hörte und wahrnahm, und indem er länger und länger redete, schien es ihm mitunter, als wäre in den Worten gar kein Sinn, als wären sie völlig verwirrt oder eine fremde Sprache, die er im Wahnsinn redete, ohne sie zu verstehn. Wo er begonnen hatte, wußte er nicht mehr, denn alsbald waren ihm ganz ferne Dinge, Bilder, Vorgänge aus seiner Kindheit in solcher Leibhaftigkeit erschienen und in solch einem Leuchten, und wie mit einem Zunicken bekundend, daß sie unendlich wichtig waren und keinesfalls verschwiegen werden durften, — daß er nicht rasch genug seine Schlinge darum werfen konnte, sie zu halten und zu beschreiben. So lange hielten sie geduldig still, dann aber waren sie augenblicks verschwunden ein jedes, und schon stand ein andres da, bereit, sich fangen zu lassen. So sprach er und sprach, es kam vor, daß er sich auf einer riesigen, abschüssigen Bahn zu befinden glaubte, die er mit Sturmeseile hinunterfuhr, spürend, wie die Luft ihn umsauste, oder war es die Zeit? Dann wieder stand alles still, und er glaubte, zu empfinden, daß alles dies in einem Ewigen vor sich ging, und dann sah er die Nacht um sein Haupt und da und dort den Schein eines Gesichts, und er saß hoch über der Welt in einer Versammlung verdunkelter Monde, und sein Leben rauschte in der Tiefe wie ein Strom. Jede Welle aber dieses Stroms hatte ihren Sinn und Bezug und ließ ihn zurück wie einen Bodensatz, — und das war alles Schuld. Nur von einer so ungeheuren Unabänderlichkeit war es jetzt, daß es die Beziehung auf ihn verloren hatte. Einen Augenblick fühlte er dies; da wars leicht. Plötzlich schlug ihn Bangnis an, wenn er zu Ende sein würde, dann wäre alles wie zuvor. In diesem Augenblick merkte er, daß er nichts mehr zu sagen hatte. Er suchte, lange wie ihm schien, aber nichts war da. Er hatte alles ausgeschöpft, und erschöpft saß er selber in dem Dunkel, das die Gewöhnung seiner Augen in graue Dämmerung verwandelt hatte, und sah wieder den bleichen Schein der Lampenkuppel, und den von Jasons Gesicht, von Magda und vom Hauptmann.

Sterbensangst ergriff ihn da. Was war eben gewesen? Was hatte er getan? Was sollte das alles? Ach, es sollte wohl noch das Urteil kommen? Das war ja alles nur Zeitversäumnis. Und nun stand alles noch einmal bevor ...

Das reißende Krachen eines Streichholzes ward hörbar, die Flamme zuckte auf und leuchtete, schwer stürzten Schatten in Masse von oben, und neben Magdas von der Seite hell beschienener Gestalt und hinter der des unwandelbar aufrecht stehenden Hauptmanns an der Wand reckten die Schatten sich den obern entgegen. Da war der ganze, düstre Raum, und Jason saß dort und näherte die Zündholzflamme der Siegelkerze im Leuchter, die langsam erglomm. Er blies das Streichholz aus und legte es in die Leuchterschale.

Magda sagte, tief Atem schöpfend:

„Das war dein Leben, Georg ... Ich danke dir, daß du so gesprochen hast! Dazu darf ich nichts sagen. Aber — was du in alledem immer wieder erkannt haben willst, das — das ist Wahnsinn, Georg, in dem Maß ist es Wahnsinn!“ Sie wandte sich hülflos um. „Sagt es ihm doch, daß es Wahnsinn ist!“

„Warum?“ sagte Jason. „Er hat doch recht. Wenn etwas Wahnsinn ist, ist es weniger wirklich darum? Ist der Irrsinn für den Irren das Leben oder nicht? Wahnsinn löscht doch sich selber nicht aus, nur wir sagen immer, wenn wir an Wahnsinn denken: das ist nichts. Auf diese Weise wird ihn wohl keiner überzeugen.“

„Ja, aber Jason ...“ Magda gab ihn auf, wandte sich wieder zu Georg hinüber und fragte bekümmert. „Was glaubtest du denn, Georg? Wenn all dies wirklich wahr sein sollte, glaubst du denn, daß du es mit dem Tode wieder gutmachen könntest? mit dem Tode?“

„Wenn ich so wahnsinnig wäre, wie du meinst ... Im Gegenteil, Magda, im Gegenteil!“ rief er gequält, „ich hätte Leben dazu gebraucht, zehn Leben, hundert! Muß ich dir denn erst sagen, daß ich eine Pflicht hier habe? Hast du denn meinen Brief nicht gelesen?“

„Welchen Brief?“ fragte sie erschreckt, und nun fiel ihm ein, daß der Brief, den er meinte, noch in seiner Lade lag.

„Keinen Brief!“ sagte er ärgerlich, „ich hab mich versprochen. Ja, nun ist alles wieder da, Mißverständnisse und Versprechungen und alles! Wie war denn das damals, Jason, als wir dich aus dem Teich holten? Da warst du höchst ungehalten, dich wiederfinden zu müssen. Kannst du beschwören, Jason, daß dir nicht wohler gewesen wäre, wenn —“

Jason lächelte vor sich hin. — Georg fuhr fort:

„Das ist ja alles gar nicht wahr! Um alldas handelt es sich gar nicht! Alldas war es nicht, sondern es war nur das — das rasende Verlangen, einmal heraus zu sein! Draußen! draußen! versteht denn das auf einmal keiner? Versteht denn keiner, wie bis zum Irrsinn das brennen kann, nicht los von etwas zu kommen, und daß alles zugepicht ist, alles verklebt und vernietet ist mit diesem Leben? Und Tag und Nacht und Woche um Woche kein Aufhören, nicht die kleinste Lücke mehr, und nur noch diese prasselnde Sehnsucht, einmal herauszustürzen aus diesem Leibe, aus diesem Ganzen, und lustig zu sein, darüber und — ein Geist — — und zur Stunde zu sagen: da bist du, und ich bin nicht darin! Es ist ja alles wie Musik so unaufhaltsam und atemlos und — zum Tollwerden, und Bogner hat wieder mal recht! Einmal alles anders sehn können als von innen. Umkrempen sich und in den Winden sein ganz nackt und das Eis am Leibe zu spüren von allen sieben Seiten! Eine Pause, Herrgott, eine Pause! Warum läuft denn der Tertianer, der ein schlechtes Zeugnis hat, in die Speisekammer und hängt sich auf? Weil er eine Pause will zwischen jetzt und dem Geständnis, und weil er nicht weiß, was der Tod ist.“ Er sprang auf. „Gnädiger Gott, Magda, ich weiß, was er ist!“

„Oh ich verstehe die Welt!“ fing er gleich darauf brennend wieder an. „Ihr einziges Verlangen ist meins. Der Schuster, wenn er einen Schuh gemacht hat, der Dichter, wenn er einen Vers, der Gott selber, der eine Welt fertig hat: sie Alle machen, so schäbig es werden mag, etwas, in dem sie sind, und in dem sie doch nicht mehr sind. In dem sie sich von außerhalb ansehn können und sich herrlich finden. Man denkt, man will sich befreien, jawohl, aber das will man ja nicht, man will nur ein Stück von sich in der Hand haben, um hineinzubeißen oder es wegzuschmeißen wie einen Stein. Man will sich gefangen haben außerhalb, und sich erlöst fühlen von sich. Und das ist die Erlösung der Welt! Das ist die Form. Die Welt ist Chaos, wir können sie nicht begreifen und nicht durchdringen. Aber drinnen sind wir, der Mensch, und wir sollen es lichten, und ordnen, und sinnvoll machen. Bewußt oder unbewußt, und ob Tat oder Werk: da stehn sie als Form, und da ist das Chaos klar. Es ist drin in der Form als der Stoff, und doch ist die Form es nicht mehr, sondern sie schließt es aus, und verneint es, und vernichtet es. Und also, Magda,“ schloß er heiser, „damit du mich verstehst: dies ist die Aufgabe, für jeden und für mich: die Verwandlung. Verwandlung des Chaos unaufhörlich und unermüdlich in die Form.“ Er fing, da er sie den Mund öffnen sah, gleich wieder an: „Und ich kann es nicht, ich kann es nicht mehr, ich sage dir, daß ich es nicht kann, denn ich kann die Verantwortung nicht auf mich nehmen! Und es ist also keine Form mehr da!“ schrie er wütend, „und wenn keine Form mehr reicht, ja was dann? Und wenn kein andrer Stoff zu haben ist, alles ausgeformt ist, alles in dir, in deine Seele geformt, was dann? In Stücke muß dann die Form wenigstens, in Stücke um jeden und jeden Preis, damit wenigstens Ruhe in der Welt ist, Ruhe!“

„Und der Selbstmord —“ Er war ganz heiser, aber im Augenblick, wo er Magda die Lippen bewegen sah, mußte er etwas sagen, und es fiel ihm immer etwas Neues ein, „der Selbstmord, Jason, der sogenannte, was ist das überhaupt? Du und ich, wir werdens ja wissen. Das ist keine Buße und kein Loskauf, und das sind alles bloß Ausdrücke! Und es hat mit dem Leben überhaupt nichts zu tun! Es hat der Tod einzutreten, und das weiß man, und das ist die Sachlage. Es ist nichts andres mehr da! das ist es, und es sind keine Gründe und all dergleichen, sondern man geht auf Pflaster, und da fängt der Asphalt an, weil er da anfängt, weil die Obrigkeit das so eingerichtet hat, und man ist des Pflasters nicht lebensüberdrüssig, sondern man geht auf den Asphalt, weil er da ist! Und man legt sich doch schlafen, wenn der Tag aus ist, und man ist müde!“

Georg hustete sich aus und verstummte. Dann setzte er sich wieder.

Nun begann Jason mit aller Freundlichkeit:

„Du sagtest eben Schlafen. Das hatte ich eigentlich schon früher erwartet. Du wolltest schlafen. Nun — hast du nicht? War es nicht eine Pause?“

Georg fühlte sich irgendwie umstrickt, wollte jedoch nicht nachgeben und beharrte: es sei nun aber alles wie vorher.

Das, meinte Jason, dürfte kein zwingender Einwand sein. Im Gegenteil, es sei das Wesen der Pause, daß danach alles wie zuvor sei; sonst könnte sie kaum Pause genannt werden, sondern Ende.

Georg beharrte weiter: „Sie genügt mir nicht!“

„Freilich,“ versetzte Jason, „das ganze Leben genügt kaum. Wenn die ewige Fermate kommt, war es immer zu wenig, und man versucht die Ritardandos. Aber wir wollen nicht mit Worten streiten.“

„Die Ritardandos wären auch wohl das Letzte, was du mir nachweisen könntest, nicht wahr? Aber du hattest ja ganz recht: es kommt vom Mitteilen. Nun hab ich mich unter euch aufgeteilt, nun habt ihr jeder ein elend kleines Stück, einer hat den Arm, einer ein Bein, und ich fühle mich längst nicht mehr ganz.“

„Und das liegt daran, wie ich sagte,“ erwiderte ruhig Jason, „daß du zu wenig Liebe hast.“

Georg fühlte sich in die Brust getroffen. Jason hatte recht: die Andern hier waren gut, Jason selber, Magda, der Hauptmann in seiner Stummheit, und dieser rundäugige Kleine hier. Er selber aber, er war unheilbar ...

Da warf er das Gesicht in die Hände, fühlte sich jämmerlicher zerschnitten als jemals und wünschte sich den Tod.

Dieweil hörte er Magdas Stimme, entfernt, die von ihm sprach. Er wollte nichts hören, verstand nur hier und da ein Wort, und es schien ihm, sie sagte, er habe vielleicht bislang zu sehr sich selber und für sich allein gelebt, zuviel an sich selbst gedacht statt an Andre, — und von seiner Jugend sprach sie, und daß er viel zu lernen gehabt habe. „Viel mehr Möglichkeiten“, hörte er sie sagen, „als Andre, und deshalb mehr Schwierigkeiten ...“ Und zuletzt: „Sollte nun nicht alldas den Sinn haben, daß du nun an die Grenze gelangt bist und — ausgelernt hast, und nun, was du für dich gewonnen hast, für Andre verwenden kannst?“

Georg fuhr verzweifelt wieder empor. „Aber Magda! Das ist es ja doch! Warum verstehst du es denn nicht? Ich möchte mich ja verwenden, ich will es ja so brennend, aber ich habe doch nur diesen Weg, das Land, das Volk, das Reich! Wie soll ich denn die Verantwortung für eine Million übernehmen, wenn ich für mich selber ratlos bin? Und wer sagt dir denn, daß ich ausgelernt habe, daß ich gelernt habe überhaupt? Ich hab doch nur Schulden machen gelernt! Ich kann ja nicht mal praktisch etwas! Regieren ...“ Er stockte. Etwas, das er während der letzten Jahre hundertmal empfunden und als eitle Eingebildetheit unterdrückt hatte; was noch in den letzten Wochen mitunter aufgezuckt und von ihm zerpreßt war; jene dunkle Vorstellung im Gedanken an sein Regieren, die sich schattenhaft hinter den Worten: Ich kann es ... erhoben und im Schwinden vor seinem Druck ein dünnes Lächeln der Selbstverachtung um seinen Mund gelegt hatte: sie stand auf einmal in einer Weise ruhig und unverhohlen da, daß er sekundenlange nichts tun konnte, als sie ansehn.

Du kannst es, wenn du willst, sagte sie ruhig. Du fühlst dich dazu begabt und bestimmt, und wenn du das im Tiefsten deines Wesens, wo du echt bist, nicht immer gewußt hättest, nur als Geheimnis vor dir selber es wahrend, so wärst du ja eine Kanaille gewesen.

Die Erscheinung schwand langsam und ließ Georg in Verwirrung Magda gegenüber, die sehr deutlich dasaß, zur Hälfte im Kerzenlicht, zur andern im Schatten, und ihn ansah, so daß es schien, als ob eben sie die Worte der Erscheinung gesprochen hätte. Da bemerkte er seine Verwirrung und dachte: Sie macht mich ja nur wieder wirr, und morgen bin ich allein ...

„Rieferling!“ rief er plötzlich. „Nun sagen Sie etwas. Sie sind ein schlichter Mensch. Ich verspreche Ihnen —“ sich vorsetzend im Stuhl, die Hände an den Knäufen der Lehnen, erleuchtet von der List, mit der er sie jetzt Alle fangen würde; „ich verspreche Ihnen,“ wiederholte er fast schmeichelnd, „wenn Sie das rechte Wort — nein, wenn Sie nur ein Wort treffen, in dem ich die geringste Möglichkeit für mich finden kann, so will ich ihr folgen.“

Vorgebeugt bleibend in seiner lauernden Haltung, schon im Vortriumph, daß nun das gewünschte Ende für ihn nahe war, glühte er mit beiden Augen den Menschen an, der, die Hände fest um die Lehne des vor ihm stehenden Stuhls pressend, die blickenden Augen in dem geprägten, geordneten und stämmigen Gesicht auf ihn geheftet hielt. Nach einer Weile sprach er einfach: „Hoheit sollten es versuchen ...“

Ho — — heit ... tönte es echohaft in Georg nach. Er setzte sich im Stuhl zurück. Ho — — heit ... Ein sonderbares Wort. Ho — — heit ... sollten es versuchen ... Das war wieder so ein Ausweg, so eine schwächliche Halbheit! schlicht gedacht, üblich; praktisch nannte man so etwas, praktisches Leben — das war der Ausdruck. Möglichst wenig heroisch.

„Es hat ja doch keinen Sinn mehr ...“ würgte er endlich widerwillig hervor. „Ich kann ja auch nicht mehr! Ich habe gelitten, gut, darüber ist weiter nichts zu sagen. Aber alldas — es muß doch ein Ergebnis tragen, eine Erkenntnis, ein — kurz ein Ergebnis!“

„Das Ergebnis des Leidens“, sagte der Hauptmann, seltsamerweise errötend, „ist wohl, durchlitten zu sein.“

Worauf er sich entschuldigte: das sei so ein Gedanke, er wisse selbst nicht, wie ... er könnte nicht sagen, daß er aus eigner Erfahrung ...

Georg stand auf. „Du mußt todmüde sein, Magda, komm, geh schlafen.“ Er sah in diesem Augenblick, wie grau und zerfallen ihr Gesicht war. „Rieferling wird Li alles zeigen. Wir können ja morgen weiterreden.“ Er sah auf die Uhr und erschrak. Sie stand auf ein Viertel nach sieben. „Was ist das?“ fragte er, „ist es jetzt wirklich Viertel acht?“ Die Uhr ans Ohr haltend, merkte er, daß sie ging, und der große Zeiger stand auch genau genommen erst zwölf Minuten über Voll. Einen Augenblick glaubte er, alles geträumt zu haben und vor derselben Minute zu stehn wie am Abend zuvor. Dann hörte er Jason sagen, es sei an vier Uhr in der Nacht gewesen, als Georg aufgewacht sei. Magda erhob sich und bewegte sich auf ihn zu mit vorgestreckten Händen. Er ließ sie die seinen fassen und litt es, daß sie sie liebkoste und an die Wange drückte, indem es ihm beschämend und verkleinernd vorkam, sich streicheln zu lassen, weil er sich nicht totgeschossen hatte, und er konnte es nicht lassen, dieweil er sie in die Arme schloß, zu sagen: „Nun gehts glücklich aus wie eine Sitzung im Bürgerverein. Ihr Frauen seid nur froh, wenn ihr alles eingereiht habt!“

„Ist es denn, Georg?“ fragte sie, ängstlich zu lächeln bemüht, „ist es denn wirklich?“

Er dachte hart: Wenn sie mich nicht sehen kann durch meine Schuld, so habe ich ja wohl ein Recht, jetzt zu lügen! und sagte mit müdem Ton: „Es scheint ja so. Du —“ fuhr er zärtlicher fort, „warst ja immer bereit zur Verantwortung.“

„Ja,“ sagte Jason, „sie hat mich vor Teichen und Windmühlen bewahrt, und deshalb saßen wir hier Alle zusammen. Gute Nacht, Georg!“

Er reichte ihm flüchtig die Hand und ging an ihm vorüber zur Tür. Li hatte inzwischen einen besonders langen, braungelben Mantel mit sehr breiten Ärmeln übergezogen und einen steifen Hut aufgesetzt. Georg nahm ihm Magdas Pelzmantel ab und hängte ihn um ihre Schultern, worauf er sie zur Tür führte. Jason wartete dort und nahm ihren Arm. Alle schienen es eilig zu haben, als könnte er etwas zurücknehmen. Georg drückte dem Hauptmann die Hand und sah sie alle Vier die Senkung hinabsteigen in der Richtung zu Cornelias Haus. Dabei bemerkte er, daß es neblig geworden war; die Nacht über dem grauen Dunst war pechschwarz, die Luft nicht eben winterlich, feucht, aber kalt genug, um Georg schaudern zu lassen, während er die Gestalten in der Tiefe mählig verschwinden sah. Plötzlich dann war alles leer.

Hin und wieder zusammenschaudernd in der Kälte lehnte Georg am Türpfosten. Was nun? — Er kam sich zusammengeschrumpft vor und erbärmlich klein. In seinen Schläfen pochte das Blut, nun stach es in seinen Augen, die Müdheit war wieder da. Halb unbewußt wandte er sich zur offenen Tür zurück, sah eine Weile dem Brennen der fernen Kerze zu, sah die Schatten der Stühle sich leise anheben, und plötzlich wurden sie alle beweglich, ein Luftzug strich an ihm vorüber, ein warmer Hauch von drinnen. Im Aufflackern der Kerzenflamme sah er einen Gegenstand auf dem runden Tisch Schatten werfen, seine Pistole.

Da lag sie! Es zuckte schon in seiner Hand, als ihm einfiel, wie sonderbar das sei, daß weder Jason noch der Hauptmann sie an sich genommen hatte. Das tat man doch! Als ob sie sich verabredet hätten! — Ach, das ist elend, dachte Georg, mit diesem Vertrauensbeweis wollten sie mir nun die Hände binden!

Und wenn sie sie mitgenommen hätten, fiel ihm hinwider ein, was dann?

Ihm schauderte heftiger in der Kälte, ohne doch drinnen eintreten zu können, denn dann, dachte er, nimmt mich das Alte wieder auf, und ich bin im Geleise. — Er war allein; Nacht und Nebel —, das war geblieben. — Aber die See! zuckte es durch ihn hin. Wenn ich sie nehme statt der Pistole, so verstehen sie alles und erkennen den Ernst.

Georg schloß gedankenlos die Zimmertür, drehte sich langsam und ging, stolpernd im höckrigen Grasboden, Schläfen und Augenwinkel zerstochen von Erschöpftheit, nach der Stelle am Deichrand, wo die Treppe nach unten begann.

Der Nebel war hier außen etwas dichter; die Sichtbarkeit des Sandbodens unten zeigte, daß Ebbe war. Richtig, als er am Abend hier gestanden hatte, war die Flut noch im Steigen gewesen.

Stufe um Stufe trat Georg nach unten. — Ein Freund kalten Seewassers bin ich nie gewesen, dachte er verächtlich, aber — das wird sich ja wohl noch überwinden lassen. Wenn es nur nicht so weit wäre bis in die Tiefe ...

Er ging in den Nebel hinein. Das Ebbewasser pflegte hier weit zurückzuweichen, da noch die versunkenen Inseln vor Hallig Hooge lagen.

Georg hatte die Lider über die Augen fallen lassen, gehend, weil er im Gehen war, in einer leeren Unschlüssigkeit, die ihn peinigte. Als er die Lider wieder hob, sagte es in ihm: Da! — — Da war es ...

Im Nebel, gerade vor ihm, stand eine ferne Gestalt, nicht mehr als ein Schatten. Georg selber stand wie sein Herz. Das jagte im nächsten Augenblick Wellen und Sprünge unzähliger wütender Schläge bis gegen seinen Hals hinauf. Ihn grauste.

Dann ermannte er sich. Schwerfällig und langsam formten sich Vorstellungen in ihm. Jason ... Rieferling ...

Wenn es aber einer von ihnen wäre, so würde er doch kommen ... Er wartete ... Plötzlich hatte er mit großer Erleichterung das gewisse Gefühl, daß der dort ihm den Rücken zuwandte und von ihm nichts wußte; es war der Hauptmann. Er wollte ihn rufen, aber das gelang ihm nicht. Nur räuspern konnte er sich und tat es, so laut er vermochte.

Der Schatten bewegte sich nicht, und nun war Georg doch nicht mehr sicher, daß er von ihm abgewandt stand. So versuchte er jetzt, sich auf den Namen zu besinnen, jenen Namen, — allein während das Grauen wieder in ihm stieg, merkte er, daß jenes Wort nicht zu finden war. Es lag auf seiner Zunge, Georg stieß ... Al— Albert ... Aldebaran ... Baldamus ... Nein M! ein M wars. Ma— — Magus ...

In diesem Augenblick schien der Schatten zu schwinden, und Georg flüsterte Atem schöpfend: Eine Sinnestäuschung! — worauf er sich einen Stoß gab und vorwärts ging. Mut zeiget auch ... flüsterte es in ihm, Mut zeiget auch ...

Aber mit einem maßlosen Entsetzen mußte er plötzlich merken, daß er nicht gradeaus ging, nicht konnte, daß seine Füße — er drückte mit aller Gewalt —, nein, die Füße wollten nicht dorthin, wo der Schatten gewesen war, sie sträubten sich wie Tiere, es war fast, als ob sie knurrten und sich gegenstemmten, und Georg überließ sich ihnen in hängender Schlaffheit, so daß sie ihn in einer gebogenen Linie nach rechts davonführten, und — — da war der Schatten wieder, bewegte sich, glitt, auf derselben Höhe mit ihm.

Georg wußte, wenn er jetzt nur den Namen hatte, wenn er ihn rief, brüllte, so war alles verschwunden. Aber er konnte nicht, er ging, und plötzlich war der Schatten weg.

Unter dem Nebel, fünf Schritte vor Georg, glänzte es. Etwas Blinkendes lag dort, ein Krokodil, — das Wasser. Dennoch spürte Georg für eine Sekunde eine Erleichterung. Er wußte nun, worauf es ankam, und wo er war. Er mußte wieder nach rechts hinüber. Ich will laufen, dachte er, setzte auch dazu an, aber seine Beine waren schwer wie Säcke voll Sand. Nun redete er sich Mut zu. Das ist ja alles Unsinn! Es ist ja nichts da! Du bist übermüdet, du hast Einbildungen! und er ging derweil mit zusammengebissenen Zähnen, den Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen, hin und wieder strauchelnd, nur mehr sich nach rechts haltend, längst in der Gewißheit, daß die Gestalt jetzt hinter ihm herkam. Nun würde sie sich weiter und weiter vorschieben, bis sie auf seiner Höhe, zwischen ihm und dem Deich war. Oh dieser verruchte Nebel! Er sah nach oben. Einen Stern! nur einen einzigen Stern!

Georg blieb stehn. Fast war er bereit, sich auszuliefern. Er fühlte, daß unter seinem Stirnhaar sich Tropfen lösten und kalt über sein Gesicht rannen. Er hatte zu nichts mehr Kraft. Wie lange Zeit so verging, wußte er nicht. Endlich drehte er langsam den Kopf, langsam schließlich den Rumpf. Da war die Gestalt, stehend wie er selber.

Georg ging wieder; er ging und summte dazu im Takt seiner Füße. Dann zählte er: Eins — zwei — drei — vier — fünf — sechs ... Irgendwo in einer unsichtbaren Ferne war ein erleuchtetes Fenster, und er sah das Haus, die Umrisse in der Nacht, und rechts davon, drei Schritte weit von ihm selber den Abhang des Deiches, wo er ein Ende nahm. Er glaubte, alldas wirklich zu sehn, aber als er es ins Auge faßte, war da nur Nebel.

Auf einmal — er tat, als geschehe es unabsichtlich — blickte er nach rechts und bemerkte den Schatten dort etwas hinter sich, der ihm nachging.

Georg schritt aus, so gut er konnte. Er ging ja nach rechts, gleich mußte der Deich kommen, bald auch die Lücke, und er rechnete: sieben Minuten konnten es im ganzen sein, ein gutes Stück hatte er schon hinter sich und —

Was war das? Es glänzte grade vor ihm. Das Wasser! Wo kam das Wasser her? War er doch daraufzu gegangen? Oder — nein, hier war eine Buchtung, das Wasser schnitt tiefer in den Strand ein, — merkwürdig! fiel ihm ein, wo sind denn die Buhnen geblieben? Ah, versandet! besann er sich und machte sich klar, daß er nun rechtshin am Wasser einhergehn müsse, — worauf er sich drehte, schon spürend, daß seine Füße einsanken, im aufgeweichten Sandboden strauchelte und nun die Gestalt grade vor sich entdeckte, allerdings entfernt.

Der Kopf fiel ihm vornüber. Aber jetzt, wie er in dem weicheren Sand dahinging, sich am Wasser haltend, so dicht er konnte, fing er an, sich zu sammeln. Haha! dachte er, die Gewohnheit, da ist sie ja wieder! Ich habe mich daran gewöhnt! — Und er konnte sich nun wieder besinnen, ihm fiel allerlei ein, eine blaue Jacke erschien sehr schön, der Chinese, die Kerze vor den Schubläden mit glänzenden Messingknöpfen, daneben, mit Schatten gefüllt, die Nische, dann der Park von Helenenruh, sommerlich, grün ... und nun bemerkte er, daß die Nässe und das Wasser zu seiner Linken waren. Er ging weiter nach rechts, seine Eile verhaltend in der Vorstellung, wenn er liefe, würde die Gestalt auf ihn stürzen. Da! da war sie ja, fast auf gleicher Höhe mit ihm, sie war näher, sie wollte ihn gegen die See drängen, er mußte sie mit aller Gewalt wegdenken, denn das Grausen rieselte von ihr aus, und er ging, die linke Hand auf der Stelle seines Anzugs, wo er die Uhr fühlen konnte, die sich nicht lesen ließ in dem Dunkel. Wo blieb denn die Lücke im Deich? Sieben Minuten mußten lange vorüber sein ...

Da blieb er stehn. Seine Kraft war dahin. Das heißt, dachte er, die Kraft mich verfolgen zu lassen. Nun wollen wir aber sehn!

Er saugte sich künstlich voll Wut. Es dauerte noch eine Weile, bis er die Lähmung in seinen Fingern überwunden und die kraftlosen nach innen gekrümmt hatte. Die Fäuste schienen ihm aber so locker, daß er die Finger immer tiefer nach innen preßte, bis er plötzlich mit einem über Erwarten heftigen Schmerz die Nägel im Fleisch fühlte. Dann riß er die Augen weit auf. Es flimmerte, aber da stand die Gestalt. Er setzte zum Gehen an, senkte den Kopf tief gegen die Brust, setzte abermal an, hörte ein Röcheln und ging auf sie zu.

Alles an ihm raste vor ungeheurer Angst, und doch blieb ein Rest, der Rest, der ihm sagte, daß noch Kraft in ihm war, zu gehn, darauflos zu gehn, der ihn vor dem Zusammenbruch bewahrte. Dies dauerte endlos. Als er den Kopf hob, war die Gestalt so nah, daß er fast aufgeschrieen hätte, aber da sah er hinter ihr eine dunkle Wand, den Deich, und dann: daß die Gestalt sein Vater war.

Er machte noch ein paar Schritte, schluchzte, fühlte, wie er am ganzen Leibe erlosch, und während über ihm die Stimme seines Vaters begütigend sagte: Es ist genug, Georg! legte er sich, in staunender Erleichterung hinsterbend, nieder vor seine Füße.

Siebentes Kapitel: Februar

Bogner an Georg

Böhne, am 6. II.

Mein Lieber!

Da ich höre, daß Du noch auf Deiner Insel bist, möchte ich Dich für den Fall Deiner — hoffentlich mit dem Frühjahr erfolgenden — Abreise bitten, nicht an mir vorüberzugehn. Ich bin nämlich dahier geblieben. Es kam so, daß ich während der zwei Stunden, die ich auf den Anschlußzug zu warten hatte, einen Spaziergang über die schönen alten Stadtwälle machte und im Nordwesten — in der Richtung auf Helenenruh — unweit im Wiesengelände ein Gebäude liegen sah, dessen runde, flachgedeckte Gestalt — wie ein Panorama — mich anzog. Es war die Reitbahn eines Tattersalls, dessen Unternehmer, ein ehemaliger Offizier, kürzlich mit Spielschulden flüchtig wurde; die Pferde sind verkauft, der Tattersall — mit der Reitbahn hängt ein hübsches kleines Haus zusammen — war verkäuflich. Mein guter Stern wollte, daß ich die Tante des Unternehmers, eine angenehme alte Dame, verwaist und betrübt zurückgeblieben fand, — und so habe ich denn das Ganze, Haus, Atelier und Wirtschafterin erworben. Die Reitbahn hat gutes Oberlicht, und in mir war das Fieber der Arbeit, so daß ich glücklich war, nicht erst weiter zu müssen. Leinwand und alles sonst Nötige gab es im Ort zu kaufen, ich ließ mir dann meine Habe aus Altenrepen kommen, und kurz: seit ich anfing zu arbeiten, habe ich noch keinen Augenblick aufgehört; hatte, wie es scheint, den Vesuv in der Brust und stehe nun verschüttet vom Ausbruch. Du kannst dann einiges sehn, wenn Du kommst. Mir ist wohl. Ich wünsche Dir das gleiche, mein Lieber, und bin Dein guter Freund

Bogner

Magda an Georg

am 15. Februar

Georg, oh mein Georg! Ich habe sie wieder! Lieber Georg, denke doch nur, wir haben sie! Renate, sie lebt, ach sie ist freilich krank nun, sehr krank, der Arzt will mir nicht sagen, was es ist, aber das Leben, sagt er, sei nicht gefährdet. Sie liegt in Fieber, schon Tage, schreit und — ach nein, wozu davon reden, es ist ja Hoffnung! Georg, es werden viele Fehler in diesem Brief sein, ich treffe ja kaum die Tasten überhaupt, wie sollt ich die richtigen treffen?

Ja, und weißt Du denn, wem wir dies zu verdanken haben? Denke bloß! Jason! Er ist selber ganz ratlos vor Verwunderung und schüttelt den Kopf beinah wie damals, als er das Schütteln hatte. Daß er, Jason, etwas tun konnte, etwas Richtiges tun, — das wäre ein völliger Umsturz, sagte er, und er könnte nur Gott danken, daß er keine Weltanschauung gehabt hätte, denn was wäre aus der sonst geworden? Aber nun höre, wie es gekommen ist! Es war ja so einfach, es war, sagt Jason, sogar noch einfacher als das Kolumbusei.

Jason kam, um Adieu zu sagen. Irene hat ihn nämlich gebeten, sie in Dresden zu treffen, es scheint ihr nicht gut zu gehn, Jason machte ein paar Andeutungen, sie schrieb ja auch kein Wort die ganze Zeit, und das Kloster scheint sie also wieder verlassen zu wollen. — Nun wollte er versuchen, Renate noch einmal zu sehn, und da ich dachte, daß sie seinen Anblick vielleicht ertragen könnte, so ging ich mit ihm hinauf, sie war eben in ihrem Zimmer. Er trat allein ein und ließ die Tür offen, aber gleich gab es drinnen einen Aufschrei, und sie floh so schnell an mir vorüber, daß ich mich wunderte, wo sie gleich hergekommen war, aber Jason sagte, sie hätte dicht an der Tür gesessen, und das ist ja nun ein glücklicher Zufall gewesen, nämlich daß sie nach draußen und nicht ins Schlafzimmer gelaufen war, wie Du gleich sehn wirst. Jason sah sich nämlich im Zimmer um und fragte sofort: Wo ist denn der Ech-en-Aton? Ist er nicht da? frage ich; dann hat sie ihn wohl weggestellt. Aber warum denn? fragt er wieder und hat sich gleich etwas gedacht, während ich gar nichts ahnte, aber so ist Jason. Er fing nun an im Zimmer zu suchen, ich mußte ihm auch den Schlüssel zum Schreibtisch geben, den ich selber abgezogen hatte seinerzeit, aber der Kopf war nicht zu finden. Wir klingelten nach Franziska, aber sie wußte nichts zu sagen. Jason ließ sich nicht irremachen, behauptete steif und fest, sie müßte ihn versteckt haben, und suchte im Schlafzimmer, und nun — dort hat er ihn denn wirklich gefunden, ganz unten im Wäscheschrank, unter einem Stoß Kissenbezüge, die „so eigentümlich dagelegen hätten“, wie er sagte.

Ja, und als er ihn dann hatte, wußte er sich im Grunde auch keines Rats mehr; nur daß es irgendeine Bewandtnis mit dem Kopf haben müsse, das könne er ihm überall abfühlen, erklärte er und meinte schließlich, das Richtige würde zweifellos sein, ihn wieder auf sein Postament zu stellen, und das tat er.

Wir haben dann hinter dem Vorhang der Schlafzimmertür auf Renates Wiederkehr gewartet, und kaum war sie eingetreten, so höre ich einen lauten Aufschrei und dann einen Fall. Als wir hinzukamen, war sie bewußtlos, sie ist aber bald wieder zu sich gekommen und hat mich erkannt, auch ein paar Worte mit mir gesprochen, ganz klar, obschon sie nicht wußte, was mit ihr geschehen war. Dann schlief sie ein, und dann kam leider das Fieber.

Jason sagt: Weißt du was? Sie hat sich vor ihm gefürchtet und hat ihn versteckt, und dann hat sie sich gefürchtet, er könnte doch irgendwo sein, und die Gesichter von uns für seines gehalten. — Jason ist immer genügsam, also war ers auch mit dieser Erklärung, und wir Alle müssen uns zufriedengeben, bis wir vielleicht einmal mehr erfahren. Ach, mir genügts ja auch, ich hab ja genug an meiner Glückseligkeit, und je weniger ich weiß, um so mehr kann ich an ein Wunder glauben, und ist es nicht jedenfalls über alle Vernunft wunderbar? Wüßtest Du nur recht, wie sehr es mich auch wieder für Dich tröstet! Mein Glaube an Dein Heil ist noch einmal so stark geworden!

Sieh, mein Georg, es war ja so ganz ein Wunder, wie wir in der Nacht zu Dir kamen, und wie Du da saßest und schliefest! Schliefest, Georg, so tief, so schwer, — glaubst Du, daß ich es nicht gesehen habe an Deinen Atemzügen? mit der Waffe in der Hand, anstatt tot zu sein! Wenn Du das an einem Andern erlebt hättest wie ich an Dir — all die vielen Worte nachher hättest Du nicht mehr gesprochen, sondern wie ich gewußt, daß hier ein Ende war und keine Pause! Und war das kein Wunder, daß Dir der Schlaf geschenkt wurde in dem Augenblick, wo Du Dir das Leben nehmen wolltest? Den Tod nehmen, wollte ich sagen, der Ausdruck führte mich irre. Das sah ich so deutlich wie mit beiden Augen: wie Du in Deiner Müdigkeit die Hand des Todes zu fassen meintest, und wie statt seiner der Bruder sich dazwischenschob und Dir lächelnd seine Hand hinhielt. Und ich habe lange Zeit ganz allein im Zimmer gesessen und mich nicht gesorgt um Dein Erwachen, und erst nach Stunden, wie immer wieder die Andern kamen, um zu sehn, ob Du wach seist, und was Du dann tun würdest, da wurde ich freilich ängstlich durch sie und bat sie zu bleiben.

Ich hatte, als ich da in Deiner Nähe saß und Dich atmen hörte, immer ein sehr trauriges Bild vor Augen, und ich will Dir davon sagen. Nämlich damals, an Deinem letzten Geburtstag, als mir das in dem Tempel geschehen war, versuchte ich zu gehn, weil ich gehört hatte, daß Du in das Wasser stürztest, aber ich glitt auf den Stufen aus und habe dann dort gesessen und nicht gewußt, was nun kommen würde. Nach langer Zeit hörte ich dann Schritte und daß jemand bei mir stand und leise jammerte und fragte, was mir wäre. Das war jene Frau, Georg, ich weiß nicht, wie sie heißt, sie kauerte sich dann zu mir, zitterte und schluchzte, — ihr Gesicht war überschwemmt von Tränen, ach, und sie roch so nach Wein, ich dachte fast, es wäre Wein, wovon ihr Gesicht so naß war.

Das war meine dunkelste Stunde, Georg, ich dachte immer, ich müßte es Dir einmal sagen. Ich war nicht gut darin, ich habe die Andre mehr als einmal von mir gestoßen, bevor ich sie ertrug. Ich weiß nicht, warum gerade dieser Augenblick in meinen Gedanken war, als Du saßest und schliefst; es ist ja auch gleich, und nun habe ich es gesagt.

Ein Wunder, heißt es, würde mit den Gesetzen der Natur in Widerspruch stehn, das wäre sein Wesen und eben deshalb könne es nicht geschehn. Und das Wunderbare, Georg, steht es nicht mit den Gesetzen der Vernunft im tiefsten Widerspruch, wenn auch nicht mit der Natur, und wäre es wunderbar, wenn es sich gleich einfügen wollte? wenn es nicht selber sein Gesetz gäbe und uns nötigte, uns ihm zu fügen?

Nun lebe wohl, lieber Georg, ich hoffe, recht bald, eine gute Nachricht von Dir in Händen zu haben, und küsse Dich als Deine alte

Anna

Georg an Magda

Hallig Hooge, am 20. II.

Anna!

Du hast sie wieder! Ja, welch ein Glück für Dich und für sie, das mitzuempfinden ich mich nach Kräften bemühe. Zwar habe ich keine Ahnung, was für ein „Elch-in-Atomen“ das sein mag, der in Deinem Brief umgeht und auch die arme Renate so entsetzte, aber was liegt daran? Ich hoffe vor allem, daß auch die Krankheit, von der Du schreibst, sich als so ungefährlich erweise, wie der Arzt versprach, und dazu, daß der erweckerische Jason so gut das Richtige getroffen habe, wie jener Christus mit dem Lazarus.

Was Du mir von Dir geschrieben hast, nahm ich in mein Herz auf. Danken kann ich Dir nicht dafür, aber ich kann Dir nun etwas von mir schreiben — nichts aus neuer Zeit! —, das mir lange Zeit für zu heilig galt, um es selber mit Dir teilen zu können, — allein wer weiß? es giebt mehr solche Dinge, die man in Heiligkeit hüllt — als Vorwand, um sie für sich allein zu behalten.

In jener Nacht, als Du schlafen gegangen warst, beruhigt, wie ich nun wohl glauben darf, durch andres als durch meine Versicherung, daß „alles eingereiht“ sei, denn sie war mir leider nicht Ernst, — in jener Nacht war ich noch jenseit des Deiches, an der See. Was ich dort wollte, kannst Du Dir denken. Auch dieses Mal wurde ich verhindert. Von wem? Von meinem Vater.

Es hat überlange gedauert, bis ich ihn erkannte, und was er gewollt hat, wurde mir erst manchen Tag später klar. Ich hielt ihn für den Dränger, für jenes Gespenst, das hier umgehn soll und die Menschen in die See drängen, und grausige Minuten lang glaubte ich mich von ihm verfolgt. Am Ende ging ich doch auf ihn zu, mit meiner äußersten Kraft, und als ich dann sah, wer es war, der vor mir stand, und seine Stimme vernahm: Es ist genug! — da, Magda, da erst bin ich gestorben.

Ich erinnerte mich später deutlich, vor langer Zeit einmal geträumt zu haben, ich stürbe. Es war ein weiches Stürzen ins Bodenlose, aber während alles an mir sich auflöste und ich, noch in tausend Ängsten, wußte, daß ich starb, überwehte mich schon eine linde Verwunderung, mit der ich dachte: so leicht ist es? — Und nicht anders war es jetzt, als ich zu seinen Füßen erlosch.

Als ich wieder zu mir kam — das kann ich Dir noch sagen —, sah ich, daß ich im ganzen keine zweihundert Meter weit bei meiner Flucht gekommen war, denn ich hatte von der Treppe aus noch nicht die nächste Buhne erreicht. Es gab noch viel Seltsames, von dem ich schreiben könnte — wie ich mich auf den Namen Waldemar Montanus besinnen wollte und es um keinen Preis konnte, (mir fiel später die Geschichte vom Bruder Ali Babas ein, in der ich als Junge nie begriff, wie er das einfache Wort Sesam vergessen konnte) — aber wir wollen dies gut sein lassen; nur eins wollte ich Dir noch sagen, was mir erst Tage später deutlich ward.

Wo nämlich hätte der Dränger erscheinen müssen, Anna, wenn er einen Menschen in die See drängen wollte? Doch wohl in der Nähe des Deiches, nicht wahr? Dieser aber, der mir erschien, stand am Wasser, auf das ich zuging, und er erwartete mich; um mich nicht hineinzulassen! Es ergreift mich heute nichts mehr so, wie das, daß ich, als ich zum Wasser ging, nicht einmal wußte, ob ich wirklich hineingehn würde, — er aber besorgt war auf alle Fälle und mir den Weg verlegte. Dann folgte er mir, und ich floh, und da merkte er wohl, daß ich durchaus nicht ins Wasser ging, sondern daran her, und nun wollte er sich zu erkennen geben und verstellte mir die Richtung zum Deich. Ach, nun ist alles begreiflich und klar, und nur dies, daß ich, der noch Stunden zuvor entschlossen zum Tode war, nicht mehr daran dachte, nein, mit keinem fernsten Gedanken mehr daran dachte, als ich in die See getrieben zu werden glaubte, — das erscheint mir noch einigermaßen sonderbar, obwohl die Sache vermutlich so liegen wird, daß ich mich freilich nicht vor der See fürchtete, sondern — vor dem Grauen, und daß dieses alles mir verkehrte, — als worin wiederum eine kleine Erkenntnis enthalten ist, indem ich mich früher stets gewundert habe, wenn ich las oder hörte, daß bei einer Feuersbrunst jemand aus Angst durch das Fenster gesprungen sei, aus Furcht vor dem Tod in den Tod, denn auch solch einer springt nicht aus Todesfurcht, sondern bloß aus Grauen, das ihn verkehrte und Wege sehn ließ, wo keine waren.

Siehst Du wohl die feine Klugheit, die rechteckigen Gedanken in dem Vorstehenden, kleine Anna, siehst Du sie gut und bist höchlich zufrieden und denkst: er ist gänzlich der Alte?

Im Übrigen ist zu sagen, daß ich bereits an mancherlei wieder Gewöhnung gefunden habe, zum Beispiel an gebackener Flunder. Ferner begann ich zu arbeiten, habe mir staatswissenschaftliche Bücher kommen lassen, auch Geschichte (Notabene, wie steht es mit der amerikanischen von Saint-Georges? erscheint sie oder nicht?), ich lese mit dem Hauptmann französisch den kunstvollsten und dürrsten Roman der Welt, Flauberts Education sentimentale; und arbeite am Abend mit ihm den Zweifrontenkrieg aus, denn er ist eine strategische Leuchte und giebt an, es daure nicht so lange, bis Rußland und Frankreich und vielleicht noch sieben Völker über uns herfallen (im Ernst, Anna, es giebt sonst vernünftige Menschen, die sowas glauben!). Schließlich versuche ich, die Schriften, die mir täglich von Birnbaum vorgelegt werden, nicht nur zu unterzeichnen, sondern auch zu lesen und, was mehr, zu verstehn. Kurzum: ich bin am Leben.

Siehst Du, Anna, Du bist zufrieden mit so etwas! Ein Kind wird geboren, und wenn es nur lebt, ist die Mutter schon froh, gleichviel zu welcher Alraune an Häßlichkeit und Bosheit es sich auswachsen mag. Ach, ihr Mütter, ihr Mütter! Wege finden sich immer, meint ihr, und: kommt Zeit kommt Rat, wie all die Sprüche heißen, aber: wenn nun bloß ein Weg ist?

Du weißt den Weg, Anna, und — ich kann ihn nicht gehn. Und dies ist das Elend, daß, wenn ich denke, ich kann es vielleicht doch, ich es schon aus Gewohnheit denke und nicht aus Willen, und es einmal aus Gewohnheit tun werde und nicht aus Kraft.

Siehe den Fluch der Gewohnheit: Du schreibst von Wundern, vom Wunderbaren immerhin, und selbst dieses, wie sehr bildete es sich in Dir, wie sehr warst Du selber der Wundertäter! Ich, Anna, ich sah das Wunder leibhaft, mit meinen Augen, sah meinen toten Vater wiederkehren um meinethalb, und schon als ich hinterdrein erwachte, riet mir eine sogenannte Stimme, es nicht anzuerkennen. Ich erkenne es an, ich halte daran fest, aber — es ist so: es muß uns immer alles wahrscheinlich sein und berechenbar. Wir versagen, so wie wir nicht mehr messen können. Wir sind die vollkommenen Narren, als welche das Wunder immer ersehnen, und in der Not ihrer Sehnsucht das Wunder selbst zum Maß aller Dinge machen und sie gewöhnlich, alltäglich und minder heißen. Und kommt das Wunder mit seinem eigenen Maß, wie Du sagst, so sehen wir uns zu nichts genötigt, als in möglichster Hurtigkeit ein andres Maß zu ergreifen, und so ertappen wir jetzt das Gewöhnliche, das Natürliche. Nun ging längst alles wieder in mich ein, und ich glaube zu fühlen, wie die Erscheinung des Toten, aus meiner Todesnot entsprungen, meiner eigenen Brust entstiegen vor mich hintrat. Wie sollte da mein Einschlafen mit der Pistole mir genügen, das mir freilich ein Zeichen hätte sein sollen, daß mir der Tod nicht bestimmt war? Noch glaube ich, Anna, an das erste Wunder, aber schon arbeitet dieses zweite an seiner Wurzel, es umzuhacken, und mit Stricken von oben am himmlischen Wipfel zerrt die uralte Riesin: Gewohnheit ...

Ach, und warum dies alles? Es liegt am Blut. Es war immer kalt, oder es ist nun so kalt geworden, daß es nicht wieder erwarmen kann. Mir scheint, es ist Februar. Das ist der schlimmste Monat, der, wo alles schon möchte, und wo alles noch eingefroren ist. Umsonst, kleine Sonnenseele, umsonst!

Genug! Du hast Deinen Willen: ich lebe. Gebe Dir Gott dazu, daß ich Dir einmal so dankbar dafür sein kann, wie Du es — nach üblicher Rechnung — verdienst. Wie immer Dein

Georg

Achtes Kapitel: März

Aus Renates Gedächtnisbuch

Anfang März

Geliebter Himmel, blasser,

Von Abendglut gebräunt,

Liebling der blanken Wasser

Und Seelenfreund —

Ich sitze dir zu Füßen,

Aus Krankheit wieder erwacht.

Genesung zu versüßen,

Dein ist sie, ach brauch deine Macht!

Nun, gleich Verse? Nein, dieser Anlauf schoß wohl doch übers Ziel hinaus, und da sitz ich freilich schon fest. Ach, und nun seh ich erst, was ich da richtig in der Hand halte! Einen Bleistift, einen ganz schönen, ganz langen und ganz gelben Bleistift, gelb wie eine Primel, nein, was bist du schön! du siehst ja wie ein Prinz aus! Laß mal zählen: Eins, zwei, drei, vier — sechs Ecken und sechs Kanten, ich kann sie von den Fingerspitzen bis ins Handgelenk fühlen, wenn ich schreibe, und es laufen nur ganz lange schlanke Buchstaben aus einem so schlanken Gegenstand. Lieber Himmel, ein Bleistift — und macht glücklich. Ich halte einen Bleistift! Den Satz könnt ich hundertmal abschreiben wie eine Strafarbeit, aber das sollte keine Strafe sein, und beim hundertsten Mal würd ich noch nicht wissen, was er richtig bedeutet.

Still! Ganz langsam! Schreib was andres! Schreib: Das — Leben — ist — süß. Punkt. So. Ach, warum muß ich nun weinen?

an einem andern Tage

Nachmittags aufwachen im Sofa, so leicht nun, gleich so klar, und im Fenster ein Holdes sehn, unbekannt was, alles so hell, kühl, und es summt nur noch immer im Kopf, und Geräusche sind so fern! Ach, das ist ja das süße Leben, immer wieder, immer wieder! — Dann aufstehn, geheim, als wärs noch verboten, die Beine sind freilich schwer, aber — sich langsam aufrichten, und nun dastehn, es zittert in den Knieen, aber man steht, und nun — sich langsam um den Tisch herumschieben, ach, und schon ist die ganze Welt verwandelt, es schwindelt, weil man nur steht. Horch, wie still es ist! In einem fremden Haus tief unten geht eine Tür. Das ist schön, wie die Tür geht. Und immer steht man, zum Fenster gewandt, die Hände auf den Tisch gestützt, im Fenster ists leer und klar, wie ist alles unbekannt! Die Bücher auf dem Tisch, die kleine rote Schale auf der Decke, die Decke selber, der Tisch, lauter harte, deutliche, glänzende Dinge, sind alle ganz neu wie Geschenke, und auf einmal mußt du an dir heruntersehn, du bist ja ganz weiß, du trägst ja ein ganz weißes Kleid, es ist so leicht wie eine Wolke, die Falten bewegen sich geheimnisvoll ganz von selbst, es duftet aus ihm, es knistert und bebt, und all das heißt: die Gesundheit. Es liest sich wie eine Überschrift im Lesebuch. Endlich mußt du ans Fenster, du bist wie ein kleines Kind, zum Fenster ists elend weit, aber du bist schon kühn, wenn man nur will, gehts, und auf einmal, mit drei kleinen Schritten bist du hurtig hinüber, und da knickst du auf den Stuhl, sagst: Ach Gott! — Nun ists aus, du bist ganz matt, du hast genug vom Leben für heut.

Freitag

Freitag, heut ist Freitag. Freitag — Dreitag — drei Tage sitzt du nun schon am Fenster und kannst schreiben. Oh mein Gott, daß nur das Leben, das nackte Leben so süß sein kann! Da steht eine Hyazinthe im Fenster, eine große, hellblaue Hyazinthe, in einem Topf mit moosgrüner Manschette, die ist schön anzufassen, so rauh. Die Hyazinthe dagegen ist glatt, sie ist ganz wie aus einem dicken, hellblauen Duft gemacht, so einen Stoff giebt es sonst nicht, vielleicht Reif, so dicker blauer Reif an Trauben und Pflaumen, mit Frühjahrhimmel gemischt und etwas weißer Wolke, und ganz wenig Schnee, und etwas Narzisse, und all das steht ganz zart und steif und nackend da, macht die Luft süß um sich her und ist ein großer Trost.

Draußen, da ist noch gar nichts, ein Garten, ganz kahl, schwarze Bäume, ein einziger grüner Busch ganz unten, der Rasen ist gelbgrau wie ein Fell, da steht eine Kapelle sehr sichtbar mit hohen Fenstern. Aber oben, da ist schon der Frühling, da sind ganz stillhaltende Wolken zum Anschaun wie auf Bildern, weiße, überall beschattet, dahinter ist eine blaue Leere, weich, kühl — und doch warm, in der es rieselt und sich wandelt unmerklich und vergeht. Plötzlich wird dir warm in einem ganz hellen Schein, es blendet, es überläuft dich was, dir zieht das Herz sich zusammen — —

am 7. März

Was ist mir denn?

Schrieb ich denn wirklich selber das, was ich heute lesen muß vom süßen Leben? Kann denn eine einzige Nacht einen Menschen so verwandeln? Als seien meine Augen hart geworden, und alle Dinge stehn wie in einem Spiegel ohne Luft. Ach nein, verwandelt hat mich die Nacht nicht, es stieg nur nach oben, was erst in dieser Nacht fertig wurde, der Baum von Eis in meiner Brust, und da steht er nun, und seine Zweige klirren mir am Herzen, und es ist ganz lautlos dabei.

Kalt, oh wie kalt ist der Tag und ist mir! Wohin geriet ich denn nur? In welches Leben? Ich weiß, ich träumte von Einem diese Nacht, für den ich keinen rechten Namen mehr habe. Weiß nicht mehr, was es war, es war kalt. Mir stachs eine eisige Nadel durch die Brust, und alles rollte sich zusammen und erstarrte. Da sitz ich nun, die Feder bewegt sich leicht übers kühle und weiße Papier, Schneefeld, Schneefeld! Wenn ich durchs Fenster schaue, seh ich es rieseln in der kalten grauen Luft, die schwarzen Zweige starren, Tropfen blinken am Glase, hier innen leb ich. Warum? Wozu? Was soll hieraus werden?

am 12.

Ich schrieb nichts auf in diesen Tagen, obgleich sie so lang waren wie die meilenlangen Winterseen, bläulich in der unendlichen Weiße, aufgehend in weißlichem Dampf unter dem dunkelgrauen Himmel, und in der maßlosen Stille klingt nur einmal ein heiserer Schrei, etwas Schwarzes steigt aus weißem Uferbaum, schwer im Flug wie ein langsamer Dämon streicht es seeüber, und von den Ästen, wo es abflog, fallen locker die weißen, leichten, eiskalten Kissen.

Immer liegt mir der See vor der Seele, ich schau drüberhin, ich muß immer sehen und sehn, nichts verändert sich, und ich merke endlich, daß ich immer auf den einen schwarzen Flecken im weißen Baum starre, wo der Vogel abflog. Der kleine Kalender sagt, es ist März, im Garten ist ein grüner Busch mehr, aber der Rasen blieb wie zuerst, ich ging einmal schnell drüberhin, dann dacht ich: Ach, keine Krokus werden da mehr stehn, — wo du gegangen bist. Das ist mir im Sinn geblieben, es klingt wie ein Stück Lied, so ein aufgetautes Stück.

Da stand ich vor der Orgel. Kühl war sie und fremd. Ich wagte keine Taste zu berühren. Sie war so kalt, als hätte sie in einem Haus aus Schnee gestanden. Einmal vor Jahren träumte mir, daß ich spielte; lebendiges Wasser rauschte unter meinen Füßen hervor, da tönte die Orgel, vox humana sang mit der Stimme der Amsel. Eingefroren, eingefroren, oh ihr Wasser des Lebens, ich töne nicht mehr!

am 13.

War denn dir so weiß alles vor Augen, Lazarus, armer, als dich das ewige Lächeln aufgetaut hatte aus dem Frost? Aber vor dir stand Einer, der wußte, was gut ist, auf seiner Schulter saß die schwarze Amsel und sang, Primeln fielen aus seiner erwärmten Hand; als er gegangen war, sah man da Kissen von Veilchen, wo seine Füße standen.

Die Tage kommen, die Tage gehn. Ich glaube manchmal, ich muß sterben, ehe der Tag herum ist, ehe das Dunkel kommt und endlich die Stunde des Schlafs. Wie lange muß ich dann noch liegen, immer fröstelnd in den Decken; die blauweißen Falten des Betthimmels über mir fließen herunter, bleich in der Dämmerung, wie aus Eis, in der lautlosen Luft rieselt das Eisige, langsam gefriert alles, ich suche, ich suche, und alles ist leer ...

am 14.

Und du, Freund der Sonne, Gesegneter von Strahlenhand, ach, einmal auch mein Freund, du siehst über mich hinweg, auch du bist mir zu Schnee geworden. Sie haben dich mir wieder gegeben, hätten sie’s lieber nicht getan!

Der Garten, das weiß ich nun wieder, war nicht der Garten, sondern die Lichtung der Insel. Immer wieder zog es mich dorthin, Grauen zog mich hin, ich erschrak, wie sie sich veränderte, wie sie zerfiel, wie die Blätter herunterwirbelten, ich glaube, ich muß sie immer aufgerafft haben und mit den Händen hochgehalten, oder träumt ich das nur, daß ich immerfort herumjagte und die Blätter schalt und aufraffte und in die Luft warf? Aber es nützte ja nichts, und dann waren eines Tages die Bäume leer. Oh, und diese Angst, unaufhörlich in der Brust! Meist vergaß ich ja alles, nur die Angst war da; plötzlich dann fiel mir das Gesicht ein, alle meine Angst galt dem Gesicht, das erscheinen könnte, im Gezweige, im Zwielicht, ich glaube, besonders in der Dämmerung abends muß es am schlimmsten gewesen sein. Ach, die grenzenlose Süßigkeit des ersten Erschreckens damals auf der wirklichen Insel hatte sich mir in unseliges Grausen verkehrt, und nun drohte das weiße Gesicht von überall, und immer atmete ich auf, es nicht zu sehn, und immer befürchtete ich es wieder. Es waren wohl die Gesichter der Andern, die immer wieder entsetzensvoll gegen mich vorbrachen, und ich schrie und wußte nicht wohin laufen vor Angst.

Ich vermißte einen Brief in diesen Tagen, Magda gab ihn mir ängstlich, ich las ihn, er sagte mir nichts. Er galt nicht mehr mir. Seltsam nur: als ich am Ende war, sah ich mich selber aufstehn, den Ech-en-Aton vom Sockel nehmen, eine Weile dann nicht wissen wohin mit ihm, sondern nur, daß er fort mußte, um jeden Preis fort, daß er sonst aus meiner Hand fallen und grauenvoll zerscherben würde. Dann war ich auf einmal im Schlafzimmer, vor einem Schrank, und stellte ihn blindlings hinein. Ein Schmerz zerriß mich blendend von oben bis unten, noch einmal in der Erinnerung.

Das also, das muß ich damals getan haben, als ich jenen Brief zum ersten Mal las.

Dann fragte ich Magda, und sie sagte mir, daß Jason den Kopf im Wäscheschrank gefunden hat.

Es ist noch winterlich draußen, alle Zimmer sind geheizt und trocken von der warmen Heizungsluft, und ich höre nicht auf, am ganzen Leibe zu zittern vor innerer Kälte. Ich wollte ein lebendiges Feuer haben und ließ meinen Ofen heizen. Erst war es schön, die Hände anhaften zu lassen an der glatten, glühenden Säule, gleich wurden sie ganz warm, aber die Wärme drang nicht weiter vor, und da fing ich an zu schaudern, eiskalt wie ich mich fühlte mit meinen feurigen Händen.

Der Arzt tröstete mich mit Frühling, Sommer und Sonnenwärme und riet eine Reise. Sonne, ach Sonne, du willst keine Seele erwärmen, die von innen gefror, und ich weiß, ich weiß wohl, was mir erlosch. Das ist die Wärme der Menschen, Wärme aus ihnen und Wärme zu ihnen. Der Eine nahm sie aus allen fort. Er nahm alles an sich: den Schmerz und das Glück, den Gram und die Wärme. Ich bin bitter geworden.

Eine Stunde

Lebt ich wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

Oh wer es glauben könnte! Dem war die Brust quellend und reich, gesegnet von Nachwonne, der das schrieb. Wozu leb ich? Es ist ja leer alles, ganz leer. Darum soll ich jetzt leben? Mich ankleiden und essen, Orgel spielen, mit Menschen sprechen und lesen und diese und jene Erfahrung sammeln, den einen Tag wie den andern, dafür? Oh meine erloschene Liebe, dafür? Barmherziger Gott, mir bricht die ganze Brust in Schluchzen aus, wenn ich denke, daß ich alles, alles sparte auf den einen Tag, und — nichts mehr. Warum weinen? Nichts mehr bewegt sich, auch die Tränen stehn still.

Georg an Magda

Hallig Hooge, am 18. März

Mit einem Wort: Laokoon! Laokoon, oder die aussichtslose Verstricktheit: ein Alter, zwei Junge, drei Schlangen — sämtlich in meiner Figur dargestellt. Nur daß mein Mund nicht zum — unkünstlerischen — Schrei geöffnet ist, möchte ich festgestellt haben.

Herz, mein teuerstes, glaubst du wirklich, daß hier alles, worauf es ankommt, mir nicht so klar ist wie Glas? Es bedurfte nur Deines Briefes und in ihm der bezaubernden Schilderung meiner eignen, entschlafnen Person, infolge deren ich mich selber sitzen sah in Eurer andächtigen Runde, um mir die Augen völlig zu öffnen. Und nun sehe ich mich dasitzen allerdings wie so etwas Halbgöttliches und zwar — woher mir diese Erscheinung kam, blieb unbekannt — durchaus als jenen unflätigen, aber achtbaren schlafenden Faun in München, aus dessen reisiger Ungeschlachtheit dennoch etwas Göttliches raucht, ein Göttliches, das nichts andres ist als der Schlaf.

Nicht umsonst von den Alten als Gottheit verehrt: es ist wahrlich etwas Göttliches um den Schlaf des Menschen, um den Schlaf einer Seele, — das weiß ich und darf es sagen, der ich auf der Jagd nach diesem flüchtigsten aller Götter ihn verfolgt habe bis hinunter an das schwarze Tor, hinter dem es braust von den Schatten. Wahrhaftig, es war nicht unheroisch, zu schlafen in jener Stunde, da ich die Jagd aufgab und er nun stillschweigend aus den Stämmen hervortrat und die ermüdete Hand ergriff. Wie wenn es geheißen hätte in einem arkadischen Dorf: ein Gott sitzt an der Straße vor dem Tor, er wollte vorüber, da ergriff ihn die Müdigkeit, nun sitzt er im Schlummer dort ganz wie ein schlafender Mensch, und man kann ihn sehn. Und nun eilen sie in den glühenden Mittag hinaus und versammeln sich um jenen und staunen an seinem Schlaf. — So war auch Euch jene Stunde heilig, meine Anna, und gewiß: wenn es einer Sache nicht bedurfte hinterdrein, so waren es all unsre Worte.

Es bedurfte der Worte nicht! Denn nie hat es der Worte bedurft zu nachträglicher Deutung; Wissen ist schweigend, aber es ist mein Fluch, daß ich ihrer niemals entraten konnte. Was ich auch erlebte: nicht eher wurde es mir haltbar, ehe es mir denkbar erschien. Dies aber ist Gnade der Dichter: ein Stummes zu geben wie die Blume, deren Sprache der Duft ist, zu reden und dennoch zu schweigen, aus dem menschlichsten Stoff, aus der Sprache, die göttliche Form zu bilden, und doch nicht einen Hauch ihr zu mindern von ihrem Duft. Ich bin kein Dichter, aber immer möchte ich dies auch, und meine Worte sind nur Fallen und Schlingen, in denen vielleicht Unsterbliches hängt, — halb erwürgt. Gut und heilig jene Stunde des Schlafs, aber ungut und unheilig darüber jedes Wort; ungut und unheilig, da nur das Schweigen gilt und Ehrfurcht vor der großen Erscheinung, ungut und unheilig die Deinen, Anna, in denen Du mirs erklärtest, und hier die meinen, in denen ich mich zu Ende erklärte.

Mir wäre weit besser, ich läge da tot. Wenn ich auch als ein dreifach Umstrickter gestorben wäre, so war es doch eine königliche Verstrickung geworden, und es wäre nicht kleinlich gewesen, den beiden großen Pythons, Schuld und Tod, zu erliegen. Die sind nun auch klein geworden, sehn der gemeinen Ringelnatter ganz ähnlich, und andre von gleicher Statur gesellten sich zu: Schwäche, Arglist, die sagt: Hoheit sollten es versuchen ... und Feigheit, die überreden will, es käme am Ende doch nur aufs Leben an, und auf einen Thron brauchte sich keiner zu setzen, der nicht wolle.

Klarheit, o himmlische Klarheit, warum niemals zu mir? Erkenntnisse hat mich auch Bogner viele gelehrt, so viel, daß, wenn es Pfähle wären, ein ganzes Venedig sich drauf bauen ließe. Damals, als der kranke Heros neben mir saß, da glühte sein Herz in meinem Blut, und was ich erkannte, das war mir auch Leben. Längst wieder leblos und eisig geworden, klirre ich mit den schönen Erkenntnissen herum wie mit nutzlosen Prunkstücken, als sei damals Festtag gewesen und Alltag heut, und wann unterschiede sich Alltag und Festtag im Leben der Seele?

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hülfe kommt, — ach Anna, bist Du denn dort drüben? Ich denke viel an Dich, ich sehe Dich dann immer vor mir sitzen wie damals, als ich erwachte, und jenes Glück und die Zauber des schönen Erwachens atmen mich sanft wieder an.

Aber ich will nicht sein, hörst Du, ich will, ich will, ich will nicht wieder sein — nach diesem! —, der ich zuvor war, nur reicher um diese Erfahrung, daß am Ende alles tragbar ist. Als hätt ich ein Tier erlegt und seine Haut angetan, und täglich wird sie dünner vom Tragen. Ach, daß kein Hirsch je zu königlich war, man macht einen Jagdrock aus seinem Fell und drechselt Knöpfe aus dem heroischen Gehörn. Ich will das nicht, Anna, und diese Verstricktheit muß einmal zerreißen, oder ich zerreiße denn mich.

Georg

Der Brief blieb liegen, von Rechts wegen; die drohend herausgeballte Faust am Ende wäre Dir unleidlich zu sehn gewesen. Tage sind wieder vergangen, die kalte Verdrossenheit, die mich schon hatte, als ich noch schrieb, hielt seitdem an. Nimm ihn, er ist Dein Eigentum, leg ihn zum Übrigen, Du gute Geduld! Ich bin seit gestern entschlossen abzureisen und wäre schon davon, wenn ich nicht halb betäubt wäre von einer wilden Erkältung, die in meinem Kopf alle Ein- und Ausgänge verstopfte. So bleibt mir unklar, ob ich gleich nach Altenrepen fahre, oder erst — mit Deiner Erlaubnis — nach Helenenruh. Mein Fernbleiben von den Regierungsgeschäften ist nunmehr nicht zu entschuldigen, da ich leidlich leistungsfähig bin. Ich habe mir den Vollbart abgeschnitten, nur die Armeebürste auf der Oberlippe sitzen lassen, die beiläufig dunkelrot ist, und kann nun ganz gut für einen Prinzen oder angehenden Herzog gelten. Vor Altenrepen hält mich eine letzte Feigheit zurück; ich überlege ...

am Abend

Der Brief sollte mit dem Kurier zurückgehn, da bringt er mir ein Telegramm von Tante Henriette mit der Nachricht vom Tode ihres Mannes. „Recht bekümmert“ nennt sie sich darin, und so stelle ich sie mir vor. Ich fahre also morgen mit der Frühflut und denke am Nachmittag in Berlin zu sein. Das paßt mir als Übergang und Pause vor dem endgültigen Schritt.

Dank übrigens für Deinen Gruß durch die Cornelia! Sie besuchte mich hier, Du wirst von ihr gehört haben, daß sie sich wieder mit ihrem ehemaligen Verlobten zusammenzutun gedenkt, wenn der vier Wochen Nervenheilanstalt hinter sich hat. Ein entzückender Gedanke! Und so echt weiblich! Denn: wie herrlich sinnlos kann man sich da zum Opfer bringen! —

Wenn ich noch einmal über die letzten Wochen hinblicke, so sehe ich, daß ich in einer völligen Hoffnungslosigkeit lebe. Hoffnungslos mir selbst, da, wie ich schon sagte, nur um eine Erfahrung reicher; hoffnungslos für alles Tun und Lassen, was in diesen Erdreichen geschieht. Was aus diesem Stumpf etwa zu entwickeln sein mag, wissen die Götter.

Immerhin auf baldiges Wiedersehn!

Aus den Papieren Georgs

In Berlin, 20. März

Um Mitternacht schlug ich das Fenster auf, vielleicht daß der Schlaf draußen stünde, der mich wiederum mied. (Aber möglich, daß es hier ein andrer Schlaf ist, der Schlaf der großen Städte, für den ich noch die magische Formel nicht fand.) Rechts oben in der Höhe, hinter einem marmornen Gewirk von Wolkenweiß und mattem Blau, war der abnehmende Mond zu sehn, gerade über der Spitze des kleinen Matthäikirchturms, dessen Schattenriß schwarz und altertümlich inmitten des Platzes stand. Ein dumpfes Brausen, nicht das nahe der See, entfernt: die schlaflose Geschäftigkeit des Labyrinths. Da erschien mir am Himmel oben mein letzter Augenblick auf Hallig Hooge.

Schon wartete das Boot, ich hatte über den eilfertigen Vorbereitungen der Abreise den Abschied vergessen und ging jetzt noch einmal zu Ulrikas Grab. Der einsame weiße Stein mit ihrem Namen im graugelben Vorjahrgras glänzte spärlich in einem eben hervorbrechenden, sehr kühlen Morgenlicht, das meine Augen nach oben lenkte, obwohl es meinen Schatten vor mich über den Stein legte, denn ich stand mit den Augen zur See. Seltsam war der Himmel. Das ganze gewaltige Halbrund der Kuppel, in der ich stand, war in der Höhe reinblau, gedämpftes Morgenblau, aber rundum auf den Rand, bis zu Haushöhe schiens, war eine Lagerung von sechs, sieben Stufen weißer Quadern mit Fugen geädert von Blau. Die See darunter war dunkel, in kleinen Wellen kräftig bewegt; breitere Wogen zu meinen Füßen zerschellten zu reinweißem Schaum, laut brausend mit einzeln vernehmlichen Stimmen, und der Wind strich sausend herauf. Wunderbar aber waren diese, ringsum zum Kreise geschlossenen Terrassen von Wolken zu sehn; jeden Augenblick war mirs, als müßte ich Gestalten des Äthers auf sie hinaustreten sehn, leise farbig und glänzend aus der kühlblauen Wand, allein sie blieben immer leer, und nur, als ich mich suchend endlich umwandte, blendete mich die Morgensonne, die, den obersten Rand des Wolkengemäuers im Osten zerbrechend und schmelzend, goldene Hörner und Stäbe durch die Fugen nach unten zwängte, und dort glitzerte silbrig die See.

Ganz plötzlich, mit einem Zucken, fühlte ich den Frühling. Die Mulde unter meinen Füßen schien mir grüner, als sie nach der Jahreszeit sein konnte; rechts unten glänzte das Fachwerk weiß und blau, fern drüben das tiefe Rot an Cornelias Haus, grad gegenüber mir, in der Lücke des Deiches, lag das Boot schneeweiß unter Segel, wo Cornelias grüne Jacke leuchtete; links auf meiner Höhe stand mein alter Turm in dem Licht. Mich fröstelte im Wind, aber meine Sinne sogen Frühling aus den Farben des Toten, hier, wo das Jahr durch kaum eine blumige Farbe erscheint. Die zarte Neuigkeit spürt ich, unsichtbar aufgesprossen im Gras überall, eine Regung, einen Atemzug aus dem Innern. So sehr vergaß ich mich selber über diesem, daß ich den Deich hinabstieg und fortging, ohne der Toten zu gedenken.

Als ich dann im Boot saß, das grüne Eiland vor mir im Entgleiten sich langsam erhob und erhöht im dunklen Rollen der Wasser ruhte, erschien mirs auf einmal wie eine riesige Schildkröte. Auf ihren gewölbten Rücken hatten ich und die Andern uns gerettet, nackt in unserm Leben, Schiffbrüchige aus einem Sturm, wie ichs als Knabe in jenen Büchern des Behagens las. Monatelang hatten wir dort gehaust, so gut sichs eben hausen ließ, Gestrandete: einer starb, einer baute ein Floß und warf sich mit ihm in die See, nun schieden die Letzten. In diesem Augenblick glaubte ich zu sehn, wie das bislang geduldig still gelegene Tier sich erleichtert bewegte und — ich sahs von mir abgewandt liegen nach der offenen See hinaus — den Kopf hob und drehte, um nach mir zu sehn.

Da erinnerte mich der noch ragende Turm des Grabes in seiner Nähe, und erschreckend befiel mich die Verlassenheit der Toten, die dorten verblieben war, allein mit zwei Geräuschen, jenem des ewig sausenden Windes und jenem der wogenden See. Ein unendlicher Schmerz ergriff mich auf einmal, ich hätte dort liegen können wie sie, aber mir hätte es keinen Schaden getan. Sie war hülflos und zart, nun versank vor meinen Augen die Insel, ich konnte mir leicht einbilden, das riesige Tier fortrudern zu sehn und hinuntertauchen in die Dämmerungen der schweigsamen Tiefe. Die verarmte Tote! sie blieb allein, unbekannt den brüllenden Völkern des Meers, aus denen bald einer heraufsteigen würde zum verlassenen Eiland, dort zu sitzen in seiner schwermütigen Natur und ins dumpfe Muschelhorn zu stoßen. Die Sonne stieg höher herauf, den Schatten meines Segels legte sie auf die glänzenden Hügel des Wassers, aber mir ging aus dem Odem der windigen Kälte die schwere, die sternlose Herbstnacht auf über dem Eiland, und die abgeschiedene Seele erstand schattig und dürftig auf dem Kranze des Deichs, leise klagend um ein Ungebornes und um den Undank des Daseins für vieles reine Bemühn. — —

Webe mir denn ein starkes Kleid, blindäugige Mutter, Hoffnungslosigkeit, armlos den Webstuhl tretend mit ehernen Füßen, an dem die Fäden von selber fließen aus dem Unsichtbaren der ewigen Nacht. So läuft einmal alles hinaus auf ein Dürftiges: Haltbarkeit.

Ich erinnere mich: auf einem Ritt durch die Ebene um Helenenruh sah ich auf einer Wiese eine uralte, magre braune Stute, die beim Nahen des Wallachs sofort die Ohren hochstellte und herangejagt kam bis an das Gatter, das sie von uns trennte, und an dessen andrer Seite sie mit uns trabte bis an sein Ende, wo sie noch lange stand und uns nachsah, das heißt meinem Pferde, das kein Ohr und nicht den Kopf ihretwegen bewegte. In ihrem langen Halse war ein Loch, in dem bei jedem ihrer Atemzüge die Spitze eines Rohres zum Vorschein kam, und sie atmete laut rasselnd und schnaufend. Vielleicht daß diese haltbare Alte mich damals an Tante Henriette erinnerte, und deshalb erschien sie mir nun.

So wird auch der Seele, wenn der natürliche Eingang des Lebens versagt, ein neuer gebohrt, und der ganze Unterschied besteht in den lauteren Atemzügen. Besonders leise wird mein Leben ja fortan nicht mehr sein, und keiner wird, und ich selber kaum, die rasselnde Seele hören, die sich haltbar erweist.

am 22.

Soll ich aufschreiben, was heut sich begab? Wird dieses nun, dieses die Kraft beweisen, die ich in ihm zu erkennen glaubte, und die bei ihm Unsterblichkeit heißt, oder wird es mir schon unter den Fingern zur Haltbarkeit von blauer Tinte zerrinnen? Gott helfe mir, ich will es versuchen.

Gleichviel, wie ich, noch einmal mit mir allein, in den Tiergarten geriet und, wieder in plötzlicher Erinnerung an Hallig Hooge, zwischen den kaum ergrünten Büschen hindurch, wo erste Amseln über den Rasen schlüpften und erste warme Erleichterungen durch die alte Kühle der Lüfte zogen, in die Stadt gelangte, durch das Tor, die Linden hinunter und weiter gedankenlos auf der linken Straßenseite bis zur Charlottenstraße, wo eine eben anfahrende und haltende Elektrische Bahn mich zum Stehenbleiben nötigte. Ich sah zu, wie eine Dame sehr mühselig ausstieg, oben vom Schaffner, unten von einem Herrn gestützt, und in ihm erkannte ich langsam Hardenberg. Die Dame war seine Frau; ich sprach sie an, sie kamen aus dem Norden, wo sie sich um das Fortkommen irgendwelcher Kinder ohne oder mit verderbten Eltern bemühten, von denen die Frau gleich mit ihrer strudelnden Lebendigkeit und so erregt zu erzählen begann, daß ihr Mann und ich beim Gehen alle Mühe hatten, sie zwischen uns zu halten, dermaßen riß sie an uns mit ihren unbeherrschten Bewegungen. Da sie mir sagten, sie seien im Begriff, einen Freund zu besuchen, den ich sofort kennen lernen müßte, wenn er mir noch fremd sei, so schloß ich mich ihnen an; sie machten nur eine Anspielung auf die ägyptische Abteilung des neuen Museums.

Schwer zu glauben: vor einem Jahr war ich dort und sah nichts. Woher plötzlich die Augen? Gute Anna, kein Wunder könnte mir je wunderbarer erscheinen, als was ich nun sah. Ein Ding von dieser Wunderart hätte genügt, und ich sah hundert, sah Flure und Säle gefüllt mit Unglaublichkeit. Das ist Ägypten: ein würfelförmiger Block aus Granit, bedeckt mit Hieroglyphen; mitten in der Oberseite des Blockes der Kopf eines Kindes. Dahinter der größere Kopf des in dem Würfel hockenden Mannes, ein schlichtes Antlitz mit leider zertrümmerter Nase, das Haar, in strenge Linien gepreßt, links und rechts von dem Haupte in festen Massen niedergestrichen und, unterhalb wagerecht abgeschnitten, solchermaßen auf die Oberfläche des Würfels gestellt. In der ungeheuren Starre des Granit aber bewegen sich die hochgestellten Knie und die darum geschlungenen Arme des Mannes, zwischen denen das Kind steht, lebendig in sichtbaren Wellen des Lebens; ganz deutlich und klar ist da alles im Stein, Füße und Knöchel, Schienbeine und Knie, Ellenbogen und Arme und Hände und darinnen das leibliche Kind.

Alles, was ich sah, war unfaßlich. Das Antlitz des ewig geheimnisvollen Wesens Form sah mich hier so schleierlos und so mit großem Auge an, daß es schien, als sei kein Geheimnis mehr da. Hier ist alles unbekannt, und nur am sonst unverständlichen Schmerz ließ sich spüren, daß Bekanntheit sein sollte und einmal war, was für immer versunken schien. Tiefen sind hier, Räume, ein Wesen mit einem Wort, dessen äußerste Grenze uns immer unauffindbar sein wird. Denn was wir sehen, ist das für uns Sichtbare, was uns Ordnung scheint, unser Gesetz, aber nicht das seine, das aus einer anderen Wirklichkeit kam. Auf keinem Stern könntest du dich umsehn und dich so tief im Unbekannten finden und doch in der Wahrheit. Und wenn hier ein Wunder sein sollte, so wäre es dies, daß du doch atmen kannst in dieser Luft, dieser Welt.

Ich mußte mich umsehn, woher ich kam, und fand, daß ich ja aus Hellas hierher geriet. Plötzlich war mirs da, als ob eine seltsame Sonne schiene mitten in der gestirnten Nacht. Oh in Hellas war alles Blut und Odem, Sonne und Wind, Ströme und Wald und das Meer, Gottheit und Getier, ein Himmel voller Gestalt von Fischen und Männern, tausendfach gestaltige Natur, überall Blick und Wink und Gebärde. Das Lächelnde war dort und das Schöne, die Leier, die singende Lippe, der schwebende Fuß und das fliegende Haar. Da erschien mir das hellenische Bildwerk, aufgestellt mit tausend seinesgleichen um eine Mitte, von der ein Strahl ging zu jedem, aber ihrer aller Mitte lag außerhalb ihrer selbst, und sie alle, geordnet zusammen ergaben die Welt. Und ich sah das Menschliche in ihnen, aufleuchtend in seiner ganzen, höchsten Erfülltheit. Solange aber Menschliches waltet, solange ist Willen und Verlangen, Streben, Bewegung, Wandlung; Wandlung zum Gotte hinauf und Wandlung des Gottes herab, lauter schweifende Seligkeit, Schweben, Heiterkeit, Anmut, Würde, tausend Eigenschaften des Göttlichen in einer blühenden Zerstreutheit, und alles überglänzend und bindend der Segen, das ewige Auge. Jetzt aber, wie erschien mir in der Erinnerung auf einmal ein niegesehener, immer gefühlter Zug von Schwermut in der griechischen Form? Diese schönen Dinge scheinen zu wissen: irgend etwas fehlt, irgend etwas in ihrer Ordnung blieb ungelöst, sie ermangeln des Letzten.

Da sah ich vor mir die Vollendung aus Stein. Alles sah ich abgetan, alle Gebundenheit an Götter und Erde, an das Sonnige und Bewegte, an das Werden und die Erregung. Kein Wollen mehr, nur Gewißheit. Der Grieche, wenn er etwas machte, so wollte er doch, daß es schön sei, wollte die Erfüllung in der adligen Form. Der Ägypter wollte nur die Form; wollte nur: daß sie sei.

Menschenhände machten dies nicht. Vielleicht daß sie letzte Bindungen lösten fürs menschliche Auge, eine Oberfläche abschälten. Diese Dinge waren im Stein, verhüllt, seit ewig; sie machten sich frei. Und darum: in welcher Mitte auch das hellenische Werk zu stehen scheint, Mitte für tausend sehende Augen, denen es sich lächelnd erzeigt, Augen von Göttern und Dämonen, tausend blickenden Augen der Natur: hier ist die ungeheure Zentripetalität; hier ist das Ding, das um seine Mitte gebaut ist wie der Kristall, und diese seine Mitte ist auch die Mitte der Welt. Es ist gleichgültig gegen sehende Augen. Dies wird nicht gesehen. Es stellt sich nicht dar. Es ist. Aber herum von allen Seiten, von oben und unten gewölbt ist das ganze All der Gestirne.

Hardenberg sagte mir ein Gleichnis mit Worten für das, was ich selber empfand: jedes ägyptische Werk sei in jedem seiner Maße ausgerichtet nach den Sternen. Es war Religion. Sie wußten die Unsterblichkeit in der Form. Sie machten ein Bild, daß es sei und lebe, und die Seele trat ein und blieb in ihm wohnen. Sie stellten es nicht hin an diese oder jene Stelle der Welt, sondern dort, wo es erschien in seiner grenzenlosen Notwendigkeit, war der Raum ausgespart zuvor, und es paßte sich ein in die Welt.

Als mir aber solchermaßen die Augen aufgetan waren, wandte ich mich um.

Ich befand mich in einem halbdunklen Umgang ägyptischer Säulen voller Statuen und Bilder; zwei Stufen vor mir führten in einen von Oberlicht erhellten Raum hinab. Hatten meine Augen schon das Wunder gesehn, und verwandelte sein Blick in meinem Blick mir zum Heiligtum den Raum? Duftete nicht alles? — Da sah ich das Reine.

Mitten im Raume ein einfaches, kleines Gesicht, gelblich, mir zugewandt, sah mich an. Auf einem brusthohen Postament stand es in einem gläsernen Würfel, ein Kopf, kaum so groß wie meine Hand, Gesicht, Hals und der Ansatz von Schultern und Brust. Sah er mich an? Sein Blick ging plötzlich durch mich hin, als wäre ich aus Glas, und doch fühlt ich mich durchschnitten, daß ich fror. Es war kein Ansehn, es war ein ganz blinder Blick, jener, der durch alle Dinge der Welt hindurch gerichtet ist in das Ewige.

Nun wagte ich näher zu treten und deutlich zu sehn. Es war zarter als alles; viel zarter als eine Blume. Alles an ihm war Duft. Ich sah Wangen, sanfte, unter den Augen leise gewölbt, nach unten wie mit liebkosenden Fingern zusammengeschlossen zur weichen Spitze des Kinns; sah darüber den Mund, Lippen, voll und mit zärtlicher Genauigkeit umzogen, überhaucht von leisem Rot, und sie standen ganz wenig vor wie in einem unaufhörlichen Kuß. Zart, frisch, fast süß, glich die Nase der eines kleinen Tiers; die Augen endlich, flach, leise zur Mandel nach außen geschlitzt, blickten über mich hinweg, und das Ganze von unendlichem Ernst war wie ein Lächeln so leicht.

Ach, blind war dieser Blick wie die Seligkeit, blind wie das ernste Lächeln der Blume, das nichts ist als Gefühl und Echo des Lichts.

Ich sah Hardenberg und die kranke Frau neben mir; sie lächelten verstehend, und ich brachte hervor: Wohin steht er denn?

In die Sonne, sagte Hardenberg ernst. Er sieht immer nur in die Sonne. — Und er nannte mir den Namen: Amenophis und erzählte mir einiges. Daß er einen Kult der Sonne begründete und für diesen Kult eine ganze Stadt. Daß es noch Reliefbilder von ihm giebt, wo er dargestellt ist mit Gattin und Töchtern, und die Sonne darüber senkt Strahlen auf alle, an deren Enden winzige Hände sind, die sie ihnen auflegt. Daß, als er starb, die Stadt — Heliopolis — verlassen wurde und bald zerfiel, daß sein Nachfolger, im ägyptischen Glauben, die Form bewahre die Seele, alle Bilder von ihm zerstörte, sein Dasein zu vernichten, und daß nur dieses blieb, ein kleines Bildhauermodell, sowie ein halb zertrümmertes andres. (Er war unvernichtbar; er blieb.) Daß alldies mehr als zweitausend Jahre her sei. Und er sieht in die Sonne unwandelbar.

Kein Wunder. Ein Weizenkorn, vor zehntausend Jahren in tönerner Schale, in einem Grabe bewahrt, behielt seine eingeborene Kraft und trägt Frucht in der heutigen Erde; also konnte auch die steinerne Blume unwelkbar bleiben bis heute.

Die Sonnenblume von ihrem festen Stengel aus folgt der Sonne nach überall: ihn kannst du aufstellen, wo du willst, im Licht oder in der Nacht: wann und wo du ihn anschaust, blickt er geradeswegs in die Sonne hinein.

Und ist dies nicht hoffnungslos? Die Sonne anbeten und sehn und niemals die Sonne sein können?

Sonne sein können, welch Wort! Es muß —

Oh du mein Gott, so wie er — Stoff sein der ewigen Hand! Sein im Wandel unwandelbar leicht wie ein Spiel! Fern der Erfüllung doch stets, stets auf dem Wege zu ihr — ach, wie aus endloser Mühsal doch blühte Geduld!

Reinlich getan jede Tat, reinlich gewirkt jedes Werk, griff aus dem Chaos ein Stück, und du ballst es zur Form. Dasein und Stein und Gedicht, Tagwerk und Sternengesang; alle sie schmelzen in diesen, den einzigen Chor.

Leben, ein jedes, es glüht, wandelnd in jedweder Form, die es vollbrachte, sich reinlich und reinlicher aus. Form ward es, schön und gewiß, Ordnung, ertönend Gesetz — ach, aus dem Leiden, so heilen wir lächelnd uns aus. Weltleid, es heilte in uns, Gottleid erlöst sich uns, wir, die Erlösenden, werden unendlich getrost.

Georg an Magda

Berlin, am 23. März

Tante Henriette, darf ich Dir sagen, hat sich — um ein ehemaliges Lieblingswort von mir zu gebrauchen — mit ganz besondrer Teilnahme nach Dir erkundigt und sich erzählen lassen; ebenfalls nach der „süperben Person“ mit den „Flammenaugen“, und mich beauftragt, sowohl Dir wie ihr mit ihren huldreichsten Grüßen eine Einladung in ihr Haus zu übermitteln, falls ihr den Mut hättet zu einer magern alten Person, die „keinen Braten mehr abgiebt“, aber die es selber nötig hätte, sich „warme Krammetsvögel vor den Leib zu binden“ (wie mir scheint eine kühne biblische Anspielung), um nicht zu erfrieren. Die Krammetsvögel solltet dann Ihr sein, und alles dieses mußt Du Dir vorgebracht denken in einem wahren Ton „rechter Kümmernis“. Sie ist in der Tat mehr mitgenommen, als man hätte ahnen mögen, vom Hingang des kleinen Alten; die Kümmernis reicht ihr bis zum Grunde, und der alte Mann, der mit einem ganz wenig törichten oder verwunderten, aber sonst vollkommenen Ausdruck von Friedfertigkeit seines etwas schiefgedrehten Kopfes daliegt und emsig zu schlafen scheint, muß beim Abscheiden nach so viel gemeinsamen Jahren doch ein beträchtliches Stück von ihr mit abgerissen haben. Dem Papagei hat es auch einen Ruck gegeben: bis gestern abend saß er still und steif, den Schnabel nach hinten gedreht, den Kopf auf der Schulter, auf seinem Querholz und blinzelte nicht einmal: heute morgen war er heruntergefallen und tot. Siebenundvierzig Jahre war er seines Lebens alt und hätte noch T. Henriette getrost überdauern können. Der Kanarienvogel ist zu dumm, trällert tagein tagaus und muß durch ein dunkles Tuch zum Schweigen gebracht werden.

Es sind doch nicht viele Dinge so erfreulich und selten wie der Anblick tüchtiger alter Menschen, und mir scheint, auch diese gehen eines Weges mit der Petroleumlampe, dem Indianer und Knoops beklagtem Elefanten. Hier ist die Busenfreundin von T. Henriette zu sehn, eine Gräfin Török aus Ungarn, gebürtige Wienerin; die ist so alt wie der Böhmerwald, ganz unförmig, im Gesicht so faltig wie ein Truthahn, bloß rosig, das Haar ist weiß, Augen und Augenbrauen sind kohlschwarz, und schwarze und weiße Haare hängen ihr überall aus den Gesichtsfalten. Die redet nun von früh bis spät ununterbrochen mit einer haarsträubenden Munterkeit, erzählt eine Geschichte oder Anekdote nach der andern, ihr Gedächtnis ist schon ein bißchen wirr, aber ihre Herzlichkeit und ihr erschütterndes Vergnügen an den Erscheinungen des Lebens sind erstaunlich. Dies war ihr Schicksal: Als Angehörige des Wiener Hochadels kaisertreu bis in die Fingerspitzen, verwandelte sie sich mit dem Augenblick ihrer Heirat vom Kopf zu den Füßen in eine ungarische Patriotin, und das will etwas heißen, denn es war vor 48! Ihrem Mann wich sie in allen politischen Lagen nicht von der Seite, folgte ihm, was damals noch anging, auf die Schlachtfelder, jung und schön, wie sie war, ein Trost und eine Befeuerung für alle ritterlichen ungarischen Herzen, pflegte die Verwundeten, und so weiter. Ganz plötzlich, Anfang der fünfziger Jahre starb ihr Mann, was für sie eine eigentümliche Folge hatte. Nach einigen Wochen der Verzweiflung erschien sie wieder wie zuvor, ihre Lebenskraft hat, wie Du siehst, seitdem nicht abgenommen, sie ist in allen Ländern der Welt zu Hause, war in Amerika und in Japan, in ‚Zeylon, Zingiber, den fernsten Inden‘, läuft noch heute in jede Uraufführung, vergleicht die Elena Gerhardt mit der Patti oder Lucca, oder wie jene Verschollenen heißen mochten, Grete Wiesenthal mit der Camargo, schwärmt für Nijinski, liest Strindberg und Rilke, humpelt Dir sicher am Eröffnungstage der Freien Sezession an ihrem Stock entgegen und kann Dir von jedem Breughel oder Rembrandt sagen, ob er im Haag, in Kassel oder Wien hängt. Aber: bei alledem ist sie in steter Begleitung ihres Mannes. Es kommt vor, daß sie im Gespräch, zum Beispiel wenn ihr Gedächtnis versagt, zur Seite fragt: Wie? und dann sagt er ihr Bescheid, gleichviel ob die fragliche Sache sich zu seinen Lebzeiten ereignete oder nicht. T. Henriette sagt, manchen, der, unbekannt mit dieser Erscheinung, sich erkundigt habe, an wen sie eben diese Frage richtete, und den Bescheid erhielt: O ich fragte bloß meinen Józsy! — manchen, wie gesagt, habe dies schon betreten gemacht. Sie plant auch keine Reise oder entschließt sich zu sonst etwas, ohne ihren Józsy zu Rate zu ziehn, sie geht mit ihm in ihrem kostbaren alten Garten in Budapest spazieren, und man kann sie abends und auch nachts in ihrem Zimmer beträchtliche Zwiesprache mit ihm halten hören.

Gott segne diese seltene alte Frau, sie hat vielleicht niemals über die ewigen Dinge gegrübelt oder eine Frage über die Ordnung oder die Fehlerhaftigkeit des irdischen Daseins gestellt, sondern es ist wahrscheinlich, daß sie all dergleichen, ohne das sich sonst ein wahrhaft kluger und geistiger Mensch schwerlich denken ließe, ersetzte durch Lebenskraft, durch vigor, durch Feuer und Schwung. Siebenzig Lebensjahre lang blieb ihr jeder Morgen und jedes Ding neu und erstaunlich und bezaubernd an sich, wert des seelischen Feuers, wert deswegen und dadurch zu leben, mit einem Wort: sie verfügte über die magische Essenz, die alle Dinge um sie her in ihren persönlichen Reichtum verwandelt.

Ich möchte das auch können ...

Denn es giebt solche Menschen, zu denen sie gehört, die tragen ihr Leben wie eine glänzend passende Form, wie einen seidenen, bunten Trikot, der allüberall glatt anliegt. Bei Andern, zu denen ich gehöre, scheint es vielmehr so zu sein, als wäre der Trikot für eine andere Figur geschnitten, und überall giebt es Falten und Beulen, hier kneift es, da schlottert es, man braucht das halbe Leben, um hineinzuwachsen, und schrumpft schon wieder drin zusammen, wenn er kaum eine halbe Stunde lang paßte.

Gute Nacht, Anna! Ich bleibe noch ein paar Tage, indem ich die Gelegenheit benutze, mich überall vorzustellen, wo ich in meiner jetzigen Form noch unbekannt bin. Peinlich einerseits, ein schmerzliches Glück andrerseits ist das namentlich bei älteren Leuten ganz rührende Entgegenkommen gegen den Sohn meines Vaters — hier und da mit ein wenig Skepsis verbunden wegen Vererbung der politischen Gesinnung. Gestern war ich im Reichstag (in den leeren Fensterhöhlen — und so weiter!), Parlamentarier habe ich ein ganzes Schock kennen gelernt, nun kommen Großindustrie und Banken an die Reihe, deren Häupter ich morgen bei einem Geschäftsfreunde von Papa versammelt finden werde. Im ganzen, ich würde nach der langen Stille und Einsamkeit der Halligwochen nicht wissen, wo mir der Kopf steht, bräche nicht immer wieder ‚ein Streif wie schieres Silber durch den Spalt‘. Woher aber dieser und welcher Art, das Dir nachzuweisen, fehlt nun die Ruhe, und ich bin auch begierig, es mündlich zu tun. Sei gewiß, daß ich die erste Bresche in der ersten Altenrepener Woche benutzen werde, um zu Dir zu gelangen, und sei es auch nur für Minuten. Auf Wiedersehn, Herz, auf Wiedersehn! Dein

Georg

Jason an Renate

am 25. März, in Sizilien

Liebe Renate!

Ob Du Dich Irenens noch erinnerst?

Ihre Augen hatten die gleiche Eigenschaft wie die Deinen: sie wechselten mit jedem Licht, das in sie fiel; so schienen sie meistens blau, aber im Hellen wurden sie grün, in der Dämmerung schwarz, und stieg das Blut in sie hinein, wurden sie schwer blau und düster. Ihre Hüften hatten die längliche Rundung der schönen Empirefigur, ihr Gesicht war immer rosig, wir bewunderten ihre Bewegungen, die auch in der Leidenschaft anmutig blieben, und obgleich sie das Derbe liebte, erschien sie uns doch gerne amselhaft; in ihr stand ein geigender Engel knabenhaften Geschlechts wie hinter einem Morgenrot, ein goldener Schatten. Dann überfiel sie die seltsame Zwietracht, das Morgenrot zeigte phantastische Risse, Märzgewitter rauschten mit lockeren Blitzen hinein, dann entzog sie uns gänzlich die schwarzblaue Wolke.

Ich muß Dir schreiben, daß Du sie nicht wiedererkennen wirst, wenn Du sie siehst, was, wie ich hoffe, bald geschehen wird. Laß Dir sagen, daß ihr Gesicht nunmehr kleiner ist als meine Hand und so völlig von Elfenbein scheint, wie etwas noch Lebendes elfenbeinern scheinen kann; so leblos, so glatt und so hart. Ihre Augen darin sind von schwarzer Bronze, tot.

Es hat demnach den Anschein, als läge hier wieder eine jener beklagenswerten Verwechselungen vor, an denen die menschliche Gesellschaft so reich ist, und hier scheint irrtümlich in den Leib einer Baumnymphe oder Dryade die Kraft und der Wille eines Kentauren geraten und entsetzlich darin gehaust zu haben.

Irene, fragte ich, nahezu sprachlos, als ich sie sah, was hast du gemacht?

Sie zuckt die Achseln, sagt: Gebetet.

Was? sage ich, die ganze Zeit, nichts als gebetet? — Sie sagt: Ja. Andres gab es nicht mehr. Im Anfang, sagte sie, sei es schwer gewesen und reichlich unvollkommen. Bis dann eines Tages die Welt verdämmert war und sie allein lag auf ihren Knien, irgendwo im Raum, auf einem Stern, oder selber ein Stern, der an Gottes Himmel aufging. Sie begann zu glühen vom Gebet, dann glühte nur noch das Gebet, dann begann sie zu leuchten, dann ging sie auf. Aber nicht der Mensch und sein Wille ist schuld, sondern das Düster der Erde, wenn uns leiblich zu erlöschen scheint, was seelisch entbrannte.

Auch im Kloster scheinen sie nicht eben richtig geschliffene Augen gehabt zu haben, denn sie wurde nach etwas über halbjährigem Aufenthalt vor die Wahl gestellt: entweder zu bleiben für immer, oder zu gehn. Schließlich muß man zugeben, daß ein Kloster kein Asyl für Obdachlose sei. Irene freilich war nun ratlos, wäre es vielmehr gewesen, wenn sie nicht in der Nacht einen schönen Traum gehabt hätte. Ich an ihrer Stelle würde ja der Weisung von Träumen nicht ganz so unbedingt Glauben schenken, allein sie ist, wie sie ist. Was sie träumte, war ein ganz blaues Meer, ein hellblaues, südliches Meer, auf dem rosafarbene Glocken schwangen, und sie selber schwamm ihnen entgegen, und sie lösten sich an ihren Gliedern in einen so unbeschreiblichen Duft auf, daß sie noch darin gebettet war, als sie erwachte.

Die Auslegung des Traumes nahm die Gestalt an, daß wir uns jetzt seit einigen Wochen an der Küste des Mittelländischen Meeres befinden, nicht weit von Taormina, und daß Irene jeden Morgen bei Sonnenaufgang, nackt wie sie geschaffen wurde, in die See hinausschwimmt, so weit sie kann. Dies, sagt sie, wäre ihre Reinigung. Ihr Gebet dabei ist wieder dasselbe wie zuvor; es lautet:

Du bist klar,

Ich war klar,

Mach mich wieder, was ich war!

Daß ihre schon im Schwinden begriffenen Kräfte dabei absterben wie dünner Schnee, das ist vorläufig die erste Folge. Aber ihr Gesicht bräunte sich wieder langsam, in die Augen kam wieder ein leises Blau.

Da ich sie nicht hindern könnte, selbst wenn ich das wollte, so ist dieser Brief nichts als eine matte Spottgeburt meiner Unbeholfenheit. Eine Änderung scheint mir notwendig. Das beste wäre, Klemens käme im Augenblick, aber ich habe eine Abneigung gegen gewaltsame Eingriffe. Irene hört, wenn ich von Dir und Andern spreche, zwar zu, erwidert aber nichts. Es wäre trotzdem möglich, wenn Du ihr den Vorschlag machtest, sie irgendwo zu treffen, wo Wasser ist, an einem italienischen See zum Beispiel — denn der Frühling, der hier fast die Augen blendet, gelangte ja noch nicht zu Euch —, oder aber bis hier herunter zu kommen, doch habe ich so eine Ahnung, als wäre Dir das zu weit. Ich fürchte aber jeden Tag, sie zerschmilzt mir zwischen den Händen, und wenn wir im Garten sind und der Himmel sich bewegt zwischen den Mandelbäumen, so muß ich sie ansehn, ob sie noch ganz da ist, oder ob es nicht das blaue Flackern ihrer Seele war, die über die rosigen Wipfel enteilte.

Ich kann nicht gut briefschreiben, da ich keine Übung habe, und im ganzen wird dieser Brief Dir vermutlich erscheinen wie eins der alten Bilder vom Martyrium einer Heiligen: was man sieht, sind Farben, Gewänder und teilnahmslos reine Gesichter; was man nicht sieht, ist das Blut, die Not, und das Sterben. Wer aber Zeuge war dieser drei Dinge, dem werden sie ein seltsames Gift einflößen, dessen Wirkung es ist, daß er von allen Dingen der Welt reden kann, nur von diesen muß er schweigen.

Ich hoffe also, Du willigst ein, wenn ich sage: Auf Wiedersehn!

Jason

Renate an Irene

am 29. März

Liebe Irene!

Jason schreibt mir, daß Ihr in Sizilien seid, und daß er sehr besorgt um Dich ist. Ich selber war lange krank, das hörtest Du wohl von ihm, nun möchte ich gern mit Magda nach dem Süden, Sizilien ist uns freilich zu weit, Magda könnte auch nicht sehr lange bleiben, da sie im April zum ersten Mal öffentlich singen wird, — am Charfreitag. Möchtet Ihr uns nicht in Torbole oben am Gardasee treffen? Mehr als sechs Jahre, glaub ich, war ich dort mit meinem Vater in den Sommern und habe plötzlich die heftigste Sehnsucht. Es wird freilich noch eine Woche dauern, bis wir fortkommen können, teils weil ich Onkel noch überreden muß, mitzukommen, teils weil Magda sich vor ein paar Tagen eine leichte Erkältung zugezogen hat, so daß sie sich noch schonen muß. Es schadet ja aber nichts, um so weiter wird der Frühling dort schon sein. Ich hoffe sehr auf ein Wiedersehn, Irene! Sage Jason alles Liebe und Dank für seinen Brief! Von Herzen Deine

Renate

Neuntes Kapitel: April

Aus den Papieren Georgs

am 1. April

Sein Antlitz, das wie eine Blume war,

Enthauchte aus den Augen Duft! Ich schwelgte

In diesem Glanz, der nicht wie andre welkte,

Ich schmolz wie Wolke auf und wurde klar.

So ganz verleiblicht ward die Gottheit hier,

So ward noch nie der Sonne Bild zur Blume!

O daß ich Land sei, Ackers ärmste Krume,

Und diese reine Seele blüht’ in mir!

Jedoch ich bin soviel nur wie der Wind,

Der streifend nur den Duft vermag zu fangen,

Und trägt ihn fort auf Stirn und Mund und Wangen,

Vor Schmerz vergehend, und vor Wonne blind.

am 2. April

Telemach, o Telemach, da hast du es wieder! Eine trübe Erkenntnis und obendrein in Versen! Die alte Empfindsamkeit und der alte Betrug! Weil die Erkenntnis reizlos ist, so werden reizvolle Bilder erfunden; weil sie bedrückend ist, so wird sie in leichte Gegenstände aufgelöst; weil sie trübe ist, so wird sie wenigstens mit einem schwermütigen Lächeln beflügelt, und weil sie wärmelos und nüchtern ist und wahr, so wird sie in schöne, warme Scheinkleider eingemummt. Lyrische Erschütterungen, lyrisches Dasein — wenn anders lyrisch heißt: einsame Hingabe an gegenwärtige Gluten —, lyrische Schwermut, — und sowas will — Monarch sein. Wie ich sie nun hasse, diese dastehenden Verse, diese sprachlosen Gemächte, die ein Unsagbares tönend machen sollten und es nur bereden. Das alte Lied, das alte Leid: Unruh, Ungenügsamkeit, Überdruß und Verdrießlichkeit, alles, was peinigt und reizt, kommt aus dem Ungelösten in uns, das zur Klarheit will. Was ist Sehnsucht? In dem hundert- und tausendfachen Hingerissensein und Zerstreutsein, alltäglich, allstündlich an die Dinge der Erde, ist sie Verlangen nach dem Einen, das not ist. Aus den tausend Möglichkeiten ist sie das Streben nach dem Einen, das notwendig sei; aus den tausend Empfindsamkeiten nach der einen Liebe. Aus der tausendfachen Verschwendung nach — nach? —

Dem Opfer.

Hoffnungslos. Wozu dies dem Telemach? Was er tun kann, ist seine Schuldigkeit, ist das Weitergehn auf dem Wege, auf den uns die Toten verhalfen. Ich kann in die Sonne starren, bis ich blind werde, und das dürfte der ganze Erfolg sein. Näher, o Sonne, zu dir! Hoffnungslos, ich habe meine Liebe in einer Insel eingesargt, als sie totgeboren hatte, das ists.

Erkenntnisse, Erkenntnisse! feil wie Brombeeren. Steine im Strom, über die sich von Ufer zu Ufer springen läßt, ein Haus baut sich nicht daraus. O weh mir, daß ich meinen Tod verschlief!

am 6. April

Erloschen.

So mußte es freilich kommen; unabänderlich; genau so.

Ich erhaschte eine freie Minute und fuhr zu Anna. Warum fuhr ich? Weil seit dem Zusammensein mit ihr auf Hallig Hooge ein Duft von ihr in mir verblieben war, beunruhigend, der immer drängte, mit ihr zu reden, ihr zu schreiben, ihr — kurz, ihr nahe zu sein. Kann, dacht ich, wiederkommen, was lange verging? Immer sah ich auch ihr Gesicht in dieser sonderlichen Verändrung, die ich seinerzeit erst nicht zu deuten wußte, bis ich entdeckte, daß ihr Augenbrauen wuchsen, noch dünn, schwarze, nicht blonde Brauen — als sollten sie ein Ersatz sein für das, was den Augen genommen war. Fast farbig wurde von ihnen das sonst farblose Gesicht, sie gaben ihm Gestalt, Zeichnung, trennten die überstarke Stirn von dem Untergesicht und ersetzten wirklich etwas von dem fehlenden Blick der sonst klaren Augen. Und ich deutete daran herum, schon tauchten zärtliche Schatten auf, ich empfand Sehnsucht.

So fuhr ich zu ihr, und sie war nicht da. Ich wollt es kaum glauben. Bekanntlich ist so der Mensch: kommt, fragt — was, sagt er, ich komme, und sie ist nicht da? (Später hörte ich dann: sie wollte verreisen und war noch einmal zu ihrem Lehrer.) Nun mußte ich mich bei Renate melden lassen — ah, Telemach, schlug dir das Herz?

Der Tag war von besondrer Wärme, so fand ich sie halb im Freien, in der Veranda, sie schien unverändert. Und was mich betrifft, so konnte ich sie ruhig betrachten — nämlich zu Anfang.

Unverändert schien sie, von Zügen, obgleich von solch einer — wie nenn ichs nur? — aber es giebt kein Wort für diesen Bund von Lieblichkeit und von Majestät, der ihr immer eigentümlich war. Sie saß in einem Korbsessel, im dünnen Sonnenlicht, weißgekleidet, die Arme bis zum Ellenbogen unter einer Decke von weißem Plüsch. Weiß wie alldies war auch ihr Gesicht, darin die Augen von so hellem Blau wie das der Hyazinthe. Langsam dann, immer merklicher, wie ich vor ihr saß, begann sie sich zu verwandeln. Ich glaube, mit ihrer Hand fing es an, ihrem Arm, der nun auf der Decke lag, und diese Hand, die nur ein Gebilde schien aus Schnee und Schmerz, war gleichwohl von einer herzdurchschaudernden Menschlichkeit; eine Menschenhand, eine weibliche Hand, und Daumen und Zeigefinger sahen aus, als hätten sie erlebt, wie sie gemacht wurden aus lebendigem Fleisch, Schmerz, den sie nie vergessen würden. Das, womit ihre Finger spielten, war erstaunlicherweise das Ende von einer ihrer beiden hellbraunen Flechten, — das hatte ich auch freilich noch nie gesehn. Und jetzt der Mund, ach der Mund! Als ob sie sich ins eigene Herz gebissen hätte mit ihm, — so zuckte es unmerklich an seinen Winkeln, die tief in das weiße Fleisch hinabgezogen und eingebettet waren. Und jede Linie ihrer Züge war mit einer geheimnisvollen andern nachgezogen, wovon sie aber nicht scharf geworden waren, sondern ganz weich. Der ganze Mensch war nichts als blühendes Schicksal.

Nun erscheint sie mir wieder im Raum, und was ich nun um sie atmen fühle, ist Verlassenheit, Hülflosigkeit, Unwissen. Wohin jener Zauber von damals, jener Gürtel von Unnahbarkeit? Die Unnahbarkeit war geblieben, aber sie war nicht mehr Wille und Stolz und Bewußtheit. Ganz magisch war sie geworden, und in ihr rieselte ein Brennen, ein Aufgelöstes, ein Schmelz — furchtbarer Nachglanz einer unendlichen Umarmung, aus der sie gerissen wurde, und ich — ja, ich fürchtete sie mehr, als daß ich hätte begehren können.

Von dem, was wir gesprochen haben mögen, ist nur das Letzte wichtig. Da ich vom Amenophis begann, so hörte sie mir eine Weile zu, lächelte langsam und meinte, es sei schön, daß ich ihn auch kennen und so sehr lieben gelernt hätte; ihr sei er Freund seit Jahren, nur unter seinem ägyptischen Namen Ech-en-Aton; sie habe einen Abguß in ihrem Zimmer stehn, ob ich ihn sehn wolle — ja, Weihnachten sei es drei Jahre her gewesen, daß sie ihn bekam, von Josef, und ob ich nicht auch fände, daß er Saint-Georges ähnlich sehe.

Nun, mein Telemach, was hilft es jetzt, zu sagen: Und wenn wir ihn damals gesehn hätten, ja, wenn es möglich gewesen wäre, ihn zu sehn, was aber nicht möglich war, da ihr Zimmer damals unbetretbar war für unsersgleichen: so würden wir ihn doch nicht erkannt haben, weil uns die Augen abgingen. Dies aber hilft uns nichts, sondern dies bleibt: das Geheimnis. Daß er drei Jahre in unsrer Nähe stand, erreichbar und nie zu erreichen, in diesem, in ihrem, in Renates Haus, Renates Eigentum, Renates Freund — darin verhüllt sich das Geheimnis unsres Lebens. Und der Schluß wird uns überdauern: wir blieben blind für die Wahrheit Renates, weil er uns verborgen blieb; oder Renates Wahrheit blieb uns verborgen, weil wir blind für ihn waren. Das geht so herum oder so herum wie die Daumen — der Schluß bleibt derselbe.

Wir aber wollen es aufgeben, dasitzend nachzusinnen wie der nachdenkliche Medici: wie alles so gekommen ist. Kopf hoch und geradeaus in das Hoffnungslose. Renate nämlich — ist zu vergessen. Denn Sehnsucht, sang Chastelard, Sehnsucht ist Qual. Sehnsucht dieser Art verbittert, Sehnsucht trübt, Sehnsucht macht schwindlig, macht unfroh und kränklich und feige. Schließlich: ich bin mir zu edel für Sehnsucht.

Und mein Leben — wie ein schwarz verkohltes Stück Papier so zerflattert mirs unter den Händen.

Magda an Georg

7. April

Mein Lieber,

gestern abend und heute den ganzen Tag versuchte ich vergebens, Dich am Telephon zu erreichen, Du warst immer wo anders, um Dir Lebewohl zu sagen und vor allem, mich nach Onkel Birnbaum zu erkundigen. In der gestrigen Abendzeitung stand „ein leichter Schlaganfall“, ich fuhr gleich hinaus, konnte aber nur das Mädchen sprechen, seine Frau hatte sich schon hingelegt — und die Morgenzeitung heute weiß auch nur von „bestem Befinden“ und „keinen Besorgnissen“ zu fabeln, aber die Zeitungen beschönigen immer alles, und ich hätte so gerne von Dir Gewisses erfahren. Nun muß ich ohne das reisen. Auch ohne einen Händedruck von Dir, — aber es werden ja nur wenige Wochen sein. Außerdem hoffe ich, Dich gleich nach unsrer Rückkehr ein paar Tage in Helenenruh ganz für mich zu haben, was Du mir nicht abschlagen darfst. Du weißt ja, daß der Geburtstag Deiner Mutter diesmal auf Charfreitag fällt, und hast vielleicht nicht vergessen, was ich Dir erzählte: daß der Gesangverein in Böhne beschlossen hat, den Tag durch eine Aufführung des Deutschen Requiems zu feiern, daß ich aufgefordert bin, zu singen, und daß Benno das Orchester des Stadttheaters in Altenrepen dirigieren wird. Damals versprachst Du mir — etwas zu leichthin — zu kommen; vielleicht findest Du Dich eher bewogen, wenn ich Dir verrate, daß Renate bereit ist, wenn ihre Gesundheit es erlaubt, den Orgelpart zu übernehmen. Da hättest Du denn alles zusammen, was Du liebst. Nun bitte, lieber Freund, schenk mir die Charwoche! Eine Erholung wird Dir sicher gut tun, ich weiß ja, was die Krankheit Birnbaums für Dich bedeutet, also versprich mir, Georg! die Charwoche! Danach gehn wir für längere Zeit auseinander, ich auf meine erste kleine Konzertreise, Benno nach Aachen, wie Du wissen wirst, und wer weiß, wann wir wieder zusammenkommen.

Schreibe mir nach Torbole am Gardasee postlagernd. Alles Gute, Georg, und tausend liebevolle Gedanken Deiner alten

Anna

Aus Renates Buch

am 9. April

In der Nacht träumte mir, daß ich in mein Zimmer kam, das schon voll von Koffern und Taschen war, und ein Mensch, den ich dann als Josef erkannte, war dabei, einen großen Koffer zu schließen. Auf meine Frage, ob alles fertig sei, richtete er sich auf und sagte: Ja, soll dein Onkel denn hierbleiben? Was ich geantwortet habe, ist mir entfallen, aber da er hinausging, muß ich angenommen haben, daß er Onkel holen wollte, und ich wartete, aber er kam nicht wieder. Endlich wurde mir ängstlich zu Sinne, ich ging hinaus, da war draußen alles finster, ich tastete mich an der Wand hin, furchtsam, ich könnte die Treppe verfehlen und abstürzen. Da kam aus einer Türe Erasmus mit einem Licht und sagte, indem er mich geheimnisvoll ansah: Einer von uns muß hierbleiben ...

Davon erwachte ich mit einem Schrecken, machte gleich Licht, die Uhr stand auf ein Viertel nach vier. Plötzlich wußte ich, daß ich nach Onkel zu sehn hatte; ich glaube wohl, daß ich schon alles wußte, und als ich in seinem Zimmer war und Licht machte, lag er in dem Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachen wird.

Sanft war es gekommen, das Ende. Kein Ende, nein, nur ein schmerzloser Übergang von Schlaf zu Schlaf. Auf seinem Gesicht, so rein, daß ich nicht weinen konnte, stand zu lesen, daß es nichts als eine wunderbare Vertauschung gewesen ist.

Georg an Magda

am 11. April

Meine liebe Anna!

Dank für Deine Zeilen! Um Birnbaum sei unbesorgt! Ich sage die Wahrheit, indem ich die Aussage des Arztes an Dich weitergebe, daß es „einer der leichtesten Schlaganfälle ist, die ihm je vorkamen“, und daß er voraussichtlich nahezu spurlos bleiben wird. Übrigens fand ich ihn in der letzten Zeit so innerlich freudlos geworden, daß es ihm kaum leid tun würde, diese Welt zu verlassen, die ihm seit Papas Tode nur ein zerbrochenes Ding ist, an dem er müde herumflickt. Wie ich den Ausfall seiner Arbeitskraft ertragen sollte, ist mir unbekannt, aber wenn es erst so weit ist, wird sich, wie alles andre, auch das tragen lassen.

Verzeih die allzu geschwind hingewischten Zeilen! Ich glaubte schon, Dir auf dem Klosett schreiben zu müssen, weil ich nicht wußte, woher die Zeit nehmen. Nichts für ungut, Anna, und ich komme nach Helenenruh, um das alte Trio zu hören, ‚nicht die ganze, doch die halbe‘ Charwoche, mehr wird nicht möglich sein, sagen wir Mittwoch, vielleicht erst Donnerstag, vielleicht würg ich den Dienstag heraus, aber versprechen kann ich nichts. Sei versichert, daß ich überaus gern komme, Deinetwegen und natürlich auch meiner selbst wegen. Der verruchte Zustand, in dem ich herumschnaube, muß ein Ende nehmen, ich will mich noch einmal vor den Göttern von Helenenruh niederwerfen und — aber wozu, wozu das? Lebe wohl! Hab gute Tage am blauen See, grüße Renate, auf Wiedersehn, lebe wohl!

Georg

Aus Renates Buch

Torbole, am 12. April

Es ist alles geblieben, wie es war: meine beiden Zimmer von damals, die strahlenden Morgende, Papas Olivengarten, die uralte Straße nach Mago zwischen vergessenen Gärten, in denen jahrhundertealte Ölbäume wachsen, — alles geblieben, nur daß ich jetzt die Augen schließen muß, um einen geliebten Schatten durch meine Landschaft gehen zu sehn, und daß ich ganz eine Andre bin. Etwas wohler ist mir doch! In der vollen Sonne zu liegen, vor halbgeschlossenen Lidern die gläsern blauen Gluten des Sees, grünes, raschelndes Feuer aus Wipfeln in Lüften — da läßt es sich nicht widerstehn, und solange der Tag währt, ist es ganz gut. Nur an die Nächte darf ich nicht denken.

Irene fand ich schon vor. Oh wie mich schauderte bei ihrem Anblick! Im Ölbaumgarten saß sie halb ausgestreckt in einem Liegestuhl und bewegte kaum den Kopf nach mir, kaum das weiße Gesicht in dem grünen Schatten mit den, wie Jason schrieb, bronzenen Augen. Ihr Lächeln war herzzerreißend. Ich konnte lange nicht sprechen und war froh, daß Magda nichts sah und zu plaudern begann. Wie ich sie so daliegen sah in ihrem leichten goldenen Haar, allzudünn in einer an Leib und Armen eng anliegenden grünen Tunika, an deren Ärmelenden sie beständig und rastlos zupfte, und schwarzem Seidenrock mit rostigen Falten, wußte ich lange nicht, an was sie mich erinnerte; aber dann fiel mir ein, daß ihr Körper wie der weiche und haltlose Stengel der Wasserrose war, der das weiße Haupt nicht hält, sondern es ruht auf dem Wasser; und so schien auch ihr kleiner Kopf nicht mehr vom Leibe getragen, sondern von einem dunklen, geheimnisvollen Element, in dem sie schwebte. Noch immer, sagt Jason, badet sie in der Morgenfrühe im See, woher sie die Kraft dazu nimmt, begreift keiner von uns. Übrigens ist sie das Gegenteil von mir, sie glüht am ganzen Leib, ihre Hände sind wie Flammen, aber sie kann mich nicht wärmen, und ich ihr nicht kühlmachen, und es muß alles Elend bleiben, was Elend ist.

Die Tage vergehen in Ruhe und Sonnenklarheit, das kleine Klavier ist gestern gebracht worden, Magda übt fleißig, ich begleite sie auch. Abends sitze ich in der Bucht am Sasso. Wie weit man nach Süden sieht, oh wie weit!

am 13.

Ich hatte heut ein schönes Gespräch mit Magda über Georg — das heißt, das Schöne war, was sie von ihm sagte. In der häßlichen Vergeßlichkeit, an der ich nun mitunter kranke, hatte ich an dem Tag, wo er bei mir gewesen war, vergessen, es ihr zu sagen, dann kam die Reise, heut erst fiel es mir wieder ein. Sehr lange saß ich dann noch in Gedanken, als sie gegangen war.

Ach, was ist es nur mit uns Menschen? Schicksal, sagte Magda, was ist denn das? ein Wort, ein Begriff, eine Macht? Wir sind doch Menschen! Irene, Ulrika ... Ach, Ulrika ... ein einziges Mal, fällt mir ein, sprach sie von sich selber, wie Magda heut, es war an einem Weihnachten, oder Neujahr, aus irgendeinem Grund brach das Gespräch plötzlich ab, und Bruchstück blieb es, wie sie selber es mir immer war, bis ich ihr Totenantlitz sah von Bogners Hand, und nie werde ich dies verstehn: warum sie, das geistige Wesen, sie, die immer nur Geist zu sein schien, warum sie so leiblich zerrissen wurde und wie das nur möglich war! Muß man nicht denken, daß die Natur sich hat rächen wollen?

Ja, Bogner auch und Georg, Irene und Magda, und ich selber, was geht denn nur vor in uns Allen? Ist denn das, wohin wir geraten, wirklich das, was wir wollten? Zwang es uns? wer denn? Schicksal? Ja, es ist doch, als ob jeder für ein Gewisses bestimmt wäre, er kann jahrelang irregehn, kann dies und jenes tun, aber immer geht er den einen Weg, immer wirkt er am einen, seinem Schicksal, bis eines Tages das Gewisse fertig wurde, und nun sieht er ein. Sie glaubt ja, Magda glaubt ja an Georg, daß er seine Bestimmung erreichen wird, weil er sie in sich hat, rein gesondert von allem Irren ...

Und das wäre Schicksal? Ach, wenn es sich wirklich nennen läßt, so kann es nichts andres als dies sein: daß wir so sind, wie wir sind, und daß uns Unheil daraus kommt, und daß wir selber es leiden müssen.

Oh nähme es endlich ein Ende!

am 18.

Warum sitze ich denn wach in der Nacht und will schreiben? Unten am Hafen stehen die dunklen Gestalten der Männer in Gruppen, sie sprechen aufgeregt, es wird geflucht, — nun, es sind Italiener, es ist ihre Art, ich freue mich, daß ich noch jedes Wort verstehe, das zu mir herauf kommt. Der Vater Alberti hat noch Licht im Zimmer, ich höre ihn gehn, er ordnet wohl etwas; als ich vorhin aus dem Fenster sah, konnte ich draußen im hellen Viereck, das aus seinem Fenster am Boden geworden war, hinter den Schatten der Gardinen den seinen sich bewegen sehn. Wie gut und wie sicher scheint dies kleine Leben! Es ist eine kühle, unruhige Nacht, der Wind kommt vom Norden und treibt die Wolken gegen Süden, weit draußen bei Limone blitzt der Scheinwerfer vom Zollschiff, der lange Lichtstreifen sucht Buchten und Berge ab, die kleinen, halbversteckten Schmugglerpfade oben bei Pregasina, wie immer, aber ich erschrak plötzlich, als der riesige Finger herum kam; ich bildete mir ein, nun würde er auf mich deuten, ich würde furchtbar deutlich dastehn in einer riesigen Helle, — Gott leuchtete nach mir aus und würde mich armselig finden.

am 23.

Wieder wie damals koche ich mit Barbara für uns Alle und drei kleine Fischerkinder das Mittagessen, und es macht mir Spaß, daß ichs noch kann. Könnte nicht Li so viel mehr! Wo in aller Welt hat er gelernt, eine Polenta zu machen, wie sie kein Italiener köstlicher machen kann? Jason hilft auch mit, steht in einer weißen Kochschürze und schuppt den Fisch, oder putzt Gemüse, denn Li, sagt er, ist nur für das Feine, ein so kunstreicher Koch! Jason, nun sehe ich ihn zum ersten Mal unter andern Menschen; sie sprechen von ihm wie von einem guten Geist, wüste Kerle kommen auf der Straße auf ihn zugerannt, um ihm die Hand zu schütteln und tausend Dinge zu erzählen mit zehntausend Gesten. Auch Magda lieben sie sehr und lehren die Kinder, zu ihr hingehn und nach ihrer Hand fassen; plötzlich hält sie dann so eine fettige, kleine Dreckpfote und strahlt mit ganzem Gesicht. Durch die Küchentür hörte ich Li zu Barbara sagen: Der Herr al Manach, wenn der über die Straße geht, das ist, wie wenn Bruder Franziskus kommt; mein gnädiges Fräulein, das ist die gute Madonna, aber das Fräulein Renate, das ist die Monstranz, da bekreuzigen sie sich und murmeln: il miracolo ...

Sie bekreuzigen sich, und ich glaube fast, sie wissen, was sie tun.

Um ein Uhr essen wir Alle zusammen vor dem Haus unter der Olive, die drei Kinder sitzen furchtbar gewaschen mit ihren Schüsselchen im Gras, und ich teile Polenta aus, — oh die Tage, die Tage!

Unbeschreiblich die Klarheit! Ich gehe ganz früh allein durch die Straßen, an den Hafen, kein Mensch ist zu sehn, es duftet nach Oleander, der Morgen entfaltet sich wie eine Blüte, ich friere leise und nicht einmal unangenehm. Ein paar alte Männer hantieren auf dem Kai, ein Segler fährt aus, lautlos gleitend in den flammenden Azur, es ist alles wie verzaubert. Und die Abende! Der Mond kommt spät und leuchtend, silberne Streifen glänzen im ruhigen Wasser, ich sitze auf einem der Liegestühle auf der einsamen Bootsbrücke, keiner von uns spricht ein Wort, dann tastet eine Hand nach der meinen, Magdas klare Stimme fragt durch das Schweigen: Schwester? — Ich kann nicht sprechen.

am 24.

So ist denn Irene am Ziel. War es eine Ahnung, die mich am frühen Morgen in den Garten führte? Da lag sie auf dem Rasen im beweglichen Schatten der Blätter, in sich gebogen, ganz schlaff, aber wie ich sie aufrichten will, bewegt sie sich schon, ist ganz wach, todmatt, aber ihr Gesicht ist in Glückseligkeit wie gebadet. Erst sagte sie nur, als sie mich erkannte: Ach! — Nach einer langen Weile dann: Nun kann er kommen. —

Sie war wieder in den See hinausgeschwommen, und beim Zurückschwimmen verließ sie die Kraft. Sie fühlte sich zum Stein werden, der sich selber hinab zog, alles ward blau um sie her, und in diesem Augenblick, sagte sie, sah ich unter mir in der Tiefe den Tod stehen wie einen ungeheuren Geist in weißen Falten, und er stieß mit einer gläsernen Lanze gegen mein Herz. — Dann sei in einem einzigen Feuerstrahl ihr ganzes Wesen aufgeflammt und erloschen. Als sie erwachte, habe sie auf dem Strand gelegen. —

Sie ging bis zur Grenze. Was verschlägt es, ob sie sich nun verwandelt glaubt und der Vergangenheit zurückgegeben? Sie vollbrachte das Mögliche, sie stieß bis zur Grenze vor, — und das, sagt Jason, ist der einzig bekannte Weg, zu unsrer Mitte zu gelangen. — So ist sie am Ziel.

Obgleich sie noch so schwach ist wie ein Blatt, will sie gleich fort, und mich drängt es mit ihr. Mir ist seltsam. Als ob alles umher sich verwandelte und abfiele. Herr, mein Gott, was soll denn noch geschehen mit mir? Auf einmal zieht es mich nach Hause, nach dem Hause, wo ich Heimat bekam. Heut nacht kam mein Vater, sah mich traurig an und sagte eine Menge Dinge, von denen ich nicht ein Wort verstehen konnte, ich war verzweifelt und rief mehrmals: Ich verstehe dich ja nicht! — Da nickte er schmerzlich, sank langsam in sich zusammen und glich nun ganz seinem Bruder; plötzlich dachte ich: Er stirbt ja! und erwachte voll Grauen.

am 26., München

Am Abend vor unsrer Abreise saß ich mit Irene, Magda und Jason noch zusammen, und auf einmal war mirs, als sähe ich alles zum letzten Mal, ja, so eigen, als wäre es das Letzte, was ich zu sehen bekäme. Ich konnte mir nicht vorstellen, was sein würde, ich dachte gepeinigt nur immer ganz sinnlos: Morgen ist das alles ganz anders! Oder: Morgen ist alldas nicht mehr! Ich glaube fast, so muß ein Verurteilter empfinden am Abend vor seiner Hinrichtung. Ich sah auch alles so übergenau: den schönen Raum mit alten Möbeln, das kleine Harmonium, die Skizzen im Rahmen von Vaters Hand — jeden Tag wollte ich sie fortnehmen, nun ließ ich sie doch hängen —, die liebe Ecke mit dem Spiegel, vorne den Erker, das runde Fenster und dahinter, dicht am See, meinen Garten, meine Olive. Später stand ich noch lange im Dunkel vor der Haustür zum Garten, erkannte den winzigen Lattenzaun im Finstern und die alte Steinpforte zum Traubengarten. Herrlich war es immer damals, unter diesen hochgezogenen Lauben zu gehn; dunkle, volle Trauben streiften mir das Haar in den letzten Jahren, dieselben, nach denen ich die Hände vergeblich reckte in den ersten, und es gab auch eine Wiese da mit zwei hohen Pappeln und einer Quelle zwischen Steinblöcken.

In meiner Stube sah alles traurig aus und als wäre ich schon fort. Die immer unstet und flüchtig aussehenden Koffer standen umher, das Glas mit den Blumen lag vom Wind umgeworfen, die Blumen waren welk.

Am Morgen war es wie Traum. Ich saß schon im Wagen, gleich ging es rechts die steile Straße hinauf zwischen Mauern und Oleanderbüschen, und wieder sprach es: Morgen ist dies alles nicht mehr ... Mein Herz klopfte mit furchtbarer langsamer Gewalt, ich sah alles und nichts, plötzlich erschrak ich, zu bemerken, daß es noch dunkel war, mir schien wirklich, ich träumte, woher war es eine Mondnacht auf einmal? Wieder kam das Frieren. Da war die Kirche hoch über dem Dorf, von Zypressen umgeben, der kleine Friedhof, immer wieder Ölbäume und Feigen, deren Blätter so würzig duften bei Nacht. Alles schien mir ewig vertraut und bekannt, und alles, dacht ich, wird nie mehr sein. Vielleicht, fiel mir ein, bekomme ich ein neues Leben. Wir fuhren die lange Straße zum Fort hinauf, steil und steiler, und ich sah, mich zurückwendend, den See schon tief unter mir liegen, er leuchtete im Mondlicht, und fern im Himmel standen die wunderbar großen, fremden Sterne des Südens friedvoll über der schlafenden Landschaft. Die Pferde hörte ich leise schnauben, sie trabten langsam im weißen Sand der höher ansteigenden Straße, da war der starke Stall- und Ledergeruch auf einmal so beruhigend wirklich und alltäglich da, und minutenlang war es nur eine Fahrt, auf einer Landstraße, im bekannten Gelände, in Sicherheit. Beim Fort trat der Posten heran, las im Schein der Wagenlaterne den Passierschein des Kutschers, grüßte und trat in den Schatten zurück. Da dacht ich, nun müßte ich aus dem Wagen springen und zurücklaufen, alles noch einmal nah haben am Herzen, aber ich hing doch ganz still mit dem Blick an dem einzig geliebten Bild von See und Ferne im Rahmen des Torbogens, stehend im Wagen, und so entschwand es, — die Pferde zogen an, der Weg senkte sich, plötzlich fuhren wir durch Nago, und der See war verschwunden. Da, da! der kleine Weg, wie oft gegangen in der glücklichen Zeit, zur Ruine hinauf, man mußte über wilde Rosenhecken klettern, — oh mein Vater, mein Vater! Ich sah und ich sah, wie brannten mir die Augen, ich wußte brennend und wild, es würde mir etwas begegnen; die Landstraße, weithin sichtbar bergabwärts führend in vielen Windungen, leuchtete weiß im starken Licht. Wieder ein Soldat mit aufgepflanztem Bajonett, dunkle Häuser, ein einsamer Mann mit Stock und Felleisen kam uns entgegen, und mir raste das Herz, ich wagte nicht, nach seinem Gesicht zu sehn, ich dachte: Das ist er! das ist Vater! Nun steht er, nun spricht er dich an! Ich sah und ich sah. Loppio, die schöne Kirche mit den weißen Säulen, der kleine See dahinter lag tief im Bergschatten, es war so kühl! Nun lag ich erschöpft und überwach im Wagen, hellhörig für jedes kleinste Geräusch und im Fieber. Warum wollte es denn gar nicht Tag werden? Der Mond stand immer noch hoch am Himmel, ich konnte meine Uhr ablesen, ich vergaß die Zeit im Augenblick wieder. Jetzt öffnete sich das Tal, und mit einemmal blitzten Lichter auf, rote, grüne, von fern schrie ein gellender Pfiff in die Stille hinaus, da war auch schon die Eisenbahnbrücke von Mori, da waren Menschen, der Wagen hielt vor dem Bahnhof.

Ich aber schrie fast, bebend und schlotternd beim Aussteigen: Nach Haus! nach Haus!

Und was dort? — Und was dort?

Zu Haus

Ich lief, nein, ich flog meine Treppe hinauf, auf mein Zimmer zu. Nun mußte es ja kommen, nun mußte er da sein, der Brief, oh endlich der Brief, in dem alles stehen würde; daß es ein wahnsinniger Irrtum war, alles nicht wahr, ein grausiger Traum, und ich würde aufwachen, und auch meine Liebe war nicht umgebracht, sondern lebte und lebte, — oder — kein Brief, er selber, er, im Zimmer, wartend ...

Wie bracht ich die Tür nur auf? Seltsam: auf dem Schreibtisch, nicht auf seiner Säule, stand der weiße Kopf und sah still durch das Fenster. Franziska muß ihn beim Zurechtmachen des Zimmers zum Abstauben herabgenommen und vergessen haben. Nun stand er da wie ein abgehauener, ich sah ihn schon verschwommen durch Tränen und hob ihn auf und dachte, er steht auf dem Brief. —

Nein, kein Brief. Oh, aber weinen, wieder weinen können! Fast lächeln läßt es sich wieder danach. Magda sagte noch gestern, stirnrunzelnd, mit solch einer kräftigen Düsterkeit, wie sie nun manchmal annimmt: Männer haben die Verachtung, wir haben immer nur Tränen. Jedem seine Waffe.

Ein wenig Erleichterung doch! Ich muß wieder hoffen lernen.

nachts

Nein, ich kann hier nicht bleiben, ich kann nicht! Ich erfriere ja hier! Das Wetter wie im Februar, und das Haus ganz leer. Onkel tot, der Erasmus verschwunden. Verreist, heißt es. Magda sagt ja, in Helenenruh wäre es immer Sommer; wir wollen gleich fahren. Auch Irene läßt den Kopf hängen, ach gewiß, wie ich mir den Brief einbildete, hat sie sich vorgestellt, Klemens an der Bahn zu finden, und nun friert sie, wie ich, bei ihren Eltern; sie kam nach dem Essen, wir saßen zusammen und weinten, ach, du lieber Gott! Ich nehme sie mit nach H.; dort kann ich dann überlegen, ob es gut sein wird, Klemens zu sagen, daß sie auf ihn wartet.

Irene, ach, wer noch warten könnte wie du!

Hier enden des achten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.

Neuntes Buch.
Charfreitag
oder
Die Eltern

All dies stürmt reißt und schlägt blitzt und brennt

Eh für uns spät am nacht-firmament

Sich vereint schimmernd still licht-kleinod:

Glanz und ruhm rausch und qual traum und tod.

Stefan George

Erstes Kapitel

Georg

Unermüdlich wanderten die Gedanken.

Georg, mit den Füßen ebenso unermüdlich, wanderte das kalte kleine Helenenruher Zimmer ab. Im Winkel neben dem Fenstervorhang strömte die alabasterne Schale ihr immer gedämpftes Licht aus, in einer Stetigkeit ohnegleichen, die Georgs Auge zu Boden schlug, wenn er ihrer gewahr wurde. Im ständigen Hin und Wider die kurze Strecke durch den Raum streiften seine Blicke unteilhaft Wände und Gegenstände des Kindheitszimmers, die ihm, so wenig ers inne ward, mit Alterslosigkeit und Unwandelbarkeit doch der letzte Halt waren, nicht aus sich herauszufahren, ein unseliger Wirbel, von sich selber zerrissen. Die Nacht war laut. Frühling und Winter schlugen die letzte Schlacht in der Finsternis, und unter einem Sturmwind, der selber von unheimlicher Lautlosigkeit war, tosten die Bäume des Parks, die ferne Stimme der See überbrüllend; das ganze Haus mitunter bebte und verriet knackend seine Fugen. Georg lief, in so rastloser Bewegung wie ein Gesteinsbohrer sich hineinschraubend in den Gneis seiner Ratlosigkeit.

Auf dem Schreibtische vor dem Fenster lagen und standen in dem stillen nächtlichen Licht die Gegenstände der Kindheit, vom gegenwärtigen Augenblick wie von der Vergangenheit unberührt. Aber mitten in ihrem unangefochtenen Stillesein lag das Brennende, die schwälende Fackel, aus der jeder seiner Blicke im Streifen einen neuen Schluck verzweifelter Gluten schöpfte: lagen die wiederaufgefundenen Briefe an seinen Vater — eigentümlicherweise von ihm selber scheinbar in diesem Schreibtisch nur deshalb versteckt, damit er sie fände —, die aus den höllenhaften Septembertagen des Vorjahres. Georg hatte sie gelesen, sich ins Bett geschlagen vor Entsetzen und sich nach endlos flammenden Stunden der Schlaflosigkeit an die Wanderschaft durch den Raum gemacht, entschlossen, noch in dieser Nacht fertig zu werden mit diesem und sich.

Das allerdings, was ihn zuerst aus den Briefen entsetzt hatte, der Irrsinn, das Wiedereintauchen in die Folter von damals, war nun längst schon verschwunden hinter einem mehr würgenden Elendsgefühl. Denn was stand da geschrieben, Zeilen, die sich eingebrannt hatten in sein Hirn, in sein Herz? ‚So müßte es mir in der Tat gelungen sein, die ganze Oberschicht menschlichen Daseins, die uns gemeinhin bedeckt, abzukratzen, die ganze moralische Haut sozusagen, jene, in der auch das sogenannte Gewissen steckt, das Alltagsgewissen, nach dem man so behaglich lebt, dieweil es mit Gründen für alles vollsteckt wie ein Brombeerbusch im Oktober. Möglich es ist so. Möglich, das qualvolle Unbehagen, das mir das jetzige Leben verursacht, kommt davon, daß ich die Haut verlor und nun schauderbar friere in der Nacktheit. Worauf es ankäme, wäre dann wohl, nicht, wie ich es unbewußt bereits vorhaben werde, eine neue Haut zu bilden — die nur die alte werden könnte —, sondern vielmehr den Zustand der Hautlosigkeit als dauernden zu ertragen, mit Frieren aufzuhören, ihn lebensfähig zu machen.

‚Wie soll mans nennen? Nur — Mensch zu sein. Alle Strahlen des Lebendigseins aufzufangen — mit keiner spiegelnden Netzhaut, die Bilder hervorfluten läßt und verwirrende Gestalten —, sondern sie aufzusaugen in den innerst glühenden Kern des Menschseins, wo sich von selber zu ätherischer Reine und Klarheit die ewigen Begriffe bilden, die zeitlosen, die unwandelbaren Formen, in denen die Gottheit sich darstellt.‘

Und schlimmer noch diese Sätze:

‚Gnädiger Gott, der du bist! Wenn es denn möglich sein soll, wenn es aus alldiesem noch einen Weg geben soll für mich, so bewahre mich vor dem einen: ja, wahrlich, wenn ich auch mit Blut und Knochen, mit all meinen Sinnen und Übersinnen wieder hinein muß ins Alte, — so sei mir gnädig und verhilf mir zu dem Einen: nicht der Gewohnheit wieder anheimzufallen mit meiner Seele! Daß ich meine eignen Gedanken sehe wie Sterne, meine eigenen Gefühle wie Blumen; daß ich nicht dem Ungefähren nachtappe, wie ich das Pferd Unkas sich selber nachtappen sah in den ewigen Stall!‘

Ja, gnädiger Gott, war es faßbar, war es nun nicht doch geschehn, war er nicht ganz wieder der alte, hatte er sein Leben geändert? — Seine Gedanken jagten wie herrenlose Hunde in den letzten Monaten herum, suchend nach einer geringsten Veränderung gegen früher. Nichts da, nichts! Da war ja auch keine Zeit zum sich Ändern; da war ja nur von Arbeit ein Ozean, in dem er so hülflos herumpaddelte wie ein Pudel, und — Ich weiß was! knurrte er wild: Wenn du echt wärst, Georg, wärst, der du scheinst, so wärest du ruhig, verlebtest nicht Tag und Nacht in hundert Ängsten vor unerledigten Aufgaben, hättest ein gutes Gewissen, hättest auch Vertrauen zu denen, die du verständig weißt, um ihnen das Übermaß des Deinen zuzuschütten, anstatt daß du nun keine stinkende Ratte von Angelegenheit vorbeilaufen lassen kannst, ohne sie an die Nase zu führen. Also bist du verflucht, mein Prinz, mußt dir selber die Zeit wegrauben, und alldas, alldas von Anfang her, ist deine Schuld!

Herr des Lebens, und sollte er nun glauben, daß jenes Fegfeuer des Irrsinns im vorigen Herbst keinen Sinn gehabt hatte, als einmal zu brennen und zu verlöschen? Ungereinigt war er herausgestiegen ins vorige Sein. — Wie es da ausgedrückt war: den Zustand der Hautlosigkeit zu einem dauernd erträglichen auszubilden, so wars eine poetische Redefigur; eine Haut mußte sich wieder bilden, aber: ein Zeichen, ein winzigstes, mußte doch zu entdecken sein an der neuen Haut, erkennbar zu machen, daß sie neu war.

War er ein andrer Mensch? Hatte er irgendwas gewonnen?

Seine Phantasie, auf der Suche, geriet sofort an Renate.

Da stand, als er nach der Ankunft in Böhne aus dem Bahnhof ins Freie trat, im Zwielicht das Viergespann, das Magda, ihn festlich zu empfangen, vom Gestüt hatte herausfahren lassen, und drin saß sie mit Renate, gut aussehend, heiter, noch angebräunt vom italischen Frühling, und Hut und Kleidung schienen gefälliger als früher. Renate unkenntlich vor Schleiern ... Er aber empfand Lust, zu kutschieren, und stieg auf den Bock.

Es dämmerte schon, als die Stadt hinter ihnen zurückwich. Weit vorauf sichtbar die weiße gewundene Straße schien seltsam leidend; weit und verlassen die grünen Gefilde der Wiese, verloren im Abend; vereinsamt in ihrem Dunkel die kleinen Wäldchen fern unter den lastenden schweren Wolkenmassen des ruhlosen Himmels. Tropfen fielen und eintönig die Schläge der vielen trabenden Hufe, ein trappelndes Durcheinander. Und noch im aufatmenden Gefühl, daß er sich nicht mehr beeinflussen ließ von Landschaft und Witterung, wie früher, daß er sie nur um sich her sein ließ zum Beschauen, wandte er sich um, und da saß Renate, Schleier und Hut im Schoß, das Antlitz zur Seite gewandt aus dem Wagen, still, und Tränen liefen naß und glitzernd aus ihren Augen. Ihn streifte sie mit einem flüchtigen Blick, einer verlorenen Bitte, und fuhr einfach mit Weinen fort.

Nun sah er wieder die süßen Farben des einzigen Gesichts, das glänzend rinnende Blau der Augen, das bräunliche Haar, die Blüte der Wangen, — sah es in seiner Vereinsamung mitten im immer dunkleren Kreis des Landes. Der Himmel verfinsterte sich mehr, das Land schwand in der Dunkelheit der Fernen, lauter scholl das Trotten der Hufe, steif in den Händen die Riemen fuhr er dies Weinen durch den Abend hin, und ihm war, als führe er Persephone weinend über das seufzende Land, er, Hades, seinem trostlosen Hause zu.

Das lag dann plötzlich, erhöht über die schwarze Masse des Waldes, aus dem es zu wachsen schien, schwarz mit den Türmen vor dem düsteren Westhimmel, in dem noch geheimnisvolle Röten glühten in Streifen, wie von Bränden und nicht von Sonne.

Beim Aussteigen nahm sie nicht nur seinen Arm, sondern stützte sich sogar, ihres verstauchten Fußes wegen, und er empfand körperlich ihre Weichheit. Daß er sie einmal führen und stützen müsse, hätte er nie gedacht. Beim Essen dann konnte er alles sehn: die Hoheit von einst, den magischen Kreis um sie her, den er immer gefürchtet hatte, und der jetzt durchwirkt war von Weichheit, einem hülflosen Schmelz, für ihn schmerzhaft verlockend und von kaum erträglicher Süße.

Dann erschien Benno, verlegen und strahlend ...

Wie, Benno? Das hatte er vergessen, mit Benno hatte sich etwas zugetragen, aber das war nachher zu bedenken, erst weiter — Renate ...

Magda sang auf seine Bitte, oben im Klaviersaal am Harmonium, zwei der ernsten Gesänge von Brahms.

Indem fiel Georg ein, daß der Geburtstag seiner Mutter bevorstand, und seine Brust zog sich leise zusammen, halb in Scham, daß er jetzt erst ihrer gedachte, und mit einem jähen und schweren Gefühl des Vermissens sah — nein, empfand er ihr leidvolles Dasein und ganz stark ihre vereinsamte Liebe zu ihm. Wieder brannte ihm das Herz, er dachte Emmaus, und er stöhnte plötzlich unter einer siedenden Woge Leides, eigenen Leides im letzten Jahr, die über ihn hinschlug. — Es geht vorüber, murmelte er dumpf und geduldig, es geht vorüber ...

Wieder erschien ihm Benno, wie er dastand hinter seinem Stuhl, die Lehne in Händen, und sich wand und verteidigte.

Also das wars, er komponierte eine Oper. Nein, erst war das mit George, wie kamen sie darauf? Ja nun, wie das so geht ... Menschen, die sich lange nicht sahn und vieles erlebten, wovon zu reden wäre, greifen vielmehr nach dem Unpersönlichen. So sprachen sie von Literatur, von Stefan George, und was hatte er gesagt, dieser verfluchte Benno? Er hatte den „Gehalt“ vermißt an George. — Da vermißte einer Gehalt am Marmor, dessen Eigenschaft es ist, Marmor zu sein durch und durch. — Georg war sprachlos.

Ja, richtig, Benno bewunderte ihn, George, aber er erschütterte sein Herz nicht. Es fehle am Menschlichen irgendwie. Gewaltig, ja, oh natürlich, und er gab überhaupt alles zu, wie immer, und er sei im Unrecht, das wisse er wohl, aber er könne sich nicht helfen, — und lobte darauf Gerhart Hauptmann. Georg staunte baß und gab zu: Michael Kramer, Florian Geyer und vielleicht das Friedensfest, mehr um keinen Preis, worauf Benno eine schmächtige Hymne sang auf das Hannele, indes Georg begriff und ihm auf den Kopf zusagte, daß, wenn ein Mensch zu ihm träte und sagte, das Menschenherz ist voll Tränen und Sehnsucht, er schon jubelte und schrie: Ecce poeta! Oh uralte Verwirrung der Begriffe, denn wo Welt und Schicksal und Not und Überfeuer zusammengepreßt seien in eine eherne Musik der Sprache, da stehe er leer und dunstig. — Kein Zentrum in ihm, das ists, murrte Georg. Vor sechs Jahren las ich das erste Gedicht von George, verstand ihn vor Jugend noch kaum, und seitdem, Jahr um Jahr, wieviel, wie vieles ist abgefallen und verwelkt, all die Dehmels und Hauptmanns und Wedekinds, bei denen man damals sich freute und meinte, es genüge, wenn da etwas sei, — aber er — und noch Hölderlin —, diese Beiden gingen immer mächtiger und strahlender auf wie die Sterne mit der tieferen Nacht. Die sind freilich nicht leicht zu tragen, aber wer sich nie mit ganzer Kraft um das Leben mühte, wie will der das Wahre gewinnen an der Kunst?

Denn Benno, der komponierte nunmehr glückselig eine Oper. Eine Spieloper? Keineswegs, sondern ein stolzes Musikdrama, und gar war er sichtlich enttäuscht, keine glückwünschende Zustimmung zu erhalten, und gar endlich auf einen Text, den ein Freund oder Vetter seiner Elfe, Schriftsteller, hergestellt hatte aus einer Erzählung von Riehl. Bei den Göttern, so wars, damit nur alles zusammentreffe: Musikdrama und Dramatisierung eines epischen Stoffes, — alle Notwendigkeit beim Teufel! Georg stand wütend auf.

Du, Benno, hielt er plötzlich seine Rede aufgebrachter noch einmal, hast du denn alles vergessen von damals? War dir alldas etwa nur wert, gefühlt und gesungen zu werden? Nichts als Sentimentalität? Nun sind wir Männer und hätten zu zeigen, was wir gewannen, und ich, Benno, ich hab auch Verse gemacht und mich für einen Dichter gehalten; als ich aber einsah, daß es nicht das Ganze war, da verzichtete ich. Hast du, frommer, weicher Mensch, denn nun in Wahrheit keinen Weiser in dir für das Echte? Daß es nicht genügt, dies und jenes zu tun, weil es sich tun läßt, und es nur möglichst gut zu machen, sondern daß es die Aufgabe ist, auch zu lassen? zu prüfen erst und dann zuzugreifen? Da haben eine Menge Leute Musikdramen geschrieben, die Form des Musikdramas steht dir als praktische Möglichkeit leibhaft vor Augen, und sofort hast du vergessen, was du sehr wohl weißt — sehr wohl, Benno, nach früherer Aussage! —, daß du eine Schande begehst, daß du die Musik, den reinen Engel, erniedrigst und entstellst, indem du sie zu dem einzigen verwendest, wozu sie nicht da ist: auszudrücken! Etwas auszudrücken, was sich auch auf andre Weise ausdrücken läßt, Geräusche der Natur, oder durch Handlung und Wort auf der Bühne! Oder das simpel Menschliche auszudrücken, Leidenschaft, Klage, alldas zufällig Tatsächliche, anstatt das himmelhaft Zeitlose! Aber freilich, du mußt auf das Praktische gerichtet sein, mußt auch Geld verdienen für deine Frau, und darum siehst du nichts als die Verlockung des prächtigen Librettos, und daß es halt Musikdramen giebt, und ergo, daß die möglich sind, und fragst wie der Galizier: Gott über die Welt, warum soll ich nicht? — Und daß es an dir ist, alle zehntausend hundsföttischen Möglichkeiten durchzusieben bis auf die eine, die Notwendigkeit heißt, das — — ah, mein Benno, jetzt schwant mir etwas ganz Böses! Wenn wir dazumal einer Meinung gewesen sind, so waren wir doch nicht eines Herzens, und zwar meintest du das gleiche wie ich, aber du meintest es auf andre Weise! — Das wäre des Teufels.

Und ich, mußte er sich jetzt wieder fragen, bin ich eigentlich anders gewesen? Habe ich geprüft? Nein, bei Gott nicht! Aber wie, konnte ich das ebenso echt empfinden — und doch unrecht haben? Was gab mir denn recht?

Eine Stimme in ihm sagte: Leiden. — Erst glaubte er, sie überhören zu müssen, gab aber nach: das möchte wahr sein.

Und dann, jählings, als habe ihn jemand geschüttelt, so daß alles eben Empfundne und Gesehne von ihm abfiel wie Lumpen, stand er wieder in voller Glut seiner Scham, sah er am herumliegenden Abfall, wohin er abgeirrt war, und daß er der alte war, unabänderlich unverändert der alte.

Eine Nebelwand vor den Augen, das ist das Leben für mich, und dahinter ein dünnes Licht. Was für ein Licht? Das Licht bin ich selber, ich, den ich suche, um den ich mich bemühe, und was mich anleuchtet, ist die Angst, nicht zu werden, zu verlöschen im Alltage. Früher — habe ich mich da schon gesucht? Auch, ja, aber dumpf nur und kaum bewußt. Ich strebte, wohl, ich strebte nach einem menschlich hohen und wertvollen Ziel, und was ich auch vornahm, was ich betrieb —, wenn ich aus der Trunkenheit aufwachte, so hatt ich doch Augen für die Sterne, — Hölderlins und Georges Form, in sie konnte mein Leben doch eingehn und in der Wahrheit lebendig sein, — oh mein Gott, daß ich dies immer wieder vergaß! Das Schlechte erkannt ich doch immer als schlecht, wenn auch nachträglich nur, und ich quälte mich dran, wollt es verleugnen, wand mich am Ende heraus; und das Gute — war es mir jemals ganz gut, war es mir — wirklich? Hatt ich nicht immer die Qualen der Unwirklichkeit, die Reue, daß selber der höchste Augenblick Augenblick war und verlöschen mußte, und sucht ich nicht immer nach — nach — Renate? Und immer wieder vergaß ich Renate und nahm jemand anders, — und zuletzt, da ich zugriff wie ein Taps, so entzog sie sich selber, für immer, und da steh ich und starr’ ins Symbol Renate, hoch und nie zu erreichen.

Dumpf damals und im Dunkel, jetzt etwas heller, in Dämmrung: wäre das wahrlich der ganze Unterschied? Wäre das Hoffnung, daß langsam, aber doch sicher, die Helle zunähme? Daß deshalb Nächte kommen wie diese, wo ein guter Dämon mir Öl ins Feuer der Reue gießt?

Georg wanderte auf und nieder. Augenwinkel und Schläfen brannten von Schlafverlangen, auch peinigte ihn die Unaufhörlichkeit des Nachtsturms, den er immer wieder, nachdem das Tosen der Bäume fernhin versaust war, heranrollen, schwellen, toben, sich im Gewipfel wälzen hörte. — Ich lasse dich nicht, murmelte er sinnverloren, du segnest mich denn! O Gott, mein Gott, diese Einsamkeit! Und wären sie Alle hier, die mich jemals liebten, die Lebenden und die Toten, und könnte ihrer Aller Liebe sich zu einem allmächtigen Leuchtfeuer vereinen —, ich würde es wie einen Sternfunken klein in der Nacht sehn; meine Nacht würde Nacht bleiben. Niemand kann helfen, niemand, niemand, nur Gott.

Und in einer Verzweiflung, stehen bleibend, die Augen schließend, stieß er aus seinem Unglauben die Worte: Gott, Gott, Gott, wenn du bist, gieb mir ein Zeichen, gieb! Laß diesen Sturm sich legen, wenn du bist, und ich weiß, daß ich auch einmal Ruhe finde!

Danach lauschte er lange Sekunden. Der Sturm wurde schwächer, entfernte sich, es grollte von weitem gedämpft, wurde stiller, still. Und dann machte es sich wieder auf und rollte heran, Woge um Woge.

Georg ließ die Arme fallen. Einen Augenblick später saß er plötzlich und schrieb.

Mein Leiden, schrieb er, war und ist noch immer eine Art Cäsarenwahnsinn, nicht der Tat, sondern des Verstandes. So wie jene Kaiser, geboren zu einer Zeit, wo das Leben des Untertans weniger wert war, und erzogen zu dem Herrscherempfinden unumschränkter Gewalt über Leben und Tod, sich über Vorstellung und Leidenschaft hinaus zügellos hinreißen ließen zu den Ausführungen schrecklicher Art, Massenmord, Muttermord, Brandstiftung, was es auch war: so wirkte in mir ein an sich zügellos beschaffenes, durch unbewußte Betätigung ins Unermeßliche und Schamlose gesteigertes Denkvermögen. Mit ziemlich offenen Sinnen versehen, war mir Beobachtung, Ergreifung sowohl aller sinnlichen Vorgänge um mich her, wie der in Büchern erreichbaren geistiger, seelischer, humaner, gesellschaftlicher, natürlicher, künstlerischer Art, immer Vergnügen und leichte Gewohnheit. Die Fertigkeit, Bezüge herzustellen, von einem aufs andre, von zweien aufs dritte zu schließen, ein ähnliches Drittes als erhärtet und verbürgt anzusehn durch Erstes und Zweites, diese Fertigkeit ist nicht nur mir, ist jedem Menschen von Natur eigen, und ich übte sie nach Gefallen. Und das Wichtigste: eine unbegrenzte Ichsucht, schaurig durch Unbewußtheit vertieft, die jeden begegnenden Vorgang, jede Erscheinung des Lebens und noch mehr: in der Lektüre jede Meinung, jedes Urteil innerhalb des ganzen Bereiches des menschlichen Wesens nur in der einen Beziehung auf das eigene Ich, die Wahrscheinlichkeit des selber so handeln, denken, empfinden Könnens oder Wollens oder Mögens aufnahm. Alldies — und gewiß noch andres in Menge mehr — züchtete diese geistige oder nervische Leidenschaft des alles Denkenkönnens; des alles für — nicht nur wahrscheinlich, möglich, plausibel, sondern für wahr Haltens, nicht weil es wahr, sondern weil es so denkbar erschien. In keinem Stoffgebiet, keiner Kunst oder Wissenschaft wirklich zu Hause, keiner menschlichen Weisheit, keiner Wesenheit wirklich auf den Grund gekommen, erregte mich vielmehr gerade die Leichtheit des — scheinbar — alles fassen, umfassen, durchschauen und verbinden Könnens. Es ist ein gealtertes Wort, daß jeder Mensch nur sich herausliest aus dem Buch, das er liest; er ist sich selber der Held eines jeden Romans, und sei der ein Herkules oder Cäsar Borgia.

Mildernde Umstände machen die Tat ebensowenig ungeschehn, wie sie die Schuld aufheben können; mildernde Umstände enthalten recht eigentlich die Erklärung, die Anlässe der Verbrechen, machen sie verständlich, erkennbar. So habe ich etwa die mildernden Umstände für mich, daß ich am Leben bin zu einer Zeit, die ebensolche hervorbringt wie mich; Menschen, die zu einer Zeit ihres Lebens, beim Übergang von der Jugend zum Mannesalter sich im Besitz eines leicht und handlich arbeitenden Verstandes, offener Sinne, leidlich geschulter Logik und der oder jener Begabung oder Kunstfertigkeit sehen, ‚hochbegabt‘, wie man sie nennt, ‚talentiert‘, ohne dabei von einer seelischen Festigkeit, einem innern Ausgerichtet- oder im Gleichgewichtsein, mit einem Wort: von Charakter zu sein, in dessen Händen allein jene Begabungen wahrhaft leistungsfähig, notwendig und gerecht wären. Tausend Dinge ohne innerstes Müssen zu tun, weil sie sich tun lassen, das ist der Fehler. Fertigkeiten zu haben, die das Maß der innern Bedürftigkeit übersteigen, wie das Angebot die Nachfrage auf dem Markt. Mit den Augen größer zu sein als mit dem Magen. Kein Ernst, immer Spiel. Übung der Geschicklichkeiten zu keinem nützlichen Zweck, sondern um der Geschicklichkeit willen. Grammatik Treiben am Homer. Immer jenseits der Grenze des Notwendigen im Elysium alles Möglichen. Keinerlei Beschränkung im Geistigen, Zügellosigkeit, Cäsarenwahnsinn des Verstandes.

Und noch möchte alles das hingehn, blieb es auf sich, auf mich selber beschränkt. Gäbe es nicht Menschen, die bei solcher Beschaffenheit das beschaulichste Leben führen? Und zwar dies, teils weil das Leben sie auf einen Platz stellte, wo kein Handeln, also kein Mitgefühl, kein Denken und Sorgen für Andre von ihnen verlangt wird; teils weil sie niemals darauf verfallen sind, sich selbst zu erkennen. Ich aber war unzählige Male zu einer Zeit, wo ich nicht daran dachte, daß ich es sei: hineingestellt mitten in das menschliche Labyrinth des Wollens, Tunsollens, Unterlassens und der Schuld; bin es heute wie je mit dem einen Unterschied, daß ich nun weiß. Hinderte mich aber am Rechten damals die riesige Wucherung meiner Sinne, meines Verstandes, die mir alles zeigte wie ein Glück, es wahrnehmen und denken zu können, aber nicht rechtzeitig hineinzugreifen und auszuführen: so hemmt mich nun, da ich Erfahrung gewonnen habe, eben sie. Nun bin ich so belastet mit Wissen, wie wenn eine Schnecke ein Haus hätte, das zu schleppen ihre Kraft nicht ausreichte, so daß sie zwar drin hausen kann, aber es nicht hinbringen, wo Nahrung ist. Wußte ich früher nichts und war geblendet durch die Last, Wissen — oder was ich dafür ansah — zu erwerben — und was schien mir nicht erwerbenswert? —, so bin ich nun blind ...

Voll Unmut und Widerwillen schon während der letzten Sätze gegen das Hinschreiben, legte Georg die Feder hin und das Gesicht in die Hände. In diesem Augenblick ging durch die schwere Beklemmung, die ihn erfüllte, ein sanftes Licht. Dem gab er nach, erweicht, und dachte so in schwerer Nachgiebigkeit:

Es ist nicht möglich, Georg, daß es nur dies ist. Es ist nicht möglich — denn es wäre nicht menschlich! —, daß irgend jemand so wie du sich im tiefsten belastet fühlen, im tiefsten unglücklich sein könnte durch die reine Erkenntnis seines Soseins, das Wissen um — psychologische Vorgänge. Alldies ist das Allgemeine; was aber ist das Persönliche, in dem es sich bei dir darstellt? Was ist das Wesen?

Gieb es zu, Georg, gieb es zu!

Es ist die Lüge. Es ist ganz einfach. Wäre es jenes allein, so würde ich wie jeder Andre auch drüber hinwegkommen. Würde es bestehen lassen, würde suchen, es zu verarbeiten, würde aber weitergehn, würde mich nicht, o mein Gott, bei jedem Atemzug so gehindert fühlen am Leben. Gieb zu, daß es die Lüge ist! Daß du scheinst, was du nicht bist. Daß du nicht, so eitel gern du es möchtest, beschlossen bist in dir, unabhängig von den Andern und ihrem Meinen. Denn du stehst an einer offenbaren Stelle, du weißt dich in jedem Augenblick von einer Menge gesehn, bedacht, beurteilt, und was in dir Seelenstoff ist, das steht mit allem Seelenstoff um dich her in Beziehung, und du empfindest auch, was dein Verstand leugnen möchte. Du stehst an sichtbarer Stelle und lügst. Versetze dich in die Andern, betrachte dich selber von außen! Stelle dir eine Bronze vor und dich in dem Augenblick, wo du entdeckst, sie ist Gips und bemalt. Rede dich nicht heraus mit allfälliger höherer Einsicht, die hinterdrein kommen könnte. Den ersten Augenblick nimm: Gips und nicht Bronze! So! Weißt du nun, was du empfandest? Kannst du die erste Enttäuschung verwinden? Nützt es, dir einzureden, daß im besondern Fall Gips zweckdienlicher sein kann als das Edelmetall?

Ich hab keine Kraft mehr! stöhnte Georg und stand auf. Ich kanns nicht mehr erwehren. Ich sehe alles ein. Aber dem wollt ich mein Herz geben, der mir die Kraft gäbe, es zu ändern.

Da, mitten in seine Aufgelöstheit, in Unkraft hinein blühte das Antlitz Jason al Manachs, kaum lächelnd, weiß wie eine Narzisse, und Georg flüsterte staunend: Du Lieber! Sieh, auch du hast mir nicht helfen können! Aber du, o dies ist wohl dein Zauber! du liebst uns, du liebst Alle und alles, liebst, was du ansiehst, und liebst, mit wem du sprichst, mit unwiderstehlicher Liebe, die durchdringt und so süß und milde das Leben macht, solange du bei uns bist ...

In diesem Augenblick kreuzten sich zwei verschiedene Wahrnehmungen in Georg: die eine, daß er Jason so angeredet hatte, als wäre er Jesus; und die andre, daß der Sturm sich gelegt hatte, ja, daß er vor langer Zeit schon verstummt war.

Nicht ein einziger Laut war in der Nacht. Georg stand müde, erschlafft, dachte kummervoll seiner Anrufung des göttlichen Wesens, — hatte Gott doch ein Zeichen gegeben? Der Sturm schwieg. Hatte er wieder einmal nicht warten können und bemerkte das Zeichen erst, als es schon welk geworden war, — nein, er selber welk, es zu fühlen?

Er stützte die Hände vor sich auf die Lehne des Stuhls und suchte nach dem Gefühl, das er hatte, als er zu Gott schrie.

Was sich einstellte, war nun die Frage, was für eine Nacht dieses sei; und gleich die erschreckende Antwort dahinter: die Nacht vom Gründonnerstag zum Charfreitag.

Sein Herz fing an zu klopfen. In dieser Nacht ... In dieser Stunde vielleicht, in dieser Nacht kniete einer am Ölberg, schrie zu Gott, und Alle schliefen, für die er schrie.

Und nun — er wußte nicht, wovon an die Erde hinunter gezwungen, ob von einem überwältigenden Schamgefühl über die Ähnlichkeit, ob von einer äußersten Sehnsucht, zu liegen, zu knien, widerstrebend voll Verzweiflung ließ er sich an dem Stuhl hinunter, kniete, ließ den Stuhl fahren, fiel langsam vornüber, und in dem Augenblick, wo er von Scham übergossen aufspringen wollte, lag er und küßte den Fußboden.

Eine Sekunde später hatte er mit den Kleidern alles von sich geschleudert, lag im Bett und stürzte sich wie einen Stein in den Schlaf.

Renate

‚Der Tod Christi‘, so las Renate in ihrem Zimmer, ‚bezeichnet uns das Größte — nicht in seinem Wesen, aber in seinem irdischen Leben. Niemand ist eines so vollkommenen Todes gestorben. Darum sollst du die Tage seines Sterbens als die heiligsten halten im Jahr, und sie sollen ganz allein dem Heiland gewidmet sein.

‚Zu dieser Versenkung deiner Seele bedarf es einer Überwindung zuvor. Denn es fällt der Seele nichts schwerer, als aus der Gewohnheit ihres Treibens von selber den Übergang in ein größeres Dasein zu finden, und zumal der Geist bedarf des besonderen Antriebs. Darum sollst du zwischen Alltag und Feiertag die Mauer einer Überwindung aufrichten und am Mittag des Gründonnerstags ein vollkommenes Fasten beginnen, das bis zum Samstag in der Frühe währt. Erst wenn es dir vermittels dieses Fastens gelungen sein wird, dein leibliches Dasein zu verleugnen, kann das seelische in dir geboren werden, das nur Liebe ist, und du —‘

Renate legte das Buch hin; ihre Augen flimmerten und versagten, noch eine Weile zuckten die Lettern der väterlichen Handschrift vor ihren Augen und zerflatterten im Lampenlicht; dann waren die Wimpern gefallen, sie saß im Dunkel.

Das erstemal in ihrem Leben fühlte sie die alte Charfreitagsübung versagen. Der Hunger, der sie aus dem Schlaf geweckt hatte, peinigte, ohne daß sie etwas andres empfinden konnte als ihn, es sei denn ihr Frieren. Schaudernd vor Kälte, öffnete sie die Augen wieder, kniff sie, geblendet vom Licht, wieder zu, stand auf, ging und löschte die grell brennende Lampe.

Nun fiel durch die halboffene Tür zum Schlafzimmer der Schein der verschleierten Lampe auf dem Nachttisch, und die Hälfte des Zimmers, in dem sie wanderte, lag im Schatten der Tür. Doch immer wieder, in die Nähe der Türöffnung gekommen, mußte sie anhalten und nach nebenan spähn, in den schmalen Raum, wo nichts war als die kleine gelbe Schleierlampe auf der Platte des Nachtkastens neben dem leise glänzenden Armband mit der Uhr, und vorne das Fußende des Bettes. Ihr war dann, als läge jemand krank in dem Bett, ihr unsichtbar — Jason vielleicht, der vor Jahren dort gelegen, oder ihre eigene Seele, und was hier von ihr rastlos umging in der Nachtstille, war nur ein kranker Traum der sehr kranken. Lange versunken in den Anblick, zog sie dann den Schal fester um Schultern und Arme, machte den Blick — so schwierig, fast wie die an Gedörn verhakten Zipfel eines Kleides oder Schleiers — los von dem Licht und ging auf die Fenster zu, die kaum sichtbar waren im Finstern.

Im Gehen fing ihr rechter Fuß mit der noch aus Italien heimgebrachten Sehnenentzündung sofort Feuer, obwohl sie ihn immer mit ganzer Sohle aufsetzte und nur leicht — weniger ein Schmerz als eine Behinderung mehr zu den andern. Ah, wozu ein Glied schonen, wenn das ganze Wesen sich hülflos verzehrte!

Und zum hundertsten Male, seit sie dies Fasten begonnen hatte, versuchte sie sich aufzurütteln mit dem Gedanken an ihren Vater. Was sie aber denken konnte, war nur, daß sie, solange er lebte, solange sie mit ihm Charfreitage beging, niemals auch nur einen Hauch von Hunger verspürt hatte, so vollkommen gesättigt, wie sie war, von dem unversieglichen, an diesem Tage süßer und herrlicher als alle Tage strömenden Quell seiner Liebe und Weisheit. Und noch die nächsten Charfreitage waren ernst und schön im Geleit seiner niemals gestorbenen Augen, seiner niemals versiegten Liebe. Heute zum ersten Mal war sie allein wie ein Tier und litt Hunger.

Sie fror unablässig. Zuweilen hauchte sie in die Luft, um ihren Atem zu sehn und sich zu beweisen, daß die Nacht wirklich so kalt war, doch zeigte sich kaum ein dünnes Gebilde von Dunst. Nein, diese immer erneuten Wellen von Schauder kamen von innen! Sie ächzte fast weinend. Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht mehr frieren! Senkte den Kopf und ging weiter.

Die Stille nach dem vertosten Sturm blieb unverbrüchlich. Zuweilen knackte eine Diele unter ihrem Tritt; im Nebenzimmer, unermüdlicher als sie selber, doch gleichmäßiger, wurde bei jedem Näherkommen das feine Ticken der Uhr hörbar. Ein Fenster stand jetzt offen, nachdem sie es zehnmal geschlossen und wieder geöffnet hatte, schwankend zwischen dem Schauder vermeintlicher Kälte von draußen und dem Gefühl, ersticken zu müssen. Draußen knisterte es dann und wann. Über der See stand ein Frühlingsgewitter, und in Pausen regte sich dort ein dünnes Lichtzucken, lautlos. Oder vielleicht wars ein Blinkfeuer.

Ach, sie hätte auf einem Schiff sein mögen in dieser Nacht, keinem großen, einem kleinen, festen Ding, das mit dem unermüdlich schlagenden Herzen sich durch die schwere See hinarbeitete, ein geduldiges Tierwesen, folgsam und standhaftig. Zu fühlen sein leises eifriges Ächzen, das Knacken und Dehnen seiner Glieder, und daß die schwere Arbeit ihm doch eine Lust war, und immer wieder ein Behagen, den Kopf aus der zusammengestürzten Woge zu heben, triefend, augenlos in das Finstre und doch mit einer Art Lächeln ...

Renate erholte sich an solchen Vorstellungen minutenlang. Sie waren wie Streichholzflammen, an denen sie die gewölbten Handflächen wärmte, heftiger fröstelnd, wenn sie erloschen. Wieder und wieder durchsuchte sie ihr Leben nach ähnlich wärmlichen Bildern, — ach deren gab es zu Hunderten, allein ihre Wärme war kraftlos, drang nicht her bis zu ihr, oder ein Keim Eises war drin, der, aufgehend in magischer Schnelle, einen Schauer von Schnee über sie wölkte. Die Stunden mit Saint-Georges — jede voll Ausdauer und Frieden und Versöhnlichkeit — und in jeder der Keim des Unheils, des Todes, der Unseligkeit. Die Stunden der Friedliebenden Gesellschaft, ach alle zerstäubt und verblasen. Aus Magda, aus Sigurd und Esther, aus Ulrika, aus Irene — was war aus ihnen geworden? Gräber, — und wenn sie in geträumter Lebendigkeit vor Renate erschienen, so hatten sie eine Geducktheit an sich, als schleppten sie unsichtbar ihre eigenen Leichname. Hatte der Tod nicht gewütet um sie her? Und waren sie es am Ende, all diese Toten, die um sie her die Luft töteten mit ihrer Starre, und war darum kein Hauch mehr von Wärme zu finden? Aber Magda lebte, die liebste, und von ihr entströmte doch immer eine unendliche Glut ebenmäßiger Fülle.

Die Müdigkeit zitterte schon in ihr, aber sie wußte, daß sie sich nur hinzulegen brauchte, um wacher und unseliger zu sein als zuvor. Also schleppte sie weiter ihren Fuß, als wäre ein Gefäß voll Gluten daran gebunden, das sie mit Vorsicht bewegen mußte, nichts zu verschütten. Die Gedanken gingen ihr aus.

Wieder das Fenster schließend, bildete sie sich ein, sofort die Zimmerwärme zu spüren, und stand so eine Weile, die Hände leis reibend, vor dem dunklen Glas und dem eigenen, eben erkennbaren Widerschein darin, bis aus der Bewußtlosigkeit eine Stimme sie zu sich rief, die hinter ihr melodisch laut ward mit den Worten:

„Es kommt alles nur von der Wärme und der Kälte ...“

Nur wenig erschreckend, wandte sie sich um und merkte, daß sie in ihrem Zimmer daheim war; daß die Lampe auf dem Schreibtisch brannte — und jetzt, daß in der Türöffnung zum Schlafzimmer eine nicht eben große Gestalt in einem rosenfarbenen Kleide stand: Ech-en-Aton, der König.

Er sah ruhig umher. Sein kleines Antlitz war weiß wie Apfelblüte mit rosigen Hauchen; fast unsichtbar das helle Blond des Haars, die Augen von fast nächtiger Bläue. Der Kleidrock von glanzloser Rosenfarbe stand in jener rhomboiden Form, die Renate von den alten Bildern her kannte, unten, zwei Hände breit über den nackten geschlossenen Füßen ab, und ein kurzer Kragen von gleicher Farbe bedeckte Schultern, die Brust und die Arme. Plötzlich erschrak sie doch, da er sie ansah, sie durchdringend mit dem Blick, der nicht von ihrer Welt war. Aber er lächelte, und schon machte es sie glücklich, ihn, diesen Göttlichen, so menschenhaft zu sehen und das Königliche, zur Schau getragen weder in Haltung und Miene, nur in so unbeschreiblicher Weise vorhanden an ihm wie die Unschuld im Auge eines Kindes. Und wieder doch verging sie fast, als jetzt unter dem Mantelkragen ein lebendiger Arm zum Vorschein kam, eine zarte, längliche Hand sich erhob und in die weißen Falten des Vorhangs über seinem Haupte hineingriff. Ach, sie hätte der Samt sein mögen, jetzt!

Er sagte, langsam sprechend, mit tiefer Milde:

„Ängstige dich doch nicht, Schwester! Sorge dich doch nicht um dein Leben, Schwester! Liebe Seele, habe Geduld! Süße Vollkommenheit, du darfst mir nicht zerblättern! Sei ruhig! Sei weise! Da bin ich ja! Ich will dich trösten! Wir wollen zusammen sein und etwas sprechen ...“

Renate hatte sich so weit gewonnen, daß sie etwas sagen konnte von ihrer Beglücktheit und Überraschung, was er freundlich anhörte, ohne zu erwidern. „Setz dich nur!“ sagte er dann, „ich stehe lieber; ich stehe gern.“

Sie nahm einen Stuhl am Tisch. Seine zarte, farbige Gestalt war dem lichten Raume umher schon so natürlich geworden, als hätte dessen vorher unsichtbares Wesen nur diese Gestalt angenommen. Renate bebte fast im Verlangen, nur die Mildigkeit seiner Stimme wieder zu hören, die sich ihr einflößte wie ein himmlischer Trank, wärmend, bezaubernd und doch nicht berauschend. Da sprach er auch schon.

„Sprechen wir vielleicht von diesen Dingen, der Wärme und der Kälte, die dich so bewegen. An ihnen läßt sich ja alles erklären, und um zu erklären, bin ich gekommen. Man muß wohl die Geduld verlieren unter den Menschen, wenn man nicht wie ich in die Unveränderlichkeit eingegangen ist. Da nahm ich unter den stillen Geschwistern deiner seit langem wahr, und da du nun meiner so sehr bedarfst — sieh, da bin ich!“

Renate fiel ein in sein Lächeln und löste sich darin — ihr deuchte mit einem Harfenton.

„Erinnern wir uns einmal daran,“ begann er still, „was du gelernt hast. Licht und Finsternis hast du gelernt, die Urzustände.

„Licht und Finsternis. Aber du wirst gleich begreifen, daß dies falsch sein muß, wenn du nur bedenkst, daß Nacht eine örtliche Erscheinung ist. Überall ist die Sonne. Nur dich verläßt sie zuzeiten.

„Die Schlaflose — immer irgendwo ist die Sonne, die alleine der Anbetung würdig ist.

„Bedenke nun Wärme und Kälte. Es ist Winter, nicht wahr? Es stürmt bei dir in dem Norden, es schneit, die Sonne blickt vor, aber es ist doch nicht warm. Sommers aber, der Himmel ist bewölkt, Regen fällt, die Sonne ist nirgend, und dir ist doch warm genug, unter leichter Decke zu schlafen.

„Oder das Wasser. Es ist Juli, die Fläche des Weihers glüht, — du aber, Kühlung bedürftig, tauchst die Hände hinein, und sieh, du erfährst eitel Kaltes unter der Glanzhaut der Glut.

„Also sieh an, du kannst dir Kälte und Wärme bereiten, wann du willst, Nacht und Tag aber kannst du dir nicht bereiten, ob du tausend Lampen entzündest oder die stärksten Mauern errichtest, denn immer wo sie sein will ist die Sonne.

„Wärme und Kälte dagegen können überall sein zugleich, an tausend Stellen unter der Sonne, und was heißt das? Es heißt, daß die ganze Erde ein Gemisch ist von Warm und Kalt. Kannst du dir vorstellen, es gäbe ein ähnliches Gemisch von Dunkel und Licht? Licht mit schwarzen Stellen oder umgekehrt? Gewiß nicht.“

Er schwieg eine Weile und schien zu bedenken, wie er fortfahren solle. In Renate war jedes seiner Worte eingegangen wie eine Flocke reiner Süßigkeit; sie war schon erfüllt davon, wußte sich aber unendlich an Raum und Verlangen nach mehr. Wenn der Saum seines Rockes bebte, bebte sie mit, — so war ihr ganzes Wesen an das seine geschlossen.

Der König fuhr fort:

„Vom Leibe sprachen wir bisher und den leiblichen Wahrnehmungen, aber uns beschäftigt die Seele. Daß auch sie ein solches Gemisch ist, wie wir erkannten, das weißt du; ein Gemisch zweier Richtungen, zweier Triebe, die du gut und böse zu nennen gewohnt bist nach ihrer Wirkung. Da nun auch hier im Gebiet der Seele, einer andern Erde, nicht Nacht herrschen kann mit Flecken des Lichts, wie wir sahen, so muß es wohl auch das Kalte sein und das Warme.

„Und willst du noch einen Beweis? Erinnere dich, wo warst du, bevor du geboren wurdest?“

„In der Mutter“, sagte Renate.

„Und wie war es allda?“

„Warm.“

„Wie also mußt du das Dasein dahier empfunden haben, als du zu ihm eingingst?“

„Als kalt.“

„Und diese Kälte an den Gliedern wie?“

„Schmerzlich.“

„Denn du schriest. Und was ward seitdem die Folge? Ich will es dir sagen: Die Folge ward ein unbegrenztes Verlangen nach Wärme, jener Wärme, aus der du kamst.

„Ja, meine Schwester, dieses ist Lust: Wärme. Und Kälte ist alle Pein. Und alles was entstand, ist aus diesem Gegensatz entstanden, aus dem Mangel an Wärme. Alle Wissenschaft, alle Weisheit und Bildung und die erlauchten Geheimnisse der Kunst.

„Woher aber die Seele? Wo ihr Keim, wo ihr Beginn? Dein Ahne im Norden hat wohl nicht viel von ihr gewußt, da er aus Schlachten und Jagden zu den ewigen Schlacht- und Jagdgründen einging. Aber südwärts der wärmere Grieche, was glaubte der? An den Hades, an sinnlose Schatten, die wesend nicht lebten, weshalb? Hatten sie nicht Schein von Gliedern und Sinnen, und hörtest du nicht, daß sie blickten und sprachen, daß sie wieder liebten und haßten, wenn sie — etwas bekamen? Was? — Blut — das warme Blut. Kalt war es im Hades, eingefroren waren ihre Sinne, taub, abgefroren mit dem Augenblick des Sterbens und mit der Seelengeburt. Siehe aber, das wußte der Grieche, daß sie leben kann, die Seele, wenn nur Wärme vorhanden ist. Er wußte von der Seele, denn er wußte von der Wärme, von dem Glück seines Blutes, von dem Frühling, von Persephone und Demeter, von — Dionys. Kalt, so nannten sie den Hades, und warm war ihnen das heitere Land, aus dem ihnen, vom Tyrsos geschlagen, tausend und tausend feurige Quellen sprangen im Wein. Die Andern waren noch nichts — Dionysos war der seelische Gott, Schöpfer der Seelen, da er im Kalten die Wärme gab, Feuer der Seele, gewaltige Lust, Trunkenheit, sich den wärmlichen Göttern ähnlich zu fühlen.

„Mein Volk wußte viel, aber dumpf. Sie ahnten die Seele, aber das Leben hatten sie noch nicht. Ihnen war wohl ein wenig zu heiß in der ewigen Sonne, und also suchten sie die Dunkelheit auf und die Kühle und liebten den ewigen Stein. Wie aber heißt das Wort vom Leben?“

Renate sagte: „Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.“

Der König leuchtete seltsam auf, und höher erscheinend, auch die andre Hand hebend, sagte er wie einen Gesang:

„Jesus von Nazareth, der Christus. Er kam und sagte: Hier ist mein Blut! Hier wohnt deine Seele. Du sollst warm sein, sprach er, dann fühlst du, daß eine Seele in dir ist, und du hast den Himmel auf Erden. Und: Seid wie die Kinder, sagte er, — und nun — was giebt es Wärmeres als ein Kind?“

Es rieselte in Renate. Der König lächelte tiefer, bis das Lächeln im Sinnen verging, er die Lider senkte und leiser fortfuhr:

„Wenn ich auf meinen Terrassen stand, im Antlitz die brennende Wüste, im Antlitz das große Goldbrodeln der Höhe ... Wenn alles erwarmte in mir, in mir erglühte der süße, der flutende Baum aus Purpur, tausendästig — dann wußte mein ganzes Wesen vom Scheitel bis zu den Füßen: Es ist das Blut!

„Sie verstanden mich kaum, — sie gehorchten nur —, wann hätten sie jemals verstanden? Sie zerstörten meine Stadt, sie zerstörten meine Bilder, aber sieh dort!“ Seine Augen winkten zu seinem Bildnis hinüber. „Sie konnten mich nicht zerstören, und ich bin ewig.

„Ach, auch Ihn, den ganz Warmen, verstanden sie nicht! Nehmet und esset, sagte er, und sie glaubten, sie müßten nun Menschenfresser werden und seinen Leib vertilgen wie den des Viehs. Wein gab er und setzte ihn gleich dem heiligen Blut, und sie verstanden nichts, sondern begannen einander totzuschlagen um der Frage willen, ob sie trinken dürften oder nicht.

„Sie sagten: Gut und Böse und Vergebung der Sünden. Ich sage: Kalt und Warm.

„Und wer ist gut? Der warm ist, der warm hat und jedem die Wärme gönnt, und für jeden die Wärme will. Für sich Wärme wollen und die eines Andern nehmen, — meinst du nun, das wäre das Böse? Ach, das ist das Menschliche nur, der alte Trieb, die Gier nach der Wärme und nur Übertreibung. Dies ist nur schädlich. Alles was schädlich ist, kommt aus dieser Übertreibung. Nimm einem die Wärme, so schadest du ihm — und wem noch? Dir. Denn woher kann Wärme allein kommen? Aus dir. Siehe noch einen Beweis, daß nicht Dunkel und Licht, daß Kälte und Wärme die alten sind und die einzigen. Denn kannst du Dunkel empfinden am hellen Tag? Nein, aber hast du noch nie gefroren in der Mittagsglut? Wann ist das gewesen? Wenn du dich schuldig fühltest. Was kommt aus dem Dunkel? Das Traurige, die Verlassenheit, der Gram. Das ist nichts Böses. Das ist nur eine Art Leiden, nur eine. Wenn du Schlechtes getan, wenn du Schaden angerichtet hast, dann fröstelt es dich, nicht wahr? Glaubst du, dich fröstelt aus Bosheit? Nein, in dir friert die dem Andern geraubte Wärme, und dich friert, weil du dir genommen hast, was du als Pein empfinden würdest, wenn man es dir nähme. Du hast nur übertrieben, hast nur Wärme genommen oder gedacht, sie zu bekommen, anstatt sie zu bilden. Bekamst du sie? Kannst du Feuer nehmen und dich daran wärmen? Ja, aber lege das Feuer fort, und dir ist wieder kalt.

„Nun aber denke folgendes: Du liegst im Bett und dich friert. Wie kannst du dir helfen? Mit Kissen und Decken. Sind solche warm an sich? Befühle sie oben, wenn du darunter liegst und schon glühst; wie fühlen sie sich an? Eisigkalt. Aber so beschaffen sind sie, daß dir warm wird, — solchen Charakters sind sie, daß sie dir helfen, Wärme zu bilden!

„Und weiter nun: Ist ein Mensch an sich kalt oder warm? Nicht das eine noch das andre, aber was kannst du tun? Du kannst ihn benutzen, um in dir Wärme zu erzeugen, und du kannst dich benutzen, ihm warm zu machen. Und dies ist das Leiden: nicht warm sein! nicht warm sein können!“

„Ach,“ sagte Renate, „das meine!“ erfreut, es zu wissen. „Aber,“ setzte sie hinzu, „dann gäbe es gar keine Bosheit?“

„Wie? sie gäbe es nicht?“

„Sondern nur Leiden. Nicht warm sein können.“

„Vielleicht. Aber meinst du nicht, daß es eine noch fürchterlichere Art der Übertreibung giebt? Die Übertreibung bis zur Bosheit; das: nicht Maß halten können, welches ist: nicht warm sein können und auch nicht warm sein wollen.“

„Das wäre der Teufel!“

„Wörtlich, gewiß. Denn er war der Abtrünnige aus Gottes Wärme, und der sich Verhärtende in der Kälte, welcher trotzte in seiner Teuflischkeit, sich erstarrte, und übertrieb. Und was mußte er wollen in seiner Maßlosigkeit des nicht warm werden Wollens? Daß nirgends mehr Wärme sei, daß niemand mehr Wärme habe, alles erstarre, und wo er also eine Wärme betraf, da schleuderte er die Eislanze hinein, sie, den Zweifel am Warmen, den eisigen Zweifel am warmen Glauben, den fröstelnden, der um sich frißt wie der Frost in der Märznacht, und am Morgen schaudert dichs vor der ergrauten Natur. Und was ist Altern? Nicht mehr jung sein können, erkalten, ergrauen, ergreisen, vereisen, sterben.

„Er fiel ab aus der Liebe. Was ist Liebe? Wärme zu bringen, glaubst du? Ach nein, sondern sie ist: Wärme zu bilden. Liebe! so ist dir warm. Liebe entzündet sich an der Liebe wie Licht am Licht, darum sollst du die Kalten nicht lieben, nicht sie, die Tausend, die Toren, die nicht warm sein wollen. Aber wo der Keim eines Willens zur Wärme ist, da lege dich über ihn mit deiner ganzen, nähre ihn, ziehe ihn gläubig groß! Frage nicht! Fragt auch die Sonne? Wen erwärmt sie? Der sie liebt, sonst keinen. Heut aber lieben sie das Kunstlicht aus den Nachtschächten der Erde. Was wird er, der sie liebt? Fruchtbar. Fruchtbar wird, der sie empfängt, der Wärme bildet aus ihr wie die Erde. Weißt du aber, ob nicht auch der Felsen der Einöde sie liebt und es dauert nur länger? Klagte nicht Memnons Säule bei Abend- und Morgenrot? Das ist die Klage der Welt: Oh Morgenrot, und ich werde nicht erwarmen können! Oh Abendrot, und ich blieb kalt!

„Dies aber ist Bosheit. Die Bosheit des menschlichen Herzens. Dies ist der Böse, der niemandem Wärme gönnt, die er selbst abgeben müßte; der lieber selber erstarrt in dem Frost, nur um nicht abgeben zu müssen. Der immer Wärme verlangt und nicht geben will. Ach, die uralte Eisestorheit der Erde! Wie denn ists mit dem Sünder? Er darf bereuen und wieder in Wärme gelangen. In sich gehn, heißt es darum von dem Sünder; innen ist die Wärme zu bilden. In sich gehn, dorthin, wo es warm ist von Urbeginn, kann der Mörder, der Betrüger, der Seelenverkäufer, der nur Wärme für sich wollte und Kälte bildete, ihm kann wieder warm werden, aus innen, wenn er an Wärme glaubt, wenn er einsieht, daß sie sich nicht gewinnen läßt von außen und nicht durch Übertreibung. Bereit sein ist alles. Schwester, warst du nicht bereit? Denn wo ist der ewige Quell? Im Herzen. Und wo wohnt Gott? Im Herzen. In keinem Himmel, in keinem Draußen. Draußen ist kalt, und der Himmel ist kalt. Von keiner Sonne saugt kein Mond einen Tropfen der Wärme, er bleibt kalt, tot, erloschen, unfruchtbar. Glaubst du, sie erhalte von der Sonne ihr Warmes, die alte Erde? Warum ist denn sie fruchtbar, der Mond aber nicht? Nein, sondern weil ihre Beschaffenheit so ist, daß sie Wärme bilden kann, darum ist sie fruchtbar und nicht der Mond. Sie erschuf sich meinen ewigen Nil, und sie erschuf sich den warmen Menschen, sich zu bedecken mit seiner Wärme, sich helfen zu lassen zu ihrer Wärme im Segen des Ackers.

„Nicht Gut ist, nicht Böse. Fruchtbar ist und das Unfruchtbare. Auch Schädliches wuchert in der fruchtbaren Erde dazu, und es hat sein Gutes an sich, sein warmes Leben, seine Lust an dem Licht, seine Sehnsucht nach Morgen, seine Angst vor dem Frost, sein Erwarmen und Erkalten, Erglühn und Erlöschen, sein Wachstum und seinen Tod. Es ist nicht unfruchtbar deshalb. Unfruchtbar allein ist das Böse; böse allein ist das Unfruchtbare, das nicht fruchtbar werden will, und du, meine Schwester, bist gut.“

„Ich?“ erschrak Renate. „Ich bin nicht schuld?“

„Ja, woran solltest du schuld sein?“

„Ich fror so ...“

„Willst du denn frieren?“

„Nein.“

„Oder unfruchtbar sein?“

„O nein!“

„Also was, Schwester?“

„Wie kann ich denn frieren, wenn nicht ...?“

„Weil du menschlich bist, Schwester! Weil du die Geduld verloren hast! Geduld ist die Wärme des Einsamen. Bist du nicht vereinsamt? Hast du nicht geliebt? viel geliebt? Habe Geduld!“

Es schien, er bereitete sich zum Gehen vor; er ließ die Hand sinken und zog den Mantelkragen zusammen. Renate erschauderte leise vor dem Augenblick, wo sie allein sein würde, und bat:

„Wenn du wieder gegangen sein wirst, Bruder, werde ich dann nicht alles vergessen haben?“

Er nickte lächelnd: „Alles.“

„So tröste mich für diesen Augenblick nur! Ich will wieder Geduld haben nachher, aber sage mir jetzt nur: wird es noch lange dauern?“

Der König schwieg eine Weile und prüfte sie mitleidvoll. Endlich sagte er langsam und wie mit einem Seufzer:

„Morgen und ewig.“

„Was willst du sagen?“

„Morgen schon wirst du nicht mehr warten, o Schwester, und ewig mußt du noch warten.“

„Wie soll ich verstehn?“

„Ich meine die Wandlung. Es zieht eine Wandlung durch die Welt von ewig zu ewig, und immer andre Wandlungen ziehen in ihr, die sich jeweils vollenden und in andere münden. Eine Wandlung ist die Erde. Eine Wandlung ist auf Erden der Mensch. Viele Wandlungen sind das Leben des Menschen. Aber fürchte nichts, Schwester, du wandelst dich nie!“

„Niemals?“

„Niemals, Schwester, du bist das Weib. Der sich wandelt allein, ist der Mann. Gebärende, immer gebierst du. Das ist deine Wandellosigkeit. Sein ist das Töten und der Wandel. Du die Geduld, er die Ungeduld. Du die Ruhe, er die Unrast. Du das Opfer, er das Schwert. Du Liebe, er Haß. Du Seele, er Geist. Du Dienerin, er Herrscher. Er erobert die Welt, du nützest sie. Unzählbar seine Wandlungen, unwandelbar du. Er sündhaft, du ohne Sünde. Er der Zwinger, du die Bezwungene. Kain gebarst du und Jesus, Mörder und Sühner, Teufel und Gott. Entarte, so neigst du noch immer zum Guten. Torheit deine Sünde, Eitelkeit, Oberflächlichkeit, Nichtigkeit, Vergessenheit der Seele, Tanz in das Tier, das nur tanzen mag und sich zur Schau stellen. Was liegt an denen? Ewig im Kern mußt du gut sein. Du mußt gebären.“

Renate zitterte in ahnungsvollem Schrecken, und sie flehte: „So sage mir eines noch, Bruder! Da wir so ungleich sind, Mann und Weib, schließen die Reihen sich nie?“

Der König lächelte: „Sie werden sich schließen.“

„Und ich, Bruder, hilf mir, ich, kann ich nichts tun?“

Der König lächelte mehr und heller, während er fragte: „Was denn möchtest du tun?“

„Kann ich mich nicht wandeln wie er?“

Immer stärker lächelte der König und sagte: „Nein.“

„Bruder, Bruder!“ flehte Renate, „ich sehe es dir an! an deinem Lächeln sehe ich, daß ich etwas tun kann, daß ich etwas tun muß! Sage es mir, ich lasse dich nicht!“

Sein Lächeln schwoll. „Ja, du mußt etwas tun. Was du immer getan hast, was all deine Schwestern taten, das mußt auch du tun!“

„Was denn, Bruder, ach was?“

„Du mußt helfen, daß er dem Ende der Wandlung näher kommt!“

„Wie denn, Bruder, ach wie?“

Sein Lächeln flammte ungeheuer auf und erlosch augenblicks mit dem letzten Worte:

„Ihn gebären!“

Es war dunkel. Renate fand sich auf einem Stuhl sitzend und vor sich den Tisch. Sie sah Lichtschein hinter einer Wand und sah, daß die Wand der Türflügel war, der ins Zimmer hineinstand vor ihr, und an dem vorüber der Lichtschein von nebenan ins Zimmer fiel und sie sah auch die Ritze erleuchtet zwischen Tür und Wand zwischen den Angeln. Ihr war sehr warm, aber ihre Müdigkeit so groß, daß sie die Augen kaum offen halten konnte, um ihren Weg zum Bett zu finden. Die Uhr war drei. Sie wußte nichts mehr. Sie entschlief.

Zweites Kapitel

Georg

Charfreitag, sagte Georg stumpf und verständnislos vor sich hin, als er des Morgens gebadet und angekleidet zum Fenster trat. Der Regen fiel lautlos und nebelhaft, er entdeckte mit einer bitteren Wehmut das Alte, unter sich den Hof zwischen den Schloßflügeln, die Terrasse mit plätschernden Stufen, den Rasen und die altersschwarzen Dächer und Ochsenaugen, naß und traurig vom Regen.

Das sieht traurig aus, murmelte er, weil ich traurig bin, und spürte in allen Gliedern die Zerschlagenheit von der schlaflosen Marter der Nacht. Sich wendend, gewahrte er die nächtlich beschriebenen Blätter noch offen daliegend, empfand Ekel und drehte sich weg. Da der Regen, dachte er ingrimmig, weder traurig noch heiter fällt, warum, o Himmel, warum muß das so sein und warum bin ich so eingerichtet, daß ich ihm Traurigkeit ansehe, weil mir elend zumute ist? Warum kann ich nicht sein wie der Regen?

Charfreitag ... wiederholte er gleich darauf leise. Das erschütternde Wort hatte ihm schon als Kind feierlicher und fremder als jedes andre geklungen, und ohne seinen Sinn zu begreifen, machte es, wenn man es sagte, gleichsam eine Lücke in das ganze Jahr; es lag Schatten auf ihm fremder biblischer Erinnerungen, — und später im Leben der niemals ganz zu begreifende Schauder: Die Sonne verfinsterte sich, die Erde bebte, die Gräber taten sich auf ...

O Christus, warum bist du gestorben? Für wen, für was starbst du denn? — Georg suchte vergebens, dachte: Wegen des Leidens ... Nein! Wegen der Schuld? Ja, oder Erbsünde sagen sie, was ist Erbsünde? Nein, ist das wahr? Wäre das möglich? Er litt, um die Erbsünde aus der Welt zu schaffen, aber wir sündigen nach wie vor, und was soll denn geändert sein? Wir sündigen und wir leiden. O lieber Gott, wenn wir auch Sünder sind, ist es nicht so, daß selber der grausamste, der teuflischste von ihnen mit unaussprechlichem Leiden tilgt, und also was brauchte es Christus? Ich verstehe es nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Es wird immer verworrener. Übrigens sind das Lehren, die nur die Andern aus seinem Leben und Sterben gezogen haben, und vielleicht haben sie alles gefälscht. Ich müßte nachlesen, aber ich glaube, ich habe selbst die Verfälschung bereits im Blut und würde ganz andres herauslesen, als was dasteht. — Er grübelte weiter.

Hat er nicht allen Sündern Verzeihung und Barmherzigkeit verheißen? Was verlangte er denn? Liebe und wahres Empfinden! Daß man sich reinige, daß man strebe, daß man still und einfältig sei wie die Kinder, — aber die alles aufschrieben, schilderten Engel und Engelstimmen und Tauben, und er selber sprach vom Himmelreich so, daß man doch glauben muß an — an ein Jenseits und — — Seine Gedanken irrten ab, die Briefe Paulus’ durchschweifend auf der Suche nach einem haltbaren Wort, aber — ich glaube, dachte er, schon Paulus hat alles in Verwirrung gebracht.

Darüber endlich unwirsch geworden, mußte er heftig gähnen, empfand sich so müde, als ob er nicht eine Stunde geschlafen hätte, und erinnerte sich mit dem Gedanken an Magda, ans Frühstück, Renates.

Die litt auch. Sie weinte. Es war unvorstellbar. Er wußte nur wenig von ihr, nur daß sie Furchtbares erlitten hatte, doch sollte sie ja ganz wieder gesundet sein ... Dann hatte sie eine Sehnenentzündnng am Fuß. — Früher, dachte Georg, hätte mich das, wenn mans mir mitteilte, ungefähr so betroffen, wie wenn man einem Griechen gesagt hätte, Artemis habe Sehnenentzündung. Sie war keine Göttin, wars nie gewesen, wars weniger heute als jemals, sie war hülflos, und er — liebte er sie immer noch? Beinah hatte er sie doch vergessen, nun begann ihr süßes Gift wieder zu wirken, und er sehnte sich nach ihr, trostlos, aber er sehnte sich.

Neun Monate ist es nun her, dachte er, daß Vater starb. Allein — liebte sie ihn überhaupt? — Er verbot sich diese Gedanken und empfand um so stärker die keimende Hoffnung.

Alsbald entschloß er sich, sie zu sehn, warf einen Blick auf die Uhr, und erkennend, daß es eben die Zeit war, die Magda für ihr Frühstück angegeben hatte, machte er sich vom Anblick des Regens los und ging.

Magda/Benno

Das runde Gobelinzimmer, in dem früher gespeist wurde, jetzt der Frühtisch gedeckt war, erinnerte Georg beim Betreten an ein Aquarium infolge des Regenlichts in Glastür und Fenstern. Rieferling stand dort, in Zivilkleidung wie befohlen, und sagte, nachdem Georg ihm die Hand gedrückt hatte, es sei ein Telegramm gekommen, an ihn adressiert, und zog es aus der Tasche, von Birnbaum. — Georg las: Eintreffe mit Schley und Kurier mittags Birnbaum.

„Verstehn Sie das, Rieferling? Das ist beängstigend. Er weiß, daß ich nicht gestört sein will, es muß also etwas mehr als Dringendes sein. Kann er denn überhaupt reisen?“

Der Hauptmann meinte, er habe ihn bei seinem letzten Besuch schon ganz wohlauf gefunden; er habe stehen und gehen können, nur Mund und linkes Auge seien ein wenig schief gewesen, — wiederholend, was Georg schon wußte. Überdem öffnete sich die Tür, und Anna trat ein, Georg fast erschreckend mit Lichtheit, in einem blaß lachsfarbenen Kleid, das ihn an ein andres erinnerte, von einem Tage, nach dem er noch suchte, während er auf sie zutrat. Heiter lächelnd sah sie so frisch und leicht aus, daß er den Arm um sie legte und sie auf die Stirn küßte.

„Nun, gut geschlafen, Georg?“ fragte sie und ließ sich zum Tisch führen.

„Danke, vortrefflich. Du bekommst Besuch, Anna, dein Onkel Birnbaum kommt mit Schley.“

„Wie herrlich! Egloffstein! Egloffstein ist doch da?“ Der Alte, jetzt völlig schief, aber mit noch vollendeter Lautlosigkeit, war hinter ihr eingetreten mit einem Regenkragen und einem Strauß weißer Rosen, die er auf einen Stuhl legte, und bediente jetzt am Tisch. Sie bat ihn, gleich in der Küche Bescheid zu sagen.

„Was für ein hübsches Kleid du anhast, Anna!“ lobte Georg, um von Birnbaum abzulenken, „so — so geburtstäglich!“ fand er auf der Suche nach einem Wort, und sie freute sich sichtlich. Ihre Kleider mache nun alle Renate, erzählte sie, und Georg empfand einen leichten Stich des Vermissens und der Erwartung.

„Und du, Georg,“ fragte sie nach einer Weile, mit langsamen Bewegungen, die Georg etwas nervös gespannt verfolgen mußte, sich mit Butter und Gelee aus den Dosen versorgend, die Egloffstein dicht um ihren Teller geschoben hatte, „wie fühlst du dich in Helenenruh?“

„Ach, geärgert hab ich mich!“ versetzte er möglich saftig und munter.

„Schon wieder?“

„Nicht nur ‚schon wieder‘, mein Kind, sondern sogar aus demselben Grunde wie gestern abend!“

„Ach, Georg, wie kann man so nachträglich sein!“

„Nachträglich? Das verstehe ich nicht! Ach so! Als weibliches Wesen nimmst du die Dinge persönlich. Nein, im Gegenteil, gestern sah ich die Sache nicht einmal so schlimm. Sag, ist es dir nie so gegangen? Zum Beispiel, man lernt abends einen Menschen kennen und findet ihn erfreulich; am andern Morgen steht man und denkt: was war doch das für ein ekelhaftes Schwein? Oder man sieht im Theater ganz zufrieden ein Stück, und hat mans beschlafen, sieht es völlig dumm und verblasen aus.“

„Oh ja, Georg! Es kann aber auch umgekehrt sein, wenigstens ists mir schon so gegangen mit Menschen, die ich beim Kennenlernen gar nicht besonders fand, und dann, am andern Morgen lächelten sie mir zu, und ich war froh, sie bekommen zu haben.“

„Ja. Aber ihr seid auch komische Menschen, du und Renate. Sitzt da und sagt nicht Muck und habt doch ganz gut gewußt, wer im Recht war!“

„Aber lieber Freund, der gute Benno war doch so glücklich mit seiner Oper!“

Georg wollte zischend auffahren, beherrschte sich aber angesichts ihrer heiteren Blindheit. „N—nja,“ bemerkte er dann, „laß du nur die Menschheit sich mit Mist zudecken bis an die Augen und sage: daß bloß keiner sie stört! sie ist ja so glücklich!“

Sie lächelte kindlich. „Georg, du bist schartig heut morgen.“

„Nicht nur heut morgen, mein Herz, sondern alle Tage bin ich das. Hast du mal drei Wochen lang mit lauter Narren und Borstigen regiert? Dann sei mal nicht schartig!“

„Ja, du hast nun einmal kein Christentum.“

„Nein, Anna,“ bekräftigte er mit scharfer Betonung, „das habe ich freilich nicht!“

„Du wirsts noch lernen.“

„Meinst du? Ja, ich will dir was sagen. Als ich heut morgen erwachte, mußt ich mich fragen: Wozu dies und alles andre, tagein, tagaus? Weißt du eine Antwort? Weiß das Christentum eine? Ich fand da meine Hände zu voll, um nach Antworten zu greifen, aber — — ich muß zugeben, daß etwas fehlt. Rieferling, bitte, wenn Sie aufstehn wollen, Sie sind den ganzen Tag Ihr eigener Herr!“ Er sah den Hauptmann sich erheben und nickte ihm zu, während Magda die Hand nach ihm ausstreckte. Nach einem kleinen Zaudern bat er dann noch, Georg einmal am Tage eine Minute in eigener Angelegenheit sprechen zu dürfen, und ging.

„Versteh mich recht, Anna! Ich glaube an einen göttlichen Odem. Aber ich glaube, daß er an uns vorübergeht. Er ahnt gar nicht, daß wir sind. Unser ganzes Treiben, ja selber das tiefste Elend, und wenn wir unsern ganzen Leib wundenbedeckt saugen ließen mit diesen Wunden, so könnte ihn das um kein Haarbreit ablenken von seinem Weg durch die Welt. Wir müssen allein fertig werden.“

„Wenn du es kannst, Georg! Aber die Andern?“

„Bitte, wen meinst du? Die zum Rennen fahren und an den Kinokassen Spalier stehn? Oho, Anna, bist du der Meinung, daß es eine einzige Religion gäbe, wenn kein Leiden wäre?“

„Ja, warum auch sonst, Georg, warum?“

Georg schwieg im Gefühl, daß sie jeder nach einer andern Richtung sprächen. Er sah sie dasitzen, einen Arm flach auf dem Tischtuch, während der letzten Minute mit kleinen unsicheren Aufschlägen der gesenkten Augen, im Ganzen aber in einer Sicherheit, die fast wundervoll schien. Ihr Antlitz, gesammelt und getrost, schien auf geheimnisvolle Weise die Augen ersetzt zu haben und war voll lebendigen Ausdrucks an jeder Stelle. Nichts Ratloses, kaum Tastendes war in ihren Bewegungen, und nur genaueres Hinsehn konnte gewahren, daß sie etwa, um nach der Tasse zu greifen, erst den Unterarm auf den Tisch legte, dann die Finger ausstreckte, die Hand weiter vor schob und, den Teller daneben mit einem Ahngefühl seitwärts lassend, zur Tasse. Schön breit lag nun ihre Stirn unter dem mittwärts gescheitelten und zur Seite gestrichenen Haar, dessen lockere Bäusche über den Schläfen ein liebliches Kapitäl formten. Übrigens war es dunkler geworden und ihre ganze Erscheinung, wie Georg sie umfaßte, heute schöner, als sie vor Jahren anmutig gewesen war.

„Nun, Georg, was denkst du?“ hörte er sie fragen, erschreckt inne werdend, daß sie dasaß und all die Zeit nichts sah.

„Wie schön aber deine Singstimme geworden ist!“ sagte er liebevoll, und ihr Gesicht glänzte auf. „Ich bin erschrocken gestern, als ich hörte, wie tief sie ist!“ Er fand keine Lobesworte mehr, die ihm einfältig erschienen, schwieg und setzte im Innern die Rede fort: Es ist die Stimme eines Menschen, der die nicht sieht, für die er singt. Sie will niemand bezaubern, sie gebärdet sich nicht, sie geht ihres geraden Weges, um Gottes willen.

„Ja, Georg, wovon sprachen wir noch eben?“ fragte sie derweil.

„Religion eine Panazee für das Leiden. Und das ist mir zu wenig. Liebe Anna, ist Leiden das ganze Leben?“

„Nach der christlichen Auffassung —“

„Die ich nicht teile! Für das ganze Leben sollte sie sein, für Tun und Lassen, Gut und Böse und — Sieh, da ist Benno! Guten Morgen, Benno!“ Georg stand auf und ging dem Freund zu möglichst herzlicher Begrüßung entgegen. Er schien unglückliche Augen zu machen, wie stets, war aber munter, noch ganz rot vom Waschen, und erschöpfte sich in Verbeugungen bis zum Tisch.

„Setz dich, Benno, iß, trink und überlege dabei den Sinn des Christentums.“

Jedoch Benno entschuldigte sich. So früh am Morgen ...

„Freilich, Benno,“ mußte Georg sofort zubeißen, „über Gott und Glauben läßt sich immer noch abends und übermorgen nachdenken.“

Benno begann langsam, von Egloffstein bedient, dem er für jede Frage und jedes Zureichen besonders danken mußte, zu essen, streifte Georg dann, der aufrecht dasaß, durch den Raum nach draußen blickend, mit einem unglücklichen Blick, legte die Weißbrotscheibe, ohne sie angebissen zu haben, auf den Teller zurück und meinte, das Christentum sei wohl vorwiegend eine Religion der Armen.

Magda beeilte sich, zu sagen, Georg habe sich die ganzen Wochen her mit Geschäften geplagt und wolle nun ...

„Vorwiegend!“ bekräftigte Georg, ohne sie ausreden zu lassen, sardonisch. „Wie triffst du nur immer den Nagelkopf! Wer aber nicht arm, wer hingegen reich ist, wie du und ich, was macht der?“

„Nun, wenn ich vorwiegend sagte, meinte ich mehr: ursprünglich.“

„So. Ja, das waren allerdings die Armen, das heißt die Elenden, Zermalmten, Leidenden, die diese unmännliche Religion erfanden.“

„Unmännlich, Georg?“

„Zum Beispiel der Gemeindegesang. Singen ist eine weibliche Angelegenheit, Benno, hast du’s nie bemerkt? Wenn ich einen Tenor sehe, wie er den Mund verbiegt und eitel süßen Schmelz aus sich zieht wie Syrup mit dem Löffel, sehe ich immer ein fettes Weib, wo er steht. Die Kirchen am Sonntag sieht man gefüllt mit Frauen, die ihre kleinen Seelen ganz süß und dumpf fühlen, wenn sie singen. Überhaupt jeder übermäßige Musikbetrieb — entschuldige schon, Benno! —, aber besonders männlich hab ich ihn nie finden können.“

Benno krümmte sich und meinte, das sei vielleicht eine große Wahrheit. Aber die Musik sei doch —

„Ich bitte, mach mich nicht wütend, Benno, ich rede vom Singen und Musizieren und nicht von der Musik! Dies Hervorziehen der fühlenden Seele, dies Modulieren und Drehen und Drechseln, dies Preisgeben des innersten Wesens, gar Aufputzen und zur Schau Tragen ist auf abscheuliche Weise unmännlich. Musik ist nicht männlich und nicht weiblich, sondern göttlich, aber drei Dinge sind verschieden: Musik, Musik Hören und Musik Machen. Außerdem hab ich das Ganze nur symptomatisch gemeint.“

„Ja, wie denkst du dir denn die Entstehung des Christentums? Die früheren Gottheiten entstanden doch nur — gewissermaßen — aus Furcht.“

„Naturgötter, richtig, aus Naturängsten. Nun betritt einmal Rom etwa im zweiten Jahrhundert oder im ersten. Da hättest du es gepflastert gefunden mit Götterstatuen aller Völker, die sich allesamt überboten und infolgedessen aufhoben. Ängste gabs keine mehr, da die Menschen sicher in behaglichen Wohnungen saßen, und doch hatte jeder Tag, jede Stunde, jede Eigenschaft und fast jede Handlung ihren kleinen Gott, und zum größten Schaden gabs die Divi Augusti, die Gottheiten der letzten Angst, vor dem Wahnsinn der Kaiser nämlich, an die schon der Einfältigste nicht mehr glaubte, wenn sie einen struppigen Adler, wie Pater erzählt, aus dem Scheiterhaufen fliegen und dann verkündigen ließen, die kaiserliche Seele sei sichtbar zu den Göttern heimgekehrt. Übrigens da ich Walter Pater erwähne, fällt mir ein, daß damals besonders der Äskulapkult blühte, wegen gewisser Seuchen, und mir scheint, diese, die Angst vor Leibeskrankheiten war die letzte. So aber war damals die Religiosität verkommen in dem langsam verkommenden Reich des Überflusses, und damals erwachte, unterirdisch, das Christentum, ganz von unten anfangend, mit der Lehre des Leidens. Ist es eine Religion des Leidens oder nicht?“

„Natürlich, Georg, aber —“

„Und da haben wir wieder die Unmännlichkeit. Das Weib bekam das Leiden als Auftrag: sie muß gebären. Sie hatte sich abzufinden mit ihm, sie lernte, sich als Opfer empfinden, sie nahm das Leiden an. Das Leiden annehmen, ist nicht männlich, sondern männlich ist, es abwehren, es befeinden, es bekämpfen, es austilgen wollen. Und was taten jene vorm Kreuz? Sie beteten es an.“

Georg verstummte, überaus erregt. — Was, dachte er, kocht mich denn so auf? — Aber schon mußte er fortfahren.

„Ich hasse das Leiden, das immerhin hab ich gelernt. Sie haben sich innig mit ihm beschäftigt, haben es liebend hingenommen, haben gelernt, daß Dulden göttlich sei, daß kein süßrer Lohn des Leidens sei als im Dulden, anstatt daß sie anpackten und wegschafften, und sie haben gesagt, daß es nichts gebe als Leid, die Welt ein Abgrund des Jammers, sie in ihren Katakomben, und mit einem Schlag ist ihnen das ganze Leben dahier aus der Hand gerutscht und zu einem traurigen Anhängsel geworden, zu einem Blinddarm jenes Lebens, das sie das Ewige nannten.“

Benno erseufzte. „Und wenn du recht hättest, Georg, so ist doch darin nicht die ganze christliche Lehre enthalten.“

„Ja, worin denn noch? Kannst du mir sonst etwas Brauchbares zeigen? Brauchst du denn Christus? Sieh dich doch um in deinem Leben, und begegnest du ihm irgendwo, so ist Sonntag. Oder Kindtaufe, oder Weihnachten. Wochentags ist er nirgend.“

„Aber nun verrennst du dich, Georg! Das sind doch die Menschen und nicht die Lehre.“

Georg sprang auf und stieß den Stuhl unter den Tisch. „Ja, du, Benno,“ rief er, geschwollen von Gift und Hitze, „du wirst mich freilich niemals verstehn! Was soll denn eine Religion, die bis zum Wahnwitz überhängt nach der einen Seite, und aus der die Menschen auf der andern Seite nichts herholen können für ihr tägliches Leben. Weil sie nicht aus wahrhaftigem Leben kam, diese Lehre, sondern aus krankem, vergiftetem, weil sie eine Panazee wurde, ein Allheilmittel, eine Kopfsprunganweisung über den Tod, weil sie, mit einem Wort, nichts anzufangen wissen mit ihrem Leben. Und ich, wenn ich einen rechten Glauben bekommen hätte, mir wärs besser ergangen.“

„Meinst du das, Georg?“ fragte Magda leise.

Plötzlich fühlte er seine Augen heiß, es übermannte ihn, er ergriff ihre Hand und küßte sie lange.

Dann hörte er sie sagen, ob es noch regne; sie habe ihn bitten wollen, sie zum Grabe zu bringen, — und er ging zur Glastür und stand dort eine Weile, in den leiser fallenden Regen blickend und sich kühlend. „Ich glaube, es wird bald aufhören“, sagte er, sich wendend.

„Hat Egloffstein“, fragte sie, „meine Sachen hereingebracht? Es muß dein Buch dabei sein, das mit deinen Aufzeichnungen von Hallig Hooge, ich wollt es dir wiedergeben.“

„Ach, hast du’s gelesen?“ Georg sah das Buch unter dem Rosenstrauß, ging hin und nahm es an sich.

„Noch nicht ganz. Li hat mir daraus gelesen, hauptsächlich das von Bogner, und ich wollte dich bitten, mir selber noch draus zu lesen. Vielleicht heut nachmittag, magst du?“

„Aber gerne, gewiß! Ich will mich nun eben etwas regenmäßiger anziehn und komm dich dann holen.“ Im Vorbeigehn mit der Hand über ihre Achsel streichend, ging er hinaus.

Drittes Kapitel

Magda

Als Renate auf der ratlosen Suche nach Magda das Haus durchwanderte, befand sie sich in einer Weichheit ihres ganzen Wesens, die jeden Augenblick überfließen zu wollen schien. Das Hungergefühl war verschwunden, obwohl sie sich kraftloser in den Knieen fühlte, als sie von früheren Charfreitagen her sich zu erinnern glaubte. Nun wollte sie sich eine Weile an der Freundin halten, mit ihr, wie sie verabredet hatten, das Grab der Herzogin besuchen, und dann würde sie allein sein den Tag über, würde es können, würde vielleicht Hoffnung, Glauben, Zuversicht, ach, vielleicht alles von neuem schöpfen aus den ewigen Augen der einzig heiligen Gestalt.

So öffnete sie denn die Türe des Gobelinzimmers, ohne sich zu erinnern, daß Magda ihr gesagt hatte, sie frühstücke dort; aber schon der erste Blick auf den Tisch mit Speisen, an dem Magda und Benno saßen, bereitete ihr kein Gefühl des Hungers, sondern eher eines des Abscheus, was sie denn etwas mutvoller machte.

„Schade, daß du so spät kommst!“ rief Magda Renate zu, sich umwendend nach ihr, die sie hinter sich eintreten hörte. „Georg ist eben gegangen, nachdem er eine kostbare Rede gehalten hatte. Wir sind noch ganz niedergedonnert, Benno und ich.“

Renate trat, etwas geblendet vom Licht in den großen Glasscheiben ihr gegenüber, hinter Magdas Stuhl, über deren Schultern die Hände hinabreichend, die gleich ergriffen wurden, und legte eine Wange auf das weiche Haar unter ihr, die Augen schließend im Wunsch, so einzuschlafen. Aus der Ferne hörte sie so Magdas Stimme nach ihrem Nachtschlaf fragen und erwiderte leise: „Gar nicht! Ich hatte einen schönen Traum; er war unendlich lang, aber nun kann ich mich nicht mehr darauf besinnen.“

Das wären die besten Träume, meinte die Freundin tröstend, und sie setzte sich nun an den großen runden Tisch und starrte mutlos auf ihren Teller und die unterschiedlichen guten Essensdinge, die ihr Ekel erregten, und die sie verschwommen kaum sah. Magda erklärte Egloffstein, daß Renate nichts zu sich nähme. Die hörte währenddes Benno sagen:

„Ich glaube, er hat etwas gegen mich.“ Er neigte sich beteuernd zu Magda. „Glauben Sie mir, ich fühle es, und ich weiß auch, von früher her, daß in meinem Wesen etwas sein muß, das ihn reizen kann. Er ist ja auch viel männlicher als ich und stärker —“ schloß er bedrückt.

Sie reden von Georg, dachte Renate, Magdas abwehrende Antwort nicht mehr verstehend, und sah ihn wie am gestrigen Abend, wo er ihr recht lärmend erschienen war. Und wenn er sich einmal auf den Schenkel schlug, ein andermal sich zurücklehnte und lachte, dann wieder in breiter Hoffart gleichsam erstarrte, schien ihr dieser häufige Wechsel sich auf eine Umgebung zu beziehn, die gar nicht da war, die er vielleicht sonst gewohnt sein mochte, und so, als wollte er sagen: Lockerheit! Ungebundenheit, ich kann mir das leisten! Und einzelne Bewegungen hatten sie fast erschreckend an seinen Vater erinnert, — ja, dessen Art, nur nicht ganz fertig.

Allein schon brannte ihr jetzt die Stirne vom Nachdenken. Sie hörte Magda etwas sagen, mußte jedoch fragen und hörte nun erst ihre Stimme von fernher näher kommen:

„Manchmal fehlt es mir doch recht, daß ich ihn nicht sehen kann. Ist er nicht sehr verändert? Ist er nicht breiter geworden? Oder ist das Einbildung? Ich rede von Georg“, schloß sie leise erinnernd, als ob sie gefühlt hätte, daß Renate fern war.

Die dachte wieder nach, was sie sagen sollte, und seine Augen vor sich gewahrend, bemerkte sie in halber Zerstreutheit: „Ja —, er hat ja nun solche Pferdeaugen.“

„Pferdeaugen? wie meinst du denn das?“

Renate gab sich Mühe, auseinanderzusetzen, wie sie es meine. „Früher“, sagte sie, „hielt ich seine Augen für grau. Nun sind sie erstaunlich braun geworden, dazu sehr stark, — nicht quellend, nein, gläsern, und gerade bei heftigem Feuer können sie so etwas Starres haben wie die von Pferden, so daß die Augäpfel manchmal blitzen wie neu geschliffen oder stärker gewölbt. Ich weiß nicht, ob du ...“

Magda, die still und in sich gebeugt zugehört hatte, fuhr jetzt empor und rief halblaut: „Wie war das? Bilden sich wirklich die Königsaugen?“ Dann lachte sie leise und meinte: „Er bekommt sie schon noch einmal, aber er muß noch warten. Erinnerst du dich an die Augen seines Vaters? Königsaugen, anders lassen sie sich nicht nennen. Manche haben sie immer, Andre zuzeiten. Papa konnte sie machen, Klemens konnte sie haben, auch Bogner, wenn er erregt war. So, weißt du, zugleich kühn und verständig, von oben und sehr durchdringend, — sind sie so?“

Renate gab bereitwillig zu, daß sie ungefähr so wären.

„Jetzt wirst du denken,“ fing Magda nach einer Weile wieder an, „daß ich ihn verkläre, aber das tue ich wirklich nicht. Eben zum Beispiel hat er wieder eine halbe Stunde von Dingen geredet, von denen er gar nichts weiß, das ist ja nun seine Vorliebe. Ich verhalte mich dann schweigsam und bin vergnügt. Aber seit uns Li, als du krank warst, aus den Erinnerungen der Markgräfin vorgelesen hat, erinnert er mich oft so an den Kronprinzen Friedrich. Gar nicht im Charakter, oh, bewahre, nein, solch ein Hahnenfuß wie der ist Georg doch nicht gewesen! Nein, ich meine nur den Tod Kattes. Da gab es die plötzliche Wandlung, und nun, — was bei Friedrich der Katte war, das war bei Georg doch sein Vater“, schloß sie behutsam.

„Ich weiß noch,“ fing sie wieder an, „damals, als er dich besucht hatte, im März, da sagtest du, er wäre spottsüchtig. Armer Benno, Sie habens auch gefühlt. Und was sagte er noch gestern abend, Benno, von den Bestien, wie wars?“

Benno zitierte beglückt: „Das Richtige ist, alle Menschen für Bestien zu halten und bloß jedem, der einem ans Herz kommt, so viel Leiden zuzutraun, wie man selber zu sich genommen hat.“

„Zu sich genommen hat!“ wiederholte sie, „herrlich! Ja, so ist er, so sind sie!“ rief sie ganz heiß. „Von Friedrich heißt es auch, daß er ein solcher Menschenverächter gewesen sei, aber meinst du, den Männern wäre zu trauen? Die Menschen können doch niemand zu ihrem Verächter, können einen zu überhaupt nichts machen, wozu man nicht die Anlage hat. Das ist ja alles nur Selbstverachtung, weiter nichts. Es ist nur dumm, daß ich ihn nicht sehn kann. Alle Männer haben diese Art, auch Saint-Georges zum Beispiel, einmal in tiefem Ernst zu reden, — und dann muß man raten, daß sie es ganz scherzhaft meinen; oder das unsinnigste Zeug, — das ihnen dann wieder der tiefste Ernst ist. Und Georg, das verstehe ich wohl, ist solch ein Mensch, der wohl weiß, was er gelitten hat, nun aber viel zu hochmütig ist, um es für etwas Wichtiges zu halten, und so verachtet er in Bausch und Bogen das Leiden und sich und die ganze Menschheit. Ich versteh ihn so gut!“ schloß sie triumphierend.

Ihre Stimme rauschte Renate schmerzlich im Gehör. „Und was soll nun daraus werden?“ fragte sie matt.

Magda hob die Achseln und seufzte.

„Vorläufig hoffentlich gar nichts!“ meinte sie dann „Je weiter der Weg, desto besser. Du hättest nur hören sollen, wie er vom Christentum sprach! Daß es eine Religion der Liebe ist, scheint er noch nie vernommen zu haben.“ Sie seufzte wieder und schüttelte sich.

Renate glaubte, nun auch etwas sagen zu müssen, und brachte vor, was ihr einfiel: „Josef sagte einmal, ein Messer wäre auch nur da geschliffen, wo es seine Schneide hat, und doch sei immer das ganze Messer ein scharfes, geschliffenes Messer. Das übertrug er dann auf den Menschen, — ich weiß nun nicht mehr ...“ Sie verstummte unter dem plötzlichen Gedanken, ein paar Minuten vorher etwas Böses getan zu haben, während Magda aufleuchtend einfiel: „Natürlich, so ist es ja mit Georg! Er ist immerfort, immerfort geschliffen worden, nur weiß ers nicht, weiß nicht, daß er an der Schneide geschliffen worden ist, und nach Jahren vielleicht, wenn er sie schon lange gebraucht hat, dann merkt ers plötzlich und kommt mir mit einer goldnen Erkenntnis. Ach, es ist ja das einzig Gute an ihm, daß er immer alles sieht und erkennt; nur was am Grunde liegt —, ach, dafür hat ja uns Allen ein guter Geist den Blick entwendet, wie wollten wir sonst leben?“

Eine lange Weile war sie nun still, schien auf ihre Hände im Schoß hinabzublicken, doch liefen und kreuzten sich unablässige Wellen in ihren Zügen und machten den Mund ganz wenig zucken. Und schließlich begann sie mit tieferer Stimme:

„Man kann doch nicht annehmen, daß es Menschen giebt, die das Schicksal sich aussucht wie Lasttiere, nur um ihnen immerfort aufzuladen, über Vernunft? Oft mußt ich das von mir denken; oft, wenn ich am Verzagen war, brannte es sich mir ein, denn — wie ist das mit mir und Georg? Soweit ich mein Leben hinunterblicken kann, war immer nur er. Warum denn? Warum diese Gebundenheit an einen Menschen, für dessen Dasein sie gar keinen Sinn hat? Denke nur, auf Hallig Hooge sagte er, es sei ihm während der vergangenen Jahre oft schwer gewesen an mich zu denken, in einer solchen Einsamkeit sei ich ihm immer erschienen. Das war ja deutlich. Es hieß, daß er sich für mich kein Leben vorstellen konnte — ohne ihn, und deshalb war da eben für ihn nichts zu sehn. Ich lachte ihn ordentlich aus und erzählte ihm dies und das aus meinem Leben, wovon er keine Ahnung hatte, von Berlin, wo ich mich kaum retten konnte vor Menschen, die alle etwas von mir wollten, — nun, das weißt du ja, aber, siehst du, von alledem ahnte er nicht das geringste, er wußte nichts von mir, gar nichts ...“

Ihr Gesicht hatte stärker zu glühen begonnen, während sie das letzte sprach. Jetzt stand sie auf, machte einen versuchenden Schritt, senkte den Kopf, besann sich und setzte sich wieder.

„Antworte mir nicht auf das, was ich jetzt sage“, fing sie ruhiger wieder an. „Vor einer halben Stunde bat ihn der Hauptmann um eine persönliche Unterredung, und da hatte er natürlich auch keine Ahnung, daß es sich um mich handeln könnte, und daß wir uns gut kennen und er mich oft besucht hat, um mir von Georg zu berichten. Der Hauptmann ist auch dumm, er geht zu Georg, um ihn zu fragen, ob er mich fragen darf, aber da kann er sich dann mal wundern. Nein, nein, du sollst nichts sagen!“ rief sie lachend, da Renate ihre Hand ergriff, „ich weiß nichts, und wenn du nicht still bist, heirate ich ihn sicher nicht!“ Verstummend ließ sie Renates Hand los, ihr Gesicht wurde blaß und fast spitz vor gesammeltem Ernst, während sie langsam und schwer sagte:

„Ja, das scheint einem freilich sehr verkehrt. Alle kamen zu mir, aber er kam nicht, — und muß ich nicht annehmen, daß ich ihm viel hätte geben können, da es doch für so Viele gereicht zu haben scheint? Und ich war reich an Leben und Menschen, aber Reichtum und Leben waren nicht sie, sondern die Gedanken an ihn, die mir Leben gaben und mich Leben empfinden lehrten. Und wenn ich trotzdem Leere empfand, so war auch die Leere von ihm. Und obgleich ich ihm nie etwas sein werde in Wahrheit,“ schloß sie aufleuchtend mit den blinden Augen, „so will ich doch immer glauben, daß es gut ist, daß es hilft, daß es irgend etwas heilt, und daß es sein muß, alles, für mich, und für ihn, und für die Welt.“

Eine halbe Minute hielt Renate es noch aus, stand dann eilig auf, sah einen Stuhl neben der Glastür, setzte sich darauf, legte das Gesicht in die Hände und weinte aus Leibeskräften.

„Ja, was ist denn, was hast du denn?“ hörte sie Magda fragen, „warum weinst du?“

„Weil ich,“ stammelte sie schluchzend, „weil ich vorhin gesagt habe, Georg hätte Pferdeaugen!“

„Das ist entsetzlich!“ sagte Magda.

Georg

Wozu, fragte Georg sich, als er, aus dem Frühstückszimmer heraufgekommen, das Buch mit den Aufzeichnungen auf seinen alten Schreibtisch legte, — wozu war nun das? Wozu sagte ich das? Wozu reden wir das? Hat das alles nun irgendeinen Sinn, irgendeine noch so dürftige Fruchtbarkeit? Wird irgendwas klarer durch solche Reden, wir selbst uns durchsichtiger, besser, einsichtiger? Ach, so kurz ist dies Leben, und wir vertun es, wir verprassen — ach — oh du mein uralter Vers: Wer wüßte je das Leben recht zu fassen! Wer hat die Hälfte nicht davon verloren! Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren! Ah freilich, und du, mein Platen, was ist denn nun dein geschliffenes Sonett mit nichts als seiner trüben Feststellung unserer Beschaffenheit, was ist es mehr wert als irgendein Frühstücksgerede! Hats dich klarer gemacht? Und wenn klarer, vielleicht besser? Hats dir irgendwas geholfen?

Das lange Dach gegenüber glänzte regenschwarz mit den Schwellungen der Ochsenaugen; auf derer einem ward eine Krähe sichtbar, indem sie lautlos und schwerfällig im Bogen nach unten wegflog, und Georg hörte, als sie schon über ihm unsichtbar geworden war, ihren Schrei. Der leichte Schleierfall des Regens war nur vor den Fenstern drüben sichtbar; sichtbarer kaum als die Stille und leichte Ödheit des Sonntags, die überallher aus halbgeschlossenen Augen blickte.

Warum war ich so aufgebracht und hitzig? Vielleicht war es wirklich zuviel verlangt von dem armen Benno, ahnungslos vom Schlaf aufzustehn und über alle Gottheiten Roms zu verhandeln.

Wie schön aber sie aussah und lauschte! Ich habe ja nicht einmal Renate mehr vermißt. Du guter Geist, könnt ich dich halten! — Und Renate? So war es immer: ich wollte Renate — und wollte auch Esther. Wollte Renate und wollte Cordelia. Nun denk ich an Anna wieder, und wieder erscheint diese Ewige, an der ich festhänge, seit ich sie sah, und werde ich jemals aufhören zu schwanken, jemals die Stimme der Wahrheit hören können? Wer hat die Hälfte nicht davon verloren?

Ja, fuhr er nachgrabend fort, noch etwas ist anders geworden. Ich sehe anders. Grade an Anna, wie ich sie dasitzen sah, ihre ganze Erscheinung, merkte ich — wie war es nur? Umfassend — ja, und — wahrhaftig, es ist, als hätte ich früher Vergrößerungsgläser vor den Augen gehabt, so daß ich sie an alles ganz nah heran halten mußte, und ich sah Einzelnes nur und Kleines, jedoch übergroß. Sind die Gläser fort? Bin ich zurückgetreten, freistehend und nun das Ganze umfassend?

Was ihm aber jetzt beim Aufschlagen des Buches entgegenfiel, das war der letzte Brief der Cornelia, in dem sie ihm mitteilte, daß sie nicht zu ihm zurückkehren könne, nur noch einmal kommen müsse, ihren Koffer zu holen. Hier also hatte er den lange vermißten hineingelegt. — Georg versank über dem Anblick der Lateinschrift auf dem Umschlag, von den eigentümlich geworfen, ja geschleudert und achtlos aussehenden Schriftzügen wie stets mit dem ganzen Gegensatz ihres bestimmten und geordneten Wesens betroffen, — Georg versank für Minuten in Gefühle wehmütiger Sehnsucht.

Sie war schlank und grade; der Gang schlank und kräftig; das Haar glatt; die Augen rund, kindlich die Stirn, und sie war die Einfachheit selber. Einmal sagte sie, sie könne nicht denken. Vielleicht hatte sie nie, was ein Mann denken nennt, gedacht. Aber sie wußte Bescheid in allem; was sie äußerte, war klar; ihr Urteil war, in Wort und Wendung und Sinne nichts als vernünftig, sachlich, ja nüchtern, selbst wenn es die höchsten Dinge betraf. Nüchtern, — ja, das war sie; von jener Nüchternheit, welche Hölderlin heilig nannte.

Also, dachte Georg trübe, muß es wohl doch das Richtige sein, was sie jetzt tut? — Dann wünschte ich nur — o der Satan hole diese Verstricktheit der Welt! —, dies Tun wäre ihr vorgelegt, als sie den Montfort verlor, anstatt daß sie sich erst an mich hängte ... Wie lieb, wie sehr lieb wurde sie mir! —

Montfort ... Es blieb sonderbar und kaum verständlich, was diesen schwarzen Kentauren zu der stillen Gesellin gezogen hatte. Sie aber war unter dem sengenden Gestirn zu dieser erstaunlichen Frucht glücklicher Klugheit und fester Süße gereift, die — die er gekostet und verloren hatte; wie jene Andern ... Georg zog sich mit einem Seufzer aus seiner Schwermut und legte den Brief fort.

Indem fiel sein Blick auf das vor ihm liegende Buch, und er öffnete es in der Erinnerung, grade über seine Art zu sehen darin etwas bemerkt zu haben. Sein Blick traf alsbald auf die Worte:

‚Ich will mein Leben noch einmal von vorn durchdenken. Ich will aus dem Brunnen, Eimer um Eimer, die Vergangenheit heraufschöpfen, und aus jedem das Süße, das Herbe, das Giftige ziehen und einen Becher damit füllen, und dann will ich ihn trinken. Wohlan, wenn ich das Gift überlebe, so werde ich keines Todes mehr bedürfen.‘

Merkwürdig! habe ich das geschrieben? Warum so pompös? Warum so viel Geste? — Er blätterte weiter, kopfschüttelnd, indem er sich auf den Rand des Schreibtisches setzte. Zuerst wurde sein Auge von dieser Stelle festgehalten:

‚Im Niels Lyhne geblättert, diesem traurigsten aller Bücher. Aber was sehe ich da? Ich bin ein Bastard wie dieser Niels. Wir haben unedles Blut alle Beide und haben deshalb kein Anrecht auf jeden der beiden Throne, weder auf den des Lebens noch auf den der Phantasie. Usurpatoren des Lebens, fühlen wir in jeder Anstrengung, die wir machen, die Hoffnungslosigkeit aus Ursachen der Unrechtmäßigkeit. Wir — aber ich habe es noch etwas schlimmer als du, denn ich weiß, was ich bin. Du, Niels, hast es nicht gewußt, ich aber habe dich gelesen ...‘

Auffahrend aus dem Hinträumen über die letzten Zeilen, fiel Georg zu gleicher Zeit ein, daß er etwas Bestimmtes in den Aufzeichnungen hatte suchen wollen, und daß Anna auf ihn wartete. Unschlüssig noch ein paar Blätter umwendend, sah er den Regen wieder dichter strömen, und wieder auf das Geschriebene gerichtet, fing sein Blick die Überschrift ‚Erinnerung‘ auf. Darin mußte das stehn, was er suchte. Er konnte nicht loskommen, dachte: Anna kann warten — und: bei dem Regen!, tastete nach seiner Zigarettendose und Streichhölzern, begann, schon lesend, zu rauchen, und las nun, fliegender Augen, in immer kälterer Erregtheit.

Erinnerung

Ich hatte eine halbe Stunde im Lehnstuhl geschlafen und hörte erwachend noch schlaftrunken Mathilde, die einsame Winterfliege, in der Dämmerung umhersummen, friedfertig mit sich selber beschäftigt. (Tante Henriette pflegte die Winterfliege die unsterbliche Mathilde zu nennen, oder einfach Mathilde.)

Da erinnerte dies Summen nebst der winterlichen Dämmerung und dem Wärmestrom aus dem Ofen mich an etwas ähnlich Behagliches, und als ich suchte, fand ich mich nach einer Weile auf dem alten Sofa in meinem Zimmer der Pragerschen Wohnung. Die Fliege summte, es war warm und geheizt, ich hatte einen Roman im Schoß vom verehrten Scott, es war Sonntagnachmittag nach dem Essen, die Familie war in den Sonntagskleidern erschienen, das Tafeltuch frisch gewesen, Weingläser auf dem Tisch und alles freundlicher, heller als Wochentags und selten. Nun war alles still geworden; nur über den Flur aus der Küche tönten die Geräusche des abwaschenden Mädchens, und in Pausen immer wieder, schon lange hörbar und doch kaum gehört unterm Lesen, fernher die unendlichen schmetternden Roller eines Kanarienvogels.

Ach, diese Behaglichkeit, — wie alles Behagen nicht ohne einen geringen Zusatz von Öde! (Ungefähr so, als ob man gleichzeitig ein Durstgefühl hatte, nicht stark genug, um deswegen seine behagliche Lage aufzugeben, und auch zu unbestimmt nach was?) Und wie abgeschieden waren solche Stunden, was war ferner als der nächste Morgen, Schulgang und die fünf end- und trostlosen Stunden!

Aber auch diese Wintermorgende hatten ihr mehr grausiges Behagen! Das frostklappernde Aufstehn im Dunkel verlor seine Peinlichkeit alsbald im freundlichen, sehr hellen Licht der Gashängelampe, in dem alles warm wurde, eng das verschattete Zimmer, und noch höre ich in jenen Minuten, wo ich selber still war nach den heftigen Geräuschen des Zähneputzens und Waschens, die tiefe Lautlosigkeit, während des Anknöpfens der Hosenträger, wobei die Zeit stillzustehn schien, und auch von Benno nebenan war — vielleicht aus dem gleichen Grunde — nichts zu hören, so daß es plötzlich war, als sei in der ganzen Wohnung kein Mensch.

Es müßte einmal einer das Behagen der kleinen Dinge beschreiben, der allerkleinsten, jener, die jedem bekannt sind, so daß man nur daran zu erinnern braucht, und die doch niemand sich sagte. Jenes Empfinden etwa — reizvollsten Behagens ach warum nur? —, mit dem man beim Anziehn der Beinkleider zwischen den Schenkeln durch nach hinten faßt und das Hemd straff nach unten zieht, so daß man es am ganzen Rücken und auf den Schultern fühlt. Oder jene höchste Wonne des Erdendaseins, das reine Taghemd mit allen Plättfalten und seiner Frische, fertig mit allen Knöpfen ausgebreitet liegen zu sehn und nun über den nackten Leib zu streifen! Oder die nicht minder hohe, nachts mit einem brennenden Durst zu erwachen, ohne Licht zu machen noch die Augen auf, zum Waschtisch zu tappen und dann dazustehn und lechzend aus der vollen Karaffe ... Ah, wahrlich, nicht unfroh bin ich, das bürgerliche Dasein kennen gelernt zu haben! Werde ich auch jemals den Geruch von Tabaksrauch aus den Kleidern und der getragenen Wäsche meines Berliner Schrankes vergessen, jenen abscheulichen Geruch, der mir in der Erinnerung heute die ganze Welt versüßt?

Viele behagliche Dinge fallen mir ein. Einmal begleitete ich Benno und seine Eltern in den Sommerferien in einen Badeort an der Ostsee, Zempin glaube ich, hieß es, und unvergeßlich blieben mir die stillen, sonneglühenden Nachmittage dort, wenn von allen Veranden und Balkonen das Klirren der beim Decken des Kaffeetisches in die Untertassen gelegten Löffel hörbar war, ein so wechselnd getöntes Klirren. Dazu unaufhörliches und eintöniges Hühnergegacker. An Hotelzimmer muß ich denken, wie sie auf einmal bewohnt aussehn, wenn eine geöffnete Handtasche darin steht und auf dem Tisch eine metallene Seifendose und die Kristallflaschen mit silbernen Deckeln liegen, und es riecht nach Juchten ... Ein Abend im Schlößchen fällt mir ein: Virgo saß vor einer meiner Vitrinen in der Hocke, nahm jeden Gegenstand heraus und hielt ihn, selber im Schatten hockend, gegen das Licht hoch, Irisgläser, die persischen Federkästen, Porzellangruppen und was es nun war, fragte tausenderlei und erzählte kleine Schnurren. Eine behielt ich: wie sie als Kind zuweilen Kuchen stahl aus dem Korb im Büfett, hinterher aber für jedes Stück einen oder zwei Pfennige hinlegte. Sie nahm sie aus einem Portemonnaie von Perlmutter, so groß wie ein Auge ...

Ja, vielleicht ist es gerade die Erinnerung und sie allein, die dergleichen Dinge wertvoll macht, die an sich nichtig sind. Sie sind es, an die man sich erinnern kann. Ich versuche, mir Stunden des Glücks oder des Schmerzes vorzustellen, Stunden der Leidenschaft, der Erhebung zurückzurufen, aber wie kann ich sie leibhaft machen, da mir in diesem Augenblick doch jenes Feuer, jener Odem fehlt, der sie damals beseelte? Aber die unspürbar leisen Rhythmen innerster Bewegung, der Stille, des abgeschiednen Beruhens, sie läßt das gelinde Aufpochen des Fingers wieder schwingen, und wir nehmen sie gerne auf.

Aber dies Bild, warum blieb es in mir haften? Ein sehr stiller Raum, sonnig bei geschlossenen Vorhängen, von dem ich übrigens nichts sehe, als daß er eben da ist. Ich sitze an einem Tisch, an der anstoßenden Seite kniet auf einem Stuhl Anna als kleines Mädchen, halb über der Platte liegend, und da steht ein Wasserglas und liegen weiße Bogen und jene wunderbaren kleinen Hefte voll mattfarbiger, undeutlicher Bildchen, die aneinanderhängen, — Abziehbilder, jawohl, so hießen sie, und Anna und ich mühten uns ab, die ins Wasser getauchten auf reinem Papier festzudrücken und — zu warten. Dies Warten war unmöglich! Immer wieder, mit unsäglicher Behutsamkeit mußte ein Zipfel angelüpft werden, und immer war es noch weiß darunter, es mußte mit dem Finger wieder Wasser daraufgetropft werden, der halbe Tisch schwamm, und dann — ja, wie kann ich nur meine eigne Haltung, meinen eignen Ausdruck gesehen haben, mit dem ich den eben abgelüpften Zipfel wieder andrücke und vor Anna so tue, als wäre alles in Ordnung, obgleich ich doch genau sah, daß ich die zarte, bunte, naßglänzende Haut darunter angerissen habe ... Anna natürlich war die Geduld selber, und wenn sie einmal lüpfte, so kroch sie von oben fast unter das Papier; dabei stöhnte sie entsetzlich.

Und schon überfällt mich wieder ein andres: In der Geschwindigkeit eines Vorbeifahrens, über drei Stufen an einer Hausecke durch die offene Hälfte einer Tür aus geriffeltem Glase ein Blick in einen Bierschank: ein Stück von einem ungestrichenen Tisch, die blanken Messingkrahnen der Theke und dahinter das rote Gesicht des Wirts unter einem Öldruck der Kaiserin; er streift von einigen Biergläsern den Schaum mit einem kleinen Brett ...

Wann in aller Welt sah ich das jemals? Und warum in aller Welt grub es sich in mein Gehirn?

 

Oh seltsame Wege der Nerven! Einen halben Tag lang bis zum Einschlafen verbrachte ich gestern mit Grübeln über jener Erinnerung, umsonst. Heut morgen fällt mir beim Anziehn ein — in der Stunde, wo man nichts denkt, und das Denken sich selbst überlassen wirkt —, daß ich in der Nacht von der armen Helene träumte, und sofort sehe ich mich auf der Fahrt nach Helenenruh an ihrem Todestag und habe jenen Blick in die Tür des Bierausschanks. Wie aber kam ich gestern darauf? Nun, ganz gewiß hat auch etwas in mir, während ich das von den Abziehbildern schrieb, an Helenenruh gedacht, an Helene und an ihren Tod.

Ich habe nun weiter über das eigenartige Walten des Erinnerungsvermögens nachgesonnen, und mir ist folgendes klar geworden:

In dem leider einzigen Gespräch, das ich mit Josef Montfort hatte, stellte er unter mehreren anderen die Behauptung auf, daß der Mensch nichts je Erlebtes vergäße und an alles, wenn er nur wollte, sich erinnern könnte. Indem ich hieran dachte, sah ich ihn mir gegenübersitzen, wie damals im Kaffeehaus; fiel mir sogleich die Erregung auf, in der ich mich damals beim Hören befand, und schon hielt ich wie in einer Phiole das Element, in das getaucht ein erlebtes Bild Erinnerungskraft behält, ohne eignes Willenszutun von uns: leidenschaftliche Erregung. Gleich machte ich einige Proben: Damals die angstvolle Erwartung auf der Fahrt nach Helenenruh bewahrte mir jenes Bild und noch manches andre vom Weg, der vorüberflog. Ich denke niemals an meinen Vater, ohne ihn in dem Augenblick am Vortage meines achtzehnten Geburtstages zu sehn, wo er meine Hand preßte und etwas in mich hineinsprach, das ich nie behielt, da ich ein Augenmensch bin. Die Straßen meines Schulweges, mein letztes Klassenpult, Fenster, Wände und Bilder des Klassenraums, alle tausendmal gesehn in der täglichen Angsterwartung, stehen vor mir, daß ich die kleinste Beschmutzung, die geringste Entstellung daran beschreiben könnte. Fast glaube ich, daß Angstgefühle und Zustände des unsicheren, angstvollen Wartens die stärkste Macht zum Einprägen von Gesichtsbildern besitzen; angstvolles Warten, wo wir im brennenden Verlangen nach der einen Gestalt tausend Dinge mit glühendem Stempel des Auges in uns pressen, nur weil wir sehen müssen um jeden Preis, die Augen festklammern müssen, fiebernd uns mit Dingen beschäftigen. So erscheinen mir doch immer, wenn ich Renates gedenke, nicht einmal ihre Züge, sondern die Akazienwipfel der Güntherstraße, im Laternenlicht halbverschattet die graue Stirnseite ihres Hauses und erleuchtete Fenster, von damals her, als ich dorthin lief, nur gepeinigt vom Verlangen ihrer Nähe. Ja, Angst und Erwartung sind es, die ohne unser bewußtes Zutun jenes Könnenwollen der Erinnerung Josef Montforts bewirken, nicht nachträglich, sondern vorwegwirkend, denn in solchen Zuständen wollen wir sehen, obschon nicht das, was wir sehen.

 

Noch immer im Lauf der Tage ab und zu mit Erinnerungsdingen beschäftigt, mir selber unvermerkt auf der Suche nach Zuständen der Erregtheit und Bildern daraus, und indem ich immer die Probe machte auf das erste, augenblicklich hervorschnellende Bild, dachte ich an meine Corpszeit, und siehe da, was stellt sich mir dar? Das Speibecken in der Toilette, freilich immer benutzt zu Zeiten übelster Peinigung. Verfluchtes Ding! Daß so das Sinnlose zur Einrichtung führen konnte! Saufen in der Gewißheit, in der Hoffnung sogar, das Gesoffene wieder von sich zu geben. Der deutsche Student, vorstellbar im Bilde von Münchhausens halbiertem Pferd.

Ich rettete mich in einen Ausblick auf Bogner, und gleich sah ich ihn in Renates Kapelle stehn, einen Arm gegen die Wand gestützt. Damals malte er seine Engel, ich war wieder einmal Renates Nähe zugerannt, wir hatten dann ein Gespräch in der Nacht, und — gewiß, wir sprachen auch vom Tode, den Tod brachte ich in irgendeine Verbindung mit der Liebe, und da sagte er: nein, das sei vorläufig nichts für ihn ...

 

Heut sah ich Esthers Gespenst.

Ich ging auf breitem Ebbestrand. Das Meer war dunkel, bewegt, nicht stürmisch; der Himmel bewölkt und grau. Plötzlich läuft eine Fußspur vor mir auf, weibliche Füße, klein, etwas breit, und wie ich mich noch wundere über die seltene Erscheinung, muß ich erkennen, daß nach jedem dritten oder vierten Schritt der rechte Fuß leicht nach innen schlägt. Mir stand das Herz. Esther! dachte ich nur, folgte der Spur in einer unseligen Versunkenheit und — sehe sie in plötzlicher Biegung dem Wasser zu hineingehn und in den Wellen verschwinden.

Aus der Meerflut gekommen, mir erschienen, und wieder hineingegangen. Esther in dem rotvioletten Kleid, unschlüssig, traurig ...

Es ist natürlich die Magd gewesen. Und sie ist nicht in die See gegangen, sondern nur dichter an den Wellen her, zur Zeit als die Ebbe noch tiefer war, und als ich kam, hatte die steigende Flut die Spur fortgenommen.

Doch was geht das mich an? Ich saß im Zimmer und sah wieder den feurigen Roteichenbaum jenseits des Grabens, selber neben Esther auf der Bank, in angstvoller Erwartung dessen, was ich tun sollte und nicht können würde, und Erscheinung löste sich aus Erscheinung ...

Aber Esther selber entschwand bald. Die Zeit war zu lustig und hell für die nun so umflorte Gestalt. Noch einmal sah ich sie deutlich: ich selber stand auf dem kleinen Balkon vor dem Saal im Schlößchen, unten stand sie mit Herrn Vögeleins kleinem Neffen, warf seinen Ball zu mir herauf und ich ihn wieder hinunter, — noch glänzt mir ihr lächelnd erhobenes Gesicht. Dann sprang ich hinunter. Sie sagte: Nun ists genug, kommen Sie herunter! — und ich hatte die meines Wissens einzige Anwandlung von Tollkühnheit in meinem Leben und sprang ohne weiteres in die Tiefe, wobei ein Fuß leider zerbrach. Oh schöne Zeit, die mirs lohnte! Die Ferien standen nahe bevor, ich hätte nach Helenenruh fahren müssen, nun wars ein Vorwand zum Bleiben, ich konnte die langen Tage liegen und Besuche empfangen und Esther bei mir sitzen haben, und einmal sogar kam Renate. Leichteste Zeit! Um ins Haus Montfort gelangen zu können und nicht unprinzlich hüpfen zu müssen, ließ ich eine Hängematte außen mit violettem Samt, innen mit weißer Seide beziehn und durch die Ösen an beiden Enden eine vergoldete Stange schieben; dazu mietete ich zwei eben stellenlos gewordene Inder, Türsteher eines verkrachten Panoptikums, die mich zum Wagen und im Montfortschen Haus und Garten überall hintragen mußten. Das war einen Tag schön, dann standen sie überall im Wege, und ich gab das Ganze auf.

Eine Ansichtskarte fällt mir ein, die Renate oder Anna von Bogner und Ulrika bekam, als die Beiden einmal eine Reise machten. Darauf hatte er sie und sich abgebildet, wie sie auf einem Stuhl sitzt und ein Loch in seinem Strumpfhacken stopft, den er ihr, mit dem Rücken nach ihr vor ihr stehend, hinhält, mit der Umschrift: Sie wird mich in die Ferse stechen!

Halbe Nächte im Gespräch mit Sigurd und Benno über die ewigen Dinge. Leicht genug mögen sie gewesen sein, und wenn sie mir schon schwer waren, so war doch das Reden darüber zu leicht. Immer im Hintergrund aber, ob unsichtbar, war Esther, deren leises Eintreten ich immer erwartete, und kam es nicht oft?

Als wir einmal Alle beisammen waren, fragte jemand Jason, wie es eigentlich komme, daß er zu allen Frauen seiner Bekanntschaft Du sage. — Wie kommt es dann, fragte er hinwieder, daß sie es auch sagen, sobald ich es einmal getan habe? — Ach, ihr Männer, sagte er, da niemand eine Antwort hatte, zu meinem Zimmerofen sage ich auch Du, sind aber die Frauen nicht um vieles wärmender? Sie sagen gern wieder Du, wenn ich es sage.

Es ist immer viel mehr der Duft der Worte, den man wahrnimmt, wenn Jason spricht, als die Worte selbst, und ich glaube, Alle empfanden wie ich in jenem Augenblick, daß es kühl um uns war, daß wir uns Alle kühl waren, und vielleicht hätten wir eine Wahrheit entdeckt, wenn nicht einer von andern Dingen angefangen hätte, wie das immer zu sein pflegt, wenn Wahrheiten vor der Tür stehen.

Nun sehe ich Dora Vehm, — was ward aus ihr? — Ich sehe sie beim Krokett auf der Wiese, es war kein Spiel für Kinder, sondern lange, schwere Hämmer und wuchtige Kugeln. Sie aber schlug mit einer Kraft, Anmut und Sicherheit die großen Bälle weithin durch die Tore, gegen andre Kugeln, unaufhaltsam weiter ihres Wegs, daß es eine Wonne war, sie dabei zu sehn. Ihre Augen brannten, sie strahlte, ich sah Ägidi, der ruhig wie ich dabeistand, sie hatten jeder ihre Augen in der Gewalt.

Seltsam genug: für einen unernsten Menschen kann ich mich nicht halten, ich liebe die Schwermut vielleicht mehr, als daß ich sie habe, aber wie geht es zu, daß fast alle Erinnerungen heiter sind, die sich beschwören lassen? Noch heute fiel mir ein Fetzen Papier in die Hände, leserlich gekritzelt darauf:

Halbgöttinnen gehn am Gestade, — das stahlblaue Meer

Wirft Ketten von silbernen Fischen um ihre Füße.

Salzluft bereift der roten Lippen Süße,

Gewänder flattern farbig um sie her.

Das stammt aus den ersten Tagen meines Hierseins. Renate und Magda waren zu Bogner gekommen, es war ein warmer, sonniger Tag, ich stand oben auf meinem Turm mit dem eben gefundenen Handfernrohr und sah sie am Strande alle Vier, Renate, Magda, Ulrika und Cornelia. Sie hatten Schuh und Strümpfe ausgezogen, Renate und Ulrika Magda untergefaßt, Cornelia ging voran in einem lichtgelben Kleid, die drei Andern hatten allesamt weiße Kleidröcke und bunte, gestrickte Jacken, Renate eine burgunderrote, Magda eine grüne, Ulrika eine violette, und ich konnte durch das Fernrohr feststellen, daß nur die Renates und Ulrikas aus Seide waren, Magdas, stets bescheiden, war Kunstseide. Noch sehe ich die Drei im Rund meines Tubus unten stehn und zu mir heraufwinken, flatternd, farbig, lachend auf dem weißen Strand vor der dunklen Wogenwand von Blau, aus der die Welle, um ihre rosenen Füße leckend, kleine, silberblitzende Fische spülte ...

Meine letzte farbige Erinnerung. — Allein warum behielt sich mir das Heitre so oft?

Ich schrieb es wohl neulich schon auf: An Schmerzliches kann allein die Vernunft sich erinnern; das Gefühl kann nicht nachschaffen aus Nichts, was damals erglühte, so geht der Vorgang selber unter, und es bleibt nur das optische Bild, um so leichter, je farbiger, je brennender es war.

Ja, nur die Bilder erscheinen, mondlich angestrahlt, seltsame Monde selber, abgeschieden vom Damals, wirkungslos ...

Wenn die versunkene Stadt — in der Nacht der Erlösung — sich aus den fallenden Wassern erhebt, — tönen die Glocken wie vormals ... Wandeln wie vormals die Straßen, — und die kindlichen Spiele — tun es wie je den Erwachsenen gleich.

Doch es blieb ein Vermächtnis — aus der versunkenen Jahre Gram — auf den seltsam alten — Gesichtern zurück. — Und es beleuchtet ein fremder Mond — Turm und Planet und seltsam verschnörkeltes Dach.

Während rings aus dem riesigen Meere die alten — Gestirne steigen und wieder schaun, — was niemals altert. — — Wo keines Segels ernster Schatten, — kein Vogelflug nach der düsteren Ferne strebt.

Anders lächeln von Fenster und Tür — Mädchen auf Knaben, — und anders der Alten Schritt — über die steinernen Treppen und Höfe schallt.

Mädchen, die Sträuße tragen, — atmen befremdet den Duft, der von gestern erzählt ...

Im Schweigen der Glocken — hören sie Alle — ängstlich und deutlich — das schwellende Dröhnen — der kommenden Flut.

 

Als ich heute an der offenen Türe des Kuhstalls vorüberging, fuhr ein unsichtbarer Arm mitten aus dem Mistgeruch auf mich zu, packte, schwang und stellte mich mit gewaltigem Schwung über mehr als drei Jahre hinweg auf den Helenenruher Wirtschaftshof, in einen Sommertag, in den Tag, wo ich meine Kindheit verlor.

Das weiß ich heut, daß ich sie damals verlor. Der Tag wars, wo Bogner gekommen war, wo das mit Jason geschah, wo ich nachts in Annas Zimmer war. — Noch sehe ich die gelben Orpingtonhühner auseinander stieben, sie erschraken vor Unkas, und da geht Unkas tappend auf die Tür seines Stalles zu, und ich selber stehe da und — ich vergaß, was ich dachte, aber — es scheint mir ein Vorspuk gewesen zu sein, ein Aufdämmern vor dem gänzlichen Erwachen. Das kam in der selben Nacht, da lag ich auf der Wiese am Parkrand, nicht weit von der Stelle, wo ich am Morgen gelegen hatte und zu mir gekommen war aus dem Sonnensieden wie aus brodelnder Geburt. Da lag ich am Boden und fühlte das Tragen der Erde, sonderlich heimatlos und kühl war mir zu Sinne, ich wußte — ja, was wußte ich wohl? Daß ich nun alles wußte, das wars.

Heiliges Kindheitsland, wo bist du? — Zurecht fallen die Verse mir jetzt ein, die ich in Helenes Mappe fand. Als ich sie dichtend empfand, da dichtete Erinnerung in mir, Erinnerung an jene Nachtstunde am Parkrand, wo ich mich erkannte, weil ich das Weib ‚erkannt‘ hatte; wo meine Kindheit ein Ende nahm. Und doch, als ich diese Worte im Gedicht empfand, — wie dumpf noch, wie unwissend, wie nur abgehorcht einer unverständlichen Geisterstimme, und freilich echter vielleicht darum, echter gedichtet als das meiste sonst. Heute erst weiß ich ganz.

Unkas aber mit seinem tastenden Gang, die Hühner, die tafelnden Arbeiter im Hof: diese waren mein erster wacher Blick, meine erste Beobachtung. Während es dämmrig in mir selber blieb, begann ich Bilder in mich zu füllen unermüdlich, deren schillernde Buntheit mir das Innre magisch zu erhellen schien. Immer genügte die Anschauung, und sooft ich es selber sein mochte, an dem ich Beobachtungen machte, so genügten mir auch sie, und zu Erkenntnissen dehnte ich sie nicht aus. Auch das Bild Emmaus beobachtete ich wohl und verstand es ästhetisch genau, und mir selber in jener Nacht brannte das Herz vom Zuspät. Heut weiß ich seinen Sinn, heut, wo es zu spät geworden ist.

 

Doppelt erregt, von hundert Bildern seines vergangenen Lebens aus der Aufzählung der Erinnerungen, und von dem heftigen Gefühl, daß gleichwohl nicht er dies geschrieben habe, sondern ein Fremder, der erstaunlich viel von ihm wußte, schloß Georg aufatmend das Buch.

Nein, sagte er mit Entschlossenheit, ich bin das nicht mehr. Das ist ja schrecklich, diese Augenjagd nach Kleinem und Kleinstem, in der Aufzählung mit drangeknüpften Nutzanwendungen wie hier ja ganz reizvoll, aber war das der Zweck des Erlebens? — Und er sah sich selber herumfahren wie einen schillernden Argos mit zehntausend apokalyptischen Augen. Seine eigenen Augen gingen ihm über dabei, — aber jetzt, da er die Lider schloß, kam etwas aus dem Dunkel; eine dunkelblaue Brust im Anzug, Schlips und Kragen, und nun das Gesicht seines Vaters, Bart und Haar, Wangen und Brauen und endlich — Georg erbebte — auch der Blick der gestorbenen Augen. Alles dies aus der wirbelnden, einzig beglückenden Stunde am Vortage jenes achtzehnten Geburtstages, eingebrannt in die Luft, um ihm jahrelang immer wieder zu erscheinen. — — Im Nu war das wieder verschwunden, aber Georg, schmerzlich ihm nachblickend, während vor seinen wiedergeöffneten Augen Fenster und Dach erschienen, fragte sich schwer und gebunden: Deshalb? Deshalb das tausendfache Schaun, damit dies gesehen wurde und haftete?

Er wartete horchend, aber es kam nichts weiter, und er erhob sich nun hastig, ging ins Nebenzimmer, wo er mit Egons Hülfe, auf Umkleiden verzichtend, festere Stiefel und Gummimantel anzog, ergriff Hut und Schirm und eilte hinunter.

Viertes Kapitel

Magda/Renate

Georg war, als er das Frühstückszimmer wieder betrat, zufrieden mit dem, was er an sich beobachten konnte. Denn nicht nur, daß er die jetzt anwesende Renate, weil sie mit dem Rücken am Kreuz der Glastür lehnte, — so daß er, selber ins Helle blickend, ihr vom Licht abgewandtes Gesicht nur undeutlich wahrnahm — für Irene hielt, zumal sie die Füße im Stehn vorgeschoben und sich dadurch verkleinert hatte; nein, auch als er sie erkannte, war, was ihm aufs Herz fiel, eher eine abweisende Kühle, und er fand sich unangefochten. Auf seine Frage nach Irene wurde ihm gesagt, daß sie sich immer noch angegriffen fühle und nicht vor zehn Uhr zu erscheinen pflege. Renate — er sahs — hatte wieder geweint, und Georg hatte eine alte Abneigung gegen vieles oder leichtes Weinen von Frauen. Im Augenblick trug sie freilich einen skurrilen Ausdruck zur Schau, der ihr Gesicht lieblich verkleinerte, die Augen blank machte und etwas spitz wie die kleiner Tiere. Georg äußerte zu Anna — im stillen Renates Kleid bewundernd, das von blauem Violett, in der Form dem der Äbte glich, mit weitem, faltenreich glänzendem Rock und engen Ärmeln, die bis zum Ellbogen ein schlichter Schulterkragen bedeckte —, ob sie nicht auch fände, die Abatissa habe Augen wie ein Wiesel heut.

Über Magdas Gesicht ging ein ungemeines Glänzen, während sie, ohne die Augen aufzuschlagen, schwieg und fortfuhr, die Knöpfe ihres Lodenkragens zu schließen. Renate fing an zu lachen, drehte sich um, legte das Gesicht in den hochgehobenen Ellbogen und den Arm gegen die Scheibe und lachte so einfältig, daß Georg ungehalten wurde.

„Was lacht sie denn so? Ist heut nicht Charfreitag?“

„Erst Pferd und dann Wiesel, da hast du’s“, sagte Anna unverständlich zu Renate hinüber, und indem erschien vor Georg lautlos Egloffstein, ihn blicklos anblinzelnd mit den ganz hellen Augen unter weißen Brauen, Renates Mantel und Schirm in den Händen, die er Georg überreichte. Der aber fand nun, ins Freie blickend, daß es nicht mehr regnete; über die Terrasse glitten Sonnenstrahlen. Es gab noch einen Kampf mit Renate um den Mantel, bis Georg ihn ihr zum Tragen überließ, da er sie und Anna zu führen hatte.

Als Georg dann, Annas Oberarm mit der Linken umspannend, mit der Rechten Renates Handgelenk, seinen Arm unter dem ihren, was sie unbegreiflicherweise zuließ, — als er so am Ende des Hauses die Beiden die Stufen hinabführte und zur Linken den Weg hinab in den Park, sich aufrichtend und Luft einziehend, stimmte er sich ernster, im Gedanken des Wegs, den sie gingen, und an den Annas Rosenstrauß ihn erinnerte.

Naß, aufgeweicht, braun erstreckte sich vor ihnen der stumpfe Sandweg mit glänzenden Lachen an den Rasenrändern. Über die Büsche des Waldes, die zierlich begrünten, lief ein fröstelndes Beben. Vor ihnen, in der Weite der Parkflächen, standen die Bäume noch kahl und ohne Bewegung, während die grünen Gesträuche sich schüttelten im leichten Wind. Birken glänzten kalkigweiß, und stark war der Geruch all des Nassen, Erfrischten umher; österlich wie das Ganze selbst der eilig in grauweißen Wolken fahrende Himmel.

Sie schritten schweigsam, langsam dem Weiher zu. Die Insel erschien, noch ganz schwarz, nur über dem Ufer unten grün mit Buschwerk gefleckt. Georg nahm die Blicke aus der Höhe des kahlen Astwerks zurück und wandte sie insgeheim gegen Renate.

Herzbewegend schien ihm, was er nun sah: zwischen den kleinen Bögen des hohen Halskragens, die unterm Kinn und den Ohren nach außen gerollt waren wie die äußersten Kelchblätter einer Blume, kamen von innen kleine weiße Zungen heraus, Kelchblätter gleichfalls, und daraus stieg, und darin ruhte die geschlossene, feste, reiche Blüte des kleinen Haupts mit den ewigen Farben: Hyazinthblau und Magnolienweiß und Buchenbraun; mit seinem Wunder der Braue; der Sehnsucht von Engeln im Winkel des Mundes; dem Stolz von Byzanz in der Biegung der Nase, — ach, Heliodora, wie war alldas doch festlich und schön gewesen! — Und er bekam den Blick nicht los aus diesem, gradaus schauenden ihres Auges, zwischen winzigen Schlägen der Wimpern aus dem feuchten, gewölbten, durchblauten Kristall; diesem blickenden Leben, dieser sichtbar vor sich hinschauenden Seele aus dem magischen Haus.

Dunkelgrau lag der Weiher, leicht wellenbewegt, zur Linken die schmale Brücke mit dem Rindengeländer; aber die Anna blieb, als er zu ihr einbiegen wollte, stehen, indem sie genau zu wissen schien, wohin sie gelangt war. So hielten auch er und Renate, wortlos, und Georg fand sich emporblickend leise geblendet von einem weißgelblichen Quellen im grauen Gestrudel des Himmels. Nicht weit davon war ein hellblaues Loch von unendlicher Tiefe.

„Weißt du noch,“ hörte er Anna sagen, „wen wir hier herausgezogen haben?“

„Wir, Anna? — Übrigens hast du im Leben keine edlere Tat getan“, setzte er mit ungewolltem Spötteln hinzu. Sie bewegte daraufhin nur leise verneinend den Kopf hin und her, streckte die Hand nach dem Geländer aus, fand es und ging allein über die leise sich wiegenden Bohlen. Auch Renate bewegte, da er sie ansah, ähnlich wie Magda den Kopf, machte sich los von ihm und ging langsam davon, den Weg am Ufer hinunter. Also folgte er allein über die Brücke, rasch, um Magda in den Baumgang zu führen, die nach Renate nicht weiter fragte. Georg bedauerte immerhin soviel Zartgefühl, das ihn beraubte.

Magda

Das Herz Georgs schlug an, als er aus dem Baumgang über die kleine Mulde hinaustrat, behutsam und so gleichsam mechanisch wie die Einlaßglocke in einem Hausflur, worauf er das Ausbleiben eines Mehr an Empfinden damit entschuldigte, daß in dem scharfen Sterben dieses Jahres die alten Tode zugrunde gegangen seien. Immerhin empfand er die ernsthafte Feierlichkeit des leicht geschlossenen Raums, über dem er blaue Segel taumlig über weißquellende Meere hinfliegen sah. Die kahle und nasse Buche gegenüber dampfte da und dort unter dem linden Feuer vereinzelter Strahlen; undeutlich an der Rinde erschien das dunkel metallene Schild.

Es waren aber schon Menschen dagewesen. Da, wie Georg sich erinnerte, sein Vater bald nach Helenes Tod eine zweite Brücke hatte schlagen lassen, die von der Landstraße aus zu erreichen war, so fand Georg den Rasen unter dem Baum bedeckt mit frommen Zeichen: Sträuße, Kränze und Schleifen, und um den Stamm — welch holder Einfall eines Kindes! — war eine Girlande von Primeln geschlungen, — ein jungfräulicher Gürtel des Frühlings. Georg teilte Anna dies halblaut mit, und sie gab ihm ihre Rosen, die er in den Primelkranz hing, um ihnen so einen bevorzugten Platz zu geben. Sie standen dann stumm einander gegenüber, getrennt von dem blühenden Durcheinander am Boden, auf das Magdas Blicke hinabgerichtet schienen wie die seinen, und wo der Geruch von Nässe wetteiferte mit dem herben der Stechpalmen und dem leidenschaftlichen der Hyazinthen. Auf einer violetten Schleife, die seltsam an Renates Kleidung erinnerte, entzifferte Georg die in Gold gestickten Worte: Der Unvergeßlichen.

Der Unvergeßlichen ... Gewiß vergaß er sie niemals. Drei Jahre bald war sie tot, aber worauf beruhte die Anhänglichkeit dieser Menschen an die immer unsichtbare Gestalt? Dienerschaftsgeflüster, dachte Georg, und dann, daß Güte und langes Leiden wie Christus über den Wellen wandeln nach überall. Indem ward er des Sarges inne, der hier unter seinen Füßen stand. Er fühlte die Luft kühler und fröstelte.

„Sind viel Blumen da?“ hörte er Magda fragen.

„Eine Menge.“

„Voriges Jahr“, erwiderte sie, „waren es zwei Sträuße und ein Kranz. Was mag das bedeuten?“

Georg erriet an ihrem Ausdruck, daß sie es auf ihn selbst bezog, und sagte leise: „Ja, die Menschen sind seltsam.“

Stille. Laut schmetternd erhob ein Buchfink seine nahe Stimme, und aus weiter Ferne herüber war eine Amselflöte zu hören.

„Sage mir, Georg,“ redete ihn das Mädchen wieder an, „glaubst du je empfunden zu haben, daß sie nicht deine Mutter war?“

Er hob die Achseln. „Wie kann ich das sagen? Ich empfand etwas. Aber ob ich auch, wenn sie weniger unsichtbar gewesen wäre ...“

„Aber“, sagte sie, „dein Papa, das hast du doch immer gefühlt!“

„Ja, Anna!“ bekräftigte er überzeugt — und schreckte zusammen. Was sagte er denn da? Aber wie mißverständlich hatte sie auch gefragt! — Noch nach einer berichtigenden Antwort suchend, sah er Magda horchend den Kopf anheben und hörte gleich darauf selber Stimmen und Schritte von Menschen. Wenig später standen sie wieder vor der Brücke.

Renate

Unweit am Ufer zur Linken, über der Flut, wo Blaues und Weißes sich schnell ineinanderschlang, saß eine sehr stille, violettblau gekleidete Gestalt, in sich versunken, — Renate auf ihrem Mantel, den sie über die Bank gebreitet hatte, und von ihr ging ein Gefühl von Ernst und Trauer aus. Nahe über ihr flüchteten weiße gestaltlose Nebelwolken unter dem blauen Gewölbe, das durch vielfache Lücken schien und glänzte, und Strahlen wanderten lautlos golden dazwischen umher, erloschen und brachen an anderer Stelle mit lächelnder Sanftmut hervor. Weit und offen darunter das Land glänzte in Heiterkeit; Grün der Wiesen, überall zart erblinkend von gelben Schlüsseln; die kleine weiße Versammlung der Birken, unweit hinter Renate, schien dazustehn gleich Jünglingen oder Mädchen, die auf den Anfang der Wettspiele warten; ganz fern wirbelten Büsche grün und licht, und die Gruppen der schwärzlichen Bäume hatten nichts Struppiges mehr, sondern Weichheit und die unsichtbare Verschleierung ihrer Knospen. In der bewegten Stille der Lüfte regten sich lebhafte Vogelstimmen, zwitschernd und zuversichtlich, durch die lautlos weiche Geschäftigkeit der wandernden Lichtstrahlen.

Ach, mein Frühling! dachte Georg und fühlte sich wieder beglückt; er führte wortlos die Anna über den Brückensteg und den Weg zu Renate hinunter, nach einer Weile erst kurz bemerkend, daß sie dort sitze.

Renate blickte auf, als sie näher kamen, durch Georgs Augen streifend mit einem unverständlichen Blick voll Trauer und Güte. Das verwirrte ihn so, daß er nach einer Weile erst inne wurde, daß sie sich mit Magda stritt, die sich jetzt an ihn zur Entscheidung wandte. Sie müsse zur Generalprobe in die Stadt, und obwohl für Renate ein Vertreter bestellt sei, wolle sie jetzt mitkommen, und Georg sollte es verbieten, da sie doch ihren Fuß für den Abend schonen müsse.

„Braucht sie abends ihren Fuß?“ hörte Georg sich ganz freundlich fragen.

„Aber ja doch! Zum Orgelspielen! Zum Pedaltreten!“

Georg, nicht recht begreifend, warum er einen kleinen schneeweißen Eisberg in einem blauen Wasser schwimmen sah, raffte sich auf, sie zu überzeugen, aber der Streit schien bereits entschieden, und er konnte sich nun wundern, die Anna in ihrem hellroten Kleid, den Mantel am Arm, zwar irgendwie unsicher, aber ganz allein den Weg hinabgehen zu sehn.

„Kann sie denn sehn?“ fragte er ungläubig.

„O ja, heute ganz gut!“

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

„Gern!“ Und Renate zog ihren Mantel, auf dem sie saß, weiter auseinander neben sich, denn die Bank war ganz naß.

Georg schloß die Augen, erquickt vom Gefühl des Sitzens.

Eine Lust schnellte jetzt in ihm auf wie ein Hund hinter der Hoftür, eine Begier, zu reden über irgendwas, da er sonst denken mußte, und schon hatte er sich an der Banklehne hin zu Renate hinübergelehnt und schwoll über.

In diesem Augenblick glaubte Renate zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, die Leibhaftigkeit Georgs, seine wirkliche Nähe zu spüren. Früher — wieviel ferner als alle Andern war er ihr allzeit gewesen, ein junger Mensch, den sie nicht verstand, fremdartigen Wesens, abgeschlossen von ihr. Während sie ihn sprechen hörte, stellte sich deutlich Erinnrung an seinen Vater ein. Was erinnerte denn so sehr an ihn? Es war — Magda hatte es getroffen — etwas Fürstliches da, eine Unbändigkeit und Überlegenheit. Freilich — seine Mundwinkel hatten ein Verächtlichkeitszucken, das ihr zu häufig kam, als daß es ihr ganz echt scheinen konnte. Aber sein Auge war klar, zumal in Pausen, wenn er schwieg und weithin blickte; dann hatte es einen Glanz von Unerschrockenheit, von Stetigkeit und — sie fühlte ein innres Erröten, als sie es dachte — fast von Wärme, wenn er sich nun zu ihr wandte. Warum nur lärmte er so? sprach schallend laut und machte heftige Gesten? Ja, auch das war wie beim Vater ...

„Ja, nun sehen Sie mal, teuerste Renate, da haben wir Charfreitag. Ein schöner Tag offenbar, ich bin ganz erstaunt. Denken Sie an, ich habe da drei Wochen bis über die Augen in Geschäften gesessen und nicht bemerkt, daß es Frühling ist. Aber so geht es mir immer. Passen Sie mal auf!“ Er redete nun immer freier und sorgloser, in schnellender Erleichterung von Satz zu Satz. „Ich will Ihnen mal genau sagen, wie sich das mit mir verhält. Vor ungefähr vier Jahren hatte ich folgenden Traum. Ich stand in einem Theaterparkett, nicht wahr; auf der Bühne war ein glänzender Festzug, ich sollte eigentlich mitwirken, nicht wahr, aber die Menschen ließen mich nicht hin, und ich schrie, nicht wahr, Sie verstehn, wie das so ist im Traum, und ich schrie jedenfalls: Ich komme nicht hinein. Komisch, was, aber wir können so weise werden wie Salomo, wir träumen doch immer wie die Esel. Übrigens war dieser Traum eben nicht so dumm, barg vielmehr eine Wahrheit am tiefen Grunde, wie der Dichter sagt, und was meinen Sie, wer förderte sie zutage? Natürlich Ihr leider verstorbener Vetter Josef. Was sagte er nämlich, wie legte er es aus? Ganz einfach, nicht wahr, nämlich — ich käme bei Gott nicht hinein, in die Gegenwart gewissermaßen, Sie verstehn, was man so ‚das Leben‘ nennt. Ja, Sie lächeln, Renate, aber nun ist es wahrhaftig eingetroffen. Im Allgemeinen und im Besondern. Soll ichs beweisen? Ich meine —, ich weiß ja nicht, ob es Sie —“

„Sehr, Georg, sehr doch! Ich habe ja viel an Sie denken müssen, seit Sie Herzog sind, und —“

„Das wird ein schöner Schlamassel werden, nicht wahr? Haben Sie das nicht gedacht?“ rief Georg, bog sich nach hinten und lachte schallend.

„Nicht ganz, Georg, aber daß es sehr schwer —“

„Schwer? Was für’n Unsinn, Renate! Wie kann so was schwer sein? Das ist genau wie mit dem Dichten, meinen Sie, das wäre schwer? Der Eine kanns immer, der Andre kanns nie. Ich gehöre zu denen, die es nie können“, schloß er überzeugt.

Georg schwieg. Minutenlang schwieg er, aber während dieses Schweigens sprach er ganz andre Worte zu ihr als im Augenblick zuvor. Er sagte, langsam und nachdrücklich Wort für Wort und ohne die Fürstenpose, die er sich angeformt hatte, ohne selber zu wissen wie; er sagte:

Sieh, Renate, wie das mit mir ist! Zwischen den Menschen und mir ist etwas wie ein Schleier; nicht einmal Schleier, — nur Glas, durchsichtig, und scheinbar ist gar nichts da, und doch ist es etwas, das den geraden Blick bricht, so daß er nicht eindringen kann in ihr Sein. Das ist die Lüge ...

Hier brach er ab, dachte trocken und heiß: Warum sag ich es nicht? Warum leg ichs nicht einmal in eine fremde, in ihre Hand, daß sie’s weiß, daß sie — ja, daß sie nur etwas näher zu mir ist, als daß wir nun sitzen als Unbekannte und reden, was ebenso gut und was besser ungeredet verbliebe?

Georg bemerkte, daß genug geschwiegen war, besann sich und begann von neuem so wie vorher.

„Also ich wills Ihnen beweisen! Zum Beispiel folgendermaßen, nicht wahr, ich will beispielsweise reden. Sie wissen, Ihr Vetter Erasmus hat, wie auch früher mein Vater, und nach dem Vorgang von Abbe in Jena, die Einrichtung getroffen, daß die Arbeiter seines Unternehmens am Einkommen beteiligt sind. Nun, herrlich, nicht wahr, menschenfreundlich und gerecht. Und was kommt heraus? Ein jeder Arbeiter, nicht wahr, hat sein Stück Geld auf der Bank, ist, mit einem Wort, ein kleiner Kapitalist. Ist aber damit ein Übel beseitigt? das Grundübel, der Kapitalismus? Tausend Menschen sitzen mit Goldplomben in den Zähnen, und da giebt man den Übrigen auch welche, das ist die Geschichte. Ja, sehen Sie doch, der steifste Reaktionär könnte ja nichts Besseres tun, um der sozialdemokratischen Arbeiterschaft den Mund zu stopfen, denn wer satt hat, der ist zufrieden, das ist so alt wie Jerusalem. Ja, aber meinen Sie, das könnte mir passen? Da sehen Sie also, daß bei Menschenfreundlichkeit nichts herauskommt. Also, wie greif ichs an, wie komm ich hinein, da ich auf einer ganz andern Grundlage stehe?

„Oder ein andres Beispiel. Ein Dichter schickt mir da seine Verse mit der ergebenen Bitte, ihm zum Abdruck zu verhelfen. Dummes Zeug, nicht wahr, das sich reimt, na, aber das ist Zufall, sie könnten ja gut sein. Was tu ich? Laß ich diese drucken, so kann jeder kommen, ich muß einen Verlag aufmachen, das geht nicht. Aber, da ich nun mal die Aufgabe habe, im Einzelfall den Mangel der Gemeinschaft zu erkennen, was tu ich? Ich denke nach, nicht wahr, über diese besondre Gemeinschaft der Dichter, die keinen Verleger finden, oder wenn auch, nicht genug zum Leben bekommen, und was fällt mir ein? Folgendes, nicht wahr? Alle Dichter höheren Grades, eben jene, die es am schwersten haben, tun sich zusammen und geben ihre Werke gemeinsam heraus. Was geschieht? Diese Werke kauft niemand; da sie gut sind, niemand. Was muß der Dichterverlag m. b. H. tun, um sich über Wasser zu halten? Muß noch andre Werke herausgeben, die gehn, Kunstbücher oder Schmarren oder so, was Sie wollen, mit einem Wort: sie müssen einen richtigen Verlag gründen, den Konkurrenzkampf aufnehmen, und so weiter. Können sie das? Gott bewahre, sie sind Dichter, sie müssen also einen Geschäftsmann an ihre Spitze stellen, einen Verleger, der es macht wie die Andern, und was kommt zutage? Ein Verleger mehr zu den alten. Oder aber, ich muß einspringen, muß den Verlag unterstützen —, ja — na, da kann ich grad so gut dem Einzelnen helfen, der zu mir kommt, und wir drehn uns im Kreis wie die Schafe mit Littiti.

„Oder drittens, um zum Kern der Sache zu kommen. Ein Schuldirektor überreicht mir in Audienz ein dickleibiges Manuskript: Umformung des gesamten Schulwesens. Schön, nicht wahr, des gesamten, der Kerl, denkt man, fängt die Sache am Grunde an. Ich fange an zu lesen, nicht wahr? Übrigens ein geistvoller Mann, wie Herder, nur praktischer. Also ich lese zwanzig Seiten und habe folgende Vision. Ich lege das Buch meinem Kultusministerium vor. Das sagt: Ausgezeichnet, und streicht mir die Hälfte weg. Die verbliebene Hälfte, nicht wahr, leg ich vor den Landtag. Der sagt auch ausgezeichnet und streicht wieder die Hälfte. Das verbliebene Viertel geht an die Schulbehörde, und da sickert es nun über die Inspektoren zu den Direktoren, zum Lehrkörper endlich, und allda wirds ein Pensum. Da sitzen in allen Klassen diese braven und unbraven Berufsmenschen, die fünfzig Karpfen und drei Hechte in die Schleuse der Versetzung zu treiben haben, und was meinen Sie nun, ist inzwischen aus der glorreichen Umformung meines Herders geworden?

„Und da, Renate, da haben wir die Sache beim Kopf und können sie lausen. Hilft es irgend etwas, die Einrichtungen ändern zu wollen? Nein, die Menschen müssen sich ändern, und nun sagen Sie mir um Gottes willen, wie ändert man die?“

Georg, heftig frierend, aber sonst frei, sah zu Renate auf, die sich langsam erhoben hatte.

„Ja, möchten Sie denn nicht zugreifen, Georg, um sie zu ändern, die Menschen?“ sagte sie leise. „Wie schön —“

„Ich, Renate, ich?“ Hohnlachend warf Georg sich zurück. „Ich? Ja, wie komm ich denn dazu? Einigermaßen sitze ich ja fest in meinem Leben, bin wenigstens fertig damit, aber — hab ich mich denn je geändert? Wie hab ich ein Recht? Gott, sehen Sie doch, mein Vater —“ Er verstummte, für Sekunden sprach- und gedankenlos, und sah Artaxerxes, den Schwarzen, über das Wasser heranziehn, plötzlich abbiegen und um Renate, die vorn am Ufer stand, einen weiten Bogen beschreiben, indem er leise fauchte.

„Mein Vater“, fuhr Georg mit Anstrengung fort, „war ein Mann der Tat. Er stand nun mal auf dem Boden, auf dem er zu schaffen verstand. Ich steh auf einem ganz andern, von dem aus die ganze Gemeinschaft, in der wir leben, falsch aussieht, oder so — warten Sie — nun, wie wenn Menschen, nicht wahr, deren Natur für eine bestimmte Höhenlage, ein bestimmtes Klima geschaffen ist, in einer andern, höhern oder tieferen Luftschicht angesiedelt sind, und was sie auch anfangen, es verbiegt sich, es wächst verdreht, was nach unten will, nach oben, und umgekehrt, ja, es ist doch wahrhaftig, als säßen sie alle mit dem Wipfel im Erdboden und ließen die Wurzeln in die Luft starren. Kann ich sie umdrehn?

„Mit einem Wort: daß ich hier sitze und Herzog bin, das ist der allergrößte Schwindel. Aber so geht es eben. Jahrelang habe ich nach diesem gestrebt und es für Glanz und Ruhm gehalten, wie der Dichter sagt, und nu — was is es nu? Wie die Engländer sagten, als sie auf dem Brocken gewesen waren: We have seen all the mist and missed all the scene. So ist es.“

Renate lächelte, und er lachte nach Kräften.

Fertig damit und still geworden, sagte er nachdenklich:

„Und das, Renate, das sind denn so die Dinge, von denen sich reden läßt.“

Renate, auf ihn heruntersehend, fragte freundlich: „Und die eigentlichen, die wir verschweigen —?“ Aber indem fiel Georg, erstarrt vom Erschrecken, ein: „Um Gottes willen, was war denn das eben? Das habe ich doch schon einmal erlebt! Nein, es war — anders, aber — die Worte, meine Worte eben —“

Er verstummte, jagend nach der Erinnerung durch hundert Bildstücke seines Lebens, und mit einer Erleichterung endlich traf er auf Bogners gutes Gesicht und hörte ihn die Worte sagen: Und das sind denn wohl so die Dinge, von denen man reden kann. Wann? Wann? Hier, in Helenenruh, am Ende auf dieser Bank? Nein, in einem Zimmer war es, im Gastzimmer. — Georg sprang auf und starrte die Bank an, fühlte indem die Hand Renates an seinem Arm, sah aufblickend ihre Augen, lächelnd in einer beängstigend süßen Besorgnis, und stammelte eine Entschuldigung.

„Haben Sie“, fragte er, „das einmal erlebt, daß man glaubt, sich an ein andres, ein Leben vor diesem zu erinnern? Aber nun weiß ich schon, es waren nur Worte Bogners, die ich eben brauchte. Vor drei Jahren — —“ Er brach ab. „Soll ich Sie ins Haus bringen?“

„Ja, aber auf einem Umweg bitte. Wirklich, es ist nicht so schlimm für meinen Fuß,“ bat sie, „ich möchte so gern ein wenig gehn und auch mehr von Ihnen hören. Sagten Sie nicht, im Besondern und Allgemeinen? Ja, dann müssen Sie mir schon das Allgemeine auch noch beweisen, und dann — dann werde ich Ihnen einen Rat geben!“

„Das wäre herrlich! Also gehn wir!“

Er nahm ihren Arm wie zuvor und führte sie an der Bank vorüber, weiter am Teich hin, um auf einen der Wege zwischen die Wiesen abzubiegen.

Renate (Fortsetzung)

Georg brachte seine Sprachmühle laut klappernd wieder in Gang.

„Ich sagte, glaub ich, schon mal, daß ich fertig wäre. Das heißt, ich habe mich abgefunden mit dem hier, dem sogenannten Ich. Man bastelt überhaupt viel zuviel dran herum, weniger wäre mehr, wie immer, aber — nun, was ich sagen wollte: heut morgen auf einmal wach ich auf, und kaum daß ich merke, ich bin für diesen schönen Charfreitag mir selbst überlassen, was fällt mir ein? Daß ich keinen Glauben habe. Oder das Christentum. Ja, ganz so sehe ich das auf einmal vor mir, als hätte ich das versäumt. Nun sagen Sie, Renate, Ihr Vater war doch Pastor, und Sie — verzeihen Sie die Frage! — Sie sind doch fromm? Ich fände wenigstens — es wäre schön, wenn Sie fromm wären ...“

Renate, die ihn nicht ansah, fragte, etwas tonlos, wie ihm schien: „Warum meinen Sie das?“

„Warum? Ja, erklären läßt sich das kaum ... Aber — eine gottlose — ich meine: wirklich gottlose Frau, nicht wahr, das erschiene mir schlimmer als eine Betrunkene. Ja, sollten nicht alle Frauen Priesterinnen sein? Bei den Germanen galten sie doch wenigstens als heilig, und — auf den Glauben, auf den Gott käme es vielleicht weniger an als — eben auf das Frommsein. Irgendwie Gottheit verwalten, einer Gottheit dienen, sei es Astarte, wenn sie glauben könnten an Astarte, aber — das ist ja freilich, was immer fehlt: der Glaube. Und Sie — Sie glauben aber an Gott?“

Er war bei diesen Worten mit ihr stehen geblieben, da sie an das Gatter neben dem Eichenwäldchen gelangt waren. Sich los von ihm machend, trat sie davor, legte eine Hand darauf, und während sie über das Land hinzublicken schien, sah Georg von Schatten ein ganzes Heer über die lichten Gefilde dieser Züge fallen. Wieder und wieder wollten sie aufglänzen, fast sich schüttelnd darunter hervorkommen, der Mund bewegte sich häufig, die Winkel bebten; mit einer Anstrengung machte sie sich endlich frei von den inneren Vorgängen und sagte mit rauher Stimme:

„Was wollten Sie denn wissen?“

Etwas beschämt, dies gesehen zu haben, und beklommen, da sie seine Frage nicht beantwortet hatte, schwieg Georg. Indem näßte ein Tropfen seine Stirn, und er bemerkte, daß Land und Himmel sich verdunkelt hatten. Der Himmel war wieder schwer grau, auf den zum Deich ansteigenden Wiesen wehte das Gras heftig, schon fiel ein feuchter Schauer von oben. Georg hängte Renate hastig ihren Mantel um die Schultern und sagte: „Ins Haus kommen wir nicht mehr, aber ich weiß hier einen Unterstand!“

Sie folgte stumm, scheinbar ganz willenlos am Wäldchen hinunter, bis Georg, in das Unterholz einbiegend, voranging, um die tropfenbehängten Zweige auseinander zu schlagen. Nach wenigen Schritten stand er vor einem riesigen Eichenstamm ohne Krone, in dem eine fast zwei Meter hohe Höhle in Dreieckform klaffte. Er ließ Renate eintreten, es war Raum in dem warmen mehligen Innern genug, daß auch er selber drin stehen konnte, und so standen sie eine Weile, wortlos, lauschend, wie der Regenschauer von hoch oben in den Wald einfiel und hier und da prasselte auf den jungen Blättern.

Tiefer ins Innre der Höhlung tretend — während Renate am Eingang eine Schulter anlehnte, ins Freie blickend —, sah Georg mit nicht geringer Beklommenheit in die enge Wölbung empor, die sich in der Höhe in Nacht verlor. Durch einen fensterartigen Spalt über ihm in der Rückwand sickerte Licht. Das ist eine Kapelle! dachte er, und daß er ihr nun so nah und in solcher Abgeschlossenheit mit ihr war wie noch nie. Ich glaube, ich könnte ihr gut sagen, daß ich sie liebe; Wirkung, irgendwelche Folgen würde es keine nach sich ziehn, und ich werde es auch wohl kaum tun.

Unter solchen Gedanken betrachtete er den reichgeschlungenen Knoten ihres Haars, dessen sondres Braun an einer Stelle matt glänzte und heller schien in dem aus dem oberen Spalt fallenden Licht. Nur die Biegung ihrer Nase war ihm sichtbar und an dem kaum merklichen Auf- und Niedergehn der violettblauen Schultern, daß sie schwer zu atmen schien. Weich lag die Stille umher mit dem Regengeräusch und fernem Gezwitscher von Meisen.

Renate sagte:

„Sie sagen, daß Ihnen ein Glaube fehlt. Was ist denn das für ein Glaube, den Sie haben möchten?“

Georg zauderte lange im Empfinden, nun ganz aus innen sprechen zu dürfen, und indem wurde sein Auge von einer neuen Erscheinung gefesselt. Das war nichts weiter als der Zweig eines Holunderstrauchs, der sich gegen den Eingang von draußen erstreckte. Die jungen, noch weichen, aber schon großen — vielleicht erst heut, nach dem Morgenregen so groß gewordenen Blätter mit kleiner Zackung waren sich in einer so liebreichen Weise gleich, so geschwisterlich auf ähnliche Weise immer wieder vorhanden, und dabei so genau gemacht und so schön, so einfach und klar in dem Dasein, in einer verborgenen, aber merkbaren und stillen Aufgabe begriffen, nur ruhig schaukelnd und ungestört, wenn eines ein Tropfen traf, daß Georg die Augen nicht abziehn konnte von dem freundlichen Bild und so lange gedankenlos blieb. Endlich fing er dann an:

„So bin ich hineingerannt in die Welt und habe immerfort ausschauen müssen nach allen Seiten. Was hab ich gewonnen? — Weltanschauung — das Wort will zu viel und giebt zu wenig, denn: was ist anschaun? — Nein: wahres Wissen um einige wenige Dinge, um das Eins ist not, — und ein tiefes ernstes Eingerichtetsein auf dies Wissen — das möchte ich wohl. Ach wohl, ich habe immer gedacht, es ernst zu nehmen mit mir, aber nun scheint mir fast, mir — und jedem heut, dem der Glaube fehlt, dem fehlt nicht er, sondern dem fehlt es irgendwie — am Ernst.

„Und dann, Renate,“ fuhr er traurig fort, „dann wäre Religion nichts, das einem zuflösse von außen, vom Himmel, oder woher es auch sei. Sondern sie wäre wie eine Eigenschaft des Wesens und Lebens, wie ein Temperament, wie Heiterkeit oder Schwermut, und was man mit ihr berührte, das müßte von ihr zu fließen anfangen.“

„Und das Christentum,“ hörte er nach einer Weile Renates Stimme durch den Regenstrom, „das, glauben Sie, könnte Ihnen —“

„Ich weiß ja nicht!“ rief er, sie unterbrechend. „Heut morgen sprach ich mit Anna und Benno darüber —, aber seitdem ist mir alles so zerfallen. Das Christentum ist für jenseits; ich will etwas für hier. Vom Ahnenkult der Japaner, das fiel mir heut morgen schon ein, las ich bei Hearn, daß es in ihm weder einen Unterschied zwischen Religion und Ethik gebe, noch zwischen Ethik und Moral oder Sitte. So etwas dachte ich mir. Die Gesetze der Gemeinde und des Hauses, der Familie, die, sagt Hearn, seien die Sittenlehre des Shintoismus, und Staat und Religion, Sitte und Gesetz, die sind eins. Klingt das nicht wundervoll? Und weiter erinnere ich mich, daß er sogar sagt, das wahre Leben jedes religiösen Gesetzes liege in seiner Bedeutung für die Pflicht des Menschen gegen den Menschen; in der Lehre von Recht und Unrecht, sagt er. Das, das ist es! Die sittlichen Erfahrungen eines Volkes, die zu Religion geworden sind. Verstehen Sie mich doch, Renate, ich will keine Religion für mich, sondern für Alle. Sie haben ja Alle keine, wie könnte ich sonst ohne sie sein? Also hätte unser Volk, hätte Europa keine sittlichen Erfahrungen? Warum auch übernahmen wir das Christentum? Sie wurde uns eingeimpft, diese unsinnige Lehre vom Leiden, diese versprechende Religion, die das Leben nimmt, statt es zu geben. Ja, und sehen Sie dabei: sind die Japaner vielleicht bessere Menschen?“

Er sprach, ohne noch fest zu wissen, was er sprach, immer die mattgrünen stillen Blätter vor Augen, deren jedes ihm mehr und mehr eine Offenbarung hinzuhalten schien in ihren ruhigen kleinen Götterhänden. Dann als er schwieg, hörte er deutlich die große Stimme der Einsamkeit über die niederfallende Flut.

Renate hatte ihm jetzt das Gesicht zugewandt und lächelte ein wenig. „Ach Georg,“ sagte sie dann, „ein bißchen, ein ganz klein bißchen erinnern Sie mich doch immer an Jules Verne.“

„Ach! Aber warum denn das?“

„Weil er“, erklärte sie, „zuerst eine Möglichkeit annimmt, zum Beispiel die, daß eine Kugel voller Menschen sich zum Mond schießen lasse. Und auf dieser unbewiesenen Möglichkeit baut er nun weiter, ganz wissenschaftlich und logisch und richtig, und alles bekommt seine Ordnung und wird belegt und bewiesen — bis auf jene Möglichkeit. Und Sie, Georg, Sie betrachten einen Gegenstand und sagen: der ist so! Und auf diesem ‚so‘ bauen Sie auch weiter nach allen Regeln der Logik, und es hat alles seine Richtigkeit, bloß das ‚so‘, das hat keiner bewiesen“, schloß sie lächelnd.

„Meinen Sie wirklich?“

„Ja, nannten Sie nicht das Christentum eine Religion des Leidens? Nun, und selbst wenn es das wäre, heute wäre, wer zwingt Sie, das anzunehmen?“

„Sie haben recht, Renate, ich — ich kenne es vielleicht gar nicht. Also habe ich unrecht? Überzeugen Sie mich doch bitte!“

Sie schwieg eine Weile und schien zu warten, daß der überlaut strömende Regen leiser würde. Dies geschah auch bald, und Georg hörte sie sprechen, von ihm abgewandt, dem Wald zugewendet.

Renate begann langsam, die Worte nur selten verändernd, eine Charfreitags-Predigt ihres Vaters zu sagen.

„Wir“, sagte sie langsam, „blicken aus der Gegenwart in die Vergangenheit; und sehen wir dort in der Ferne Christus, im Jahre Eins oder Dreißig, so scheint uns dort alles anzufangen wie die Rechnung unserer Zeit. Es scheint, als wäre von allem, was er brachte und war, nichts gewesen zuvor; als ob er ein noch nie dagewesenes Neues erfunden habe, und wie wäre das möglich? Nur auf einem Grund läßt sich bauen, nichts ist neu von allen Seiten, und wie alle Andern, die uns heute ein völlig Neues gebracht zu haben scheinen, war er ein Erneuerer, und es war alles schon vorher, und nur auf seine Weise war es noch nicht.

„Und ferner sieht, wer ihn von hier aus sieht, sein Leben nicht vom Anfang, sondern vom Ende. Vor dem Ganzen erhebt sich das Kreuz, überschattet das Ganze und macht sein Leben zu einem einzigen Stollengange des Leidens, einem Gange zum Kreuz, in der Gewißheit dieses Endes von Anbeginn. Die gewaltigen Worte von Golgatha, von der Vergebung der Sünden, vom ewigen Leben, von der Vollendung des Leidens, sie scheinen nunmehr das Einzige, scheinen das Gefäß, das Leben und Lehre, alles umschließt, und das Leben nur der Weg zu ihm, oder der Unterbau, der sie als Krone, als Schlußstein trägt, und es dient nur, sie zu erklären, zu stützen, zu vervollkommnen. So aber müßte man sie in Wirklichkeit sehn, als Krone und Schlußstein des Baus, aber das Eigentliche ist und bleibt doch der Bau und nicht seine Bekrönung.

„Und so müßte man ihm nachgehn durch dieses Leben, ihm, nicht als einem Halbwesen, halb wirklich, halb immer symbolisch, sondern als einem leibhaften, glühenden, wollenden, versuchenden Menschen, der kam, um zu helfen, nicht um zu sterben. Der Schritt für Schritt, immer eifriger, immer wissender, immer liebevoller, sich steigerte in Worten und Taten, erst Worte gab, dann Taten — jene, die heute die Wunder heißen — zur Erhärtung, als Bürgschaft der Worte. Er, der Liebe säte und Glauben empfing. Der leidenschaftlich lebte, ein Dichter, kräftig packend in die Speichen der Sprache, dessen Rede leben sollte und brennen, der ihr Augen gab und Lippen und schlagende Flügel, und der also leibhaftig redete und stets mit den Grenzen des Ausdrucks, in den Tiefen der Darlegung, und so kam es dann, daß er so widersprechende Worte sagte wie, daß kein Stein auf dem andern bleiben werde, bis daß es alles geschehe, und daß auch kein Tüttel vom Gesetz verloren gehn solle, und er nicht gekommen sei, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das sagte er, denn die jüdische Glaubenslehre, so erstarrt sie schon Christus empfunden haben mag in der Verpanzerung des Gesetzes, sie war unendlich reich an sittlichen Forderungen, an tiefer Weisheit des täglichen Lebens, und wie schön an die Erde gebunden mit dem Messias, der kommen sollte, nicht nach dem Tod, sondern zu lebenden Menschen der Erde. Und es ist die wundervolle Unterscheidung der jüdischen Heilslehre, daß sie das goldene Zeitalter nicht in der Vergangenheit sah wie der Grieche, nicht im Jenseits wie der Christ und der Brahmine, sondern in einer leibhaften Zukunft der Menschheit.

„Man kann sich wohl denken, daß auch er dies gewollt hat, und also sein Leben weiter sehn. Nachdem darin im Anfang alles helle gewesen war, überall Freude und Entgegenkommen, Dankbarkeit und Vertrauen, fing nun der Haß an, der immer an zweiter Stelle kommende; die Befeindung, — und langsam ließ sich gewahren, wie er sich verstrickte, und daß es nicht genug war, gut zu sein, daß es keinen Schutz gab gegen das Mißtrauen und gegen die Eigentümer des Hergebrachten, die sich bedroht schienen von jeder Neuigkeit. Und die Ahnung ging ihm jetzt auf, daß er einmal zu zeugen haben werde für das Wort seines Blutes, mit dem Blut. Jedenfalls — in den Beschreibungen seines Lebens findet sich vom Leiden kein Wort — obschon vom Dulden und Geduldhaben —, bis jene Ahnung begann. Und so kam die Abschiedsnacht.

„Jene Nacht, in der die ewigen Worte fielen, die Samenkapseln, aus denen das ungeheure Feld aufgehn sollte. Er war aus Jerusalem entwichen und kehrte zurück. Er sammelte nun seine ganze Kraft, Bürge zu stehn für die Lehre, und ach sehen Sie ihn nun, den zarten, glühenden Menschen, der sich unterfangen hatte, Alle zu ändern auf seinem Wege, sehen Sie ihn in der furchtbaren Stunde gewissen Todes? Nein, denken Sie jetzt an keine schönen Gemälde des ruhigen Abendmahls, denken Sie nicht, daß er nur, wie es heißt, auf Gethsemane seine Kraft verlor und Gott bat, den Kelch vorübergehen zu lassen! Wenn er die Kraft auch besaß, war jene im Garten die einzige Stunde der Angst? War da Ruhe und Gelassenheit in dem fremden dunklen Gastzimmer, in der sinkenden Nacht, der letzten, da schon das Urteil verlesen war und nur die Vollstreckung noch ausstand? War er nicht unendlich einsam, eine dürftige, frierende Frucht in der Hand des Todes? Und diese Hand war es, die nun zugriff und preßte und herauspreßte das Ewige, die Blutworte aus den ersten Wunden: Nehmet hin und esset, dies ist mein Leib!

„Ja, was war denn seine Angst, und was ist denn die Angst des Sterbens? Vergessen zu werden, vergessen von der Welt, vergessen zu werden mit seinem Werk, seinem lebendigen Willen, umsonst sich zu opfern, da er die Menschen doch kannte, umsonst die Marter zu leiden! Und da schmolzen ihm nun die glühenden Worte hervor, mit denen er sie bat, zu gedenken, sie, die Wenigen um ihn, die er selber gezogen hatte, die er kannte, denen er doch vertraute, von denen sich hoffen ließ, daß ein Strahl seiner Sonne sich in ihre Stirnen und Herzen eingebrannt habe, und: Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird! flehte er sie an, solches tuet zu meinem Gedächtnis. Und in letzter Glut, sie beisammen sehend, später in Jahren, allein, ohne ihn, zu seinem Gedenken versammelt, geheiligt und entflammt durch Treue und Sehnsucht und Hoffen, sagte er auch, daß sie sich das Letzte trinken würden im Wein seines Blutes, wenn sie nur glaubten: Reinheit, Unschuld, Vergebung der Sünden.

„Nicht wer ißt und wer trinkt, dem wird vergeben, sondern wer glaubt und wer liebt.

„Was kam danach? Dann kamen die Vielen, die aufschrieben, was sie von ihm wußten, einfältig die Einen, die Andern klug. Sie zeichneten sein Leben auf, das schon lange nicht wirklich mehr war, Legende war und Symbol, und zu Legende und Symbol geriet ihnen nun alles, außer dem frommen Einen vielleicht, dem Maler, der alles noch leibhaft sah. Und als dann die noch Spätern kamen, die Lehrer, die Ausleger, da war nun alles Symbol geworden; bitterster Schmerz nur Symbol für Schmerz, das Leben, das Feuer, die Zweifel, die Qualen, die Wonnen, all das Sterbliche, was um Unsterblichkeit erst rang, ehe sie es segnete: das war heraus, und es blieb ein Gleichnis vom Leiden.

„Was dann kam, wissen Sie, Georg.“

„Kaiser Julian“, sagte Georg schwer versonnen und atmete auf. Da war es zu Ende. Er hatte mit Inbrunst gelauscht — im Anfang; mit Eifer und Hoffnung die ganze Zeit; als es aber ein Ende nahm, blieb ihm nichts in der Hand, und er sagte zu sich: Botschaft — unendlich schön, aber so erging es mir immer, daß ich auf das höchste entzückt und beglückt war, Botschaften zu hören, aber was sie niemals enthielten, war Glaube.

„Kaiser Julian?“ fragte Renate, sich umwendend, „warum der?“

„Der letzte Christ“, erklärte Georg trübe. „Wissen Sie, was Strindberg von ihm sagt? ‚Er lebt wie ein Christ und lehrt dasselbe wie Christus, ist aber doch ein Christushasser.‘ Das ist so beschränkt, wie Strindberg merkwürdigerweise immer ist. Er war mir nämlich verwandt, glaube ich, und nicht etwa ein Christus-, sondern ein Christenhasser. Denn: mit dem echten Christentum, nicht wahr, das sah er, war es aus, mußte es aus sein, sobald es anerkannt, sobald es Staatsreligion wurde. Bis dahin war das Bekenntnis für seine Anhänger Gefahr gewesen, Martyrium, nicht wahr, und nur die Guten, nur die Echten und Gläubigen nahmen es auf sich. Wurde es Staatsreligion, kam es auch an die Schlechten, wurde es zur Formel, die es auszusprechen genügte, während es vorher Leben, Schicksal, Glauben und Sterben war. Also, nicht wahr, ist dieser Julian, der Abtrünnige, vermutlich der letzte christliche König gewesen, der gut war, ohne öffentliche Formel dafür, der aber annahm, es sei dieser Lehre besser, ausgerottet zu werden, als verbreitet. Ach, wie kam es, wie kam es denn, Renate? Da wurde es Zwang, nicht wahr? da wurden die Menschen mit Feuer und Schwert zu Christen gemacht, dann galt es für die alleinseligmachende Religion, und wer sich nicht selig machen lassen wollte, wurde gerädert, geteert und gesäckt. Ach, ist es nicht unerhört, daß diese, grade diese Religion der Geduld die erste unduldsame geworden ist?!“

„Ja, Georg, aber warum sagen Sie mir das?“

„Weil — also weil sie eben unannehmbar für mich geworden ist! Da ist mir alles weggeglaubt, möcht ich sagen.“

„Müssen Sie denn glauben?“ fragte sie plötzlich.

„Ja, das ist freilich die Frage! Von der bin ich ja eigentlich ausgegangen heut morgen. Denn — vielleicht ists doch nur Einbildung? Alle Millionen Menschen, die vor mir waren, haben geglaubt und gemeint, glauben zu müssen. Und wenn das nun ein Irrtum war, und ich kann mich nur nicht entziehen?“

„Das könnten Sie doch noch versuchen, Georg. Wie es scheint, kommt es Ihnen vor allem auf das Sittliche an, und — ich will Ihnen sagen, was mein Vater lehrte. Er hatte in einer außerordentlichen Stunde Einsicht gewonnen in die vollkommene Ordnung der Welt; in eine ewige, alles lenkende Weisheit. Und nun —“

„Aber kann man das lehren? Ich meine: lassen sich daraus Anweisungen ziehn für das Handeln, für die Gemeinschaft?“

„Gewiß. Denn wer mit vollem Glauben überzeugt ist vom Walten dieser Weisheit, wird der sich nicht bestreben, sein Leben, seinen Teil dieser Weisheit mit ihr in Einklang zu bringen? In Einklang jede Tat, jedes Wort und jeden Gedanken?“

Georg dachte lange nach und kam zu dem Schluß, daß er von solchem Glauben weiter entfernt wäre als von allem andern.

„Aber mein Gott, Georg,“ rief sie nun verzweifelt, „was ums Himmels willen wollen Sie denn eigentlich?“

Georg erwiderte ihren fast zornigen Blick mit möglichster Festigkeit und sagte:

„Es giebt eine Art Menschen, die ohne Glauben leben kann. Das ist Bogner. Er fiel mir schon ein, als Sie vom Maler Lukas sprachen. Der zeugende Mensch, der braucht keinen Glauben, denn aus der Zeugung brennt die Unsterblichkeit, und in der Unsterblichkeit thront Gott. Wie aber läßt sich zeugen, Renate? Auf zweierlei Weise. Im Werk und im Opfer. In diesem war Christus der Höchste, der sich so sehr — sagen Sie, ob ich begriffen habe! — so sehr sich als Opfer fühlte, daß jede Berührung mit den Menschen Liebe wurde, und das heißt Zeugen. Dazu gehört der grenzenlose Glaube an die Menschen, den ich nicht habe. Glaube an die Menschen, der ersetzt den Glauben an Gott, oder vielmehr: er ist darin.“

Georg hatte nun mit ganzer Flamme gesprochen, und mit einer schnellen Regung der Ergriffenheit sah er Renate sich zu ihm wenden und beide Hände auf seine Schultern legen. „Wir wollen uns doch bemühen, Georg, sollte uns das nicht fruchten?“

Aber schon, während sie die Worte sprach, sah sie in seine nah vor den ihren stehenden Augen einen Ausdruck eintreten, den sie um jeden Preis verhindern wollte, — und so gab sie, vergiftet von dem Schmerz, daß sie das Heiligste preisgeben wollte, das sie hatte, nur um dies zu verdrängen, was in seine Augen gedrungen war, aber beim Sprechen doch Wort um Wort kämpfend und hoffend, dies, was sie gab, müsse stärker sein und jenes verdrängen, bis es alleine leuchte und seine Seele erhelle, mit der sie Mitleid hatte, — gab sie das letzte Wort ihres Vaters vor seinem Sterben; sie sprach:

„Das letzte Wort meines lieben Vaters war so:

„Wenn es eine ewige Seligkeit giebt, so kann ihre Erscheinung nur die eines unendlichen und unablässigen Staunens sein; des Staunens über die unerfaßliche Herrlichkeit oder die herrliche Unerfaßlichkeit Gottes, das ist: des ewig seligen Daseins.

„Denn sie kann, die ewige Seligkeit, in allem nur das Gegenteil unserer zeitlichen Unseligkeit sein. Deren Erscheinung aber ist Gewohnheit, die alltägliche Wiederkehr, die Wiederholung und dadurch die Abstumpfung und Abnutzung, ja schließlich die Ohnmächtigkeit der Empfindung. Wir sind immerfort sterbend.

Dort aber werden wir immerfort lebend sein. Denn wir werden Eingang gefunden haben in das vollkommene und unaufhörliche Sein, dessen Wesen Liebe ist. In der Liebe ganz sein, das ist ganz lebend sein; sie, die Liebe, ist die einzige Erschafferin und Erhalterin aller Dinge, die unendlich Frische, alles Lebendige immer wieder neu, herrlich und erstaunlich Machende; so wie jeder Morgen den Tag, jeder Frühling die Erde, — so wie jedes tiefe Gefühl dich und die Welt immer wieder neu und erstaunlich macht.

„O aber wie willst du eingehen können in die ewige dorten, wenn du in die zeitliche Liebe hier nicht schon weit und tief eingedrungen bist! Und ach, so wende dich ab von jenem unsichern Sein in den schönern Himmeln, das du nur dein nennst in der Hoffnung, dein im Verzicht, dein aus deiner irdischen Kraftlosigkeit! Laß dieses eine sein dein Bemühn: lerne zu staunen! Lerne die mächtige Kraft der Neuheit, die schöpferische; lerne zu lieben, lerne zu leben! Wenn auch alles die Zeit daran setzt, dir immer wieder den Faden zu zerreißen, den du liebend von Augenblicke zu Augenblick deines Lebens legen willst: lerne ihn immer wieder knüpfen, verliere nie aus dem Auge seinen einzigen Schein von Gold, und um so süßer verlockend das Wort „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ dir im Herzen ertönt: sprich dagegen: „von Augenblicke zu Augenblick“ knüpf ich und webe ich das einzige Kleid meines Lebens. Ob es Gottes Hand einmal aus der meinen nehmen wird, mich für immer hineinzukleiden, oder ob sein ganzer Sinn der ist, von mir gewoben zu werden: das ist zu wissen nicht not. Not ist, zu tun. In dem Tun wird die Liebe, in der Liebe das Wesen, in dem Wesen das Leben sein, das weder zeitlich noch ewig, sondern das in der Liebe ist.“

Renate verstummte. Hoffnungsvoll mit schwellender Zärtlichkeit versuchte sie, durch ihren Blick Georgs über ihre Schulter gerichteten Blick zu sich herzuwenden, und sie sagte noch, lächelnd, obwohl schaudernd im Ernst des Todes: „Hast du verstanden?“

„Ja,“ sagte Georg, „ich liebe dich!“

Sie schluchzte auf. Das lange schon in ihr quellende Schluchzen brach haltlos über ihre Lippen, sie senkte eilig den Kopf, und nichts wissend von Enttäuschung, nur verzweifelt im Herzen, brach sie blindlings durch Buschwerk und Bäume, bis sie den Weg erreichte.

Georg wagte nicht zu folgen. Das war, dachte er mit geringer Beschämung, falsch, — und war es nicht trotzdem recht? Sie sah wie ein Engel aus, als sie sprach, und was kann man zu einem Engel, der kommt und Gott verbürgt und verkündet, was kann man andres sagen als: Ich liebe dich, Engel? — Und so empfand ich die Worte in diesem Augenblicke, nicht anders.

Er senkte den Kopf. Danach konnte er den Stamm nicht verlassen, ohne einen dankbarlich Abschied nehmenden Blick an den Holunderzweig zu heften, wobei er jedoch zu bemerken glaubte, daß dieser, der während der ganzen Zeit die kleinen graugrünen Hände mit so viel Geduld — damit er erkenne, was sie hielten! — hingestreckt hatte, sich jetzt völlig achtlos verhielt. Da wandte auch er sich zögernd und fand sich bald im Freien der Mittelallee durch das Wäldchen und in der voll einfallenden Mittagssonne. Ganz fern in der lichten Öffnung, in der die Wiese vor der Terrasse lag, sah er die kleine dunkelbläuliche Gestalt von Renate und ging ihr nach.

Fünftes Kapitel

Erasmus

Renate gewann sich erst wieder, als sie schon das Rasenoval in der Richtung zum Hause überschritt, und gewahrte sogleich von rechts her auf dem unter der Terrasse einherführenden Wege drei Gestalten, langsam schlendernd in kleinen Abständen wie schaulustige Fremde: zwei in schwarzen Lodenumhängen, von denen Einer sehr groß war, der Andre schwarzbärtig. Der Dritte in einem glänzend braungelben Ölmantel sah sich um, gewahrte sie und blieb stehn, indem er mit einer leicht zurückfahrenden Bewegung die Hände ausstreckte.

Nur flüchtig erkannte Renate in diesem Bogner. Denn sie stand, angewurzelt in einer betäubenden Dumpfheit, die schmerzhaft ihren Kopf und auch ringsum vor ihren Augen alles zusammenzog und verdunkelte, gespensterhaft anzusehn, da dennoch der Mittag glühte, wie eine Sonnenfinsternis. Und während sie inständig an der Frage nagte, wer jener große Mensch da vorn sei, zuckten mit blitzhafter Schnelle und Leichte Bilder des Tages durch sie hin: Das schmerzhaft dumpfe Sitzen und Reden beim Frühstück, Bennos betrübtes Gesicht; dann: wie sie auf der Bank gesessen hatte am Weiher, nun erleichtert, in einer süßen und trauervollen Hingegebenheit an das Licht und den Anblick der Grabesinsel, wo mehr als die eine Tote sich ausschlief. Die Wanderung mit Georg und ein heiliges Leichterwerden, immer leichter, ihrer Brust mit jedem ihrer Worte in der seltsamen Kapelle des Eichbaums. Und sie sah noch Georg in der Allee vor ihr stehn. Einen Augenblick später war all dies erloschen; sie spähte mit heißer Angst links und rechts, wohin sie noch entfliehn könnte, sah die Gestalten fern wie Gestalten eines Traumes und setzte sich jetzt schwer in Bewegung, gehend, ohne es zu spüren, und Schritt um Schritt mehr entleert von Bewußtsein. Sie sah die zwei Andern und sah sie auch nicht; sie ging auf den großen zu, auf Erasmus, der entgegenkam, den Hut in die Hand nehmend. Ihn starr anblickend fragte sie:

„Heut kommst du, Erasmus?“

Er erwiderte: „Es ist Charfreitag.“

Renate wollte noch nicht verstehn, obwohl sie aus dem Wort auch das unausgesprochene hörte: Dein ernstester Tag.

Warum war sein Gesicht so verzerrt? Diese furchtbare Erschöpftheit in den vorquellenden Augen! Und den Mund bewegte er geöffnet wie im Kauen. Dabei ging sie immer weiter, und er neben ihr, zur Terrasse, die Stufen hinauf, über die Fläche und in die offene Tür des Vogelsaals, wo sie dann keine Kraft mehr hatte und stehen blieb. Hier war eine kleine Tafel weiß gedeckt und mit Tellern am Rande. Sie mußte zu ihm aufsehn.

Tropfen standen auf seiner übermäßigen Stirn. Er bemühte sich offenbar schwer, ruhig zu scheinen. Sie fragte:

„Woher kommst du?“

„Von zuhaus.“

„Zu Fuß?“ fragte sie wieder, um etwas noch hinauszuschieben.

„Zu Fuß“, sagte er stumpf.

„Dann hast du wohl Hunger?“

„Ja,“ sagte er gequält, „Hunger.“

Sieh, da stand ein kleiner silberner Korb mit Brötchen, und sie hielt ihn schon und hielt ihn Diesem hin, der Hunger hatte, wie er sagte, aber er legte eine riesige flimmernde Hand darauf und sprach, während alles zu Boden fiel aus ihren plötzlich kraftlosen Händen: „Nicht danach!“

Ihr Kopf sank hintenüber; die Lider fielen zu; sie hob die Hände, legte sie auf ihre Brust und fragte so: „Willst du?“ und stöhnte.

Dann fühlte sie, daß sie gehalten wurde, legte willenlos den Kopf an der Schulter fest, die sie fühlte, und verlor sich für Sekunden in einem Schluchzen der Geborgenheit. Im nächsten Augenblick hatte sie sich losgerissen, und sie schrie irgend etwas — „Warte!“ schrie sie, „warte noch! einen einzigen Augenblick!“ — und fand sich nach einer Flucht, von der sie nichts wußte, auf den Knieen liegend vor einem Stuhl ihres Zimmers, in einer Angst, einer Ratlosigkeit, einer Zerflammtheit der Not, in der ihr die Sinne vergingen. Sie schrie, ohne Wort, ohne Laut, um Hülfe nach irgendwem, sie stammelte Sinnloses: „Nicht beten! nicht beten! Brennen! opfern! ich kann nicht! muß es denn sein?“ Und sie stand wieder, mitten im Zimmer, den Kopf in den Händen, wie blind.

Trotzdem gewahrte sie dann ihre Schreibmappe auf dem Tisch und wußte gleich, daß etwas darin war. Sie hielt sie schon in der Hand, klappte sie auseinander und zog, ohne sich zu besinnen, aus der innersten Tasche jenen großen, vergessenen Brief hervor, auf dem die Hand Josefs die Worte geschrieben hatte, die sie erkannte: ‚Zu lesen nicht vor meinem Tode; auch dann nur bei Lebensgefahr.‘

Aber sie zitterte nun so, daß sie sich setzen mußte. Als nach einer Zeit ihre flatternden Hände sichrer geworden waren, riß sie den Umschlag auf, nahm einen Pack stark und schwarz beschriebener Blätter heraus und las dort, wo ihr der Anfang zu sein schien, die Worte: ‚Auszug aus meinem Tagebuch vom 28. März bis zum 3. April‘ und eine Jahreszahl. 28. März — das war der Todestag ihres Vaters. — Sie las weiter den Eingang: ‚Seltsame und kaum zu erwartende Begebnisse ...‘, und in einer der nächsten Zeilen das Wort ‚Erasmus‘.

Es betraf sie, sie und ihn, da war kein Zweifel. Nun versuchte sie zu lesen, aber die Buchstaben tanzten vor ihren Augen bis zur Zimmerdecke hinauf; sie wartete, aber umsonst, und — Nein, das muß er doch lesen! dachte sie und ging zur Tür. Die Tür zum Vogelsaal, die gleich dahinter zu liegen schien, öffnend, sah sie den Erasmus mit dem Rücken nach ihr stehn. Während er sich wandte, erschien neben ihr Egloffstein mit einem Tafelaufsatz, und sie winkte Erasmus mit den Augen. Augenblicke später stand sie im Klaviersaal, drückte Erasmus die Blätter in die Hand und sagte: „Dies mußt du lesen!“

Er zuckte mit den Augen, als er die Handschrift sah.

„Jetzt?“ fragte er.

„Jetzt! Vorlesen, bitte!“ bat sie hülflos, zurückweichend, und sah ihn zaudernd in der Richtung der Fenstervorhänge gehn, die in der Sonne dunkelgelb glühten. Dort setzte er sich zwischen zweien auf einen Armstuhl. Sie ging ihm näher, lehnte sich ihm gegenüber an die Kante des Tisches und faßte sie mit den Händen, erschreckend vor ihrer Kälte.

„Das kann ich nicht lesen“, sagte er, die Hand mit den Blättern sinken lassend.

„Ach, Erasmus, du mußt aber! Handelt es nicht von dir?“ Er nickte. „Und von mir?“ Er bejahte wieder. „Dann lies!“ sagte sie aufatmend und legte die Hände zusammen.

Erasmus las.

‚Seltsame und kaum zu erwartende Begebnisse in einem Pastorenhause.

Wir kamen — Erasmus, der in Marburg zu mir stieß, und ich — am Nachmittag in B. an, von wo wir das Kirchdorf Flor in einer kleinen Gehstunde erreichen sollten. Es wurde ein schöner Gang. Die spätmärzliche Luft atmete vielfach umher, lau und gefeuchtet; auf der lehmig festen Straße standen noch Lachen vom Nachtregen, in denen Weißes und Blaues vom Himmel sich spiegelte. Dort oben war die jugendliche Sonne des Jahre rüstig am Werk, noch vor Abend die grauweißen Eiswälle des Gewölks fortzutilgen, die nun schon, weithin sichtbar nach allen Seiten, überall durchbrochen, davonjagten in voller Flucht. Mächtige Bläuen schwebten segelnd und großherzig dazwischen; die Sonne kämpfte rastlos. Strahlen vergoldeten das grüne Land in der Tiefe überall, und es dampfte. Unsern Weg entlang — Alleen weißblühender Kirschbäume — schloß sich Obstgarten an Obstgarten. Das waren ganze fremdländische Stadtsiedlungen niedriger weißer oder rosigbehauchter Kuppeln, Städte von unendlicher Zartheit, Leisheit, Empfindlichkeit. Zwischen ihnen, kräftig und derbe, lagen Wiesenstücke und einzeln die wirklichen Häuser, in deren Blumenvorgärten die großen Silberkugeln den Himmel zeigten, andre im Sonnenfeuer lohten und blitzten, und darunter blühten Aurikeln und Narzissen, standen die Tulpenreihn grade in papierner Buntheit um die Beetränder. — Ach Gott, sagte ich zu Erasmus, man muß zu andrer Zeit sterben! Und wir beklagten den toten Mann, dessen wir uns vom Begräbnis des Großvaters her wohltuend erinnerten. Wie er damals unerwartet erschien: weißhaarig und -bärtig, unter der mildesten Stirn, die ich sah, Augen von eisklarem Blau, tief leuchtend, mit dem durchbohrenden Blicke der Wahrheit, Lippen umspielt vom ruhigen Lächeln des Weisen: so hätte er uns hier grüßen sollen vom Zaun eines dieser freundlichen Gärten, Freund der Fluren, von dem es heißt:

Dann sieht man zwischen Reben ihn mit Basten

Die losen binden an die starken Schäfte,

Die harten grünen Herlinge betasten

Und brechen einer Ranke Überkräfte.

Er schüttelt dann, ob er dem Wetter trutze,

Den jungen Baum und mißt der Wolken Schieben.

Er giebt dem Liebling einen Pfahl zum Schutze

Und lächelt ihm, dem erste Früchte trieben.

Im Dorf, das sich allgemach aus der Straße entwickelte, wars um so stiller, als die ganze Bewohnerschaft im Freien, in ihren Gärten oder vor den Türen war, schwarz gekleidete Männer und Frauen in Gruppen überall, leise miteinander sprechend über ihre Heckenzäune hinweg oder auf den Türsteinen, und auf Bänken und Treppenstufen saßen die reinlichen Kinder verstummt, großäugig nur nach uns blickend. Schön, wie hier vom Wesen des Toten letzte Flämmchen verflackerten, von bekümmerten Händen beschirmt. Die Hauskatzen, die sich in sonnigen Flecken an Mauern putzten, schienen sich unbehaglich zu fühlen, obwohl sie sich unbesorgt stellten. Der Lehrer vor der Schulhaustür in einem Kreise von Männern, barhaupt, kenntlich an seiner überhohen Stirn, ein Mann in den dreißiger Jahren, den wir nach dem Wege zum Pfarrhause fragten, brachte die allgemeine Kümmernis mit wahrer Ergriffenheit zum Ausdruck. „Ein Mann,“ sagte er, „wie es keinen zweiten giebt. Unser aller Vater und lieber Freund.“ Er schloß sich uns an, augenscheinlich gesprächsbedürftig, und begann alsbald uns auf eigentümliche Dinge vorzubereiten, die wir sehen würden, über die er weiter nicht mit der Sprache herauswollte. Plötzlich hatten wir dann, um die Ecke in eine Seitengasse geführt, die reizvollste kleine Barockkirche vor Augen, durch deren, den Turmhelm tragenden Säulenkranz Himmel und Wolken sich bewegten, und leise wankten die Säulen.

Die Kirche lag ein wenig erhöht, vom Friedhof umgeben, den eine niedrige, leuchtend gelb getünchte Mauer umschloß; darüber blitzte von vielen Stellen her die Vergoldung schöner, altertümlicher Grabzeichen aus schmiedeeisernem Arabeskenwerk um ihr Kruzifix unter bogenförmigem Dach, und manche hatten mit starkem Blau übermalte Schilde. Zur Linken um die Kirchhofsmauer im Bogen führte eine alte Kastanienallee, blühend übersternt mit weißen und roten Kerzen, zum Pfarrhaus, von dem eine Seitenwand mit zwei Fenstern übereinander sichtbar war: ein zweistöckiger, warm gelb getünchter Bau von schlichtem Barock, wie ich hernach sah.

Auf die Einladung des Lehrers, uns die Grabstelle zu zeigen, gingen wir zwischen den gleich Betten säuberlich bereiteten Gräbern voller Blumen hindurch; allein das für den neuen Kömmling bestimmte Grab zeigte naturgemäß keinen andern als den unbehaglich gähnenden Ausdruck all dieser Löcher aus gelbem Sand.

Dafür hatten wir von ihm aus über eine nahe kleine Gittertür hinweg einen anmutigen Blick: im Ausschnitt einer wohl hundert Schritt langen Allee noch unbegrünter kleiner Kugellinden, deren Stämme durch beinah mannshohe grüne Hecken verbunden waren, das schmale Portal über drei Stufen mit sandsteinernen Bogenstücken überm Sims; darüber den leise vergoldeten Korb des Balkons vor der oberen Glastür, und endlich das gebrochene, schwarzbraune Dach, auf welches eine große und schöne, schneeweiße Wolke aus dem ganz reinen Blau sich eben so anmutig niedergesenkt hatte, daß der Lehrer davon berührt wurde und zu sprechen begann in einem zierlichen Vergleich mit einem Schrein oder Schiff, das sich auftun möchte, eine kleine Schar singender und musizierender Engel zu zeigen. Er fuhr fort mit gedämpfter Stimme:

„Sie“ — seine Dorfleute meinend — „glauben, daß er mit solcher Liebe an der Erde hing, daß er sich nun nicht losmachen kann; und sie würden gewiß nicht erstaunen, wenn solch ein Wunder sich zeigte, daß er mit himmlischen Instrumenten hinaufgelockt würde. Denn“ — er lächelte — „wir sind zwar gut lutherisch dahier, aber ganz vergessen ist die alte Lehre doch nicht. Davon zu schweigen, daß das Wunder das liebste Kind jeden Glaubens ist.“ Er verstummte, auf das schwärzliche Netzwerk der nächsten Lindenkuppel deutend. Die schwarze Figur einer Amsel saß darin, als sei sie gefangen. „Sie singt nicht,“ sagte der Gute, „alle Sänger sind seit vorgestern völlig verstummt. Freilich, —“ setzte er verständig hinzu, „viele sind ja noch nicht zurückgekommen, doch haben wir mehrere Meisenarten allein, die überwintern.“

Der Erasmus nickt ernsthaft. In Naturwissenschaft ist er mir mit dem Lehrer weit voraus, und so mag er lange bemerkt haben, was mir entging. Auch zeigte alles sich so frisch, luftig, österlich! Noch, als wir den Lindengang hinab und vor dem Hausportal waren, mußte ich mich künstlich vorbereiten auf Tod und Totes. Allein — was war nun das, was wir fanden im Haus?

Der Papa trat uns im Hausflur entgegen, verweint, aber doch mehr bedrückt aussehend als schmerzlich, grüßte uns leise und führte uns durch ein großes und mit weißen Abgüssen von Büsten und Figuren zwischen den Bücherregalen feierlich heiteres Arbeitszimmer in ein um so einfacheres Schlafgemach, wo der Schein zweier Kerzen im verdunkelten Tageslicht wie mit einem Ruck alles deutlich und fest machte, — sonderbar genug, wie immer das Kerzenlicht am Tag nicht erhellt, sondern zu verdunkeln scheint. Diese beiden, wächsern und lang in hohen Leuchtern, brannten auf einem durch eine schwarze Decke zum Altar verwandelten Tisch an der Wand; zwischen ihnen das Bibelbuch, blinkend in Goldschnitt, vor einem glatten braunen Kreuz, ohne Heiland, jedoch, wie der Tisch, mit einer Girlande von Aurikeln und Primeln umwunden. Zur Rechten davor der Sarg zeigte offen sein bettweißes Inneres; der Deckel lag daneben. Links stand das Bett mit dem Toten, von dessen Antlitz mein Vater das Tuch fortnahm.

Aber so hat von allen Toten, die ich zu sehen bekam, noch keiner ausgesehn am dritten Tage des Totseins. Anstatt in der wächsernen Gelbe, zeigte diese Stirn und das Sichtbare der Wangen sich so weiß wie das Haar und der Bart; weiß, durchscheinend gleich Alabaster, und die Hände waren ganz so. Erschreckend darin die zwei Augen; weitoffen, gefüllt mit stumpfem Blau, starrten sie nach oben.

Ob sie nicht zu schließen seien, fragte ich nach einer Weile. Der Papa stand weinend und zuckte die Achseln. „Wer sagt denn, daß er tot ist?“ murmelte er dann erschöpft. Ich fragte: „Der Arzt ...?“ Er schüttelte den Kopf und bat uns, ihm zu folgen.

Durch das Arbeitszimmer zurück führte er uns über den Flur und öffnete eine Tür an der Westseite des Hauses. Alle Drei standen wir da geblendet vor einem Raum aus Feuer und Gold; einem nicht eben großen, quadratischen Zimmer mit, wie ich bald wahrnahm, weißgoldenen Wänden, durch dessen gläserne Gartentür und das Fenster die tiefe Sonne in prachtvollem Strome hereinschwoll. Der Raum schien menschenleer; vor seiner einsam lodernden Feierlichkeit befremdete mich der Anblick von uns drei großen und schwarz gekleideten Eindringlingen, und ich sah die beiden Andern zögern, hineinzugehn. Nun blickt ich mich um, und ich glaube, selten etwas so Liebliches gesehen zu haben wie dies einfache Gemach mit weißer, leise golden getupfter Tapete, wo kleine graue Stahlstiche hingen, und mit goldgelben Möbeln aus den zwanziger Jahren, Schreibsekretär, Vitrine, Kommode und Spiegel. Ein runder Tisch im Kreise der Stühle trug einen Kristallkelch mit einigen Narzissen; er stand vor dem Sofa an der Wand, das mit einem erdbeerfarbenen Damaststoff bespannt war, und dessen eines Ende verdeckt war von dem einzigen Düsteren im Raum, einem schwarzen japanischen Wandschirm mit eingestickten silbernen Bambusrohren und dergleichen, auch er, wie alles umher, von der Verzaubrung des Lichts mit glühendem Rot überzogen. Fee oder Göttin, dachte ich, was für ein Wesen mag das sein, dem dieser Feuerschrein als Behausung dient? — Und noch, während ich den Papa auf Zehen durch den Raum gehen sah, besann ich mich vergebens auf Gestalt und Züge einer flüchtig gesehenen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen mit Namen Renate.

Indem rückte mein Vater den Wandschirm überseite und enthüllte die sitzende, gleich rosenhaft überflossene Gestalt eines schönen, anscheinend blonden Mädchens in weißem Kleid, das uns aus groß offenen, hyazinthblauen Augen so gläsern anstarrte, als wars eine Puppe. Den Erasmus sah ich zurückfahren. Es war freilich gespenstisch, sie ebenso hinter dem Wandschirm sitzen zu denken, wie sie nun fortfuhr, ohne Bewegung, ohne Blick.

„Aber sie ist nicht tot?“ hörte ich die Stimme meines Bruders sehr tief. Mein Vater verneinte stumm. Wir traten näher.

Sie war schön. Untadelhaft schön. Schöner vielleicht als alles. Die Starrheit der Augen beeinträchtigte die Umgebung. Das Haar, nicht blond, sondern von einem mir unbekannten hellen Braun, war, in der Mitte gescheitelt, so um die hohe Stirne gelegt, daß sie ganz frei blieb, dann tief nach unten gezogen, wie man es auf Bildern der vierziger Jahre sieht, und der Adel und die Reinheit dieses Giebels von Alabaster war unendlich ergreifend. Das ganze, schmale Gesicht war schneeweiß und durchscheinend klar wie des Toten; ebenfalls das Paar der Hände und bloßen Unterarme, und ich hatte so sehr den Eindruck des aus allen Gliedern zum Herzen hineingesogenen Blutes, daß es mir dort innen erschien wie ein Glasgefäß, herzförmig, blutrot gefüllt; in einer Figur aus gesponnenem Glase.

Ich rührte eine von diesen Händen an; eiskalt und steif; kaum zu bewegen.

„Was ist mit ihr?“ fragte ich. Allein statt einer Antwort vom Vater hörte ich das leise Klirren der Glastür und sah ihn ins Freie treten. Als ich mich nach Erasmus umwandte, stand er, die Hände auf die Tischplatte vor sich gestützt, übergebeugt, die Sitzende so starr anblickend wie sie ihn, ohne meiner zu achten.

Meinem Vater nachgehend, sah ich ihn jetzt so hübsch in dem Garten stehn, auf einem bewegten Grund weißgetünchter, weißwolkiger Obstbäume, blühende Zweige zu Häupten, zwischen Tulpenrabatten, etwas schief haltend wie zumeist den von der Abendglut noch rosiger als gewöhnlich gefärbten Kopf, seine goldene Brille putzend mit dem Taschentuch, — so hübsch, wie gesagt, so lebendig, daß ich ihm ernsthaft wünschte, als Pfarrer hierherzugehören, anstatt den Fabrikherrn spielen zu müssen, was ihm doch nie recht gelang.

Ich begab mich hinaus zu ihm und wiederholte meine letzte Frage: „Was ist mit dem Mädchen?“

Er sagte: „Seit ihr Vater tot ist, ist sie so. Er starb — der Arzt sagte, daß er starb; wir waren Beide zugegen — er starb unerwartet gegen Morgen. Ich wollte sie rufen, als er noch atmete; da saß sie schon fast wie jetzt, nur furchtbar keuchend, sonst starr. Ich mußte sie verlassen. Seitdem haben Beide sich nicht verändert. Nun schon den dritten Tag. Und“, er stockte, „ich fürchte mich, ihn zu begraben.“

Ob er glaube, fragte ich, daß da Zusammenhang sei zwischen der Lebenden und dem Toten? Und ich wiederholte ihm die Worte des Lehrers vom Nichtfortkönnen des Toten.

„Muß mans nicht glauben?“ murmelte er gedankenlos, ich weiß nicht auf welchen meiner Sätze als Antwort.

„Der Arzt?“

Sei ratlos wie er selber.

Das Verhältnis, meinte ich, von Vater und Tochter sei zweifellos sehr innig gewesen.

„Das innigste!“ Nun wurde er beredt. „Sie lebten jeder nur dem Andern und durch den Andern. Ihre Mutter starb ja, als sie zwei Jahre alt war. Mein Vater hatte ihn verstoßen. Alldas mußte sie ihm sein. Wenn du im Dorf fragst, wirst du Wunder erzählen hören von dem Mädchen, seiner Schönheit und seiner Klugheit, seiner Lieblichkeit, Güte und Würde. Er war einer der tiefsten Menschen, und sie wuchs ganz aus seinem Erdreich, in seiner Luft. Die Leute sagen: sie war sein lebendiger Segen unter uns. Ich hörte sie die Orgel spielen, kurz vor seinem Tod. Stelle sie dir vor —, eine andre Cäcilie.“

„Vermutlich also“, fragte ich in plötzlicher Eingebung, „spielte auch dein Bruder die Orgel?“

Er nickte.

„So muß man“, sagte ich, „die Orgel spielen, um sie aufzuwecken.“

Er sah mich verwundert an. Das sei ein Gedanke, meinte er, wie ich darauf komme?

„Willst du spielen?“ fragte er nach einer Weile.

„Leider“, mußte ich bekennen, „ist mir die Orgel ganz fremd. Es müßte auch ein Stück sein, das der Tote kennt, ein Lieblingsstück vielleicht, und ich lese, wie du weißt, keine Noten.“

Damit schlug ich den Lehrer vor, der wahrscheinlich Organist an der Kirche sei.

Ich hatte mich aber noch kaum zur Türe zurückgewandt, so ereignete sich das Seltsame, daß die Orgel ertönte. Klar auftretende, lang gezogene Töne kamen herüber, andre Stimmen mischten sich präludierend herein, noch leise; dann mit plötzlich erschreckendem Brausen und voller Macht breitete sich die Kantate Bachs: Mein gläubiges Herze, frohlocke sing scherze! wundervoll jubelnd in die Lüfte. — Später erfuhr ich dann, daß der Lehrer, dem es eingefallen war, das „Leibstück des Seligen“, wie er sagte, zu spielen, es freilich nicht aus unserm Gedanken heraus, sondern schlicht aus seiner und Aller Bedrängnis gespielt hatte.

Als mein Vater und ich in die Tür traten, hatten wir die befremdliche Erscheinung, in der rechten Ecke des Sofas uns gegenüber — in der linken saß das Mädchen — den Erasmus sitzen zu sehn; den Arm auf der Rücklehne, seitwärts und zu ihr gewandt, saß er still und wie sie unbeweglich.

Aber keine Wirkung des Orgelspiels ergab sich; nicht die geringste.

Ich weiß eigentlich nicht, warum das so war. Wenn es wahr war, daß diese Beiden einander so verhaftet waren im Leben, daß sie sich nicht losreißen konnten; daß nun die Lebendige hier angeschlossen war an die Erstarrtheit des Todes, und der Tote angeschlossen ans innere Feuer des Lebens, zu einem grausamen Gleichgewicht Beide des Nichtsterbenkönnens und Nichtlebens, — so mußte es einen Weg geben, das magische Band zu zerreißen. Magische Bande sind stark, aber zart, und allzuzart immer gegen das Hiesige. War die Erstarrung so tief? War sie ganz taub für die Welt? Sie blieb unverändert.

Es dunkelte derweil. Der Choral: Nun ruhen alle Wälder legte sich wie ein dunklerer Strom über das schon versinkende Licht, und als er verstummte, hatte die schweigsame Welt sich geteilt in weite, leuchtende Klarheit oben, in verschattete Enge unten, wo mit bleicherem Weiß nur die blühenden Kuppeln noch das Licht festhielten.

So ist es nun. Die Nacht kam; ich übernahm für den erschöpften Papa die Wache beim Toten und schreibe in mein Buch, das ich durch Lis vorahnende Aufmerksamkeit im Koffer fand. Wo ist Erasmus? Ein drittes Mal war ich eben an der Tür von Renates Zimmer, und nach wie vor fand ich ihn in der Ecke des Sofas, ruhig scheinbar, sitzend mit untergeschlagenen Armen, ihr zugewandt, die dasitzt unverändert, eine lebensgroße Puppe, starräugig im Dunkel.

Geheimnisvolle Vorgänge fördern das Geheimnisvolle zutag. Doch war mir stets klar, daß in diesem riesigen und etwas ungeschlachten Leib sehr zarte Kräfte daheim seien. Und so wie Andre die feine Dryas das Blattwerk der Eiche haben zerteilen sehn, so konnte ich wohl im Nachtdunkel, über seine Schulter geneigt, das erschimmernde Haupt jenes Rätselhaften gewahren, dem es einmal sich loszumachen gelang und seine Kraft zu gebrauchen.

 

Die dritte Nacht unseres Hierseins, die fünfte seit dem Tode des alten Mannes. Es ist nichts verändert. Wir haben ihn nicht begraben. Selbst wenn ich nicht an einen Zusammenhang der zwei Menschen glaubte, dessen gewaltsames Zerreißen dem lebendigen Teil überaus schädlich sein könnte, würde ich nicht dazu raten, einen Menschen unter die Erde zu bringen, bevor er deutliche Zeichen des Verstorbenseins, der Verwesung von sich gab. Die Luft aber in diesem Haus —, sie kommt mir fast reiner als anderswo vor. Seitdem ich es weiß, empfinde ich lebhaft das Verstummtsein der redebegabten Natur, und ich habe Stunden damit verbracht, in der Nähe des Hauses Spatzen und Meisen zu beobachten, die keinen Laut hören lassen. Äußerst selten einmal ein schwaches Zirpen, das augenblicks erstirbt; sonst nichts. Ärzte, die wir riefen, kamen und gingen kopfschüttelnd: wer den Toten sah, sprach vom Mittel des Aderöffnens; hatte er danach auch das Mädchen beobachtet, so hüllte er sich in Schweigen. Der Papa ist am Rande seiner Kraft, ich selber bin ungewöhnlich erregt. Dies dauert bedenklich lange; kein Ende ist abzusehn, — bei meinem Dämon, ist das Liebe, was dergestalt Lebendes und Totes zusammenschmolz, oder ist es nur Blut? Und wenn ich mich hineindenke: Allmächtige Dinge und andrerseits soviel Ohnmacht? Dann: Wie schauerlich dieser Kampf der zwei Kräfte, von denen keine die Oberhand gewinnt, und man glaubt sie keuchen zu hören durch die ewige Stille: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn! Und wo ist hier Jakob, wo der Engel? Wie lange die Nacht solchen Ringens? Wie lang zum Hades, Psyche, dein Weg?

Und nun dazu: emsig, emsig die dritte Kraft bei ihrer Arbeit zu wissen, die sich hineingraben will in den Gneis. Erasmus, seltsamer Geist, der sich augenblicks, so bereit, als habe er nichts andres im Sinne gehabt, in dieser Aufgabe verfing, — davon zu schweigen, daß kein Andrer vielleicht sie gesehen hätte. Solang wir hier sind, während mein Vater hülflos seinen Gestorbnen betrachtet, ich mich in der Landschaft herumtrieb, mit den Dorfleuten sprach — die übrigens gar nicht so verstört scheinen, sondern vielmehr als verstünden sie sehr gut, was hier vorgeht —, oder ruderte auf dem Rhein, der in einer Biegung halbstundenweit dem Dorf nahe kommt, — tagein und tagaus, nachtein und nachtaus weicht er nicht von dem Fleck, den er besetzte. Wann er schläft, kann ich nicht sagen. Speise nahm er erst keine; später, als wir Milch und Weißbrot neben ihn stellten, merkten wir nach einiger Zeit in Pausen einige Verminderung und konnten es auch erneuern. Der Wille, sagt man, tut Wunder. Und der seine, geschult seit immer, wie ich glaube daß er ist, muß ihm folgsamer zu Dienst sein als jedem Andern. Möchte es ihm dann gelingen, diese reine Seele in die seine hinüber —

 

Ich wurde unterbrochen. Erasmus kam ins Sterbezimmer, wo ich schreibend saß, augenscheinlich auf der Suche nach mir, denn er erklärte — ganz ruhig übrigens, beinah sanft —, er verlasse das Haus für eine Weile und würde mich später um etwas zu bitten haben. Seitdem sind drei Stunden vorüber; auch dieser schön ersonnene Versuch ist gescheitert, aber die Ungewöhnlichkeit des Vorgangs macht mir ihn wert, ihn zu beschreiben.

Erasmus also kehrte zurück, eine Decke in der Hand, in die er das Wesen hüllte, worauf er sie auf die Arme nahm und mich aufforderte, mit ihm zu kommen.

Die Nacht war sehr kühl, sternlos, windig und feucht; vollkommen dunkel. Erasmus mußte die Wege in der Gegend von seinem früheren Besuche her kennen, denn er ging mit vollkommener Sicherheit durch das Finster, kaum einmal strauchelnd im aufgeweichten Boden. Da meine Augen die Gabe haben, besser als andre im Dunkel zu sehn, erkannte ich bald den Weg, der durch die Weingärten zum Rhein führen würde. Erstaunliche Einfälle, bei Gott, hat dieser Mensch! Physik und Metaphysik, welche von beiden, dacht ich, hat ihn auf diesen Gedanken gebracht, denn ich will nicht mehr Montfort heißen, wenn er nicht vorhat, das starre Geschöpf in den Rhein zu tauchen. Sie ist aus diesem Boden gewachsen, der Gedanke ist vernünftig, die Natur hat unbekannte Kräfte, Verbindungen, Zauber, — wahrhaftig, er hat recht, man muß sie in den Strom versenken, und was auch die Folge sein wird, Tod oder Leben, das unnatürliche Band wird zerreißen, und wenn er Glück hat, so gelingt es ihm, ihre Seele feurig aus dem Gewässer zu heben, wo er ein eisiges Bildnis versenkte. So dacht ich und fühlte das Kostbare der vom Rhein herüber hauchenden Luft von fast feuriger Kälte; reinen Odem der Erde und so ungebraucht, daß ich mich zurückversetzt fühlte in der Zeit um Jahrhunderte.

Wir kamen ans hohe Ufer, das uns für Minuten der Mond, ein kaltes Halbgesicht im Gewölk, sehen ließ, dazu in der Tiefe die ruhig nachthin strömende Fläche, rastlos erfüllt von einem andern als dem Geiste der Feste, — zu der eine schmale Treppe zwischen den Rebstöcken hinunterführte. Der Schattenriß eines langen Kahns war dort unten. Die kahlen Ufer, hügelig im verfahlten Licht, erschienen öde. Mein Bruder senkte seine Last auf den Boden des Nachens und legte sie, wie sie liegen konnte, seitwärts, worauf er zwei lange Stangen aufnahm und mir eine gab mit dem Bemerken, hier sei es zu tief für ihn, aber weiter unten im Strom eine Furt. — Weshalb er schon jetzt seine Kleider abwarf und am Ufer niederlegte, erklärte er mir noch, indem er mich bat, falls das Mädchen zu sich kommen sollte, allein mit ihr ans Ufer zu fahren und ihn zu erwarten, der zu Fuß zu seinen Kleidern zurückgehen würde.

Im Fahren hatte ich dann meine Freude an seiner heroischen nackten Gestalt, die in der Spitze des Kahns mit erhobenen Armen gleichmäßig einmal über das andre die Stange ins dunkle Gewässer senkte und wieder heraufholte. Wir stießen den Kahn in die Strömung und konnten ihn treiben lassen. Wir fuhren lautlos und rasch; kaum vernehmbar, von den Ufern her, rauschte das Wasser. Einige Minuten später hörte ich den Kiel auf Steinen knirschen; wir saßen fest. Erasmus sprang in die Flut und watete zum Ende des Kahns, wo sie bereits seine Hüfte überstieg; ich hob die Scheintote aus ihrer Decke, legte sie in seine Arme, sah ihn tiefer ins Dunkle watend versinken und sie mit ihm. Als nur noch ihr Haupt, bleich und wie steinern, die Fläche überragte, schienen mir anderthalb Jahrtausende noch nicht gewesen zu sein. Der Rhein floß durch die römische Provinz; wir senkten geheim ein Götterbild in den Strom, letzter Schutz vor den Eifernden einer neuen Lehre.

Erasmus dauerte aus. Mir fielen die Augen zu, geschläfert vom einförmigen Gurgeln des Flusses, der lauter und lauter zu rauschen begann. Dann hörte ich die Arbeit des Gewaltigen durch die Jahrtausende, die den Schiefer benagte, furchtbar rastlos. Die Einsamkeit wuchs überm Strom. Es war kalt. Aber in einem Halbjahr würden diese jetzt kahlen Hügel überschüttet sein mit den süßen Gefäßen des Feuers, eine einzige Glut alles überwogt haben, brennend vom ausgeschütteten Pfeilhagel einer unerschöpflichen Sonne. Und hier bei mir im Strom — — bei halbgeöffneten Augen sah ich im Zenit der Nacht quellendes Licht, Wolkenumrisse, und jetzt in meiner Tiefe dunkel die Fläche des Stroms, glänzend darin eine Mannsschulter, nackt, ein dunkleres Haupt, und daneben das Alabastergesicht über dem Wasser. Ganz mächtig im Eisigen dieser Flut spürte ich da die lebendige Glut seines Leibes, seiner Seele, und so tief, daß es mich schauderte meiner Kühle. Rufe die Götter, dacht ich, Pygmalion! Ich ward fast neidisch.

Ich fuhr auf, da etwas vor mir niedergelegt wurde, — der schöne, leblose Leib in triefenden Kleidern, und Erasmus, erschöpft, übergeneigt aus dem Wasser, die Fäuste im Kahn aufgestützt, keuchte etwas wie, daß er sie in Blut baden möchte.

In Blut. Er meinte das seine und starrte mich böse an, als ich sagte, daß man vor einigen tausend Jahren ein jugendliches Roß oder jungfräuliches Rind geopfert haben würde. Die Unselige dauerte mich wahrhaftig, und dieser Blutgedanke ließ mich lange nicht los, während wir uns stromauf stakten. Alle Zauber wohnen allein in dem Blut. Ein mittelalterlicher Quacksalber würde ihr längst eine Ader geschlagen haben und womöglich das Rechte getroffen.

In der Haustür empfing uns die alte Dienerin, die von Erasmus verständigt sein mußte, denn sie ging uns wortlos voran bis in ein kleines weißes Schlafzimmer, wo sie Licht, Decken und Tücher bereit hatte, und wo wir sie mit der Leblosen auf ihrem Bett allein ließen. Erasmus frottierte sich warm, legte sich und schlief alsbald ein; weniger abgemattet als er und heftiger erregt machte ich mich ans Schreiben. Eben ist die Sonne am Aufgehn.

 

Fünfter (oder siebenter) Abend. Mein Vater entschloß sich, das Begräbnis für morgen anzusetzen. Die ganze Umgegend ist in Aufruhr, die Leute strömen in Scharen herbei, es kostet Mühe, sie vom Zimmer Renates fernzuhalten, wo unveränderlich, wie ich ihn fand am Vormittag nach jener Nacht, Erasmus ihr gegenüber sitzt, und sie anglüht rastlos mit brennenden Augen der Seele. Dieser Mensch macht mir Grauen mit seiner Leidenschaft. Wenn er seine Seele aushauchen könnte als eine Glutwolke um die Erstarrte, so würde ers tun. Armer Pygmalion, wenn sie wirklich erwacht und ist dann nur ein Mensch, der nichts weiß und nichts ahnt, was dann?

Gleichfalls unwandelbar der Tote auf seinem Bett, unverwesend. Neben dem sitzt sein Bruder, unselig, verfallen und hülflos. Ich greife mir an den Kopf und frage, woher das Ende kommen soll?

 

Und da ist es, das Ende.

Preis und Ehre dem Siegreichen! Ja, alle Ehrfurcht, mein Bruder, vor dir, ich hatte das nicht von dir gedacht, und sei überzeugt, ich werde es dir nicht vergessen!

Schlafen gegangen nach Mitternacht, erwachte ich vom dumpfen Laut eines Falles und sah, daß die Sonne noch über den Rand der Erde nicht herauf sein konnte. Das seltsame Luftgrau des Morgens. Ich lausche, höre Bewegung unter mir im Zimmer des Toten, wo mein Vater auf einem Diwan schläft, springe aus dem Bett, eile treppab und treffe im Flur mit dem Vater zusammen. Wir öffnen die Tür; vor uns, fast daß wir über ihn strauchelten, liegt ein riesiger Körper, Erasmus. Und das Mädchen, Renate? Es ist hell genug, daß wir sehen können: sie sitzt dort, aber nicht wie bisher. Ihr Kopf ist vornüber geneigt, die Schläfe liegt am Polster der Lehne, wir treten hin zu ihr, da hören wir schon, daß sie atmet. Sie schläft. Ihre Hände, ihr Gesicht waren heiß, ihre Wangen glühten, kleine Perlen standen in der Nähe des Haars. Als die Sonne da war, konnten wir sehen, wie die Wangen gerötet waren: ein ganz helles, scharlachnes Rot, zart wie Morgenhimmel und so unschuldig wie eines schlafenden Kindes.

Auf die Bitte meines Vaters hin hob ich sie auf und trug sie zu ihrem Bett, ohne daß sie erwacht wäre. Ihre Glieder waren sehr weich; sie war wieder schwer.

Dann, mit einiger Mühe, gelang es uns, den Erasmus zu wecken, der beim Fortgehn dort zusammengefallen sein mußte, und ihn mit vereinten Kräften treppauf und zu seinem Bette zu schleppen, wo er hinfiel und schlief. Später am Tag sah ich ihn dort. Auch sein Gesicht glühte, erschöpft, schweißbedeckt, gemagert, aber umlodert von solchem Adel, daß ich mich abwandte.

Der Tote aber verfiel so schnell, daß wir nicht genug eilen konnten, ihn einzusargen. Schön war noch dies: Wie jeden Morgen war der wackre Lehrer der erste, der anzufragen kam. Nachdem er die Schlafende gesehn, entfernte er sich eilig, und Minuten später hörten wir die Orgel überlaut Te deum laudamus brausen. In die Haustür tretend, sahn wir den Heckengang unter den Linden von der Kirche bis nahe ans Haus gefüllt von knieendem Volk. Mein alter Vater winkte ihnen mit den Händen und weinte erschöpft auf; da brachen sie Alle in Schluchzen aus, das die Orgel übertönte. Mir fiel ein, daß es gut sein möchte, wenn der löwenhafte Zerreißer jenes Bandes auch in sich selber die alte Kette zerrissen hätte, die ihn solang als gefesselten Sklaven zwischen uns herumgehen ließ. Siehe da, der Sklave war stärker als Alle!‘

 

Renate befand sich, als die lesende Stimme schwieg, nicht mehr an dem Tisch gegenüber, sondern in der entlegensten Ecke des Raums, wohin sie ohne ihr Zutun geraten war. Dort saß sie im Stuhl vor dem Harmonium, die Hände lautlos ringend auf dem Deckel, dann und wann aufblickend unter den Schnitten der Qual, wo in klar leuchtenden Farben ein Bildwerk hing, eine sitzende weibliche Gestalt in der Landschaft, an die sie umsonst ihr wortloses Stammeln richtete. In ihrer übermenschlichen und namenlosen Aufgabe begriffen, grübelte sie wieder und wiederum väterlichen Lehren nach, doch nicht ihm selbst, dessen Namen nicht einmal sie zu denken wagte; unzähligen seiner Auslegungen um den Kern seiner Lehre, die ihr zu einer Erkenntnis helfen sollten, und eine ewige Weile lang schien alles vergebens. Plötzlich sah sie Erasmus dasitzen, ganz still, den Kopf gesenkt, die Blätter noch in der Hand, nichts als ergeben, — und mit einem zuckenden Schrecken spürte sie, daß etwas am Gelingen war, wie ein Ding, an dem sie würgte und knetete, oder als hätte das Ungeborene eben gelächelt. Und nun weiter, weiter in der ganzen wütenden Not und Mühsal und Verzweiflung und Zerrissenheit des Gebärens, wälzte sie Glied um Glied und Atemzug um Atemzug näher zum Leben, was herauf sollte aus dem erstickenden Schlund, — und endlich mit einem reißenden Schmerzensstrom und einer sausenden Wonne zugleich, fuhr es, stand es, schwebte es in das Leben, und es war Demut.

Glieder und Odem und Blut aus seliger Demut: ihre geborene Seele trug sie nun, lallend, weinend, behutsam, noch ungläubig, — trug sie durch einen Raum weitoffener Leichte zu jenem Menschen hin, der da saß wie ein stiller Mönch, und sagte: „Mach du mich rein!“ Ihre Knie beugten sich tiefer, ihr Nacken bog sich in dieser neuen, heiligen Wonne der Dienstbarkeit, ihre ausgestreckten Hände brannten von Eifer und Seligkeit, das reinlich erschaffene Juwel der Empfängnis hinzulegen. Und so lag sie wohl auf dem Boden, lächelte, weinte und sagte:

„Ich will dich lieben!“

Erasmus (Fortsetzung)

Als Renate die Augen aufschlug, fühlte sie sich zuerst sehr müde. Mit einem schwachen Gefühl der Enttäuschung, daß sie nicht schlief, erinnerte sie sich, die Besinnung nicht verloren zu haben, und deutlich auch, daß Erasmus sie aufgehoben und davongetragen, dabei zweimal nach dem Weg zu ihrem Zimmer gefragt —, ja, daß sie zuerst gesagt hatte: In mein Zimmer! Sie hatte die Wände, das Treppenhaus an sich vorbeiziehen sehn, und nur war das in einer Art Starre vor sich gegangen; ihr Körper schien Ähnlichkeit zu haben — und vielleicht auch die Seele, — mit einem von betäubendem Schlage getroffenen Glied, das empfindungslos geworden ist, und sie meinte noch jetzt, ihre Hände, ihre Füße, ihren Kopf nicht zu fühlen. Als sie aber jedes ganz leise bewegte, war es da, nur äußerst leicht und entfernter als sonst. Und dies — sie wußte es wohl — diese Leichte, diese Wärme, das war alles wie damals; damals als er, der sie heute trug, sie zum ersten Mal aus dem Eise befreit hatte ... Daß sie die Augen geschlossen hatte, als sie niedergelegt wurde, wußte sie, und bestimmt, daß sie höchstens einige Minuten geschlafen hatte. Nun sah sie die Fenster ihres Zimmers, das im Schatten lag, etwas kahles Gewipfel und den Regen, der leicht niederfiel. Es war hell draußen von entferntem Sonnenschein, und sie hörte Gezwitscher. Und im Fenster zur Linken — sie war etwas geblendet — befand sich ein menschlicher Schatten: Erasmus.

Plötzlich spürte sie die Wärme, in die sie gebettet war, ja, die ihr ganzes Wesen erfüllte, und daß sie trotz schwerer Müdheit mit einem unendlichen seelischen Behagen gesättigt war. Eine von innen quellende Wärme, die duftete und an die wundervolle Wärme eines uralten Kachelofens erinnerte mit seinem Holzfeuer und vielen kleinen Darstellungen aus dem Leben Mosis, im heimatlichen Flor. Sie meinte, sich weder bewegen, noch einen Laut hervorbringen zu können, aber das Gewebe der Wärme, aus dem sie ganz und gar bestand, regte sich so atmend auf und nieder, daß sie zu fühlen glaubte, wie sie es mit ihren Atemzügen an sich zog und ausdehnte, und sie dachte: ich bin wie ein Licht.

Die Helligkeit blendete nun nicht mehr, und nachdem sie ihr Auge von der Steppdecke, mit der sie bedeckt war, über die Wände mit ihren vielen kleinen, zartfarbenen Pferdebildern hatte gleiten lassen, ließ sie es an Erasmus haften, leicht hängen bleibend wie ein Falter.

Er saß auf der Fensterbank mit einem Oberschenkel, das andre Bein leicht ins Zimmer gestreckt, das ihr der Tisch vor dem Sofa etwas verdeckte, und sah, etwas vorgebeugt, nach unten, so daß sie sein Gesicht fast ganz im Profil vor sich hatte. Dabei hatte seine Haltung mit dem einen auf den Schenkel gestemmten Arm einen Ausdruck von Ermüdung und großer unbewußter Würde. Und nun mit immer der gleichen Leichtheit im Bewegen ihres Blickes alle Linien seiner Züge nachziehend, fand sie, daß er sonst nicht schöner geworden war. Das Ganze schien so überaus unglücklich zusammengestellt; das Kinn viel zu klein, obgleich es an sich recht fein, ja fast zierlich gemeißelt war; die Oberlippe zu lang wie die Nase, die obendrein eingedrückt war; und nun erst diese zwei unmäßigen Buckel der Stirn über den überstarken Augäpfeln, Felsen gleich, die aneinandergelehnt sind, und die Einbuchtung zwischen ihnen war oben tief eingegraben, und dort schlug sichtbar ein Puls. Das mißfarbene Haar war dünn und auf der Kopfmitte gelichtet; Nacken und Hinterkopf, wie mit dem Beil geschlagen, zeigten eine einzige lange Linie. Und trotz allem diesem machte das Ganze keinen abschreckenden Eindruck; höchstens einen etwas furchterregend anziehenden, und es gefiel Renate, daß seine Lider, nicht wie bei anderen Menschen, klappten, sondern sich ruhig und selten nur legten und wieder hoben. Da war Geduld, Gelassenheit, Ruhe, und es erinnerte übrigens an Bogner.

Eine Hand neben sich aufstützend, richtete Renate sich auf, im Bewußtsein berührt von einem sehr zarten Gefühl für diesen Menschen, und nun überrascht von der Leichtigkeit, mit der ihr jede Bewegung gelang. Ach, die schöne Wärme, die mit in Erschütterung gekommen war und nun an vielen Stellen zugleich quoll und verrieselte! Sie setzte sich, erfreut, daß es unhörbar gelang, in der Sofaecke aufrecht, und sagte dann leise nichts als: „Nun?“

Er wandte sich, stand auf und kam an den Tisch, lächelnd mit einem Schatten von Besorgnis; sehr wohltuend war ihr dann das innerliche Dröhnen seiner Stimme, als er fragte, wie sie sich befinde, und ob sie etwas wünsche.

„Befinden?“ sagte sie, „gut. Und wünschen möcht ich gern, daß du dich wieder hinsetzest wie eben.“

Er gehorchte lächelnd, nur daß er jetzt den Arm nicht aufstützte und Rücken und Hinterkopf grade an den Rahmen des Fensters legte, erhobenen Haupts, und diese Haltung von Stolz und Geduldigkeit gefiel Renate noch besser. Ich glaube, dachte sie bei sich, diesen Menschen zu lieben, ist das Leichteste von der Welt.

Es tat ihr nun alles wohl; ihre Gedanken bewegten sich sacht, schwebend und doch sicher, nur war sie auf eine angenehme Weise geteilt in Nähe und Ferne, so daß es eng war um sie selber und alles andere fern, und daß sie niemals mehr als einem Gedanken zurzeit nachgeben konnte. Laut zu sprechen, war nicht gut möglich, aber auch nicht nötig.

„Und nun, Erasmus,“ bat sie nach einem Weilchen, die Augen schließend, „mußt du mir alles sagen. Ja, jetzt gleich. Ich will dir sagen, wie ich es meine.

„Es giebt eine alte jüdische Legende vom Tode Mosis. Gott schickte alle Engel zu Moses, um ihm zu sagen, daß er sterben müsse, aber er weigerte sich. Da kam Gott selber und begann, ein Grab zu graben. Und während er dies tat, erzählte Moses dem Herrn sein Leben.“

Obgleich sie wußte, daß es auf dem Ofen in Flor von diesem Vorgang keine Darstellung gab, sah sie deutlich die alten, dunkelgrünen Kacheln mit den undeutlich gepreßten Bildchen und darunter das, wo Moses am Berge sitzt; etwas unterhalb der langbärtige Herr tritt eben mit dem Fuß auf den eingestemmten Spaten.

„Nicht,“ fuhr sie fort, „daß ers wüßte, — denn er wußte alles. Nicht daß ers wüßte, sondern daß ers einmal von Angesicht zu Angesicht erführe, so wie’s gewesen war. Daß ers von ihm, von Mose hörte, der es ja gelebt. Daß er es einmal sagen könnte; einmal ihm zeigen könnte, sagen: Also war es ...“

Erasmus löste seine Haltung, setzte sich wieder vor und sagte nach einer Weile, während seine Augen schwer wurden und angestrengt unter der Last der Stirn: „Ich muß wohl. — Es wird schwer gehn.“

„Ich will dirs abfragen“, sagte sie sanft, und er nickte langsam vor sich hin.

„Weißt du, Erasmus, nun habe ich eben gesehn, was du hast. Ein sehr schönes Ohr. Aber das andre wird auch so sein. Hier —“ sie zog mit dem Finger den Umriß in die Luft — „hier oben ist eine sehr schön gebogene Schleife; dann wirds ganz eingezogen, und das Ohrläppchen ist sehr lang und gerundet.“ Ja, wie schön, dachte sie innerlich, in einem so unvollkommenen Gesicht eine so vollkommene Sache; vielleicht gilt überhaupt nur die und das andere gar nicht! „Es ist genau,“ schloß sie, „wie ein großes Fragezeichen, und das muß so sein.“

Er hatte das Gesicht hergewandt. „Weswegen denn das?“

„Na, Ohren, was tun die denn? Sie horchen, sie fragen doch immer! — Aber nun will ich fragen.“

Nach einem langen Stillschweigen dann, während es draußen dunkler wurde und der Regen rauschender fiel, die kleinen Bilder an den Wänden fast ihre Farbe verloren, begann sie:

„Erasmus, wie warst du als Junge?“

Es dauerte eine Weile, bis sie ihn sagen hörte: „Zu!“ und sie dachte, es käme noch eine Ergänzung, aber nichts.

„Und als Jüngling?“

„Böse.“

„Und als Mann?“

Er beugte sich weiter vor und sagte: „Hülflos.“

„Zugeschlossen“, wiederholte sie leise. „Du durftest nicht zeigen, was in dir war. Oder du mußtest es heimlich tun, nicht wahr? Wenn du deiner Stiefmutter etwas schenken wolltest, so trugst du es in ihr Zimmer, wenn sie nicht darin war.“

„Woher weißt du das?“ fragte er erstaunt.

„Ach woher! Ich weiß eben! Dann bist du auch so langsam gewesen und kamst immer zu spät, und Alle lachten. Da ließest du es lieber ganz sein. Und keiner, dachtest du, mochte dich leiden.“

„Das dacht ich. Mein Vater fürchtete sich vor meinem Gesicht.“

„Ja. Und mein Vater hat sich vor dem Großpapa gefürchtet, es war grad umgekehrt. Und dann war Josef immer da und viel leichter, nicht? In der Schule fielen dir die Antworten zu spät ein, und das genügte nicht. Ach, guter Erasmus, ich sehe deine Kindheit wie einen kleinen Stern hinter einer schweren Wolke. Nun wird alles besser werden.“

„Als aber“, fing sie bald darauf wieder an, „Mathematik und Naturwissenschaften kamen, da hattest du einen guten Ofen, der wärmte, nicht wahr? Darin warst du Allen überlegen, und sie fingen an, dich zu achten. Bekamst du da Freunde?“

„Erst nicht. Dann Bogner. Der hatte es ähnlich zu Hause wie ich, wenn auch in andrer Weise. Er machte mir Zeichnungen, und ich seine Aufgaben. Schließlich lief er doch weg.“

„Wobei du ihm halfst. Dann kam das Examen bald, und du gingst —“

„Nach Berlin. Da wollt ich allein sein.“

„Lerntest du da Klemens kennen? Wie war das?“

„Nicht besonders. Ich ging zuweilen in Arbeiterversammlungen. Da stand er einmal neben mir, und wir kamen ins Gespräch.“

„So. Du kamst in Gespräche ...“

„Diesmal.“

„Wie lange bliebst du in Berlin?“

„Bis zum Verbandsexamen. Dann war ich in Kiel. Dann in Marburg.“

„Warum warst du da böse?“

„Weil ich nicht wollte. Ich wollte niemand kennen, niemand nützen. Mir lag nur an meiner Arbeit.“

„Was für eine Arbeit?“

„Gewisse akustische Phänomene. Beobachtung der Schallwellen ...“

„Ach,“ sagte Renate verstehend, „wegen deiner Ohren! — Was ist daraus geworden?“

„Nichts. Als ich vor drei Jahren nach Altenrepen mußte, blieb alles liegen.“

„Du warst ganz allein?“

„Ja. Ich lief in den Wäldern herum und fluchte.“

„Und dann kamst du in die Fabrik?“

„Nein,“ sagte er, sich abwendend, „da kam ich erst nach Flor.“

Renate zitterte bis in die Füße. Nun gedachte sie erst wieder, daß es dieser Mensch war, dieser, der sein Wesen immer in einen furchtbaren Knoten geschlungen trug, und der sich einmal an ihr Leben gelegt hatte wie an eine Giftwunde und gesogen; im höchsten Augenblick aus allen Enden der Glieder zurückgesogen hatte das Gift wie ein Allmächtiger. Aber der Knoten blieb ungelöst und mußte zerhauen werden.

Es dauerte lange Sekunden, bis sie fragen konnte: „Wie war das — in Flor?“

Da er abgewandt blieb, hörte sie seine Stimme undeutlich. Er könne es nicht sagen. Er hätte keine Worte dafür. Es sei dumpf gewesen.

„Als ich wieder aufgewacht war,“ sagte Renate mit mehr Sicherheit, „da konntest du nicht kommen und sagen: Du gehörst mir!?“

Ja, wie denn? Ob sie ihm denn gehört hätte? Wenn ein Mensch ins Wasser fiele und ein Andrer hole ihn heraus ...

„Ach, das paßt aber doch gar nicht, Erasmus! Ins Wasser springt es sich leicht. Dazu gehört nur Schwimmenkönnen und etwas Mut. Ins Wasser wäre Josef auch gesprungen.“

„Vielleicht“, gestand er, „glaubte ich, du würdest mirs ansehn.“

„Ja, da hattest du recht. Damals war ich blind, und nun sehe ich.“

„Es hat so sein müssen.“

„Und so blieben wir aneinander gebunden. Als wir uns wiedersahn in Altenrepen, was dachtest du da?“

„Daß meinem Bruder kein Mensch widerstanden hatte.“

Renate schwieg. „Viel fehlte ja nicht. Wenn er nicht zwei Schatten gehabt hätte ...“

„Zwei, Renate?“

„Zwei Schatten, dicht nebeneinander, wie wenn Licht brennt am Tag. Glaubst du an Doppelgänger? Ich glaube, es war einer.“

„Bei Josef war alles möglich.“

„Ich sagte es keinem, nicht einmal mir selber richtig. — Und dann ging Josef, und du dachtest —“

„Er wird bald wiederkommen.“

„Ja, du glaubtest immer an alles, außer an dich.“

„Er kam auch nach anderthalb Jahren.“

„O das hast du gewußt?“

„Ja. Es war so ein Zufall, wie sie sein müssen.“

„Wann denn?“

„Einmal — du warst im Garten, mit Saint-Georges erst, dann allein. Du gingst zum Zaun und kamst nicht wieder. Ich sah alles vom Fenster. Dann mußte ich dir nachgehn. Ich wußte schon, wer da war. Und dann sah ich euch, wie ihr auf der Schaukel wart.“

„Und als ich zum Abendessen heraufkam, warst du wie immer ...“

„Du auch. Man beherrscht sich ja.“

„Ja, wir Menschen sind wunderlich ... Und was kam dann?“

Renate konnte nicht verstehn, was er sagte, oder ob er schwieg, denn in dem Augenblick brauste der Regen schallend auf, eine, zwei Sekunden lang, worauf er ebenso schnell sanft wurde, verhallte, und gleich darauf hörte sie nur lautes Tröpfeln. In der Ferne, wo sie den Himmel blau sah im Fenster, ging die goldene Gestalt einer Sonnenhelle wandernd einher und winkte nach allen Seiten, daß der Regen aufhöre. Renate mußte lächeln.

Wenn ich nur wüßte, dachte sie, wie einer Frau zumute ist, die geboren hat! Auch erst so kalt und steif, wie als Erasmus mich trug, und dann so gewichtlos und warm?

„Komm zu mir!“ bat sie mit schwacher Stimme. Er kam und mußte sich auf den Stuhl neben ihr setzen, worauf sie seine eine Hand nahm und hielt. Sie war trocken, warm, beinah glühend, und sie dachte: Ach, aber die muß man kühlen! — Warm, fiel ihr ein, wenn uns friert, und kühl, wenn uns glüht, denn er ist beides. — Wer hatte denn das gesagt? Jason wohl, es klang so nach Jason. Derweil befühlte sie mit unmerklichen Drucken die große Gliederung dieser Hand, betrachtete auch verstohlen ihre Bildung. Sie war sehr derbe, die Fingernägel ganz rund, unedel — bis auf den Daumen, der für sich allein aussah wie — Renate fiel ein — ein Konnetabel von Frankreich. Sie schloß nun die Hände um das ganze, große und gestaltete Werkzeug und fand endlich die leise Frage nach Josefs Tod:

„Gab es nur die eine Lösung?“

Es zuckte sofort in der Hand. Die Stimme des Menschen, zu dem sie gehörte, und den Renate neben sich kaum noch erblicken konnte, sagte:

„Ja. Wenn es eine war. Immerhin — ich bin frei geworden. Sogar mein Verstand —“ Sie hörte ihn unbehülflich lachen.

„Wie meinst du das?“

„Es war alles locker geworden.“ In der Hand liefen Wellen, die an ihren Händen zuckten und zerrten, immerfort hin und her. „Vorher war das — wie Gänge. Aus einem konnte man nur in den nächsten. Erst waren die Naturwissenschaften. Nein, erst war Josefs Mutter. Dann lange Zeit nichts, und das war schlimmer. Dann wie gesagt ... Dann das Studium, und meine Arbeit; dann Altenrepen, die Fabrik. Und du auch. Immer ein Gang und eine Höhle. Es war immer niedrig, ganz eng, ich konnte eben drin hingehn. Es war alles vorgeschrieben, und — auch Lesen, Spaziergänge — das war nur, wie wenn ich die Hand hob und an der Decke kratzte.“

Er schwieg — und fuhr wieder fort mit einem Stoß.

„Nun war die Decke fort. Der Himmel sah nicht herein. Der Tote sah herein, und wir sprachen miteinander. Erst im Traum nur. Dann auch ... Wir hatten uns ja sonst niemals schlecht vertragen die letzten Jahre; und er war allzeit großartig gewesen und trug nichts nach. Nun war auch immer etwas Hinterlist dabei, so wie er sonst nicht war. Und er wollte mir beweisen, daß ich ganz recht getan hatte. So war Josef.“

Es kam nichts mehr. Renate sagte: „Weiter, Erasmus!“ die Hand festhaltend wie ein warmes Tier, das immer davonwill.

„Wir verglichen,“ stieß er sich wieder vorwärts, „wir verglichen mein Leben und seinen Tod. Immer fehlte etwas bei mir am Gewicht. Ich dachte, ich würde verrückt. Wir hockten da beieinander und suchten und fanden es nicht.“ Er stockte.

„Das hat lange gedauert. Alte Begriffe sitzen sehr fest an einem. Es giebt so eine Konchylie, die am Bauch der Schiffe sich festsetzt und steinhart wird. Man muß sie mit der Axt abschlagen. Und man hat so gelernt: Tod muß mit Tod bezahlt werden. Aber das war locker geworden, und ich dachte: Stimmt das? Ein Mann hat einen andern erschlagen, und das Volk sagt: Gerechtigkeit! er muß auch sterben. — Wenn nun die Gerechtigkeit erfüllt wird, so empfindet das Volk Genugtuung. Ich arbeitete so mit Schlüssen. Es empfindet Genugtuung über die Gerechtigkeit, und das stellt sich dar in Genugtuung über einen zweiten Mord. Ist das gut? Nein. Aber der getötet hatte, empfand auch Genugtuung. Heben die beiden sich auf? Die Algebra sagt: Minus mal Minus giebt Plus.

„Ja, so hab ich gerechnet“, fuhr die immer mehr dröhnende Stimme fort, während die Hand in Renates Händen feucht wurde und klebend. „Und dann fiel mir ein: Gott machte an Kain ein Zeichen, und keiner durfte ihn anrühren. Unstet und flüchtig heißt es. Er wollte also keinen zweiten Mord. Er wollte, ich soll unstet leben.“

Renate sagte leise: „Und dein Vater? Er hatte doch ver—“

Sie endete nicht, da er seine Hand aus den ihren nahm, um eine abwehrende Bewegung zu machen.

„Er — ja, für sich! Aber für mich, und Josef, und die Welt? Nein, soweit war das schon richtig mit Gott.“ Er sprang auf und stellte sich irgendwo im Zimmer auf, unsichtbar hinter Renate, deren Hände plötzlich aufatmeten.

„Aber nun das mit dem unsteten Leben“, hörte sie seine Stimme verdeckt und sah, sich ein wenig wendend, ihn an der Wand stehn, eine Faust darauf und auf sie die Stirne gelegt. Sie sah wieder fort.

„Wie soll man sich das vorstellen? Es war doch ein langes Leben wohl? Wovon lebte er denn? und wie? Immer auf der Flucht? Da dacht ich: das sind so menschliche Vorstellungen. Die Menschen erraten zuweilen etwas, es blitzt etwas auf, so das mit dem Zeichen, das Gott machte. Weiter wissen sie dann nicht, und das war eben das Wichtige. Er sühnte so — und es ging sie ja auch nichts an.“

Nun sprach er schneller und immer heftiger weiter.

„Ich hab das immerzu gedacht. Gerechtigkeit ist so ein irdischer Begriff. Er kommt vom Wert. Jedes Ding wird gleich gewogen mit einem zweiten, und Gerechtigkeit läßt sich kaufen. Früher kauften sie auch Frauen, und es giebt Länder, wo Blut mit Gold bezahlt wird. Hilf mir doch weiter!“ stöhnte er plötzlich, und erschrocken sich umwendend sah sie ihn in einer seltsamen und furchtbaren Haltung vor dem Schrank, die Stirne ganz tief dagegen gesenkt und mit ausgebreiteten Händen auf und nieder gleitend an den Kanten, — so wie ein Tier, das irr geworden ist von Gefangenschaft. Renate war gleich darauf bei ihm, er ließ sich aufrichten, legte seinen Kopf auf ihre Schulter und blieb so eine Weile. Plötzlich machte er sich dann los, setzte sich in Bewegung und redete vor sich hin, auf und ab gehend, und ohne die gesenkten Augen und den Kopf zu erheben; die Hände griffen dabei.

„Die Rechnung stimmt eben nicht. Jedes Ding ist einzig. Das Volk denkt: Wenn mein Weib stirbt, nehm ich ein andres. Das hab ich immerzu gedacht. Kann Gott — ich meine: wenn es einen giebt und er hat eine Gerechtigkeit, kann sie auch so —?

„Nein. Für ihn ist alles einzig und unersetzlich. Ist das menschlich zu wägen? Nein, hin ist hin.

„Aber dann dacht ich: kann der Mensch nicht etwas tun? Nehmen und dann wiedergeben, und wenns ihm auch sauer wird, ist doch keine Leistung. Was aber noch? Ich dachte: der Mensch kann mehr tun.“

Renate hatte sich auf den Stuhl am Tische gesetzt und die Hände darauf gefaltet. „Das hast du gedacht?“ fragte sie ergriffen.

„Es ergab sich so. Man muß rechnen, und man muß immer weiter denken. Früher, wie gesagt, war da Gang und Höhle, und so ist es mit dem Denken: links, rechts, rechts, links, und dann die Wand. Nein weiter: oben — unten ...“

Stehen bleibend, sah er Renate mit jenem beschränkten und unbeholfenen Frageblick an, den sie kannte. „Mußtest du immer denken?“ fragte sie behutsam. Er begann wieder zu gehn. Erst nach einer Weile rief er:

„Na ja, was denn, was denn? Denken, der Mensch muß denken! Langsam kommt man vorwärts, und ich trat immer auf dieselbe Stelle und sah mich um. So muß mans machen.

„Also nun das Mehr-tun. Wie fängt man das an? An den Menschen ist freilich immer zu tun, aber —“ er brach enttäuscht ab. „Ihnen ist ja nicht zu helfen!“

„Ich meine, versteh mich recht,“ fing er gleich wieder an, „nicht auf meine Weise! mit meinen Mitteln! Was läßt sich denn ausrichten? Ich hab doch nur Geld. Was kann man machen? Wenn ich alles verteilt hätte, wenn ich jedem so viel gegeben hätte, ich meine jetzt: meinen Arbeitern, daß er so viel hatte wie ich selbst, das wäre doch ungerecht gewesen! Dann hätte ich doch zu wenig bekommen! Und was kann man sonst tun? Da sind überall die Gleise: Krankenhäuser, Pensionen, und bessere Wohnungen, und dergleichen —“ Er schöpfte Atem. „Was ist denn damit gedient?

„Man kann immer nur flicken. Das ist ja auch alles nicht der Rede wert, das war ja für mich alles viel zu wenig, da bin ich auch bald abgekommen. Ich habe einfach — gerechnet! Ja!“ schloß er mit großer Bestimmtheit, vor Renate stehend mit schwerem, aber fast zufriedenem Blick. Und nun sprach er schnell weiter:

„Einem hab ich genommen, einem muß ich geben. Das Dasein hier, das ist ganz aufgebaut auf Zwein. Zwei machen die Zeugung, ohne die steht alles still. Zwei sind das Letzte. Wer Allen was tun will, der muß sein — wie Christus. Ich meine: so einer kann ihnen doch nur mit der Seele helfen. Das ist doch klar! Ja, die Mathematik, wer die begreift, das ist eine göttliche Kunst! Es giebt eine Zahl darin, laß dir sagen,“ redete er inständig, doch scheinbar ohne sie recht zu sehn, auf Renate ein, „das ist die Null. Die verzehnfacht jede Zahl, wenn man sie dahinter stellt. Ist das nicht ein Geheimnis? Wie macht sie das? Durch ein andres Geheimnis, nicht wahr? Null ist nämlich in der Mathematik gleich Unendlich!“ schloß er mit ausgestrecktem Zeigefinger vor Renate hin.

„Null ist gleich Unendlich. Und das Unendliche in Verbindung mit einem Endlichen wirkt in endlicher Weise, und mit einem Irdischen in irdischer Weise. Die Kraft des Unendlichen wirkt durch Verzehnfachen, Verhundert-, Vertausendfachen. An sich ist sie nichts, ist Null, für uns, ja für uns Null. Oder x, die Unbekannte. Null ist gleich x. In jeder Aufgabe, die sich löst, muß x gleich Null sein.“

Renate bemühte sich, mit dem offenen Blick des Verstehens und Einverständnisses an diesen, jetzt quellenden und glühenden Augen zu hängen, ohne doch dabei sie, die verwirrenden, richtig zu sehn; und sie klammerte sich an etwas, das ferne hinter ihnen, und hinter all diesem Sinnlosen und wieder Sinnreichen, zu dämmern schien wie ein Auge voll großer Vernunft.

„Aber“, sprach er weiter, „wenn du nun Übertragungen vornimmst auf die menschlichen Zustände, so gehts wie mit allen Übertragungen des Göttlichen: es geht immer nur bis zu einer gewissen Grenze. Ich stand gleich vor einer Schranke, vor zwei Schranken, ja, und hinter jeder warst du!“

Er rief ihr das zu — so wie man einem etwas ins Gesicht ruft, damit er endlich begreift, und erst hinterher schien ihm bewußt zu werden, was das denn hieß, denn er brach ab, legte das Gesicht auf die Seite und versuchte zu lächeln, ohne Renate anzusehn, auf sehr traurige Weise. — Sie sagte nur: „Weiter, Erasmus!“ und als hätte es nichts weiter gebraucht als das, war er wieder in Erregung und sprach, jedoch ohne sie anzusehn, gegen den Tisch:

„Die eine Schranke war so. Einem Menschen hatt’ ich genommen, einem andern mußte ich geben. Was? Das Leben. Ja, mein Gott, was solltest du mit meinem Leben? Damals warst du krank. Was sollte ich tun? Konnt ich wie damals? Wenn ich kam, liefst du weg und schriest —“

Er verstummte. Sie konnte die Augen nicht offen halten, schaudernd vor der Erinnerung an ein Tier, an den Tiger, der ihr damals zuweilen Entsetzen eingeflößt hatte.

„Weiter, Erasmus, weiter!“ flehte sie.

„Das war die eine Schranke. Die andre war das Unendliche. Wie läßt es sich binden? Kann man hineingehn? Ja, kannst du denken, was ich damals beabsichtigt, ganz ernst beabsichtigt habe?“

Die Augen öffnend, fand sie die seinen wieder darauf eingestellt, fragend.

„Ja, Erasmus,“ sagte sie, in einem Blitz erratend, „du wolltest Mönch werden.“

„In ein Kloster gehn. Aber es paßte doch gar nicht. Ich muß tätig sein. Was sollte ich anfangen in einer Zelle?“

„Also einen andern Weg? Also zu einem Menschen? Da war wieder die Schranke, — und du!“ endete er unsicher.

„Ich weiß“, sagte sie sanft. Aber wie weiter? Was nun?

Es verging eine Zeit, und sie sah ihn nun wieder wie im Anfang auf der Fensterbank sitzen, nur viel erschöpfter, den Kopf angelehnt, das hagere Gesicht durchglüht und beperlt, ein Taschentuch in den Händen, das er unbewußt zusammendrückte und zog.

„Erasmus,“ fragte sie, „glaubst du an Gott?“

„Ach,“ versetzte er ablehnend, „wer kann das wissen! Man glaubt und auch nicht. Die meiste Zeit des Lebens geht ohne ihn hin, und eines Tages, wo man ihn haben müßte, ist er verloren. Ganz recht, denn das wäre was, sich das halbe Leben nicht um ihn kümmern, und dann plötzlich, wenn man ihn braucht. Er wird sich um uns auch nicht kümmern.“

„Ja, aber wozu dann —“ fragte sie in plötzlicher und dunkler Ahnung eines ablenkenden Wegs.

Er setzte sich härter und gerader fest. „Wenn es einen giebt, muß er schon so groß sein, daß er sich um uns nicht bekümmern kann!“ sagte er verächtlich.

„Wirklich, ach! Was du nicht sagst!“ rief sie entschlossen, jetzt ganz leicht zu reden. „Ich glaube, an dieser Stelle hättest du getrost auch weiter denken können.“

„Wieso?“

„So groß“, sagte sie, „kannst du dir Gott denken, daß er deiner nicht achtet. Warum dann, Erasmus, warum nicht noch um so viel größer, daß er deiner doch achtet? Wie wird denn die Größe bei dir gemessen? Wäre das nicht erst wahrhaft Größe: so groß — und doch deiner achtend?“

„Das wäre!“ sagte er tief und sah sie mit Staunen an. „Das läßt sich ja begreifen!“

„Und das Unendliche,“ fragte sie voll Hast weiter und innerlich schon triumphierend: „wenn es das giebt, hat es einen Anfang? oder ein Ende?“

„Nein.“

„Kannst du also am Anfang oder Ende stehn?“

„Nein.“

„Also wo!“

„Mitten.“

„Und das Unendliche selbst, wo kann es nur sein?“

„In mir.“

„In dir, Erasmus, ja in dir! Der Kreis, der ewige Kreis, der du bist, und dessen Umlauf nirgend, und dessen Mitte allüberall ist. Wie konntest du denn — ach, nun fällt mir etwas ein, es ist zum Lachen, aber höre nur! Neben unsrer Kleinbahn bei Flor standen in Abständen auf dem Damm immer Pfähle mit einem wagrechten Brett oben, wie Wegweiser, die senkrecht weg von der Bahn zeigten, und darauf war das mathematische Unendlichkeitszeichen gemalt — so!“ Sie malte mit dem Finger die liegende Acht in die Luft. „Und ich weiß noch, wie ich zu Papa gelaufen kam, als ich das Zeichen gelernt hatte, außer mir, weil da überall Wegweiser standen mit dem Zeichen. Hier gehts zur Unendlichkeit! nicht wahr? und natürlich hatten sie recht, da alle Wege in sie münden. Aber in Wirklichkeit: liegt es denn da draußen irgendwo, das Unendliche? Und sahst du nicht immer nach oben oder unten, nach draußen, um es zu finden? Was also hättest du tun müssen statt dessen?“

Gott erhalte mir jetzt meinen Verstand, betete sie inbrünstig und nahm all ihren Scharfsinn zusammen, dieweil sie ihn antworten hörte: „Nach innen sehn!“ und hinzusetzen, ungläubig: „Aber — da war doch nichts!“

„Nichts, Erasmus? Mit dir hat man seine Not! Wo, sagtest du eben, sei das Unendliche?“

„In mir.“

„Und in welcher Gestalt? göttlicher oder menschlicher?“

„Menschlicher.“

„Die wie aussieht, du sagtest es vorhin?“

„Wie eine Null.“

„Und die was tut in Verbindung mit der Zahl?“

„Verzehnfacht.“

„Was ist verzehnfachen? Ich meine: wie nennt man — etwas, das verzehnfachen kann?“

„Eine Kraft.“

„Also stellt das Unendliche sich menschlich dar in einer gewaltigen Kraft, die verzehnfacht. Hast du einen Namen für solche Kraft, wenn du sie dir vorstellst?“

Er zauderte. „Du meinst — Liebeskraft.“

„Ja, Erasmus, Liebeskraft, ja, das ist die Kraft des Unendlichen, durch die sie Wesen hat und waltet! Hast du sie nicht gehabt?“

„Ich glaube ...“

„Ach, du glaubst! Nun, und was tut man mit ihr?“

„Man — man soll sie anwenden.“

„An wen?“

„An Menschen.“

„Was für einen Menschen?“

„Der sie braucht.“

„Kanntest du solch einen?“

„Ja.“

„Wer war denn das?“ rief sie, fast zerrend an seiner Langsamkeit.

Seine Augen verdrehten sich etwas. „Du.“

„Nun? Und nun?“

Er schüttelte den Kopf. „Aber — Renate! Da ist ja wieder die Schranke.“

„Nun Gott sei gelobt,“ sagte sie strahlenden Auges, „das war alles, was ich wollte!“

Da begriff er. Sie erhob sich langsam, während er auf sie zukam, und sagte: „Sollt ich nicht auf meine Art auch beweisen, Erasmus?“

Er nahm ihre Hände und legte sie sich auf die Schultern. „Du verdrehst es nur so“, meinte er stockend.

Plötzlich schlug ihr Herz wie im Fieber, und Müdigkeit nach der Anspannung des Denkens schwemmte heiß über sie hin. Sie legte einen Augenblick die Stirn gegen seine Schulter, stand auf einmal in ihrem Schlafzimmer, am Fußende des Bettes, und dachte besinnungslos nur: War das der Anfang — —?

Sie ging um das Bett, setzte sich auf die Decke, und in einem Schwindelgefühl erschien ihr Jason in ebendem Bett, auf dem sie saß, wie er krank darin lag vor Jahren. Sie und Magda saßen abwechselnd bei ihm und hörten ihn endlos aufsagen aus der Abgründigkeit seines Gedächtnisses.

Ja, dachte sie weiter, ich muß ihn reden lassen, immer wieder, und ihn immer wieder auf einen andern Weg bringen, bis er sich ausgeschöpft hat.

Wenn er sich ausschöpfen läßt! entgegnete unhörbar eine Stimme.

Oder bis er es müde wird. Denn, setzte sie auflächelnd hinzu, außerdem wird noch das Leben sein, und alles —

Sie vermochte nicht zu Ende zu denken, gab, verspürend, daß sie umsank, langsam nach, lag und zog auch die Füße herauf. Ihre Augen fielen zu, sie glühte und gab sich der Müdigkeit hin mit einem Seufzer der Lust. Noch hörte sie die Stille und draußen das unablässige Aprilgezwitscher der Vögel, und sie dachte in der Erinnerung Jasons:

Er hat es überstanden, — und du und ich, wir werden es auch überstehn. — —

Damit entschlief sie. Sie fuhr aber schon Augenblicke danach mit einem zuckenden Schrecken empor und saß aufrecht. Sie horchte; nebenan war Stille. Eine halbe Minute wohl saß sie so, keinen Laut vernehmend als den dumpfen Schlag ihres Herzens und das ferne Klappern einer Dachrenne. Etwas — mußte nebenan sein, und da sie doch die Vorstellung hatte, das Zimmer sei leer, dachte sie besinnungslos: er hat sich hinausgestürzt! mehrere Male; vor Augen das offene Fenster dort. Der Schlag ihres Herzens trat in ihre Kehle, sie schluckte und atmete behutsam.

Und behutsam nahm sie die Füße vom Bett, dabei entdeckend, daß sie ihr Kleid nicht mehr anhatte und weiß war in Unterrock und Leibchen. Ihr fröstelte; aber in dem Augenblick, wo sie leise aufstehn und zur Tür gehen wollte, wußte sie, daß er dahinter stand, und rief schon: „Erasmus!“ angstvoll blickend zur Tür, bis zu der das Fußende des Bettes reichte.

Die ging auf, und er kam herein. Ohne sie anzusehn, kam er um das Bett und stürzte vor sie hin, umschlang ihren Leib, wühlte die Stirn in ihren Schoß, ächzte und schluchzte, auf und nieder geworfen von Stößen, daß sie ihn kaum zu halten vermochte. Aber sie preßte ihn an sich mit aller Kraft, küßte ihn, weinte und stammelte, was ihr einfiel: „Ja, ja, Erasmus, ja! O mein Gott, ich hab zu wenig getan, das war ja nichts, ich weiß, ich hab es ja gewußt! Sag mir, was ich tun soll, ich will alles tun! Sag doch, o sag doch!“

Langsam wurde es in ihm stiller. Er hob den Kopf hoch, sah sie an mit unseligen Augen und sagte: „Gieb mir —“

Er brachte nichts weiter heraus, setzte zwei- und dreimal zum Sprechen an, und indem hatte sie erraten, was er wollte, und schrie, sein Gesicht an die Brust drückend: „Die Kinder!“

Und weiter mit immer erneutem Pressen und Küssen und an sich Drücken flüsterte sie in ihn hinein, jagend in Worten, von denen sie kaum wußte: „Die Kinder, ja, ja, ich hab es ja gewußt, nur das kann uns retten! Warte nur, o wart nur ein wenig, bald, bald, es geht ja schnell, und wir wollen gleich — — Erasmus! Willst du gleich? Jetzt! Heut nacht, heut, o ich will dich lieben!“ schrie sie brennend, „ich will dich lieben wie Gott, und dann kommen sie, du wirst sie bald hören, das Neue, Erasmus, das neue Leben, das nichts weiß! Ach!“ weinte sie, „wenn du nur erst sein Herz in mir schlagen hörst! Ach, wenn du fühlst, wie es sich bewegt, dann wird es ja gut werden. Dann wird es ja gut werden!“

Sie hob sein Gesicht mit beiden Händen, damit er sie ansähe, strömend von Tränen, durch die seine Züge dunkel und verschwommen erschienen wie in Wasser. Aber er sah sie nicht an, er schien über ihre Schulter ins Leere zu starren oder in die Ferne, und so sagte er dann:

„Ja. Aber — — und dann ...“

„Was denn, Erasmus? was denn?“

„Dann muß man — es — sagen ...“

„Sagen? Was sagen, Erasmus, wem denn?“

In seine Augen trat ein entsetzlicher Ausdruck von Lüsternheit, mit dem er flüsterte: „Mein Sohn ...“

Sie erriet. Sie schrie: „Um Gottes willen, Erasmus, was willst du —“

„Wenn er soweit — ist ...“

„Nein, Erasmus!“ jammerte sie, „nein, nein!“

„Dann will ich ihm sagen — dein Vater — ist —“

„Nein, du tötest uns, Erasmus, nein!“

„Mörder —“

„Du bist es ja nicht! Lieber, Lieber! du bist es ja nicht!“ klagte sie.

„Und dann — — wenn ers — erträgt ... Wenn — ich — einen Sohn — habe —“ sagte er langsam, „der es — erträgt, dann — ist es gut.“

Er sank an ihr nieder, erschöpft, sein Gesicht fiel auf den Bettrand, und sie saß leise weinend daneben, mit der Hand über sein feuchtes Haar streichend, und verstand, daß es so sein mußte. Es sei denn, das Leben selber brauchte seine Gewalt.

Er stand von den Knien auf, wandte sich ab und ging zum Fenster, wo seine Gestalt den schmalen Raum ganz verdunkelte. Aber draußen war Helle, und Renate konnte aus ferner Höhe die leise Drosselstimme der Kindheit schlagen hören, friedfertig in Pausen, durch die Stille.

Es war Charfreitag; Ostern stand bevor.

Sechstes Kapitel

Bogner/Klemens

Georg, ergeben und hoffnungslos hinter Renate über das Rasenoval wandernd, sah die drei Ankömmlinge und daß Renate sich einem von ihnen gesellte und mit ihm die Freitreppe hinaufging. Aber mit abirrendem Auge erkannte er Bogner. Der streckte die Hände aus, und Georg lief eilfertig und fast mit einem Jauchzen der Erleichterung in die Arme, die er sich ausbreiten sah.

Auch in Bogners Augen, als der ihn hielt und betrachtete, war eine tiefere Zärtlichkeit; aber Georg fühlte sich so aufgeregt und erweicht von dem unvermuteten Wiedersehn, daß es ihn mit Tränen bedrängte; daß er, für Augenblicke sprachlos, die Umgebung in Kreisen sah und innerst erbebend dachte, sein Vater sei wiedergekommen.

Wieder aus seinen Armen gelöst, erkannte er in dem großen Fremden, mit dem Renate eben in der Glastür oben verschwand, Erasmus Montfort und gleich darauf in dem Andern, überaus Schwarzbärtigen, Klemens. Sein Bart war zehnmal so groß, als er ihn im Gedächtnis hatte. Er schüttelte ihm nun die Hand, fühlte sich aber von Bogner, der Klemens zuplinkte, beiseite gezogen.

„Pst!“ raunte er, „Achtung! Er hat keine Ahnung!“

„Wer? Klemens? Wovon?“

„Von Irene. Daß sie hier ist.“

„Ah! So. Ja, was macht man da? Sie wird mit der Anna in Böhne sein.“

„Gar nichts. Es wird sich schon zeigen.“

Sie wandten sich Klemens wieder zu, und Georg fragte ihn, indem er sich doch wundern mußte, wie die Drei so zusammen gekommen waren, nach Erasmus.

„Wir sind zu Fuß gekommen,“ sagte Klemens, „und suchten Bogner auf, um uns herführen zu lassen.“ Er wollte noch mehr sagen, aber ein Regenschauer ging so jählings über sie herunter, daß sie auseinanderfuhren, worauf Georg jeden bei einem Arm nahm und mit ihnen die Terrasse empor ins Gobelinzimmer lief. Egloffstein, immer bereit, hielt die Tür schon offen. Ob die Damen schon aus der Stadt zurück seien, fragte Georg. — Noch nicht. — „Um so besser, dann kriegt ihr ihr Frühstück! Sagen Sie auch gleich in der Küche an, Egloffstein, daß noch eine Gans geschlachtet wird. Ihr bleibt doch zum Essen?“

Klemens zögerte höflich und schwieg, Bogner dagegen bedauerte: sein Mittagsmahl erwarte ihn daheim. Er hoffe aber, setzte er hinzu, Georg am Nachmittag bei sich zu sehn. Er wäre auch ohne die Andern gekommen, ihn zu bitten.

Nun zwischen den Beiden sitzend, der offenen Glastür gegenüber, durch die er den leichten Sonnenregen auf die Terrasse niederrieseln sah, glaubte Georg, Klemens nach der ersten Erfreutheit der Begrüßung nicht in einem Zustand des Behagens zu sehn. So braun er war, schien er kaum recht gesund, im Innern erschöpft und außer Ordnung. Das tiefe Schwarz des großen Bartes und der dicken Brauen erhöhte nebst dem glatten Graubraun seiner Stirn das Seltsame der wassergrauen Augen. Sie hatten sich verhärtet, und Georg dachte, er sieht ja aus wie der Dulder Odysseus, der heimkommt und sich nicht zurechtfinden kann.

Bogner an der andern Seite hatte übrigens nichts eben Väterliches an sich, sondern sich erstaunlich verjüngt. Fast vermißte Georg das lange Haar von Hallig Hooge an dem kurzüberschorenen Kopf. Es war dunkler nachgewachsen, nur der Scheitel noch leicht übergraut. Die hellen kleinen Augen in ihren Höhlen hatten einen fast lieblich zu nennenden Glanz, Fleisch und Haut über dem Skelett des Gesichts ihre frühere Festigkeit wieder, und brüderlich erschien nun, was Georg früher als väterlich empfand.

„Giebt es Neues bei dir?“ fragte er derweil. „Bilder? Wieviel? Nun, ich komme natürlich!“

„Acht Bilder im ganzen,“ erklärte Bogner, „die zusammen gehören. Allerdings mehr inner- als äußerlich, wenn du auch auf den meisten eine Gestalt wiederkehren sehn wirst. Fertig sind allerdings erst drei. Es sind Heldendarstellungen, eine heroische Symphonie könnte mans nennen. Von den übrigen kannst du Studien sehn.“

„Wunderbar! Bekomm ich die alle geschenkt?“

„Ich möchte sie“, sagte Bogner lächelnd, „der Stadt schenken, Altenrepen, wenn du sie annehmen willst?“

„Mit tausend Freuden! Was willst du dafür?“

„Das wird mir noch einfallen. Aber du mußt ihnen ein Haus baun. Höre einmal, was ich mir ausgedacht habe.“

Und Georg hörte ihn langsam seinen Plan auseinandersetzen und sah ihn gleich kostbar entstehen vor seinen Augen. Einen Tempel, nicht eben groß, dem Andenken von Georgs Vater gewidmet. Er würde auf eine Anhöhe zu liegen kommen und die Form einer Sonnenblume haben, mit neun länglichten Blättern und einem Kuppelraum in der Mitte. Dieser würde leer bleiben, mit Eingängen zwischen den Blumenblättern, — Bogner schwankte noch, ob er die musizierenden Engel aus Renates Kapelle, um einige vermehrt, darin wiederholen solle, was Georg begeisterte, da sie bei Renate von niemand gesehen würden. Jedenfalls sollte der Mittelraum nur der Sammlung und Andacht dienen. An die äußeren Enden der Blätter würden die Bilder kommen; an das des neunten eine Statue, oder besser eine Büste des Toten.

Nun, Georg war Feuer und Flamme, aber Klemens murmelte einigermaßen grämlich etwas von „Archaisiererei“, die dabei herauskommen würde. Tempel, heute! Wer denn heut ein Gefühl für Tempel hätte, so daß es ein Gebilde der Zeit würde, zumal hier im Norden.

„Ich weiß nicht,“ sagte Bogner, „ob Tempel zeitliche Gebilde oder zeitgemäß sein können. Gott ist nicht zeitgemäß.“

„Gott nicht, aber der Glaube.“

„Dann müßte es mehr Götter geben als einen.“

„Einen, der sich wandelt, wie die Menschheit sich wandelt.“

„Die Kunst“, sagte Bogner nachdenklich, „hat meines Erachtens die Aufgabe, das Unwandelbare darzustellen. Sonst kämen wir zu Problemen, und das Problem Gottes zu lösen, kann nicht ihre Aufgabe sein.“

„Aha, so, dann halten Sie auch das Tempelproblem für gelöst?“

„Ich glaube. Wie das des Glaubens. Wenn im Tempel das Gläubige sich ausdrückt, so löst es sich mit der einfachsten Darstellung der architektonischen Aufgabe. Stütze und Last, Säule und Gebälk, und ewig bleibt, meines Empfindens, die Gestalt des Baumes. Hellas hat die uns empfunden, ihr Inneres läßt sich nicht ändern, aber ich bestehe durchaus nicht darauf, daß etwa das Kapitäl jonisch sein soll oder korinthisch. Das immerhin war zeitmäßig und landschaftlich griechischer Ausdruck, und —“

„Sie machen mittelalterliche Weinlaub- oder Eichenblätterkapitäle auf die dorische Säule? Übrigens“, schloß er in seinem ersten, bisher von Hitzigkeit abgelösten Tone der Grämlichkeit, „machen Sie, was Sie wollen.“

„Du bist zänkisch!“ sagte Georg nun, der mit Behagen dem Hin und Wider gefolgt war. „Du wirst der ganzen Architektur den Mund verbieten.“

Klemens nahm Rührei von der Schüssel, die Egloffstein hinhielt, und gab sich Mühe, zu lächeln. Ja, er hätte schon neulich einen Architekten sagen hören, daß sie, die Architekten von heut, sich nur hinsetzen könnten und warten, da die Baukunst nicht — wie vormals — imstande sei, der Zeit einen Ausdruck zu geben.

„Davon“, sagte Georg, „schreibt Victor Hugo sehr schön in Notre-Dame. Sonst übrigens ein albernes Buch. Völker, sagt er, haben ihre Geschichte in Baukunst geschrieben. Heut ist die Mannigfaltigkeit nun zu groß geworden. Auch hat immer eine Kunst die Oberstimme gehabt in den wechselnden Zeiten.“

„Und welche wäre das heute? Die Dichtung? Literatur? Da redest du wieder aus der Vergangenheitsperspektive. Wenn du darin gesteckt und gelebt hättest, würdest du alles anders gesehn haben, und ganz ungenau. Du hebst einen Faden aus der Vergangenheit und sagst: das ist der Faden. Du, in deiner Abstraktion, kannst relativ sein, aber hier handelt es sich um Wirklichkeit, um Gegenwart, und das nötige Mittel der Relation, die Vergleichung, fehlt.“

„Meinetwegen. Aber hat denn nicht die Baukunst einen Ausdruck für etwas Neues und Zeitmäßiges gefunden?“

„Das Warenhaus wohl?“

„Vielleicht.“

„Lassen Sie das auch gelten, Bogner?“ Klemens schien sich zu erleichtern im Wortstreit.

Das Warenhaus, meinte Bogner, sei freilich kaum eine geistige Erscheinung.

„Aber wieso?“ fragte Georg. „In einem weiten Sinn als Verkehrssinnbild?“

„Nun, Kaufhäuser gab es auch im Mittelalter. Das Warenhaus aber setzt die Dinge nur in Beziehung, ist — ganz Fläche. Das mittelalterliche Kaufhaus war ein Ausdruck des ganzen kaufmännischen Geistes und —“

„Ja, das bringt mich auf einen Hauptunterschied von heute und damals“, rief Georg. „Damals gab es nur zweierlei Bauten, Kirchen und Profangebäude. Die heutige Hundertfältigkeit —“ Georg verstummte einen Augenblick, um Klemens sagen zu lassen, das ließe sich höchstens von der italienischen und deutschen Renaissance behaupten, — um dann fortzufahren: „Immerhin wurden die Häuser früher allesamt von außen gebaut; sie bekamen eine Fassade, und die Räumlichkeiten wurden irgendwie hineingepackt. Heute dagegen ist das Wichtige das Innre, die Unterbringung einer bestimmten Anzahl von bestimmt gearteten —“

„Na, und wo bleibt da deine Mannigfaltigkeit?“ hohnlachte Klemens. „Worin unterscheidet sich denn eine Postdirektion von einer Lebensversicherung, einer Bank, einer Konsumgenossenschaft, einem Rathaus? Eins wie das andre eine große Verwaltungsanlage. Das ist es eben. Heut ist alles geistig erklügelt, was damals aus einer Freiwilligkeit entstand, wenn auch aus einer dumpferen.“

„Und wer ist dran schuld?“ rief Georg nun hitzig. „Du bist schuld! Denn der Staat ist es, der heut auf alles die Hand gelegt hat, und du willst den noch einfältigeren Sozialstaat. Nun, aber das weiß ich schon lange, daß die Zerrüttung überall herumprasselt.“

„Ich freilich fühle die neue Grundlage.“

„Schon? wo denn? Wir müssen ja immer tiefer. Jetzt kommt doch erst Amerika, und Taylor und die ganze Mechanisierung. Schon muß Bogner sich Kunstmaler nennen, damit man ihm glaubt, daß er kein Anstreicher ist, und der heutige Geistestyp ist der Schriftsteller.“

„Das“, widersprach Bogner langsam, „kannst du so wohl nur für Deutschland festlegen.“

„Und in Frankreich vielleicht? Da giebts ja nur Schriftsteller.“

„Den homme de lettres, den écrivain — kaum im deutschen Sprachsinne. Der Franzose freilich ist immer der artiste, der, der diese Dinge macht.“

„Ja, da hast du recht, und der Deutsche ist der, der sie erfindet, erdichtet. Form und Gehalt.“

„Freilich,“ sagte Klemens sardonisch, „er nennt sich Schriftsteller, aber selbst Rudolf Herzog hält sich für einen ‚Dichter‘ und wird auch gehalten.“

„Womit du etwas sehr gutes Deutsches zum Ausdruck bringst. Der Deutsche, als Künstler, fühlt Verantwortlichkeit, nämlich gegen etwas, das über ihm ist und Allen. Er fühlt sich fraglos unterworfen dem namenlosen Zwang, ohne zu denken, und einsam. Der Schriftsteller in Frankreich ist öffentlich, wie der ganze Mensch dort, ist vergesellschaftet, ein Staatsinstrument. Racine, Corneille waren Staatsdichter.“

„Und Baudelaire? Und Verlaine, Mallarmée?“

„Lyriker, mein Lieber. Der Vers macht einsam. Nun, ich denke, das dürfte wohl doch klar sein, daß wir in Deutschland eine Art, ich will sagen dichterischer Menschen haben, die einzig ist. Der Franzose hat immer seine gloire, dargestellt in äußerer Ehre, und Balzac hätte alles hingeworfen, so groß er war, wenn er auf andre Weise den Ruhm hätte erlangen können, der ihm vorstrahlte. Der Poet in der Dachkammer, hungernd und frierend, verachtet und entzückt, das ist unsre Form.“

Georg stand auf, da fertig gegessen war. Egloffstein stand schon mit Zigarren vor Klemens; Georg zog seine Dose und bot sie Bogner. Als sie alle Drei rauchten, trat er an die Glastür und dachte, es sei doch das Beste im Leben, sich um nichts und wieder nichts unter Männern mit Worten zu schlagen.

Er wandte sich um. Bogner stand hinter seinem Stuhl, die Arme auf der Lehne. Klemens saß am Tisch, verfinsterten Gesichts, und wickelte an seiner Zigarre.

Ob Irene nicht bald kommt? — Und Birnbaum, dachte er beunruhigt, Birnbaum wollte kommen ... Georg blickte verstohlen auf die Uhr und fand, daß es drei Viertel eins war. Um halb drei sollte gegessen werden.

Draußen war es wieder dunkel geworden, und der Regen plätscherte nach Kräften auf der Terrassenfläche.

In diesem Augenblick — da er sich schon nach drinnen wenden wollte mit einer Frage und gleichzeitig den Trieb verspürte, in den Regen hinein zu laufen — gingen Haltung und Fassung mit so reißender Schnelligkeit von ihm, daß er nur noch mit einem ratlos haschenden Blick über die Beiden streifen konnte, bevor er zur Tür schritt, um den Nebenraum zu betreten. Dort stellte er sich ans nächste Fenster, legte die Stirn an die Scheibe und überließ sich dem inneren Toben.

Warum, mein Gott, warum tu ich alldies? Das ist doch alles nur Krampf und nur Einbildung! Es sind ja ganz andere Dinge! Warum denn? Wie komm ich denn da hinein? Ich war mit Renate. Auf einmal erschienen die Andern, ich konnte mich nicht entziehn. Aber warum? Warum hab ich mich nicht vor ihre Füße geworfen, oder warum gestand ich ihr nicht wenigstens ein, was mich quält, oder daß ich in einem ganz andern Netz hänge, und bat sie, mich allein zu lassen oder zu helfen? Und warum Renate? Warum nicht Allen, dem nächsten, Bogner, Klemens? Was sind da für Widerstände? Renate? Daß ich sie liebe? Höllengelächter, und das machten wir uns zum Hindernis, statt zum Hebel? Wir? Sind Andre anders? Und bei Bogner, bei den Andern, was war da die Schranke? Daß ich hier Herzog bin? Das wäre fürchterlich. Das kann nicht sein; kann der innerste Grund nicht sein.

Und warum denn, fing er von neuem an, warum nicht noch jetzt? Ich brauche ja nicht zu schreien, ich kann mich ganz ruhig zu ihnen setzen und sagen: Bogner ... Ihm brach die Brust von Verlangen nach ihm, aber schon im Wenden mußte er denken, daß doch wieder ein Hindernis da sein würde, und ihm fiel schon ein, daß Birnbaum sich angemeldet hatte. Er zog die Uhr, es war kurz vor eins, in einer Viertelstunde konnten sie hier sein. — Ist, fragte er wieder, eine Viertelstunde nicht genug? Kann Birnbaum nicht warten? Aber nein — nun, das sind wenigstens Pflichten, die kann man gelten lassen.

Er fühlte sich wie mit Blut übergossen, zauderte aber wieder. — Nun such ich nach Ausflüchten, dachte er wirr. Ja, Klemens hat mit sich selber zu tun, das sieht man ja. Und ist es mit ihm nicht dasselbe wie mit mir? Hier rennt er allein durch die Welt, wäre vielleicht längst wieder davongerannt, wenn man ihm gesagt hätte, daß sie hier ist, anstatt sich mit ihr zusammenzutun, um, da sie schon Beide um dasselbe leiden, wenigstens zusammen zu leiden. Der liebt sie auch und läßt sich auch hindern, wie ich. Und was, was ist denn der Grund, daß die Menschen sich lieben und heiraten, wenn nicht der, daß sie sich zusammen hinsetzen können, um von ihren Leiden zu reden, statt — von Architektur.

Aber wir wollen unser Leiden immer für uns allein haben. Warum sind wir denn so? Und hinterdrein klagen wir dann, daß wir einsam sind und keiner uns hilft. Oder liegt es am Leiden? Ist Leiden so, daß es allein gehabt sein will? Gott im Himmel, bist du es denn also, der im Leiden wohnt und sich nicht will teilen lassen mit jemand? Warum denn enthüllst du dich nie?

Es blieb still; auch Georg wurde stiller. Die Fensterreihen des Nordflügels blitzten in der vorbrechenden Sonne auf, gewaltige Speichen aus Golddunst drehten sich magisch über dem Wäldchen, und stark leuchtende Wolkenballen quollen empor. Die naßbraune Terrasse dampfte.

Georg drehte sich um nach einem Geräusch. Egloffstein ging durch den Saal mit einem Stoß Servietten, und Georg war nahe daran, sich zu schämen, weil er vielleicht die ganze Zeit nicht allein gewesen war. Danach zauderte er nicht länger, nebenan einzutreten.

Klemens

Dort stand jetzt Klemens an der Glastür, schräg, eine Schulter gegen den Rahmen gestemmt, die Hände in den Rocktaschen, löste aber seine Haltung bei Georgs Eintritt. Bogner saß pfeiferauchend seitwärts vom Tisch. Im Gefühl, freundlich zu Klemens sein zu müssen, fragte ihn Georg, wo er das halbe Jahr gewesen sei. In Italien, war die Antwort.

„Aus besonderen Gründen?“

„Keinen politischen jedenfalls.“ Sich mit dem Rücken anlehnend, die Arme kreuzend und so ins Freie blickend, begann er nach einer Sekundenpause zu erzählen. Er sei gewandert, zu Fuß, wie schon einmal als junger Student, seine Geige im Wachstuchsack auf dem Rücken und ohne einen Heller Geld; allein, oder in der Gesellschaft von Bettlern, fechtenden Handwerkern aus Deutschland, entsprungenen oder entlassenen Sträflingen und dergleichen.

„Komische Käuze,“ sagte er, „diese deutschen Handwerksburschen. Sie arbeiten nur bei deutschen Meistern, kehren, wenn es irgend geht, nur bei deutschen Wirten ein, lernen kein Wort von der Sprache, laufen an allem vorüber. Höchstens daß sie ein bißchen was sehn, und wie es scheint, wandern sie also nur wegen der Freiheit und wegen des Wanderns. Unter den Bettlern hab ich manchen Freund gefunden. Da war ein armer Kerl in einem Asyl in Bologna, dem war sein Geld mitsamt den Papieren gestohlen, er lag und jammerte die ganze Nacht durch. Am andern Morgen nahm ich meine Geige und hab in den Höfen gespielt. Was einkam, haben wir redlich geteilt, und dieser Mensch wird mir bis ans Ende des Lebens ein Herz voll Dankbarkeit bewahren.“

„Wurdest du dort für einen Italiener gehalten?“

„Nur bis ich zu sprechen anfing, ich kann nicht sehr viel. Nun, aber die Menschen dort solltet ihr sehn! Da ist soviel natürliche Herzlichkeit, soviel Offenheit und Entgegenkommen, soviel Dankbarkeit und Anmut dabei! Soviel dort Musik gemacht wird, bleibt doch der Musiker, der Künstler immer geehrt, und nun — wenn ich so am Abend in eine kleine Stadt marschiert kam, und auf dem Marktplatz, neben der Kirche unter den Kastanien die ersten Striche beim Stimmen tat, und dann so mit recht süßer Kantilene das Adagio aus dem Mendelssohnschen Konzert — so weit hab ichs grade gebracht! — durch die Stille und in die offenen Fenster zog: was das gleich Leben giebt und Hervorkommen, als fingen überall Wasser an zu laufen. Die Kinder kommen aus ihren Betten und drängen sich ans Fenster, und überall lächelnde Gesichter, und jede Frau, der man unterm Spiel einen feurigen Blick zuwirft, empfindet sich schön. Nun, und wenn das Konzert zu Ende ist, da kommen schon von der Veranda des Gasthauses die Honoratioren, der Pfarrer, der Herr Apotheker, und der Bürgermeister, und drücken mir die Hände und sind die feinsten Kenner und erlauben sich, mich zu einer Flasche Spumante einzuladen.“ Klemens lachte nicht ohne Wehmut. „Ich war dann immer der Sohn des Kammervirtuosen d’il rege di Prussia, und schon damals, vor zehn Jahren, hielten sie mich meines Bartes wegen für einen sehr würdigen Mann und fragten gleich nach der Frau und den Kinderchen. Endlose Geschichten hab ich von denen erzählt. Die Kinderchen, das war ihre größte Freude, und wie oft hab ich Tränen in ihre Augen gelockt mit einer unendlich rührenden Erzählung von meiner jüngsten Tochter, die an Diphtheritis gestorben war. Wie ich sie hin und her getragen hab, und sie war so geduldig ...“

Er lachte jetzt ganz fröhlich und sagte noch: „In Pisa, da war ein Schutzmann der mir zu spielen verbieten mußte, denn es gab einen Auflauf. Ja, das ist ein Land, da halten die elektrischen Bahnen, wenn einer Geige spielt. Der wartete schön, bis das Stück aus war, und dann entschuldigte er sich noch vielmals. Er sah auch vollkommen ein, daß ich für dies Stück doch noch sammeln mußte, und fast hätte er selber seine — Kappe hingehalten. Es war ein rührender Mensch.“

Bogner und Georg lachten herzlich. Dann sah Georg, nicht ohne ein Gefühl, als sei dies alles nur die Vorbereitung zu etwas andrem gewesen, ihn seine Haltung verändern. Er nahm die frühere wieder ein, die Hände in die Rocktaschen bohrend, und seine undeutlichen Augen schienen ins Ferne eingestellt, während er sehr langsam sagte:

„Ja, und dann kam doch wieder die Unrast, und ich bin über die Alpen gelaufen und nach Deutschland, aber da war kein Zuhause. Aber wer die Hände einmal in fremdes Blut getaucht hat, dem ergeht es immer wie Lady Macbeth; die Flecken wäscht kein Wasser herunter.“

Er verstummte, nickte trübe und fuhr fort:

„Dann habe ich meinen Freund Erasmus gefunden, der jetzt hier ist. Dem war es böse ergangen. Ich, wenn ich nachdenke, ich kann mir vorstellen, daß man eines Tages seinen Bruder erschlagen muß. Vater nicht, und Mutter nicht, auch keinen Juden und keine alte Wucherin wie der Raskolnikoff. Aber seit Kain muß die Möglichkeit in der Natur des Mannes liegen. Drei Nächte lang schüttete er mir sein Herz aus. Das war grauenerregend. Dieser Mensch, den ich kannte, hatte sein Leben lang gehungert. Wessen Leib hungert, kann stehlen, wem die Seele hungert, kann nicht stehlen. Er lebte noch immer, aber nun war er ein Schatten des Lebens geworden. Die Natur hatte ihm gegeben, daß er nicht vergessen konnte, was ihm je widerfahren war. Eines Tages fand er sich so behängt mit Vereinsamung, mit zehntausend Lieblosigkeiten, Gehässigkeiten, Verachtungen und Verhöhnungen bis hinunter zur ersten und letzten der Kindheit, daß er nicht mehr vorwärts gehn konnte. Da ballte er den ganzen scheußlichen Klumpen zusammen mit sich selbst und stürzte sich in den Schlund. So wars, und daß er noch jemand mit sich riß, war nicht seine Sache, sondern Anlage des Daseins. Und nun fuhr er seit jener Nacht, seit jener Tat, rasend wie der Fliegende Holländer, ohne Wind und ohne Ruder, rückwärts über das Meer seiner Leiden, weil sich die Wage nicht einstellen wollte. Die Wage, deren eine Schale den Jammer seines Lebens trug, und deren andre jenen Tod. Er hielt den Kopf des Toten in den Händen und fragte in die erloschenen Augen hinein abertausendmal: Hab ich gedurft? — In einer Nacht bin ich mit ihm unterhalb des Wehrs auf dem Flusse gefahren, und wir haben gesucht bis zum Morgen. Er war vor dem Irrsinn und nahe daran, unter die Menschen zu laufen und sich auszuschrein. In den drei Nächten, die ich mit ihm verbrachte, ist mir das Herz grau geworden. Ich hatte auch einen Bruder.“

Er verstummte und begann, mit ungelenken Schritten auf und nieder zu gehn. Georg dachte: Herzbruch ... bewegt von solcher Freundestreue, und war nahe daran, nach ihm zu fragen, als Klemens am Tisch stehn blieb, die Finger einer Hand daraufsetzte und sagte, Georg ansehend, doch ohne festen Blick: „Aber ich glaube, daß einmal geheilt werden kann, von Menschen, was Menschen zerbrochen haben. Da hab ich ihn denn hergeschleppt, zu Renate.“

„Zu Renate?“ entfuhr es halblaut Georg.

„Zu Renate. Und wie es scheint, da sie nicht zum Vorschein kommen —“ Er verstummte. Georg sah noch ein sehr weiches und zartes Lächeln in seinen Augen, im Bart aufkeimen, bevor er den Blick niederschlagen mußte.

Diesen? fragte er dumpf. Das soll ihr Geschick sein?

Er konnte aber, trotz der heißen Stiche in seiner Brust, erkennen, wie sehr wahrhaftig der Verzicht war, in den er sich eingegraben hatte, dort im Wald. Eine Weile noch kochte die schmerzliche Eifersucht in seiner Brust, derweil es ihm schien, als sei jemand — er selber? — beschäftigt, dies Heiße zu blasen, damit es erkalte. Es erkaltete jedenfalls langsam, sank zugleich tiefer und blieb liegen als ein dumpfer und dunkler Klumpen angstvoller Beklommenheit, wie er sie aus früheren Jahren kannte. — Damit, dachte er, Atem schöpfend, werde ich ein andermal fertig. Sein Mund zuckte in einem Hohngefühl über die ganze Verderbtheit der Welt.

Als er die Augen hob, stand ihm gegenüber Egloffstein und meldete, Herr Dr. Birnbaum und Herr Schley warteten im Jagdzimmer. Auch Hauptmann Rieferling sei dort mit der Kuriermappe.

So verabschiedete Georg sich von Bogner mit dem Versprechen, am Nachmittag zu kommen, entschuldigte sich bei Klemens und ging.

Birnbaum

Mit dem Öffnen der Tür fiel Georgs Blick auf den alten Mann, der neben dem, noch von Georgs Vater her am Kamin stehenden grünen und hochlehnigen Sessel aufrecht stand und so gewartet zu haben schien. Hinter ihm Schley hatte eine Hand unter seine Achsel geschoben. Er trug seinen langen und würdigen schwarzen Rock. Georg, der ihn vor einer Woche zuletzt im Bette gesehn hatte, erschrak nun über sein gespensthaftes Aussehn, in dem Elendigkeit stritt mit einer Erhabenheit. Sein Nacken war gebückt, die Wangen hingen faltig und waren zwischen Schnurrbart und Augen rot gesprenkelt von Adern. Die Nase dazwischen hing übermäßig heraus, und in den geröteten Augen — das linke hing ab nach außen — war Verwirrung. Ach, dachte Georg, das ist Saul, der bei der Hexe war! — Und so verstört, daß er sich nicht einmal verbeugt! Oder kann er das nicht?

Indessen tastete Birnbaum mit der Hand an der Brust, räusperte sich, machte einen Ruck zur Verbeugung und sagte heiser: „Ich bin gekommen, um Eure Hoheit untertänig um meine Entlassung zu bitten.“

Georg zauderte. Er wollte noch sagen, was er zwanzig und hundert Mal gesagt hatte: Urlaub, soviel Sie wollen, aber seine Entlassung, — um die der Alte, nur nicht so förmlich, schon lange gebeten hatte. Aber dann sah er ein, daß hier nichts mehr zu erwarten war. Eine Ruine, die nur noch gänzlich zerfallen konnte. Er ging auf ihn zu. Noch ehe er ein Wort sagen konnte, hatte der alte Mann ihn umschlungen, weinte bitterlich auf über seiner Schulter und klagte laut: „Ich habe ja keinen als dich, Georg, ich habe ja keinen als dich, aber nun kann ich nicht mehr!“

Georg stand erschüttert von dem unbegreiflichen „keinen als dich“ und hielt diesem Jammer stand, bis er sich von selber beruhigte. Danach sprach er dem Alten begütigend zu und führte ihn mit Schley zur Tür, ihm zuredend, daß er sich eine Weile niederlege und ausruhe. Von der Tür aus sah er Schley und den Hauptmann ihn durch den Raum führen, der öde und kahl war mit leeren Regalen und Schreibtischen, und zu dem alten Sofa, auf dem er früher in den Arbeitspausen geruht hatte. Augenblicke später fand er sich sitzend am Schreibtisch, ohne Gedanken als den: Das ist kein leichter Schlag! Was fang ich an ohne ihn?

Erst als die Gestalt Rieferlings nahe vor ihm erschien, der die daliegende Unterschriftmappe mit ihren großen Löschblattbogen auseinanderschlug, die Feder eintunkte und ihm hinhielt, sagte er, zu ihm aufblickend, trübe: „Ein gesegneter Charfreitag, Rieferling, Sie hatten ja auch was auf dem Herzen! Wollen Sie auch weg? Dann fangen Sie lieber gar nicht —“ Das Ende des Satzes ließ er in ein Gemurmel fallen, denn eben traf sein Blick auf die in zierlichen Schnörkeln stehenden Druckzeilen am Kopf des weißen Bogens, der vor ihm lag: Wir, durch Gottes Gnade Georg VIII., Großherzog — und so weiter ...

„Ich will heute nicht schreiben“, sagte er kleinmütig und legte die Feder hin.

„Hoheit haben ja Zeit bis morgen“, sagte der Hauptmann.

„Rieferling,“ versetzte Georg verdrießlich, „Sie wissen immer was! Wo soll ich denn morgen die Zeit hernehmen? Also muß ich doch schreiben!“ Ich grinse ja, dachte er und konnte die Augen nicht abwenden von Rieferlings sachtem Lächeln.

Was heißt denn nun bloß von Gottes Gnaden? grübelte er nach, die Feder wieder zwischen den Fingern. Letzten Endes war es ja wohl Papa, von dem die Gnade ausging. Von Gottes Gnaden ... Es ist eine Floskel, dachte er noch und fand als letzte Möglichkeit die, den Kopf zu schütteln, worauf er begann, Bogen um Bogen an die gewohnte Stelle, über der zum Überfluß Rieferlings Zeigefinger leicht in die Luft kippte, und nach einem Überfliegen des Bogens, seinen Namen zu schreiben. Er traf dabei auf andre geschriebene Namen — Ellerberg, Alsen, von Dreyling, Gewecke, Fuchs, Richter und mehr, immer mehr — zwischen Druckzeilen, in denen von Beförderungen die Rede war, Auszeichnungen, Versetzungen in den Ruhestand und Erteilungen von Charakter, aber auch das jedesmalige ‚Geruhen‘ hatte längst den letzten Hauch anfänglicher Skurrilität verloren. Lauter Dinge, die Zeit hatten bis morgen. Aber woher morgen die Zeit für sie? Merkwürdige Widersprüche, dachte er. Ist das überhaupt zu verstehn? Sie haben bis morgen Zeit, und morgen ist keine Zeit für sie da?

Etwas nötigte ihn, die Augen zu erheben, und er sah Schley vor dem Fenster stehn. Weiter schreibend, seufzte er nun und fragte: „Kannst du dir denn vorstellen, wie das ohne ihn werden soll? Ist Zimmermann denn wenigstens eingearbeitet? Sonst kann ich von morgen an mir nur noch die Haare raufen. Sag etwas! Ist keine Möglichkeit vorhanden, daß es besser mit ihm wird?“

Am Fenster lehnend begann Schley, während Georg die letzten Bogen versorgte, mit seiner langsamen und öligen Stimme, die Georg immer als überaus lindernd empfunden hatte durch die innere Ruhe, die unterhalb ihrer strömte:

„Er will nämlich nach Palästina.“

„Was! Birnbaum? Das ist das Neueste!“

„Ja, das hat sich nun alles so eigentümlich zusammengedrängt. Und du weißt ja, Hoheit, wenn alle Türen verrammelt sind, brichts durch die Wand. Da ist dann kein Halten mehr. Zusammengebrochen ist er ja eigentlich schon, als dein Vater starb. Man sieht sowas ja nicht gleich. Und nun grenzte es ja lange schon an Verfolgungswahn. Dir wird das ja nicht unbemerkt geblieben sein. Die Arbeit verfolgte ihn nun; er hat glaub ich kaum noch geschlafen vor Angst, am nächsten Morgen keinen Gedanken mehr zu haben oder so.“

Georg nickte. „Ich weiß ja. Aber ich hielt es für Einbildung, und er sagte selber, es sei Einbildung.“

„Und dann hat er auch damals einen Brief bekommen, nach dem Attentat, — ja, eben von dem Sigurd Birnbaum. Seine Frau hat ihn unterm Kopfkissen gefunden und zeigte ihn mir. Er ist scheinbar am Tage vor dem Attentat geschrieben. Das meiste ist ohne Sinn und Verstand. Aber er spricht da viel von den internationalen Aufgaben des Judentums. Na, und das scheint nun eine ganz gegenteilige Wirkung gehabt zu haben. Auf einmal hat er sich glaub ich erinnert, wer er ist, und daß er doch immer im Grunde hier nur geduldet ist. Das weißt du ja auch. Er sprach auch mit mir darüber, — na, sie wollen den Juden ja lange aus deiner Nähe weghaben. Und gestern — gestern schickt er auf einmal zu mir, und da finde ich ihn in der größten Aufregung. Es war ganz jammervoll. Er wußte fast nicht wohin vor Angst, teils weil, wie er sagte, es jeden Augenblick zu spät sein könnte — ja, mit Palästina, er hat da nun die sonderbarsten Vorstellungen —, teils vor dir, daß du ihn nicht weglassen würdest. Und auch vor sich selbst, daß er nun fahnenflüchtig würde. Ja, es ging so weit, daß er sich vor dir niederwerfen wollte, ich konnte ihn nicht anders beruhigen, als indem ich ihm versprach, ihn heut herzubringen. Eigentlich sollt ich ihn verteidigen. Auch daß Charfreitag ist, spielte eine gewisse — ja — eine Rolle.“

„Aber diese Palästinaidee“, versuchte Georg schwermütig zu widersprechen, „will mir noch nicht in den Kopf. Wenn —“

„Ja, Hoheit, da sehn wir das nun mal wieder. Nun klammert er sich ja an dich, aber — ich darf das wohl sagen —, in Wirklichkeit wars doch alleine dein Vater, an dem er so gehangen hat. Der ist nun tot, und das ist denn so wie’n Mensch, der aus’m Stück Land weggetrieben wird und kriegt ’n andres dafür, das genau so ist, aber es ist doch nicht das alte. Ich hab nicht in seiner Haut gesteckt, aber — heimatlos, Georg, heimatlos ist er doch immer gewesen. Wenn er Gefühl gehabt hat, ist er heimatlos gewesen!“ wiederholte er erregter, „und ob das nun Galizien ist, wo er eigentlich herkam, oder Palästina, da ist wenig Unterschied. Man muß sich da mal hineindenken! Nun grad diese internationalen Ermahnungen, das ist es, die haben ihn eben drauf gebracht, wo die wirkliche Kraft des Menschen steckt. Die steckt doch im Boden, na, das ist doch allbekannt, oder sagen wir mal: in der Sprache. Er ist doch ’n fühlender Mensch gewesen, Georg, und hat er denn jemals seine richtige Sprache sprechen können? Wenn er gedurft hätte, er hätt es ja nicht mal ordentlich gekonnt! Nu fällt ihm das alles auf einmal ein, und er weiß doch genug vom Zionismus und all diesen Bestrebungen, und das fällt ihm nun ein, und daß er mit all seinem schönen Dienen vielleicht seine Kraft an der richtigen Stelle weggezogen hat. Es ist ja merkwürdig, es giebt so Menschen, die bringen es zu allem Möglichen, und dann — auf einmal — drehn sie sich um und müssen alles im Stich lassen. Tilly, das war auch solch ein Mensch, wie Ricarda Huch das beschreibt; der wollt eigentlich immer nur ’n kleinen Garten haben. — Das hat sich nun eben alles so zusammengezogen.“

Georg schwieg und wußte nichts zu erwidern, zumal Schley lauter Dinge gesagt hatte, die nur in ihm selber warteten, gesagt zu werden.

Augenblicke später hörte er aus dem Nebenzimmer Husten und ein Geräusch, und Georg winkte Schley, hinüber zu gehn. Sich im Stuhl drehend, folgte er ihm mit den Augen durch die Tür und blieb lange Zeit an ihr haften. Dann näherten sich Schritte, und von Schley geleitet, erschien wieder der alte Mann.

Er ging jetzt wie ein Blinder, und der Blick seiner offenen Augen schien keine Nähe mehr wahrzunehmen. An dem Stuhl beim Kamin angelangt, wartete er eine Weile, ehe er sich langsam darein niederließ, worauf er sich aufrecht anlehnte, den Kopf nach den Fenstern gewandt. Georg sah voll Ehrfurcht seine Schultern bedeckt mit einem Mantel, der gewebt war aus Stille und Frieden. Der Ausdruck seiner Stirn, seiner Augen, all seiner Züge zeigte ein erstaunliches Gemisch von Stolz und — Knechttum, wie Georg es empfand; den geheimnisvollen Ausdruck des Menschen, der durch langes Dienen zum Herrscher geworden war. So wenig königlich er erschien, versammelten sich doch biblische Könige großäugig hinter seinem Stuhl.

Nachdem er ihn so eine lange Zeit hatte still sitzen sehn, fühlte Georg für eine kleine Weile seinen Blick mit großer Liebe auf sich gerichtet. Dann wandte er ihn wieder ab, und dann hörte Georg seine Stimme, die aber so fern herzukommen schien, wie seine Augen hingingen, und obgleich leise, ja kaum hörbar mitunter im Folgenden, hatte sie einen tieferen und volleren Klang als jemals, so daß es war, als wäre seine Brust ganz voll davon und begänne nur geheimnisvoll in Worten zu tönen. Seltsam auch war, daß er eine andre Sprache redete als die gewohnte, denn plötzlich war es die, die er doch höchstens über seiner Wiege gehört haben konnte, ohne sie noch zu verstehn, Laute und Satzbau, zerdrückt und verkrümmt, wie jener ewig zerdrückten und verkrümmten Menschen, die Georg einmal erstaunt im Getto von Konstantinopel zu sehn bekommen hatte. War er so halben Wegs schon zurückgekehrt, nach Galizien, der so spät noch nach Palästina wollte?

Halb ein Murmeln und fast ein Gesang, so hörte Georg, der bald nicht mehr hinzusehn wagte, seine klagende Rede.

„Ich will dirs nun mal sagen, Georg, damit du’s weißt und dir keine verkehrten Gedanken machst. ’n Mensch, der nicht darf gehn in die Kirch und hat keine Stelle, wo er darf allein sein mit seinem Gott, der ist kein rechter Mensch. Und ich bin solch ’n Mensch immer gewesen. Ich hab ’n nich abgeschworen in meinem Herzen und hab ’n doch abgeschworen mit meinem Handeln. Darum bin ich ’n bescholtener Mann gewesen, von ’nem bescholtenen Volk. Du sagst, ich hab ’n gutes Leben gehabt, auch ’ne Frau und auch Kinder. Und ich will ganz schweigen von deinem Vatter. Bin ich deshalb wohl ’n glücklicher Mensch gewesen? ’n Mensch, der nicht darf gehn vor die Tür, daß nicht die Andern ’n Finger aufheben un sagen: das ist keiner so wie wir, un: den könn’ wir nicht achten? Recht haben gehabt die Leute mit mir, und recht haben sie überall, wenn sie die Stelle nicht achten, wo der Jud steht, denn er steht mit verkehrten Füßen. Er denkt, daß er geht nach vorn, und er geht immer nach hinten. Weil er geht weg von seiner wahrhaftigen Heimat. Darum muß er auch gehn so schnell und muß machen Fisematenten und ’n Gemeres unter die Leute, und ans Ziel kommt er doch nicht. Wenn er hat zugeben müssen, daß seine Heimat ihm zerstört worden ist, hat er doch nicht brauchen zugeben, daß er nicht hingeht und baut sie noch mal. Darum wird er auch nich geacht’ von den Leuten. Das Leben ist schwer, und wer geboren is im Galuth, der sagt: soll ich auch müssen sterben im Galuth! Nee, Georg, aber nee, das will ich nu nich sagen! Da darf einer arbeiten sein Lebtag, der verdient sich doch bloß die Sohlen unter seine Füße, damit er eines Tages kann heimgehn, oder er verdient sich gor nix. Ich weiß doch, was ich weiß! Und wenn du kommst, Georg, und sagst zehn Mal: Nein! und sagst: ich will kämpfen den Kampf um ’n alten Mann, — nun, was is ’n Jahr, und was sind selbst zwei Jahr für ’n Menschen, der jung ist? Und du wirst müde, Georg, und ich kann gehn und sitzen vor der Türe, — ich weiß doch, was ich weiß ...

„Wer wohnt in einem Volk, der soll auch werden wie ’s Volk, der soll essen seine Speise und beten in seiner Kirch, auf daß er kriegt ’ne Sprache und vernünftige Sitten. Wer glaubt denn, daß einer Gott ’n Gefallen täte mit dem koscheren Essen und Stehn in der Synagoge am Schabbes und lesen aus ’m Buche ’ne Sprache, für die er hat keinen Sinn! Oder glaubst du ’n, daß Gott will reden ’ne Sprache, die der Mensch bloß kann reden mit ihm allein, und die Gott bloß versteht selber, und die er nicht zugleich kann reden mit Menschen? Wer nicht kann reden mit Gott, wie er will reden mit Menschen, der kann auch nicht reden mit Menschen, dem kommt keine Wahrheit aus ’m Herzen, und wenn er vielleicht nicht betrügen wird andre Leut, wird er doch betrogen haben sich selber. Denn er hat betrogen den Herrn um seine menschliche Sprache. Zweierlei Rede, das ist nix. Ich will hingehn und reden die Sprache. Ich wills versuchen.“

Georg hörte ihn noch eine Weile murmeln, aber nun war nichts mehr zu verstehn. Vor seinen verdunkelten Augen verschwamm der entfernte Wald zwischen den Flügeln des Hauses, schwärzlich und grünlich im Sonnenschein, und in das gereinigte Himmelsblau hob sich eine schneeichte Wolke hoch wie ein schöner Berg. So saß er, kaum sich zu regen wagend in seiner Ergriffenheit, längere Zeit und wandte sich endlich. Da stand Schley, der sich vor das Gesicht des Sitzenden beugte, als ob er horchte. Gleich darauf hob er langsam den Kopf, auch die Hände und strich mit beiden Daumen behutsam über die Augen hin.

Und dies Letzte enthielt so viel Feierlichkeit, daß Georg bei aller Erschrockenheit sich nicht zu rühren vermochte. Gestorben? dachte er dumpf. Hier, in diesem Augenblick gestorben?

Schley legte die Hände des Toten im Schoß zusammen und wandte sich zu Georg um. „Heimgegangen“, sagte er einfach.

Georg saß noch lange und blickte den alten Menschen an, der dort saß, und an dem noch keine Verschiedenheit wahrzunehmen war von Andern oder dem, der er selbst vor Minuten noch war. Vielleicht, daß er noch edler aussah; und daß seine stille Haltung auf die Länge der Zeit nicht natürlich mehr schien; oder daß er so gar nicht atmete in diesem Schlaf.

Endlich spürte er, daß ihm schon lange die Tränen aus den Augen liefen, und nun weinte er hellauf, daß es ihn schüttelte. — Danach stand er auf, um nachzusehn, ob Magda zurück war, und ihr Nachricht zu bringen.

Irene

Noch schwer mit Herz und Gedanken an dem Toten hangend, den er in dunkler Vorstellung sah wie einen gestürzten Baum, herausgebrochen aus seinem, Georgs, Leben, voll mit Früchten, unersetzlich an täglicher Leistung das Jahr durch, und überdies mit unsterblichen Blüten der Erinnerung — oh die ersten Spiele der Kindheit! —, ging Georg durch die Räume, irgendwie in der Einbildung, die Anna im Gobelinzimmer zu finden. Da gewahrte er mit einem Zufallsblick durch ein Fenster — das letzte im Vogelsaal, wie er nun erkannte — Klemens auf der Terrasse allein, vor sich hingehend, gebeugt, die Hände auf dem Rücken, und Georg trat ans Fenster, klopfte und deutete mit der Hand an, daß er ins Gobelinzimmer ginge. Gleich darauf öffnete er die Tür. Der Raum war leer.

Indem er aber im spiegelnden Glase des Türflügels zur Rechten den Widerschein des Herankommenden gewahrte, wurde die Flurtür zu seiner Linken geöffnet, und rückwärts gehend herein kam ein mädchenhaft weibliches blondes Wesen in einem hellgrünen, farbig überblümten Kleide mit Achselbändern und weißen Blusenärmeln, an einer Hand sehr behutsam hereinführend die Anna, hinter der Benno sichtbar wurde: Irene.

So, dachte Georg, was mag nun kommen? — Klemens stand da und blickte nur. Überdem wandte sich Irene, fuhr leise zusammen, ließ Magdas Hand fahren, machte zwei Schritte und schien, haften bleibend, zu schweben. In ihre Augen, die im kleiner gewordenen Antlitz Georg blauer schienen als jemals, trat ein sehr bittender Ausdruck, während ihr Kopf langsam nach hinten sank. Ihre eine Hand sah Georg zittern in den Falten des Kleides, wo sie hing wie vergessen.

Klemens rührte sich nicht vom Fleck, schlug aber jetzt seinen Rock vorne zusammen und schloß langsam die beiden Knöpfe.

„Klemens!“ sagte sie endlich, und Staunen und Bitten ihrer Züge schmolz in ein nahezu triumphierendes Warten.

„Mensch!“ grollte nun Georg, „worauf wartest du noch?“

Klemens sah ihn an. In seinen undeutlichen Augen erschien ein grübelndes Fragen, als ob er durch Georgs Erscheinung sich erinnern wollte an etwas, was er selber vor einer Stunde gesagt hatte. Dann setzte er sich in Bewegung, als ob er stürzte, umkreiste den großen Rundtisch, und plötzlich bückte er sich, hatte Irene auf den Armen, drehte sich wortlos um und trug sie um den Tisch, durch den Raum und ins Freie hinaus.

Georg brachte es nicht fertig, ihm nicht nachzugehn, und in die Nähe der Tür folgend, sah er ihn draußen stehn, mitten auf der Terrasse. Über sie und Hofraum und Dächer fiel ein goldener Regen. Darin stand er kräftig und hielt mit erhobenen Armen die leichte grüne Gestalt in den tausendfach rieselnden Glanz hinauf.

Georg drehte sich weg und mußte lächeln. Wieder hinsehend, fand er die Terrasse leer, glaubte aber die gedrungene und beschwerte Gestalt des Menschen mit seiner Last über eine dampfende Wiese voll Primeln gehen zu sehn, langsam, ein Pangott mit seiner gesicherten Beute, die er in grüne und rauschende Höhlen des alten Waldes zurücktrug.

„Was war denn hier?“ fragte Magda.

Georg wußte weiter nichts zu sagen als: „Klemens.“

„Ach! Wo sind sie denn nun?“

„Verschwunden. Er hat sie weggetragen.“

„Gott sei gelobt!“

„Das sei er! Es giebt also doch noch —“ Findungen in der Welt, wollte Georg schließen, als ihm in seinem Stuhl der Entschlafene erschien.

„Aber,“ sagte er leiser, „unser alter Birnbaum ist hier eben gestorben.“

Sie streckte die Hand aus, gab aber keinen Laut von sich. Auch als Georg auf sie zutrat, um sie in die Arme zu schließen, bewegte sie sich nicht.

„Das war der Letzte!“ sagte sie nach einer Weile, — wohl im Gedanken an andere Tote. Sie hielt die Augen geschlossen.

„Ja, dann bringe mich bitte —“ Sie verstummte, machte eine abwehrende Bewegung und sagte: „Aber ich kann ihn ja nicht sehn“, und trat weg von Georg.

In der Tür erschien Egloffstein, zeigte sich Georg und verschwand, zur Meldung, daß angerichtet sei.

Keiner sagte etwas. Georg sah eine einzelne Träne an den Wimpern des Mädchens hängen, wartete noch Sekunden und sagte dann: „Egloffstein meldet, daß angerichtet ist.“

Da wandte sie sich zu ihm, kam mit niedergeschlagenen Augen und ließ sich an seine Brust ziehn. Sie blieb so lange Zeit ohne Bewegung, hob dann den Kopf, und Georg sah sie blind und seltsam in eine ewige Ferne lächeln. Sie sprach wie im Traum: „Irgendwo — irgendwo — sind sie Alle wieder beisammen.“

Er ergriff ihre Hand und führte sie hinüber. —

Sie aßen dann schnell und schweigsam an der für zehn Personen gedeckten Tafel, an der außer ihnen nur noch Benno, Schley und Rieferling erschienen. Georg empfand wie eine Wohltat das Fehlen Renates. Einmal fragte ihn Anna, ob er am Nachmittag Zeit für sie habe. Sie habe ihn ja eigentlich für sich eingeladen und ihn noch den Tag über kaum gesehn. Auf Georgs Erwiderung, daß er nur Bogner seinen Besuch versprochen habe, aber erst gegen Abend hingehen wolle, bat sie ihn, sie in einer kleinen Stunde nach dem Essen in seinem Zimmer zu erwarten und mit ihr Tee zu trinken; sie möchte nur vorher etwas ruhn. — Gleich darauf wagte Benno eine bescheidene Frage nach einem Beisammensein mit Georg und war hocherfreut, daß Georg ihn gleich nach dem Essen mit sich nehmen wollte.

Zwar fühlte Georg sich müde und schlafbedürftig, brachte es aber nicht über sich, weder Benno abschlägig zu bescheiden, noch ihn mit der Anna zusammen zu bitten, denn an eine stille Stunde mit ihr dachte er mit weicher Erwartung, — davon abgesehn, daß sie ein Recht hatte, mit ihm allein zu sein. Auch sagte sie selber nichts, um Benno aufzufordern.

Allein hinter den Türen saß noch der ruhige Tote, umringt von seinen nicht mehr geträumten Träumen, die ihn lächelnd und weinend bekränzten ...

Georg legte die Hand auf die neben ihm liegende Annas und fühlte ihre Finger sich schließen. Bald darauf hob sie die Tafel auf, nickte Georg zu und ging sicher zur Tür. Er schob seinen Arm in Bennos, schüttelte Schley, der sich zu verabschieden kam, die Hand, und sie gingen.

Siebentes Kapitel

Benno

„Ach!“ sagte Benno, nachdem er mit einem einzigen Schritt in die Mitte des Zimmers getreten war, wo er stehen blieb wie angenagelt, so lang und so dünne er war, die Hände zusammenlegend und so höchstüberrascht und beglückt umherblickend wie die Unschuld am Geburtstagstisch. „Ach! Hier ist ja alles wie früher! Georg! Aber das ist nicht zu glauben! Das ist unerhört!“ Und Georg sah sein heißes und immer gerötetes Profil mit dem Haken der Nase, der über den zitternd hangenden Schnurrbart hinweg nach dem entgegengekrümmten Kinn langte, sich hin und her drehen in kleinen Rucken, vor Freude rundäugig, und die vorstehenden Wangenknochen bebten. Er erging sich in Ausrufen. „Die Vitrine! Und die japanischen Koffer! Und da —“ Wieder mit einem Schritt stand er unter der Alabasterschale, die überm Sessel der Fensterecke hing, streifte sie mit zärtlich erhobener Hand — „die Lampe!“ — worauf er mit einem Knie in dem Sessel lag vor Rembrandts Drei Bäumen, „und die alten Bilder!“ Im nächsten Augenblick sich herumwirbelnd mit fliegendem Haar, stand er bei Georg, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte, schmelzend vor Glück und Scham und kaum hörbar: „Und daß ich noch hier bei dir stehen darf? Und Du sagen? Und dich anrühren! Einen Herzog! Es ist unerhört!“ Er schüttelte den Kopf, unter den Augen tausend Fältchen eines fast mütterlichen Lächelns.

„Großherzog,“ sagte Georg, „aber setz dich!“

Mit einem Schwung saß er schon im Sessel, hatte, bereits fertig in Attitüde, die Hände im Schoß, gradsitzend mit übergelegtem Bein, und bat mit Kehltönen: „Und jetzt mußt du mir etwas vorlesen! Magst du nicht? Du hast Verse! Ich hätte dich heute morgen schon bitten wollen, aber — da war alles so fremd; ich konnte mich gar nicht gewöhnen. Diese Renate dazu! Man sieht sie an — — und man ist einfach — — hin!“ Er endete verlöschend und ließ den Kopf sinken wie ein sterbender Krieger.

„Aber Georg,“ fing er wiederum an, „du bist traurig. Ja, dieser herrliche Mensch ist nun auch gestorben ...“

Georg sagte, daß er zwar traurig sei, deshalb aber doch Verse lesen könnte, wenn er nur welche hätte.

„Stehn keine in dem Buch?“ fragte der Enttäuschte mit einem Blick auf Georgs noch daliegende Aufzeichnungen.

„Nein, das sind prosaische Aufzeichnungen und Aphorismen. Aber warte, ein Gedicht muß darin sein, aber — es ist nicht sehr von Belang.“

Georg setzte sich und begann zu blättern. „Hier! Nein, das ist es nicht. Nun, dann waren es zwei, — also höre! Dies ist übrigens noch aus Berlin.“ Er las:

„Und alles dieses: Speise, Schlaf und Wein,

Endlose Nächte, aufgebauschte Wonnen,

Schiffe im Nebel, Irrfahrt, Einsamsein,

Stein jeder Tag, gewälzt und dann entronnen —

Jahrlange Mühsal und am Ziele Scherben,

Verwelkte Kränze, Zweifel, Gram und Zorn,

Versucher jeden Stoffs: Gold, Lehm und Horn:

Und alles dies, damit wir endlich sterben.

Und alles dies, daß uns wie dünnes Laub

Das Leben hinsinkt auf ein kahles Leinen,

Noch im Gehör, das schon erstickt und taub,

Aus Meilenferne ein verlornes Weinen, —

Dann der Erkenntnis Seufzer: Schwester, glaub,

Es war nicht wert, zu sein, und nicht, zu scheinen.

„Seltsam, es paßt ja hierher ... Aber doch eigentlich wohl kaum. Nur daß es vom Sterben handelt ... So, hier haben wir das andre!

Hora melancolica

Langsam gehen die Dinge uns vorüber,

Wolkig hinunter in die Ewigkeit.

O Hades fern! es lockt mich selbst hinüber.

O später Tag! o müdes Leid!

Als führen wir im Wagen eingeschlossen ...

Da draußen gleiten Bäume, Feld und Haus,

Wohl kommt das Licht, auch Wind herbeigeflossen,

Wir aber sehen immer nur hinaus.

Was könnten wir denn tun in unserm Fahren?

Wir wissen kaum, wer das Gefährt bewegt,

Und sehen nur verständnislos seit Jahren

Den bleichen Weg, den wir zurückgelegt.

Was halten denn die Augen, die im Weiher

Des Lichtes schwimmen, blanken Fischen gleich?

Ach, stürzte einmal doch herab ein Reiher

Und trüg uns flügelbrausend in sein Reich!

Ins wirkliche aus unsern Wasserkreisen,

Darum die Bäume voller Schwermut stehn.

Wir ziehn, wir ziehn, — so werden wir die Leisen,

Die alles mit gekühlten Augen sehn.

Dies Niemalstun, dies Nurgeschehenlassen,

Dies weiche Wollen, ach, dies Ungefähr,

Dies macht das Herz so schauerlich erblassen

Wie treibend Schlingkraut in dem wüsten Meer.

Mit tausend Siegeln ängstlich eingemauert,

Wir zwingen nichts hinein in unser Herz.

Nur jeder Flügel, der vorbeigeschauert,

Erfüllte uns mit immer tieferm Schmerz.

Aus hundert Schmerzen aber ward am Ende

Nur Müdigkeit. Die Augen sinken zu;

Sie wollen nichts mehr, die getäuschten Hände,

Die Seele wiegt der letzte Traum von Ruh.

Und endlich kam es so, daß wir nur gleiten.

Genügsam wurden wir; die Blicke gehn

Zu Wolken auf, um den Vergänglichkeiten

Mit bitterem Begreifen nachzusehn.

Die weicheren Gebilde in den Bahnen

Des Äthers tun den kranken Augen wohl.

O wo bliebst du, der Jugend trunknes Ahnen,

Du einst unsterblich flammendes Idol:

Wo bleibst du, Liebe, die um nichts bekümmert,

Sich selbst vertrauend, rings Gesetze giebt,

Die jeden Makel an sich rasch zertrümmert,

In ihre Reinheit grenzenlos verliebt!

Die herrscherlich, mit Augen hart und stählern,

Mit Löwenschritten und mit Adlersgriff,

Die mantelsausend stürmte über Tälern

Und über Berge nach den Brüdern pfiff?

Doch wir sind froh bei unsern Mittagsmählern,

Und sicher trägt uns das gebauchte Schiff.

Geschehen mag und gehen, was die Hände

Nicht schufen, nur berührten fremd und blind:

Der tatenlosen Liebe arme Spende,

Der kleinen Hoffnung süßes Angebind.

Vorüber ziehn die bunten Bilderwände,

Wir schauen und vergessen, was wir sind.

Die Dinge schweben her und gehn hinunter,

Wahllos hinunter nach dem einen Tod.

Und wir, ach Schwester, schwanken selbst darunter,

Unwissend Lächelnde ins Abendrot.“

Benno, steif sitzend, schwieg und sah vor sich nieder. „Das ist recht schön, Georg“, meinte er dann. „Aber — besonders finde ich es nun eben nicht.“

„Es soll ja auch gar nicht —“

„Weißt du, ich liebe das eigentlich gar nicht. Das sind solche — Feststellungen. Die Welt ist so oder so, trübe, unbegreiflich — —, das ist alles solcher Hofmannsthal. ‚Was frommt es, alles dies gesehen haben?‘ Nicht wahr? Das ist ja auch gar nicht deine wirkliche Meinung! Oder doch?“

„Vielleicht nicht eben länger, als ich daran schreibe. Nun lassen wir das, mir liegt daran nichts, ich bin ja kein Dichter und habe also höchstens die Erlaubnis, zu sagen, was ich leide.“

„Aber — —, ja, Georg, ist denn das nicht die einzige Aufgabe des Dichters?“

Georg schüttelte trübe den Kopf. „Benno, du wirst nie im Leben dahinterkommen. Nie im Leben! Aber wir wollen nicht wieder davon anfangen. Ich lese dir lieber noch einiges von den Aufzeichnungen, sie stammen alle aus der Zeit von Hallig Hooge, — wenn du magst. Hier ist etwas über Flauberts Education sentimentale, magst du das? Also höre.

„Zu Flauberts L’éducation sentimentale

Dieses als Kunstwerk gewaltige Buch scheint mir bei fortschreitendem Lesen von Tag zu Tag mehr das, was der Titel, den es ursprünglich haben sollte, ausdrückt: ‚Dürre Früchte‘. Es ist dürr, langweilig und von erschrecklicher Einfalt. Eine Menschendarstellung ohne Seele und Seelen. Da ist nur Dasein, nichts als um sich selber und um einander kreisende Daseinsgestalten, deren nüchternes Gesetz leider jeden Schein von firmamentaler Wirkung ausschließt. Der ‚Held‘ (der keiner ist und sein soll in unserm Sinne) streicht als nur Erlebender durch diese in ihrer Trostlosigkeit den einzigen Ausdruck von Unendlichkeit tragende Ebene umgetriebener Figuren wie ein lauer Windzug, ohne Bewußtsein seiner selbst, ohne Frage, ohne Aufblick, ohne Sterne, ohne Seele und ohne Geist. Was hier Seele scheinen könnte, ist nichts als eine Art romantischer Glorie um die Sinne. Von allem um ihn her nur ästhetisch, das heißt in seiner Anschauung berührt (oder — was fast schlimmer ist — moralisch, das heißt an seiner bürgerlichen Existenz mit ihren Wünschen und Zielen, oder — was das einfältigste ist — an seinen Trieben), ist sein ganzes Sein und Tun: zu erleben, was aber nicht heißt, das eigene Leben mit anderen, mit Lebenserscheinungen durchtränken; es zu ernähren, zu entfalten, zu steigern, zu vertiefen, mit einem Wort: zu wandeln; sondern nur heißt: Erlebnisse sammeln; und so ist er selber am Ende (ich blätterte im Ende) nur ein Schrank voll alter, nicht einmal getragener Erlebnisse, undurchdrungen, unverirrt, unverzweifelt und unerhoben derselbe, als der er auf der ersten Seite des Buches erschien: un jeune homme à longs cheveux et qui tenait sous son bras un album, — nur daß eben das Skizzenbuch mittlerweil voll wurde. Undurchdrungen also — und deshalb ungestaltet, das heißt: ohne Geist —, ungewandelt also — und deshalb ohne Innerstes, ohne Seele —, unberührt in beiden, die nicht vorhanden scheinen — ist er auch: ohne Leid. Kein Leiden ist im ganzen Buche zu finden außer Notleiden, Bürgerjammer und Alltagselend. Sie arbeiten Alle sich in sich selber ab, wie das Eichhorn in der Radtrommel, und wenn selbst dieses das zu tun scheint aus Unruhe, aus mangelnder Freiheit, so fehlt ihnen selbst die leiseste Ahnung, daß es eine Welt geben könnte, außer der ihren.

„Flaubert war augenscheinlich eine kleine Vernunft mit gewaltigen Kräften, ein Zwerg mit riesigen Armen, der nicht erschaffen konnte, sondern nur schaffen, aufbauen, von außen arbeitend, nicht von innen, hin- und darstellend, weil für ihn — in seinen andern Büchern ist es nicht anders —, wie gezeigt, letztes Inneres — der Gott, die Seele, der Geist — nicht vorhanden waren. Mit einem Wort: Franzose, würde ich sagen, läge nicht auch über ihm der Schatten des Giganten, der, wenn auch keinen Gott, so doch einen Dämon in der Brust und einen Ätna im Gehirn trug: Balzac.

„Dennoch, wovon auch Balzac nichts wußte, das ist: die Wandelbarkeit einer Seele; ist: Verändertwerden durch das Leben; ist: Durchsäuertwerden und Süßwerden von Leiden; ist Streben, Suchen nach dem ‚wahren‘ Leben als dem wahren Stoffe des Daseins, das in ihm enthalten sei und aus ihm geläutert werde; ist Wachsen und Werden. Er kannte das menschliche Labyrinth in jeder Windung und Verschlingung nebst dem Minotaurus, aber er wußte so wenig wie Flaubert von der aus tausend Opferfeuern darüber aufsteigenden Säule Rauches, deren höchster und gereinigter Niederschlag an der gläsernen Nachtkuppel die Bilder des Firmamentes bildet.

„Freilich: in keinem Werk aller europäischen Literaturen, weder der französischen noch englischen oder russischen, findet sich der in der deutschen immer wiederkehrende Mensch, jenes Gebilde, als dessen innere Form sich immer wieder jener herausheben läßt, welcher der erste war, Parzival. Wobei zweierlei zu bemerken ist, nämlich erstlich und weniger wichtig: daß Wolfram von Eschenbach den Stoff seines Gedichtes aus dem Französischen schöpfte, und zweitens, daß zwar immer von der ‚Form‘ des Franzosen, seiner Begabung dafür, seinem Bemühen darum, geredet wird, daß es sich aber in Wahrheit bei ihm um ‚formales‘ Bemühen und formale Begabung handelt, ohne Wissen von wirklicher Form. Was Parzivals Schicksal war: Erkennen und Wissen um eine Bestimmung, Suchen des Weges, das Streben nach Erlösung: Formung des Lebens ist das, Erlösung des eigenen Ich und der chaotischen Welt im geformten Schicksal, in der reinen Form. (So tappte auch dieser Wagner daneben, der nichts bilden konnte als einen unwandelbar ‚reinen Toren‘.) Auch Parzival war im Anfang Franzose, in der Gralsburg froh, essen, trinken und schöne Dinge sehen zu können, und: er fragte nicht.

„Parzival, (auch Simplizissimus sogar,) Faust, Wilhelm Meister, der Grüne Heinrich, Spittelers Prometheus, Leonhard Hagebucher, Hyperion, Michael Unger und tausend Unbekanntere in minder reinlicher Form enthalten als Gesetz, als Form allesamt den Einen und Erstgenannten: Parzival mit dem Panier über sich: ‚Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen.‘

„Du aber, Georg Trassenberg, an Erkenntnissen Reicher, wohlweislich diese Dinge Zerlegender und Aufzeichnender: was bist du gewesen, und was bist du jetzt? In Wahrheit, bei Gott, wenn ich auch noch bis gestern ein armseliger Fréderic Moreau war, qui tenait sous san bras un album, so bin ich es heute nicht mehr! Und wenn es wahr ist, daß nichts kommt aus nichts, daß ich also nichts sein kann, wozu ich nicht zumindest den Stoff zuvor enthielt, das heißt: wenn ich heute etwas andres sein kann, daß ich es — oh meine Unschuld! — niemals ganz war.“

Benno sprang auf wie eine Stichflamme, daß die kleine Alabasterschale bebte und pendelte. „Ich kenne das Buch nicht, Georg,“ sagte er mit empörter Gewißheit, „aber ich kenne Bücher, die so sind!“ Georg sah, sich umdrehend, mit glücklicher Rührung all das lange Vertraute wieder —, die alten Bewegungen der Aufgeregtheit, der Entrüstung, das Zurückwerfen des Haars, das mit einem Schritt dahin und dorthin sich Pflanzen, das im Nachdenken, bei fast über den Wirbel hochgedrehtem Handgelenk über das Stirnhaar Kämmen mit den Fingern, den Unglücksausdruck der Brauen, und es war eine Wohltat zugleich, alles Süße der Schuljahre wieder zu fühlen in der gebrochenen Stimme, ihren glühenden Betonungen und gezogenen Pausen der Überlegung.

„Und es ist entsetzlich!“ fuhr Benno nach langem, erschöpftem Dastehen fort. „Es ist die Fläche. Nicht die Fläche unserer Er—de — —, die sich wölbt und abhängt nach den Seiten. Sondern sie ist nach oben gewölbt, und man kann nicht über den Rand sehn, und alles was gegen den Rand hinaufgeraten ist im Umherschleudern der Scheibe, das muß nach innen zurückfallen. Schau—er—lich!“

„Fliegen mit ausgerissenen Flügeln in einer Glasschale, — ja, das sind wir.“

Benno schüttelte sich verneinend mit Leidenschaft. „Nein, sage das nicht, Georg! Ja, es giebt Stunden, wo es so scheint. Ich kenne diese Stunden, diese horas melancolicas, und sie sind — — entsetzlich!“

„Nun, Benno, aber was heißt das?“ fragte Georg behutsam. „Ich denke, du bist glücklich?“

Benno setzte sich still und sah vor sich hin.

„Du mußt mich jetzt richtig verstehen, Georg. Ich wäre ein — — Ehrloser, wenn ich mich beklagen würde. Ich bin verlobt — —, ich werde bald heiraten. Und sie — — oh, du kennst sie ja leider nicht, und sie ist — — sie ist — wie aus Goldstaub! So leicht, so schwebend, und so rieselnd. Natürlich hat sie auch ihre Launen,“ gestand er voll Großmut und Menschenkenntnis, „warum wäre sie ein Weib! A—ber — — — Nein, an ihr liegt es nicht, nur — — — Es ist alles zuviel!“ schloß er, völlig erschöpft.

„Zuviel, Benno?“

„Zuviel! Ja, viel, viel, viel zuviel!“ stöhnte er auf wie ein gebrochener Held im Theater, die Hand vor der Stirn. „Alles ist zuviel! Es ist kaum zu ertragen!“ Er sprang auf. „Siehst du, was ist das Wunderbare immer wieder im Leben? Das sind die Anfänge! Nie sollte man hinauskommen über die Anfänge, und ich — — kann es nicht!!“

Leider, dachte Georg, auch in deiner Musik! — während er halblaut sagte: „Brentano!“

„Ja, natürlich, natürlich Brentano, der hat so empfunden wie ich! Gehe hinaus — — im April! im März! an einem unverhofften Tag. Wie dich da alles verlockt! Der Himmel scheint wegzuschmelzen, kaum daß er nahte. Dich ziehts mit ihm in das Unendliche der Sonne. Eine unermeßliche Bangigkeit zugleich treibt dich fort, und du kommst dir vor, Georg, — — wie ein Schauer Schnee. Und alles Glück der Welt scheint sie doch zu enthalten — — diese Bangigkeit. Oh, du willst dich hinwerfen, du willst weinen, du bist aufgebrochen, — und nun erst — wenn du liebst! Georg, weißt du die Nächte nicht mehr? Die endlos stillen Straßen, die einsam leuchtenden Fenster, das nasse Pflaster, und der zitternde Stundenschlag. Und das dunkle Fenster endlich — — der Geliebten! Aber — — Georg, das erloschene Fenster, hinter dem sie schlief, es enthält mehr Wonnen für das Herz, als das Zimmer selbst, wenn du es betreten darfst. Es ist alles zuviel! Glaube mir, Georg, es war mir eigentlich schon zuviel, daß ich sie kennen lernte. Als ich sie noch grüßen durfte — — von weitem — —, da schlug mir das Herz, und ich war ergriffen!! Nun —“ sang er lieblich — „ist alles ganz einfach geworden. Ist aber der magische Kreis einmal durchbrochen, was — ist — dann — noch? Ihre Stimme hören — ihr nachgehn von fern durch die bewegten Gassen —, ihren Gang zu sehen —, oh diesen Pendelschlag der Stunde ohne Ziffern! — ihr im Wald zu begegnen, wo sie Anemonen sucht an den Abhängen — —, oh Georg, wenn ich erzählen wollte, ich habe Abenteuer erlebt — — unerhört!“

„Was, Benno, jetzt? Ich denke, du willst heiraten?“

Benno lächelte schwermutvoll. „Ich genieße halt meine Freiheit“, sagte er natürlich. Dann lachte er verschämt. „Nun, Georg, so genau darfst du das nicht nehmen! Das Entfernte still zu genießen, wer will mirs verwehren? Und ich brauche das, Georg, ich brauche das. Oh sie ist lieb, sie ist edel, sie ist rein, aber daß ich nun täglich ihre Hand küssen darf, ihr Gesicht — —, und sie über alles sprechen zu hören, — — zu sehn, daß sie ungeduldig ist und hart und — — das, Georg, — — das schlägt mich zu Boden!“

„Und das ist, was ich dir immer sagte, Benno!“ fing Georg an und stand auf. „Es ist schön. Es ist, so wie du es betreibst, menschlich schön und ergreifend, aber: es ist eine Schwäche des Lebens, verstehst du? Stark zu fühlen, ist noch keine Kraft, so schön es auch sein kann. Die Kraft ist im Bilden, in der Handlung, im Werk. Die ‚Intensität des Erlebens‘, ja, so heißt es heut. Erleben, schon das Wort ist mir unleidlich. Das sind diese Zusammenballungen, die nachher nichts können als zerfließen. Erleben um des Erlebens willen, und keinerlei Wirkung fürs Leben selbst. Euer Handeln, euer Meinen, eure Haltung zu den Andern — alldas bleibt unbeeinflußt. Ich will mich nicht besser machen, als ich bin, aber — auch ich habe erleben wollen, jedoch nicht — —, um Erlebnisse zu fangen, sondern um meine Lebenskraft zu steigern und wegen der Erfahrung. Und wenn ichs zehntausendmal nicht getan habe, so tat ichs doch unbewußt, und zuletzt ist es alles in die eine Schleuse hineingeströmt. Ihr macht euch Zaubergärten von vornherein aus der Welt, dann brechen die wirklichen ein, und schon sind euch alle Schalmeien verstummt bis auf die der Trübsal. Bei dir, wie gesagt, ist es schön, weil es fromm ist und zart, und du zu weich und zu gütig, das Leben entgelten zu lassen, daß es dir deine Träume nicht hielt. Aber sieh in die Literatur von heut. Da wird aufgeblasen und aufgebauscht: Einssein mit der Geliebten, Ewigkeit der Verschmelzung, und was weiß ich, und kaum daß die Geliebte an ihrem Schuhband schnürt, wenn dich eben der göttliche Abend berauscht, so geht dir ein Meteorschwarm von Illusionen ins Chaos hinunter, und vom Augenblick an sind sie die Verächter, die tiefen Greise, die das Herz Gottes im brechenden Lächeln der Dirne entdecken, wo es ‚verreckt‘. Sie rasen nach Gott durch die Welt, schlagen Fenster und Türen zusammen, brüllen: Ist keiner da? und dann endlich — endlich lächelt ihnen die weise Hure. Die ganze Literatur ist nicht zum Teufel, aber zum Zuhälter gegangen, und das Großartigste ist, herumzustelzen, die ganze Brust bedeckt mit den Kotillonorden der verlorenen Illusionen. — Diese Folgerungen — das heißt nur diese zufällig zeitlichen des Zuhältertums — ziehst du zwar nicht, Benno, aber im Kern ist es bei dir nicht anders. Hast du nicht immer verklärt und erhoben? Und bist du nicht schon getrübt und gesunken?“

„Aber was soll man denn tun, Georg, was soll man denn tun?“

Georg schwieg und sah nach dem Fenster. Ja, was? dachte er still. Auge im Auge mit einem Menschen das Leben ertragen, — das wäre schon viel. „Was man tun soll, Benno? Wege giebts so viel wie Menschen. Aber — man sollte vertraun. Nicht immer das Fluten sehen, ‚die zehntausend Spinnen in der Kufe‘, das Getümmel der achtlosen Bestien; und die Heiligen darüber aus Regenbogen auch nicht. Das Leben ist kein Ballhaus, und ein Heiligtum auch nicht, und es wird nicht scharenweise gelebt. Gieb acht auf den Einzelnen! Es giebt nur Einzelne. Denen aber vertrau! Von dem fall nicht gleich ab, wenn er nicht augenblicks einstimmen will in deine Augenblickslaune. Seele kann nicht in Seele gelangen, obschon Leib in Leib. Leib fügt sich in Leib, und gezeugt wird aus Zweien das Eine. Seele in Seele, was zeugen die? Gemeinsamkeit. Wenn ich das Leben süß gefunden habe, so war es darin.“ Ach, Cordelia! dachte Georg, und glitt von ihr zu der Schwester mit n, indem er sich sagte: Cornelia und Cordelia —: die Eine war, was die Andre, und darum verließen mich Beide. Eine Wiederholung nur, und ich habe es kaum gemerkt.

Benno saß still da, eine Hand auf der Tischkante neben sich. Er sagte:

„Du hast recht, Georg, natürlich hast du vollkommen recht. Immer hast du recht, und überhaupt — ich bin ja einmal so, daß ich immer auch den Gegenteil vollkommen begreife, a—“

„Aber,“ rief Georg das Wort, das er längst kommen sah, „aber du handelst ja nicht danach! nach deinen Erkenntnissen! Du hängst ab nach zwei Seiten wie ein Gespaltener und —“

Benno ließ sich nicht abschütteln, flüchtete hinter Georg ins Zimmer und rief, ihm unsichtbar, von dorther: „Nein, und du hast doch nicht recht! Ja, das Leben mag so sein, wie du sagst, aber — — soll es denn immer so bleiben? Und wer macht denn, daß es vielleicht einmal anders wird? Würde die Welt nicht stehen bleiben, wenn Alle so wären wie du? Wer sorgt für Änderung? Wir sind das, wir! Die Träumer, die Schwärmer, die Seher der Ferne. Haben nicht immer Dichter und Weise, sie, die Spiegel der Menschheit, das Bild einer Welt aufgefangen, die hinter der sichtbaren liegt? Wir haben die wahrhaftigen, die platonischen Gesichte! Wir schreiben unsere Träume mit goldenem Griffel in die rosigen Wolken, und wer die Schrift liest, den erfüllt sie mit Sehnsucht. Sehnsucht, Georg, Sehnsucht! Was helfen denn eure Feststellungen, eure Hofmannsthals und Georges, wo alles erstarrt ist! Ich erkenne sie ja an, diese Form, ich bewundere sie, aber sie ist die Giftschlange, die euch alles erwürgt! Wir, wir, wir, die Träumer, die Schwelgenden auf den unerreichbaren Gipfeln, wir —“

„— pfeifen wie die Rattenfänger, und pfeifen die Narren in den Berg!“ rief Georg aufgebracht und hieb mit der Faust auf den Tisch. Danach verstummte er in plötzlicher Erschlaffung und dachte: Wozu? Er hat ja keinen Kern, wie soll ich ihn angreifen?

„Na, lassen wirs gut sein, Benno, wir sind darin zu verschieden. Du —“

„Vielleicht, Georg, — und doch nicht. Ich verstehe dich ja, wir mißverstehen uns nur, ich meine genau das selbe wie du, nur —“

Georg kniff schmerzlich die Lippen zu. „Hör auf, Benno, es hat keinen Sinn. Weißt du —, ich bin auch sehr müde. Tu mir die Liebe und laß mich jetzt ein bißchen allein.“

„Ich gehe, Georg, ich gehe! Hättest du mir doch nur gesagt, daß du vielleicht lieber schlafen möchtest. Es tut mir —“

Georg brüllte beinah, verstummte aber im letzten Augenblick angesichts dieser schmelzenden Betrübtheit, die schon die ganze Stunde schwarz sah, bloß weil er an ihrem Ende erklärte, müde zu sein.

Benno nahm zärtlich Abschied, und Georg versprach, ihn in Bälde zu sich zu rufen, worauf er entfloh.

Georg

Nun bin ich bald am Ende der Kraft, dachte Georg, und fiel in den Sessel. Er wollte sich eilig bemühen, zu schlafen und zu vergessen. Aber die Lehne war rauh und heiß, er war nicht mehr gewohnt, im Sitzen zu schlafen, dachte, sich auf das Bett zu legen, aber — in Kleidern? nein, und ausziehn? Er blickte auf die Uhr, — nein, in einer Viertelstunde vielleicht kam die Anna. So rückte und drehte er sich hin und her, ächzte leise und meinte zu fiebern. Nicht denken, nicht denken!

Und was ist es denn, was war es, was gab mir wieder das Recht, mich so als stärker zu fühlen und gütiger? Ist er mir verpflichtet? oder dem Dasein? Es ist schrecklich, aber es ist wohl so, daß jeder Gegensatz an dem, den wir lieben, uns mehr Ärgernis bereitet als am Fremden.

Hat er nicht doch vielleicht recht? Wenn er so sprechen konnte, dies herausfühlen konnte aus mir: muß dann nicht doch ein quietistischer Hang vorhanden sein? ‚Geh an der Welt vorüber, es ist nichts.‘ Ja, was will ich denn? Ich verstehe mich selber nicht. Ich will ändern; aber alles, was ich sehe, ist, daß ich vorläufig nicht kann ...

Er saß schon wieder mit offenen Augen, gewahrte nun das noch aufgeschlagene Buch auf dem Tische und empfand bald den Wunsch, sich noch einmal nachzuprüfen, oder vielmehr, sich zu beweisen, daß er recht hatte und nicht so war, wie Benno ihm vorwarf. Das Buch —, nun, was drin stand, hatte seine Erledigung gefunden, aber es enthielt doch Angaben über den Weg.

Noch unschlüssig streckte er die Hand nach dem Buch aus, zog es langsam heran und begann, es auf dem Tischrande neben sich liegen lassend, zu blättern und zu lesen.

Angehängt an das erste der Gedichte, die er Benno vorlas, fand er da:

‚Wahr im Stoff, unwahr in der Form ist dieses Gedicht wie fast alle derartigen, ich meine gedanklichen, von mir. Von der ersten Zeile bis zur achten ist alles echt. Bei der neunten beginnt schon leise Verwirrung (da ich, als ich dies schrieb, noch nichts ahnte vom Tode!), die letzte ist eitel Lüge, das heißt nur Wahrheit des Augenblicks, der aus dem Schmerz die Verachtung erzeugte. Wie aber dürfte ein Gebilde, das dauern soll, die Prägung des Augenblicks an sich tragen? Bogner hat wahrlich recht mit seiner Vergiftung. Ich hob diese Verse als die stärksten auf aus meiner Berliner Zeit, und die war so faul, ganz so faul wie ein morsches Stück Holz, das leuchtet; nur im Dunkel leuchtet, und nur aus Miasmen.

Mit achtzehn Jahren machte ich Gedichte von Heiligen: Er war schon der Vollendung fast ganz nah ... So konnte keine Gestalt mir großartig genug scheinen, in ihr meinen Seelestoff kostbar zur Darstellung zu bringen. Der Vollendung fast ganz nah ... ach, durch drei Jahre war selbst der Gedanke an einen Weg zur Vollendung unendlich fern! Auf Schritt und Tritt nur Griff um Griff nach dem Nächstliegenden, Ausfüllen mehr schlecht als recht, statt Erfüllung, — warum zum Unheil muß mir ein anderer Vers jenes Alters ins Gedächtnis kommen, wenn er auch, schlimmer als schlimm in diesem Fall, nicht von mir ist, doch behielt ich ihn wohl, ob wider meinen Willen:

Georg, der Trasse,

Stürzt sich ins Leben wie ins Meer der Schwimmer,

Drum sieht er nichts als: Masse, Masse, Masse.

Ach, giebt es keine Erlösung aus diesem Klumpen von Wahrheit, der an mir hängt? — Ah, ein Licht! eine süße Strophe: wer sagte sie mir noch?

Richtig, Magda! An dem Morgen nach der Nacht, wo ich nicht starb, stellte sie mich wegen eines Briefes, den ich in der Nacht erwähnt habe, eines Briefes von mir an sie. Es war jener, den ich für sie bestimmt hatte, ihn nachher zu lesen. Ich gab ihn ihr, und sie sagte, nachdem sie las: was ich darin vom seefahrenden Sindbad und dem bösen Geist, den er schleppen mußte, geschrieben habe, erinnere sie an eine Legende, die Jason ihr und noch einigen Andern aus der Friedliebenden Gesellschaft einmal erzählt habe, und sie gab mir wieder, was sie davon behalten hatte. Jason hatte sie später für Renate aufgeschrieben, und so hatte A. die beiden Strophen daraus im Gedächtnis behalten, die mein eigenes, leichtes Versgedächtnis mir bewahrte. Die Legende handelte, wie mir schien sehr schön, von Orest, den die Eumeniden verfolgten, schlaflos, bis auch sie, die Verfolgerinnen einmal ruhen mußten im Schlaf:

Oh Nacht und Tiefe! Draußen auf den Stufen

Des Hauses ruht die Eumenide nun.

Noch ist die Gottheit dringend anzurufen,

So wird dir, was du sehntest: du wirst ruhn.

Die ..... die Wölbung schwindet,

Gestirne wandern über Wäldern fort.

Blick hin: er steht schon längst im Winkel dort,

Schlaf deiner Kindheit, der dich wiederfindet.

Wahr, oh wahr! Wenn wir ihn wirklich finden, den Schlaf, so ist es kein fremder, kein erst im Augenblick mühsam aus uns erschaffener, sondern Kindheitsschlaf, und er ist es, der ‚uns wiederfindet‘.‘

Wunderschön! dachte Georg und gähnte. Alles ganz wunderschön! Bloß — wie soll ich damit regieren?

Immerhin, muß ich sagen, enthalten diese Dinge eine gewisse Kraft der Sprache und der Formung, die eigentlich nicht nur an dieser Stelle ... sondern auch sonst im Leben ... Seine Augen waren ihm zugefallen.

Oder, fragte er noch, ist das Ganze nur ungesättigter Geschlechtstrieb?

Darauf entschlief er.

Bogner

Renate stand mit Erasmus nach einem stillen und schönen Spaziergang durch den klaren Nachmittag der Wiesen vor Bogners jetziger Behausung, die im Tiefland um Böhne, ein kleines Stück unterhalb der alten Stadtwälle lag, bis auf ein nahes Gehöft einsam in weiter und flacher Gegend.

Renate wußte, daß Bogner einen ehemaligen Tattersall bewohnte; das, wovor sie stand, war ein kleines weißgetünchtes Haus, hinter dem sich das flache und schwarze Dach eines mächtigen Rundbaus — der Reitbahn — erhob. Auf ihr Klingeln erschien nach einiger Zeit der Maler selber, sie begrüßten sich hocherfreut, er führte sie in den Flur und gleich durch einen dahinter liegenden Gang zwischen den ehemaligen Boxen der Pferde, deren eine nur von einem großen und äußerst dicken braunen Rosse bewohnt war — Renate kam es bekannt vor, ohne daß sie sich gleich erinnern konnte —, während die übrigen mit Leinwanden und dergleichen Malsachen vollgestellt waren, in die Reitbahn.

In dem riesigen kreisrunden Raum war es noch taghell vom allseitig voll einflutenden Licht der breiten Fenster, die Renate für Augenblicke fast blendeten. Vor ihr, in der Mitte der Halle waren drei große Rechtecke, die nun zu Bildern wurden, Kehrseiten von aufgestellten Bildern, liegende Rechtecke, höher als sie selbst. Aufgespannte Leinwande waren im ganzen Umkreis an die Wandung gelehnt, häufig übereinander, hundertfach zuckend von abenteuerlicher Gestalt und lodernden Farben, und Renate ging hastig zwischen zweien der in flachen Winkeln gegeneinander gestellten Bilder und drehte sich um.

Da stand sie vor einem so klirrenden Aufgebot der Phantasie, daß sie zurückfuhr. Sie mußte sich zusammenraffen, um die Augen auf das nächste der Bilder zu heften, wo ein gewaltiger Schwung hinsprengender Pferde sie anzog.

Dieses Bild war sehr lang im Verhältnis zur Höhe. Einher vor einer drei Viertel der Bildhöhe füllenden Wand von schwarzem Blau flog ein Gespann fahler Rosse, graugelb, lebensgroß scheinend und überlebensgroß durch ihre Gestaltung, gewaltig an Gelenken, Hälsen und Häuptern, langausgestreckt im Galoppsprung. Dahinter — kein Wagen, nur ein einziges Rad mit erzbeschlagenen Speichen in bräunlichem Metallglanz, trug die Gestalt eines fast nackten Mannes, um dessen Brustmitte geschlagen ein kurzes rotes Manteltuch flatterte, einen Arm und die Hand mit einer großen Bewegung des Lenkens ausgestreckt, mit kaum sichtbaren Streifen von Zügeln zu den Rossen hin. Dieses Rot des Mantels, das bräunliche Weiß seiner Glieder und das fahle Gelb des Gespanns war wie das Blau der Arenawand nicht irdisch; unbekannte Farben, entseelt vom Lichte dahier, innerlich verfinstert und wie getränkt mit einer tieferen Essenz farbigen Daseins. — Aber Renate erschrak vor dem oberen Viertel des Bildes, aus dem Gesichter sie anblickten, tausend wie es schien, in Reihen übereinander und immer tiefer und kleiner in eine niemals endende Ferne hinein. Und all diese waren schändlich entstellt von Verhöhnung, Gelächter, Spott, Roheit, allen Lastern. Und so blickten sie alle in einer fleckigen Buntheit, ein wimmelndes Blumenfeld strotzender Abscheulichkeit. — Jedoch unten der Held, schmalen Gesichts, das einen eher duldenden als tätlichen Ausdruck trug, zog ruhig dahin.

Dies ganze unerhörte Schauspiel zeigte sich Renate in einem außerweltlichen Licht, das nicht darauffiel, sondern ihm, seinen Farben, nur entsickerte; in einer trotz der jagenden Fahrt gefesselten Stille; tosend und doch tief in Ruhigkeit; in Vereinsamung, in Entlegenheit; in einem so fernen Fürsichsein, daß Renate glaubte, über eine Mauer einen Blick in verbotene Gegend zu werfen.

Endlich gesättigt fürs erste, trat sie zurück und vor das nebenstehende Bild hin.

Hier war Kampf. Im dunkel gehaltenen Vorgrund zur Linken galoppierte auf einem grau geharnischten Pferde mit braunen Beinen ein schwarzgrau Geharnischter über einen Haufen Erschlagener schräg aus dem Bilde, statt des Kopfes nur einen graden Helmtopf mit Augenschlitzen auf den Schultern, den braunen Schaft seiner Lanze aus dem Bilde heraus gerichtet. Links von ihm tief in der Bildecke zusammengekauert war ein nackter Neger, der den Bogen spannte —, dessen Pfeil stak rechts drüben in der Weiche eines Sarazenen, der mit seiner reichen Kleidung nach hinten schlug, so daß der Pfeilschuß die Breite des Bildes überspannte. Den Mittelgrund nahm eine leere Aufhöhung ein, und hier war alles hell, weißlich und silbrig, und silbrig grüne und eisbläuliche Erscheinungen. Ganz hinten, klein, jagte mit lichtblauen Bannern, weißen Harnischen und weißen Pferden ein Reiterzug die Anhöhe herauf und jenseits wieder hinunter, entschwindend. Er war herausgekommen aus einem altertümlichen silbergrünlichen Stadttor, das vor dem dunklen Hintergrund wie vor einem düsteren Meere stand. Inmitten aber, wo der Raum der Anhöhe weit und breit frei war, kam langsam, Renate sichtbar erst jetzt, die in der Entferntheit kleine Gestalt des Eroberers geritten, gleich erkennbar als solcher. Das weiße, massive Roß in lichtblauem Geschirr bewegte sich, den dicken Hals angezogen, sich drehend, in einem großartigen Pomp, geführt von einem Pagen in Blau und Silber. Der Heros im Sattel zeigte, so klein er war, die Züge des Fahrers vom ersten Bild. Er schien eine Wolke von weißem Licht um sich zu verbreiten.

Renate staunte, kaum atmend, über die Stille. Die schmetternde Gewaltigkeit des Vorganges vorn schmolz im Augenblick an der ruhevollen Erhabenheit dessen in der Mitte, dessen Feierlichkeit nun in eins klang für sie mit jener, in deren Schutze sie hergekommen war durch den sonnenstillen Charfreitag.

So wagte sie sich vor das dritte Bild.

In einem Sessel saß hier die Madonna auf einem kleinen Thron aus verschiedenartigem Marmor, schwarzem, weißem und braunem, Stufen, Plattform und Säulengeländer, in einem Gewand von ähnlichem schwarzem Blau wie das gewitterwandgleiche des ersten Bildes, gradausblickend, sehr still — und plötzlich mit ihren eigenen, Renates, Zügen, den unheimlich entfremdeten durch dunkle Brauen und schwarzes Haar. Vor ihr der stehende Knabe in einem hellrötlichen Hemd, hatte ein sanft ovales Gesicht, von schwarzen Haarsträhnen umrahmt, leicht bräunlich, indisch, und die mandelförmigen Augen von lichtem Blau hielten ein zauberhaftes Lächeln der Stille wie eine Blume fast mit Fingern empor. Auf dem braunen Erdboden davor kniete ein nackter Mensch, der eine schmale Krone von braungoldenen Zacken niederlegte, und in den gemeißelten Gliedern, weiß mit bräunlichen Schatten, glaubte Renate die des Fahrenden zu erkennen.

Und nun von beiden Seiten auf diese Gruppe zu war in schreitender Haltung je eine Reihe von Figuren geordnet, in Mänteln, in Priesterstolen, mit Tiaren, in Harnischen, in bürgerlicher Festkleidung des Mittelalters, Frauen dazwischen, jede behangen mit Farbigkeit, mit Purpur und dunklem Grün, braunem Pelz, Violett und bleichem Gelb, mit zaubrischem Rosa, gewässertem Blau, Rostrot, und Zimtfarbe. Und jede war in sich beschlossen und allein, obwohl oftmals nur ihr Gesicht, ihr Oberteil zwischen den Andern erschien, nachdenklich, verschollen, die schwer ernsten Züge umwölkt von Zeitlosigkeit, aus der sie blickten.

Diese beiden Züge immer kleiner werdender Figur entfernten sich in ruhiger Biegung in den Hintergrund. Daselbst dehnte zu unendlich scheinenden Tiefen Landschaft sich aus: ein Strom, grade durchfließend von links nach rechts, Brücken darüber, Wälder entfernt, Gebäude. Und überall befanden sich und tauchten auf winzige Gestalten, Pflüger, Jäger, Pilgerscharen, Wandrer, Reiter, ein Hirt. Und jeder war ein in Kristall abgeschlossener Teil Lebens, in seinem Schicksal befangen, friedvoll, ein ihm Aufgetragenes ausführend, sein volles Dasein darstellend in diesem stillen Augenblick der Handlung, in einem kleinen Umkreis von Einsamkeit jeder und in einer Luft ohne Verhängnis. Ah diese Luft! Woher kam sie? Ganz klein in der Ferne eine niedrige Kette grünlich weißer Gebirgszacken war vom linken Rahmen zum rechten gespannt in einer atemlosen Stille; und über ihr rieselte ein morgenfarbener Himmel, vielleicht bläulich, vielleicht grau, mit bebenden Ahnungen von Licht, von Röte, von erbleichenden Sternen, und doch nichts als Schweigen und Hauch des unendlichen Raumes, der in Morgenluft schaudert.

Renate verirrte sich völlig in diesem Bild. Augenblicke lang schien das immer wieder anziehende eigene Antlitz sie auf etwas Unerkennbares aufmerksam machen zu wollen, allein kaum beim Raten, verlor sie jede Besinnlichkeit über der tiefer und schauerlicher gewordenen Entseeltheit ihrer Züge von menschlicher Seele; als stünde sie vor blickender und atmender Unsterblichkeit, aus der doch in der nächsten Sekunde schon das menschlichste Lächeln süßer Ergebenheit wie eine Blume tauchte. — Dann versuchte sie, sich durch die Mauer erstarrter Lebendigkeiten in Kleidern einen Weg zu bahnen, aber — hielt hier das bläuliche Licht im Pflaumenschwarz einer Samtbrust, dort das knisternde Grau von Atlas, das braune Gold eines Harnischs sie auf —, so jetzt die tiefe Leidenschaftslosigkeit all dieser Züge, dieser Gegenstände haltenden Hände; dazu der Gedanke, daß nur feuerflüssige Leidenschaft eines Schöpfers diese gebildet haben könnte; daß sie deshalb so unbeirrten Ernstes erscheinen mußten, weil sonst Übermaß sich ergeben hätte. Nun aber hatten sie nur Dasein, und dieses in Ewigkeit. — Auf einmal hatte sie dann doch die Reihe durchbrochen und fand sich selbst auf der Wanderung in der dunklen Weite, atmend die Morgenfrühe, die Einsamkeit, vorüber an dem stillen Fischer auf der Brücke, zu dem Hirten am Waldrand, zum kleinen Pflüger unter dem Eichbaum, — und schon wieder fern allen diesen und bei sich selbst, sah sie jeden in seine entlegene Vereinsamung herversetzt aus der Oberwelt; aus mühsalvollem Leben in dies elysische Land, ewig fortzufahren im Tagewerk, kummerlos, in der zeitlosen Stunde vor Aufgang der Sonne, deren verborgene Strahlen niemals diese Berggipfel übersteigen würden.

Sie merkte endlich eine Veränderung an ihren Augen und sah, daß es dunkel geworden war. Seltsam waren die eben noch deutlichen Bilder im nächsten Augenblick unkenntlich geworden, und mit einem Gefühl von Unheimlichkeit wandte sie sich um.

Da standen ja Menschen! Wie? Menschen? oder Gemalte? Erscheinungen? Spiegelungen von — ja, Bogner, Jason und Erasmus, die in der Nähe der Wand standen und etwas betrachteten. Sie vermochte nicht hinzugehn, nicht zu diesem Menschen, der — jetzt erst traf sie der Schlag —, der dieses gemacht hatte.

Jason aber kam daher, neigte sich freundlich zu ihr und gab ihr die Hand. Erfreut von der menschlichen Wärme darin, sagte sie leise zu Jason: „Freund, erkläre mir dieses!“

„Dies“, sagte der bereitwillige Jason, „ist gemalt. Es ist ein Werk des Lebens und deshalb höher als das Leben. Hier ist nicht Wirklichkeit, sondern Bild. Hier ist kein Handeln, das wir kennen, hier ist kein körperliches, keine wahrnehmenden Sinne, und deshalb auch keine Beziehung, kein Schicksal, keine Verstrickungen und keinerlei Erregung. Könnte man derlei nachmachen mit Farbe und Pinseln? Und was käme heraus dabei? Dies ist wahrhaftig gemalt: andres Leben, andre Handlung, andrer Sinn, andre Gesetze, andere Luft und anderer Boden, der nicht sich betreten läßt, und Landschaft und Wesen, die wir nicht anrühren können, um ihnen gleich zu sein. Hier ist nichts gelöst als ein sehr einfaches Rätsel, nämlich das des Entfremdens. Es ist, wie wenn du einmal in den Himmel gelangtest, — wie fremd müßtest du dir erst werden! Und dies ist des Lebendigen letzte Kraft: Schauer und Magie eines höheren Lebens hervorzurufen, aus dem die uns anwehende Luft uns die Witterung des Ewigen zuträgt.“

„Es scheint sehr einfach“, murmelte Renate kaum bewußt und mußte sich wieder zu Bogner umwenden. Sie sah durch verschleierte Augen, daß er vor Erasmus stand, eine Hand auf der höheren Schulter des Freundes, der in der alten ruhigen Haltung, die sie kannte, den Kopf etwas gesenkt hielt und zuhörte, was Bogner leise mitteilte. Indem wurde Renate bewußt, daß jener der Anfang ihres Herzens gewesen war, — und nun dieser das Ende sein sollte, und nichts erstaunte sie so sehr als die Ähnlichkeit dieser Beiden. Sie konnte sich bald nicht mehr halten, ging zu ihnen, die sich nun wandten, und sagte, jeden leise am Arme berührend, dankbar zum Einen, dankbar zum Andern: „Ich wußte es wohl, ihr seid Brüder! — Ich habe euch lieb.“

Achtes Kapitel

Magda

Erwachend aus schnellem und tiefem Schlummer, fand Georg sich eingetaucht in ein großes und schweres Gefühl der Feierlichkeit. Aller Munterkeit fern, und obwohl hell wach und erquickt, auch ferne von Frische, saß er im Stuhl, beladen mit dieser starken und sehr ernsten Schwere, in der auch ein traumhaftes Ziehen wogte, so als würden noch wie magische Tücher Schlaf und Traum aus seinen Gliedern hervorgezogen. Draußen mußte es sonnig sein, denn im Zimmer, das jetzt Schatten hatte, zeigten die Dinge sich in tiefem Glanz: die Vitrine voll farbiger Stücke, die goldbemalten schwarzen Koffer ihr zu Seiten mit ihren rötlichen Stricken, an der Wand überm Sofa die Bilder der Jugendjahre, das Sofa selbst und der Tisch, und im Schatten der Türnische, hinter dem grauen Rupfen der Bücherregale, zeigte sich für einen Augenblick das Zucken eines ewigen Auges.

Schlaf, du magische Wand! dachte er erstaunt. Hindurchgegangen, entschwunden uns für Minuten, erwachen wir jenseits als Andre.

Die Taschenuhr, die er zog, stand auf halb Fünf. Also konnte er kaum eine Viertelstunde geschlafen haben. Aber wo blieb die Anna?

Er besann sich auf Geschehenes, auf Bevorstehendes. Klemens im Sonnenregen erschien mit der grünen Gestalt auf den Armen, — dann der Tote, aufrecht im Sessel, ein Schläfer, der sich gestillt hatte am Leben. Nur ein leiser Schmerz ging von ihm aus, so daß es war, als ließe die mystische Schwere, die Georg umhüllte, keine tatsächliche sonst zu. Auch bewegten die wenigen Gedanken, die er erscheinen sah, sich gleichsam mit kleinen Schritten, leicht und gebunden wie Kinder am Sonntag. Was stand denn bevor? Was? — Dieser Gedanke war zu schwer und ließ sich nicht heben.

Georg erhob sich, trat an den Schreibtisch und blickte hinaus.

Ja, es war heller Sonnenschein. Der Schatten des Südflügels bedeckte, wie an unzähligen Sonntagnachmittagen zuvor, den Hofraum zur Hälfte; Mauer und Fenster drüben erglänzten im Ausdruck der stillen Verlassenheit, die dem Sonntagnachmittag eigen ist überall auf der Welt; auf dem Dache, das, weil es höher war, sonniger schien, ruckte die Taubenschar, schillernd, deutlich mit ihren Schatten, und im vollen Leuchten vor der azurnen Himmelstiefe stand der weiße Turm mit dem Uhrblatt goldener Zeiger und Ziffern, der schwarzen Glocke im Innern, in dem luftigen Meer ein sehr stilles Riff, hinter dem die ruhige Überfahrt der bergichten Wolken schön vorüberglitt. Eine traumhafte Welle von Heimweh und Abschied ging langsam zitternd über dies hin und machte es um einen Hauch dunkler, ehe sie wieder verglitt.

Traumhaft jetzt war auch das leise Pochen an der Tür und das Eintreten Annas in einem Kleid von der lavendelblauen Farbe, die sie zu lieben schien, nebst Egloffstein, der hinter ihr einen kleinen Tisch mit dem Teekessel und Geschirr hereinrollte und mit seiner sicheren und lautlosen Geschäftigkeit für eine Minute das Zimmer erfüllte. Dann saß Magda im Sessel am Fenster, in den Tassen rauchte der honigfarbene Tee, sie ließ die Augen umhergleiten, ihre Tasse im Schoß, und fragte mit lichter Stimme:

„Ist noch alles wie früher, Georg? Hängt die Schale noch über mir?“

„Ja, Anna.“

„Und die Bilder, und der Schrank — alles wie immer?“

„Ja, Anna, aber wie sonderbar du sprichst! Als wolltest du Abschied nehmen.“

Hierauf antwortete sie nicht, und Georg, die Tasse aus ihrer Hand nehmend und seine Linke statt ihrer hineinlegend, fragte, das Gesicht nahe am ihren: „Sprich die Wahrheit, Anna, kannst du wirklich irgend etwas sehn?“

„Jetzt“, sagte sie ruhig, „sehe ich dein Gesicht und sogar deine Augen. — Sehen, wie du und Alle — nein, Georg, das kann ich nicht. Aber es ist immer hell, auch an den schlechtesten Tagen, wenn ich abgespannt bin oder erregt. Sonst kannst du glauben, daß ich so viel sehen kann, wie man braucht, um allein seinen Weg zu finden. Nur zu Schatten ist alles geworden, aber —“ sie hob seine Hand, „man kann fühlen.“

Georg, dicht vor Augen ihren sacht sich bewegenden Mund, die ganzen Züge, offen, ausdruckbedeckt, durchspielt von innen, unendlich sinnvoll und beseelt um das tote Braun des einen und das lebendigere, aber gefleckte des andern Auges, — er fühlte nach Sekunden, daß ihr Mund näher wollte zu ihm, und kam ihm entgegen. Ihre Lippen berührten sich behutsam und blieben so lange Zeit, ehe sie sich wieder ließen.

Eine Weile später erinnerte sie ihn dann, daß er ihr noch habe vorlesen wollen. Er widersprach nicht, meinte aber, das Buch aufnehmend, es sei doch alles kaum von Belang, außer für ihn selber. Zumal da sie alles von Bogner Handelnde schon gelesen habe. Er wolle aber einmal zusehn, ein paar Worte von Bogner stünden zwischen dem Übrigen. Blätternd derweil hatte er bald gefunden.

„Ja, dies sagte er einmal: ‚Die den Menschen erzeugte, und die er erzeugt: Natur und Kunst, diese beiden sind. Er selbst ist noch nicht.‘“

„Nein, Georg, was ihr euch alles ausdenkt!“ rief Magda unschuldig.

„Was, Anna, nimmst du uns nicht ernst? Bogner nicht ernst? Dann höre, was er noch sagte, hier steht es: ‚Der Mensch ist nur dazu da, um Natur in Kunst zu verwandeln.‘“

„Das glaub ich. Ja, so muß einer sprechen. Nur weiter!“

Georg las:

„Porzellan
(nach einem Wort Bogners)

Das ist die edle Alchymie des Leidens,

Die, sehnlich nach des Himmels Gold, erfand

Der Erde kräftig zartes Porzellan,

Drin Kochendes sich kühlt, — das dauerhaft

Gezeigt wird Enkeln an der Ahnen Festtag.“

„Davon ist aber zumindest die Hälfte von dir, Georg“, bemerkte sie heiter.

„Aber keineswegs! Von mir ganz allein dagegen ist dies:“ Er las ernst:

„Nur tiefer
(Im Gedächtnis Ulrika Tregiornis)

Der Tote, den du liebst, an seiner Hand

Führt er dich mit hinaus aus deiner Welt.

Du siehst dich um. Und wie der Schleier fällt,

Nur tiefer stehst du da in deinem Land.“

„Ulrika ...“ sagte sie leise. Dann: „Welch ferne, ferne Musik!“

Georg ließ das Buch sinken und empfand lastender die Schwere, die auf ihm lag. Über der ehernen kalten Meerflut erschien wehend der grüne Deich mit dem einsamen Grabesblock, und das Auge der Verlassenheit erhob sich darüber, ohne Bewegung. Georg glaubte, nicht gleich weiterlesen zu dürfen, und glitt langsam in den ersten Absatz einer Niederschrift, die allein vor den andern ein Datum zeigte, von dem er jedoch nicht mehr wußte, was es bedeutete, und erst mit dem Anfang des zweiten Absatzes fiel es ihm ein mit dem Heimwehstich, den er bekam.

‚Wenn deine Freundin über irgendeine Sache Tränen vergießt, und zwar in einem Maß, das dir unbegreiflich erscheint, und wenn du dann fragst, und sie sagt: Es ist nichts! oder: Ich weiß nicht warum, — so fliehe gleich von ihr, denn über vier Wochen oder in einem halben Jahr wird sie dir oder ihr etwas Furchtbares antun, dessen Tränen sie damals ahnungsvoll vorausweinte.

Dies gab sich mir heut zu erkennen, als Cornelia mir am Abend nach ihrer Rückkehr mitteilte, daß sie nicht bleiben könne. Nicht nur ihr unmäßiger Schmerzausbruch vor Wochen, als sie nur auf acht Tage fortzugehn mir und sich selber versprach, wurde mir Erinnerung, sondern diese zog noch zwei andere mit sich, nämlich Cordelias Verzweiflung ohne Maß und Grenzen, damals, als sie Theater vor mir gespielt hatte, und Annas Weinen, damals, als ich sie küßte.

Da alles, was mit uns geschieht, aus uns geschieht, so gehört freilich nur ein tieferes Eingebettetsein in die eigne Natur dazu, um zu ahnen; und wie es scheint, sind Frauen so veranlagt.

Cornelia also geht. Der Mensch hält sie fest. Dies ist auch ein Grundsatz über Frauen — und nicht die schlechtesten: Gieb ihnen zu wählen zwischen einem Geschenk und einem Opfer, sie strecken mit tödlicher Gewißheit die Hand nach dem zweiten aus. Mit bis zum Unverstand tödlicher Gewißheit.

Dieser Mensch war vor einigen Jahren dermaßen von Krankheit besessen, daß er einmal wochenlang hungerte, aus Unfähigkeit, in einen Laden, in ein Speisehaus zu treten, so daß er vom Frühstück der Zimmerwirtin lebte. Als er einmal ein polizeiliches Papier verloren hatte, mußte er und die Cornelia mit ihm jeden nur erdenklichen Fetzen, gleichviel welcher Größe oder welcher Farbe und gleichviel wo, im Haus, auf den Straßen, im Theater, aufheben und ihm zeigen, daß es nicht das verlorene war. Heut ist er kränker als jemals, einem Idioten ähnlicher als irgend etwas das sein könnte; was an ihm zu tun ist, könnte jeder Wärter gerad so gut und besser besorgen — denn ein solcher wäre standhaft, während Cornelia sich mit verzehrt —, allein: sie muß. Ihr bricht das Herz im Gefühl für mich; aber sie muß.

Ich habe ja wohl kein Recht, einen bittern Geschmack im Mund zu bekommen, — da ich sie nicht liebe. Aber mir ist bitter. Und ist es nicht alter menschlicher Unverstand? In einem Heim für idiotische Kinder sah ich strotzend blühende junge Mädchen und Frauen sich abmühen mit diesen für alle Ewigkeit verdorbenen Geschöpfen, an die sich all jene schöne Kraft und Willigkeit sinnlos vergeudete. Ist es nicht sinnlos, daß, wenn hier ein Kranker ist, der ein gewisses — sagen wir eine gewisse ‚Luft‘ braucht, um zu gesunden, diese einem Gesunden entzogen werde, der ihrer bedarf, um gesund zu bleiben? Ist nicht dies das erstlich Wünschenswerte: Gesundheit zu erhalten, danach erst: Krankheit zu heilen? (davon abgesehn, daß es in diesem Fall nicht einmal um Heilung geht.) Die Ärzte, soviel ich weiß, unterschreiben mir den ersten Satz, jene jedenfalls, die für den Kranken dazusein glauben und nicht für ihre Rechnung, denn wahrhaftig, wenn es Leitsatz der Menschheit wäre, auf die Erhaltung ihrer Gesundheit zu sehen, so könnte die Hälfte aller Ärzte Anwalt werden oder Pastor, um statt für Körperheil für Seelen- und Vermögenheil zu sorgen. —‘

„Willst du nicht mehr lesen?“ hörte er sich, noch bevor er die letzten Sätze erreicht hatte, gefragt, und erwiderte, sie mit dem Blick überfliegend:

„Etwas hätte ich dir gern vorgelesen, — aber es ist etwas lang. Du hast es nicht schon gelesen? Es ist das Letzte im Buch, die Überschrift heißt: Ultimo, — so habe ich es genannt, weil es damit ‚am letzten‘ mit mir ist. Mein letztes Wissen steckt darin, und — ich möchte dich bitten, wenn ich nun lese, zu glauben, daß es — nun, daß es sich nicht um Einfälle handelt, sondern daß es — wirklich mein Äußerstes ist, nicht wahr, mein Letztes, die gesammelte Erfahrung von allem, was ich er—lebte. Es sind Wochen vergangen, während ich es schrieb, und das weiß ich noch, daß fast jeder Satz so langsam kam, als währte er eine Stunde, und wenn er dann dastand ... aber gleichviel.“

Georg brach ab und schwieg. Eine Weile später begann er zu lesen.

„Ultimo

Motto: Wahrheit ist es nicht;
es ist meine Wahrheit.

I

Wenn wir uns klar zu werden versuchen über die Wirkung eines Dinges auf uns, das wir schön nennen, welcher Art dasselbe auch sei — der Natur, der Kunst, dem Handwerk entsprossen —, so wird die einfache Antwort lauten: Befriedigung.

Wir fühlen da eine magische Kraft von dem Schönen ausgehend uns treffen, die, vom tiefsten Erstaunen zur höchsten Freude, eine mehr oder minder mächtige Wallung in uns erregt, als würden alle gelockerten Bestandteile unseres Seins durcheinander gewirbelt; als fühlten wir in diesem ersten Stadium der Ergriffenheit das Chaos Welt, dem wir angehören. Danach atmen wir auf; der Schrecken besänftigt sich, das Unglaubliche, die Fremdartigkeit des Schönen, wird glaublich, da die Erscheinung bleibt, und nun fühlen wir uns erlöst, fühlen uns geheilt, fühlen uns zufrieden. Das Chaos in uns, oder die Unordnung, ist wie zum Kristalle zusammengeschossen, und das Schöne ist der Kristall. Die Verworrenheit der tausend Stimmen in uns hat ihren Einklang gefunden, und das Schöne ist der Einklang. Und die wundervolle Ausschließlichkeit des Schönen, die alle andern zurückdrängt hinter seiner glückhaften Erscheinung, sie vollendet in uns die Gewißheit, daß die Welt zu einer Ordnung kam, zu einem umfassenden Sinn, einer Sammlung, einer Stille, einem Frieden.

Hierin liegt mit ganzer Notwendigkeit die Folge beschlossen, daß, was wahrhaft schön ist, auch gut sei.

II

Gefälligkeit, dies ist die Wurzel des Schönen. Was dem Menschen gefiel, das taufte er schön. Nun aber hat es nichts Schönes oder Gefälliges gegeben, bevor der Mensch es nicht selber gemacht hätte. Wir heute sind wohl imstande, eine Blume, eine Färbung des Himmels — Dinge, die früher auf dieser Erde vorhanden waren als der Mensch — wohlgefällig zu empfinden; denn das Schöne ist heute in uns, wir besitzen es eingeboren, wir erkennen es, aus uns heraus, wieder. Daß dies heute so ist, kann einzig daran gelegen haben, daß die einstmalig unbewußte Erkenntnis des Schönen ganz durch uns durchging: daß wir ein Ding machten mit unserer eigenen Hand, das unser Gefühl für Gefälligkeit zum Ausdruck brachte. Wir mußten dem Gefälligen außer uns, das wir erkannten, nachahmen, was nachstreben heißt, nicht nachmachen, welches erst die Folge von jenem ist oder die Handlung als Verwirklichung jenes Empfindens. Wir mußten empfangen haben, gänzlich zu eigen genommen, das Empfangene durch unser Wesen verleiblicht haben, um es schließlich aus uns heraus zum Quellen, Erstehen, zu eigenem Leben zu bringen. Das Schöne — nunmehr zum zweiten Mal außer uns, vor uns stehend, wieder fremd und doch unser Eigentum nun, beglückte uns durch sein lächelndes Dasein.

III

Es war eine Schale. Es war die einem Tierschädel nachgeahmte, aus Binsen geflochtene, mit Lehm verklebte, gewölbte, gerundete, geglättete erste Form eines Gefäßes, ein freudiges Lachen erregend, weil sie ähnlich geworden, weil sie rund und glatt und gefällig war, weil der Mensch sie gemacht hatte, nicht die Natur.

Und welch unbewußtes und hierin unendliches Gefühl der Sicherheit! Sicherheit im Können, im nun Wiederholenkönnen, in der ganzen Unleugbarkeit des Gefertigten, das sich abgesondert hatte aus dem notvollen, angstvollen Wirrsal der Welt. Ein Maß war jetzt geschaffen, der Mensch hatte Maße, die sich abnehmen und anlegen ließen, und er konnte im Weitergang schaffender Erfindung Teile bilden an einem Ganzen, die unter sich einen Frieden hatten; konnte ein Ganzes zerlegen, ohne daß es zerfiel; er war im Besitze des Einklangs, im Besitze einer Kunst, ein Hundertfältiges, das ihn verwirrte, zu vereinfachen, und als ihm diese Einfachheit bedrohlich wurde durch Strenge, sie wieder aufzulösen durch die Verzierung. Er besaß nun das Schöne.

Der Mensch wirkte das Schöne mit vieler Müh. Der noch keines Guten sich deutlich bewußt war, schon war er gut durch eine Kraft der Güte, die ihm aus den Händen quoll in das Werk.

Gute Geister walteten schon: Vorsicht, Behutsamkeit, Besinnlichkeit und die Nimmermüdheit. Liebe kannte er nicht, aber liebevoll war er nun schon durch Geduld.

Geduld, die Erhalterin seiner Mühseligkeit; Geduld, welche dann ihn belohnte durch das erschaffene Schönding aus seiner eigenen Hand.

IV

Heute sind wir nun fern von der Quelle, verirrt im hundertarmigen Delta des Stroms, am Rande des Meers. Was einmal einfach gewesen, haben wir bis ins Unzählbare gespalten; alles ist uns getrennt, auch das Schöne vom Guten, die uns nicht mehr beschlossen sind ineinander wie Vogel und Ei, unkenntlich, was früher gewesen; sondern die nun gegeneinander gerichtet stehn, die wir abwägen, die wir gar zu Feinden gemacht haben, daß wir sagen: das Schöne ist unnütz, aber Gutsein ist not! Und daß wir den einen Schönling nennen, der bei vieler Liebe zum Schönen kein Herz in sich habe für das, was gut ist.

Doch nicht hiervon sei die Rede, sondern die Frage ist die: Wenn Beide einmal Eines gewesen sind, Schönes und Gutes, gleichviel denn, welches das Erste gewesen: müssen nicht auch die Eigenschaften des Guten die gleichen sein wie des Schönen, und die Wirkung die gleiche: ein Wohlgefallen, eine Erlösung, eine Befriedigung?

Ja. — Das Schöne, das wir erzeugten, hat die Gestalt des Werkes; das Gute, das wir erzeugen, hat die Gestalt der Handlung. Wohlgefällig ist uns das Schöne wegen des Einklangs, wegen der Ordnung, wegen der Beruhigung, in die uns die Welt da versetzt scheint. Wohlgefällig ist uns die gute Tat wegen des Einklangs, in die sie uns selber versetzte, wegen des Friedens, den sie über unsre Verworrenheit brachte.

Verworrenheit — die ist immer, und die ist das Böse; Einfachheit und Einigkeit, Klarheit, Ruhe, Frieden, die sind das Gute.

Verworrenheit aber ist Leiden; Einigkeit ist das Heil, ist die Tröstung.

Böses und Gutes beide, sie sind nicht in der Welt, sie sind allein in dem Menschen, der sie erkannte, so daß sie in ihm waren. Der an dem Einen litt, so daß er das Andre empfand.

Uralte Verworrenheit, ewige Unruhe, das war die Welt, aus der er kam. Überfülle, Verschwendung, Versuche tausendfacher Gestaltung — und das Streben nach Einheit: das war der Schacht, dem er endlich entstieg. Er, daß er es nicht leide! Daß er es in sich erleide und zu ändern willig werde. Er, der leiden lernte durch das Böse und sich heilen durch das Gute.

‚Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.‘

Denn seiend ist meine Verwirrtheit, das Böse, und ich tue sie allezeit, da ich bin; strebend aber, werdend ist das Gute. ‚Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht.‘ (Römer 7, Vers 19 und 18.)

V

Gut zu handeln, haben wir gesehen, ist not. Wir finden die Richtschnur dieses Handelns unter den Worten Dessen, zu dem wir immer zurückkehren, seit er erschien, und es ist das Wort, von dem er selbst sagte, daß in ihm das Gesetz hange. Es lautet bei Matthäus:

‚Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich giebt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar.‘

Nicht begrifflich, sondern um deutlich verstanden zu werden, drückte er seine Lehre so gegenständlich aus; stellte zwei Menschen einander gegenüber und wies auf den Vorgang.

So wollen wir auch, um auf den Grund der Lehre zu kommen, den Vorgang auseinanderfalten, damit wir zur Erkenntnis derjenigen Eigenschaft des Menschen kommen, aus der die Guttat entspringe.

Der Vorgang hat seine Vorgeschichte. Ein Mensch schlägt einen andern; ein Mensch also hatte Streit, war verfeindet mit einem andern, glaubte sich also von dem andern ein Unrecht zugefügt, rechtete mit ihm, traf ihn. Aber die zum Widerschlagen erhobene Hand soll sinken. Ja, nicht nur dies; auch die andre Wange soll dargehalten werden zum neuen Schlage, — was heißt das?

Es heißt: der Geschlagene soll sich besinnen. Sich besinnen aber, das heißt fragen: Warum ward ich geschlagen? — Wie lautet die Antwort? Weil jener glaubte, ich hätte ihm unrecht getan. Habe ich das? Nein. — Nein — oder vielleicht doch. Ja, vielleicht ist da ein Unrecht doch irgendwo. Vielleicht nicht dieses; vielleicht ein andres. Wir sind allzumal Sünder. Wir sind uns Alle verschuldet. — Da wird er auch die andre Wange darhalten.

Wie aber nennen wir die Eigenschaft, wie nennen wir die Gemütsverfassung eines Menschen, der imstande ist, bei geschlagener Wange solche Erwägungen anzustellen, zu einer solchen Einsicht zu kommen?

Geduld.

Geduld, o du zeugender Vater des Schönen! Geduld, o du leidende Mutter des Guten!

VI

Wie nun aber? Der Mensch, wie wir ihn sehn, ist nicht geduldig geraten; in zwei Jahrtausenden seit jener Lehre ist er nicht geduldig, ist er vielmehr ungeduldig geworden, so daß ihm immer das Licht unter den Nägeln brennt, so daß er nur schreien kann: Auge um Auge!

Und gesetzt also, es träte einer auf, der hätte die heilsame Panazee, und die ganze Menschheit strömte zu ihm und ließe sich impfen mit Geduld: würde sie — wie sie einmal beschaffen ist! —, würde sie heil werden und gut?

Nein, sondern die Lymphe würde sich, ‚wie sie einmal beschaffen ist!‘ in ihr in Gift verwandeln, und die unaufhörlich zerdrückte, verschluckte, verbissene Ungeduld würde sie so zersetzen, daß sie am Ende zerreißen müßte.

Sie kann — entfernen wir jenen deus ex machina wieder —, sie kann, wie sie einmal beschaffen ist, nicht zur Geduld kommen. In allem ist sie auf einer immer geschwinderen Jagd; weniger heute als jemals kann sie einhalten. Geduldig sein heißt zurücktreten; geduldig denken heißt zurückdenken: sie kann immer nur vorwärts.

Dies alles aber, warum ist es denn so, und was ist der Fehler am Grunde?

VII

(Vielleicht ist der Fehler dies: Von der ganzen Menschheit ist weitaus die größte Mehrzahl mit sich, mit dem Leben, mit der Welt, selbst mit dem Leiden darin zufrieden. Vergeßlich beschaffen, würden sie ein andres, besser genanntes Leben, so mans ihnen verschaffte, annehmen, aber aus sich heraus wollen sie kein andres.

Eine kleine Zahl von dem Rest hat zwar eingesehn, daß sie nicht zufrieden sein darf mit dem, was sie hat, und daß alles anders sein sollte. Wie sie aber beschaffen sind, vermögen sie sich von der zeitlichen Grundlage, auf der sie stehn, nicht zu entfernen; sie sehen nicht ein ‚Alles‘, sehen kein Ausdemgrunde, das zu ändern wäre, sondern nur ein Vieles, und jeder ein Andres, und der Eine meint dieses, der Andre das, welches geändert werden und welches geändert auch alles Übrige umwandeln müßte, — und der Erfolg ist nur Hader. Ganz wenige sind, die das ‚Alles‘ erkannten und die volle Unmöglichkeit dieses Lebens, in das wir Alle verstrickt sind.

Diese stehen einsam in der Verstrickung, wissen weder sich selbst noch den Andern zu helfen, und wenn der Eine sich begnügt, ein System zu entwerfen: wie es eigentlich sein sollte, so hat der Andre nichts als den heiseren Nachtschrei zu Gott.)

VIII

Geduld dächte rückwärts und würde erfahren: die Schuld liegt bei mir; Ungeduld denkt nicht.

Geduld ist stark; Ungeduld ist schwach.

Geduld hat Vertrauen und glaubt der eigenen Rechtlichkeit. Schwäche ist Mißtrauen; sie ist Befangenheit in der uralten Verwirrung, erkennt nicht das Gute, dessen Sehnsucht, dessen Gebot und Kraft; sie mißtraut sich selbst und den Andern. Sie hat in sich keinen Halt und vermutet ihn bei keinem. Der Halt ist Glauben; der Anhalt ist Gott.

IX

Unzählbar in den Evangelien und Episteln sind die Worte vom Glauben. Lösen wir aus diesen und aus jenen, aus der Darstellung und der Auslegung nur die beiden heraus, die uns am tiefsten zu leuchten scheinen, so lautet das eine (bei Johannes im 11. Kapitel, V. 25):

‚Ich bin die Auferstehung und das Leben; wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.‘

Und das andre (im Paulusbrief an die Römer, Kap. 3, V. 28):

‚So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.‘

Wie muß einmal aufgehorcht sein bei diesem Wort! Vom Glauben und Glaubensollen war in den Gesetzen Jehovas nichts zu lesen — dessen Dasein verbürgt war, so daß es keiner Mahnung zum Daranglauben bedurfte —, und die Götter der Griechen freuten sich ihres Daseins, aber sie hatten keine Satzung daraus gemacht.

Ich möchte fragen: Muß nicht dieses das Neue gewesen sein, das bewog und anzog? War es nicht eben so, daß die alten Götter kraftlos geworden waren, daß sie sich erdrückt hatten durch ihre Vielzahl, daß ihre unhaltbar gewordene Vielfältigkeit hinlosch auf jenem Altar, wo die neue Flamme der Einzigkeit und der Einheit entbrannte, und an welchem geschrieben stand: ‚Dem unbekannten Gott‘?

Mißtrauen gegen die alten Götter bereitete dem neuen den Weg, denn die Menschen wollten noch glauben. So kam der Neue mit seiner Heilsverlockung: Wer an mich glaubt, der wird leben!

Das Wort leuchtet wie keins. Seine Überzeugungskraft flammt so heraus, daß auch der Ungläubige sich ergriffen fühlen muß; daß er, solange er fühlen kann, wie all jene in ihrer Verworrenheit, ihrer Verlassenheit, in ihrer Ausgesetztheit in den Tod, aufbrennt in dem Verlangen, blindlings zu sein und zu glauben.

X

Was heißt glauben? Das griechische Wort heißt ‚pisteuein‘ und ‚pistis‘ der Glaube. Es heißt, überzeugt sein, daß etwas so ist, wie es sich darstellt, und darauf vertrauen.

Da aber Christus nur die Verleiblichung Gottes auf Erden war, was heißt glauben?

Überzeugt sein und für wahr halten, daß Gott der Herr ist, der die Welt erschaffen hat samt allen Kreaturen und diese erhält; daß er allmächtig ist, allwissend, und allweise; daß von ihm alles abhängt, daß er die Vollkommenheit ist, die unsre Sinne nur zu fassen zu stumpf sind, in die wir aber dereinst eingehn werden, dieweil es versprochen wurde: ‚Wer an mich glaubt, der wird leben!‘

Die Worte stehn da, unmißverständlich wie etwas. Pistis — der Glaube, so heißt es, nicht anders. Die Menschen vertrauten, und wie ging es weiter?

Sie waren Menschen, zwar glauben wollend, allein mißtrauisch beschaffen; waren Menschen, die aneinanderhingen, nicht jeder für sich allein glaubten, sondern in ihrer Gemeinschaft, und so — wer beschriebe den ganzen Verlauf? — ward aus dem Glauben Gesetz, das lebendige Neue wieder zum toten Alten, und weiterhin durch die Flucht der Gezeiten die Verkalkung im Ritus, im Zeremonial, in der Formalität, im großen Mummenschanz einer ‚allein seligmachenden‘ Kirche. Das Mißtrauen nahm überhand wie die Sintflut, die Schwachsinnigen konnten noch glauben, im Aberglauben und im Stein ihres Zeremonials; die Starken, die noch in der Lebendigkeit, in der Wahrheit glauben wollten, als auch in ihren Augen der alte Außengott, der die Erde erschaffen hatte, seine Glaubwürdigkeit verlor: sie wandten sich ab von dem klaren Tage ins Dunkel. Aus ihnen, die wir deshalb die Mystischen nennen, schlug noch einmal die Glaubensnot mit rasender Flamme hervor, riß Gott aus den Himmeln herunter und verzehrte ihn, so daß es nun hieß:

Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben,

Werd ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.

Gott wurde hineingezogen in die Welt, in den Menschen; er war nun in allem, im Stein, in der Pflanze, in jeder Pore am Leib. Die das glaubten, waren die Starken, die Inbrünstigen, die Feurigen, Seelischen, Leidenden, Strebenden, Guten. Und noch trat Luther hervor, streitbar, ein Held, der den Christen kriegerisch wollte, der brannte und sich dämpfte, und der noch einmal einen stämmigen Herrgott schuf nach dem Bild seiner Stämmigkeit; ein Gott, der, wie mir scheint, bald innen war, bald außen, widerspruchsvoll wie der Mensch selber, Luther. Da aber die Menschen keinerlei Widersprüche ertragen können, so bildete sich auch kein Luthertum, sondern ein kühler mittlerer Protestantismus, der vielerlei Möglichkeit offen ließ bis zum völlig Absurden einer heutigen Liberalität.

Die Schwachen aber, die Haltbedürftigen, all die Notleidenden, Kranken an der Armseligkeit ihres Daseins, die Gebrochenen von Geburt an, die Unterdrückten, Taglöhner ihrer Hände, Sklaven der Maschine, Zusammengepferchte mit ihresgleichen, ohne Luft, ohne Licht, ohne Geduld über sich, ohne Schönheit, Enterbte, Verschnittene des ewigen Lebens: die sollten an einen Gott glauben können, der in ihnen ist, der sie selbst sind? Sie in ihrem Morast, in ihrem Ekel, ihrer Entrechtung, ihrer Entnervung, sie sollen Kraft haben zu sowas?

Vielmehr hat der Teufel Mißtrauen sie All an der Kehle und beißt ohne Unterlaß hinein.

XI

Ich, der nicht glauben kann, der ich aber eine unaussprechliche Sehnsucht habe, mich zurechtzufinden, zum Frieden zu kommen; der ich diesen und jenen Weg versuchte, mein Hirn zernagte, mein Herz zerklopfte und überall so gierig wie ein verhungerter Wolf suchte nach der Speise des Lebens: ich habe allezeit eine bestimmte, wiewohl anfänglich unklare oder gar bewußtlose Abneigung empfunden gegen die Aufrichtung eines nichtpersönlichen, sondern eines in der Welt beschlossenen, aus ihr und durch sie, ‚in allem‘ seienden und wirkenden Gottes. Meines Wesens in allen Sachen der Seele oder des Herzens nach Einfachheit strebend, ja, zur Einfalt geneigt, war und ist mir immer die Vorstellung von Gott mit dem Persönlichen unauflöslich verbunden. Warum denn Glauben, warum Vertraun? Ist Gott nicht dieses menschenähnliche, aber ungeheure und unfaßliche Wesen, ist er nichts weiter als eine lebendige Kraft diesen und jenen Namens, so zeigt mir das Auge meiner schlichten Vernunft im Wechsel der Jahreszeit, im Kreislauf der Natur, in meinem eigenen Wesen das Walten einer solchen Kraft untrüglich an, und was brauchts da ein Herz, um zu glauben, was ich weiß?

Erfüll davon dein Herz, so groß es ist,

Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,

Nenn es dann, wie du willst,

Nenns Glück, Herz, Liebe, Gott!

Ich habe keinen Namen

Dafür! —

Ja, wie denn? Hier habe ich eine Frucht, die wie eine Birne aussieht, wie eine Birne schmeckt, in allen Dingen wie eine Birne geartet ist, die aber nicht am Birnbaum gewachsen ist, sondern am Apfelbaum. Giebt es da die geringste Notwendigkeit, diese Frucht einen Apfel zu nennen und Apfelbaum ihren Baum? Hinge Notwendigkeit nicht ab von Einzigkeit, vom Nichtandersseinkönnen? ‚Nenn es dann, wie du willst!‘ Ja, wenn ich die Wahl haben soll, so ist Gott freilich nur ein Name und also Schall und Rauch. ‚Wer darf ihn nennen?‘ Was heißt ein ‚darf‘, wo alles ‚muß‘ sein sollte! Nun, Faust freilich wollte nur bestricken und eine Gleichheit vortäuschen: er, der übrigens doch wohl an einen persönlichen Gott wohl oder übel glauben mußte, da er dessen Widerspruch Mephistopheles mit Händen greifen konnte. Wer aber, nicht um zu täuschen, sondern zum Anschein der Wahrheit, gewisse nicht ganz begreifliche, mit Sinnen nicht durchaus faßliche, vorhanden scheinende, aber nicht beweisliche Kräfte innerhalb dieser natürlichen Grenzen göttlich nennt, — nicht nur zur Unterscheidung von anderen ähnlichen Kräften und nur um einen Namen zu haben, sondern um einen ursächlich unterschiedenen Gott daraus herzustellen: der mag es tun, aber ich glaube ihm nicht, und er kann mich nicht verführen. Wenn gesagt worden ist, daß die Toten auferstehn werden, um ein ewiges Leben zu haben, so soll man mir keinen Possen spielen mit verweslich und unverweslich, mit geistigen Kleidern und mit Verwandeltwerden. Wenn im selben Evangelium, das uns das Leben des Gottsohnes wahrhaftig beschreiben will, Engel vom Himmel mit Botschaften kommen, ungläubige Priester, hoffende Mütter und einfältige Hirten zu belehren, so kann ich hinter diesen nicht ‚Glück, Herz, Liebe — Gefühl‘, sondern nur einen himmlischen Vater gewahren, der weiß, was ich nicht weiß, und Kraft hat, die ich nicht habe. Jedes läßt sich mit jedem mischen und zusammenkneten, wozu nur ein wenig Verstand gehört; aber all dieses sind unfruchtbare Bemühungen und Versuche, einen Gott im Leben zu erhalten, der in Wahrheit lange verschieden ist.

XII

So blieben denn zwei Möglichkeiten über.

Die erste wäre: Ich glaube. Das heißt: Ich bin überzeugt und ich halte für wahr, nicht mit meiner Vernunft, sondern mit meinem Ganzen, meinem vollen und ungeteilten Wesen, das immer einig waltet, welche Eigenschaft daran auch in diesem und jenem Augenblick die führende oder erschließende sein möge: halte für wahr mit aller Kraft meines Herzens und meines Geistes — Gott, den Vater, den allmächtigen Schöpfer aller Kreaturen. Credo quia — oder wie Strindberg sagt: etsi — absurdum.

Auf solch einen Gott vertrauen, das heißt einer Vollkommenheit gewiß sein, ob sie auch über alle Fähigkeit menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnisse hinausgeht; trotzdem ihrer gewiß sein und also für die Unvollkommenheit, die wahrnehmbar ist, für das Böse oder das Leiden die Hoffnung hegen voller Vertrauen, daß auch sie ihren Sinn habe nach dem Willen des höheren Wesens, und daß sie diesen Sinn irgendeinmal offenbaren, sich auflösen wird und nur noch Vollkommenheit sein. Und die zweite Möglichkeit wäre, dies nicht zu glauben. Es ist kein Gott, keine Vollkommenheit; es ist nur Unvollkommenheit, nur Leiden; dazu die Kraft, dieses immerhin einzusehn, die Kraft, sich hineinzufinden.

Danach bliebe mein Wesen auf diese Erde beschränkt, das will sagen auf die Menschheit. Die Fähigkeit, mich selber und meinesgleichen zu ertragen, die mir dort aus meiner Gottgläubigkeit wuchs, muß nun aus mir selbst und aus der menschlichen Gemeinschaft erwachsen. An die Stelle des Glaubens träte das Sittengesetz.

Und wiederum zwei Möglichkeiten dahier.

Die eine, die für den Einzelnen, die Einsicht Habenden, sich nicht verloren geben Wollenden, der sich kräftig genug fühlt, gottlos, will sagen heillos zu leben. Für ihn die Worte: Geduld! und: Vertrauen! — Vertrauen auf den dunklen Drang, einen rechten Weg zu gehn, auf eine untrügliche Liebe zum Wahren und Guten, eine Kraft, von Augenblick zu Augenblick hintastend zu gehn; auf das Nächste allein immer gerichtet, das Ferne nicht zu verfehlen; eine innere Sicherheit, eine Kraft, die denn Langmut verleiht, Geduld zu haben mit den Menschen, wie man sie mit sich selber hat. Tröstlich auf solch einen Weg möge dann das schönste Wort leuchten, das ich fand:

‚Wir rühmen uns auch der Trübsale, dieweil wir wissen, daß Trübsal Geduld bringt. Geduld aber bringt Erfahrung, Erfahrung aber bringt Hoffnung; Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden.‘

Da keine Vollkommenheit ist, so ist auch keine gänzliche Errettung zu denken. Aber von Augenblicke zu Augenblick führt der Weg der Geduldigkeit, und es glänzt uns der Stern der Hoffnung, daß wir nicht gänzlich zuschanden werden. (Römer 5, V. 3-5.)

Dieses mein Weg, und dies mein Stern. Ich will es versuchen.

XIII

Welche Möglichkeit aber bliebe für Alle die, denen aus irgend Gründen die Einsicht verwehrt bleibt? Welche Möglichkeit für die Befangenen in Mißtrauen und Ungeduld? Für all die Erniedrigten, Dumpfen, Gebrochenen, für die Halben, Kraftlosen, Lauen, Oberflächlichen, Tanzenden; für die Masse, die ‚Welt‘?

Denn so mir Gott helfe: dies alles habe ich zuerst um meinetwillen erdacht und geschrieben; es hätte aber mir nicht eine solche Not sein können, es hätte nicht so sehr meine Sache sein können, wenn nur ich allein, wenn nicht die ganze irdische Legion in diesem Irrsal befangen wäre, also daß ich nur mit Bewußtsein leiden kann an etwas, das Alle, ob auch unbewußt, unaufhörlich erleiden. Somit, daß, wenn ich einen Weg suchte, ich ihn nicht suchte für mich, sondern im Auftrage gleichsam All derer, die nicht einmal suchen dürfen. Ach, wäre sie denn so groß und so unbarmherzig meine Not, wenn sie nicht Weltnot wäre und ich nur ein Gegenstand in dem Sturm, der ihn schüttelt!

Aber mir bleibt aus dem Gefühle der Hoffnung, die ich selbst für den nächsten Augenblick habe, in Hinsicht der Welt nur ein ärmlicher Ausblick ins Fernste. Und Mißtraun und Ungeduld, denk ich, sie werden fressen und fressen und einmal sich selber gefressen haben ...

‚Denn wir wissen, daß alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstigt sich immerdar.‘ (Römer 8, V. 22.)

‚Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer; da ist nicht, der verständig sei, da ist nicht, der nach Gott frage. Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden; da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht Einer. Ihr Schlund ist ein offenes Grab, mit ihren Zungen handeln sie trüglich. Otterngift ist unter ihren Lippen. Ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit; ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, und den Weg des Friedens wissen sie nicht.‘ (Römer 3, V. 10-17.)

Was aber ist das Gute? Es ist das heimliche Wissen der Verworrenheit, daß Klarheit sein sollte, und das offene Ahnen, daß Klarheit möglich ist. Das Gute ist das Böse, das an sich leidet, und wohlan, so wird es leiden, bis es sich durchgelitten hat, bis Geduld aufkeimt und Vertrauen wiederkehrt und endlich eine Kraft offenbar werden wird, die so göttlich ist unter den Menschen, daß sie ganz aussieht wie ein Gott.

Ja, daß sie Gestalt und Wesen und Kraft und Namen, alles haben wird von Gott.

Und seinen lange vergessenen Namen, vielleicht findet ihn jemand wieder, damit in Wahrheit auch Gott heiße, was allein göttlich ist: die Vollkommenheit.“

 

Georg schwieg. Magda saß, wie sie zugehört hatte, grade angelehnt mit geschlossenen Augen und bewegte sich nicht. Durch den tiefen Kummer, mit dem er ausgelesen hatte, fühlte er langsam das feierliche Empfinden von zuvor wieder durchdringen, und ein Blick durch das Fenster auf die besonnten Dächer und in die Klarheit des Äthers ließ es augenblicks schwellen wie zu einem Akkord. Gleich darauf hörte er Magda sprechen und schauderte leise, da er die gleichen Worte erkannte, die er von Renate gehört hatte, vor Mittag, dort in der Kapelle des Baums. Sie sagte:

„Und um so süßer verlockend das Wort ‚von Ewigkeit zu Ewigkeit‘ dir im Herzen ertönt: sprich dagegen: ‚von Augenblicke zu Augenblick‘ knüpf ich und webe ich das einzige Kleid meines Lebens. Zu wissen ist nicht not. Not ist, zu tun. In dem Tun wird die Liebe, in der Liebe das Wesen, in dem Wesen das Leben sein, das weder zeitlich noch ewig, sondern das in der Liebe ist.“

Sie verstummte, und um so weniger das Wort Liebe erschienen war in dem, was er gelesen hatte, um so tiefer fand er sich nun durch die Einsicht erschüttert, wie sehr die letzten gesprochenen Worte eine Ergänzung bildeten zu den gelesenen, fast so, als wären jene um dieser willen allein von ihm erdacht und geschrieben worden. Dann empfand er ein Glück, sie, die er am Morgen so anders, ja fast überhört hatte, noch einmal gesagt zu bekommen und nun besser zu verstehn. — —

Georg legte sein Buch fort. Er erhob sich dann, um, über den Schreibtisch gebeugt, nach draußen zu spähn, und entdeckte, als ob er ihr Vorhandensein geahnt hätte, auf der Terrasse Irene, Klemens und die Friedlichkeit, wie sie dabei waren, auf der leeren Fläche zu dritt spazieren zu gehn, Klemens links, die Hände auf dem Rücken, Irene rechts, beim Sprechen ihn anblickend, die Friedlichkeit, etwas schmal, in der Mitte. — Georg setzte sich wieder und sagte:

„Ein Rätsel. Unten gehn Klemens und Irene allein und sind eigentlich Drei, was ist das?“

Sie erwiderte getrost: „Oh ja, sie werden wohl bald Kinder haben ...“

Georg lachte herzlich, indem er so tat, als habe er diese Antwort gewünscht.

„Und nun,“ sagte sie, sich zurechtsetzend, „nun möchte ich noch über Benno mit dir sprechen“; wieder als ob sie vor einer Reise stünde und letzte Anordnungen treffen wolle. „Ihr werdet euch ja nun selten mehr sehn, und vielleicht erst in späteren Jahren wieder, denn du hast nun Schweres vor dir, und er geht ja nach Aachen als Kapellmeister und wird dort heiraten. — Sei nachsichtig mit ihm, Georg, denke nicht bitter und falsch von ihm, denn er ist doch dein Freund! Er ist vielleicht keiner der Stärksten im Wollen und Leisten; er ist von den Wünschenden, von den Schwebenden einer, die von allem möchten, daß es weicht und nicht nahe kommt. Er wird vielleicht niemals ganz sein können in Diesem oder Jenem, in der Kunst nicht und nicht im Leben, auch nicht im Glück oder Unglück. War er nicht immer unglücklich im Hause seiner Eltern, herumgestoßen und herumgescholten, und saß er an seinem Klavier, so war alles vergessen und er selig. Oft habe ich mit ihm über seine Anlage gesprochen. Er sagte, am liebsten sei ihm wie in Hölderlins Wort: ‚Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist!‘ Er hat keine Anlage zum Glücklichsein. Alldas wollt ich dir einmal sagen. Immer schwärmt er, nicht wahr? er liebt alles von weitem, in farbiger Verschwommenheit, und das Wirkliche ist ihm zu hart. Und die Kunst auch, ich glaube, sie ist ihm viel mehr ein warmer Strom, in dem er glückselig treibt, als ein Stoff, den er verarbeiten kann.“

Georg, der alles sehr gut verstand, ließ sie schweigen und weiterreden, da es ihr augenscheinlich wohltat.

„Vor kurzem klagte er wieder, daß er heiraten will und auch nicht. Ja, er schwankt noch immer, aber natürlich wird er es tun“ Sie lächelte. „Es ist ja zum Lachen, denn siehst du, es schadet ihm dabei gar nicht, daß seine Elfriede, wie ich höre, ein beinah lasterhaftes Geschöpf ist, jedenfalls leichtfertig bis zur Lasterhaftigkeit, obschon nicht voll Bosheit, — die an ihm weiter nichts haben will, als einen berühmten Mann, und wird er das nicht —, nun, aber auch das wird ihm nicht groß Schaden tun. Er wird doch bald einsehn, daß sie recht hat, und er leidet ja eben an ganz andern Dingen. Er wird dir wohl auch vorgeträumt haben vom Frühling und den Anfängen und alldem, und wie es viel schöner gewesen ist, seiner Elfe von fern nachzugehn durch die — hat er, Georg?“ Sie stimmte lebhaft ein in Georgs Lachen und fuhr fort: „Aber so braucht er das Leben. Er muß sein Glück immer in einem Unglück haben, und deshalb, siehst du, darfst du ihm die Gewißheit deiner Freundschaft und Liebe nicht nehmen, denn — ich weiß, Georg — die gehören zu seinen Schätzen. Deren Verlust würde ihn wirklich schmerzen.“

„Ich weiß, Anna, ich wußte alles, was du gesagt hast! Es ist wahr, er macht mich leicht unwirsch und —“

„Ja, du weißt es, Georg, und nicht deshalb habe ich es gesagt, aber du willst dich nicht immer danach richten! — Es wird ja auch gut sein, wenn ihr euch nicht so häufig seht. Kleine Verfremdungen schaden an sich nicht, aber sie sind wie so ein Loch in der Strumpfnaht, — man muß sie gleich in Frieden lassen, sonst reißts weiter und weiter. Es ist nun mal so mit uns Menschen. Ein Augenblick Nähe zuviel bringt uns weiter auseinander als Jahre der Trennung, aber —“

„Nein, Anna, was bist du doch klug geworden! Du bist ja klüger als ich!“

„Siehst du wohl! Es läuft keiner so schnell, daß man ihn nicht einholen könnte.“

„Na, das war aber Unsinn, Anna!“

Sie lachte, fügte sich aber schnell wieder zum Ernst und erhob sich, die Hände ausstreckend. Aber in diesem Augenblick schwoll das Feierliche um ihn fast gewaltsam auf, erschreckend, da es jetzt von der schmalen blauen Gestalt ausging, die ihn ansah, ergriffen und sonderbar ruhevoll zugleich.

„Und nun leb wohl, mein Georg!“ sagte sie mit wunderlicher Festigkeit, „mein Amt hat nun sein Ende. Ich hab dich noch einmal gesehn und weiß, daß ich nun nicht mehr vonnöten bin. Ja, Georg,“ sprach sie, seine Hände festhaltend, mit immer leidenschaftlicherer Innigkeit weiter: „du hast wieder einmal nichts gewußt, und für Rieferling war keine Zeit, und so ist er doch lieber gleich zu mir gekommen statt zu dir. Es war ja auch nur dumm, erst dich um Rat fragen zu wollen, ob ich mich auch ohne Augen getraute, einen Mann zu haben und Kinder zu kriegen — denn das will ich, Georg! —, und du hättest es ja nicht gewußt! Mein lieber großer Junge, es werden nun bald vier Jahr, daß ich den schweren Weg mit dir gegangen bin. Du hast es nicht gemerkt, aber ich habe es gewußt, daß ein Mensch nötig war, zu hoffen und zu glauben und bei dir zu sein mit tausend Gedanken der Liebe, mit aller Kraft, Tag und Nacht, mit dem ganzen glühenden Leben. So war es, und nun ist es gut. Georg, ich weiß, was du nicht weißt, und ich muß nun gehn und an mich selber denken. Ich nehme dir nicht mein Herz. Ein Herz kann nicht verrückt werden, es bleibt immer, wo es von Anfang war. Aber ich kann einen guten Menschen wohl lieb haben und mit Geben und Nehmen das schöne Gewebe des Lebens zusammen mit ihm flechten. Ich will auch meine Kinder haben und mein Haus, Alltage und Sonntage, und all die Freuden und Schmerzen der Gemeinsamkeit. Lebe wohl! Unsern Abschiedskuß haben wir uns vorhin schon gegeben, und ich will keinen andern mehr. Wir sehn uns auch bald wieder! Und heut abend hörst du mich singen.“

Sie brach ab, nahm ihre Hände, bevor er sie noch ganz an die Lippen hätte heben können, aus den seinen und ging zur Tür.

Georg stand am Fenster. Noch sah er sie vor sich stehn und hörte ihre Stimme, die, innig und warm, doch wie eines Engels Rede gesungen hatte, so leidenschaftlich und so seltsam unteilhaft. Ein heißer Krampf schüttelte seine Brust; er glaubte, in Tränen ausbrechen zu müssen, aber es blieb alles still, und aus einer unermeßlichen und feiertäglichen Leere sagte er langsam und schwer:

„Das — war — es.“

Überdem aber hörte er ihre Stimme von der Tür her, erinnerte sich, daß sie noch gegenwärtig war, und fragte, da er nicht verstanden hatte: „Was sagst du, Anna?“

„Ich sagte etwas, das ich dich schon lang hatte fragen wollen, Georg. Denn —“ sie machte einen Schritt auf ihn zu — „ich weiß wohl, in was du dich verstrickt hast, aber — in alldem — — Georg, hat es dich nicht unsagbar glücklich gemacht, zu wissen, daß er wirklich dein Vater war?“

„Wie — meinst du?“

Georg war zumut, als ob er sich auflöste. Oder als ob zwei Riesen, zwei Ungeheuer in ihm ihre verknoteten Leiber auseinanderrissen, und seine Glieder verschwanden ihm, sein Kopf wurde schwer wie ein Stein, er glaubte zu fallen, bemühte sich dabei mit brennender Heftigkeit, zu verstehn, was alldas heißen sollte, konnte aber nur würgen und nicht sprechen.

Auf einmal streckte sie beide Arme nach ihm aus. „Georg!“ schrie sie, „weißt du’s denn nicht? weißt du’s denn gar nicht?“

Irgend etwas zerfiel lautlos in ungeheure Stücke. Er zerrieselte hülflos. Bäume, Büsche, Rasen, eine Gestalt wirbelten um ihn her und verschlangen sich; dann wurde seine Umgebung eigentümlich schief, er dachte: Was ist denn jetzt? spürte einen leisen Schmerz an Schulter und Hüfte und mit einem abscheulichen Gefühl von Übelkeit, daß er lag. Über ihm flog eine klägliche Stimme: Georg, wo bist du denn? Er schloß die Augen.

Langsam quoll über die schwindende Übelkeit eine Erleichterung aus dem Dunkel; auch leises Wohlbehagen im Bewußtsein des tiefen Liegens. Er fühlte seine Hände naß, wollte sich aber die Wonne des Daliegens nicht stören lassen und stöhnte nur leise. Hände tasteten an seinem Gesicht, er faßte ermüdet danach und öffnete die Augen.

In einem gewaltigen Kessel, der in ihm war, wälzten sich zwei Ströme herum; einer, der über alle Begriffe glücklich war, hieß: Vater; der andre, der schwarz und gallebitter war, hieß: Tod, und auch: Schuld. Plötzlich war alldas verschwunden, Georg stand auf, strauchelte aber und mußte sich, da er nichts andres fand, mit Hand und Schulter gegen die Anna stützen. Bald versuchte er, zu denken, aber die Zange griff trotz mehrmaligen Ansetzens nicht zu.

Danach fand er sich auf einem Stuhl sitzend und vor sich das Mädchen, und er hielt ihre eine Hand. Leer von Gefühl zu ihr aufblickend, begann er zu fragen:

„Sage mir ... Wer wußte dies außer mir?“

Sie schwieg, bedachte sich und zählte leise sprechend auf: „Renate und ich; dann Bogner. Jason wohl. Virgo und ihr Mann. Das sind Alle.“

„Woher?“

„Von deinem Vater. Er sagte es Renate, damals, kurz bevor er starb. Wir glaubten Alle, daß du es wüßtest.“

„So mußte es euch scheinen. Es ist sehr einfach. Und — wer war dann meine Mutter?“

„Jene Frau — in dem Haus. Virgo hat ihr Bild, du mußt es ja kennen, und dort sah es dein Vater. Sie war seine Freundin ...“

Georg fragte nicht weiter. Die Augen fielen ihm zu. Er glaubte nach langer Zeit eine leise Berührung auf seinem Kopf zu spüren. Als er die Augen wieder öffnete, war er allein.

Er konnte die Augen nicht offen halten, und was er sah, bedrohte ihn mit einer nicht zu fassenden Angst. Was jetzt, Gott, was jetzt? — Er merkte, daß er etwas Riesiges in sich hinabgedrückt hatte; wenn er daran rührte, würde es ihn zersprengen. Die Angst schwoll, er wollte Anna zurückrufen, er versuchte, sich zu ermannen, sagte: Du mußt allein fertig werden! — Aber im Augenblick fand er sich schon überwältigt. Sein letzter Gedanke war: Bogner, und daß der ihn erwartete. Das war wie Bestimmung. Bogner, Bogner mußte helfen, und schon rasend vor Angst und Verlangen, war er an der Tür, wo er sich denn einen letzten Ruck gab, so ruhig er konnte, ins Nebenzimmer ging, um Mantel und Hut zu holen, wovon er indes nichts Bestimmtes wußte, als er es tat. Dann war er im Freien.

Neuntes Kapitel

Georg

Georg stand vor einem jungen und niedrigen Feld Wintersaat und starrte besinnungslos in diese sehr lichte, zartgrüne Waldung hinein. Etwas Bläuliches stieg daraus auf, gewann Umriß und Dichte und ward der blinde Engel in sanftem Blau, der ihn blicklos ansah, und zu dem er sagte:

Das wußtest du wohl: Wenn etwas mir Halt geben konnte für später, mußte er darin liegen, daß du jetzt gehst ...

Ja, sagte sie unhörbar und lächelte, indem sie fortfuhr:

Und daß ich dir Benno so dringlich ans Herz gelegt habe, das tat ich aus Klugheit und um dir doch etwas zu halten zu geben für das, was ich wegnahm ...

Georg lächelte auch und sah die Gestalt sich langsam in einen blauen Nebel auflösen, der auf einmal der Himmel war. Der Osthimmel, fern, graublau, wolkenlos, — und jenseits der Saatfelder unfern lagen die Häuser eines bekannten Dorfes mit ihrem kahlen Gewipfel im starken, glühenden Licht der tieferen Sonne. Ringsum lohte das Land, grün, übergoldet, schattenreich, singend von Stille.

Sich umdrehend, bemerkte er jetzt, daß hinter ihm die Landstraße war und jenseits die Rampe von Helenenruh, und daß der Schatten des Hauses ihn und alles umher bedeckte. Indem ward ihm bewußt, daß er es eilig hatte, daß er zu Bogner wollte, zu Fuß, ja, gehen, gehen! und das Letzte, was er deutlich wußte, war das Hinwegwischen über etwas, das wie ein Dampf in ihm aufsteigen wollte. Noch nicht! murmelte er.

Ihm war auf dieser Wandrung — Wiesenpfade in unendlichen Windungen, über Knicktore, durch Gatter — nichts bewußt als das kalte Lustgefühl des Dahingehns, unbeschwert, eifrig, blindlings, alles, das Kleinste, wahrnehmend in einer brennenden Gegenständlichkeit, und doch nichts; nichts als vielleicht noch das scharfe, geschmacklose Aus- und Einschlürfen der Luft beim heftigen Atmen, in der kühle und warme Wellen miteinander wechselten. Er stolperte oft, er wußte kaum, wohin er ging, er sah vor sich immer nur die bläuliche Lichtwand des ruhigen Himmels, atmete schnaufend vor Hast und Erregtheit und hatte all die Zeit das starke Empfinden des Feierlichen und eines Ziels, dem er unweigerlich zustreben mußte.

In Wassergräben, dunklen, erschien ein beglückendes Blau; kleine Kreise regten sich blank, seltsam hoch über dem Blauen, auf der gläsernen Fläche; dick und gelb, wie aus Bernstein gedreht, standen die Knospen der Dotterblumen am Ranft. Er sahs und vergaß es. Der Ausdruck der Umzäunungen, über die er kletterte, erinnerte ihn an alles dumpf Vollkommene der im Freien hausenden Wesen, Dinge wie Tiere. Eine Unzahl von Eindrücken glaubte er beständig zu empfangen, eine Unzahl von Gegenständen zu sehn, die ihm etwas zu sagen hatten, aber er mußte vorüber, er sagte: ich weiß es längst! eh sie zu Worte gekommen waren und hinter ihm zurückblieben. Ihm war, als liefe er in dieser Eile durch sein ganzes Leben; und alles war ihm daher bekannt. So ging er, brennend, besinnungslos, keuchend, hielt auf einer eifrig erklommenen Anhöhe bei kleinen, dunkelgrünen Wacholdern, die Schatten warfen, und sah in der machtvollen Sonne der Abendstunde die Stadt unfern, ihrerseits etwas erhöht, Dächer und Türme, scharf, klar, leuchtend, die Alleen der alten Wälle ringsum, deren schräge, schattenlose Böschungen, den toten Flußarm, teils dunkel, teils rasengrün, die Ketten von Hecken und Zäunen, die sich schnitten, helle gewundene Wege, und alles leicht übertupft mit schwarzen oder lichtgekleideten Menschen, die gingen, mit spielenden Kindern, weidenden Pferden; und alles ohne Laut, tief überleuchtet und in seiner ganzen glanzvollen Offenheit eingebettet in Abendfriedlichkeit und in Ostern.

Lange staunte er dies an. Mein! sagte er plötzlich und atmete tief. Da schwoll, tief in den dunkleren Süden hinein, das unendliche Wiesenland, wo das Auge fortgeführt wurde von immer enger zusammenrückenden Wäldchen, ganz kleinen Dörfern, und hinuntergezogen über den Rand in das verheimlichte Düster immer weiterer Länder. War es möglich, daß die nach allen Seiten hinuntergebogene Erde so bedeckt war mit tausendfachem Gelände?

Hoch oben in Lüften richtete eine Woge von Glockengeläut sich auf, stand mächtig im Luftraum und sank langsam gleitend ins Nichts. Eine Stimme sagte: Charfreitag ... Und nun — oh, welche Wehmut! — —

Nein, sagte eine andre Stimme nahe über ihm, sehr fest und unmißverständlich: Wenn er wirklich dein Vater war, so kannst du unmöglich eine Schuld haben an seinem Tode.

Ist das wahr? fragte er, dumpf erschrocken über die Unumstößlichkeit des Satzes.

Das ist völlig wahr.

Ich kann es nicht glauben.

Hierauf kam keine Antwort.

Georg wandte sich langsam um, mußte aber schnell die Lider zusammendrücken und die Stirn senken, geblendet von dem riesigen Feuerloch der Sonne im tiefen Himmel, aus dem die goldflammenden Garben mit einem göttlichen Ungestüm in alle Weiten schossen, und das Land brannte unter ihnen in Lohe. — Sie sinkt ja! schrie es in ihm, sie sinkt, und ich bin nicht fertig!

Er suchte mit noch geblendeten Augen umher. Haidboden, schwärzlich, und Wacholder, klein, dunkel und ernst. — Soll es hier sein? jetzt? Soll ich versuchen?

Plötzlich erschrak er. Und so war es, begann etwas zu reden, so war dennoch dies immer die Aufgabe und die Bestimmung: zu werden, der ich nun bin, Fürst in diesem Land. Aufgabe, die ich zwar vor mir nur sah wie ein prunkvolles Gefäß, mich zu stillen. Und was ich auch tat, ich mußte in sie hineinwachsen? Und damit ich wahrhaft wüchse, all dies? all diese Hiebe des Schicksals, dies fast nun sinnlos Scheinende, da es nun wieder aufgehoben wird und umsonst war im Sinne menschlicher Zwecke? Dennoch voll tiefsten Sinns? Und nun heut, da ich mich hingefochten hab durch mich selbst — nun auch das Siegel des Rechts, und ich darf der Sohn meines Vaters sein? Und dies heißt: von Gottes Gnaden?

Oh, nein, nein, fort, es ist ja zu früh, viel zu früh! es muß ja noch — erledigt werden! Was? Bilder, ja, Bogners Bilder! Wie? Ja, wo bin ich denn? — Nein, sieh, das muß Bogners Haus sein!

Wenige hundert Schritte weit südlich stand ein weißer mächtiger Rundbau mit schwärzlichem, flach geschrägtem Dach und flacher Laterne; breite Fenster unter dem Dachrand flammten glühend golden. Ein kleines weißes Haus davor schien mit dem Rundbau zusammenzuhängen.

Plötzlich hatte er sich losgerissen und lief durch wagenradbreite Pfade zwischen dem Haidekraut die Anhöhe hinunter, sprang über einen Graben und gelangte über eine triefend nasse Wiese auf den Sandweg, der wenige Schritte zur Rechten vor der Tür jenes kleinen Hauses endete. Es war durch einen kurzen verdeckten Gang mit dem Rundbau verbunden.

Eine Glocke schlug hellstimmig an, als Georg die Tür aufklinkte. Drin war ein dämmriger Gang mit geweißten Wänden und Türen, von dem rechts hinten eine Treppe abzweigte, und in einer der Türen erschien eine weibliche Gestalt, die ihn ansah: Cornelia Ring.

Cornelia

Die dunklen, runden, klugen, gefaßten Augen. Das straff aus der Stirne gestrichene Haar. Die Stirn unter leisen Wellen von Kindlichkeit. Die Oberlippe. Die schmale und gefestigte Gestalt, die ihn wieder an die eines jungen Baumes mahnte. Georg war sehr erstaunt, beherrschte sich aber sonst.

Sie kam zögernd näher, im Blick etwas Furchtsames, bis sie vor ihm stand; legte eine Hand auf seine linke Schulter und gegen die andre die Stirn. Unter ihr Gesicht blickend sah er, daß sie sich auf die Lippen biß, sich abmühend, zu sprechen, oder nicht zu weinen. — Da sie dies leicht tat, schien es ihm das Beste, sie täte es gleich.

Er legte deshalb den Arm um sie und mußte lächeln, als er gleich darauf spürte, was ihr eigen war: daß von dem überströmten Gesicht ein warmer Dunst aufstieg, wie von einem Kinde, und sehr rein.

Sie machte sich los, zog — oh die alte Bewegung! — ihr Taschentuch aus dem Gürtel, indem sie sich dehnte und die Schultern anhob, trocknete ihr Gesicht, nahm seine Hand und führte ihn still in ein sehr kleines Gemach mit Bett, Tisch und Schrank.

„Wohnst du hier?“ fragte er. Sie nickte. „Lange schon?“

„Eine Woche bald. Ich war in Altenrepen erst, aber da wagt ich nicht, zu dir zu kommen. Dann schrieb Bogner — ich hatte ihm geschrieben —, ob ich nicht herüberkommen wollte, ihn besuchen, und es läge bei ihm alles drunter und drüber, — Gott, ihn hab ich ja auch im Stich gelassen, er hatte nun eine Haushälterin, aber die ging plötzlich, und so viel Ärger. So kam ich her. Von Magda hörte ich dann, du kamst heute, und bat sie, dir nichts zu sagen. Da hab ich gewartet.“

„Ich kam spät“, sagte Georg. „Ja — und weshalb bist du nun hier?“

Sie zuckte die Achseln. „Ich konnte nicht. Er ist zu krank. Ich hielt es nicht aus. Aber auch ohne das, Georg! Ich komme doch nicht los von dir.“

Georg lächelte innerlich, — sie war immer sehr einfach in Haltung und Erklärungen. Dabei sah er sie mit einem Ausdruck an, der ihr langsam sagte, daß er sie nicht liebe wie sie ihn und daß sie das wisse. Sie senkte den Kopf und legte wieder die Hand auf seine Schulter. Nach Sekunden sagte sie:

„Laß mich dir wieder dienen wie vorher, und ich werde dir dankbar sein.“

Georg begriff dieses stark. Lieben können genügt, dachte er, indem er sie an sich zog und sagte:

„Du kannst im Schlößchen wohnen. Es wird gut werden. Ich habe leider sehr wenig Zeit. Das Beste wäre vielleicht, daß wir heiraten. Ich habe keine Vorliebe für Unoffenes. Du sollst kommen und gehen dürfen.“

Sie hatte bereite das Gesicht erhoben und Widerstand gezeigt.

„Nein, bitte, Georg, das nicht! Dazu wäre ich gar nicht geeignet. Dazu hätte ich —“

„Der Mensch ist zu allem geeignet.“

„Aber ich kann doch nicht, Georg! Ich würde ganz unglücklich sein!“

„Ja, so wie Benno. Sei überzeugt: du wirst es auf irgendeine Weise. Möchtest du nicht Kinder haben?“

„Gar nicht! Vor fünf Jahren —, ja, da wär ich gestorben für ein Kind. Aber nun ist das —“

„Hab erst mal eins! Auch das Naturgesetz duldet keine Unterschlagungen. Aber das hat alles Zeit, überlegt zu werden. Wir können jede Methode versuchen. Wenn ich nicht so wenig Zeit hätte ...“

Überdem merkte er, daß er in Dinge hineingeriet, die ihn nach unten zogen; daß er bei all diesem übrigens nur halb mit Bewußtsein teilnahm, und er machte sich los von ihr und trat an das Fenster, während ihm der Tote erschien, jetzt etwas in Händen, das er ihm aufdrängen wollte, und plötzlich Renate in ihrem violetten Kleid.

Warum tu ich jetzt dieses? diese Pläne warum? Abzuschließen mit meinem Herzen. — Und vielleicht: um irgend etwas zu geben. — Plötzlich, auf einer Wagschale stehend, fuhr die Gestalt Renates sichtbar und mit so triumphierendem Schwunge nach unten, daß er die Augen erstaunt senkte.

Wie? mußte er fragen, ist Cornelia so viel leichter? Freilich war die Andre beschwert mit einer Last von Kleinoden, die ihm ins Auge brannten, da er sie bedachte, und diese hier war ganz schlicht.

Er trat wieder zu ihr, legte eine Hand auf ihre Stirn, sanft sie nach hinten drückend, küßte sie behutsam und sagte voll Liebe:

„Cornelia Ring! Das bist du. Ein schöner echter Ring; mit einem schönen, echten Stein. Und nun sollst du dich um mein Dasein schließen, willst du?“

Er duldete es eine Weile, daß sie ihn mit Leidenschaft in die Arme schloß, befreite sich dann, nickte ihr zu und bat sie, ihn zu Bogner zu bringen. „Ist er allein?“

„Renate ist da, und ein Herr, ich glaube, ihr Vetter, und Jason. Aber der kam schon mit mir.“

„So. Renate. Ja — willst du mich nun —“

„Ich glaube, sie sind jetzt oben. Ich bring dich ins Atelier!“ sagte sie und ging voran. Am Ende des Flurs öffnete sie die Tür zu einem Gang, zu dessen Seiten die Wände der Boxen Georg erinnerten, daß dies ursprünglich ein Reitstall war. Die Boxen standen vollgepfropft mit aufgespannten Leinwanden und Zeichenbogen, aber über den oberen Rand der letzten rechts erhob sich, sich herwendend, der große braune und schwarze Kopf eines Rosses mit einem klugen, anscheinend fragenden Auge.

„Lieber Gott,“ sagte Georg, „das ist Unkas!“

„Wußtest du denn nicht, daß er hier ist?“

„Doch, doch, natürlich, da ich ihn Bogner schenkte, der reiten wollte. Er wurde zu alt für mich und schwerfällig; Bogner wünscht nur mäßige Bewegung.“

Georg war schon zu dem alten Genoß in den Stand getreten, klopfte ihm liebevoll Hals, Bauch und die Nüstern, das Pferd schnoberte zärtlich, scheuerte sich an seiner Schulter und bohrte das Maul nach seiner Manteltasche, aber er mußte sich losmachen, fühlend, wie er übermannt werden würde. Das alte Pferd hatte ihn nicht vergessen, es tat seinen Dienst, wie es gewohnt war, hier wie bei ihm; keiner wußte, ob es litt in der Fremde, aber anscheinend wars nicht der Fall. Es atmete laut, plötzlich trat es zurück, daß der Halfter sich spannte, warf den Kopf hoch, zerrte und schien sehr ratlos. Schließlich feuerte es nach hinten aus, daß die getroffene Holzwand dröhnte.

Georg wandte sich ab, und überdem wurde eine Tür geöffnet, Bogner streckte den Kopf hervor, griff nach Georgs Hand und zog ihn in den Raum.

Was aber hier mit ihm vorging, war ihm nicht mehr bewußt; ein Andrer tat es für ihn, sein Inneres füllte ein gestaltlos sausender Regen, sonst nichts. Er stand lange vor Bildern, sprach, sah Bogner, sah Renate und den Erasmus, auch Jason, sprach auch mit ihm. Endlich hielt er einen Türgriff in der Hand, den er deutlich erkannte.

Und nun wurde der ganze große und lichte Raum deutlich vor ihm, und jetzt, in einer blendenden Helle, sah er in einiger Entfernung sich gegenüber die drei Gestalten Bogners, Jasons und Renates in der Mitte, die ihm alle Drei nachblickten. Wunderbare Erscheinungen! zog es durch ihn; dann hielten Renates Augen ihn fest. Was für ein Ausdruck? Wollte sie etwas von ihm? Bewegte sie sich? — Und während sein Wesen sich krampfhaft zusammenzog, drehte er sich langsam um und ging im Taumel hinaus.

„Was ist dir?“ hörte er eine Stimme und sah sich im Freien. Hier war es dämmrig. Er mußte sich abwenden von Cornelia, und in einem Feuerstrom von gewaltsamen Ahnungen sah er Renate stehn, verlockend wie eh und je, und in einem Hauch von Bewegung nach ihm hin, ihn anzurühren, ihn mitzuziehn in eine Ewigkeit neuer Anfänge, neuer Schmerzen, neuer Versuche, neuen Schicksals, eine Unendlichkeit des Lebens von vorn zu beginnen.

Dies erlosch. Ihm war kalt. — Sie wird jetzt kommen, wußte er plötzlich. Dorthin, wo ich warte. Es war alles ein Irrtum. Alles gilt nicht. Ich werde warten. So wird es geschehn.

Die Blume

Im Vorwärtsschreiten fühlte Georg sich zu Eis geronnen vom Kopf zu den Füßen. Übergroß schwebte sein Haupt in einer maßlosen Betäubtheit. Dann brauste alles, und er bewegte sich in Strömen von Leidenschaft. — Mich hat sie geliebt! mich, mich, immer mich! sang er. Sie hat es nicht gewußt, sie ist die selige Unschuld, aber nun hat sie es erkannt, an einer Bewegung, einem Nichts, an meinem Ohr ... Sie kommt, ich werde warten!

Dann stürzte es ihn haushoch hinunter. Und wenn es doch Einbildung war, was er gesehn hatte? Bloße Einbildung? Diese Bewegung zu ihm? Weshalb denn dies Unmaß von Angst und Schwindel und Ahnung? Nein, er hatte recht gesehn! Alles war ein Irrtum gewesen, ein Irrtum, ein Irrtum! das ganze Leben, alle Leiden, alles was je war, — aber dies war Wahrheit, dies, seine Liebe, ihre Liebe, die allmächtigen Toren, die sich im letzten aller Augenblicke erkannten und weise wurden. Und er stand überm Land wie ein Turm; die Glocke seines Herzens schwang wie ein großer Adler und schrie: Ewig! Ewig!

Und das war es, das, was ihn hergeführt hatte: sie sollte er hier finden, deshalb hatte Bogner ihn mittags gebeten, deshalb hat es ihn hergetrieben, zu ihr, zu ihr, die alles lösen würde, alles, all seine Not, alle Schuld, alles!

Und nun erst begann das Leben! alles begann von vorn. —

Überdem ward ihm bewußt, daß er eine Anhöhe erstiegen hatte, und er erkannte sie als jene, die er vor kaum einer Stunde verließ. Nur war die Erde jetzt mit ihrem Schatten bedeckt, und die Dämmerung sank eilig. Über die dunklere Ebene hinweg sah er Farben des Himmels im West, goldene Streifen zwischen violetten Wolkenbänken, das regnende Fallen rötlicher Dünste, dazwischen Ausblicke auf unendlich ferne grüne Halden, die verhauchten. Darüber bebte das weißliche Gold wie Inneres von Äpfeln im Kühlen, — und noch höher ein tiefes Blau, gespannt wie ein Tuch, dehnte sich mählich verblassend über den ganzen Himmel aus, der so rein war wie eine Seele. — Ach, die Hand zu tauchen in die Farben Gottes und ein unsterbliches Bildnis des Lebens zu malen! War es unmöglich?

Die Wacholder warfen keine Schatten mehr, — Schatten selber gleichend, die aufrecht gestellt waren. Ihn fröstelte. Wird sie mich finden? Ich muß stehn bleiben, wie soll sie mich sehen? — Er wagte nicht, sich zum Hause zurückzudrehn. Nun Geduld! mahnte er sich, Geduld! Sie ist unterwegs, aber sie hat Zeit. Sie läßt sich Zeit, Renate läßt sich Zeit ...

Da ihm wieder die Brust schwellen wollte von Ängsten und Ungeduld, beschloß er, an andres zu denken, sich zu sammeln, sich abzulenken, — aber mit was? Was galt denn in dieser Stunde? — Bogners Bilder, ja, Bogner! Bogner galt. ‚Nichts ist der Mensch, doch das Werk, Götter vollbrachtens durch ihn.‘ Was für ein Spruch? — Er irrte mit Augen am Himmelsbogen, irgend etwas zu fassen. Da hing im Klaviersaal Bogners Bild ... Judith hieß sie ... das war lange her ... Damals lernte ich ihn kennen ... Georg dachte krampfhaft weiter. Welch ein Leben! Damals zur Ruhe gekommen nach schweren Stürmen. Nun wieder. Das letzte Mal? Damals schon mir so groß, wie war er nun erst gewachsen, ausgebreitet, beladen mit diesen heroischen Früchten! Heroische Früchte, ja, heroische Früchte ...

Aber weiter, weiter! was jetzt? Etwas denken! Etwas Wirkliches! Wirklichkeit ... Was ist wirklich? Wirklich ist nicht, was geschieht, sondern — — was? was? — — nicht, was geschieht, sondern — was der Geist aus dem Geschehenden macht. Wie Bogners Bilder. — Er fügte die Stücke des Satzes zusammen, — ja, sie paßten.

Erzitterte vor Aufregung. Da! rauschten da Schritte? Jetzt? Jetzt?

Da regte sich in ihm das gewaltsam Hinabgedrückte, Verbotne; aber er konnte ein wenig nachgeben und sich fragen: Warum, ja warum nur erfuhr ich dies heut erst von Magda? Warum diese Frist von neun Monaten? In neun Monaten wächst ein Keim sich zum Kind aus, — darum? — Ach nein, antwortete er sich selbst und lächelte dabei: Hätte ich es schon damals erfahren, so hätte ich es ja nicht überlebt. — —

Ja, und nun — was nun? — Hier ging es nicht weiter, und um ihn blieb alles still.

Orpheus! dachte er gequält, Orpheus! Warum Orpheus? Ach, sich nicht umzusehn, das war jetzt die Aufgabe! Geduld! Oh nur Geduld!

Nichts ... Stille ...

In diesem Augenblick, wo er nahe daran war, alles hinzuschütten und sich umzudrehn, fand er seine Augen angezogen von etwas zu seinen Füßen.

Dort war — seine Füße standen im Haidekraut — eine kleine kahle Stelle darin, weißlich von Sand, rund, wie eine Tonsur, nicht größer als ein Wagenrad. Mitten darein hatte sich eine gelbe Sternblume gestellt, wie sie sonst im Frühherbst in dieser Gegend zu erscheinen pflegten; eine sehr kleine Sonnenblume schien sie, nur statt mit schwarzer mit gelber Mitte, ein vollkommenes Abbild der Sonne; stand da, ein kleiner Irrtum der Natur, aber nun entschlossen, ihn aufrechtzuerhalten. — Georg atmete auf und lächelte.

Überdem, da er fortfuhr, die kleine Freundin zu betrachten, die sich da stillschweigend zu ihm gesellt hatte, wurde alles um ihn fortgenommen, so daß er nur noch die Blume sah. Dastehn sah er sie, auf ihrem dünnen, mattgrünen Stengel; sah ihn, wie er in Abständen kleine Zweige abteilte, die gefiedert waren; und sah oben auf leiser Biegung des Stiels das kleine gelbe Antlitz sich wiegen, in der Dämmrung sternhell, in einer unschuldigen und demütigen Haltung, — und Georg konnte im kleinen Umkreis um sie her den feinen Odem ihres Wesens und Daseins spüren, den sie ausatmete.

Wie aber ward alles anders mit einem Mal? War es keine Blume mehr? War es nur eine kleine grüne Seelengestalt, die hier mit sich allein war in der Windstille? Warum hier? Und sehr allein, da sie nirgend hingehn konnte, zu keinem Wesen der Freundschaft, nachbarlos, wie sie beschaffen war. Aber wieder, je länger er hinsah, um so mehr ward sie Blume vor seinen Augen, und er konnte wiederum Neues erkennen: daß sie von allen Seiten gemacht war, ein lebendiges Wesen, das doch kein Hinten hatte noch Vorn, sondern nach überallhin war wie das Licht.

Und wie er jetzt — erzitternd — sie erfüllt fand von einem inneren Frohsein, so sanftgeneigt, so in sich blickend; und daß sie ihm alles zeigte, was sie zu eigen hatte, ihr Nichtbemühn, ihre Unbedürftigkeit, ihr Wissen um jedes, was not war, — da dachte er in einer rieselnden Bestürztheit noch: Sie ist gekommen — und nicht Renate — —

Und kniete hin. Über die zarte Erscheinung geneigt, zerschmolz ihm an Wesen und Dasein die letzte Schranke; ging er, wie eine Flamme so leicht, ein in die letzte Stille und war selber nur noch ein kleines Gewölk von Seele vor dem kleinen Sonnenantlitz der Blüte.

Georg legte das Gesicht in die Hände und weinte.

Er erwachte, liegend am Boden, aus seinen Tränen, gelöst, heilig froh und gestillt in allen Tiefen.

Heilig, heilig, ihr Tränen! sang eine neue Stimme. Die ihr euch im Kelch einer Pflanze gesammelt habt als reinlicher Tau, ihr seid heilig. Heilig, du ewige Pflanze! Unschuldige, aus dir leuchtete mir die letzte Unschuld der Natur; meine eigene Unschuld leuchtete mir entgegen. Ich habe gesündigt in meiner Verstricktheit, ich, der ich Füße empfing, zu gehn, Hände, um zu fassen, und ein Herz, um Gutes und Böses zu sinnen. Aber ich, der wie du aus dem unergründlichen Schoße stieg, ich habe dennoch teil an dir und an deiner Unschuldigkeit. Sieh, ich halte dich in der Hand, o du magischer Schlüssel, und die Riegel aller noch verschlossenen Erkenntnisse springen freudig auf und lassen die gefangenen Genien heraus in das nährende Licht. Vater, o Väterlichkeit! Oh sei mir väterlich, Welt, und ich will dir dienen!

An den Ostrand des Himmels schien dem Liegenden sein Haupt, an den Westrand schienen ihm seine Füße zu stoßen, — so lag er auf dem dunklen Rücken der Erde. Im Lüfteraum glitten Fanfaren. Aus Tiefen der See brach ein ferner, dunkler Chorgesang auf:

Aufgenommen, eingekehrt,

Durchgeprüft und tief belehrt.

Sohn und Sünder, Knecht und Held,

Aufgenommen in die Welt.

Nun behoben ist der Fluch,

Kräftig zeigt sich jetzt der Spruch:

In Nachtgewalten —

In Taggewittern —

Sich süß erhalten —

Sich nicht verbittern!

Georg erhob sich. Es war nun fast dunkel geworden, aber der westliche Himmel leuchtete noch mit ganzer Reinheit. Als er sich umwandte, erschreckte ihn eine nahe, helle Gestalt, die noch Licht seltsam abzugeben schien und ohne Bewegung dort stand wie schon seit langem. Mit Überraschung und linder Freude erkannte er Cornelia und rief leise ihren Namen. Sie kam mit leicht rauschenden Schritten, als ob sie über Wasser ginge, durch die Stille; er konnte den besorgten Blick ihrer Augen erkennen und sagte, ihre Hand ergreifend:

„Du hast gewartet?“ — Sie nickte.

„So will ich dir sagen, was mir widerfahren ist“, sprach er sanft und geruhigte sein Wesen tiefer, seinen Arm in den ihren schiebend, an ihrer Nähe und am Anschaun des Himmels.

„Einer wuchs auf, wie Alle, und fühlte sich richtig in seiner Welt. Einer erfuhr, daß er falsch war. Einer verzweifelte an sich, wollte nicht zweifeln und tat alles verkehrt. Einer erfuhr danach, daß er recht war. Da sah er, daß tausend Falsches zusammen gemacht hatten ein einziges Echtes. Ihm geschah wie Allen. Meinst du aber, ich rede von Bogner?“ Georg lächelte. „Nein, ich rede — wie Alle — von mir.“

Er schwieg. — Sich umsehend nun, gewahrte er, an welch verlorener Stelle er hier in der Ebene stand, nicht weiter erhöht, als um einen Überblick zu haben. Unsichtbar, unhörbar im Nord lagerte die See; im Osten rauchte die Nacht. — Er sah heimlich von der Seite Cornelias Profil und erkannte mit Rührung in seiner zarten Linie die Linie der Sternblume wieder; ja im Blick dieses dunklen Auges den süßen Blick der Natur: nach überallhin wie das Licht. —

„Sieh,“ sagte sie, die Hand erhebend, „ein schöner Stern!“

Er sah ihn, nicht hoch am Himmel im Nord, der noch hell war dahinter. Sah dann einen zweiten, höher, entfernt zur Rechten; und einen dritten, wieder tiefer, weit rechts; alle Drei zusammen einsam, funkelnd im lichten Blau. Ihm fiel etwas ein dabei, und er sagte, auf die Sterne weisend:

„Weißt du, woran die Drei dort mich erinnern? An Bogner und Jason und Renate, wie sie vorhin zusammen standen. Hast du’s gesehn?“

Sie nickte. Eine Weile noch blieben sie schweigsam stehn. Dann, als Georg schon zum Gehen bereit war, hörte er sie halblaut sagen:

„Ja — die Drei. — Und sieh, was ich eben dachte: Bogners Kraft, und die Schönheit Renates, — und Jasons Vernunft —, diese Drei sind ...“

„Sind?“ fragte Georg ruhig.

Sie beschloß:

Unwandelbar.

Hier enden des letzten Buches neun Kapitel oder doppelt so viele Stunden.

Inhalt

Siebentes Buch
Erstes Kapitel
Firmament 7
Sternwarte 12
Traum 30
Zweites Kapitel
Frühstück 34
Verkleidung I 39
Verkleidung II 45
Fahrt 49
Mummenschanz 53
Ritt 58
Ausschau 65
Traumspiel 70
Drittes Kapitel
Theater 77
Zelt 85
Im Wagen 89
Festzug 95
Viertes Kapitel
Getümmel 109
Verspätung 117
Heimkehr 121
Fünftes Kapitel
Heimkehr (die andre) 128
Veranda 132
Sechstes Kapitel
Garten 142
Kapelle 154
Lindenallee 159
Siebentes Kapitel
Garten 171
Haus 180
Achtes Kapitel
Masken 192
Tempel 200
Neuntes Kapitel
Zimmer 208
Wehr 212
Treppenhaus 221
Hörsaal 224
Schlafzimmer 231
Schlafzimmer (das andre) 234
Sterne 242
Achtes Buch
Erstes Kapitel: August
Renate an Magda 249
Renate an Magda 250
Aus Renates Gedächtnisbuch 252
Cornelia Ring an Renate 266
Renate an Cornelia Ring 267
Irene an Renate 268
Renate an Irene 271
Aus Renates Buch 273
Cornelia Ring an Renate 287
Zweites Kapitel: September
Georg an seinen Vater 290
Magda an Dr. Birnbaum 319
Dr. Birnbaum an Magda 321
Renate an Dr. Birnbaum 324
Georg an Magda 325
Von Georgs Hand geschrieben 326
Drittes Kapitel: Oktober
Insel 354
Aus den Papieren Georgs 364
Renate an Saint-Georges 371
Renate an Irene 376
Renate an Saint-Georges 377
Saint-Georges an Renate 381
Viertes Kapitel: November
Cornelia Ring an Magda 383
Georg an Benno 386
Aus den Papieren Georgs 393
Fünftes Kapitel: Dezember
Aus Georgs Papieren 420
Georg an Benno 438
Georg an Magda 451
Georg an Bogner 455
Sechstes Kapitel: Januar
Cornelia an Georg 456
Georg an Magda 456
Georg an Benno 458
Hallig Hooge 462
Siebentes Kapitel: Februar
Bogner an Georg 494
Magda an Georg 495
Georg an Magda 499
Achtes Kapitel: März
Aus Renates Gedächtnisbuch 505
Georg an Magda 512
Aus den Papieren Georgs 517
Georg an Magda 528
Jason an Renate 532
Renate an Irene 536
Neuntes Kapitel: April
Aus den Papieren Georgs 537
Magda an Georg 542
Aus Renates Buch 543
Georg an Magda 544
Aus Renates Buch 545
Neuntes Buch
Erstes Kapitel
Georg 559
Renate 575
Zweites Kapitel
Georg 594
Magda/Benno 596
Drittes Kapitel
Magda 607
Georg 614
Viertes Kapitel
Magda/Renate 634
Magda 637
Renate 639
Renate (Fortsetzung) 649
Fünftes Kapitel
Erasmus 666
Erasmus (Fortsetzung) 690
Sechstes Kapitel
Bogner/Klemens 714
Klemens 724
Birnbaum 729
Irene 739
Siebentes Kapitel
Benno 744
Georg 759
Bogner 763
Achtes Kapitel
Magda 771
Neuntes Kapitel
Georg 804
Cornelia 808
Die Blume 813

Der „Helianth“ wurde geschrieben in den Jahren 1912-20. — Der Druck erfolgte in den Jahren 1917-20 in der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig

Anmerkungen zur Transkription

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Korrekturen (vorher/nachher):






End of the Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 3, by Albrecht Schaeffer

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH, BAND 3 ***

***** This file should be named 60845-h.htm or 60845-h.zip *****
This and all associated files of various formats will be found in:
        http://www.gutenberg.org/6/0/8/4/60845/

Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was
produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.


Updated editions will replace the previous one--the old editions will
be renamed.

Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
law means that no one owns a United States copyright in these works,
so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
States without permission and without paying copyright
royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
of this license, apply to copying and distributing Project
Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
specific permission. If you do not charge anything for copies of this
eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
performances and research. They may be modified and printed and given
away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
trademark license, especially commercial redistribution.

START: FULL LICENSE

THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK

To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
distribution of electronic works, by using or distributing this work
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
www.gutenberg.org/license.

Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
Gutenberg-tm electronic works

1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
and accept all the terms of this license and intellectual property
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
the terms of this agreement, you must cease using and return or
destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
1.E.8.

1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
used on or associated in any way with an electronic work by people who
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
even without complying with the full terms of this agreement. See
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
electronic works. See paragraph 1.E below.

1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
works in the collection are in the public domain in the United
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
United States and you are located in the United States, we do not
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
displaying or creating derivative works based on the work as long as
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
you share it without charge with others.

1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
in a constant state of change. If you are outside the United States,
check the laws of your country in addition to the terms of this
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
distributing or creating derivative works based on this work or any
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
representations concerning the copyright status of any work in any
country outside the United States.

1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:

1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
performed, viewed, copied or distributed:

  This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
  most other parts of the world at no cost and with almost no
  restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
  under the terms of the Project Gutenberg License included with this
  eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
  United States, you'll have to check the laws of the country where you
  are located before using this ebook.

1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
the United States without paying any fees or charges. If you are
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
posted with the permission of the copyright holder found at the
beginning of this work.

1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
License terms from this work, or any files containing a part of this
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.

1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
electronic work, or any part of this electronic work, without
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
active links or immediate access to the full terms of the Project
Gutenberg-tm License.

1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.

1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.

1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
provided that

* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
  the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
  you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
  to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
  agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
  within 60 days following each date on which you prepare (or are
  legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
  payments should be clearly marked as such and sent to the Project
  Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
  Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
  Literary Archive Foundation."

* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
  you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
  does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
  License. You must require such a user to return or destroy all
  copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
  all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
  works.

* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
  any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
  electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
  receipt of the work.

* You comply with all other terms of this agreement for free
  distribution of Project Gutenberg-tm works.

1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
cannot be read by your equipment.

1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
DAMAGE.

1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
written explanation to the person you received the work from. If you
received the work on a physical medium, you must return the medium
with your written explanation. The person or entity that provided you
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
or entity providing it to you may choose to give you a second
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
without further opportunities to fix the problem.

1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
violates the law of the state applicable to this agreement, the
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
remaining provisions.

1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search
facility: www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.