The Project Gutenberg EBook of Millionen, Der Tod des Iwan Lande, by 
Michail Petrowitsch Arzybaschew

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Title: Millionen, Der Tod des Iwan Lande
       Zwei Novellen

Author: Michail Petrowitsch Arzybaschew

Release Date: September 25, 2019 [EBook #60353]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MILLIONEN, DER TOD DES IWAN LANDE ***




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M. Artzibaschew

Millionen

Millionen

Der Tod des Iwan Lande

Zwei Novellen
von
M. Artzibaschew

Einzig berechtigte Übertragung
von André Villard und S. Bugow

Zweite Auflage


München und Leipzig
bei Georg Müller
1909

Inhalt

  Seite
Millionen 1
Der Tod des Iwan Lande 219

Millionen

Gediegenes Gold kann nicht für sie gegeben werden, und Gold nicht zugewogen werden als ihr Kaufpreis.

Hiob 28, 15.

I

Zwischen dem dunklen Himmel und dem Meer schwebte der Schein des Mondes. Rund und klar stand er, gleichmäßig wie ein Rauchschleier, über dem Horizont. In den Ästen der Gartenbäume schwankten und hüpften kleine bunte Lampions, als wären sie ein Schwarm feuriger Kolibris, an unsichtbaren Drahtfäden auf und nieder. Von der sinnlos beleuchteten Bühne her, wo ein schwarzgekleideter Kapellmeister komisch wie ein Hampelmann Arme und Frackschwänze herumschleuderte, als ob er in jedem Augenblick davonfliegen wollte, wirbelten festgeprägte Geigentöne nach allen Seiten, sprangen auf, lachten, sangen, und flogen in leichtem kapriziösem Reigen durch die dunklen Bäume zum offenen, lichtbegossenen Seestrand hinaus. Dort tanzten sie vor den Blicken des hellen Mondes, unsichtbar und unbestimmbar in ihrem gespensterhaften Augenblicksleben.

Seine kraftvollen Arme auf dem kalten Marmor des Tischchens verschränkt, blickte Mishujew in finsterem Schweigen zur Seite. Sah er auf die Bühne, schien ihm seine Umgebung voll sinnlosen Lärms und kleinlicher Hast, wenn er sich aber dem Meer zuwendete, dann war alles majestätisch-ruhig und nachdenklich-frei, wie der hohe helle Mond selbst.

Sein welliger, blonder Bart und die massigen Schultern erweckten die Vorstellung schwerer Kraft und harter Willensstärke, aber seine Augen waren ungesund, eingefallen, als wenn sie den Tod in sich trugen.

Am benachbarten Tisch zechte eine kleine Gesellschaft: die Herren mit Hüten, welche unternehmend auf den Seiten eingeknickt waren und reizvolle Frauen mit auffallend schönen Gesichtern und unnatürlich blaugeschminkten Augenlidern. Man lachte sehr laut, stieß gegenseitig mit wespenschlanken Kelchen an und witzelte ohne Unterlaß. Bei jedem Scherz erhoben sie ihre Stimmen und schauten sich nach Mishujew um, wobei sie unwillkürlich ein glänzendes, erwartungsvoll suchendes Aussehen annahmen. In der Nähe standen vornübergebeugt die Kellner, hielten zärtlich ihre weißen Servietten unter dem Arm und wandten kein Auge von Mishujew ab, als wären sie bereit, sich auf seinen ersten Wink kopfüber ins Meer zu stürzen.

Mishujew sah alles das und bemerkte doch nichts. Früher hatte es ihn zuweilen noch amüsiert, jetzt war es ihm nur zu ärgerlicher Gewohnheit geworden, wie die Luft, von der man sich niemals trennen kann und die man dabei selten notwendig hat.

„Theodor, warum siehst du heute so verärgert aus?“ fragte ihn Maria Sergejewna, während sie mit den Fingern schüchtern über seinen gespannten Ellbogen fuhr.

Sie trug ein herausfordernd schönes Kleid, das ihre Füße nur ganz wenig freiließ. Auf ihrem dunklen üppigen Haar schwankten die zarten Blumen ihres Hutes, die traurig zu den angeschminkten Wangen, den müde flimmernden Augen und den leidenschaftlich roten Lippen paßten.

Schwerfällig wie ein kranker Bulle schob ihr Mishujew seinen breiten Kopf entgegen, blieb aber stumm.

Sie war noch immer so erregend schön, wie ehemals, und ebenso leuchtete noch ihr ungewöhnlich gepflegter Körper durch die schwarzen Spitzen. Bei ihrem Anblick überkam alle Männer die drängende Vorstellung von irgend welchen unmöglichen, märchenhaften Genüssen. Doch in Mishujew war durch die einfache Tatsache, daß sie ihren eigentlichen Namen — Maria Sergejewna — verloren hatte und jetzt Mary hieß, und daß sie ihn nicht mehr „Fedja“ und „Sie“ nannte, sondern mit „Theodor“ und „Du“ anzusprechen begann, daß sie ihren Mann verließ, um mit ihm zusammenzuleben, — durch dies alles war in ihm die ehrfurchtsvolle Leidenschaft, die er für sie noch bis in die letzte Zeit empfand, ertötet worden. Von Zeit zu Zeit schlug kalter, unerklärlicher Widerwillen in ihm hoch.

Selbst wenn Mishujew ihren nackten unterwürfigen Körper, der schüchterne Liebkosungen heischte, mit bestialischer Gier zerquetschte und küßte, hatte er nicht mehr das einstige Gefühl der Lust, sondern nur ein schales, grausames Vergnügen, unnatürliche Lagen, die ihr Schmerzen, Erniedrigungen brachten, zu erfinden.

Es schien, als rächte er irgend etwas an ihr, worunter er selbst unaussprechliche Qualen litt.

Maria Sergejewna verstand den Grund, und so wurden ihre Augen schüchtern und traurig, als wagten sie nicht, um Schonung zu bitten.

„Gehen wir,“ sagte Mishujew kurz, während er die neugierigen Blicke der Umsitzenden scharf auffing, und stand auf.

Sie erhob sich sofort eilig mit ihrer gewöhnlichen, anziehenden Ungeschicklichkeit, die Mishujew früher fast zu Tränen gerührt hatte. Bald verwickelte sie sich in die Spitzen des Rockes, bald ließ sie das Taschentuch, dann den Pompadour fallen, und erschrak jedes Mal in komischer Schüchternheit; schließlich ging sie neben ihm.

Sie stiegen an den Strand hinunter, wo allein die dunkle See und der helle Mond herrschten, und setzten sich am äußersten Ende des Seestegs auf eine Bank. Vor ihnen und zur Rechten und Linken und zu allen Seiten breitete sich die See aus; in dem glänzenden Wasser wirbelte ohne Ruhe eine Säule aus Mondenschein. Ein endloses Tonwogen aus Geräuschen, Plätschern und dumpfen Schlägen gegen die Mole, in der die ganze Zeit hindurch eine kristallene Stimme, die immer lauter klang und doch nicht vernehmbar war, ertönte, schwebte ununterbrochen über der uferlosen, stürmenden Meeresfläche und griff in rätselhafte, traurige Saiten; es rief Erinnerungen und unfaßbare Verzweiflung in der innersten Tiefe der Seele wach. Von Zeit zu Zeit trieb ein elastischer Wind heran, dann prickelten unsichtbare Wassersplitter mit feinem kaltem Staub auf Gesicht und Händen; Schauer durchdrangen die beiden.

Mishujew starrte auf die Mondlichtsäule, die sich im melancholisch-dunklen Wasser drehte, und schwieg. Wie immer, wenn er des Nachts in die Tiefe schaute, zitterte in ihm ganz still ein triebhaftes, schwermütiges Gefühl. Es rührte sich kaum merklich und zwang ihn doch, das zu vergessen, was um ihn war. Alles wurde leer und finster.

„Ich wollte mit dir sprechen, Theodor,“ sagte Maria Sergejewna; vom ersten Worte an tönte aus ihrer Stimme die Furcht heraus, daß er auf sie zornig werden könnte, bevor er sie noch gehört hätte.

Mishujew schwieg; es schien, als vernähme er in dem Geräusch und dem Klatschen der Wellen, die unter der Brücke verrollten, ihre Stimme gar nicht. Am Ufer entlang, soweit es nur im Mondenlicht sichtbar war, legte sich ein blanker Streifen Gischt und schmolz wie Schnee; hinter ihm rückte bereits, prasselnd und schwellend, eine neue Welle heran.

Maria Sergejewna blickte mit Augen voll unsichtbarer Tränen auf Mishujew, stand auf und zerrte krampfhaft am Taschentuch.

„Es ist nicht zum Ertragen!“ sagte sie mit gepreßter, schwacher Stimme; sie fühlte, wie sie ebenso unter der Erniedrigung als unter dem kalten Wind erzitterte. „Weshalb quälst du mich?“

Ohne sie anzusehen, zuckte Mishujew hartnäckig mit den Achseln.

Maria Sergejewna schwieg; sie fuhr nur fort, am Taschentuch zu zerren und am ganzen Körper zu zittern; wunderbar zart und elegant hob sie sich auf dem Hintergrund der ungeheuren wogenden Fläche ab.

„Ich halte es nicht mehr aus ...,“ sie sprach schnell und steigerte die Stimme mehr und mehr; „du hast kein Recht, mich zu verachten ... hast kein Recht, mich zu quälen und zu erniedrigen! Wenn ich auch deinen Millionen gegenüber nicht standhalten konnte, wie du behauptest ...“

„Nichts behaupte ich,“ erwiderte Mishujew finster und starrte unverwandt in die Lichtsäule, die mit Milliarden tanzender blauer Sterne in den Wellen glitzerte und am Horizont in ein geheimnisvoll helles, scharf vom finsteren Himmel abgeschnittenes Märchenreich zerfloß.

Wieder schwieg Maria Sergejewna, von qualvoller Ratlosigkeit verwirrt und zerdrückt. Ihr ganzes Wesen empfand, daß er es ihr gegenüber behauptet hatte, trotzdem aber wollte in ihrer Erinnerung kein beweisendes Wort auftauchen. Sie fühlte sich nur in kalter Leere widerstandslos versinken; sie war so schwach und hilflos geworden, daß sie unterging, ohne zu wissen, welch Wort noch gesagt werden könnte, wie und gegen wen sie sich verteidigen müßte.

„Aber du glaubst es ... ich weiß ... und wenn es selbst wäre, so ... Du hast es ja selbst gewollt ... nun gut, ja ... nicht standgehalten! Wollte einmal aus dem Vollen leben ... meinetwegen ...!“ Maria Sergejewna drückte in voller Verzweiflung beide Hände an die Schläfen. „Aber welchen Preis habe ich für diese Millionen bezahlt, sie haben mich meiner Seele beraubt ... ich lernte es, mich als das verworfenste Ding ... Irgend was! Entweder ... oder ... oder ... Wie du willst, kann ich aber nicht mehr weiter ... kann nicht mehr! Ich ...“

Sie verlor sich in ihren Worten; sie schaute nur mit zerbrochenem, kraftlosem Blick in die furchtbare Finsternis des Wassers. Ihre Hände flogen; ihre Lippen bebten.

„Wenn du dich selbst so einschätzst, — — so als das verworfenste Ding — — — welche Stellung soll ich dann zu dir nehmen?“ fragte plötzlich Mishujew, ohne seine glänzenden Augen vom Wasser abzuwenden.

„Ah!“ schrie Maria Sergejewna ganz entgeistert auf, ließ den Pompadour und das Taschentuch, die im Augenblick ins Meer gerissen wurden, fallen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und ging schnell fort, fast laufend; sie verwickelte sich in ihr langes Kleid, das der Wind sofort erfaßt hatte. Die schlanke Frauengestalt schwankte schattengleich in dem leeren, windigen Raum, der über der finsteren, unaufhörlich am Ufer zerbrechenden Wasserfläche lag.

Mishujew begleitete mit seinen Blicken dieses winzig weiße Stückchen Stoff, das sich über dem Kamm der schäumigen Wellen hoch emporzuheben schien und dann plötzlich in der Schwärze der eingesunkenen kalten Tiefe verschwand.

Etwas Warmes regte sich in seiner Seele.

Er ging ihr nach, ohne sich selbst in Gedanken darüber klar zu werden, und holte sie bald ein.

Ihre kleinen, abfallenden Schultern waren eingezogen, und über ihnen schimmerte die feine Linie des im Mondlicht erblaßten Halses. Als sie seine Schritte hörte, blieb sie augenblicklich stehen, hob aber den Kopf nicht an, sondern hielt wie vorher das Gesicht mit den Händen bedeckt und den großen hellen Hut gesenkt; zart, niedlich und bis zu Tränen bemitleidenswert.

„Nun, genug doch ... Mä...russja,“ rief Mishujew, ihren früheren Namen mit dem jetzigen verwechselnd in plötzlich erwachter inniger Zärtlichkeit und legte den Arm um ihre Schultern. „Verzeihe mir ... Ich wollte dich nicht kränken!“

Er erwartete, daß sie ihn launisch zurückstoßen, ihre Hände losreißen würde und kühl und fremd bliebe, er empfand bange Furcht davor. Er fühlte, daß er dann vollständig einsam wäre. Aber sie legte nur ihren Kopf an seine Brust und schob ihr Gesicht mit unruhig fragendem Schimmer in den Augen, die vom Mondenschein und Tränen geweitet waren, seinen Lippen entgegen. In ihren feuchten Pupillen und in den Mundwinkeln, um die ein leidendes Lächeln glitt, sah Mishujew den demütigen, erfreut-vergebenden Ausdruck, wie ihn geprügelte und wieder geliebkoste junge Hunde und kleine Kinder haben.

Im Augenblick war dieses Gefühl der Wärme und des Mitleids, das ihn selbst angenehm berührt hatte, wieder verschwunden, als wäre es nie gewesen; es hatte nur eine Kühle von Ärger und wachsender Erregung zurückgelassen. Er küßte sie kalt auf die warmen, feuchten Lippen und sagte, indem er ein wenig zurücktrat:

„Sei bitte nicht so launisch ... Das wird auf die Dauer langweilig ... was willst du eigentlich ... ich begreife dich nicht!“

Er schwieg, blickte starr auf die Seite und fügte hinzu:

„Ist Zeit nach Hause zu gehen ...“

Sie lächelte verwirrt, als wollte sie sagen: verzeihe mir — — vielleicht hatte ich wirklich Unrecht, ich weiß es nicht — — mir schien, daß du mich nicht liebst, — — daß du mich verachtest; — — und das ist ja unerträglich schwer ...

Sie geriet in Hast. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Der weiße, kühle Mond und das unaufhörlich rauschende Meer blieben hinter ihnen zurück; ihnen entgegen flog schon ein Schwarm tanzender Töne. Doch immer noch war etwas Fremdes zwischen den Beiden.

Als sie nach Hause fuhren, fühlte Mishujew an seinem Schenkel die Berührung ihres elastischen Körpers, der unter trockenem, sprödem Stoff verschwand, sah ihr feines wie mit lichtlosen Farben gemaltes Profil, den Kopf, wie von einer unerträglichen Last gebeugt und fragte sich, was zwischen ihnen wäre ... zwischen ihm, dem Manne, der sie so viele Jahre hindurch verehrte, ohne daß er gewagt hätte, sich ihre Nacktheit, ihre Liebkosungen in Gedanken vorzustellen, und ihr, der reizenden, gütigen Frau, die ihren stillen Gatten so stark geliebt hatte, sich so einfach, wie eine ältere Schwester, zu ihm selbst verhielt und sich ein so keusches und reines Aussehen bewahrte, trotzdem sie verheiratet war.

II

In heller Sonne erglänzte der Strand wie vergoldet, und selbst das Meer am Ufer schäumig grün, in der Ferne blau, fast lilafarben, schien mit goldenem Glanz überstreut zu sein, Sonne und Himmel atmeten, ferne Berge verschwammen mit den Sommervillen, die außerhalb der Stadt wie verstreutes Spielzeug im Grase auf ihren Abhängen lagen, in weißem Glanz.

Das grellfarbige Publikum des Badeortes schob sich über die Strandpromenade, bog breit wie ein Strom an dem ovalen Kurgarten um und leuchtete so wandlungsreich bunt, daß es unmöglich war herauszufinden, woher alle diese hellen Kleider, Hüte, Beine, Schultern und Gesichter mit den lebhaften Augen kämen. Es sah aus, als vergrößere sich die Menge ganz von selbst, wie ein schnell wachsendes Blumenbeet. Wirbelndes Sprechen, Lachen und Klingen verflocht sich schrill über den Köpfen und verband sich mit den Wellenschlägen an den Quadersteinen, dem schnellen Gerassel der Equipagen und dem deutlichen Trommeln der Hufe zu einer liebenswürdigen Musik.

Maria Sergejewna und Mishujew fuhren in einem leichten Jaltaer Wagen über die Strandpromenade, und der weiße Schleier, der von Maria Sergejewnas Hut herabwehte, schwirrte schnell an Pferdeköpfen vorbei, zwischen würdevollen Kutschern und dem auseinanderfließenden Zuge von Schirmen und Hüten.

Vor einem Laden, in dessen Schaufenstern kapriziöse Damenhüte wie exotische Vögel und Blumen prangten, hielt der Wagen plötzlich an, als wenn er an eine unsichtbare elastische Barriere gestoßen hätte. Leicht und schnell, wie vom Wind getragen, sprang Maria Sergejewna vom Tritt der Equipage direkt in die dunkle Tür des Ladens hinein.

Mishujew trat schwer, ohne sich seitlich umzusehen, auf das Trottoir und trat hinter ihr ein.

Sofort stürzten einige höfliche Verkäufer und Verkäuferinnen mit dienstbereiten Verbeugungen auf Maria Sergejewna zu, scharrten mit den Stiefelsohlen und lächelten mit plötzlich belebten Mienen. Eine Minute lang machte es den Eindruck, als drängte sich dort eine Schar glücklicher, ergebener Menschen, die freudig eine lang ersehnte, gute Freundin umringten. Wie von einem Wirbelsturm herausgerissen öffneten sich im Nu Dutzende Kartonschachteln, und blaue, rote, bunte Bänder flogen über Haufen weißer Hüte wie Blumen auf Schnee.

Es waren einfache Stoffhüte „Babyfasson“ vorgelegt worden; Maria Sergejewna wünschte sich einen auszusuchen. Sie glaubte, daß sie in diesem Hut wie ein graziöses, mutwilliges Mädchen aussehen müßte.

Die Verkäuferinnen plapperten mit übertriebener Lebhaftigkeit, die Verkäufer spreizten die Stimmen, um für Franzosen gehalten zu werden, und durch die offene Ladentür drang das Getöse und die Farben der Sonne hinein, und Maria Sergejewna wählte und suchte, während sie sich wie ein Kind über das Spiel der Farben und Modelle freute. Sie glänzte mit den Augen, lehnte ab, schwankte, lachte und war ununterbrochen in Bewegung. Sie musterte ihre Figur im großen Spiegel und reckte sich mit dem ganzen Körper, um ihr Profil sehen zu können. Und in jedem neuen Hut — mit blauen, roten, bunten Bändern — auf dem schwarzen Haar schien ihr matt-rosiges Gesichtchen noch schöner und jünger.

Mishujew saß inzwischen unbeweglich am Ladentisch, wie ein schwarzer Fleck inmitten der lärmenden Menge, die schweren Hände auf den aufrecht stehenden Spazierstock gestützt. Er sah schläfrig aus, wie ein nicht ausgeruhter, kranker Mensch, der nichts mehr sieht, nichts hört — nicht Sonne, noch Lachen, noch weibliche Anmut, — nichts, außer einer unheilvollen Bewegung, die langsam, schweigsam sein Leben Schritt für Schritt von innen heraus untergräbt, ohne daß er sich dagegen auflehnen könnte.

Manchmal blieb sein Auge an dem niedlichen erregten Gesichtchen Maria Sergejewnas haften, dann wendete er es wieder ab und stemmte den starren Blick gegen den ersten besten Gegenstand, — gegen die Tischecke, den lackierten Stiefel eines Kommis oder die harten Schulterknochen einer Verkäuferin, die wie selbstverständlich unter der koketten Seidenbluse hervortraten.

„Theodor, schau mal her ... ich werde den hier nehmen. Ich glaube, er steht mir gut, nicht? ... Oder den hier? ... Wie meinst du ... rate mir? ...“ Maria Sergejewna fragte ihn; sie konnte die leichte Unruhe, die in ihrer Stimme und ihrem Blick zitterte, nicht unterdrücken.

Ihr war froh und leicht gewesen. Die Szene vom Abend vorher hatte mit einer leidenschaftlichen Versöhnung geendet; sie war fast ganz aus ihrer Erinnerung geschwunden, verscheucht von Sonne, Lärm und dem Spiel des Geldes, an dessen Hinauswerfen sie sich noch immer nicht gewöhnen konnte.

Doch jetzt trübte das düstere Gesicht Mishujews ihre Freude. Es flößte ihr Schrecken ein. Es erinnerte sie, daß Küsse und wollüstige Zärtlichkeiten doch nur hinausschoben, was in ihr Leben eingedrungen war, ohne es aufzulösen und zu vernichten.

... Sind wir damit wirklich noch nicht durch? Wird es wieder diese widerwärtigen Szenen, die das Leben zur Last machen, geben? ... an der äußersten Fläche ihrer Gedanken huschten die Fragen vorüber.

„Nun, welchen also? Sprich doch!“ fragte sie nochmals, und schon klang in ihrer Stimme die eigentümliche Nuance geheimer Bitten wieder, als flehe sie ihn um Schonung an.

„Nimm alle,“ antwortete Mishujew, der an etwas anderes dachte, gleichgültig.

Sie lachte; alle Verkäufer und Verkäuferinnen lächelten entzückt. Einer brüllte über den Einfall des Millionärs laut auf.

Mishujew sah ärgerlich die lachenden Gesichter an, er zog die Augenbrauen zusammen. Sofort wurden alle ernst, und Mishujew, dem diese augenblickliche, gefällige Veränderung der Mienen nicht entgangen war, geriet in Empörung. Ein dringendes Verlangen, wie es ihn oft packte, stieg ihm auch jetzt zu Kopf: sie anzubrüllen, jemand mit dem Fuß zu treten, zu schlagen ...

— — So! Euch gefällt alles, wozu ich Lust habe? Schön! ... In seinem Gehirn loderten tolle Worte auf, doch er blieb still und senkte nur hilflos die Augen.

„Nein, warum bist du so ... Rate mir doch!“ drängte Maria Sergejewna kokett; Mishujew merkte, daß sie sich jetzt nur an ihn klammerte, damit kein anderer herausspüre, was sie in ihm mit heißem Schrecken erriet.

Jetzt fühlte er Mitleid mit ihr; es erwärmte ihn. Doch in seiner Seele wurde es noch trüber und hilfloser.

„Nimm den mit blauem Band ... Der steht dir am besten,“ sagte er klanglos.

„Wirklich!“ Erfreut lächelte ihm Maria Sergejewna zu.

Sie hob beide Hände zum Kopf, und unter der weißen Bluse sah er plötzlich ihren gekrümmten Rücken wie nackt; — weich und erhaben. Ein Verkäufer, der geknöpfte Lackschuhe trug, ließ einen schüchtern-lüsternen Blick über sie gleiten, begegnete aber plötzlich den Augen Mishujews. Im Augenblick klappte er zusammen, sein Gesichtchen wurde schlaff und bedeckte sich mit einer Maske von Gefälligkeit und Furcht.

— Ungeziefer! — dachte Mishujew mit jähem Anfall ekelnden Zornes und sah dem Verkäufer starr in die Augen. Der schrumpfte sichtlich zusammen, wurde dünner und kleiner. Fast eine Minute lang dauerte dieses eigentümliche grausame Spiel, das Mishujew krankhafte Befriedigung verschaffte. Er bemerkte, daß das Knie des Verkäufers, von einem zu engen Beinkleid umschlossen, zitterte.

... Übrigens, dachte Mishujew mit der früheren trüben Schwermut weiter, ... wenn ich selber der Kommis wäre, so würde die da und ähnliche andere ihm gehören, und ich müßte ihr wie ein Sklave verstohlene Blicke zuwerfen.

Er wendete sich ab. Alles wurde ihm zuwider: dieses Gesindel, das vor ihm auf dem Bauche rutschte, und diese Frau, die erst gestern von einem rohen Wort verletzt war und ins Wasser gehen wollte, und sich heute wieder von dem armseligen Vergnügen des Geldausgebens bis zur Selbstvergessenheit fortreißen ließ.

„Bist du bald fertig? ... Gehen wir doch!“ sagte er und erhob sich.

„Ja, ja, ich bin schon fertig. Ich habe mich schon entschlossen!“ beeilte sich Maria Sergejewna zu antworten. „Schicken Sie mir diesen ... nein, nein, den da, ... den mit dem hellblauen!“ warf sie hin, während sie sich nach Mishujew umsah, der wie eine schwarze Masse in der hellen Türöffnung stand.

„Gehen wir, bleiben wir ein wenig in den Anlagen,“ sagte sie, als sie in die Sonne heraustraten und auf allen Seiten von warmer, reiner Luft und fröhlichem Lärm empfangen wurden.

„Gut,“ Mishujew willigte vollkommen gleichgültig ein.

Sie hatten, den Equipagen ausweichend, schon die Straße überschritten, als er laut angerufen wurde.

„Fjodor Iwanowitsch! warten Sie einen Augenblick!“

Am Trottoir hielt ein glänzendes Automobil, und hinter drei Damen, die einem Strauß von Spitzen und Blumen glichen, streckte ein strahlender, schneeweißer Herr einen hellgelben Handschuh hervor und winkte.

„Theodor, man ruft dich ... Parchomenko!“ Maria Sergejewna berührte Mishujew am Ärmel und nickte an seiner Stelle lächelnd dem schneeweißen Herrn zu.

Parchomenko sprang von seinem Sitz herab, schwenkte jetzt seinen Hut durch die Luft und eilte rasch auf Maria Sergejewna zu:

„Maria Sergejewna, Sie Zauberin! Und ich suche Sie in der ganzen Stadt.“

„Wirklich!“

Maria Sergejewnas kleines Händchen preßte sich kokett an seine Lippen. Sie lachte.

Die Damen im Automobil nickten ihr mit den Hüten zu, der strahlende Parchomenko lachte und verlegte allen den Weg, das Automobil spiegelte, das Publikum sah sich nach ihnen um. Es schien, als hätte die ganze Stadt, die Berge und Blumen begonnen, nur für sie zu leuchten, zu glänzen und zu lachen. Ein schwindsüchtiger Pope, der mühsam seine trübselig grün gewordene Sutane vorbeischleppte, blickte mit großen glänzenden Augen auf sie hin und verschwand traurig; er löste sich gleichsam in Glanz und Fröhlichkeit der Menge auf.

Ein junger Mann und zwei Damen gingen an der Gesellschaft vorbei. Sofort fing der Herr eilig, als fürchtete er etwas Hochwichtiges zu versäumen, an, seinen Damen zuzuflüstern, wobei er mit den Augen winkte:

„Das sind Mishujew und Parchomenko — die Moskauer Millionäre! ...“

„Wo ist Mishujew? Welcher ist es?“ Die Damen wandten sich voll Neugierde um.

„Der dort mit der Dame steht ... der große Kerl ...,“ der junge Mann wies hastig hin, und zwei Paar aufgeregt neugierige Frauenaugen richteten sich auf Mishujew.

Mishujew drehte sich herum, aber Parchomenko sah strahlend die Damen an.

„Sehen Sie, uns kennen hier schon alle Menschen, Fjodor Iwanowitsch!“

„Erlauben Sie bitte,“ sagte jemand im Vorbeigehen; aus der gebrochenen Stimme hörte Mishujew scharfen Haß hervor. Er sah sich um und erblickte einen weißblonden jungen Mann, der unter einem schäbigen Jackett ein blaues Hemd trug. Seine hellen und offenbar guten Augen schauten auf Parchomenko mit einem im Grunde sanftmütigen Haß.

„Lassen Sie einen doch vorbeigehn,“ wiederholte er noch leidender.

Parchomenko maß ihn mit einem raschen wegwerfenden Blick und trat achtlos auf die Seite.

„Maria Sergejewna, wollen wir heute nach Suuk-Su fahren ... Gestern haben wir es hin und zurück in zwei Stunden gemacht. Ehrenwort! Wunderbar angenehm, mein Ehrenwort ... wie Vögel! ... Wir werden dort Abendbrot essen und dann zurück! ... Bei Mondenschein hat es etwas Bezauberndes, auf Ehrenwort!“ schrie er ganz strahlend; offenbar bis in die Zehenspitzen von der Freude über die eigene Existenz erfüllt.

Maria Sergejewna weigerte sich, mutwillig und kokett den neuen Hut schüttelnd, der ihr in der Tat das Aussehen eines graziösen Mädchens gab.

„Wir waren erst vorgestern dort!“

„Ja, aber im Auto ist es etwas ganz anderes. Über die Berge weg! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie leicht man von einem Berg auf den anderen fliegt ... Ja, geradezu die Empfindung, als fliege man im Traum ... auf Ehrenwort!“

„Nun gut ... später. Jetzt will ich spazieren gehen. Gehen wir! Das Meer ist heute wunderschön.“

Die drei Damen Parchomenkos, alles üppig blonde, phlegmatische Schönheiten, stiegen lachend und wie im Spiele aus dem Automobil.

„Fjodor Iwanowitsch, warum sind Sie denn heute so mürrisch?“ Parchomenko strotzte vor Freude.

„Er ist jetzt immer mißgestimmt,“ antwortete Maria Sergejewna für ihn, als wäre sie selbst daran schuld, und berührte Mishujews Gesicht mit einem schüchternen Blick.

„Sie sollten ihn doch dazu verleiten, ein Auto zu kaufen, — das bringt ihn augenblicklich in andre Stimmung. Aufblühen wird er,“ lachte laut Parchomenko. „Mit dem Auto kuriere ich mich jetzt in allen Nöten. Ehrenwort, — kein Scherz!“

Die Damen gingen zu viert voran, allgemeines Aufsehen erregend. Parchomenko rannte neben ihnen her, steckte sie mit seiner lärmenden Freude und Sicherheit an, wobei er ihnen fortgesetzt vor die Füße lief; nur Mishujew schritt schwer hinterdrein. Während sie mitten durch die festlich gekleidete Menge, die wie ein sonnendurchwärmter Bienenschwarm summte, gingen, blickte Mishujew aufmerksam und lange in die Gesichter, die ihnen entgegenkamen, als suchte er aus ihnen etwas herauszulesen.

Sie begegneten wieder dem schwindsüchtigen Popen und dem weißblonden Menschen im blauen Hemd. Diesmal ging ein hochgewachsener, hagerer, ernster Mann neben ihm. Mishujew kannte ihn; nun erinnerte er sich auch an den blonden. Der Ernste war ein bekannter Schriftsteller, der andere ein junger, schwindsüchtiger Dichter.

Der Schriftsteller warf einen flüchtigen, unfreundlichen Blick über die Gesellschaft und wandte sich ab. Der Dichter sagte ein paar Worte zu ihm, und in dieser Stimme wie in dem zornigen Blick des anderen lag ein spöttisch-feindseliger Zug gegen Mishujew, Parchomenko und ihre gutgepflegten, schönen Damen.

Bald von der Sonne überstrahlt, bald im Schatten der Schirme, zogen in bunter Reihenfolge männliche und weibliche, hübsche und häßliche Gesichter vorüber. Ein lebendiger Kaleidoskop, der sich in jedem Augenblick veränderte, rollte vor ihren Augen ab, und Mishujew verfolgte mit gewohnheitsmäßiger, krankhafter Unruhe dieses einförmige, eigentümliche Spiel: er sah, wie alle die gleichgültigen menschlichen Augen, die flüchtig über die herankommenden Gesichter glitten, plötzlich auf ihm haften blieben und den Ausdruck stumpfer Neugierde annahmen. Das war alles so gewohnt und eintönig, daß es Mishujew mitunter vorkam, als habe die ganze festliche Menge nur ein einziges — ein flaches Gesicht, das ihm über alle Maßen widerwärtig war.

Die Damen und Parchomenko lachten laut auf, Mishujew ging hinter ihnen, und das Gefühl der Einsamkeit, die ihm längst zur Gewohnheit geworden war, lief unablässig neben ihm her. Er wünschte, fortzugehen, wo nichts und niemand um ihn wäre — weder Sonne, noch Menschen, noch Lärm. Dort stehen bleiben und lange, sehr lange ganz still für sich stehen. — —

Der freudestrahlende Parchomenko wandte sich um und rief ihm etwas zu. Irgend eine Abgeschmacktheit, ohne Sinn und Witz, aber sonderbar aufdringlich durch das zur Schau getragene Selbstbewußtsein, daß alles, was er sprach, schön und äußerst interessant sein müßte.

— — — Dieser glückliche Trottel — dachte Mishujew, während er auf seine Füße hinunterschaute; plötzlich regte sich stumpfer Neid in ihm. Wollte man diese Empfindung in Worte übersetzen, so wäre der Unsinn herausgekommen: — ach, wenn ich doch solch ein Idiot wäre! Dann könnte ich ebenfalls glücklich sein wie er, mit meinen Automobilen, Millionen, Maitressen, mit all den Menschen, die mich selbst gar nicht bemerken, sondern nur das, was nicht meine Person ausmacht, die mich fürchten, hassen, an mir kleben bleiben.

„Hier kommt auch unser General!“ rief Parchomenko. „General, kommen Sie doch her! Ohne Sie ist es langweilig!“

Ein alter General mit breiten roten Streifen und einem verschrumpften, rosigen Gesichtchen auf einem Hals, dünn wie bei einem Küchlein, den der schmale, graue Backenbart nicht zu verdecken vermochte, lief, die Füße nachschleppend, auf sie zu. Er begann, den Damen mit freudestrahlendem Gesicht und kraftloser, greisenhafter Koketterie die Hände zu küssen. Man sah ihm an, daß er im voraus fürchtete, fortgejagt zu werden.

Parchomenko zeigte eine Freude, als wäre ihm ein amüsantes Spielzeug gebracht worden.

„Nun, wie ist’s, General, hat der Dampfer von gestern viel hübsche Frauen gebracht? Hat Ihr Herz oft gezuckt?“ er lachte laut und drehte sich vor den Damen, die auf der Bank Platz genommen hatten, auf den Stiefelabsätzen herum.

„Wußten Sie schon, Maria Sergejewna,“ wandte sich Parchomenko zu ihr, und man sah seinem rosigen Gesicht an, daß er im Begriff war, etwas ungemein Geistreiches zum Besten zu geben, „der General geht jeden Abend zur Landungsbrücke; er will der Unvorsichtigen nachstellen, die sich ihm anvertrauen würde ... Er ist ein Don-Juan, wie er im Buche steht. Auf Ehrenwort, — ohne Spaß!“

„So, General — und ich wußte gar nicht, daß Sie so gefährlich sind!“

Eine der blonden Damen Parchomenkos redete ihn gedehnt mit voller, schmachtender Stimme an.

„Oh, Sie kennen ihn eben nicht!“ Parchomenko verschluckte sich vor Entzücken; „jeden Abend läuft er hin. Nur wird er von diesen hartherzigen Damen leider so unhöflich wie möglich behandelt: er sucht an jedem Abend für sie Wohnungen, er schleppt ihre Sachen, er zahlt die Droschkenkutscher, und am nächsten Tag laufen sie, — Gott sei’s geklagt! — mit irgend einem Fähnrich über die Boulevards, und der General wandelt wieder zum Dampfer hin! Auf Ehrenwort, — — — ohne Spaß!“

„Was Sie sagen!“ Die üppige Blonde tat äußerst erstaunt.

„Sie müssen stets etwas ausdenken, Pawel Alexejewitsch!“ verteidigte sich der General und errötete.

„Ja, reden Sie nur! Ich etwas ausdenken! Und wer hat Sie vor drei Tagen in Dschalita mit einer Gymnasiastin erwischt? wie, — was?“

„Aber, bei Gott ist es wahr, Pawel Alexejewitsch ... das war meine Tochter Njurotschka! was wollen Sie, bei Gott! ...“ sein Gesicht wurde noch röter.

„Eine Tochter? Wir kennen sie schon — — diese Töchter!“

„Nein, wirklich, meine Tochter ... Njurotschka!“

„Daß sie Njurotschka heißt, glaube ich schon! Und daß ...“ Parchomenko hielt sofort wieder ein und kniff die Augen zusammen; offenbar bereitete er einen recht pikanten Witz vor. „Übrigens ist es schon glaublich, daß Sie nur noch väterliche Gefühle hegen können. Sehr möglich!“

Die Damen lachten, ihre Blicke etwas gesenkt, mit jenem eigentümlichen über die Lippen gleitenden halben Lächeln, in dem noch ein besonderes weibliches Geheimnis zu lauern scheint.

Der General kicherte ebenfalls, doch in seinem freundlichen Gesichtchen zeigte sich ein schmerzlicher Zug, als könnte seine Njurotschka dadurch verletzt sein. Einen Augenblick wollte er sich einfach umdrehen und fortgehen, wagte es aber nicht und kicherte nur krampfhaft weiter.

„Dats ist wunderbar, dats ist wunderbar,“ murmelte er, während seine Äuglein ratlos umherliefen.

„General,“ plötzlich leuchtete Parchomenko noch intensiver auf, „warum sagen Sie immer ‚dats‘ und nicht ‚das‘? Damit es sich komischer ausmacht oder haben Sie einen hohlen Zahn?“

„Sage ich denn dats?“ Der General errötete.

„Aber natürlich, dats! Sagen Sie doch: das! So — — — deutlich: das!“

„Ist es denn nicht ganz gleich?“

„In keiner Weise gleich ... Das ist ja furchtbar komisch! Auf Ehrenwort! Nun, sagen Sie mal: das!“

Der Alte lachte, und seine greisen Wangen wurden immer rosiger.

„Nein, Sie müssen es rausbekommen!“ Parchomenko ließ nicht von ihm ab.

„Dat—s!“ sagte der General mit heldenmütiger Anstrengung.

Parchomenko drehte sich vor Entzücken auf den Absätzen herum. Die Damen lachten. Auch Maria Sergejewna lachte und hob ihr feines Profil empor.

„Das, das, General!“ schrie Parchomenko. Sein strahlendes Gesicht war von Wonne übergossen. Er sah aus, als wollte er zurufen: Immer lustiger noch, alter Spaßvogel! ... Du siehst ja, ich bin in guter Laune ... Nur los!

„General, Sie sind der geborene Komiker ... Auf Ehrenwort!“ schrie er unter Lachausbrüchen.

Der alte General lächelte verwirrt, und seine Wangen glänzten hilflos.

Maria Sergejewna hatte mit dem Alten, nach dem sich schon die Spaziergänger umsahen, Mitleid. Sie sprach mit ihm weich und zärtlich, erkundigte sich nach seiner Gesundheit und nach der Tochter, der Gymnasiastin, die sie einige Minuten vorher in einem Haufen anderer, ebenso junger und fröhlicher Mädchen gesehen hatte. Der Alte schmolz sofort unter ihrer Zärtlichkeit und lächelte jetzt ganz anders, während er ihr nach Greisenmanier, wie ein gestreichelter, altersschwacher Kater, den Hof machte.

Aber Parchomenko begann wieder geistreich zu werden und ihn zu necken. Mishujew blickte auf sie; es widerte ihn an; der Alte tat ihm leid. Er wollte ihn in Schutz nehmen, bekam aber kein Wort heraus.

Der junge Dichter und der ältere Schriftsteller kamen wieder an ihnen vorbei. Mishujew hörte, wie aus einer Gruppe junger Menschen, die auf einer benachbarten Bank saßen, einer rief:

„Seht mal dort, seht ... da kommt Tschetyrjow und Marussin!“

„Wo, wo denn?“

Gespannte Mädchenblicke begleiteten die gebeugten Gestalten der beiden Poeten, die sich langsam in der bunten, festlichen Menge entfernten, von ihr wie ein trauriger Fleck geschieden. Mishujew hörte, wie in der jungen Gesellschaft eine heftige Diskussion über Tschetyrjows Talent losbrach.

Als wäre diese Begegnung schuld, wurde ihm mit einem Mal traurig zumute; wieder zog es ihn von hier fort irgendwohin, wo er allein bleiben und lange — lange stehen könnte, ohne etwas zu sehen, etwas zu hören.

III

Soeben war der abendliche Dampfer eingetroffen, und mitteilsame Feuer brannten auf der anderen Seite der Bucht und spiegelten sich dort wie bunte Blumengirlanden im dunklen Wasser wieder. Von diesem Ufer aus konnte man keine Menschen erkennen, und die schwarze Masse des Schiffes erschien rätselhaft, wie ein dunkles Seeungeheuer, das neben der Mole aus der Tiefe aufgetaucht ist. Aber man hörte schon aus der Ferne das schnelle Gerassel der anfahrenden Equipagen; man fühlte, daß in die lustige Stadt gleich eine ganze Flut neuer Menschen, die das Ende der langwierigen Reise angeregt hat, einströmen würde.

An diesem Tage machte Maria Sergejewna mit Parchomenko und seinen Damen einen Ausflug in den benachbarten Kurort, und Mishujew ging allein spazieren. Er schlenderte langsam über den Strand, vom Kurhaus und dem Kurgarten, wo sich das Nachtpublikum drängte, möglichst entfernt. Er fühlte sich so gut, wie seit langem nicht mehr. Der mondlose, zarte Abend, mit seinem durchsichtigen, goldenen Sternenschmuck, die ruhigen, rhythmischen Töne des leichten Wellenschlages, ergriffen stille, zärtliche Saiten seiner Seele. Die argwöhnische Behutsamkeit, die ihn die ganze Zeit über nicht verlassen hatte, verblaßte jetzt, und lautlos singende Trauer senkte sich in sein Herz. Er wünschte allein zu sein, sich etwas Nahes und Liebes ins Gedächtnis zurückzurufen.

Nachdenklich schritt er über die Strandpromenade, dort, wo sie leer und still war, und leise, herzliche Gedanken zeichneten vor ihm tastend bekannte, halb vergessene Gesichter wieder auf. Mishujew sah sie fast körperlich mit offenen Augen, wie sie unfaßbar durch die blaue abendliche Dämmerung zwischen den großen, blassen Sternen dahinglitten.

Allmählich kehrten seine Gedanken, wie auf einer Kreisbahn, zu der Zeit zurück, als er nach seiner Rückkehr aus dem Auslande, ernüchtert von sinnlosem Herumbummeln, seinem alten Freunde und dessen Frau, Maria Sergejewna, begegnet war. Er war damals ermüdet, überreizt, bis zum Haß gegen alle Menschen erbittert. Sie hatten ihn wieder mit einer ihm ungewohnten Einfachheit ihres Verkehrs erwärmt, ihn in den engen Kreis ihres hellen, gemütlichen Lebens gezogen; es gab viele Tage und Abende, die voll der Zutraulichkeit, der Freude und dem eigenartigen Zauber, den die Nähe einer schönen, guten Frau hervorruft, waren. Dann entstand verborgene Liebe — eine seltsame, anziehende Verbindung der keuschesten Achtung und der schamlosesten, begehrlichen Phantasien. Und schließlich kam der Augenblick, als in ihr die erst nur schüchterne Antwortsaite erzitterte; dann mit einem Mal war alles, was ganz unmöglich schien, woran er nicht einmal zu denken wagte, nahe geworden und umbrauste ihn mit dem heißen Feuer weiblicher Leidenschaft. Neue Verwicklungen traten ein; schmerzlich, abscheulich wie Alpdrucke. Lange hatte der schwere, von vornherein aussichtslose Kampf ihres Gewissens gegen den vorwärtsstürmenden Drang ihrer Körper gedauert. Da gab es grelle Durchblicke tollen Glückes, wie an jenem Abend, als das strenge, schwarze Kleid plötzlich zu Boden sank und das herrliche, nackte Weib unterwürfig und schamlos wurde; aber das Glück ging in einem breiten Sumpf niedrigster Heuchelei, Schande, unwillkürlichen Betrugs und Lüge unter, die dem Menschen gegenüber, den sie beide liebten und achteten, zur Infamie wurde, der Schmutz schwoll immer höher und höher an, stieg bis an die Kehle, und als sie endlich kaum noch atmen konnten, kam es zu einem kurzen, jähen Bruch.

Mishujew erinnerte sich, wie hell und leicht es um sie war, als alles wohl oder übel beendet schien und sich ihnen ein neues Leben eröffnete. Aber das Vergangene hatte seinen feinen Stachel zurückgelassen und drehte ihn noch bis heute in der vernarbten Wunde um. Als die erste Leidenschaft verflogen war, schien es Mishujew, daß ein furchtbarer, nie gutzumachender Fehler geschehen sei. Die Leiden und Schwankungen, die Maria Sergejewna erlebte, begannen ihm mit verborgener, giftiger Sprache zuzuflüstern, daß er eine ganz erbärmliche Rolle spiele. Diese Frau liebte ihren Mann und nur diesen, und er, Mishujew, der allein durch sein Geld bemerkenswert war, hatte für sie nur zufällige Bedeutung. Früher hatte sie so einfach und arm gelebt; jetzt wünschte sie ganz unschuldig und naiv Glanz und Freude. — Und weiter nichts ...

Wozu war es dann gut, drei Menschenleben zu vernichten? fragte er sich mit Entsetzen.

Irgendwo durchlebt ein erniedrigter, verlassener Mensch einsam das Mysterium seiner Schmach, die sich weder gut machen noch vergessen läßt; eine junge Frau wurde von allem losgerissen, wie ein beiseite geworfenes Spielzeug ...

Und in mein Leben trat nur ein käufliches Weib mehr ein, dachte Mishujew mit peinigender Roheit, er fühlte selbst, wie sein Gesicht sich verzerrte und zitterte.

Ich habe kein Recht, so von ihr zu denken! vielleicht liebt sie mich wahr und aufrichtig! wandte er sich mit der Bemühung, die aufgetauchten qualvollen Gedanken zu verdrängen, gegen sich selbst. Für einen Augenblick wurde alles in seiner Seele durcheinandergerüttelt, aber bald fühlte er wieder, daß der Gedanke nicht ertötet war, sondern sich nur tief in sein Inneres verkrochen hatte, wo er unfaßbar, wie eine kleine Schlange, die sich unter Steinen birgt, immer tiefer und tiefer fraß.

Mishujew warf den Kopf zurück, unterdrückte mit furchtbarer, fast körperlicher Anstrengung die Erinnerungen; er ging lange die Promenade hin und zurück, ohne festes Überlegen, nur mit formlosen Gedankenfetzen, die er müde durch seine Seele streute. Der Abend wurde inzwischen immer dunkler, immer tiefer und ruhiger glänzte der blaue Himmel, heller prangten die Sterne über den Bergen, und die verstummende See seufzte leicht und leise auf, als schliefe sie ein.

Wenn ich nur einen Menschen hätte, an den ich mich halten könnte! dachte Mishujew plötzlich und erinnerte sich im selben Augenblick an einen Menschen, der ihm in jener Zeit, als er frei mit dem Geld um sich warf und von großangelegter schöpferischer Arbeit träumte, nahegestanden hatte.

Ihn sehen, sprechen, dachte Mishujew mit naiver Sehnsucht; dabei lächelte er unwillkürlich über die schwungvolle Gestalt des berühmten Dichters Nikolajew, die mit einem Mal in der Dämmerung des südlichen Abends unerwartet vor ihm auftauchte.

„Tut nichts, Bruder, wir werden uns schon durchsetzen! Wir sind eine zähe Bande!“ ertönte eine Stimme voll Kraft und Wagemut in der komischen Aussprache der Wolgagegend neben ihm.

Mishujews Herz erzitterte.

Eine junge Dame in einem Reitkleid, das fest den prallen weiblichen Körper umschloß, und ein kräftiger Tatar mit schiefen, wie auf Saiten gespannten Beinen, trabten mit dröhnendem Hufschlag an ihm vorbei. Die Dame lachte abgerissen und beugte sich auf den Sattel nieder, der Tatar bewahrte seine majestätische Selbstgefälligkeit; doch kaum waren sie vorüber, als sie auch schon in der Abenddunkelheit zerflossen.

Ganz mechanisch fühlte Mishujew seine Gedanken zu dieser Frau hingezogen: vielen solchen Frauen stand er nahe. Ihre unergründlichen Augen, ihre ausgemeißelten Arme, erhabenen Brüste, schlanke Taillen und harte Schenkel liefen in fast lückenloser Reihe durch den zerfließenden Nebel seiner Vergangenheit. Sie fielen ihm leicht zur Beute, nur kosteten sie ihn mehr oder weniger. Mit geschlossenen Augen stürzten sie sich unter den Goldregen, blühten unter ihm auf und wurden glatt und gleißend wie gut gefütterte Panther.

Schon seit langer Zeit hatten sie aufgehört, Mishujews Leben zu erheitern; schon seit langem blieb er auch, wenn er auf ihren elastischen Brüsten, ihrem samtenen Körper, zwischen den in leidenschaftlicher Qual erzitternden, weißen Beinen lag, doch nur der, der er immer war, — ein einsamer, suchender, trauertragender Mensch.

Mishujew ging weiter, und wieder begannen sich aus einem riesigen, verwickelten Knäuel einsame Gedanken zu entwirren.

Von der Landungsbrücke rollte ihm schon eine ununterbrochene Flut von Droschken entgegen, als wenn sie irgendwo einen Damm durchbrochen hätten. Gesichter, Hüte, Pappschachteln und Koffer zogen vorüber; unbekannte neue Augen leuchteten auf und verschwanden. Der Fahrweg der Promenade begann unter dem ununterbrochenen Lauf der Räder lebendig zu zittern und zu dröhnen. Mishujew sah sich alles mit Widerwillen an.

Wieviel da sind! ... Wer hat sie alle in die Welt gesetzt! dachte er angeekelt. Vor ihm erhob sich ein riesiger, trüber Leib, den ein unwiderstehlicher, ewiger Drang bis an den Himmel aufgebläht hatte, und er sah aus ihm Millionen abscheulicher Geschöpfe, Gott weiß wozu, hervorkriechen, durchschlüpfen, sich schütteln, über die Erde wimmeln — von niemandem begehrt, niemanden interessierend.

Lärm und Dröhnen erschütterte die Strandpromenade wie ein Lawinensturz, und verstummte dann in der Ferne, in den Straßen der Stadt, ebenso schnell, wie es entstanden war.

Immer seltener und seltener rollten die Droschken vorbei; jetzt wurde wieder das gleichmäßige, nachdenkliche Atmen des Meeres deutlich, als stünde man an einem öden Ufer. Mishujew schritt noch einmal bis zum Ende der Straße hinunter, an dem ein Kaffeehaus, das mit rotbefezten, lärmenden Türken vollgepfropft war, aufleuchtete, und kehrte wieder mechanisch um.

In der Nähe des Stadtgartens kamen ihm häufiger die üblichen Spaziergänger entgegen. Ein Offizier mit einem Dämchen, das die engumkleideten, biegsamen Schenkel beim Gehen wiegte, zwei oder drei satte Herren mit blutig flimmernden Zigarren zwischen den Zähnen, schlenderten vorüber. Dann umwehten ihn ein paar Backfische mit einem zarten Aroma von Parfüm und dem leichten Hauch, der ihren Röcken entströmte; ihr Gelächter und Geschwätz betäubte ihn für einen Augenblick. Plötzlich sah er den alten General mit dem schmalen Backenbart und den ungeheuerlich breiten, roten Hosenstreifen kurz vor sich. Neben ihm ging ein hübsches Mädchen; ihre zarte Röte und die keusche, strenge, vorschriftsmäßige Tracht des Mädchengymnasiums fielen unwillkürlich sofort ins Auge.

Als der General Mishujew erblickte, geriet er in Hast. Er begann sofort, ihn zu grüßen und ihm zuzulächeln, während er sein rechtes Bein etwas unbeholfen hinter sich herschleppte. Sonst fürchtete er Mishujew und kam nicht an ihn heran, heute aber wünschte er sehr, vor seiner Tochter mit der Bekanntschaft eines leibhaftigen Millionärs zu renommieren, so daß er es wagte. Aus seinen Augen und selbst aus seiner Stimme strahlte kleinlicher, naiver Stolz; ungezwungener, als es nötig wäre, sagte er:

„Ah, Fjodor Iwanowitsch! Gehen spazieren. Was machen Sie?“

„Guten Abend,“ sagte Mishujew rücksichtsvoll und doch mit einer für ihn selbst unmerklichen Nuance von Hochmut und lüftete nachlässig den Hut.

„Gestatten Sie ... hier ... das ist meine Tochter Njurotschka,“ stellte der General vor. In seiner Stimme lag Schüchternheit, die aber nicht durch die Person Mishujews, vielmehr durch etwas anderes in ihm hervorgerufen schien.

Mishujew drückte ein kleines, bebendes Händchen. Das ganze Mädchen war zittrig wie ein Vorfrühlingstag. Als sie ihre feuchten, dunklen Augen auf Mishujew richtete, lächelte er ihr unwillkürlich zu. Auch sie lächelte.

Sie gingen alle drei zusammen weiter. Der General war hastig und drosch auf irgend einen Unsinn los, mit dem offensichtlichen Bestreben, das verwirrte Mädchen zu ermuntern und ihr zu zeigen, wie freundschaftlich er mit diesem Millionär stände. Anfangs wurde er sogar ohne Grund vertraulich und machte nach einem ziemlich mißlungenen Scherz den Versuch, Mishujew den Arm um die Taille zu legen. Doch rechtzeitig kamen ihm Bedenken. Trotzdem mißfiel Mishujew schon der Anklang an Vertraulichkeit; er wurde kühl.

Das Mädchen errötete fortwährend und blickte Mishujew nicht an. Er konnte nur ihr kleines Ohr, die flaumweiche Haarlocke und den unfaßbar zarten Umriß der errötenden Wange sehen. Sie schritt nach vorn gebeugt, als schämte sie sich, und ihre Absätzchen klopften nicht laut und nur unsicher auf. Wenn der General besonders schiefe Witze machte, senkte sie den Kopf noch tiefer, und ihre Wange begann zu brennen. Doch sobald Mishujew, unwillkürlich dem Wunsch nachgebend, sie aufzumuntern, etwas Lustiges sagte, warf sie plötzlich den Kopf, dessen Kinn so mollig wie ein Kissen war, in den Nacken zurück und lachte hell auf. Mishujew blickte auf dieses Kinn: es war so abgerundet und zart, daß man glauben konnte, bei seiner Berührung müßte man ein Gefühl der Wärme empfangen. Unwillkürlich begann er liebenswürdig und lustig auf sie einzuwirken, um sie nur zum Lachen zu bringen.

Sie hatte eine ganz wunderbare Art zu lachen: da beginnt zuerst etwas zu klingen und reißt ab, dann schaut sie ihm mit den dunklen Augen gerade ins Gesicht, ihr Blick geht in ein verschämtes Lächeln über und wird plötzlich ganz ernst.

Sobald sie nur das erste Mal gelacht hatte, wurde es Mishujew froh zumute, und ihm gefiel dieses Pärchen — dieses mädchenhafte Weib und selbst der gutmütige, ängstliche General mit den ungeheuerlich breiten Hosenstreifen und den vorbeigelingenden Witzen. Auch machte es ihm Spaß, daß der Greis sie „Kindchen“ und sie ihn „Papachen“ anredete. Das war so naiv und schön.

Sie gingen durch den ganzen Park, wo sich die duftige, blaue Dämmerung verdichtete und einsame Pärchen mit leisem, geheimnisvollem Lachen und Flüstern umherstreiften. Leichte Stimmung ließ sich auf Mishujew nieder, wie er sie seit langem nicht mehr gekannt hatte; er wurde einfach, gesprächig und lustig. Er begann von seinen Auslandsreisen zu erzählen, schilderte recht humorvoll, wie er sich auf der Spitze der Cheops-Pyramide ausnahm und kam dann, um dem Mädchen vertrauter zu werden, auf seine Gymnasialzeit zu sprechen.

„Sind Sie denn aufs Gymnasium gegangen?“ Aus irgend einem Grunde wunderte es den General.

„Ja, wir sind sehr einfach erzogen worden; auch unsere Mittel waren damals bescheidener.“

Mishujew verstummte. Er rief in der Erinnerung das beinahe vergessene Bild des Pennals hervor und mußte lachen.

„Was für komische Käuze hatten wir unter unseren Paukern.“

„Wir hatten auch solche —“

„Warum ‚hatten‘? Sind Sie denn nicht mehr auf dem Gymnasium?“ fiel ihr Mishujew erstaunt ins Wort und sah sie lächelnd an. Ihm war es angenehm, daß sie schon eine „Erwachsene“ sein sollte.

„Nein. Ich habe es hinter mir ... schon lange ...“ erwiderte das Mädchen leise.

„Ach, was denn ‚lange‘!“ der General lächelte liebevoll, „es sind im ganzen drei Monate!“

„Mir kommt es vor, als wäre Gott weiß wie viel Zeit vergangen,“ erwiderte das Mädchen noch leiser und fügte kaum hörbar hinzu: „so viel Wasser ist verflossen! ...“

„So—o!“ sagte Mishujew mit komischer Wichtigkeit, und plötzlich kam ihm der Wunsch, sich einfach zur Seite zu wenden und ihr einen Kuß auf die Backe zu drücken. Einen festen, reinen und vollen Kuß.

Er blickte sie aufmerksamer an und sah, daß sie ihm anfangs viel jünger, als sie in Wirklichkeit sein mochte, vorgekommen war. Von der Seite aus sah er die weiche Linie ihrer Brust, die dicht neben ihm abgerundete Schulter und den Arm, den der Stoff des Kleides fest umgab.

„Und was wird nun? Auf die Hochschulkurse?“ fragte er zärtlich.

„Ich weiß nicht ...“ antwortete das Mädchen kaum hörbar und senkte den Blick.

Der General krächzte und fuhr ungeschickt über seinen Backenbart.

Für eine Minute entstand Schweigen, und Mishujew fühlte, daß er eine wunde Stelle berührt hatte. Sie taten ihm plötzlich leid, und ihm kam der fröhliche Gedanke, daß sich alles eigentlich mit einem Schlag in Ordnung bringen ließe. Aber ihm war es peinlich, davon anzufangen, und um das Schweigen zu verscheuchen und das Mädchen aufzuheitern, begann er wieder von seinen Lehrern zu erzählen.

„Wir hatten einen Mathematiker ... so dick und majestätisch wie der vortragende Rat im Ministerium. Die ganze Stunde hindurch pflegte er aus einer Ecke in die andere zu gehen und seine Lebensweisheit zu verzapfen. Dabei war sie in einem einzigen Satz erschöpft. Ja, so schritt er durch das Klassenzimmer, immer aus einer Ecke in die andere, drehte die Finger vor dem Bauch und sprach, doch äußerst gravitätisch: ‚Es gibt Phi—lo—sophen ... es gibt Männer der Ar—beit ... und es gibt Lieblinge des Schicksals! ...‘“

„Sie, Fjodor Iwanowitsch, hat er sicherlich den Lieblingen des Schicksals zugeteilt,“ lächelte einschmeichelnd der General und trippelte kurz mit den Füßchen.

„T—ja ... Ein Mann der Arbeit konnte ich jedenfalls schwerlich genannt werden.“

„Und ein Philosoph?“ bemerkte das Mädchen neckisch, wurde aber sofort verwirrt.

Mishujew lachte und fühlte wieder den Wunsch, sie zu umarmen und zu küssen, unbedingt auf die Backe und so mit vollem Klang!

Aber das Mädchen senkte wieder den Blick. Immer noch drückte ihr ganzes schlankes Figürchen leise Trauer aus.

„Ja, ja ...“ Mishujew beeilte sich zu antworten. Ihn hielt der launische Wunsch fest, daß sie nicht wieder schweigsam und traurig werden dürfe.

„Wir hatten auch einen Lehrer der Geographie. Hoch gewachsen, hager wie ein Stock; wir nannten ihn nur ‚die Makkaroniröhre‘. Der erklärte uns immer das Sonnensystem mit verteilten Rollen: er selbst war die Sonne, ich stellte gewöhnlich die Erde vor, ein kleiner Judenjunge — den Mond usw. Die Sonne hockte auf den Fußspitzen in der Mitte der Klasse und drehte sich langsam um sich selbst, die Erde lief um die Sonne im Kreise, der Mond sauste aus allen Leibeskräften um die Erde herum ... Anfangs ging alles gut, aber bald kamen wir durcheinander, und es trat eine Weltkatastrophe ein: der Mond rannte in die Erde hinein, Mars stieß Jupiter mit dem Kopf vor den Bauch, und dieser majestätische Planet setzte sich plötzlich auf die Sonne und verursachte ein vollkommenes Chaos!“

Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken, und ihr Lachen klirrte so sorgenlos heiter durch die Luft, daß Mishujews Herz vor Freuden mitklang. Er wünschte, daß sie weiter lache und begann von allem möglichen zu plaudern, wie es ihm gerade in den Kopf kam, und obgleich das, was er erzählte, äußerst unbedeutend war, brachte er es dennoch mit solcher Komik heraus, daß es allen außerordentlich lustig schien. Das Mädchen lachte nun ununterbrochen, warf den Kopf zurück und zeigte ihr reizendes Kinn. Dem General traten vor lauter Lachen Tränen in die Augen, und alle Passanten sahen sich nach den lärmenden Drei um.

„Ich hatte einen bekannten Diakon, in Ssamara ... Er war ein toller Säufer! Kommt da jemand irgend einer heiligen Handlung wegen zu ihm. Da tritt ihm die Diakonin entgegen und erklärt geheimnisvoll: Vater Diakon könne jetzt nicht empfangen! ... — Warum denn, — ist er voll des Spiritus ...? — Jawohl, ja — — ganz voll! — — — Ah, so! und der Besucher entfernte sich teilnehmend.“

„Voll des Spiritus!“ Das Mädchen lachte und blickte Mishujew nun wieder gerade ins Gesicht, mit einem Ausdruck, als erwartete sie von ihm noch eine Geschichte, die am allerlustigsten wäre.

Der General aber schleppte sich hinterher, hinkte und schwieg. Er war mit einem Mal verstummt, und in seinem gerunzelten Gesicht spiegelte sich irgend eine Unstimmigkeit wieder. Er erschrak über die unerwartete Fröhlichkeit und Einfachheit Mishujews. In seinem Innern zu allertiefst seiner Seele begann sich trübe Befürchtung zu regen. Er hatte ihr noch keine Form gegeben; es war nur die schüchterne und ohnmächtige, vogelartige Angst um sein reines, zartes Mädchen.

Diese reichen Herrschaften ... zuckte es durch seinen Kopf: für den da wäre es nur eine Kleinigkeit ...

Die Vorstellung davon, was Mishujew mit seinem kleinen Mädchen anstellen könnte, malte sich immer deutlicher vor ihm aus, war aber so grauenhaft, daß der General sich fürchtete, sie in Gedanken festzuhalten.

„Njurotschka! ... Es ist wohl schon Zeit — nach Hause ...“ rief er sie ungeschickt an.

Das Mädchen sah sich verwundert um.

„Es ist noch früh, Papachen!“

Der General murmelte etwas verwirrt vor sich hin. Sein Gesichtchen war gerötet, die Äuglein liefen ganz sinnlos umher. Mishujew sah sich ebenfalls nach ihm um und begriff instinktiv die feinsten Windungen seines Denkens. Etwas Bitteres, Altgewöhntes regte sich in ihm. Zuerst war es schmerzlich, aber gleich stieg irgendwoher, aus dunkelster Tiefe, der scharfe versteckte Gedanke auf: Geld geben, auf die Hochschulkurse bringen ... In gebrochenen, aber blitzgrellen Zickzacklinien wand sich ihr blendender, junger, zum ersten Male entblößter Körper durch seine Vorstellung; zitternde, naive Ausbrüche noch unerfahrener Wollust ... Und dann die tolle, feurige Hingabe. — Unwillkürlich blickte er das Mädchen von der Seite an, und sie schien bereits nackt vor ihm zu stehen; er sah ihre runden, bloßen Arme, die kleine, elastische Brust, die weichen Haarlocken auf ihrer runden Schulter. Etwas schlug, wie eine heiße Welle, an seinen Kopf, aber er kam sofort wieder zu sich.

Das Mädchen schaute auf und fragte etwas.

„Ja,“ antwortete Mishujew. Er fühlte eine große Freude, daß diese alpdrucksartige Vision verschwunden war. Er hatte den leidenschaftlichen Wunsch, die Befürchtung des Generals, die er erriet, zu verscheuchen, wieder schlicht, ebenmäßig, freundlich zu werden.

Er hat ja recht, wenn er mich fürchtet, dachte er schwermütig. Aber auch ich habe keine Schuld ... so würde jeder andere an meiner Stelle handeln. Was soll man tun ...

Mit großer Anstrengung gelang es Mishujew, die wieder heranrückenden, gierigen und beherrschenden Gedanken beiseite zu drängen; doch wurde ihm traurig, hoffnungslos traurig zumute, als befände er sich einer Macht gegenüber, die stärker ist, als sein Widerstand.

Und Wort für Wort kam er, von diesem traurigen Bewußtsein und dem warmen Gefühl für das reine zarte Mädchen ergriffen, auf sein Leben zu sprechen.

„Wie glücklich Sie sind,“ plapperte naiv Njurotschka. „Überallhin können Sie reisen, alles sehen, erfahren! Wir sind jetzt zum ersten Mal in Jalta und fühlen uns schon wie im Paradies!“

„Darin liegt ja gar nicht das Glück,“ erwiderte Mishujew traurig: „leben kann man überall; Menschen leben am Nordpol wie in Kamschatka, in der Sahara und den Pinski-Sümpfen ... Und selbst, die dort leben, können sich dazu erheben, sich eine eigene Poesie zu schaffen. Leben kann man auch ohne Palmen, ohne Wärme, ohne große Städte. Das ist alles Unsinn ... reine Formsache. Nur eins kann der Mensch nicht entbehren — Menschen. In der Einsamkeit wird der Mensch stumpf, schwach, wird ohnmächtig und unnütz ...“

„Und mir scheint, ich könnte auch in einer Wüste leben, wenn nur Blumen, die duften und Vögel und das Meer ...“

„Das scheint nur so,“ lächelte Mishujew, „uns Menschen sind komplizierte und tiefe Gefühle gegeben ... Und um sie mit Leben zu erfüllen, ist eine Umgebung erforderlich, die ebenso kompliziert, fein und tief wäre. In Himmel, Bäumen und Meer allein kann sich eine Menschenseele nicht auslösen. Man kann noch soviel reisen und sehen ...“

„Ja. Aber Sie haben doch immer Menschen um sich soviel Sie wollen ... Sie können doch soviel Gutes tun,“ bemerkte Njurotschka schüchtern. Und ehe er noch etwas erwiderte, fühlte sie, wie sich ihr Herz leise zusammenzog.

Mishujew verzog seine Mundwinkel ein wenig; dadurch machte er auf sie plötzlich einen überaus plumpen, krankhaften Eindruck.

„Ah!“ sagte er bitter, von einer plötzlichen heißen Aufwallung fortgerissen: „Gutes! wenn aber jeder, der zu einem kommt, nur um dieses Guten willen kommt ...“

„Aber nicht jeder!“ erwiderte das Mädchen mit eigentümlich mitleidsvoller Hast.

Mishujew schwieg. In seiner Seele ging etwas Sonderbares vor: er war auf sich äußerst ärgerlich, daß er so redete, daß er irgend einem Mädchen gegenüber seine Seele entblößte; ein kühler Stolz preßte seine Lippen, und dennoch wollte er sich gerne, ohne daß die rechte Gelegenheit war, einfach aussprechen. Dieser Wunsch siegte.

„Vielleicht wirklich nicht jeder,“ sagte er mit Überwindung. „Aber wenn die meisten Menschen nur kommen, um Geld zu holen, so scheint es immer, daß einer, der einfach, ohne Hintergedanken, mit offenem Herzen kommt, sich nur verstellt, und im Innern seiner Seele dasselbe will. Daß auch er nicht gekommen wäre, wenn er nicht Geld finden würde. Und da wird man im Voraus argwöhnisch ... Manchmal überläuft einen solche Bitterkeit, daß man alles von sich abstößt, grob und brutal wird ... Das ist entsetzlich, wirklich!“

Etwas zitterte wieder in Mishujews Stimme, er kniff die Lippen ein und verstummte. Wieder wurde es still und das Getöse des Meeres schien dem Mädchen einsam und traurig. Sie wurde nachdenklich, und tausende zarte, liebevolle Worte schwirrten durch ihren Kopf. Eine mütterliche Zärtlichkeit erfüllte ihre mädchenhafte, naive Seele, sie wünschte ihn zu liebkosen, zu trösten.

Der General schaute verwundert von hinten auf die riesige gebückte Gestalt Mishujews. Anfangs glaubte er ihm nicht, er wurde sogar von stärkerem trüben Schrecken erfaßt: ihm kam es vor, als wollte sich Mishujew gerade in Njurotschkas Augen als Unglücklichen aufspielen. Aber später schämte er sich dieses Gedankens und bedauerte Mishujew auf seine besondere Greisenart — mit väterlicher Zärtlichkeit:

„Mir scheint ...“ begann das Mädchen leise.

Doch die Stimmung war bei ihm schon verflogen. Das kühle Denken bekam Oberhand. Mishujew tat seine Offenherzigkeit vor solchen im Grunde belanglosen Leuten, wie irgend einem General a. D. und seiner Tochter, einer Gymnasiastin, die er sich einfach kaufen konnte, leid. Zwar wurde ihm dieses Gefühl selbst peinlich und er wurde sich seiner Grobheit bewußt; er zeigte sich aber trotzdem plötzlich hochmütig und kühl.

„Nein, das sind alles Bagatellen ...“ fiel er ihr kühl ins Wort und fing unvermittelt an, von etwas Unnötigem und Uninteressantem zu sprechen.

Njurotschka blickte ihn rasch an, aber Mishujews Gesicht blieb regungslos und reserviert. Sie wurde plötzlich blaß, richtete sich mit einem Male auf und starrte vor sich hin, während ihre Finger unter der trüben, schmerzlichen Empfindung, verletzt zu sein, erzitterten. Gleichsam, als wäre sie von jemandem entkleidet und verhöhnt worden, sie und alles, was sie mit reiner, inniger Zärtlichkeit in sich entdeckt hatte.

Der General versuchte Mishujew zu trösten, aber er benahm sich ungeschickt, so daß er selbst verwirrt wurde und nur irgend welchen Unsinn murmelte.

Als sie ans Ende der Promenade gekommen waren, hatten alle das Gefühl peinlicher Öde; sie verstanden, daß es Zeit sei, auseinander zu gehen. Der General fiel vollständig zusammen. Er wußte nicht, wie er ihrem Zusammensein ein Ende machen sollte, wurde unschlüssig, trippelte mit den Füßen und redete blödes Zeug über den Abend, das Meer, das Jaltaer Leben. Mishujew schwieg und antwortete nur einige Male ohne aufzublicken:

„Ja, das ist richtig ...“

„Sehen Sie mal, Fjodor Iwanowitsch ...“ begann wieder der General, aber gerade da zupfte ihn die Tochter am Ärmel und sagte, mit abgewendetem Blick, leise, aber fest:

„Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, Papachen ... Mir ist kalt.“

„Sofort, sofort, Kindlein,“ beeilte sich erfreut der General. — „Nun, auf Wiedersehen, Fjodor Iwanowitsch, auf Wiedersehen.“

Er drückte lange die Hand Mishujews; er konnte sich nicht entschließen, fortzugehen. Er hatte das Gefühl, daß noch etwas fehle. Njurotschka wartete schweigend, blaß und traurig. Ihr taten alle leid — sie selbst, der Vater, und Mishujew und das Helle und Schöne, das gekommen und wieder vergangen war. Es war ein Gefühl des Mitleids und der schweren Verletzung, das ihr fast Tränen herauspreßte.

Sie lachte nur beim Abschied, über irgend eine Bemerkung des Vaters, schwach und abgerissen, auf, warf aber doch das Köpfchen in den Nacken und zeigte ihr reines zartes Kinn.

In der letzten Minute rührte sich in ihr eine warme Empfindung und sie sagte mit klingender Stimme:

„Fjodor Iwanowitsch, darf ich Sie bitten, mit zu uns heranzukommen.“

„Danke schön,“ erwiderte Mishujew kühl.

Das Mädchen errötete und ihre Augen wurden traurig, ratlos.

Den ganzen Weg schwieg sie und hörte darauf, wie der Kies surrend unter ihren Füßen knirschte. Ihre Seele war von einem verwirrten Gefühl erfüllt, als wäre irgend ein Glück abgerissen; ihr Mitleid mit Mishujew wurde noch stärker.

IV

Die Nacht trennte das Meer von der Erde. Hinter der grell beleuchteten steinernen Brüstung der Strandpromenade stand die dichte Finsternis wie eine Mauer; ein unbegreifliches, unaufhörliches Leben schien sich in ihr versteckt zu halten. In dem unsichtbaren freien Raum bewegte sich etwas, stieß schwere Seufzer aus, plätscherte, als ob es schluchzte, schwoll an, flaute ab, und schwoll dann wieder irgendwo in der schwarzen Ferne, die mit dem schwarzen Himmel zusammenfloß, von neuem an. Dort in der Finsternis, vor den menschlichen Augen verborgen, tobte unaufhörlich ein ewiger geheimnisvoller Kampf, als arbeiteten Millionen Wesen unter dem Schutz der kurzen Nacht daran ihr grausames düstres Werk zu vollenden. Die Strandpromenade, die von den blassen Lampen der Laternen mit totem Licht begossen wurde, war von durchsichtiger aufhorchender Leere umgeben. Die Bäume verschwammen zu einer dunklen eintönigen Masse, und nur dicht neben den Lampen schimmerten hell, aber leichengrün einzelne erstarrte Blätter. Von Zeit zu Zeit wuchsen irgendwo einsame Schritte deutlich heran, im Lichtkreise zeichnete sich scharf ein schwarzer Schatten ab, wuchs, dehnte sich aus, bog sich über die Brüstung zum Meer hinab und verschwand in der Finsternis ebenso schnell, die deutlich verhallenden Schritte in die Ferne tragend.

Mishujew ging allein; sein Kopf schien ihm unendlich groß und sein Herz leer.

Das rastlose Meer lärmte in ewiger Trauer; über den Bergen funkelten große Sterne, und die Seele Mishujews erfüllte ein Gefühl, als stehe er über einer Welt, in der alles längst abgestorben war, jedes Leben für immer geendet hatte, und das Auge nur tote Schneefelder und ferne Sterne, die von der Kälte ewigen Schweigens angeschmiedet sind, erblickt.

Tote Trübsal weinte leise in seinem Herzen; es war für ihn ganz gleich, wohin er in der Leere und dem Schweigen der Nacht gehen sollte. Warme Erinnerung lebte noch in ihm, und in den Ohren gellte, wie aus weiter Ferne, klingendes Lachen. Blonde Haare, feuchte Augen, das weiche, reine Kinn eines in den Nacken geworfenen Köpfchens huschten durch sein Gedächtnis. Aber die Gedanken flogen schnell, wie Wolken am Mond in grauer Winternacht, vorüber. Weder Ziel noch Anfang oder Ende hatten sie, und trübselig war ihre dunstige rasende Geschwindigkeit.

Langsam und schwer, wie ein Mensch, der ernstlich krank ist, ging Mishujew bis ans Ende der Promenade, blieb stehen, ging zurück, und er wäre nicht imstande gewesen, mit Worten auszudrücken, worüber er in dieser Zeit dachte. Es gab keine bestimmten Worte, es gab keine Personen, denen gegenüber er seinen Wunsch, sich aufzulehnen, äußern konnte. Aber seine kranke Seele, die das Bewußtsein eines unüberwindlichen Unrechtes, das sie bisher noch nicht begriffen hatte, niederdrückte, verlangte nach etwas.

Eine stürmische Bewegung, grell und lebendig, wie menschliche Liebe und menschliche Freude, schlug vor seinem Blick empor. Aber rings umher blieb alles leer; ihm schien es, daß nicht nur auf dem breiten Kai, sondern in seinem eigenen Leben nur seine schweren Schritte widerhallten, als zählten sie, ohne Zweck und Grund Stufen eines toten Weges, der für niemanden von Nutzen ist.

„— — Es ist Zeit, zu sterben!“ dachte Mishujew plötzlich mit verzerrtem Lächeln.

In einem Augenblick wurde es ihm leicht und frei ums Herz, als hätte dieses Wort die Hülle alles Schweren und Düsteren abgestreift; und nun stellte es sich heraus, daß nichts dahinter war — — — als vollkommene Leere. Das Gefühl der Leichtigkeit und Raumlosigkeit erfüllte für einen Augenblick seinen Körper und machte ihn ebenso leer und frei, band ihn von Mishujew, dem schwergewordenen, düsteren, abgelebten Menschen los. Aber dieses Gefühl kam nur für einen Augenblick und erlosch, wie ein Funke in Finsternis und Wind.

Wenn allein der Tod übrig bleibt, so ist Alles wahr: dann ist es richtig, daß sein Leben in der Tat widerwärtig und sinnlos ist; er braucht nicht weiterzuleben.

Plötzlich wurde es ihm so schwer zumute, daß er wünschte, weinen und sich auf die Erde werfen zu können, mit dem Gesicht nach unten, und so liegen zu bleiben.

Aber was ist denn geschehen? Bin ich krank? fragte er sich voller Verzweiflung. Er erstickte fast unter einem furchtbaren Druck und begriff nicht warum. — Ich besitze alles, was einem Menschen nötig ist; sogar viel mehr. Tausende Menschen träumen davon, ein Hundertstel von dem zu haben, was ich besitze ... träumen davon, wie von einem unerreichbaren Glück! Von all meinem Leid wird jeder Mensch nur sagen, daß ich an meinem eigenen Fett ersticke. Was fehlt mir denn. Ich habe alles ...

Und in grellen Streifen zogen im Augenblick Reihen herrlicher Frauen, Theater, Meere, Städte, Bilder, Automobile, Pferde ... eine ganze Welt, voll Farben, Licht und Bewegung, das Luxuriöseste, Schönste, Angenehmste, was die Welt hervorbringen kann, ... an Mishujews Augen vorüber. Aber sein eigenes Gesicht blieb krank und schwermütig zurück. Alles entfernte sich, verblaßte, wurde plötzlich eintönig und ärmlich, wie verblichenes Flitterzeug.

Nicht das, nicht das ist es ... doch was denn? — Er richtete seine Frage irgend wohin ins Innere seiner schweigenden Seele. Plötzlich durchschüttelte eine Flut gegenstandsloser, unnützer Bitternis seinen ganzen mächtigen Körper; er fiel durch eine Spanne übermenschlicher Leidempfindung, die einen unendlichen Augenblick dauerte, in ein leeres kaltes Loch hinein, wo nichts mehr war als die äußerste Abspannung.

Schweigsam ging Mishujew bis an das Ende der Straße, und sank in seinem ganzen Wesen mit jedem Schritt mehr und mehr zusammen. Mit einem Male fiel ihm ein, wie oft er schon von einem Ende bis zum anderen gegangen war; er kehrte um. Und als sich aus den Scheiben eines Restaurants grelle Lichter über seinen Weg schoben, überschritt er die Straße und öffnete mechanisch die große schwere Tür.

Man muß etwas zu sich nehmen ... ich bin einfach schlaff geworden, dachte er gleichgültig.

Hinter der blendenden Spiegelfläche des Fensters erglänzten lebende Lichter, schwankten schwarze Silhouetten, schimmerten die scharf geschnittenen grünen Blätter der Zimmerpflanzen; weiße Tischtücher strahlten wie Bergschnee.

Sowie Mishujew die Tür geöffnet hatte und der Portier von seinen massigen Schultern den Überzieher abnahm, schlug ihm von allen Seiten verworrener Stimmenlärm, Gelächter und funkelndes Gläserklirren entgegen, es betäubte ihn nach der Stille der Nacht. Er wurde sofort erkannt. Bald hier bald dort tönte durch Gepolter, Klang und Getöse sein Name, eilig und fast warnend ausgesprochen. Einige Frauengesichter begleiteten ihn mit neugierigen Blicken, während er sich langsam zwischen den Tischen vorwärts schob. Neben dem Buffet rief ihn ein Bekannter, der Moskauer Schriftsteller Opalow, an.

„Fjodor Iwanowitsch!“ Er schien erfreut und erhob sich eilig; sein Gesicht, mit feinen Gesichtszügen und Augen, schmal und eigenartig, wie bei einer japanischen Puppe, fing mit dem Ausdruck lebhaftester Freude und völliger Zutraulichkeit zu lächeln an. „Fjodor Iwanowitsch, setzen Sie sich zu uns heran! ... Kellner, einen Stuhl her!“

Am Tisch saßen drei Herren: die zwei Schriftsteller, denen Mishujew am selben Tage auf der Promenade begegnet war, und ein aufgedunsener, kahlköpfiger, etwas unsauberer Mensch in Leinwandhosen, die für seine Beine zu eng waren, mit einer auffallenden entweder amerikanischen oder einfach clownmäßigen Weste.

„Sie sind wohl noch nicht bekannt?“ fragte Opalow, als sich alle langsam Mishujew entgegen neigten: „Tschetyrjow, ... Marussin, ... Podgurski ...“

„Ehemaliger Schriftsteller!“ fügte der aufgedunsene Herr hinzu mit einer Stimme, die die eines Hansnarren — vielleicht aber auch seine gewöhnliche sein konnte.

Mishujew nannte kurz und flüchtig seinen Namen. Es war ihm stets unangenehm, sich mit seinem Namen vorzustellen: es kam ihm kindisch vor, einen Namen herzusagen, den alle gewöhnlich schon vorher wußten; sich aber gar nicht vorzustellen, wäre auch nicht angegangen. Das erregte ihn.

„Sie kennt ja jeder, Fjodor Iwanowitsch!“ lachte Opalow; es war schwer zu unterscheiden, ob er es gutmütig oder mit gehässiger Ironie meinte.

Mishujew lächelte mißmutig, und dieses schiefe Lächeln fiel ihm selbst unangenehm auf: es konnte den Eindruck erwecken, als gebe er zu, daß ihn alle kennen oder als leugne er es oder auch als heuchle er eine Verneinung. Er fühlte, daß ihm Einfachheit fehlte und daß es allen aufgefallen war. Es verstimmte ihn wieder.

Der Kellner brachte eilig einen Stuhl und Mishujew ließ sich nieder, kreuzte sofort seine massigen Arme auf dem Tischtuch und starrte mit schwerem Seitenblick auf das Nachbartischchen, wo drei beleibte, aufgeputzte Damen und zwei glänzende, fesche Offiziere saßen. Für eine Minute entstand peinliches Schweigen. Opalow blickte Mishujew freundlich, aber so neugierig in die Augen, als wenn sich plötzlich ein Eisbär neben ihn gesetzt hätte. Der zottige Podgurski, der wie ein Bündel schmutziger Wäsche, in enge Höschen und ein Jackettchen aus Segeltuch gepreßt, aussah, schaute ebenfalls neugierig auf ihn; in seinen winzigen, scharfen Äuglein leuchtete ein freches, gieriges Feuerchen. Tschetyrjow und Marussin tranken schweigsam ihr Bier und schienen Mishujew nicht zu bemerken. Mishujew sah mit einem flüchtigen Blick, daß Marussins weiche, schwache Hände die ganze Zeit hindurch krankhaft zitterten, und er erinnerte sich, gehört zu haben, daß Marussin an der Schwindsucht litt. Auch seine Augen fielen ihm auf: etwas leicht Vergängliches und Durchsichtiges, wie ein Streifen zarten Frühlingshimmels, sahen ihm daraus entgegen. Mishujew empfand, daß er wahrscheinlich ein sehr unglücklicher, guter und reiner Mensch sein müsse. Warmes Mitleid regte sich in ihm.

Bis an die Decke dröhnte das Restaurant von Rufen, Gläserklirren und Gelächter. Manchmal fiel irgendwo mit trockenem Gepolter ein Stuhl um, laut klingelte ein ungeduldiges Löffelchen an eine Glaskante und hoch flatterten die feinen Töne der weiblichen Stimmen und ihr anrufendes Lachen, das sich wie unter eigenem Kitzel verschluckte. Kellner mit Servietten huschten vorüber, das Licht brach sich in den buntfarbigen Kelchen und Flaschen und strahlte in den Schmucksachen auf glatter, halboffener, weiblicher Haut. Nur durch die weiten Fenster blickte unverwandt die schwarze Nacht herein.

„Warum sind Sie denn allein? Wo ist Maria Sergejewna?“ fragte Opalow; aus seiner Stimme konnte man heraushören, daß der Name Maria Sergejewnas in ihm eine unfaßbare Vorstellung weiblicher Entblößung hervorrief.

Mishujew wußte, daß Maria Sergejewna auf alle Männer eine schmerzlich erregende Wirkung ausübte, und daß man von ihr mit einer besonderen Nuance im Tone sprach. Einst schmeichelte es ihm, er fühlte einen eigentümlichen Reiz, zuzuschauen, wie fruchtlos alle Männer durch diese Frau erregt wurden. Doch in der letzten Zeit fiel ihm darin etwas Verletzendes und Unangenehmes auf; er erinnerte sich, daß man erst begonnen hatte, mit ihr und über sie so zu sprechen, seitdem er zu ihr in feste Beziehungen getreten war. Ebenso schön war sie auch früher gewesen, aber damals umhüllte sie eine besondere Reinheit. Durch seine Berührung war diese Reinheit abgestreift worden, vor allen Menschen hatte er sie in der erniedrigenden und groben Gestalt eines allen zugänglichen Weibchens entblößt.

„Sie ist nach Ssemeïd gefahren,“ antwortete Mishujew ungern und mit einem Blick nach der Seite.

„So! Ich war ihnen heute begegnet ... Mit Parchomenko?“ Opalow war entzückt, und wieder spürte Mishujew aus diesem Entzücken etwas Besonderes heraus. Als hätte Opalow niemals daran gezweifelt, daß Maria Sergejewna früher oder später in Parchomenkos Hände übergehen müßte; jetzt aber wäre er zur Überzeugung gekommen, daß es sich schon vorbereitete. Nach Opalows Meinung war Mishujew schon der Liebhaber a. D.

„— — Anders kann er es sich gar nicht vorstellen,“ dachte Mishujew.

„Parchomenko, das war jener? ...“ erkundigte sich plötzlich Podgurski.

„Ganz recht — der!“ sagte Opalow, während seine eigentümlich japanischen Augen glänzten.

„Kennen Sie ihn?“ fragte Podgurski weiter. „Machen Sie mich bitte mit ihm bekannt. Ich habe in einer geschäftlichen Angelegenheit mit ihm zu tun.“

„Wollen Sie ihn anpumpen, — — — auf Nimmerwiedergeben?“ fragte Opalow offensichtlich scherzend.

„Und wenn schon. Meinen Sie, er gibt nichts?“

„Ja, der würde Ihnen wohl nichts geben,“ bemerkte Mishujew mechanisch.

„Und Sie, würden Sie etwas herausrücken?“ wandte sich unerwartet Podgurski an ihn und offenherzige Unverschämtheit klang aus seiner Stimme.

Mishujew war eine Weile vor Überraschung sprachlos. „Vielleicht,“ lächelte er dann.

„So, dann geben Sie mir bitte fünfundzwanzig Rubel! Warum auch nicht?“

Mishujew lenkte seinen schweren Blick in Podgurskis Augen, dachte eine Weile nach, lächelte dann wieder und reichte ihm einen 25-Rubelschein über den Tisch. Ihm gefiel die Aufrichtigkeit, die in dieser Frechheit lag.

Podgurski erwartete kaum etwas und war nicht einmal besonders gespannt, ob Mishujew ihm Geld geben würde oder nicht, aber beim Anblick des Geldes blitzten seine Äuglein noch frecher auf. Er nahm den Schein und schob ihn wie selbstverständlich in die Tasche der halb amerikanischen, halb clownartigen, vielleicht aber nur einfach schäbigen, fettverschlissenen Weste, die auf seiner Brust hin- und herrutschte.

„Danke!“

Mishujew bemerkte, wie sich Marussins gute Mädchenaugen mit zurückhaltendem Lächeln Podgurski zuwendeten, sich aber im Augenblick wieder verschämt senkten, ohne sein Gesicht gestreift zu haben. Tschetyrjow blickte schweigend über die Köpfe hinweg nach dem Innern des Restaurants und schien überhaupt nichts zu sehen.

„Sie sind aber ein frecher Patron!“ bemerkte Opalow; man konnte seinen Augen ansehen, daß auch ihm der Gedanke an eine Anleihe gekommen war; leider nur zu spät.

„Ach, ich spucke darauf!“ erwiderte Podgurski unverfroren. „Ich bin ein frecher Patron, Sie ein Feuilletonschreiber, er — ein Millionär; — was dabei das Schlimmste ist, das steht noch lange nicht fest!“

Opalow hob mit komischer Miene seine eigentümlichen Augen, aus denen stets beobachtende Neugierde blickte, zur Decke. Tschetyrjow und Marussin lachten gutmütig, und dieses gutmütige Lächeln des ungemütlichen Tschetyrjow überraschte Mishujew. Doch lächelte er selber mit.

„Und wissen Sie, was ich Ihnen sagen möchte ...“ begann Podgurski in einem Ton, als wollte er allen eine freudige Nachricht bringen, „laden Sie uns doch zum Sekt ein, Fjodor Iwanowitsch. Was? Warum denn nicht?“

Mishujew zuckte mit den mächtigen Achseln. Dieser durchtriebene Bursche, der ihm gleich beim ersten Wort auf die Schultern stieg, und dazu noch mit solcher Gradheit und Selbstverständlichkeit, fing an ihn zu amüsieren.

„Meinetwegen, gut. Nur müssen Sie selbst alles anordnen,“ sagte er.

„Schön, ausgezeichnet! ... Kellner!“ Podgurski schrie laut, ohne darauf zu achten, daß sich das ganze Restaurant nach ihrem Tisch umdrehte.

Der Geschäftsführer, ein schmächtiger Greis mit üppigem, grauem Backenbart, der schon lange in der Nähe Mishujews wie ein Jagdhund auf der Lauer gestanden hatte, trippelte rasch auf ihn zu, wobei er mit der süßesten Miene seine winzigen Händchen rieb. Podgurski ging daran, ein Souper zusammenzustellen. Er tat es so sicher, als hätte er sich sein ganzes Leben lang mit nichts anderem als feinen, üppigen Diners abgegeben. Mishujew schaute ihn sogar verwundert an. Podgurski, der alles mit der Gewandtheit eines Taschenspielers fertig machte und alles bemerkte, warf dazwischen:

„Gleich kommt der Millionär zum Vorschein! Sie denken, daß sie nur allein essen und trinken können.“

„Und wissen Sie, was Millionäre denken?“ fragte Mishujew hochmütig, ohne daß ihm selbst sein Ton zum Bewußtsein kam.

„Aber gewiß doch! Alles weiß ich! Als ich ein berühmter Schriftsteller war ...“

Alle brachen in Lachen aus. Aber Podgurski maß dem keine Bedeutung bei.

„... habe ich mir Millionäre angesehen, wie andere Hunde. Ich sehe sie durch und durch, wie ein Gläschen Wodka!“

Es wurde Sekt gebracht. Mit ihm kam der Geruch von Eis und Feuchtigkeit, als hätte man die Türen zu einem Keller geöffnet. Der alte Geschäftsführer schüttelte höflich den Backenbart und strengte sich an, in irgend einer Sache den rücksichtslosen Podgurski zur Vernunft zu bringen. Der lebte auf: seine dünnen Haare erhoben sich, einzeln und in Büscheln, seine Äuglein funkelten unverfroren und gierig, und die widersinnige Weste streckte sich frech hervor. Er machte Witze, trank, schrie, und man sah ihm an, daß er sich wenn nicht gerade glücklich, so wenigstens satt und behaglich fühlte. Mishujew schaute auf ihn und bemerkte mit intensivem Vergnügen, daß sich dieser Gentleman den Teufel um Mishujew, um dessen Millionen, um Tschetyrjow, um irgend etwas in der Welt kümmerte. Er hatte Sekt, Zigarren, seine Witze; alles andere kam für ihn nur insofern in Betracht, als es zu ihm gehörte und ihn fütterte.

Tschetyrjow und Marussin tranken nichts; sie aßen auch fast gar nichts. Sie schwiegen die ganze Zeit, wechselten selten einzelne Worte miteinander und hörten nur allem, was um sie vorging, so aufmerksam zu, wie nur Künstler zuzuhören vermögen. Dabei schienen sie Mishujew vollständig und mit Absicht zu übersehen. Ihn quälte es. Dafür wendete aber Opalow kein Auge von ihm. Immer noch war er erwartungsvoll neugierig. Die ganze Zeit gab er sich Mühe, das Gespräch mit Mishujew im Fluß zu halten, machte Witze, warf treffsichere Bemerkungen ein, in deren Spiel sein Wunsch, Mishujew zu gefallen, deutlich hervortrat.

Am Nebentisch saß eine starke, auffallend elegante Dame mit einem kleinen Ausschnitt auf ihrem zarten, rosigen Rücken.

„Ist es Ihnen schon aufgefallen, Fjodor Iwanowitsch,“ sagte Opalow, „daß die nackte Frauenhaut in der Restaurantbeleuchtung stets naß erscheint?“

„Fehlgeschlagen!“ schnitt Podgurski seine Worte autoritär ab; man sah ihm sofort an, daß er das versteckte Bestreben Opalows, zu gefallen, genau bemerkt hatte und es nun zu verspotten suchte. „Tüfteln Sie was besseres aus. Das war billig. Warum gerade bei Restaurantsbeleuchtung?“

Die weiten, schwarzen Augen blinzelten rasch, doch Opalow gab sich den Anschein, als verfechte er aufrichtig seine Bemerkung.

„Jawohl, gerade bei Restaurantsbeleuchtung ... Und, wissen Sie, das ist auch ganz natürlich: das Licht in Restaurants ist immer von feuchten Ausdünstungen durchtränkt ...“

„Sie schwitzen einfach!“ sprach Podgurski mit unwiderruflicher Entschiedenheit. „Aber das ist sicher: überall, wo es viele Frauen gibt, da riecht es nach Puder, Parfüms und faulem Fleisch.“

„Was Sie sagen!“ Mishujew lächelte.

„Ja, ja — — — das mag vielleicht wahr sein,“ bemerkte Tschetyrjow.

Als die Dame am Nebentisch sich erhob und ihre Federboa fallen ließ, musterte Opalow mit einem Blick ihre ganze Gestalt und sagte zu Podgurski, während er gleichzeitig Mishujew ansah:

„Nun, so sehen Sie hier: wenn eine Frau plötzlich eine Boa fallen läßt, scheint ihr ganzer Rücken für einen Augenblick nackt!“

„Das ist nicht schlecht,“ billigte Podgurski. „Sie sollten es nur Parchomenko erzählen. Der gibt Ihnen Geld für so was.“

„Sie haben neulich, wie ich glaube, gesagt, daß Sie Parchomenko nicht kennen,“ bemerkte Marussin und wurde verwirrt.

„Wirklich? Ja, möglicherweise habe ich es behauptet. Dann habe ich offenbar gelogen,“ erwiderte kaltblütig Podgurski.

Marussin machte den Versuch, ihn anzublicken, begann aber zu blinzeln, errötete etwas, und seine Verwirrung zeigte sich so naiv und aufrichtig, als wäre er und nicht Podgurski beim Lügen ertappt worden.

Und wieder dachte Mishujew mit zarter Liebenswürdigkeit von ihm: was für eine liebe Seele er ist!

„Ich kenne ihn schon lange, noch von Moskau her ...“ erzählte Podgurski. „Niemand kennt ihn vielleicht so gut wie ich ... Hier habe ich ihn!“

Podgurski streckte seine breite, verschwitzte Tatze aus. Und die Bewegung dieser unsauberen Hand mit den schwarzen, stumpfen Nägeln war so klettenartig und gierig, daß alle unwillkürlich auf sie blickten und selbst Mishujew von einem peinlich bangen Gefühl überlaufen wurde.

„Als noch der alte Parchomenko lebte, hielt er den Sohn unter einem strengen Regiment — er prügelte ihn und gab ihm keinen Groschen ... Er pflegte mit zwei Silberstücken à 20 Kopeken auf den Ladentisch zu klopfen: hier nimm und schere dich fort ... Damals suchte dieser Paschka überall nach Geld, gegen falsche Wechsel natürlich ... Dabei liefen wir uns beide in den Weg. Ich kenne solche prächtige Affären von ihm! Ich müßte nur noch ein Schriftstückchen in die Hände kriegen, dann würde ich bei ihm eine Erpressung anlegen, daß er wie ein Ferkel zu quietschen anfängt!“

„Ist das wirklich notwendig?“ fragte Marussin. Da er Podgurski nur mit Überwindung ins Gesicht sehen konnte, blinzelte er wieder mit den Augen.

„Sie kennen den Kerl nicht, Nikolaj Nikolajewitsch! Das ist ein furchtbares Insekt! Ein Reptil voll Gift! Wer es zertritt, dem werden vierzig Sünden erlassen! Platt wie ein Gummischuh, und von einer Niedertracht, daß es für drei Könige und vier Erzäbte ausreichen würde. Was für eine Grausamkeit in dem Aas steckt! Er hat da irgendwo gelesen, daß Kolonialoffiziere in Afrika Negerweiber auf Bretter nageln ließen und auf sie aus Revolvern um die Wette schossen. Was meinen Sie nun — das wurde seitdem sein Traum! Eine Frau zu kreuzigen. Und einmal tut er es sicher noch ... Als sein Vater im Sterben lag und kein Wort mehr herausbringen konnte, da fühlte sich dieser Paschka Parchomenko vor allen Dingen als Erbe, — er kam ins Schlafzimmer, griff den Sterbenden beim Bart und zerrte daran: Geier, hier hast du eine Belohnung für dein diebisches Leben! ... Und als er die Erbschaft in den Händen hatte, wurde er selber schlimmer als der Alte. Geizig ist der Bursche, wie ein Kettenhund! Dieses Dreckvieh. Millionäre existieren auf der Welt nur, damit man auf ihre Kosten Sekt trinkt; aber dieses Aas taugt nicht einmal zum Sekt!“

„Sie sind wohl fest davon überzeugt, daß Millionäre zu nichts anderem taugen?“ bemerkte Tschetyrjow.

Er fragte es anscheinend zum Scherz, aber alle, und auch Mishujew selbst, fühlten sofort, daß es eine Herausforderung gegen ihn war.

„Und zu was sonst noch, zum Teufel?“ antwortete frech Podgurski, der Tschetyrjows Ton aufgegriffen hatte und offensichtlich einen Skandal hervorrufen wollte.

Opalow blickte Mishujew versöhnlich in die Augen.

„Und welche Meinung haben Sie von Parchomenko?“ fiel er mit zu natürlicher Stimme Podgurski ins Wort.

Mishujew sah ihn von oben herab an und antwortete nicht. Der Haß, der handgreiflich in der Stimme Tschetyrjows, den er als Dichter liebte und achtete, lag, berührte ihn schmerzlich und machte ihn traurig. Mit drückender Ratlosigkeit fühlte er mit einem Mal, daß er von Feinden umgeben war.

„Mir scheint,“ sagte er, während er seine Hände, die auf der Tischplatte ruhten, unverwandt betrachtete, „daß Sie im Irrtum sind: man kann Millionär sein und dennoch zu etwas besserem taugen, als andere mit Sekt zu tränken.“

Tschetyrjow schob ihm seinen hartnäckigen, haßerfüllten Blick entgegen und lächelte kaum merklich. Mishujew zitterte und wurde rot.

„Sie scheinen sich gar verletzt zu fühlen,“ warf Podgurski mit doppelsinnigem Ausdruck ein.

„Ich fühle mich nicht verletzt,“ erwiderte Mishujew und errötete noch mehr. „Ich sagte das nicht, weil ich selbst Millionär bin ... Parchomenko ist eine Ausnahme. Das ist ein degeneriertes Subjekt, wie es in jedem Gesellschaftskreis vorkommen kann. Ich glaube allerdings, daß ein Mensch so oder anders sein kann, ganz unabhängig von dem Geldgewicht seiner Taschen.“

„Sicherlich!“ rief Opalow wieder zu aufrichtig.

„Parchomenko ist kein degeneriertes Subjekt,“ meinte Tschetyrjow kühl. „In einem Milieu, wo alles auf Geld aufgebaut, wo alles um Geld käuflich und verkäuflich ist, sind die Parchomenkos eine rein gesetzmäßige Erscheinung. Gerade so muß ein richtiger Millionär sein. Und wenn es andere gibt, so sind die schon eher in ihrer Art degeneriert ... Beispiele lebendigen Widersinns.“

Der Hauch der Feindseligkeit und des nahenden Streites wehte so deutlich aus dieser Stimme, daß Marussin seinen Kopf anhob und rot wurde, und Opalow auf seinem Stuhl zwischen Tschetyrjow und Mishujew in unbestimmte Bewegung geriet.

„Warum gleich?“ fragte Mishujew; ein trauriger Klang lag in seinen Worten. „Ich, z. B. ...“

„Nicht von Ihnen rede ich,“ erwiderte Tschetyrjow achtlos.

„Und wenn es selbst von mir wäre.“ Mishujew sprach leise, ohne die Augen zu bewegen.

„Von Anwesenden wird nicht gesprochen!“ mischte sich Opalow ein. „Das haben Sie wohl vergessen, Fjodor Iwanowitsch!“

Mishujew senkte den Blick noch tiefer und erwiderte noch leiser: „Nein, warum denn nicht ... Mir wäre es äußerst interessant zu erfahren, wie ... Ssergej Maximowitsch, den ich als Dichter liebe und schätze, darüber denkt ...“

Tschetyrjow wurde plötzlich ebenfalls rot. Und ohne ihn anzusehen, verstand Mishujew, daß ihm sein Gegner nicht glaube und meinte, Mishujew suche ihn nur umzustimmen. Das schien ihm noch kränkender. Ein Gefühl der Scham über seine Offenherzigkeit und trauriger Ratlosigkeit überkam ihn. Er hielt Tschetyrjow aus vollem Herzen für einen feinfühligen und ergreifenden Dichter und konnte nicht verstehen, warum ihn dieser nachdenkliche, wahrheitliebende Mensch, der ihn fast gar nicht kannte, bereits haßte und kränken wollte.

Mit schmerzlicher Mühe überwand sich Mishujew und sagte ebenso leise wie früher:

„Ich meine es ganz aufrichtig ...“

Ein warmer, bittender Klang zitterte in seinen Worten.

Marussin wurde gerührt, als er sah, wie ein so großer, starker, lebenserfahrener Mensch sanftmütig zu Menschen spricht, die ihn von sich fortstoßen. Ein leichter Ärger gegen Tschetyrjow regte sich in ihm.

„Ssergej Maximowitsch will wahrscheinlich ausführen,“ sagte er errötend und seine guten Augen aufschlagend, „daß die Anhäufung von Riesenvermögen in den Händen eines einzelnen Menschen ... ein Unsinn wäre ...“

„Na, da hätten wir ja ein Stück aus dem sozialdemokratischen Programm,“ bemerkte Podgurski spöttisch.

„Der Millionär selbst, wie er steht und geht, als lebender Mensch, ist meines Erachtens ein Unsinn!“ fiel ihm Tschetyrjow schroff ins Wort.

„Was haben Ihnen nur die unglückseligen Millionäre getan?“ Opalow versuchte wieder, das Gespräch in ein friedlicheres Fahrwasser zu bringen.

Aber diese Einmischung erregte Mishujew. Er las in den neugierigen Augen Opalows verstecktes Vergnügen.

„Nein, ich möchte Sie bitten, Ssergej Maximowitsch, sich eingehender auszusprechen,“ sagte er kühl aber zwingend.

Opalow blinzelte unsicher und lächelte ungeschickt.

„Wie habe ich mich noch auszusprechen!“ erwiderte Tschetyrjow düster. „Was ich denke, das habe ich bereits gesagt. Ich halte das Leben von Menschen, in deren Händen sich eine kolossale, ihnen nicht zukommende Macht konzentriert, für sinnlos. Sie können sich doch unmöglich dem Bewußtsein entziehen, daß sie an sich nicht eine Null, sondern noch etwas Tieferes sind ... daß sie ohne ihre Millionen für niemanden mehr nötig sind. Und da ergibt sich dann als logische Notwendigkeit für sie, sich entweder in volles Nichts zurückzuziehen oder diese Macht auszunützen. Wie aber kann sie ausgenützt werden? Was kann Geld, vieles Geld, verschaffen? Ausschweifungen, Gewalt, Luxus ... Es wäre unter solchen Umständen recht sonderbar, wenn man annehmen wollte, daß ein Mensch allem dem leicht entsagen würde, was sich ihm so gefällig und bequem in den Weg stellt. Der Reiche gefällt sich in Ausschweifungen, Vergewaltigungen, ... im Despotismus ...“

„Aber doch nicht darin allein ... Z. B. Tretjakow[1] ...“ warf Mishujew leise hin.

„Was war denn Tretjakow,“ schnitt ihm Tschetyrjow schroff das Wort ab. „Ein gleicher Despot wie andere. Ein Mensch, der sein ganzes Leben darauf verwendet hat, einen Druck auf die Kunst in der ihm genehmen Richtung auszuüben. Der eine neue Strömung widerwärtigster Tendenzkunst in Rußland ins Leben rief und die gesunde, normale Entwicklung unserer Kunst für ein Dutzend Jahre aufgehalten hat ...“

Die schwache aber scharfe Stimme Tschetyrjows konnte nur mit Anstrengung gegen den Restaurantslärm ankämpfen, sie klang angestrengt und böse.

„Eins von beiden: entweder muß der Millionär, wenn er die Richtung einschlägt, die seiner Lage angemessen ist, ein Mitfresser werden, muß Leben vernichten, indem er ihm allen Saft aussaugt, um selbst anzuschwellen, wie ein Wurm auf dem Aas, oder er muß das bleiben, was er zunächst ist: ein bedeutungsloses Anhängsel seiner Millionen ...“

„Kann denn aber der Millionär nicht selbst ein talentierter Mensch sein, ein Dichter, Maler, Bildhauer?“ fragte Opalow.

„Gewiß kann er es!“ Tschetyrjow zuckte kurz die Achseln. „Aber damit sich das Talent entwickelt, damit es aus sich etwas Größeres macht, sind Kampf und Leiden notwendig ... Was kann einem Menschen Leiden schaffen, dem das Leben ohne jede Mühe die verfeinertsten Genüsse ins Haus wirft. Unsinn ist das!“

„Fjodor Iwanowitsch!“ Höflich fiel ihm der alte Geschäftsführer, der lautlos herangetreten war, in die Rede: „Sie werden ans Telefon gebeten.“

Tschetyrjow verstummte plötzlich, und seine Augen wurden sonderbar eingezogen, als wenn er in sich seine wütende Rede in Gedanken weiter hielt.

„Wie?“ fragte Mishujew, der nicht gleich verstanden hatte, um was es sich handelt.

Sein Gesicht war blaß und traurig; ein schmerzlicher Ausdruck lag um seine traurigen Augen.

„Der Herr Parchomenko bitten Sie ans Telefon.“

„Ja, bei manchem mögen Sie vielleicht recht haben,“ sagte Mishujew, ohne Tschetyrjow anzublicken, „und ich verstehe Sie sehr gut, aber ... brutal ist es, wissen Sie! ... Entschuldigen Sie, meine Herren, ich komme gleich ...“ schnitt sich selbst das Wort ab und folgte dem Kellner.

Wieder begleiteten ihn neugierige Blicke, während er sich zwischen den Tischen durchschob.

Parchomenko forderte ihn auf, in ein Restaurant außerhalb der Stadt zu kommen; auch eine Chansonettensängerin Emma, die Mishujew ebenfalls flüchtig kannte, sollte dort sein.

„Und Maria Sergejewna?“ fragte Mishujew mechanisch.

„Maria Sergejewna ist nach Hause gefahren,“ antwortete der unsichtbare Parchomenko.

„Schön,“ antwortete Mishujew ebenso mechanisch.

In der Telefonzelle war es schwül und finster. Mishujew schloß die Augen und lehnte sich gegen die Wand. In seinen Ohren klang noch immer die schwache, haßerfüllte Stimme.

„Ja ... vielleicht hat er wirklich recht ... Aber weshalb dieser Haß! ... Warum sieht er das nicht ein? ...“

Mishujew führte seinen Gedanken nicht zu Ende. Er fühlte, wie sich sein Herz schmerzlich und trübe zusammenpreßte.

Als er zum Tisch zurückkehrte, waren Tschetyrjow und Marussin schon dabei, sich zu verabschieden.

... Zwischen ihm und Millionen Menschen werden immer Millionen Rubel stehen, und: entweder muß er ein Einsamer oder eine Bestie werden. Ein Widersinn, der in sich selbst sein Verderben trägt ...

Als Tschetyrjow Mishujew erblickte, brach er sein Gespräch kurz ab und sah ihm mit kühler, herausfordernder Entschlossenheit entgegen.

„Sie gehen schon fort?“ Mishujew zwang sich die Frage ab.

„Ja.“

„Vielleicht sehen wir uns noch wieder?“ fragte er weiter, während er zwei Hände drückte. Die eine zitterte in Erregung, die andere vor Spannung und Krankheit.

„Vielleicht,“ antwortete Tschetyrjow kühl, und aus dieser Antwort wehte sein unversöhnlicher Haß noch härter und kälter heraus.

Mit unbegreiflicher Erwartung blickte Mishujew in das Gesicht Marussins. Aber es war verwirrt, und die guten, offenen Augen blickten fremd in die Ferne.

Eine furchtbare Gefühlsaufwallung schnürte Mishujew die Kehle zusammen. Es war Qual und Schmerz und plötzliches, glühendes Verlangen, etwas entsetzlich Böses zu tun, ihnen zu zeigen, daß er dennoch stärker ist als sie und sie wie Unkraut auf dem Wege zertreten, verkrüppeln kann. Aber der Drang verlor sich ebenso schnell wie er herangebraust war, und als Mishujew den Fortgehenden nachblickte, war sein Gesicht nur blaß und eigentümlich, wie bei einem Menschen, der den Tod in sich trägt.

V

Den Busen vorgestreckt, den Rock über den Knieen gerafft und wie zur Attacke geschwenkt, sprang ein Weib mit feschem und elastischem Changieren der Füße, die Schultern entblößt und den Hut frech aufs Ohr gerückt, in das Zimmer hinein.

Es wurde schon lange getrunken. Wein, Zigarrenrauch, die von elektrischem Licht, Ausdünstungen und Likörs durchsättigte Luft hatten die Männer so furchtbar erregt, daß das Weib zur Notwendigkeit wurde. Man brauchte eine Stelle, auf die man die übermäßige Spannung der schlaflosen tollen Nacht entladen konnte.

Beim Eintritt des Weibes brauste eine hinreißende, fast wahnsinnige Bewegung auf, Parchomenko stürzte ihr, rot, mit blutunterlaufenen Augen und feuchtem Schnurrbart, entgegen, warf einen Stuhl zur Seite, packte sie an der schlanken, dünnen Taille, die in ein durchbrochenes Mieder gespannt war, hob sie in die Luft und stellte sie im Fluge auf den Tisch. Eine Flasche fiel um, und ein Glas ging in Scherben.

„Au! Sie schmeißen mich um!“ schrie sie, und ihre unaufrichtige, gewohnheitsmäßig erregte Stimme peitschte die sinnlose Fröhlichkeit noch höher.

„Hurra!“ rief Parchomenko, „es lebe die Schönheit! Gebt ihr Wein ... Sie soll nachholen, was sie versäumt hat.“

Alle drängten sich in dichtem, engem Haufen auf das Weib. Die Augen verspritzten scharfe Funken, die Finger haschten gierig nach ihren ausgeprägten Schenkeln, den elastischen Beinen und den runden, entblößten Armen. Parchomenko führte ein Kelchglas mit gelbem Sekt an ihre lachenden scharlachroten Lippen; Opalow, dessen weiße Backen dunkelrote Flecken bekamen, küßte sie oberhalb des Handschuhs auf den bloßen Arm; ein dicker Börsianer, mit feuchtem Mund, der fast bis an das Kinn aufgerissen war, schmatzte und gluckste, wie ein feistes, sattes Tier im Augenblick der Begattung. Es schien, als ständen sie alle auf dem Punkt, sich auf dieses nackte, schmackhafte Fleisch, das hinter den schwarzen Spitzen hervorlugte, zu stürzen und es mit Winseln und Beißen zu zerfleischen.

Nur Podgurski trank gleichgültig seinen Likör, und Mishujew lastete, wie immer schwer und düster, auf dem Divan und schaute mit schläfrigen, großen Augen um sich.

Die anderen trugen das Weib auf den Divan und ließen es dort niederfallen, wobei sie ihm wahrscheinlich Schmerzen verursachten; aber die Frau lachte nur laut auf, schlug mit den Spitzen ihrer schamlosen Finger auf die Hände, die nach ihrem Körper griffen, und schrie herrisch und gleichzeitig unaufrichtig:

„Regen Sie sich nicht zu sehr auf! Nicht aufregen, meine Herren! ... Hände weg! Sekt her! ... Ich will heute betrunken sein! ... Ich bin vergnügt ... Wenn Sie nur dabei gewesen wären, wie mich heute das Publikum aufnahm! Ein Triumph!“

Und unvermittelt sang sie laut ein Stück aus einem feschen Chanson.

Opalow reichte ihr Wein und ließ dabei plötzlich eine elektrische Taschenlampe unter dem Kelch aufleuchten. Hellgoldene Funken durchzuckten den gelben Saft; der Sekt lachte wie lebendig. Es war sehr hübsch; die gelben Funken gaben den schwarzen, lachenden Frauenaugen, in denen sie sich widerspiegelten, ein wildes, phantastisches Gepräge.

„Ah, wie wunderbar! Noch einmal, noch mal, Schatz!“ schrie sie lachend.

Opalow wollte das Licht noch einmal andrücken, aber Parchomenko riß ihm die Lampe aus der Hand und richtete ihr den grellen, weißen Strahl direkt in die Augen. Sie wurden gelb und durchleuchtend wie bei einer Katze. Das Frauenzimmer kniff zuerst vor Schmerz die Augen zusammen, dann lachte sie. Und doch bemerkten alle die armselige, naive Schminke über den Wimpern und versteckte bemitleidenswerte Fältchen in den Augenwinkeln dieses jungen Weibes, das doch schon am Verwelken war. Sogar Podgurski und Opalow empfanden etwas wie Scham und Mitleid. Parchomenko verwickelte sich mit dem Fuß, scheinbar zufällig, in ihren Spitzenüberwurf, der auf dem Boden lag, zog den Fuß an und riß ihn entzwei.

„Um Gottes willen, was machen Sie!“ rief das Weib; Mishujew hörte den demütigen Schreck in ihrer Stimme.

Parchomenko tat, als wäre er beinahe gefallen und zerriß die Spitzen, jetzt schon offenbar absichtlich, noch weiter, sodaß ihr rundes Bein im engen, schwarzen Strumpf sichtbar wurde. Sein Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart zog sich in einer grausamen Bewegung zusammen; seine Mienen bekamen einen katzenartigen Ausdruck.

„Aber halten Sie doch!“ rief das Weib wieder; in ihren untermalten Augen zuckte erschrockene Wut.

Opalow hatte ein peinliches Gefühl und trat neben beiden mit unnatürlichem, unsicherem Lächeln auf seinem eigenartigen, japanischen Puppengesicht von einem Fuß auf den andern. Podgurski schien dem Vorgang ganz gleichgültig zuzusehen, aber gerade in dem Augenblick, als sich Mishujew mit Widerwillen einmischen wollte, sagte er plötzlich:

„Pawel Alexejewitsch ... lassen Sie das gefälligst!“ Parchomenko zitterte förmlich vor Entzücken. Er tat, als wollte er das Kleid ordnen und knetete in Wirklichkeit mit verschwitzten Händen ihre runden Knie, wobei er das Spitzenwerk so hoch raffte, daß ein Streifen ihres nackten, rosigen Körpers zum Vorschein kam ... Das Weib riß sich los und lachte hysterisch. Aber durch das Lachen klangen einfache, naive Tränen. Ihr schönes, teures Kleid tat ihr leid.

„Lassen Sie das, was tun Sie denn!“ wiederholte Podgurski.

„Lassen Sie sie in Ruhe, Pawel Alexejewitsch,“ unterstützte ihn Mishujew.

Aber Parchomenko hörte nichts oder wollte nichts hören. Sein rotes, schwarzbärtiges Gesicht sah in der wütenden, wollüstigen Grausamkeit fürchterlich aus.

„Haben Sie denn nicht gehört? Nehmen Sie die Hände weg, sage ich Ihnen!“ rief plötzlich Podgurski, nicht laut, aber drohend, und seine Stimme war so eigentümlich, daß Mishujew sich verwundert umsah. Er erwartete, daß Parchomenko antwortete. Aber der ließ augenblicklich von dem Frauenzimmer ab; durch seinen Blick, der noch in grausamer Erregung leuchtete, zuckte hastige Furcht.

„Wir bringen es gleich wieder in Ordnung,“ sagte versöhnlich Opalow. „Geben Sie mir ein paar Stecknadeln ...“ Er wandte sich freundlich an die Sängerin, die ihre Spitzenfetzen zusammenraffte.

„Sieh mal einer an, welch Edelmut!“ murmelte Parchomenko frech und gleichzeitig feige, während er wie ein Hund zur Seite wich und scheele Blicke herüber warf. „Man darf sich nicht mehr ein bißchen amüsieren ... wir haben noch ganz andere gehabt! ...“

„Alles hat seine Grenzen ...“ bemerkte Mishujew kühl.

Parchomenko verstummte für einen Augenblick; er schien allen Halt verloren zu haben. Bald wurde er aber wieder unnatürlich lebhaft und wandte sich an die Sängerin. Er hatte verstanden, daß der Auftritt niemandem gefallen hatte und war kleinlaut geworden.

„Ach was, Stecknadeln! ... Lassen Sie mich, Opalow ... Ich weiß ein besseres Mittel.“

Zwei Hundertrubelscheine erschienen in seiner Hand, und er steckte sie dem Weibe feierlich in den Ausschnitt, wobei er seine ganze Hand zwischen ihren flaumweichen, üppigen Brüsten versenkte.

„Hier, Emmachen! Sei nicht böse!“

Emma wurde sofort still; dann begann in ihren Äuglein ein gieriges Feuerlein zu funkeln; plötzlich küßte sie Parchomenko direkt auf den schwarzen, feuchten Schnurrbart.

„Ach, wie bist du gut!“ sagte sie, und es war schwer herauszuhören, ob sie es aufrichtig meinte oder nicht.

„Ja, gut!“ warf Podgurski dazwischen; „warum auch nicht, — zuerst das Kleid zerrissen, dann Geld gegeben! Ein Prachtkerl! ...“

Es sah gerade so aus, als wäre er auf dem Sprunge, sich auf Parchomenko zu stürzen und ihm eine in die runde, selbstgefällige Fratze hineinzuhauen.

„Eine schöne Art,“ fuhr er wütend, angeekelt fort; „reißen, zerschlagen und dann Geld herauswerfen! ... Jahrmarktswitze!“

Er sprach mit einem Nachdruck, als wünschte er nicht nur mit den Worten, sondern auch mit jedem Laut seiner Stimme zu verletzen.

„Sie sollten es doch mal versuchen, den Kellnern die Schnauzen mit Mostrich beschmieren ... Warum nicht, das wäre doch ebenso witzig ... Oder mit der Stirn einen Spiegel einzurennen!“

Parchomenko lachte winselnd, und Mishujew sah zu seinem Erstaunen in seinem Gesicht feige, ohnmächtige Wut, wie bei kleinen Kötern, die beißen möchten, es aber nicht wagen.

Podgurski ließ nicht mehr von ihm ab. Bald riet er ihm, allein in vier Galawagen spazieren zu fahren, dann schlug er ihm vor, ein Sektbad zu nehmen oder sich zu feierlichen Ausfahrten auf der Straße eine Mauer durchbrechen zu lassen, wie es ein Moskauer Kaufmann getan hatte.

Parchomenko lachte immer unnatürlicher; man sah ihm an, wie die Furcht in ihm gegen ohnmächtigen Haß ankämpfte.

Opalow fragte Podgurski leise: „Mit welchem Zauber packen Sie ihn?“

„Ich habe keinen,“ erwiderte Podgurski verächtlich und ernst. „Nur glauben diese Herren, daß ihnen mit ihrem Geld alles erlaubt ist. Stoßen sie dann einmal auf einen Menschen, der sich auf ihren Geldsack in ausgesprochenstem Maße zu spucken erlaubt, so werden sie gleich zahm ... Etwas anderes haben sie nicht anzubringen!“

Der dicke Börsianer bemühte sich mit lauter, jüdischer Delikatesse das unangenehme Vorkommnis zu vertuschen. Er lenkte das Gespräch auf andere Streiche von Millionären und erzählte ein paar passende Witze. Das schlug ein. Das Gespräch wurde allgemein, und Parchomenko sagte ganz fortgerissen, mit glänzenden Augen:

„Nein, das ist nichts ... Keiner hat das feine Gefühl ... Das ist alles roh, platt! ... Ich habe eine neue Idee: wie wäre es, mal so ein halbes Dutzend Ballettänzerinnen vor einen Landauer zu spannen ... So wie sie sind, im Trikot und Gazeröckchen ... und dann durch die Morskaja zu fahren. Das wäre doch elegant, das wäre schick!“

„Wie albern!“ Emma tat ärgerlich. „Wer würde sich so blamieren lassen!“

„Ach was! Werft ein paar Tausend hin, und jeder Makler von der Börse geht als Deichselpferd.“

Der Börsianer lachte laut; auf seinen feisten Lippen entstand ein kleiner Speichelstrudel.

„Wissen Sie, das wäre wirklich originell!“

„Aber sicher!“ rief Parchomenko voller Entzücken und Begeisterung. „Denken Sie mal an: rosige Beinchen, die blauen Gazeröckchen gehen in die Höhe, und die nackten Rücken! Man könnte ein wenig mit der Peitsche antreiben! ... Nein, wissen Sie, mit ein bißchen Phantasie kann man ein ganz anständiges Ding zustande bringen!“

Mishujew saß schwer auf dem Divan und trank fast nichts. Seine ungesunden Augen bewahrten die ganze Zeit über denselben düsteren, angewiderten Ausdruck. Je weiter, um so langweiliger und widerwärtiger wurde ihm zumute. Seine Schwermut begann in ein scharfes, schneidendes Gefühl überzugehen. Aber er saß und saß, ohne aufzustehen. Er hatte Angst, allein zu bleiben, um nichts zu denken, nicht nach Unbegreiflichem zu verlangen.

Das Schreien und Lachen betäubten ihn, jedes Wort und jede Bewegung jedoch riefen in ihm neuen Ekel hervor. Da, dieses Kaufmannssöhnchen, das bald einem Schaf, bald einem dicken Kater, der mit einer Maus spielt, ähnlich sieht, das ein Glück darin findet, nackte Ballettänzerinnen mit der Peitsche zu schlagen und eine elende Kurortkokotte zu mißhandeln ... ein feister Börsianer, der fortwährend schmatzte, als hätte er Rubel im Munde, die er wollüstig wiederkäut und saugt ... Der wirklich talentvolle Opalow, der auf seiner feinen, künstlerischen Seele mit Füßen herumtritt, um sich die Gunst des Geldmagnaten zu verschaffen ... Und Mishujew dachte mit Entsetzen, daß so die Menschen in Wirklichkeit sind und daß er unter ihnen noch viele Jahre leben soll. Ihm kamen Marussin und Tschetyrjow in Erinnerung, und er stellte sich mit kühler Trauer ihre fernen, unversöhnlichen Seelen, die ein Eigenes in sich tragen, das er nicht verstehen kann, vor. Schmerzlicher Zorn begann wieder in ihm aufzusteigen. Nur Podgurski allein, der jetzt mit Likören und Zigarren beschäftigt war, erweckte in ihm noch eine gewisse, vorüberfliegende Zuneigung.

... Wie dem auch sei, er fürchtete sich wenigstens nicht, diese arme Emma in Schutz zu nehmen ...

Es war spät geworden. Man hatte schon über die Maßen getrunken, zur Genüge geschrien und gelacht. Die Müdigkeit zeigte sich in der unruhigen Aufregung. Emma wurde sehr rot und war stark verschwitzt. Ein erregender Geruch ergoß sich von ihr, Parfüms und Puder. Die glatte, weiche Haut auf den Schultern und der Brust schien feuchtglänzend und lockte an. Sie selbst begann ebenfalls das Sehnen der Erwartung zu empfinden. Ihre Augen, gelb wie die einer Katze, wurden feucht und schamlos. Sie setzte sich den Männern auf den Schoß, tanzte Matshiche, kniff in die Arme, schmiegte sich mit den nackten Schultern an die Lippen. Die Männer wurden allmählich toll. Nur Mishujew und Podgurski, der unbeirrt seinen Likör trank, blieben auf ihren Plätzen. Die anderen drängten sich an sie heran, man konnte sehen, daß sie sehr bald einem von ihnen als Beute für die zügelloseste, unverhüllteste Leidenschaft zufallen würde.

Alle empfanden klar die Nähe des Augenblicks, in dem das jetzt noch verhüllte Weib durch einen von ihnen entkleidet würde; das Bewußtsein, daß dieses Weib dazu bereit war, und die Begierde, der erste zu sein, erregte die Männer so stark, daß ihre Beine zu zittern begannen.

Opalow konnte kaum sitzen bleiben. Er bückte sich tief zu ihr hinab, so daß er den erregenden Geruch ihrer Achseln aufsaugen konnte; er war blaß wie ein Kranker. Er wußte, daß sie einem andern und nicht ihm zufallen würde, aber eine kleine, lüsterne Hoffnung verließ ihn nicht.

„Sie sind wahrhaft schön ... Einen solchen Bogen der Augenbrauen, solche Nackenlinie, wie die Ihre, habe ich immer im Traum gesehen. Oh, wenn der Traum zur Wirklichkeit würde!“ sprach er leise, und durch das gemacht ritterliche Bestreben, ihr zu zeigen, daß er sie „trotz allem“ achtete, klang armselig und elend der Wunsch heraus: gib dich mir hin! so tue es doch! ... Für dich hat es ja nichts zu sagen, dich einmal so — einfach — hinzugeben ... mir allein! ... Gib dich mir hin!

Durch den Lärm und das Geschrei hörte Mishujew sein bebendes Flüstern. Offensichtlich gefiel Opalow dem Weib, aber obgleich sie lachte und ihn durch augenblickliche Berührung ihrer nackten Arme und glühenden Beine in Erregung brachte, verfolgten ihre Katzenaugen unablässig Parchomenko und den Börsianer. Mishujew blickte sie traurig an; sie war ihm ebenso zuwider wie die Männer: ihren kräftigen weiblichen Körper zog es ganz deutlich zu Opalow hin, und ihr Zusammensein wäre, trotzdem sie schon lange Kokotte war, sicher licht und kraftvoll gewesen. Und doch hatte sie nicht den Mut, ihrem Verlangen nachzugeben; sie wartete wie eine Sklavin, bis jemandem beliebte, sie en passant zu sich zu nehmen und durch seine gleichgültige Gier zu besudeln.

Die elenden, elenden Menschen! dachte Mishujew, aus irgend einem Grunde fühlte er in diesem Augenblick sich selbst als Elendesten und Einsamsten.

„Sie wissen, in meiner Novelle ‚Feuer‘ habe ich eine Frau geschildert, die Ihnen ähnlich ist ...“ flüsterte Opalow, während sich sein Gesicht mit roten Flecken bedeckte.

„Spucken Sie nur gleich darauf, mein Lieber,“ fiel ihm plötzlich Podgurski ins Wort, „nichts, aber gar nichts werden sie davon haben. Dies Gericht ist nicht für uns beide!“

Opalow zitterte und wurde verwirrt, als wäre er ertappt worden. Seine Aufregung war augenblicklich verschwunden, aber um das peinliche Gefühl zu verbergen, versuchte er, einen unverfrorenen Ton anzuschlagen:

„Aber vielleicht doch! Was, Emmchen? Man kann doch nie wissen, nicht wahr?“

Er fragte zum Scherz, aber gegen seinen Willen blieben seine Blicke eine Weile mit geheimer Frage an ihren Augen hängen. Sie lachte und warf sich zurück, ihre Augen verschleierten sich, während sich ihr offener, flaumweicher Busen und die kräftigen, gewölbten Schenkel in geheimer Lust ausreckten. Doch gleich sorgte sie sich, daß es Parchomenko nicht merke und blickte zu ihm hinüber.

Der aber schien wirklich alle ihre verborgenen Gefühle und Wünsche abzulesen. Die frühere Grausamkeit huschte über sein schwarzbärtiges Gesicht. Einige Augenblicke sah er sie scharf an, wobei sein einer Augenwinkel zitterte; plötzlich leuchtete er in brutalem Entzücken auf.

„Hören Sie, meine Herren!“ rief er, auf den Stuhl springend, „wir sind unserer drei ...“

„Fünf!“ korrigierte ihn spöttisch Podgurski.

„Und nur ein Weib! Alle auf die eine — das wäre eine Barbarei! Ich schlage vor, Emma zu verlosen!“

„Pfui!“ Emma tat entsetzt.

„Oder nein ... nicht verlosen! ... Lieber, wissen Sie was: eine amerikanische Auktion machen! Das wird amüsant! Wer höher bietet! ... Hier — für eine ‚Liebes- und Freudennacht‘!“

„Eine herrliche Idee!“ stimmte ihm der Börsianer voller Achtung bei.

„Was? Nicht wahr! Podgurski, Sie werden den Auktionator machen! ... Emma, her auf den Stuhl ... Bluse runter! Die Ware soll offen vor uns liegen!“

„Muß das sein!“ rief das Frauenzimmer und lachte abgerissen, als wäre sie mit kaltem Wasser bespritzt worden. Aber trotz ihres geheuchelten Lachens sah Mishujew, wie früher, eine scharfe Röte auf ihr Gesicht treten.

„O nein, nein! Da hilft nichts! Eine amerikanische Auktion! ... Sträube dich nicht lange!“ schrie Parchomenko, der durch seine Erfindung selber mehr und mehr in Aufregung geriet.

Mishujew sah sie regungslos an.

Und dann spielte sich vor seinen Augen in einem wilden Taumel von Geilheit und Leidenschaft eine aufregende, blödsinnige Szene ab.

Emma wollte sich nicht selbst auskleiden und sträubte sich lange. In ihren Augen leuchteten Funken armseliger abgehetzter Scham, und ihre Backen bedeckten sich mit rosigen Flecken. Parchomenko, der schon schwer zu atmen begann, zerrte ihr fast mit Gewalt die Bluse von den runden, strahlenden Schultern, und plötzlich bebten und schwankten vor den gierigen Augen der Männer zwei elastische, junge Brüste, die nun, nachdem sie von dem engen Korsett und den Spitzen des Seidenhemdes befreit waren, ein wenig voller wurden.

Von diesem Moment an fiel Mishujew das sinnlose Gesicht Opalows auf: der stand da in keuchender Gier, gespannt wie eine Saite, damit ihm auch nicht eine Regung des entblößten, weiblichen Körpers verloren ginge. Als das Weib mit dem nackten Oberkörper auf den Stuhl gehoben wurde und sich instinktiv mit den Armen zu decken suchte, taumelte er. Mishujew schien es, daß er nur den einen Gedanken hatte, auf sie zuzustürzen und diese verhüllenden Arme loszureißen.

„Ah ... ah ... die Hände, die Hände!“ rief Parchomenko wie betrunken. „Hände weg! ... Alles muß zum Vorschein kommen! Was für eine Auktion wäre das ... So geht es nicht!“

Eine Minute lang sträubte sich Emma innerlich; es war sonderbar, diesen Kampf bei einem Weibe mitanzusehen, das sich all und jedem für Geld hingibt. In dieser Szene lag etwas, das über ihre Kräfte ging, und gerade das peitschte in den Männern die Gier nach Wollust und Grausamkeit höher auf. Selbst Mishujew fühlte, wie ihm eine trübe, heiße Welle zu Kopfe stieg.

Plötzlich funkelte in ihren Augen ein fast stolzer, doch gleichzeitig hilfloser, haßerfüllter Strahl auf ... langsam hob sie die Hände empor.

Jetzt stand sie offen vor ihren Augen, unwiderstehlich durch ihre Unterwürfigkeit an sich lockend. Der Körper bog sich schamlos nach hinten aus, nur ihre dunkelgewordenen Augen auf dem wie ausgestorben lächelnden Gesicht blickten kühl und bange. Es war schön und furchtbar: man konnte kaum glauben, daß es sich da nur um eine Kokotte, eine Sängerin aus dem Varieté handelte.

Was geht jetzt in ihr vor? schwirrte es undeutlich durch Mishujews Kopf.

„Also!“ rief Podgurski, während er mit dem Messer an den Rand des Kelchglases klirrte, und mit seiner Stimme übertönte er das scharfe, leiderfüllte Klirren. „Ein Weib, namens Emma, wird in öffentlicher Auktion meistbietend versteigert. Besichtigung, ja sogar Berührung mit den Händen ist Kauflustigen gestattet! ... Nach eingehender Schätzung ...“ er wurde für eine Weile verlegen und endete mit entschlossener Stimme auf gut Glück, „na, dreihundert Rubel. Wer bietet mehr?“

„Vierhundert!“ rief Parchomenko und hob seinen Kelch.

„Nu, was, — so soll es fünfhundert heißen!“ der Börsianer verschluckte sich fast vor Entzücken; sein Gesicht erhielt mit einem Mal einen gierigen und zügellos geilen Ausdruck.

Podgurski blickte ihn an und lächelte.

„Fünfhundert,“ sagte er, „wer mehr? Eins ...“

Opalow, tiefrot und schweißbedeckt, lächelte verwirrt und sinnlos. In seinem Hirn schwankte der wahnsinnige Gedanke: sich von irgend woher das Geld zu leihen. Und wie ein Blitz durchliefen sein Denken gleichzeitig verflechtende Vorstellungen, die sich wie ein Alpdruck auf ihn legten: die Rechnung am nächsten Tage für das Hotelzimmer, das er noch zu bezahlen hatte, die Rückreise nach Moskau und das blasse, vergrämte Gesicht seiner Frau. Aber der nackte, herrliche weibliche Körper stand abgerundet und strahlend vor seinen Augen.

Irgendwie ... später bekomme ich es ... dachte er, nahe daran, jeden Halt zu verlieren; aber doch war er sich noch ganz klar, daß er an keiner Stelle Geld bekommen könnte, daß er nach Hause fahren müsse, daß er es doch nicht wagen wird. Und ein erbärmliches, erniedrigendes Lächeln verzerrte sein hübsches, feines Gesicht.

Die Auktion dauerte fort. Die ungewöhnliche Umgebung, das halbnackte Weib, offen zum Verkauf ausgestellt, wie auf einem orientalischen Markt, all dies erregte die Männer bis zur äußersten, fast gefährlichen Spannung. Man konnte glauben, daß sie, abgesehen von diesem Weib, überhaupt noch kein nacktes Weib jemals früher gesehen hätten. Mishujew merkte, daß selbst er sich dem Einfluß nicht entziehen konnte. Seine breiten Nüstern blähten sich allmählich auf. Er sah die glühenden Gesichter an, ließ den Blick drohend über den nackten weiblichen Körper gleiten, und ein kurzer Gedanke schwirrte durch seinen Kopf.

Wie wäre es, sie ihnen vor der Nase wegzuschnappen ...?

In seinen Augen leuchteten stechende Funken auf. Das machtvolle Bewußtsein seiner Kraft berauschte ihn.

„Schneller doch, meine Herren ... Es ist kalt ...“ sagte Emma. Sie schauerte und zuckte die nackten Achseln. Die vollen Brüste schwankten und standen wieder still; die erhitzten Männerkörper traf es wie ein Peitschenhieb.

„Sechshundert!“ winselte Parchomenko voller Entzücken.

Der Börsianer stammelte mit jüdischem Akzent etwas wie eine Entschuldigung.

„Was?“

„Aber das geht doch schon zu weit, meine Herren ... Scherz mag Scherz bleiben, aber Emmachen ...“

„Nicht auf die Emma kommt es mehr an,“ erwiderte Parchomenko, ganz hingerissen, mit den Augen glänzend.

„N—nein ... Auktion ist Auktion!“ sagte Podgurski, „wer bietet mehr? Sechshundert ... wer mehr?“

Etwas eigentümlich Quälendes ging in Mishujew vor: ein dunkles, brutales Verlangen stieg aus der Tiefe empor und trat mit dem Widerwillen und der bewußten Verachtung gegen alles um ihn und auch gegen sich selbst in einen kurzen Kampf. Aber etwas war stärker als die Verachtung.

„Eins! zwei ...!“

Parchomenko sprang auf Emma zu, und sie machte schon eine instinktive, demütige Bewegung zu ihm hin.

„Siebenhundert!“ sagte Mishujew leise, und sein düsteres Gesicht wurde durch den finsteren Ausdruck brutaler Gewalt, die sich zur Freiheit losgerissen hatte, verzerrt.

Parchomenko wurde stutzig.

„Eins ... zwei ... drei! verkauft!“ rief Podgurski.

Und plötzlich begann Emma krampfhaft zu lachen. Aber in ihren untermalten Augen zeigten sich Tränen der Verletzung und Scham, die ihr vielleicht selbst unbegreiflich waren.

VI

Der Morgen dämmerte schon, und ein feiner blauer Schein zog vom fernen Rand des Meeres über die schlafende Stadt hin. Die Nacht verblaßte und rückte zag in die Berge hinauf, die Schatten wurden grau, alles schien durchsichtig, und selbst die Berge in der Ferne lagen wie Wolken vor Sonnenaufgang im bläulichen Nebel da.

Mit lautem Hufschlag jagte eine Droschke durch die leeren Straßen nach der Villa, in der Emma wohnte.

Immer noch zitterte in Mishujew die Erregung, die ihn plötzlich gepackt hatte. Das gekaufte Weib war ganz in seinen Händen, und in dem unbewußten Gefühl uneingeschränkter Gewalt tasteten seine Finger instinktiv über den nachgiebigen, weiblichen Körper, der hinter trockenen Falten eines grauen, weißseidengefütterten, breiten Mantels glitt. Sie war noch immer nur oberflächlich bekleidet und bebte vom Kopf bis zu den Füßen, doch anscheinend nicht einmal vor Kälte. Ihre großen Augen blickten beim blassen Dämmerlicht erschrocken und sonderbar aus dem bleichen, geschminkten Gesicht mit der zerstörten Frisur hervor.

Ganz entschieden lag etwas Eigentümliches in ihr: wie manchmal in der Melodie eines eleganten, unverschämten Tanzes beharrlich eine versteckte Note unverständlicher Trauer durchzittert, so blickte hin und wieder aus der halbnackten, bemalten Kokotte eines Café-Chantants schüchtern und trauervoll irgend etwas anderes — ein unglückliches, niedergeschlagenes Weib, hervor. Und wenn sie lachte, trank, tanzte, die Männer auf die zutapsenden Finger klopfte, glitt um ihre geschminkten Mundwinkel und die untermalten Augen ein unfaßbarer Schatten verborgenen Schmerzes. Das gab ihr einen scharfen, beißenden Reiz. Im Restaurant, beim elektrischen Licht, hatte sich dieser eigentümliche, auffallende Gesichtszug unter der schamlosen Maske begehrlicher Verkäuflichkeit verborgen. Jetzt dagegen, wo doch alles zu Ende war und sie nur darauf zu warten hatte, was dieser Mann, von dem sie gekauft worden war, mit ihr anfangen würde, trat er wieder, ohne sich zu verbergen, auf ihre abgeblaßten, müden Mienen und verband sich traurig mit der Dämmerung des blassen einöden Morgens.

Und dieser unterwürfige Ausdruck war es gerade, der Mishujew mit tollem Rausch erfüllte und seinen ganzen, mächtigen Körper mit dem scharfen Zittern unerbittlichen Verlangens durchtränkte. Je demütiger sie seinen Händen nachgab, je müder und trauriger ihre Augen blickten, desto dunkler und schwerer stieg irgendwo aus der dunklen Tiefe seiner Seele der Trieb nach wollüstiger Grausamkeit herauf.

Bei der Villa angelangt, schritten sie durch den Garten, in dem südliche Blumen betäubend dufteten. Mishujew hinter der Kokotte, die ihn wie eine demütige Sklavin zu sich ins Haus führte.

In ihm schienen zwei Wesen zu leben: das eine entsetzte sich davor, was sich seiner bemächtigt hatte; das andere wurde unter dem Bewußtsein der vollen Gewalt trunken und wollte nicht mehr sehen, was das erste ganz klar verstand. Und je höher in ihm der Widerwillen gegen sich und das Mitleid mit diesem müden Weib, das offensichtlich litt und sein Leiden zu verbergen suchte, aufstieg, desto unaufhaltsamer wurde sein Verlangen nach schmutzigster, brutalster Wollust. Er hatte das Gefühl, als wäre er völlig in der Gewalt eines uralten Tieres, das plötzlich in ihm erwacht war, obgleich er es längst getötet glaubte, und das ihn jetzt in seinen Abgrund schleppte; er sah sich klar niederstürzen, ihm graute davor und dennoch glitt er immer tiefer und tiefer hinab.

„Wohnst ... du allein?“ fragte er abgerissen. Er zitterte und fühlte, wie seine Füße in der Qual der Erwartung schwächer und schwächer wurden. Und plötzlich sah er, wie sein ganzes Empfinden abriß und irgendwo hinuntersauste. Ein widersinniger Gedanke blitzte durch das glühende Gehirn, ein rotes Feuer leuchtete vor seinen Augen auf und etwas Blindes, Ungeheures nahm ihn ganz in Besitz.

Mit einer letzten Willensanstrengung rief er sich zu:

— — Was ist das? Wahnsinn! Eine Lumperei! ... Doch diese Aufwallung glitt gleich wieder ohnmächtig ab und in dumpfer Ergebenheit sagte etwas im Innern seiner Seele: „Mag sein! warum denn nicht, wenn ich es kann und will? Ja, eine Bestie, ein Despot ... meinetwegen! ... Sehr gut!“

Und in seiner Stimme klang es fast wie wilde Schadenfreude, wie wenn er sich an einem rächte, der schöner und reiner war als er und den er jetzt vollständig von sich stieß, als er plötzlich Emma befahl, stehen zu bleiben.

„Höre,“ sagte er plötzlich heiser, „laß uns hier!“

Emma blieb stehen. Sie verstand ihn nicht gleich und sah sich unwillkürlich nach dem Grase im Schatten der Bäume und Rosenbüsche um. Aber er erfaßte diesen Blick im Flug und ergriff sie in einem furchtbaren Ausbruch brutaler Schonungslosigkeit an der Hand.

Emma wich zurück, und ihr Gesicht nahm sofort denselben niedergeschlagenen und bemitleidenswerten Ausdruck an, wie vorher im Restaurant, als man sie mit Gewalt entkleidete. Und wieder sah sie sich um, aber nunmehr so hoffnungslos wie ein völlig erschöpftes Tierchen.

„Was wollen Sie! ... hier ist es unmöglich ...“ flüsterte sie mit weiß gewordenen Lippen.

Als sie zurückwich, öffnete sich ihr Mantel, und ihre nackten Schultern kamen, blaß beleuchtet vom bläßlichen Dämmerlicht, zwischen weißer zerbrechlicher Seide zum Vorschein.

„Und wenn ich es will! ...“ Mishujew lächelte kurz und seltsam.

Sie erwiderte etwas, wich weiter zurück und sah sich mit weit geöffneten traurigen Augen um. Es entstand ein kurzer krampfartiger Kampf, und plötzlich stand mitten im märchenhaften Morgengarten ein fast nacktes Weib, nur in einzelne Spitzenfetzen wie in Meeresschaum eingewickelt.

Mishujew packte es an dem nackten biegsamen Hals und drückte es mit furchtbarer Kraft, unter dem qualvollen Genuß, daß er dem Weibe Schmerz bereitete, zu Boden nieder.

Es trieb ihn, etwas zu tun, das möglichst schmerzlich, abscheulich, widerwärtig wäre. Während er klar, wie von einem Blitz beleuchtet, die ganze Erbärmlichkeit und Lumpenhaftigkeit des wilden Impulses empfand, schleuderte er die ganze Last, die ihn so lange bedrückte, auf diese unglückliche Prostituierte nieder und zerstampfte sein ganzes langjähriges Leid, das niemand verstanden, das alle zurückgestoßen hatten, in den Kot einer gemeinen, sinnlosen Erregung.

Emma stieß einen kurzen Schmerzensschrei aus; im selben Augenblick schlug Mishujew, gleichzeitig mit dem letzten erlöschenden Krampf voller Befriedigung, eine riesige Welle Ekel und Verachtung über den Kopf. Er schob das Weib krampfhaft von sich und erhob sich mit schwerem feuchten Atem, am ganzen Körper schweißbedeckt, erhitzt, matt.

Mit einem Male war alles, was ihm noch soeben trübe und unüberwindlich schien, verschwunden; er sah sich im Morgenlicht mitten im Garten neben einer gemarterten Frau, schmutzig und abstoßend wie ein Tier.

Sie raffte ihre Kleiderstücke und Röcke zusammen und wickelte sich sofort in die Spitzenfetzen ein. Dann schaute sie sich um, und trat mit einem unbegreiflichen Blick in den dunklen Augen vor ihn. In diesen Augen sah er Widerwillen und scharfen ohnmächtigen Haß leuchten.

Sie schwieg still und zitterte in ihrem Mantel am ganzen Leibe. Mishujew lächelte, wartete eine Weile und ging dann verwirrt zur Seite. Er wußte nicht, was er noch sagen und tun sollte.

Plötzlich empfand er entsetzliche, beißende Scham und eine eigentümliche erniedrigende Furcht. Alle Menschen, die er heute gesehen hatte — Tschetyrjow, Parchomenko, Maria Sergejewna, Marussin, Opalow — schwirrten blitzschnell an ihm vorüber. Die haßerfüllten strafenden Augen Tschetyrjows steckten hinter diesen furchtbaren, vom gleichen unversöhnlichen Haß erfüllten Frauenaugen; er schrie beinahe vor Schmerz, Scham und völliger Verzweiflung auf.

Doch inzwischen legte sich ein sonderbarer Schatten auf ihre Augen. Teils Angst, teils Gefälligkeit und Habsucht. Sie machte eine Anstrengung, um zu sprechen, ihre Lippen erzitterten, und Mishujew, der sie anblickte, bekam mit einem Male vor ihr Furcht.

Das schien kein Mensch mehr zu sein, sondern etwas anderes, erbärmlich Widerwärtiges; ihre gierigen und bösen Augen blickten verlogen und frech, die Lippen waren gefällig zu einem glitschigen Lächeln verzogen. Sie machte zwei Schritte vorwärts und legte den nackten Arm um seinen Nacken.

Das blasse Morgenlicht glitt über ihre reinen Linien und verlor sich in dem weichen Schatten der vollen, üppigen Brüste.

Ihn überlief etwas wie ein Schreck, aber im nächsten Augenblick blieb nur noch Widerwillen gegen sie und gegen sich selbst zurück. Es kam ihm sinnlos vor, daß in ihm eine Minute vorher noch dieser furchtbare Sturm getobt hatte, von dem jetzt nichts zurückgeblieben war. Furchtlos und töricht war er vorübergegangen; er empfand einfach Übelkeit.

„— Nicht nötig, —“ sagte er ungeschickt. „Das Geld schicke ich später zu.“

Sie streckte sich ihm noch einmal entgegen, lächelte ihm verlockend mit den verlogenen Lippen zu, aber Mishujew wandte sich jäh um und ging mit schweren Schritten fort.

Kreischend schlug die Gartenpforte hinter ihm zu. Ihn umwehte ein Hauch von Leere und Schweigen; vor ihm breitete sich die schwach beleuchtete, blaue Straße aus.

Er hörte noch, wie leichte, weibliche Schritte eilig über den Kies liefen, dann erstarb das Geknister der Seidenröcke in der Ferne; es wurde ganz still und einsam.

Still und traurig-einsam wurde es auch im Herzen Mishujews, und der ganze Alpdruck der vergangenen Nacht versank in diesem schweigenden, ohnmächtigen Leid. Er blieb inmitten der Straße stehen und sah mit trockenen Augen hinauf in den bläulichen Himmel, auf dem bereits ein paar rötliche Morgenwölkchen wie ein Vogelzug, der in sonnige Gelände eilt, dahinschwammen.

VII

Am Abend spielte eine Kapelle im Stadtgarten. Die riesige, hellbeleuchtete Muschel auf der Bühne war mit Musikanten gefüllt, die sich wie sonderbare Insekten hin und her bewegten. Ganze Reihen schlanker, eleganter Bogen glitten wie die Beinchen von Heupferdchen auf und nieder, und der Kapellmeister, der ebenfalls wie ein Käfer auf den Hinterbeinen aussah, schien seine Schwingen bald ineinander zu schlagen und sie dann wieder breit zu entfalten. Süß pfiffen die Flöten, die Geigen schrien auf und stoben auseinander, schließlich rundete einsam eine ernste, traurige Trompete die letzten schönen, samtenen Töne ab.

Durch alle Alleen ergossen sich — scheinbar unerschöpflich — lärmende Menschenhaufen. In der Luft lagen ununterbrochen die Geräusche, die das Scharren unzähliger Füße hervorruft, die Gespräche schwollen bald wie eine Welle an und wurden stärker, bald aber ebbten sie unvermutet ab und verliefen sich irgendwo in der Tiefe der dunklen Alleen, um sofort wieder in einen breiten Wildbach von Lachen, Ausrufen und klingenden Schaumkronen weiblicher Stimmen zurückzuschlagen.

Lachende Gesichter glitten eigenartig, phantastisch in trübem Spiel des bläulichen elektrischen Lichtes, aneinander vorüber; plötzlich entstanden sie, verwickelten sich, schoben sich zusammen und trennten sich, wie in der komplizierten Figur eines ungewöhnlichen Tanzes. Und von oben bedeckte der Samt des nächtlichen Himmels, schweigsam und feierlich, mit seinen hellen südlichen Sternen die Erde.

Das Fest schimmerte voller Leben, in sorgloser Fröhlichkeit; nur Mishujew kam es vor, als wäre er in dieser festlichen Menge einzig ein düsterer Fleck, ein Siegeldruck der Einsamkeit und Nutzlosigkeit.

An diesem Tage war Maria Sergejewna, die in einem neuen blauen Kleid besonders reizend aussah, wieder in Gesellschaft Parchomenkos ausgefahren. Den ganzen Tag hindurch fühlte Mishujew, wie trübe Unruhe gleich einem schwarzen Schatten über ihm hing. In der letzten Zeit wurde die junge Frau etwas zu interessant und lustig; Mishujew wußte, daß Parchomenko hinter seinem Rücken mit unablässiger Beharrlichkeit hinter ihr her war. Er konnte sich leicht vorstellen, wie geschickt, frech und selbstsicher Parchomenko sein schmutziges Spiel treiben und die Kreise immer enger ziehen würde. Die junge Frau aber war von den ununterbrochenen Freuden des neuen Lebens, in dem sie, nach so vielen Jahren der Dürftigkeit und Langweile, wie in einem plötzlich aufgewirbelten Strudel umhergeschleudert wurde, hingerissen und tanzte gar zu sorgenlos den gefährlichen Tanz über dem Abgrund. Selbst ihre Kostüme, in denen sie die Bescheidenheit einer anständigen Frau sehr geschickt mit pikanten Andeutungen auf die Entblößungen einer Kokotte vereinigte, sprachen deutlich für die taumelnde Erregung, die die allgemeine Jagd nach ihrem Körper, der in voller Pracht geschmückt und aufgeblüht war, hervorrief.

Sie selbst dachte wohl kaum darüber nach, aber Mishujew wußte, daß es in solchem Zustand nur irgend eines Zufalls bedurfte — einer Mondnacht, einer kecken Zudringlichkeit, eines nicht erwarteten, leichtsinnigen Kusses, — und die junge Frau würde erst wieder zur Besinnung kommen, wenn alles zu Ende war.

Mishujew schien die Vorstellung sinnlos und unsäglich schmerzlich, daß sich Maria Sergejewna einem Manne hingeben könnte, für den sie nichts als ein gelungenes Werkzeug zur Aufpeitschung seiner übermüdeten Sinne bedeutete. Das war zu ekelhaft und paßte durchaus nicht zu ihrem reizenden Bilde. Manchmal hielt er einen solchen platten Vorgang für ganz undenkbar. Sie war schön, klug, gebildet und hatte zwei Männer geliebt, die über dem Durchschnitt standen. Nach ihnen konnte ein Verhältnis mit diesem Halbtier, diesem Halbidioten, diesem Parchomenko, nur eine unbegreifliche Gemeinheit sein.

Aber manchmal kam ihm der qualvolle Gedanke:

Wodurch bin ich denn besser als er? ... Gut, zugegeben, ich sei intelligenter und feinfühliger. Aber gab ich ihr denn, als ich mich mit ihr vereinigte, meine Intelligenz und meine Qualen, und nicht nur die gleiche tierische Lüsternheit? Als wäre für mich nicht im letzten Grunde wirklich nur ihre Seele und nicht ihr schöner nackter Körper Bedürfnis gewesen. Und Parchomenko? ... Ich kann mir nicht vorstellen, daß er fähig wäre oder es auch nur wagte, eine Frau zu besitzen, die unendlich höher steht als er. Aber ich selbst — dort war es, im Garten — quälte diese unglückliche Emma, tötete in ihr den letzten Rest menschlicher Würde, zerfleischte sie wie ein Tier, ohne mich im geringsten darum zu kümmern, was sie im Augenblick gerade denken und fühlen mochte. Wenn ich sogar gewußt hätte, daß sie ein viel feineres Gedanken- und Gefühlsleben besitzt als ich, würde ich es dann anders gemacht haben? ... So wird auch dieser ... Wenn sie, durch Zufall oder Gewalt die Seine wird, so wird er ihren Körper wie jeden anderen an sich pressen, und die Tatsache, daß sie höher steht als er, wird seinen Genuß höchstens noch steigern.

Einst hatte sie ihren Gatten lieb, der doch unendlich intelligenter und feiner veranlagt war als ich; dann gab sie sich mir hin, weil ich ihr Luxus und Vergnügen verschaffte. Ich habe sie durch die Aussicht auf ein neues Leben fortgerissen, Parchomenko erreicht dasselbe durch seine Frechheit, seinen Despotismus, ... durch irgend etwas sonst noch ... Zu mir war sie ohne Liebe gekommen, nur weil ich reich bin ... sie kam wie das gemeinste Frauenzimmer, ja, es war noch schlimmer, weil sie ihre Verkäuflichkeit hinter einer angeblichen Liebschaft versteckte ... Diese Gemeinheit!

Es war schmerzlich, daran zu denken; so schmerzlich, als ob er sich selbst durch ihre Erniedrigung in den Schmutz trat. Und doch lag in diesen zusammenhanglosen, erdrückenden Visionen ein bohrender Genuß, als träufelte er sich ätzendes Gift auf eine blutende Wunde.

Mishujew schlenderte durch die Menge, die sich von allen Seiten drängte und ihn mit dem Duft von Parfüms und weiblichen Körpern, mit dem Knistern seidener Röcke, umwehte. Er ging langsam vorwärts, blickte mit achtlosen Augen auf seine Füße, und seine kranke Seele stieß sich in dem erfolglosen Streben nach etwas wund, was er sich selbst nicht nennen konnte.

In einer Allee begegnete er dem alten General und seiner Tochter, der kleinen Njurotschka, die so silberhell lachte, den Kopf zurückwarf und dabei das niedliche Kinn zeigte. Sie sah Mishujew schon von weitem, wurde still und warf ihm einen komischen Seitenblick, in dem eine unbewußte, schüchterne Aufforderung lag, zu. Ein erfrischender Zug wehte Mishujew aus diesem blutjungen, reinen Gesichtchen entgegen; doch er zog sich in sich zusammen, lüftete schwer den Hut und ging weiter.

Einige Tage vorher hatte sich der General ein Herz gefaßt und ihn um seine Hilfe gebeten, damit er das Mädchen auf die Universität nach Moskau schicken könne. Fjodor Iwanowitsch hatte es versprochen. Anfangs freute es ihn sogar; ihm schien es ganz reizend, dem niedlichen Mädchen zu helfen; bald aber entstand wieder in dem Tumult seiner Seele ein krankhafter Verdacht: vielleicht bot der General ihm, dem Millionär, seine Tochter an, und gewiß war es undenkbar, daß sie davon nichts wissen sollte. Mishujew sah klar vor Augen, wie er dann dem Mädchen in Moskau begegnen würde, und wie sie beide vom ersten Moment an zwischen sich besondere Beziehungen fühlten: sie ist durch seine Wohltat gebunden und er der, welcher auf Dankbarkeit rechnet. Nach kurzem Kampf und Tränen wird sie gewiß das Erlebnis als unvermeidlich hinnehmen und die Geliebte des Millionärs werden. Eigenartig und beißend wird im Anfang der Genuß ihrer Schamhaftigkeit und des jungfräulichen Körpers sein; dann wird sie fesche Kleider anziehen und zur gewöhnlichen Maitresse werden.

So unvermeidlich, so einfach das war; es machte auf Mishujew einen furchtbaren Eindruck.

Aber weshalb? fragte er sich: vielleicht wird es gar nicht dazu kommen, vielleicht werden wir Freunde bleiben oder sie gewinnt mich wirklich lieb und an ihrem unberührten Leben wird auch das meine frisch und gesund? ... Warum erwarte ich nur Gemeinheit, — es gibt doch noch andere Lebensmöglichkeiten ... Menschen leben glücklich und ehrlich ... warum ich nur ... Oder trage ich einen besonderen Krankheitskeim in mir. Alles, was ich nur berühre, muß zu Schmutz und Moder werden? Wie ein Alpdruck! Ich bin krank und töte mich selbst durch solche widerwärtigen Halluzinationen ...

Das Gesicht Mishujews verzerrte sich, als würde sein Herz von einem Messer durchschnitten; mit einem Male wurde es ihm bange, noch weiter inmitten dieser aufregend dummen Menge zu bleiben. Er ging aus dem Garten, trat in ein kleines Restaurant über dem Meer und setzte sich allein an ein Tischchen auf der Veranda.

„Fjodor Iwanowitsch! Warum sitzen Sie so allein?“ rief jemand vom Kai herauf, und der dicke, freche, unsaubere Podgurski kam mit glänzenden, hungrigen Augen und der hervorstechenden Leinwandweste auf ihn zu.

„Guten Tag ... Sie langweilen sich wohl?“

Er setzte sich neben ihn und fragte:

„Na also, Fjodor Iwanowitsch, was wollen wir trinken?“

Mishujew lächelte. In der Gegenwart dieses unglücklichen, frechen Burschen fühlte er sich aus irgend einem Grunde freier. Zu einfach sah bei Podgurski der gefräßige Wunsch zum Buschkleppen hervor. Er lag ganz natürlich und offen in ihm. Aber trotzdem konnte man herausmerken, daß gerade seine Beziehungen zu Mishujew nicht davon abhingen, ob dieser Geld geben würde oder nicht.

Podgurski sah sofort, daß sich Mishujew langweile, und in seinem Gesicht spiegelte sich der treuherzige Wunsch wider, ihn aufzuheitern, damit es überhaupt um ihn fröhlicher würde.

„Wissen Sie das Neueste? Opalow hat gestern bei Parchomenko dreizehnhundert Rubel gewonnen!“

„Wirklich?“ Mishujew gab sich mit gutmütiger Liebenswürdigkeit den Anschein, als ob es ihn sehr interessierte.

„Ja, und wissen Sie, was er zuerst getan hat? ... Hat sofort die Emma beim Kragen genommen und sie irgendwohin geschleppt, und so eilig, daß er sogar seine Krawatte liegen ließ ... Das muß eine Wonne gewesen sein.“

„Nicht viel brauchte er wohl, um in Wonne zu leben!“ lächelte Mishujew.

„Für Sie mag das nicht viel sein, aber für Opalow, dessen Weib in einem Flanellschlafrock herumläuft und alle drei Monate schwanger wird, der eine Fünfundzwanzigrubel-Kokotte aus dem Elysium für den Gipfel weiblichen Reizes hält, für ihn ist es eine neue Welt — von Parfüms, Spitzen, Luxus, gepflegtem Körper, verfeinerter Wollust! Oh!“

Mit verächtlicher Gutmütigkeit dachte Mishujew, daß das für einen so armen Kerl wie Opalow wirklich ein Glück sei; in ihm regte sich fast etwas wie Neid.

„Wissen Sie was? ...“ Podgurski wurde plötzlich lebhaft: „fahren wir ins Kasino?“

„Was sollen wir dort anfangen?“

„Wie, was? spielen!“ rief Podgurski mit einer Stimme, als hätte er Mishujew etwas äußerst Erfreuliches mitgeteilt.

„Aber, wozu ...“ gab Mishujew matt zur Antwort. „Zu langweilig.“

„Na, dann fahren wir zu Emma herunter — wollen sehen, wie Opalow in Wonne schwelgt!“

Mishujew antwortete nichts, und Podgurski, der sofort die Ablehnung erriet, machte einen neuen Ansatz:

„Wie kann ich es Ihnen recht machen!“ er rieb sich mit besorgter Miene die Stirn. „Wissen Sie was? Wenn Sie wollen, führe ich Sie in so ein Haus ... Sie verstehen — nur Mädchen unter dreizehn Jahren ... Und es gibt welche, die noch nach dem Kinderzimmer riechen ...“

Podgurski küßte seine aneinander gelegten Fingerspitzen.

„Es wurde schon an die drei Mal aufgehoben. Jetzt sind sie da wohl etwas eingeschüchtert, aber wenn man es auf ein paar Hundert nicht ankommen läßt, kann man da Dinger sehen, wie man sie selbst in Paris nicht immer trifft! Fahren wir doch! ... Warum denn nicht?“

„N—ein, wirklich ...“ Mishujew machte eine Grimasse des Widerwillens.

„Warum?“

„So.“

Podgurski sah ihm prüfend in die Augen.

„Ach, das sind Grundsätze!“ lächelte er unverfroren. „Und ich habe bisher immer geglaubt, Millionäre leiden nicht an so was!“

„Können Sie denn Millionären nicht einmal das primitivste Reinlichkeitsgefühl zubilligen?“ fragte Mishujew ernster als er wollte und lächelte mit verzerrten Mienen, als wäre eine seiner Backen in einem Krampf zusammengezogen.

Podgurski blickte ihn aufmerksam an und wechselte plötzlich das Thema. Er begann Witze zu erzählen, sich über Parchomenko und das Jaltaer Publikum lustig zu machen; unvermittelt bat er dann um hundert Rubel.

Mishujew griff mechanisch in die Tasche und gab ihm das Geld, während er an etwas anderes dachte. Als er die Geldtasche öffnete, durchbohrte Podgurski mit scharfen Blicken die buntfarbigen Ränder der Geldscheine, die daraus hervorlugten, und als Mishujew die Tasche auf den Tisch legte, konnte er seine Augen nicht gleich von ihr abwenden.

„Eins kann ich nicht verstehen! ...“ sagte Mishujew langsam, wie zur Antwort auf seine eigenen Gedanken.

„Was?“

Mishujew antwortete nicht gleich und blickte mit einem betrübten Ausdruck zur Seite, als wagte er es nicht, etwas Wichtiges und Schwieriges auszusprechen.

„Sehen Sie,“ er stotterte und blickte noch immer nicht auf, „worauf ich auch zu sprechen komme, was ich auch tun mag, niemand sieht es mit denselben Augen an wie bei einem anderen ... Niemand sagt es mir, daß meine Gedanken, meine Gefühle falsch sind, sondern alle meinen: der Millionär ... die Millionen ... Wenn Sie wüßten, wie das ... langweilig ist!“

Mishujew verzog sein Gesicht zu einem ungeschickten Lächeln; an ihm zeigte sich, daß er statt „langweilig“ eigentlich ein stärkeres und ernsteres Wort brauchen wollte.

Podgurski sah ihn mit weitgeöffneten Augen an. Er hatte das Gespräch von neulich längst vergessen und konnte nicht verstehen, was Mishujew damit sagen wollte.

Schließlich wird Tschetyrjow wohl recht behalten! dachte er gespannt: es reißt ihn offenbar ordentlich zusammen! ... Ein Dummkopf ist er trotzdem ... wird am eigenen Fett ersticken!

„Etwas Anormales ist doch bei all dem,“ fuhr Mishujew mit trauriger, krankhafter Miene fort. „Warum betrachten Sie einen Tschetyrjow z. B., der hundertmal so viel verdient wie Sie, ganz gleichgültig, während ...“

„Hm, Tschetyrjow ...“ erwiderte Podgurski, „wieviel der auch verdient, er verdient alles durch seinen eigenen Buckel. Solange die Kräfte reichen, arbeitet er, wird er krank, kommt er aus der Mode, wird aus ihm dasselbe, was mit mir geworden ist ... Und was für einen Verdienst hat er schon ... Sein Leben unterscheidet sich nur sehr wenig von meinem. Aber ein Millionär — das ist etwas ganz anderes. Eine andere Lebenshaltung, andere Möglichkeiten ... Seine Stellung ist schon ganz Besonderes und auch alle Beziehungen zu ihm — einfach Ausnahmebeziehungen. Im Grunde begreife ich nicht, was Sie so quält?“

„Nicht gerade quält, nur ... aufregt,“ erwiderte Mishujew. Mit einem Mal empfand er unangenehm, daß seine Herzensergießung einen zu ernsten Charakter angenommen hatte; er schämte sich, Podgurski gegenüber so offen zu sein.

Podgurski schwieg still und wartete interessiert.

„Mich regt diese Sonderstellung meiner Person in der Gesellschaft auf,“ fuhr Mishujew gegen seinen Willen fort; er konnte dem erwartungsvollen Schweigen Podgurskis nicht widerstehen. „Kann man denn wirklich nicht zugeben, daß ich ganz ebensolch ein Mensch bin, wie alle anderen, daß ich ebenso denke, ebenso fühle ...“

„Ich meine es anders,“ lächelte Podgurski, „wie Sie wollen, aber Geld ist eine große Macht. Und Sie können es auch gar nicht unausgenützt lassen; jeder lebt eben davon, was er hat. In Fällen, wo wir anderen nur mit unserem Ich rechnen, mit seinen guten oder schlechten Eigenschaften, führen Sie unwillkürlich Ihr Geld ins Feld ... das weiß jeder Mensch. Was uns betrifft z. B. ... Ich spucke darauf, aber dennoch fühle ich, daß Sie nicht ich, nicht Opalow, nicht Tschetyrjow sind ... Vielleicht tun Sie mir nichts, nicht Böses noch Gutes, aber doch Sie können es tun. Und ... weiß es der Teufel! Das stört ganz entschieden. Ich habe es soeben erst gesagt, ich möchte auf Ihre Millionen am liebsten spucken, und doch aufrichtig, ich habe mich gleich dabei im Ton vergriffen ...“ Podgurski lächelte treuherzig und machte eine schicksalsergebene Bewegung mit den Händen.

Mishujew nickte ihm zu. Er blickte ihn jetzt gerade an und schien mit Spannung auf etwas zu warten.

„Was Sie auch wollen,“ sprach Podgurski fast verdrießlich weiter. „Ich kann doch nicht vergessen, daß Sie Millionär sind, daß Sie von Genüssen und Möglichkeiten leben und lebten, die ich nicht im Traum gesehen habe; daß Sie mir auf den Tisch tausend Rubel legen könnten. Sie können es aber auch nicht tun und können mir im Gegenteil irgend etwas einbrocken. Nehmen wir bloß Parchomenko ...“

„Ich spreche doch nicht von Parchomenko!“ versetzte Mishujew mit einer Betonung, die ihn von diesem Namen scharf trennen sollte.

„Aber für uns sind Sie beide ganz egal!“ rief Podgurski mit treuherzigem, überzeugendem Eifer. „Wir wissen doch nicht, wie Sie denken, wie Sie fühlen!“

Er verstummte für eine Sekunde und schien etwas gefunden zu haben.

„Hier, es regt Sie auf, daß alle Sie anders ansehen ... Aber Sie selbst, Fjodor Iwanowitsch, tun Sie doch einmal was, um uns ihre wahre Seele zu zeigen — nicht die des Millionärs, nein, einfach die Mishujews? Es ist Ihnen doch selbst unmöglich, nur für eine Sekunde aus dem Auge zu verlieren, daß Sie Millionär sind! Statt sich gute Beziehungen zu anderen Menschen zu verdienen, sie durch irgend etwas hervorzurufen, regen Sie sich auf, fordern Sie diese Beziehungen ... So sei unser souveräner Wunsch! ... Das ist doch auch ...“

„Mir scheint, ich gebe mich eher zu einfach,“ versetzte Mishujew hitzig.

Podgurski zuckte nur die Achseln.

„Das sagen Sie, ‚zu‘. Für mich gäbe es darin kein ‚zu‘, wenn ich mich einmal zusammennehme und alles, was mich quälte, Opalow erzählte. Aber Sie sehen da gleich ein, ‚zu‘. Ihnen kommt es vor, als lassen Sie sich herab, indem Sie mit mir offen reden. Sie schämen sich wohl gar Ihrer Offenheit? Ist doch wahr, nicht?“

Der Ton Podgurskis wurde dreist, und unbegreifliche Gehässigkeit klang jetzt heraus.

„Sie merken es vielleicht selbst gar nicht!“ sagte er triumphierend.

„Da sehen Sie es,“ erwiderte Mishujew ernst und schob die breiten Achseln in die Höhe. „Bei jedem andern hätten Sie das gar nicht bemerkt, mir aber können Sie es nicht verzeihen ... Sie hören mir zu und denken sicherlich, daß ich posiere oder mir in origineller Dummheit gefalle ... werde am eigenen Fett ersticken ...“

Podgurski wurde unwillkürlich verwirrt und lachte.

„Das kann ich nicht bestreiten. Etwas wird wohl daran sein ...“

„Ja,“ Mishujew nickte traurig mit dem Kopf, „Sie wollen nicht einsehen, daß ich von ganzem Herzen froh bin, mit Ihnen zu reden, weil es mir vorkommt, daß gerade Ihr Benehmen, — wie es auch sei, ob gut oder schlecht —, von meinen Millionen unabhängig ...“

„Das glaube ich auch!“ Podgurski verbrauchte gegen seinen Willen in diesen Worten zu viel Edelmut.

Sofort verstummten beide, weil sie den falschen Ton heraushörten. Mishujew wurde finster, ohnmächtig; Podgurski ärgerlich.

„Einfach verrückt!“ dachte der, und der falsche Ton empörte ihn nicht mehr seinetwegen, sondern machte ihn auf Mishujew wütend.

Durch das geöffnete Fenster war die dunkle, wogende See sichtbar; vom Ufer klangen dumpfe Hufschläge und ferne Musik herauf. Podgurski fühlte, daß er sofort weitersprechen müßte, fand aber im Augenblick keine Worte. Das Schweigen dauerte an, es wurde immer schwerer, das Gespräch wieder aufzunehmen. Gleichsam als wäre etwas vollständig abgerissen. Ihre Stimmung wurde so schwerfällig, wie wenn etwas, woran es ihrer Seele ohnehin mangelt, nutzlos und unsinnig vergeudet worden wäre. Mishujew seufzte schwer und bewegte die schweren Arme, die er auf der Tischplatte gekreuzt hielt.

„Nun, ich werde gehen ...“ sagte er.

„Wohin? Bleiben Sie noch.“

„Nein, ich habe Kopfschmerzen. Auf Wiedersehen!“

Podgurski zuckte unmerklich verdrossen die Achseln.

Uff, Teufel, wie schwerfällig der Kerl ist, dachte er.

In diesem Augenblick sah er das Portefeuille mit Geld, das Mishujew auf dem Tisch vergessen hatte. Er wollte ihn rufen, aber etwas hielt ihn zurück.

Mishujew trat auf die Straße hinaus und schlenderte langsam dem Park zu. Etwas Eigentümliches war in seinem Gedächtnis zurückgeblieben und machte ihn unruhig: war es das schwere, mißlungene Gespräch mit irgend einem geriebenen Burschen oder eine huschende Bewegung hinter seinem Rücken als er aus dem Restaurant trat?

Was war es doch?

Plötzlich erinnerte er sich, daß er sein Portefeuille vergessen hatte. Noch bevor es ihm ganz zu Bewußtsein kam, fühlte er, daß etwas Scheußliches geschehen war. Ein trüber Gedanke kam ihm, eine Weile versuchte er schneller zu gehen, aber dann setzte sich in ihm der Gedanke fest, daß Podgurski das Geld stehlen werde. Das war ihm peinlich. Er machte Kehrt und trat wieder ins Restaurant ein.

Podgurski stieß beinahe mit ihm zusammen. Ein Blick auf sein etwas verwirrtes und doch freches Gesicht, dessen Augen feindselig zur Verteidigung bereit waren, genügte, um den Verdacht Mishujews zu bestätigen.

Eine Weile blickten sie sich gegenseitig in die Augen. Dann sprach Mishujew ungeschickt:

„Ich habe mein Portefeuille liegen lassen.“

Podgurski zwinkerte mit den Augen, riß die Lider hoch, sein ganzer Körper geriet in Bewegung, als wäre er sofort bereit, sich ins Suchen zu stürzen.

„Wirklich? Ich habe es nicht gesehen. Kellner!“

„Nicht nötig ...“ erwiderte Mishujew leise.

„Warum nicht nötig ... es muß sich doch finden ...“ Podgurski geriet in nervöse Hast; sein Gesicht bekam das Aussehen eines gefangenen Fuchses, der doch noch in jedem Augenblick zuschnappen will.

Mishujew sah ihm fest in die Augen.

„Für mich macht es doch nicht viel aus ...“ sagte er unsicher.

Er wünschte nur, Podgurski möge begreifen, daß er ihm wegen dieses verfluchten Geldes nicht zürnen würde, und es ihm offen gestehen.

Aber das Gesicht Podgurskis wurde noch wütender, sogar seine Zähne kamen, wie zum Beißen bereit, zum Vorschein.

„Was wollen Sie damit sagen? ... Ich sag Ihnen doch, ich habe nichts gesehen! ...“

Mishujew überflog ihn mit einem kurzen Blick, lächelte knapp und ging plötzlich mit einer wegwerfenden Handbewegung fort.

VIII

Als Mishujew nach Hause kam, sich an den Schreibtisch setzte und gewohnheitsmäßig nach einem Haufen Briefe und Telegramme greifen wollte, trat Maria Sergejewna frisch und leuchtend ein. Mit ihr schien eine ganze Wolke Bergluft, Blumenduft und Meeresgeruch in das Zimmer zu strömen. Und an ihrem Gesicht, das grundlos lächelte, an ihren Augen, die schlüpfrig glänzten, merkte er, daß sie schon jetzt, bevor sie ein Wort gesprochen hatte, log. Log und sich fürchtete; eine Furcht, die nur schöne Frauen kennen. Das feine und durchsichtige Spiel von Schönheit, Hilflosigkeit und Lüge verleiht ihnen einen erregenden, unfaßbar geheimnisvollen Schimmer.

Sie rief seinen Namen, lief, etwas zu leicht und lebhaft, auf ihn zu und legte ihre warmen Hände auf seine breiten Schultern.

„Du bist schon nach Hause gekommen! ... Liebster, wie ich mich nach dir gesehnt habe!“

Mishujew sah ihr fest in die Augen, durch die dunkle Funken huschten, und wurde ernst. Stechende, krankhafte Verdächtigungen stiegen im Augenblick in ihm auf; er fühlte sich sofort matt und unsicher.

„Wenn du nur eine Ahnung hättest, wie nett es dort war! Wir fuhren die Chaussee nach Sympheropol herunter, weit — weit! Den ganzen Weg lang trieben wir Kindereien, sangen, lachten ... Nachher soupierten wir in Gurjew!“

Mishujew sah sie schweigend, aufmerksam an, und unter seinem schweren Blick rötete sich das zarte Gesichtchen kaum merklich, das Figürchen wurde geschmeidiger, wie bei einer Katze, die Pupillen leuchtend von unsicherem, falschem Licht.

„Nein, wirklich ... Du bist doch nicht böse, Theodor, daß ich mich so herumtreibe?“ sie guckte ihm in die Augen. „Ich habe dich wirklich vernachlässigt! ... Warum bist du auch nicht mit uns gefahren? Es war so schön! ... Und ohne dich ist es doch nicht das richtige!“

Sie wollte ihn küssen, bog ihren ganzen biegsamen Körper herüber und berührte ihn wie absichtlich mit ihrer elastischen Brust.

Mishujew rückte erregt zurück.

„Höre, Mary, heuchle gefälligst nicht!“ sagte er ungeschickt.

„Was denn?“ Maria Sergejewna machte große, aufrichtige Augen. Aber aus ihnen lugte noch durchsichtiger und heller die feige weibliche Lüge hervor.

„Ich sehe doch, daß mit dir etwas passiert ist,“ sagte Mishujew mit Überwindung. „Also brauchst du nicht zu lügen ... Sage geradeheraus, was du hast ... Das ist besser.“

Maria Sergejewna stieß ein falsches Lachen aus und schmiegte sich mit ihrem ganzen Körper, dem Busen, den Armen, Beinen, den kitzelnden Haaren an ihn; sie hoffte offenbar, ihn durch den Rausch ihres Duftes, ihrer Wärme und Elastizität umzustimmen.

Mishujews Körper wurde durch diese unwahre Liebkosung statt der sonstigen Erregung von unerträglicher, physischer Wut gepackt.

„Aber laß das doch, sag ich dir! ...“ er schob grob seine Schultern vor ihre Umarmung.

„Wie sonderbar du heute bist ... was regst du dich denn auf!“ Maria Sergejewna tat verwundert und machte fast mit Gewalt den Versuch, ihn zu umarmen. Aber Mishujew stieß sie so grob zurück, daß es sie augenscheinlich schmerzte, denn ihr hübsches Gesicht wurde für eine Weile von einem erschrockenen Ausdruck überzogen. „Bei Gott ...“ rief sie nochmals.

„So erzähle endlich!“ schrie er wütend.

Die kleine Frau erschrak und trat zur Seite, aber auch von weitem blickten ihn immer noch ihre durchsichtigen, unwahren Augen an.

„Ach nichts! ... Kleinigkeiten ... Ich wollte es dir anfangs gar nicht erzählen ...“

Eine Kältewelle rieselte über Mishujews Kopfhaut. Er fühlte, daß er unter einem tollen Wutausbruch das Bewußtsein verlieren würde, wenn sie nicht sofort mit der Sprache herausrückte; es mußte etwas Furchtbares geschehen.

Sie schien es selbst zu fühlen, denn sie kam vorsichtig auf ihn zu und legte ihre Fingerspitzen wie tastend auf seinen festen Ellenbogen.

„Siehst du ... du darfst aber nicht böse sein ... Es war nichts weiter ... Wir soupierten in Gurjew auf dem Balkon, du weißt, so über dem Meer ... dort ist es wunderschön, und ...“

Sie zog die Erzählung in die Länge, während sie sich immer noch vorsichtig mit den Fingern auf seinen Ellenbogen stützte; Mishujew fühlte, wie diese niedlichen Fingerspitzen leise zitterten.

Die Sicherheit, daß etwas Gemeines, nicht Gutzumachendes geschehen sei, wuchs mit Blitzesschnelle in seinem Gehirn.

„So erzähle endlich!“ brüllte er in einer Aufwallung von Zorn und Schmerz so laut, daß seine Stimme durch die ganze Wohnung dröhnte.

Maria Sergejewna sank beinahe in sich zusammen, ihre Augen wurden ganz rund, wie bei einer aufgeschreckten Katze.

„Siehst du ...“ stammelte sie hastig, halb die Worte verschluckend, ohne sich vom Fleck zu rühren. „Ich habe dort Wassja ... habe meinen Mann ... getroffen ... er bat mich, ich möchte zu ihm hereinkommen, er wollte mit mir sprechen ... Ich hätte es nicht tun dürfen, nicht wahr?“ Sie fragte unerwartet; es war deutlich zu erkennen, daß sie selber wußte, sie hätte es nicht tun sollen, und mit dieser Frage nur von neuem log.

Mishujew schwieg und atmete schwer.

Maria Sergejewna trat vorsichtig näher und berührte wieder seine Hand.

„Bist du mir böse?“ Aus dem Ton klang klar heraus, daß sie seinen Zorn voraussah und nun bemüht war, sich naiv zu zeigen.

Toll vor Wut erhob sich plötzlich Mishujew und schleuderte sie schweigend von sich. Maria Sergejewna fiel beinahe über ein Fauteuil; doch krallte sie sich fest und geschmeidig, wie eine fallende Katze ausgereckt, noch rechtzeitig in die Armlehne.

„Was hast du? ...“ begann sie mit blassen Lippen.

„Erkläre mir gefälligst,“ Mishujew sprach mit unheimlich zurückhaltender Stimme, während er sie mit kühlem Haß betrachtete. „Meinst du im Ernst, daß es für mich möglich ist, darüber nicht zu zürnen? ... Wozu heuchelst du?“

„Aber was habe ich denn Schlimmes getan?“ stammelte, jetzt in aufrichtiger Hilflosigkeit, Maria Sergejewna.

„Was? Hier, —“ Mishujew schwieg eine Weile still und suchte nach dem passenden Wort, in dem schmerzlichen Gefühl, daß er das Richtige nicht finden würde und ein anderes nehmen müßte: „Hier hast du es: eins von beiden, entweder du gestehst mir offen, daß ich für dich nichts bin, daß du zu mir nur als Maitresse kamst, während du ... oder ...“

Mishujew sprach nicht zu Ende. Plötzlich tat er sich selbst leid: er hatte diese Frau so innig geliebt, er opferte ihr einen Menschen, der ihm teuer war, handelte gemein und schmutzig, log, betrog, immer in dem Glauben, daß sie dafür ihm wenigstens nahe sein würde. Durch diese unveränderlich wiederkehrenden Begegnungen mit ihrem Mann war es schon oft zu qualvollen, erniedrigenden Eifersuchtsszenen gekommen. Er hatte ihr einmal sogar gestanden, daß ihn der Gedanke folterte, sie habe ihm nur seines Geldes wegen nachgegeben ... Jetzt sah er mit einem Mal, daß dem wirklich so war: sie hatte ihn nicht geliebt, sie liebte den andern, sie ist bereit, sich ihm wieder hinzugeben; ihn, Mishujew, belügt und betrügt sie, wie einen Narren, aus lauter Furcht. Er fühlte sich lächerlich; in einer dummen und erbärmlichen Situation.

„So würde nicht die niedrigste Dirne handeln!“

In diesen Worten klang ein ganzer Schwall toller, grober Worte zusammen. Ihn packte ein unbändiges Verlangen: sie zu schlagen, sie irgendwie bis zum äußersten brutal zu behandeln, um ihr zu zeigen, daß sie, da sie nun einmal des Geldes wegen zu ihm gekommen war, auch sein Eigentum geworden ist, mit dem er ganz nach Gefallen handeln kann.

Aber als er in ihrem Gesicht ohnmächtige, sklavische Furcht erblickte, ergriff ihn plötzlich ein so drückendes, peinigendes Gefühl, daß er sich schwer am Tisch niederließ, mit den Händen an den Kopf faßte und nur noch einen Wunsch hatte, nichts mehr zu hören und zu denken.

Einige Minuten lang dauerte das Schweigen. Mishujew saß immer noch unbeweglich am Tisch, und sein großer Kopf, der hilflos auf den Händen gestützt lag, erschien arm und bemitleidenswert.

Maria Sergejewna stand lange auf einem Fleck und sah ihn schüchtern an. Dann leuchtete mild und rührend weibliches Mitleid in ihren Augen auf. Sie bewegte sich leise, trat schüchtern auf ihn zu, blieb stehen; Mishujew konnte den schnellen, ungleichmäßigen Schlag ihres Herzens hören.

Zarte, warme Finger berührten leise wie ein Atemzug seine Haare.

IX

Ähnliche Szenen hatte es auch früher schon mehr als einmal gegeben, aber in ihrer Wiederholung wuchsen sie unheimlich an. Jede neue wurde immer sinnloser und abstoßender als die vorhergehende. Maria Sergejewna konnte es nicht verstehen: manchmal erschien ihr Mishujew wie wahnsinnig, manchmal aber warf sie sich mit brennender Reue allerhand Verbrechen, die sie niemals in ruhigem Zustand anerkannt hätte, vor. Sie sah, daß irgend ein unabwendbares Unglück an sie heranrückte, wußte aber nicht, wie sie den Alb überwinden sollte und litt ohnmächtig und jammervoll unter ihm.

Am allerentsetzlichsten war der Verlust an Selbstachtung und der Schmutz, den diese widerwärtigen Szenen hervorriefen. Sie erniedrigten sie und brachten sie in eine gewisse Abhängigkeit von ihrer Umgebung, selbst von den Dienstboten. Von allen Seiten sahen Augen und lauschten Ohren neugieriger, fremder Menschen, denen es gleich war, ob sie litten oder Dummheiten trieben, für die aber das Ganze ein amüsantes Schauspiel war. Sie mußten ihre Stimmen dämpfen, rasch die ätzenden Tränen verbergen, den schmerzverzogenen Gesichtern unwahre Mienen aufzwingen und sich unglücklicher als der elendeste Knecht fühlen.

In den letzten Tagen pflegten solche Szenen nur noch mit hysterischen Anfällen und völliger Erschöpfung zu enden. Es schien, daß sie von Zeit zu Zeit alles Schöne und Kultivierte verließ; in wilder Wut schlugen sich zwei Halbverrückte herum, die selbst nicht mehr wußten, was und wozu sie einander ins Gesicht schrien, und die nur darüber nachdachten, wie einer den anderen schmerzhaft zu kränken und zu verletzen vermöchte.

Mitunter überkam sie völlige Verzweiflung, und sie wünschten ein Ende, nur ein Ende zu machen. Aber in dem Augenblick, wenn Schmerz und Wut bis zum äußersten angeschwollen waren, fielen sie plötzlich zusammen, die Nerven gaben nach, es gab Tränen, gegenseitige Nachgiebigkeit, dann eine krankhafte, unerwartete Erregung, die sie beide in einem brennenden, wollüstigen Anfall zueinander trieb. Es kam ihnen wieder zum Bewußtsein, wie unsinnig das Vorgefallene war, und gleichzeitig überfiel sie hoffnungslose, qualvolle Reue.

„Wir sind verrückt!“ sagte Maria Sergejewna verzweifelt und schmiegte sich weinend an Mishujew, als suchte sie bei ihm Schutz. Er litt es schweigend; vor seinen Augen sah er den schwarzen Abgrund des unvermeidlichen Endes.

In derselben Weise war der heftige Auftritt auch an diesem Tage verlaufen.

Maria Sergejewna lag, todmüde, weich und erhitzt, mit tränennassem Gesicht und dunkelgewordenen Augen neben ihm. Das noch nicht befriedigte Verlangen zog sie mit krankhaft verstärkter Macht zueinander. Da sagte sie leise und treuherzig:

„Ich weiß, daß ich es deiner Ruhe wegen nicht tun sollte ... Aber glaube mir doch! Er tat mir einfach leid; so unglücklich kam er mir vor. Krank! ... Wie man es nehmen will ... Schuld habe ich doch ihm gegenüber! ...“

Und dem ermüdeten, vielleicht auch nach der Aufregung klaren Gehirn Mishujews schien es jetzt in der Tat ganz einfach und natürlich:

... Selbstredend hat sie ihm gegenüber Schuld ... Wie dem auch sei, einst liebte sie ihn doch ...

Alle Verdächtigungen schienen ihm sinnlos, unbegründet, nichts als unerträgliche Launen.

„Verzeihe mir ... ich bin tatsächlich verrückt ...“ stammelte er, voll schmerzlichen Mitleids, voll Liebe, Reue, Selbstverachtung und küßte das nasse, heiße Gesichtchen.

Sie glaubte sofort, daß nunmehr alles in Ordnung sei, — jetzt werden sie sich aussprechen, und vom nächsten Tag an wird alles so glücklich verlaufen wie noch nie zuvor. Sie überstürzte sich fast, um ihm alles zu sagen:

„Ich weiß, du meinst, ich hätte dich nicht lieb und wäre nur deines Geldes wegen zu dir gekommen ... Vielleicht hast du Grund, so zu denken ... Ich bin ein dummes, garstiges Ding, aber es ist doch nicht so: wirklich, ich liebe dich mehr als mein Leben! ... Du hast mir schon immer gefallen, schon lange ... Du bist so ... so groß, so stark, so feinfühlig! ...“

Im Zimmer war es finster, und Maria Sergejewnas Gesicht schimmerte trübe, weiß auf dem dunklen Divankissen. Ihre Augen taten sich weit wie zwei Abgründe auf. Ihre Stimme klang zart und abgebrochen, wie die eines gekränkten Kindes.

„Ich war immer froh, daß du dir deiner Macht bewußt bist und daß sich alle dir unterwerfen. Natürlich machte es mir auch Vergnügen, daß du für mich soviel hinauswerfen kannst, wie ich gar nicht wert bin ... Aber reiche Menschen gab es doch so viel! Wenn ich nur wollte ... Aber du bist größer, stärker als sie alle! ... Wir Frauen lieben im Manne die Kraft und die Macht ...“

Mit Tränen der Zärtlichkeit und der Rührung küßte sie Mishujew; unter ihren stillen, verliebten Worten war es um sie wohlig und glückverheißend geworden. Sie flüsterte eilig und treuherzig, sie glühte am ganzen Körper, sie war unterwürfig und hingebend! Ihm kam das stolze Bewußtsein seiner Kraft, das Bewußtsein, daß sie ihn liebt und sich ihm wie ihrer Sonne, für die allein sie existiert, hingibt.

„Ich bin ein dummes Ding, ich kann es nicht erklären,“ flüsterte leise Maria Sergejewna, „ich hatte ein so eintöniges, langweiliges Leben ... es schien, als ob alles schon vorbei wäre und mir nichts mehr bevorstände ... Da brachtest du etwas Kraftvolles hinein, ich war wie wahnsinnig vor Glück geworden! ... Ich träumte von dir, lief dir wie ein Backfisch nach.“

„Aber doch habe nicht ich es gebracht ...“ bemerkte Mishujew mit dem unbewußten Wunsch, noch weiter in sie zu dringen; seine Stimme erzitterte im voraus in leichter Angst.

„Nein — du! Du ... So wie du bist: groß, stark, mächtig wie ein König! Aber das ist nicht das Wichtigste: wärest du arm, so hätte ich mich dir ganz ebenso hingegeben ... Du bist mein Alles!“ Maria Sergejewna schmiegte ihren Körper mit rührender Schamhaftigkeit und doch schamlos an den seinen.

Sie flüsterte noch etwas, während sie unter seiner Liebkosung wie eine Blume aufblühte; Mishujew schien sein früheres Mißtrauen immer unbegründeter.

— Ich bin einfach nur ein Despot! dachte er.

Er wünschte nur, daß sie weiter spräche, noch mehr seine fürchtenden Gedanken zerstreue, sie widerlege, es beweise.

„Ja, aber ... dein Mann war doch klüger und talentvoller als ich ... Was bin ich denn im Grunde genommen ...“

Er fragte mit gedämpfter Stimme, als könne er dadurch seinen Wunsch verbergen; er erschrak selbst vor diesem Verhör, wie wenn er über einen Abgrund gleite. Er strengte sich an, sie zu überbieten, ihr den Gatten von neuem in Erinnerung zu bringen, ihr zu beweisen, daß jener besser sei als er.

„Wofür hast du mich im Grunde lieb gewonnen? ... Gewiß nicht, weil ich gesund bin wie ein Bulle?“ er sprach mit Absicht verletzend von sich; er war ganz gespannt in der sehnsüchtigen Erwartung nach Widerlegungen, nach leidenschaftlichen, erhebenden Worten.

Maria Sergejewna war durch seine letzte Frage tief beleidigt. Ihr ganzer Körper sträubte sich dagegen, als wäre er plötzlich entblößt auf die Straße geworfen worden; sie fing an zu beteuern, daß es nicht wahr sei.

„Aber, wie denn?“

Sie antwortete nicht gleich, fand nicht die richtigen Worte. Es war finster, und Mishujew konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht erkennen. Er wartete und fühlte mit Entsetzen, wie ein schlüpfriger, fürchterlicher Verdacht in dem Dunkel seiner Seele entstand und herumschlich.

Doch sie begann ihm auseinanderzusetzen, warum sie ihn für klüger, besser, origineller als die anderen hielte. Sie bewies es leidenschaftlich, aufgeregt, hastig. Aber er widersprach ihr immer wieder und erklärte mit falscher, gehässiger Stimme, daß ihr Mann ein hervorragender, prächtiger Mensch sei. Er schilderte ihn wahrheitsgetreu und erniedrigte sich selbst dabei. Vor Maria Sergejewna tauchte allmählich immer klarer und deutlicher die bekannte Gestalt auf; das feinfühlige Gesicht des schönen, zärtlichen, eigenartigen Menschen, das sie auch noch jetzt, ohne es zu wissen, liebte. Irgendwo in der Ferne zeigten sich Erinnerungen an das erlebte Glück, an die ersten Liebkosungen; sie riefen bis zur Unfaßbarkeit feine Trauer hervor. Sie erschrak und begann zu streiten, ganz eigentümlich zu streiten, als ob sie nicht Mishujew zu widerlegen suchte, sondern etwas anderes, das im Innern ihrer selbst entstanden war. Das krankhaft angespannte Gehör Mishujews erfaßte diesen eigentümlichen Klang der gebrochenen weiblichen Stimme. Auch in seinem eigenen Flüstern änderte sich etwas: er stieß seine Werte mit trockener, unbegreiflich gehässiger Hartnäckigkeit hervor. Und mit einem Mal merkte Maria Sergejewna mit Entsetzen, daß es ihr, sobald sie nicht mehr leugnen konnte, daß ihr Mann ein hervorragender, guter Mensch ist, an den Beweisen fehlte, weshalb sie Mishujew liebgewann.

Ohne Worte wurde es klar, daß sie ihren Mann liebte und ihn auch jetzt noch nicht vergessen hatte, und daß sie nur von dem Drang nach neuem, prunkvollem Leben, den sie bis jetzt mit solcher Beharrlichkeit, und, wie sie glaubte, auch mit Aufrichtigkeit geleugnet hatte, fortgerissen worden war.

Als sie dahin kam, verstummte sie plötzlich, ungeschickt, ratlos, schwach, während sie sich angstvoll sagte, daß sie jede Sekunde dieses Schweigens zugrunde richten müsse. Mishujew wartete, drückte noch immer mit seiner schweren Schulter auf ihre weiche Brust und schob sein Bein nicht von ihren runden, warmen Schenkeln zurück. Seine Augen starrten unverwandt geradeaus in die Finsternis, sein ganzer Körper lag abgestorben in der entsetzlichen Erwartung dessen, was er längst vorausgesehen hatte. Eine unabwendbare, eisige Kälte stieg allmählich von ihnen herauf und trennte sie voneinander. Sie versuchte, noch etwas zu sagen, brachte es aber nicht fertig und brach plötzlich in ohnmächtiges Weinen aus.

„Warum folterst du mich so! ... Ich weiß von nichts ... von nichts ...“

Mishujew schwieg und atmete schwer. Er fühlte, wie sein ganzer Körper, sein Herz und Gehirn in schwarze Leere versanken.

Maria Sergejewna schluchzte auf und verstummte. Er schwieg und wartete auf etwas. Ohne mit dem Weinen aufzuhören, hob sie schüchtern ihren Blick. Da klatschte plötzlich eine scharfe Ohrfeige mit furchtbarer Kraft über ihr Gesicht.

„Ah!“ schrie Maria Sergejewna; sie verlor für einen Augenblick vor Entsetzen und Schmerz fast die Besinnung.

„Luder!“ sagte Mishujew heiser. Schwer und vierschrötig, in der Finsternis unsichtbar, kroch er fort, wobei er sich bemühte, ihren warmen, regungslosen Körper nicht zu berühren, und ging rasch, an die Möbel stoßend, aus dem Zimmer.

„Ende!“ sagte in ihm dumpf eine Stimme.

Inmitten seines Arbeitszimmers blieb er stehen und starrte mit weit aufgerissenen Augen vor sich hin. Dort, hinten, suchte das gespannte Ohr irgend einen Laut zu fassen, aber alles blieb still, wie ausgestorben. Er fürchtete sich, auch nur einen Finger zu rühren, ihm schien, daß die leiseste Bewegung den Tod mit sich bringen würde. Sein ganzes Wesen war ein einziger, unsäglicher Schmerz. Entsetzliche Scham, tiefste Vereinsamung und tödliches, herzzerreißendes Mitleid mit sich und mit ihr verschlangen sich chaotisch mit kalter, böser Freude, als ob er endlich an jemandem Rache nahm, indem er, ihm zum Trotz, sich selbst vernichtet hatte.

„Ende!“ sagte Mishujew mit sonderbarem Lächeln.

Er wollte dieses unsinnige Lächeln unterdrücken, aber es wuchs in die Breite, wurde größer, zerrte an seinem Gesicht, er konnte die klappernden Kiefer nicht ruhen lassen, und mit einem Mal zuckte sein ganzes Gesicht in einem furchtbaren, wahnsinnigen Krampf auf.

X

Es war ein windiger Tag; die breite See, mit weißen Gischtkämmen bedeckt, scharf blau in der Ferne und grell-grün in der Nähe, wogte nicht, sondern schien sich zu drehen. Alles war scharf und buntfarbig: die Schatten, das Sonnenlicht, die prächtigen Toiletten der Damen, die auf dem Dampfer standen, die Borde und Taue des Schiffes. Der Wind erfüllte alles mit launischer, gleißender Bewegung; die ganze Umgebung wurde dadurch ungeheuer groß, die Menschen aber und das Städtchen, das hinter der Bucht strahlte, fast spielzeugartig klein.

Auf die Abfahrt des Dampfers mußte sehr lange gewartet werden. Mishujew wie Maria Sergejewna fühlten sich traurig, schwer und unbehaglich.

Grob rasselte der Krahn, während er schwere Kisten durch die Luft trug und in den Kielraum versenkte. Über die Schiffsbrücke, zwischen Verdeck und Ufer, strömte ungeduldig eine bunte Menge, unter der sich auffallend viele Damen befanden. Vom Ufer schrie man zum Bord hinüber, vom Bord zum Ufer, man warf sich gegenseitig Blumen zu, die von scharfen Windstößen ins Wasser gerissen wurden. Die Damen hielten die Hutkrempen fest; die Röcke flatterten bald auf, bald umschlangen sie die Kniee, zeigten die weichen Umrisse der Füße und verliehen dadurch dem Ganzen einen ungeduldigen, unsteten Charakter. Trotzdem sah es aus, als ob der Dampfer nie mit der Aufladung der zahllosen Kisten fertig werden und abfahren wird. Manchmal begann die Dampfhuppe ungestüm zu brüllen, und ihr gewaltiger, schriller Seufzer übertönte alle Laute, schwoll höher und höher an; erst als die Ohren bereits schmerzten und das Gebrüll ganz unerträglich wurde, riß es plötzlich ab, schrie kurz auf und verstummte. Eine seltsame Stille trat ein, lange hörte man in den fernen Bergen das verhallende Echo. Dann erhob sich wieder scharfes, eiliges Gerede, und ungeschlacht rasselte der Hebekrahn.

Mishujew stand am Bord und litt unter einer furchtbaren, drückenden Last. Er fühlte, daß Maria Sergejewna ihn immer wieder anschaute, und sah von der Seite ihre dunklen Augen, die sich anstrengten, ruhig und lächelnd auszusehen, in denen aber durchsichtige Tränen standen.

Sie sagte nichts. Die Entscheidung war schon gestern getroffen; nach der schweren, abscheulichen Unterredung gab es jetzt nichts mehr, worüber sie sprechen konnten.

Nun schön ... Ende, — mag es das Ende sein ... wiederholte sich Maria Sergejewna lautlos, und nur ihre Hand im weißen Handschuh fuhr ohne Grund über den blanken Messing des Schiffsbords. An dieser ununterbrochenen, gespannten Bewegung konnte Mishujew verstehen, was sie fühlte und dachte, was für auswegslose Trauer ihr kleines Herz zerriß. Sie tat ihm leid; er fühlte eine unendliche Schuld gegen sie. Doch in seiner Seele war es leer, und es war unmöglich, sich eine Rückkehr zu dem früheren, zu den Zärtlichkeiten, dem gemeinsamen Leben und der gegenseitigen Wärme, vorzustellen. Etwas war gerissen, zwischen ihnen lag kalte Leere, und jetzt hatte er nur noch einen Wunsch: nichts mehr in die Länge zu ziehen! Nur schneller alles zu enden!

Tja ... dachte Mishujew, unbeweglich auf die bunte Menge starrend. Sie wird auch ohne mich fertig werden. Wird das bisherige festliche Leben führen, nichts entbehren, nur Lust und Freude suchen.

Ihm schien, daß sie einen anderen Mann finden müsse, den sie so wie einst ihn lieb gewinnen kann, der sie aber aufrichtig und mit dem Gefühl des Dankes, mit warmer, inniger Achtung liebt. Doch aus irgend einem Grunde konnte er sich diesen anderen nicht vorstellen; statt dessen stieg vor ihm bald das schwarzbärtige, runde Gesicht Parchomenkos bald die hängende Unterlippe des Börsianers auf.

Auch das ist möglich, dachte Mishujew — sie hatte die reine, aufrichtige Liebe zu ihrem Mann, sie tauschte sie gegen mich ein, weil ich ihr neue Eindrücke, die Möglichkeit eines sorgenlosen, lustigen Lebens gab. Jetzt wird es ihr schwer sein, zum früheren zurückzukehren ... sie muß in dem neuen Gleise bleiben ... Und sie wird fröhlich sein, sich glücklich hingeben, lachen, sich schön kleiden ... Bis das Leben selbst erblaßt und in Leere aufgeht ... Es ist doch schade! ... Aber ich allein bin schuld ... Na, schön ... Ich werde leben, wie ich schon gelebt ... es wird öde, widerwärtig, einsam zugehen! Leer ...

Die Messinghuppe fing zu brüllen an. Die Luft erzitterte, das Verdeck zitterte, und eine Minute lang schien es, daß auch das Meer und der Himmel unter dieser unmenschlichen Stimme, die in den Bergen widerhallte, erbebten. Auf dem Verdeck schrie man, man bewegte sich und schwenkte die Tücher.

Maria Sergejewna wurde blaß, und in ihren dunklen Augen drückte sich unterwürfige Trauer aus. Mishujews Herz zog sich zusammen. Beide fühlten in diesem letzten Augenblick die hoffnungslose, traurige Zärtlichkeit.

Man konnte den Moment nicht bemerken, in dem der Dampfer abstieß, nur der trübe, grüne Wasserstreifen wurde plötzlich breit und wuchs zwischen der nassen Steinumfassung der Mole und dem schwarzen Borde schnell an.

Mishujew stand auf dem Verdeck und schaute lange aus, um unter der Menge die schlanke, winderfaßte Gestalt Maria Sergejewnas zu finden. Der Dampfer fuhr mit voller Geschwindigkeit, und die Gischtkronen der freien Wellen zeigten sich zwischen ihm und dem Ufer. Der Kai wurde immer kleiner und kleiner, aber lange noch sah Mishujew die in der Richtung des Dampfers hergehende, helle, weibliche Gestalt, deren Kleid der sonndurchstrahlte Wind hin und her zerrte und hochhob.

Ihre Gesichtszüge konnte er nicht mehr erkennen ... nicht mehr sehen, ob sie steht oder geht. Nur ein kleines, helles Fleckchen schmiegte sich an die lange, graue Steinwand, mitten im Wind, den rollenden Wellen und dem weißen Gischt, den der Wind von ihren Köpfen reißt.

Immer kleiner und kleiner. Und als das Städtchen, und der Kai, und das kleine, weibliche Figürchen zu einem Panorama, das wie Spitzenwerk durchleuchtet war, zusammenflossen, stach ein scharfer Schmerz tief in sein Herz; er fühlte sich in der ganzen Welt allein.

Abgebrochen war das frühere Leben; es verschwand für immer in der blauen Vergangenheit. Vor ihm breitete das leere, bewegliche Meer, hebend und fallend, seinen windigen, kalten Raum aus.

— — Na, sei’s so ... dachte Mishujew. Vielleicht ist es zum guten ... Irgendwie werde ich schon damit fertig werden.

Auf dem Dampfer ging es lustig und farbig zu. Viele Frauen in schönen Kleidern, mit Blumensträußen in der Hand, gaben ihm ein festliches Aussehen, und als auf dem Vorderteil unerwartet Musik zu spielen begann, glich das Ganze einem fröhlichen Ausflug. Die Fahrgäste teilten sich in Gruppen, zwischen den Damen tauchte bald der Kapitän auf, der in seinem schneeweißen Kittel halb wie ein Geck, halb wie ein Seemann aussah. Scherze, Lachen, weibliche Ausrufe erschollen. Und hinter dem Schiff schäumte das Meer und schwamm in die vergehende Ferne zurück.

Im blauen Nebel zogen grüne Ufer und rosige Berge vorbei. Auf einem Felsvorsprung lag ein weißes Kloster hoch über dem Meer und schwebte lange, wie eine Möve, in der Luft, bis es in der blauen Weite zerfloß. Das Meer rollte und bewegte sich, die weißen Wellen hoben sich und fielen nieder.

Unermüdlich schritt Mishujew auf dem Verdeck auf und ab, schaute auf das verschwindende Ufer und sann nach. In seiner Seele klang und schmerzte ein trauriges, hoffnungsloses Gefühl.

Wohin fahren? Wozu? dachte er, während sein Blick gleichgültig über Meer und Ufer schweifte, die er schon so oft gesehen hatte — hier, wie an der Küste Italiens und in Ägypten — und die ihm von der ergreifenden, blauen Schönheit der Natur, die das Herz des Menschen frei wie einen Vogel an einem hellen Sommertag macht, nichts mehr zu sagen wußten.

Nur fiel es ihm auf, wie eigentümlich die Möven kreischten, die den Dampfer begleiteten.

XI

Maria Sergejewna stand in der Mitte ihres Badezimmers, in dessen weißen und grauen Fliesen sich das elektrische Licht brach und spiegelte, und ein kräftiges Kammermädchen rieb sie stark und geschickt mit einem nassen Schwamm ab. Der nackte, feuchte Körper glänzte in dem Licht, und bei jeder Anstrengung des Mädchens gab das schlanke, elastische Figürchen Maria Sergejewnas langsam nach und richtete sich wieder auf. Die abgerundeten Brüste zitterten und schwankten, ihr stolzes Köpfchen richtete sich bald auf, bald sank es mit der schweren, auf den Rücken herabhängenden Frisur nieder, und man konnte glauben, daß das nackte Weib nur von süßer, physischer Lust bewegt wird.

In Wirklichkeit faßte ihr kleines, in einem Klümpchen zusammengezogenes Herz soviel Trauer, Kummer und qualvolle Ratlosigkeit, daß ihr schien, als müßte sie sterben.

„Vielleicht ist es zu kalt, gnädige Frau?“ fragte die Zofe, sobald sie bemerkte, daß die abfallenden Schultern Maria Sergejewnas leise erschauerten.

„Was?“ Maria Sergejewna erschrak und sah die Zofe mit weit geöffneten, traurigen Augen an.

„Ist das Wasser nicht zu kalt, gnädige Frau?“ wiederholte das Mädchen.

„Nein, ... es geht ...“

Die Zofe tauchte den Schwamm in lauwarmes Wasser und fing wieder, während sie an etwas anderes dachte, an, Maria Sergejewna geschickt und gleichgültig den Rücken zu reiben.

Es peinigte Maria Sergejewna; es war ihr unerträglich, nackt dazustehen und sich waschen zu lassen, während ihr das Herz in Stücke brach. Sie wollte allein bleiben, sich ins Bett werfen und den Kopf in die Kissen pressen. Sich niederlegen und absterben, für immer, nichts sehen, nichts hören, nichts fühlen.

Aber die dressierte, gleichgültige Dienerschaft, die nur zu Aristokraten in Dienst tritt, und vor der sich Maria Sergejewna immer noch fürchtete, wie arme, einfache Menschen stets aristokratische Dienstboten scheuen, war im Hause und umgab sie vom frühen Morgen an mit neugierig-kalten, fast nachstellenden Augen. Sie wünschte, daß das, was am Tage zuvor geschehen war, verborgen bliebe, es sollte niemand erfahren, daß sie verlassen wurde, daß sie nur eine Maitresse ist, die man ins Gesicht schlägt, daß man sie wie das niedrigste Frauenzimmer durch den Schmutz schleifen konnte.

Von dem Augenblick an, da Mishujew, der nach einer schweren und hoffnungslosen Auseinandersetzung begriff, daß sie das Band zwischen sich zerrissen hatten, abgereist war, sorgte sich Maria Sergejewna mit allen Kräften, daß niemand etwas von dem Vorgefallenen erfahre. Am Dampfer bemühte sie sich, vergnügt auszusehen und zu lächeln; als sie ihre unermeßliche Qual im Herzen nach Hause trug, zwang sie sich, vor dem Diener die Herrin zu spielen; zu Hause strengte sie sich an, alles wie gewöhnlich zu tun, sie fühlte sich als Sklavin dieser gemieteten Leute, die sie nichts angingen.

Als ihr die Zofe höflich meldete, daß das Bad bereit sei, ging sie sofort ins Badezimmer, kleidete sich aus und gab sich, nackt und unglücklich, den unnötigen, schmerzlichen Bemühungen des Mädchens hin.

Schmerzlich zog sich das Herz der kleinen, nackten Frau, die, umgeben von Licht und Wärme, von sanftem Wasser und warmer, dampf- und parfumgesättigter Luft geliebkost, dastand, zusammen. Ein schweres Gefühl der Einsamkeit lag in dem gehätschelten Körper. Ihr schien, daß man sie verspottete.

„Genug, Klawdia, schon gut ...“ sagte sie mit Überwindung; sie fühlte, daß sie im nächsten Augenblick zusammenbrechen müßte.

„Aber die Dusche, gnädige Frau?“ meinte höflich die Zofe, und ohne die Antwort abzuwarten ging sie zu dem emaillierten Hahn, öffnete ihn und fing sorgfältig an, den warmen Regen, der von oben herabfiel, mit der Hand zu prüfen.

Maria Sergejewna, der die Tränen in die Augen kamen, stellte sich unter die Dusche.

Erst als die Zofe ihr einen trockenen, weichen Mantel umhing und sie im Schlafzimmer allein ließ, stürzte sie händeringend mit dem Gesicht auf die Kissen.

Die lange zurückgehaltenen Tränen brachen in einer heißen Welle hervor; sie weinte wie ein Kind, hilflos und still.

Ihr ganzes Leben ging an ihr vorüber, alle Leiden der Vergangenheit und die finstere Zukunft, die grausame Täuschung und das Bewußtsein eines entsetzlichen, nie wieder gutzumachenden Irrtums.

Seitdem sich ihr Leben von Grund auf geändert hatte, und die Gattin eines stillen und zärtlichen Mannes, eine Frau mit einer kleinen, doch sonnigen und einfachen Welt, verschwunden war, um einer unruhig schönen Frau, die in Spitzen, Seide, Diamanten, Prunk und Bequemlichkeit schwelgte, zu weichen, seit diesem Augenblick dachte Maria Sergejewna kein einziges Mal an ihr früheres Leben. Das war etwas Lichtes, Liebes, an dessen Verlust sie sich nicht ohne Schmerz erinnern konnte; der Schmerz aber würde sie endgültig der letzten Rechtfertigung für ihre Handlungsweise beraubt haben.

Es war eine furchtbare Tragödie gewesen, als ihr verlassener Mann, der ihr einst unendlich teuer war, in den letzten Minuten fast an Tränen erstickte und nur noch das eine stammeln konnte: „Mütterchen, Mütterchen ... willst du denn wirklich deinen Jungen verlassen! ... Was werde ich ohne dich tun!“ Ein schwerer chaotischer Kampf zerriß sie, ohne daß sie ihn fassen konnte. Das Herz zerbrach vor Mitleid mit dem weinenden erwachsenen Mann, der hilflos und nutzlos naive Worte wiederholte, die sie noch vor kurzem bis zu Tränen gerührt hätten. Als er schluchzend ausrief: „Was werde ich nur allein tun!“ — erinnerte sie sich plötzlich, daß sie sich ihn früher ohne ihre Zärtlichkeit und Pflege gar nicht vorstellen konnte. Im Augenblick sah sie seine Einsamkeit, seine Trauer, seine Armut, während sie Luxus, Pracht und Glück genießen soll. Und eine Minute lang kam ihr ihr Entschluß wie ein Wahnsinn vor.

Sie umarmte und küßte ihren Mann, sie trocknete mit der Hand seine nassen lieben Augen, die von Gram und Tränen entzündet waren. Das Herz sprang zwischen einer neuen farbenreichen Liebe, die ein ungekostetes herrliches Leben verhieß, und dem Zartgefühl und grenzenlosen Mitleid mit diesem weinenden Manne, der hilflos war, wie ein verlassenes Kind.

Maria Sergejewna hatte gefühlt, daß ihre Kräfte schwinden, daß die Träume von einem neuen Leben, die wie ein Märchen glänzten, verblassen und versinken. Um sich zu retten, um nicht alles beiseite zu werfen und zu bleiben, nahm sie sich zusammen und stählte ihr Herz durch eine Grausamkeit, die für sie selbst am schmerzlichsten war.

Als sie fortging und zum letzten Mal das bekannte Zimmer, die bekannte Lampe, das Bett, in dem sie das Glücklichste ihres Lebens genossen hatte, Skizzen, zu denen sie ihrem Manne einst Akt gestanden, die ihren Stolz, einen Teil ihrer Seele bildeten, die ganze vertraute Umgebung mit den Augen überflogen hatte, wurde ihr Herz von unerträglicher Qual durchschnitten. Etwas Entsetzliches heftete sich an dieses Fortgehen, aber sie nahm sich noch einmal, zum letztenmal, zusammen und ging hinaus. Und er weinte nicht mehr, rief sie nicht mehr zurück, sondern holte nur tief Atem und klammerte sich mit der Hand an ihren zurückgelassenen alten Umhang, als wenn er fürchtete, daß ihm auch dieses — das Letzte — noch genommen werden könnte. Diese eine Bewegung war furchtbar gewesen und die Erinnerung daran war nicht drückend, nicht qualvoll, sondern einfach grauenhaft, wie die an ein vollbrachtes Verbrechen.

Um dieses Grauenhafte nicht in jeder Minute vor Augen zu sehen, stürzte sich Maria Sergejewna in ein wirklich wahnwitzig leichtsinniges Leben.

Allmählich vergaß sie das Vergangene, wurde fröhlich, bekam Geschmack am Luxus, gewöhnte sich daran. Theater, Bälle, Toiletten, der Verkehr mit reichen Menschen umschwirrten sie wie ein Traum, und sie begann fast zu glauben, daß sie glücklich sei.

Nur selten, wenn sie allein blieb, hörte sie auf, in ihrer Umgebung unterzugehn, dann dachte sie daran, wie irgendwo in der Ferne, mit nagender Trübsal, ein verlassener einsamer Mensch lebte.

— — Wie geht es ihm? Was mag er jetzt tun? — dachte sie, wurde traurig, fühlte sich beschämt, und lief wieder unter Menschen, fuhr irgendwohin, lachte, kokettierte.

Jetzt aber war der Flitter wie Staub abgefallen, und klaffende Leere zeigte sich darunter. Sie wurde ratlos, und in ihrem armen Köpfchen wogte alles durcheinander, wohin gehen, was tun, an was das Herz hängen — alles war vorbei. Allein eine Maitresse war verlassen zurückgeblieben, eine Frau ohne Namen, ohne Anspruch auf Achtung. Sie hatte aufgehört, ein Mensch zu sein, und wurde zu einem Ding, einem Lappen, den man abgenutzt auf die Straße werfen konnte.

Und mit Schauer des Entsetzens fühlte sie, daß es kein Zurück mehr gab, daß sie nicht wieder so leben konnte, wie sie früher gelebt hatte. Daß sie auf einem goldenen Wege stand und ihn weiter gehen mußte. Wohin?

— — Das ist die Vergeltung, die Vergeltung ... — stammelte Maria Sergejewna mechanisch.

Auf dem Tischchen neben dem Bett lag das Geld, das ihr Mishujew zurückgelassen hatte, und mit Entsetzen sah sie es an, während sie wie ein eingesperrtes Tier die Kissen mit den verzerrten feinen Fingern zerkratzte.

XII

Mishujew kam an einem regnerischen, schon herbstlichen Tage in Moskau an; sowie er aus dem Wagen stieg, war er von widerwärtiger, kalter Feuchtigkeit bis auf die Knochen durchdrungen.

Der ungeheuer weite, asphaltierte Platz vor dem Bahnhof gleißte wie ein See, nasse Droschken schwammen darauf, und die Schritte kältezitternder, durchfeuchteter Menschen klatschten eilig über ihn hin. In der Ferne, hinter dem grauen Regenvorhang, schimmerten undeutlich zahllose Dächer, Kirchenkuppeln und die trüben Flecken verwaschener Vorgärten. Ihm wurde ganz eigentümlich traurig bei dem Gedanken, daß es hier schon Tage lang keine Sonne, keinen blauen Himmel, keine fröhlichen Blumen mehr gegeben hatte. Alles machte den Eindruck, als wären alle diese eiligen, durchnäßten Leute bis zum äußersten lebensüberdrüssig; sie lebten nur, weil sie sich längst mit dem Regen, dem grauen Himmel, der Kälte und Nässe abgefunden hatten und sie nicht mehr beachteten. Wenn sie jetzt davon gehört hätten, daß irgendwo in der Ferne gerade in diesem Augenblick die Sonne grell leuchtete, das blaue Meer strahlte und das bunte Gras lachte — dann könnten sie einem solchen Glück gar nicht glauben wollen; — sie würden sich nur beeilen, weiter durch klatschende, kalte Pfützen zu laufen. Aber Mishujew dachte darüber nicht nach, weil er all das seit langem gewöhnt war; er war von dem goldenen Frühling nicht entzückt und wurde durch den grauen Herbst nicht mißgestimmt.

Er hatte niemanden von seiner Ankunft benachrichtigt, und so war er auch nicht erwartet worden. Seine Sachen übergab er einem Dienstmann, nahm sich eine Droschke und fuhr zitternd vor Feuchtigkeit in dem durchnäßten Wagen nach Hause.

Schon aus der Ferne erkannte er das altbekannte silbergraue Haus, dessen riesige Größe und groteske Verzierungen im Jugendstyl mit einem quer herüberlaufenden kolossalen Schild: „Gebrüder Mishujew“ sofort ins Auge fiel. An dem Haustor, das einer Höhle ähnlich sah, spielte sich noch immer das gleiche emsige Gewühl ab. Triefende Lastfuhrleute luden gelbe Kisten, aus denen das feuchte Stroh hervorlugte, auf; gelb-schwarze Wagen fuhren an und ab, erbittertes, hungriges Schimpfen hing armselig in der wasserdurchweichten Luft. Und im Hause, in den weiten Zimmern, die kalt wie der Platz draußen waren, durch meterhohe, trübe Fenster von der Straße getrennt, leuchteten in trockenem Grün elektrische Lampen; gebeugte Köpfe raschelten mechanisch, fast ganz regungslos zwischen Papieren und klapperten mit den Rechenbrettern.

„Alles nach Strich und Faden —“ dachte Mishujew, als ob er etwas Neues erwartet hätte, und ging, nachdem er seine Sachen abgelegt, durch das ganze Kontor. Und wie immer, wenn er in diese trockene, geschäftsmäßige Atmosphäre geriet, wurde sein Gesicht auch jetzt hochmütig und kühl, als zöge er zwischen sich und allem Anderen gewaltsame Grenzen.

Die Angestellten, die gut gekleidet und frisiert an den Tischen saßen, erhoben sich eilig und schweigsam von ihren Plätzen und verbeugten sich vor ihm. Mishujew nickte flüchtig mit dem Kopf. Viele von ihnen kannte er garnicht; er hatte absolut keine Ahnung, ob er sie schon früher einmal gesehen hatte. Allein der Prokurist, ein kahlköpfiger Greis mit einem Gesicht, das halb wie ein zerknüllter Rubelschein, halb wie das eines Heiligenbildes aussah, begrüßte ihn mit den Worten:

„Wünsche Glück zur Ankunft, Fjodor Iwanowitsch! ... Ihr Herr Bruder sind im Arbeitszimmer, warten schon lange auf Sie. Ist Ihnen die Reise gut bekommen?“

Mishujew lächelte unwillkürlich: er dachte, daß es doch eine ziemlich bescheidene Reise war — von Moskau nach der Krim und zurück — erinnerte sich dann aber, daß für den alten Mann, der sein ganzes Leben lang in diesem Kontor gesteckt hatte, schon ein solche Reise märchenhaft bedeutend sein müßte.

„Danke schön. So, so,“ sagte er kühl und doch liebenswürdig und ging nach einem flüchtigen Händedruck weiter.

Sein Bruder, Stepan Iwanowitsch Mishujew, saß tief gebeugt über dem großen, grabmalartigen Tisch und schrieb, während er mit seiner linken Hand auf einem schweren Rechenbrett hantierte. Das blasse bläuliche Licht vom Fenster glänzte matt auf seinem breiten kahlgewordenen Schädel. Das ganze Zimmer war dunkel, schwer und langweilig wie ein riesiges Einnahme- und Ausgabebuch, zwischen dessen Blättern ein Mensch herumkrabbelt. Als Mishujew eintrat, erhob der Bruder die Augen, und er sah die ihm bekannten, kühl-unzufriedenen Blicke. Unbehaglich berührte ihn der Gesichtsausdruck dieses Menschen, der dem Eintretenden, ohne zu wissen, wer es ist, bereits einen feindselig-geschäftlichen Blick entgegenwirft. Als Stepan Iwanowitsch genauer hinsah, verzogen sich seine Lippen geizig zu einem matten Lächeln.

„Ah, endlich gekommen!“ sagte er und erhob sich.

Die Brüder küßten sich.

Stepan Iwanowitsch war ebenso groß und schwer wie sein Bruder, aber sein Gesicht war gelb, ungesund, unter den Augen hingen ihm welke Beutel, und seine Stimme war so schwach und blaß, als ob er bis auf den Tod ermüdet wäre.

„Ich bin sehr froh, daß du gekommen bist,“ begann Stepan Iwanowitsch, als sie sich gegenüber saßen und Zigarren angezündet hatten, von denen er sich niemals trennte: — „Froh aus verschiedenen Gründen. Erstens wünschte ich natürlich, dich zu sehen, dann ist deine Gegenwart überhaupt nötig, weil es mit der Fabrik miserabel steht. Außerdem habe ich noch eine persönliche Angelegenheit ... Aber darüber später!“

Stepan Iwanowitsch wandte für einen Moment den Blick ab und verzog die Lippen wieder zu der geizigen Nachahmung eines Lächelns.

„Du hast wohl aus den Zeitungen gehört, daß die Fabrik nun die zweite Woche still steht. Die Forderungen werden dir wahrscheinlich auch schon bekannt sein?“

„Ja, ich weiß es ...“ erwiderte Mishujew kurz.

„Und?“

Stepan Iwanowitsch richtete einen forschenden, kühlen Blick auf ihn; Mishujew hatte unwillkürlich die Empfindung, daß hier nicht ein Bruder mit dem Bruder spräche, sondern ein Chef mit irgend einem Mitinhaber der Firma konferierte. Er wäre am liebsten nicht mehr auf diese Angelegenheiten, über die schon lange ohne Erfolg und mit noch geringerem Verständnis hin und her geredet wurde, eingegangen. Aber Stepan Iwanowitsch wartete, und so antwortete er mit Selbstüberwindung:

„Hm. Ich finde sie in vielen Punkten ganz berechtigt.“ Unwillkürlich blinzelte er mit den Augen und wandte den Blick ab, weil er fühlte, wie feindselig Stepan Iwanowitsch die Ohren spitzte. Der fuhr fort, den Bruder forschend anzublicken und schwieg lange, als ob ihm die Anstrengung viel Mühe kostete.

„... Schön. Und sage mir bitte, machst du es dir klar, daß uns diese Forderungen bei der heutigen Marktlage ruinieren?“

„Davon spreche ich nicht,“ erwiderte Mishujew widerwillig; — „ich stellte nur ihre Berechtigung fest und weiter nichts. Ob sie für uns vorteilhaft sind oder nicht — das ist etwas anderes.“

„Ja,“ erwiderte Stepan Iwanowitsch trocken, „ganz etwas anderes; aber ich glaube, gerade daran sollte man in erster Linie denken.“

Mishujew seufzte, als ob sich eine überaus verdrießliche Last auf ihn wälzte, hielt sich aber zurück und sagte mit absichtlich nachgiebiger Stimme:

„Ja, gewiß. Nur scheint es mir, daß auch die Frage nach der Berechtigung dieser Forderungen nicht ganz nebensächlich ist. Eins von beiden: entweder sind sie unberechtigt, dann kann man sie nur vom Standpunkt des Kampfes aus betrachten, oder sie sind berechtigt; in diesem Fall müßten wir doch auch an ihre Befriedigung denken.“

Er gab sich Mühe, ruhig zu bleiben; er hatte den festen Wunsch, jeden Streit zu vermeiden, aber schon beim Sprechen fühlte er die bekannte drückende Aufregung. Er sah, daß sein Bruder, wie immer, einzelne seiner Worte heraushörte, von den anderen aber, gerade die, welche ihn selbst am meisten erregten, als ganz unnötig und überflüssig außer acht ließ.

Stepan Iwanowitsch schwieg eine Weile und fuhr fort, ihn mit seinem kalten, fremden Blick zu fixieren. Dann seufzte er, wandte die Augen ab, klopfte mit den Fingern gegen die Tischkante und sagte mit gezwungener Miene:

„Nun, gut. Wir werden später weiterreden. Du bist gewiß von der Reise ermüdet. Hast du gefrühstückt?“

„Noch nicht.“

„Dann wollen wir zu mir hinaufgehen,“ — Stepan Iwanowitsch erhob sich schwer von seinem Platz.

Die Wohnung, die er inne hatte, war klein. Es war eigentümlich auffallend, daß in dem ganzen riesigen luxuriösen Haus nur ein Winkelchen wirklich ihm, seiner Ruhe, seinem Schlaf und seinem Körper gehörte. Überall sonst, oben, unten und an allen Seiten lebten und wimmelten wie Bienen in den Zellen eines riesigen Stockes fremde, unbekannte Menschen, von denen viele garnicht einmal wußten, wie dieser Stepan Iwanowitsch Mishujew aussieht, und ob er in Wirklichkeit existiert und nicht lediglich ein abstraktes Symbol darstellt.

Das Speisezimmer glänzte kühl in schwerer Eiche, und machte durch das weiße Tischtuch, die weißen Gedecke und das weiße Licht, das aus den Fenstern hereinströmte, einen eisigen, toten Eindruck.

„Nun, bist du gut gefahren?“ fragte Stepan Iwanowitsch und bemühte sich noch mehr, seine trockenen Lippen liebenswürdig zu verziehen und möglichst sanft auszuschauen. Er liebte seinen Bruder und bemitleidete ihn als kranken Phantasten.

„Nicht übel.“

„Und wo steckt deine Maria Sergejewna jetzt?“ Stepan Iwanowitsch lächelte, ohne Mishujew ins Gesicht zu sehen.

„Dort geblieben ... vorläufig ...“ sagte Mishujew; plötzlich stach ihm etwas schmerzlich durchs Herz. Irgendwo fern — fern sah er die kleine verlassene Frau, die er liebte, die ihn liebte und die jetzt aus irgend einem Grunde von seinem Leben für immer getrennt war, ihm fremd wurde, als hätten sie niemals einander geliebt und geliebkost und sich aneinander mehr als an allem in der Welt gefreut.

In diesem Augenblick konnte Mishujew nicht begreifen, warum es dazu kommen mußte. Alles, was ihm damals entsetzlich und unerträglich schien, kam ihm jetzt kleinlich und hergesucht vor, schwebte vor seinem Auge wie ein trüber, sinnwidriger Fleck. Aber doch fühlte er, daß es nicht anders sein konnte. Er nahm sich zusammen und begann, während er sich anstrengte, das Nagen an seinem Herzen nicht zu bemerken, vom Süden zu erzählen und sich nach Moskau zu erkundigen.

Die beiden Brüder saßen sich, schwer und groß, gegenüber; sie schienen auf den Boden und alles, was darunter wimmelte, mit furchtbarer Last zu drücken. Das kühle weiße Licht glänzte grell auf dem Parkett und der Emaille des Geschirrs; gelbblitzend funkelte der Wein; es sah aus, als strahlte inmitten des grauen, nassen Tages in ihm allein die fröhliche Sonne.

Es wurde wärmer, und das Gespräch kam leichter in Fluß. Mishujew kreuzte die Arme auf dem Tischtuch, und Stepan Iwanowitsch lehnte sich zurück und erzählte:

„Mir ist hier eine kleine unangenehme Geschichte passiert, und da du in derartigen Dingen erfahrener bist als ich“ — Stepan Iwanowitsch lächelte ungeschickt — „so möchte ich dich um Rat bitten.“

Mishujew blickte ihn neugierig an.

„Siehst du, da war bei uns ein Mädchen als Kassiererin eingetreten, jung und sehr hübsch. ... Du wirst sie sehen, weil ich dich bitten möchte, zu ihr hinzufahren.“

Stepan Iwanowitsch zündete sich eine Zigarre an, runzelte die Beutel unter seinen Augen: Und blinzelte durch den Rauch. Ihm war es offenbar peinlich; er fühlte sich lächerlich.

Mishujew sah ihn mit lustiger Verwunderung an. Ein junges hübsches Mädchen, keine Kokotte, keine Sängerin — das ließ sich so schlecht mit der Person Stepan Iwanowitschs in Einklang bringen, daß man glauben konnte, er scherze nur.

„Und um was handelt es sich?“ fragte Mishujew; er bemühte sich, dem Bruder seine Verwunderung nicht merken zu lassen.

„Ja, um was es sich handelt ... bin mit ihr intim geworden, da hast du alles! ...“ sagte Stepan Iwanowitsch mit Mühe.

„Na, und?“

„Wie soll ich dir das auseinandersetzen ... Du weißt, ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet und mich nicht mit Romanen abgegeben ... kann aber nicht bestreiten, daß dieses Mädchen etwas neues in mein Leben gebracht hat ...“

Ein junges hübsches Mädchen mit einem so reinen und weichen Kinn, daß man es unwillkürlich zu berühren wünscht, um seine Wärme zu fühlen, trat vor Mishujews Auge. Es lachte wahrscheinlich silberhell, gab sich selbstvergessen mit seinem ganzen jungen Körper dem Manne hin und bemerkte wohl garnicht, daß Stepan Iwanowitsch einen kahlen Schädel, ein vertrocknetes Gesicht und eine geschäftsmäßige, einfarbige Seele hatte. Vielleicht auch bemerkte sie das und bemühte sich, ihn zu erwärmen und zu erfreuen, ihm ihr ganzes, junges, fröhliches Glück mitzuteilen.

„Sie scheint mich wirklich aufrichtig gern zu haben,“ fuhr Stepan Iwanowitsch fort, während er immer noch mit zusammengekniffenen Augen durch die blauen Rauchwolken blinzelte. — „Natürlich gab sie sich sofort alle Mühe, aus mir einen Sozialdemokraten zu machen ...“

Stepan Iwanowitsch lachte unnatürlich, aber doch drang ein zärtlicher Klang durch dieses trockene Lachen.

„Hm!“ Mishujew mußte unwillkürlich lächeln, das kleine naive Mädchen tat ihm leid.

„Nun, das wäre alles noch nicht so schlimm ... die Sache ist aber, daß sie ... wie sagt man es gleich ... na, in gesegnet... daß sie schwanger geworden ist.“

„Ah!“ Mishujews Augen wurden weich und mitleidsvoll.

„Und ich sehe immer mehr, daß sie in meinem Leben einen Platz einnimmt, mit dem ich rechnen muß ... Ich fange an, mich zu fürchten, mit ihr herumzustreiten, fange an, nachzugeben, sie mischt sich in die Geschäfte ein, wird ärgerlich, stellt Bedingungen ... Mit einem Wort, es ist Zeit, ein Ende zu machen,“ — Stepan Iwanowitsch fiel sich selbst ins Wort, und seine Augen, die aufzuleben schienen, wurden wieder kalt und trübe.

„Weshalb gleich ein Ende zu machen,“ fragte Mishujew behutsam und weich: — „ist sie dir ennuyant geworden?“

„Ach was, ennuyant!“ versetzte Stepan Iwanowitsch, während sein Gesicht einen eigentümlichen Ausdruck annahm: „ich fühle im Gegenteil, daß ich mich ohne sie ziemlich langweilen würde! ...“

Er verstummte unerwartet bei diesem trockenen geizigen Satz, aber Mishujew hörte mit warmer Teilnahme Vieles und Tiefes aus ihm heraus.

„Um was kümmerst du dich dann? ... Lebe doch mit ihr nach wie vor.“

„Leider ist sie nicht so eine ... Sie wird verlangen, daß man sie vor aller Welt öffentlich anerkennen soll ... Eine Maitresse wird die nicht ...“

„Dann tue es doch ... meinetwegen heirate ... vielleicht wirst du glücklich!“

Mishujew lächelte unwillkürlich wieder.

Doch diesmal huschte über das Gesicht Stepan Iwanowitsch’ nicht der frühere sympathische verwirrte Ausdruck. Es blieb geschäftsmäßig und kühl.

Mishujew aber stellte sich die niedliche Frau, die junge reine Mutter vor, von der und von derem Kinde etwas wie Sonne und freudige Farben in die Seelen eindringen würde. Die Gestalt Stepan Iwanowitschs, neu, belebt und einfach, hob sich, von diesem Strahl beleuchtet, undeutlich von ihm ab. Aber all das verschwand sofort wieder.

„Wenn ich heiraten wollte, so werde ich nicht eine Frau nehmen, die sich auf den Schreibtisch setzt, einem einen Helm aus Geschäftspapieren macht und lacht und weint zur gleichen Zeit ...“

Mishujew stellte sich seinen Bruder in einer papiernen Mütze vor und lachte auf. Stepan Iwanowitsch zuckte linkisch mit den Schultern und wandte sich zur Seite.

„Dir kommt es lächerlich vor, und mir ist es wirklich nicht zum Lachen ... Ich kann mir diese Dummheit nicht verzeihen ... Ich durfte es nicht soweit kommen lassen ... Und so bin ich geradezu gezwungen, dich zu bitten, zu ihr zu fahren und dich mit ihr auseinanderzusetzen. Kannst du das tun?“

Mishujew zuckte kurz und traurig die Achseln. Ihm tat mit einem Male der Bruder leid, in dessen dürre, tote Seele durch ein Wunder der goldene Schein gedrungen war, den er jetzt selbst aus ihr herausreißen wollte.

Wozu? fragte sich Mishujew. — Damit er wieder in seinem Kontor über Rechnungen und Wechseln sitzt? ... Langwierig und langweilig lebt? ... Gott weiß, warum und wozu ...

Aber er antwortete: „Natürlich kann ich das — doch wozu? ... Vielleicht ließe es sich irgendwie anders regeln? ... Muß es denn gerade so geschehen? Und vielleicht ...“

Ein kurzer sonderbarer Krampf zuckte über das Gesicht Stepan Iwanowitschs und Mishujew verstand mit einem Mal, was für ein fruchtloser und qualvoller Kampf in des Bruders Seele vorgegangen war. Er sah jetzt, daß jeder Widerstand überflüssig sei, wie in einer Leiche kein Kampf des Lebens mehr vorhanden sein kann; ein kaltes trübseliges Gefühl der Leere und Ohnmacht erfaßte ihn.

„Außerdem,“ sagte plötzlich Stepan Iwanowitsch mit ersichtlicher Mühe — „meinst du wirklich, daß ich das nicht begreife: Wäre ich nicht Millionär und hätte ihr nicht die Möglichkeit Vergnügen gemacht, die Seele eines Millionärs umzugestalten, und so weiter ... könnte sie mich denn lieb gewinnen? Ich glaube, ich eigne mich kaum für etwas so wenig, wie gerade für diese Beschäftigung!“

Stepan Iwanowitsch lächelte wieder, und an diesem wiederholten verzerrten Lächeln sah Mishujew wieder, wie sehr seinen Bruder dieses Gespräch quälte und niederdrückte.

„Warum gerade — Millionär!“ sagte er mit Mühe.

„Na, das läßt sich gewiß leicht verstehen ...“ antwortete Stepan Iwanowitsch, ohne aufzublicken.

Und nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:

„Wollen wir von etwas anderem sprechen?“ Eine schmerzliche Regung stieg in der Seele Mishujews auf; ein alter Gedanke rührte sich in ihm. Das Bild eines kleinen heiteren Weibes wurde trübe und zerfloß. Er seufzte schwer, seine Augen blickten so vertieft und krank, wie bei Menschen, die den Tod in sich tragen.

XIII

Es war schon gegen Abend, als Mishujew ausfuhr; der erste Frühschnee, der an einigen Stellen zu Wasser zerschmolz, an anderen, meist an Zäunen und auf Grasstreifen wie zarte weiße Flecke hängen blieb, war gefallen. Schnee und Wasser schienen in ihrer Vermischung tiefer und jünger; das Wasser schwärzer, der Schnee weißer. In den Straßen lag der Hauch junger, frischer Kühle, die Glocken auf allen, schon unsichtbaren Kirchen begannen zum Nachtgebet zu läuten, als ob ganz Moskau mit klangreicher Messingstimme dröhne und singe. Aus alledem strömte die Empfindung von Stärke und Kraft wie eine freudige Welle in den Kopf Mishujews, der von dem langen Gespräch mit dem Bruder abgespannt war. Seine vorzüglichen Pferde fuhren ihn an den schwarzen Seen vorbei, die sich weißgerändert an allen Straßen gebildet hatten und in denen Reflexe goldener Feuerchen spielten, durch die Straßen, an deren Seiten unaufhörlich eine fröhliche, belebte Menge entlang zog. Auch Mishujews Herz weitete sich in fröhlicher ungeduldiger Erwartung.

Er sah Nikolajew mit seiner breitschultrigen energischen Gestalt vor sich, der gemütvollen herzlichen Stimme und den widerspenstigen blonden Locken. Er empfand die Freude der Begegnung im voraus; die lebhaften Fragen und Antworten, dann das herzliche, „echte“ Gespräch, in dem vieles Schwere und Schmerzliche zum Ausdruck kommt und vergeht. Mishujews Mienen wurden fröhlicher, er fühlte sich so groß und kräftig, wie seit langem nicht mehr.

Aber es berührte ihn unangenehm, als er in dem Vorraum zu Nikolajews Wohnung Überzieher und Hüte hängen sah und hinter der Tür zum Saal eine glänzende weibliche Stimme, die die Arie aus einer Oper vortrug, vernahm. Klavierbegleitung ertönte, durch die Türspalten zog ein Strahl duftigen Zigarrenrauchs und weiblicher Parfüms heraus. Mishujew blieb eine Weile stehen. Er hatte garnicht bedacht, daß Nikolajew in dieser Zeit nur schwerlich allein anzutreffen war, und daß es möglicherweise garnicht zu einem Wiedersehen mit herzlichen Gesprächen, deren Erwartung ihn freudig erregte, kommen werde. Aber gerade da wurde die Tür stürmisch aufgerissen und Nikolajew trat mit breiten Schritten, im blauen Hemd und weiten Pluderhosen, wie ein echter Wolgaräuber, heraus.

„Fedja! Ah! Guten Tag, mein Täubchen! Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“ schrie er, daß es durch das ganze Haus dröhnte, und packte ihn fest an der Hand. — „Warum siehst du so grün aus?“

Sie umarmten sich, und Mishujew küßte seine festen guten Lippen mit einem so rührenden Vergnügen, wie er es niemals gegenüber Frauen empfunden hatte.

„Nun, du bleibst immer derselbe!“ sagte er, Nikolajew verliebt ansehend.

Als sie in den Saal traten, fragte Mishujew leise:

„Bei dir ist viel Volk? ... Ich wollte mich ausplaudern, ohne daß uns jemand stört ...“

„Spuck darauf!“ antwortete Nikolajew mit einer breiten Handbewegung: „Kümmere dich nicht darum! Davon stürmt mir jetzt eine Teufelsmenge täglich das Haus! Ich habe mich schon daran gewöhnt ... Kann nichts dagegen tun, Bruder, bin eine Berühmtheit geworden!“

„Nun, sei’s Gott gedankt!“ sagte Mishujew voller Freude und schaute von der Höhe seiner massigen Gestalt, neben der der breitschultrige Nikolajew elegant aussah, zärtlich auf ihn herab.

Mishujew trat in den Saal, bis aufs Tiefste durch die Nähe dieses guten, lustigen händefuchtelnden Menschen erregt, der ihn, wenn er ihn liebte, wirklich nur um seiner selbst willen liebte.

Vom Klavier her trat ihnen eine hochgewachsene Frau in schwarzem Kleid, mit den grauen koketten Augen einer Schauspielerin entgegen.

„Hier, Lydia,“ erklärte laut und fröhlich Nikolajew, „hier hast du meinen Mishujew! ... Sieh mal, was für ein kolossaler Millionär!“

Mishujew lachte, und die schöne Frau mit den grauen Augen lachte ebenfalls. Auch ihre Augen lachten mit, aber Mishujew gefiel dieses Lachen nicht.

„Oh, es freut mich sehr,“ sagte sie mit klangvoller Stimme und streckte ihm ihren weißen üppigen Arm, der bis an die Ellenbogen entblößt war, entgegen.

Dann stellte sie ihn ihren Gästen vor. Es waren viele, aber alle zeigten Mishujew nur ein Gesicht: übertrieben freundlich, mit Zähnen, die durch ihr Lächeln frei wurden und versteckter Neugierde in den Augen. Das war eben jenes Gesicht, das Mishujew sein ganzes Leben lang verfolgte und das er haßte. Diesmal aber war er von dem Wiedersehen mit Nikolajew so freudig erregt, daß er gar nicht darauf achtete.

„Nun, Herrschaften,“ sagte Nikolajew, mitten im Saal stehen bleibend. „Ihr mögt hier jetzt singen, schreien, tanzen, was Ihr wollt ... und wir beide, er und ich, werden ein wenig plaudern gehen. Lydia, dürfen wir?“

„Ach, mein Gott, gewiß doch!“ Die Frau hob gleichzeitig mit ihren grauen Augen in ausgesucht schöner Pose beide Arme in die Höhe. „Gehen Sie, gehen Sie, ich lasse Ihnen Tee bringen.“

In Nikolajews Arbeitszimmer setzte sich Mishujew auf einen breiten türkischen Diwan und sah sich freudig im ganzen Zimmer um. Es war noch das alte: dieselben Bücher, Papiere, in Haufen überall aufgestapelt, auf dem Boden, in den Schränken, auf dem Tisch, den man unter ihnen gar nicht mehr sehen konnte. Und außer dem ledernen Diwan sprach nichts von Komfort, der gerade im Arbeitszimmer eines berühmten Schriftstellers so angebracht gewesen wäre. Mishujew erinnerte sich, daß dieselbe Unordnung und Bummelei auch im Zimmer des allen unbekannten Studenten Nikolajew geherrscht hatte. Auch Nikolajew selbst war ganz der frühere geblieben, nur war er etwas dicker geworden.

Das Gespräch setzte so einfach und vom ersten Satze interessant ein, wie alles, was Nikolajew anfing. Und als Mishujew fünf Minuten auf dem Divan gesessen hatte, und dem durch das Zimmer schreitenden Nikolajew zärtlich mit den Augen gefolgt war, da wußte der bereits alles: den Bruch mit Maria Sergejewna wie den Zusammenstoß mit dem Bruder, die Reisen ins Ausland mit ihren Hotels, Theatern und Museen, und die dumpfe, tote Herzensangst, unter der Mishujew schon so lange litt.

„Ich verstehe dich nicht,“ Nikolajew sprach zornig und gleichzeitig liebevoll, während er mit breiten Schritten aus einer Zimmerecke in die andere ging, „dasselbe erlebe ich auch ... Die Zeit ist schon längst vorüber, in der Menschen ganz einfach zu mir kamen, nur weil ihnen das gefiel, was ich tat und sprach. Jetzt wird jeder, der an mich herantritt, im voraus von der Ehrfurcht und Achtung zu dem berühmten Dichter erfüllt! Na, meinetwegen, das ist manchmal sogar angenehm. Es ist eben ein Gesetz der menschlichen Natur — der Mensch ist seiner Natur nach ein Sklave, aber es werden sich noch immer Menschen finden, die zu dir einfach mit offenem Herzen kommen.“

„Bei dir ist es etwas anderes,“ erwiderte Mishujew ein wenig traurig, „du bist berühmt, aber du bist vor allen Dingen ein Dichter, das heißt ein Mensch, der die Menschen nur durch die Kraft seiner eigenen Seele bezwingt und an sich lockt. Wenn ich wüßte, daß es in Rußland so viele Jünglinge gibt, die es für ein besonderes Glück halten, gar nicht mal mit mir zu sprechen, sondern mich allein nur sehen, mir scheint, ich wäre ganz hingerissen von dieser jungen Welle. Dann würde ich vielleicht glücklich sein ...“

„Dafür gibt es viele Menschen, denen du hilfst ...“

„Das ist nicht das richtige!“ Mishujew schüttelte den schweren Kopf, „ich schaffe doch nicht selbst dieses Geld, am Ende gehört es ihnen doch, und dann — — ich weiß: Auch die, denen ich wenig Geld gebe, hassen mich, und die, die viel bekommen, sind böse, daß es nicht mehr ist; im Grunde sehen alle nur mit versteckter Feindseligkeit das Gute an, das ich mir selbst durch mein Geld verschaffen kann. Ihnen kommt es vor, als stehle, als vergeude ich ihr Gut, ihr Glück ...“

Ein tragischer Unterton erklang in Mishujews Stimme. Nikolajew blieb mitten im Zimmer stehen und wurde nachdenklich. Sein Gesicht wurde ernst und vertieft.

„Das ist vielleicht wahr, aber du hast dennoch Unrecht.“ Er warf sein Haar zurück, als hätte er etwas gefunden, was er beinahe verloren hatte.

Er erinnerte Mishujew, daß dieser seine Reichtümer, die ihm nun einmal an die Hand gekommen waren, auch fest in seiner Hand verschließen konnte. Ob ein Millionär, der die Arbeit von Massen anhäuft, eine Daseinsberechtigung hat oder nicht, gleichviel, Millionäre existieren und die Menschen sind nicht nur weit entfernt, sie zu töten; sie unterwerfen sich ihnen sogar. In der Gewalt eines jeden Millionärs liegt es, die größten Infamien zu begeben, oder aber Gutes zu tun. Mishujew hat das letztere gewählt; das können vernunftbegabte Menschen unmöglich mißverstehen.

Nikolajew belebte sich, während er redete, auf’s äußerste, seine Augen glänzten, er lächelte breit und freudig. Mishujew saß auf dem Divan, sah ihn mit feuchten Augen an und fühlte, wie in ihm etwas warmes aufwuchs, und die Hoffnung auf einen kommenden lichten Tag emporstieg. Er verlor sein gewöhnliches gespannt ungesundes Aussehen und wurde so zutraulich, wie ein gutmütiger Bär.

„Du hast in deiner Hand fast zehntausend Arbeiter,“ sagte Nikolajew mit einem glutenden Gefühl, das augenscheinlich seine ganze Seele durchströmte, und bemühte sich unwillkürlich, mit seiner Stimme die Klavierlaute und die stürmischen Koloraturen eines glänzenden Soprans, die aus dem Saal herüber drangen, zu übertönen.

„Aber sie haben nicht dich allein zum Herrn; dein Bruder besitzt sie ebensogut. Warum tat er denn nicht dasselbe wie du? ... Oder warum handelst du nicht so wie er? Jede Kopeke, die du für die Arbeiter hingibst, gibst du ihnen doch aus freien Stücken ... Zwingen kann dich niemand! Und meinst du, der Arbeiter, der weiß es nicht? ... Die wissen mehr, als wir beide!“

Mishujew schaute ihm naiv und vertrauensvoll ins Gesicht.

„Weißt du, als sich die Nachricht von deinem Selbstmord verbreitete, wollten es die Arbeiter nicht glauben ... Mir selbst hat ein alter Arbeiter mit Tränen gesagt: ‚Das ist nicht möglich ... ein solcher Mensch nimmt sich nicht das Leben. Da will er sich eben vor Feinden verborgen halten, und wenn es erst wieder an der Zeit ist, dann kommt er hervor und zeigt sich!‘ — — — Hier hast du es!“ schrie unwillkürlich Nikolajew aus, und seine Augen erglänzten in einer solchen Begeisterung, als ob er etwas Großes und Heiliges vor sich stehen sah.

Mishujew fühlte, wie seine Hände und Füße vor tiefster Freude und einem kaum erträglichen Glücksgefühl erzitterten. Er sah mit einem Male die unübersehbare Menge dieser ruhigen, zermarterten, hungrigen Arbeiter vor sich und erblickte ein ganzes Meer von Augen, die offen und vertrauensvoll auf ihn schauten. Er sah auch sich selbst, aber nicht als den schweren düsteren Menschen, der er stets war, sondern als energischen, tatbereiten Mann, der fest und sicher auf sein Ziel losgeht. Der scharfe Gedanke an ein untergegangenes persönliches Leben traf ihn wie ein Nadelstich, aber der augenblickliche Schmerz versank sofort in einer grellen Flut machtvoller Empfindungen.

„Ach, Bruder,“ sagte er mit zitternder Stimme, „nicht umsonst dachte ich soviel an dich und sehnte mich nach diesem Wiedersehen!“

Nikolajew, dessen Augen noch immer glänzten und der aussah, als ob er auf etwas in sich lauschte, lächelte selig und froh.

Sie schwiegen lange, jeder von seinen starken Gedanken erfüllt. Hinter der Tür zerfloß eine prächtige glanzvolle Stimme. Es schien gar nicht eine Frau zu sein, die dort sang.

Beim Souper in dem hellen eleganten Speisezimmer, am Tische, der mit glänzenden Flaschen und frischen Blumen vollbestellt war, saßen Mishujew und Nikolajew so fröhlich und animiert wie noch nie. Alle anderen schwiegen und hörten ihnen ehrfurchtsvoll zu.

Nikolajew erzählte Mishujew von seiner Idee, eine neue Zeitschrift zu gründen, die die besten jungen Kräfte vereinigen sollte. Er schlug Mishujew vor, für dieses Unternehmen Geld zu geben, und dieser war mit Freude einverstanden.

Alles schien ihm jetzt herrlich, gut und voll Leben. Alles war von Nikolajew reflektiert und belebt; er ließ von ihm kein Auge.

Nikolajews Frau, eine bekannte Sängerin, die Frau mit den grauen Augen, nahm sich besonders der beiden an, machte sich in einem fort um Nikolajew zu schaffen, als umschlinge sie ihn mit ihrer Zärtlichkeit, Sorgfalt und Schönheit.

Sie scheint ihn wirklich aufrichtig zu lieben! dachte Mishujew und empfand jetzt auch zu ihr warme freundschaftliche Zuneigung. Was für Menschen versteht er, an sich zu ziehen? Nicht wie ich ... Er seufzte mit bitterem innerem Lächeln.

„Und was meinen Sie, Ssergej Petrowitsch,“ wandte sich ein Herr mit gefälligem Ausdruck in seinen feuchten jüdischen Augen an Nikolajew, „werden Sie Tschetyrjow zur Mitarbeit an Ihren ‚Lebenden Gedanken‘ einladen?“

„Darüber wird besser später entschieden werden,“ antwortete Nikolajew flüchtig, aber über sein Gesicht glitt ein unangenehmer Schatten.

Mishujew fiel es auf, daß eine Minute lang Schweigen eintrat, und daß in den großen Augen der Frau, die mit weißen Händen eine Schüssel reichte, ein scharfer feindseliger Ausdruck aufzuckte.

„Fürchtet er wirklich Tschetyrjow,“ dachte Mishujew mit grenzenlosem Staunen.

Er wußte, daß Tschetyrjow von vielen höher geschätzt wurde als Nikolajew, hätte aber niemals in Gedanken zugegeben, daß es für diesen irgend eine Bedeutung haben könnte. Ihm war der Gedanke an Neid und Feindseligkeit gegen einen Rivalen bei Nikolajew geradezu qualvoll, und er versuchte, sich aus diesem Argwohn selbst einen Vorwurf zu machen. Aber im selben Moment begegnete er dem Blick der grauen Augen, die gierig und unruhig auf Nikolajew ruhten und dachte mechanisch:

Diese Frau liebt ja Nikolajew nur, weil er berühmt ist ...

Dieser unerwartete Gedanke schnitt ihn schmerzlich durch das Herz. Aber die grauen Augen waren sofort wieder hell, zärtlich und eindringlich, und Nikolajew scherzte wie früher, lachte und seine Reden klangen dahinstürmend, wie immer. Mishujew konnte trotzdem die frühere Stimmung nicht mehr wiederfinden, als ihn die Pferde durch die leer gewordenen Straßen des schlafenden Moskau trugen. Mit finsteren Augen verfolgte er die schwarzen, im Laternenlicht schwankenden Gestalten der Prostituierten, die einsam an den Bürgersteigen standen; in seiner Seele wälzte sich schwer und ungelenk ein kranker, unheimlicher Gedanke.

XIV

Auf dem weißen Schnee als Hintergrund erschienen die untersetzten, verräucherten Fabrikgebäude, die schwarzen Schornsteine und Zäune und die Menge selbst, die sich wütend und zum Widerstand bereit auf dem Fabrikhof und den benachbarten Straßen hin- und herschob, grauschwarz, als ob sie sich im Schmutz gewälzt hätte.

Die Fabrik war in der Gewalt des Streikkomitees. Der Hof schien im Gewimmel der dichten Menge von Köpfen, der roten aufgeregten Gesichter und bewegten Arme, wie lebendig. Von der Direktion requirierte Truppen und Polizisten hatten sich in regelmäßigen grauen und schwarzen Linien an den beiden Straßenseiten aufgestellt; man sah schon von weitem, wie die Pferde unruhig die Köpfe schüttelten und graugekleidete Offiziere über den Schnee liefen.

Nur von der Moskwa her war noch ein Zugang freigeblieben, und von dort zogen in unaufhörlichen, ungeordneten Haufen immer neue Arbeiter heran.

Mishujew, den man telephonisch gerufen hatte, kam in einer einspännigen Droschke herbeigeeilt, und fuhr direkt in den Hof hinein. Er sah blaß aus und seine Lippen zitterten. Er war ganz plötzlich geweckt worden, so daß ihm keine Zeit geblieben war, zu überlegen, was er tun könne. Er fühlte nur den energischen Willen, alles in Ordnung zu bringen, und den Glauben, daß es ihm gelingen würde. Er verstand, daß er, wenn es überhaupt möglich wäre, auf die Arbeiter einzuwirken, der einzige sei, der in Betracht käme. Und zu dem Gefühl banger nervöser Aufregung gesellte sich das sichere Bewußtsein, daß die Arbeiter ihm folgen werden, und daß er die nahenden Greuel einer Zerstörung abwenden kann.

Schon in der Ferne hörte er das wachsende vielstimmige Brausen, das nur durch einzelne scharfe Ausrufe unterbrochen wurde. Als das Pferd in vollem Trabe ums Tor bog, betäubte ihn furchtbarer Lärm. Er sah eilig über die schwarze Masse der Köpfe und die roten Mauern des Gebäudes, aus dessen gesamten Fenstern Hände hervorgestreckt und geschwenkt wurden, erhob sich in der Droschke, die unter seinem Gewicht knarrte, und ließ sich dann wieder schwer niederfallen.

Bei seinem Erscheinen sank plötzlich der Lärm, und nur in den hinteren Reihen ertönte noch dumpfes Murren und einzelne Ausrufe. Auch aus den Direktionsfenstern wurde er bemerkt, und zwischen zwei Schutzleuten, die auf den obersten Steinstufen standen, erschien, blaß und kopflos, der Fabrikdirektor Schanz.

Eine plötzliche Welle riß Mishujew fort. Er ging rasch die Steinstufen hinauf, nahm den Hut ab und schwenkte ihn. Es wurde still, eine Menge roter, aufmerksamer, junger und alter Gesichter blickten ihn schweigend von unten an. Man konnte nur noch hören, wie in den hinteren Reihen und auf der Straße etwas aufbrauste und wie Wellenschlag auf- und niederwogte.

„Meine Herren,“ rief Mishujew laut und energisch, mit dem Gefühl, daß er gehört werden würde, „ich bin soeben zurückgekehrt und kenne die Angelegenheit nur in allgemeinen Zügen. Ich gehe sofort zu den Verhandlungen mit den Mitinhabern und der Direktion, und ich bitte Sie, bis zum Schluß dieser Verhandlungen nichts zu unternehmen. Glauben Sie mir? Ja? Einverstanden?“

Noch bevor in der Menge dröhnende Zurufe des Einverständnisses erschollen, winkte jemand im dritten Stock der Fabrik mit etwas Weißem, und Mishujew begriff instinktiv, noch ehe er genauer sehen konnte, wer es war, daß er dadurch gegrüßt werden sollte. Sein Herz wurde warm und freudig, voll stürmischen Verlangens, alles zu ordnen.

Ihretwegen.

Er ging schnell ins Haus ... in den Ohren trug er die tausendstimmigen Zurufe der veränderten freudigen Gesichter.

Als er in das Kontor eintrat, fiel ihm zunächst das kahle, mürrische Gesicht Stepan Iwanowitschs auf, der am Tisch saß. In seinen Mienen lag eine eigentümliche Mischung von Feindseligkeit, Verdruß und Hohn. Er sah den Bruder fast gar nicht an. Mishujew dagegen fesselten seine Mienen. Er bemerkte die anderen kaum und ging direkt auf den Bruder zu. Stepan Iwanowitsch hob kühl die Augen.

„Na, was sagst du jetzt?“ fragte er mit dünner Stimme.

„Was ich sage?“ erwiderte Mishujew voll Energie, „ich denke, daß sich alles in Stand bringen läßt, und wenn Sie mir freie Hand geben wollen, nimmt die Fabrik noch heute nachmittag die Arbeit auf!“

Er blickte dem Bruder hell und freimütig in die Augen, aber die Blicke Stepan Iwanowitschs blieben kühl, fast böse.

„Natürlich,“ erwiderte er unaufrichtig, „falls wir uns bis nachmittag ruinieren werden, nimmt die Fabrik die Arbeit auf ... für drei Tage.“

Mishujew sah sich um. Die fünf Menschen, die hier im Zimmer waren, blickten ihn schweigend an, und auf allen Gesichtern lag der gleiche feindselige, etwas zu entschlossene Ausdruck. Er fühlte sich einsam unter ihnen, und das rief in ihm eine eigene, hartnäckige Erregung hervor.

Jetzt sind wir Feinde! dachte er mit einem flüchtigen Blick auf den Bruder. Nun schön ... wollen sehen, wer die Oberhand bekommt.

„Warum ruiniert?“ Er warf den Kopf in den Nacken. „Willst du mir weiß machen, daß die Zulage von zwanzig Prozent unsere Millionen-Dividende aufzehren wird? Das wäre doch zu viel, Bruder!“

Mishujew machte eine bittere Handbewegung.

Es war ihm schwer, im Bruder, den er immer geliebt und bemitleidet hatte einen Feind sehen zu müssen.

„Nicht um die zwanzig Prozent handelt es sich hier,“ erwiderte Stepan Iwanowitsch trocken, ohne aufzublicken. „Zwanzig Prozent werden die Fabrik nicht ruinieren, obgleich sie sie bei der jetzigen Situation schwer genug belasten. Aber wo haben wir die Garantien, daß auf die zwanzig nicht vierzig, fünfzig folgen sollen? Meinst du denn wirklich, daß sie gerade zwanzig Prozent Aufschlag nötig haben? Das ist doch lächerlich!“ Stepan Iwanowitsch verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. „Diese zwanzig Kopeken auf den Rubel bedeuten für sie nur eine Flasche Wodka mehr. Nicht an den zwanzig Kopeken liegt es, sondern an der unversöhnlichen Begehrlichkeit dieser Leute, die glauben, daß wir die Mitesser sind, daß im Grunde die ganze Fabrik und das ganze Kapital hundert Prozent und nicht zwanzig oder vierzig, ihnen gehört, und daß sie das, das Ihre, herausreißen, und uns zum Teufel, auf die Straße jagen könnten!“

Die Stimme Stepan Iwanowitsch stieg dünn und böse in die Höhe, und wimmerte im letzten Ton schrill wie Hundewinseln. Mishujew blickte ihn ratlos und empört an.

„Woher nimmst du das Recht, so zu reden,“ sagte er leise, „die Leute sterben vor Hunger, schinden sich in schwerer Arbeit ab, wie du sie keine zwei Tage lang ertragen könntest, und du sprichst noch von Trinken, von Flaschen Wodka. Genug doch, Bruder! ... Ich dagegen behaupte, daß sie, wenn wir ihnen jetzt geben, was unumgänglich nötig ist, an die Arbeit gehen und von mehr gar nicht träumen werden. Weil sie noch besser als wir verstehen, daß wir nicht diese Ungleichheit geschaffen haben; nicht gegen unsere Person richtet sich ihr Haß.“

Stepan Iwanowitsch schüttelte in wütender Erregung seinen Kopf, als ob er nur Dummheiten hörte, schwieg aber. Dieses Schweigen, dieser hartnäckige trockene Widerstand gegen das, was Mishujew so einfach und richtig schien, erhitzte diesen noch mehr.

„Na, schön ... Gib ihnen nichts, wirf ihren Ausschuß die Treppe hinunter ... Laß sie deine Fabrik bis auf den letzten Ziegelstein in Grund und Boden reißen! Mag es dazu kommen, ich werde froh sein, wenn dieser Fluch von der Erdoberfläche verschwindet!“

Stepan Iwanowitsch verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, und dieses Lächeln war so böse und verächtlich, daß Mishujew erblaßte.

„Das sind alles Redensarten ...“ Stepan Iwanowitsch ließ jedes Wort geizig durch die Zähne gleiten. „Zerstören werden es die Truppen nicht lassen, und diesen ‚Fluch‘ hast du, Gott sei Dank, nicht weniger ausgenützt als ich! Ach!“

„Truppen?“ fragte Mishujew dumpf. Er empfand gegen den Bruder furchtbaren Haß und fühlte deutlich, daß der ihn ebenso haßte, „wir werden auf hungrige und in ihrem Rechte befindliche Menschen schießen lassen? Verstehst du denn, was du da sprichst?“

„Ich verstehe alles. Nicht ich habe Fabriken, nicht ich habe Arbeiter geschaffen. Ich bin sehr froh, daß es einmal weder das eine, noch das andere geben wird. Aber vorläufig gehört die Fabrik uns und nicht ihnen, und wenn sie nur ein Steinchen anrühren, werde ich sie wie tolle Hunde niederknallen lassen! Jawohl!“

Und Stepan Iwanowitsch erhob sich, groß und schwer wie ein Stein. Auf seinem breiten Schädel schimmerte trübe das blasse Licht des Wintertages.

„Und ich werde das nicht zugeben!“ schrie Mishujew heißer, „wenn du schießen läßt, so stelle ich mich zu ihnen. Ich will sehen, ob du dann noch den Mut dazu findest!“

Stepan Iwanowitsch wandte sich ab.

„Das ist deine Sache!“ sagte er dumpf und trat ans Fenster.

Mishujew stand lange auf demselben Fleck und fühlte, wie qualvoll seine Hände und Füße zitterten und sein Herz schlug.

„Fjodor Iwanowitsch,“ sprach ungewöhnlich weich und einschmeichelnd Schanz, und Mishujew erblickte neben sich sein spitziges Fuchsgesichtchen. „Mir scheint, Sie regen sich zu sehr auf und übertreiben die Sachlage. Schließlich verstehen wir doch alle, daß wir ohne Konzessionen nicht auskommen werden. Stepan Iwanowitsch wird das sicherlich auch zugeben ... Gewiß doch. Nur kommt es auf den Umfang der Zugeständnisse an. Soweit ich aus unseren früheren Beratungen ersehen konnte, treten Sie für die völlige Annahme aller Forderungen ein. Das ist doch wirklich unausführbar, Fjodor Iwanowitsch!“

Schanz berührte zärtlich Mishujews Ellenbogen und suchte seine Augen mit einem unaufrichtig-freundlichen Blick. Mishujew wandte sich ab.

„Sehen Sie gefälligst hier,“ fuhr Schanz bescheiden und beharrlich fort, als hätte er die Bewegung Mishujews nicht bemerkt, und lud ihn mit einer leichten Handbewegung ein, an den Tisch zu treten. „Ich möchte Sie nur mit einigen Zahlen bekannt machen, und Sie werden selbst sehen, was möglich ist, und was nicht.“

Seine zärtliche klebrige Stimme war so beharrlich, daß Mishujew sich ungewollt am Tisch niederließ und anfing, düster und aufmerksam zuzuhören.

„Hier, wir wollen von den bestehenden Lohnsätzen ausgehen ...“ sprach Schanz mit einschmeichelndem Ausdruck in der Stimme weiter, und machte sich äußerst geschickt ans Werk, Fjodor Iwanowitsch ein kompliziertes trockenes System auseinanderzusetzen. Er begann damit, ihm auseinanderzusetzen, daß die Lage der Arbeiter in ihrer Fabrik viel besser sei, als in der ganzen Gegend sonst. Sehr gewandt und zur richtigen Zeit erwähnte er den großen Aufwand für Schulen, Krankenhäuser und ein Theater, und die gute, fast mustergültige Einrichtung des Konsumvereinsladens. Dann gab er eine Übersicht der Marktlage, und zeigte die riesigen Verluste, die die Fabrik bereits beim vorigen Streik erlitten hatte.

„Und dabei wollen die Arbeiter noch nicht einsehen, daß dieser Streik nicht durch uns, sondern durch die Politik der Regierung heraufbeschworen worden ist,“ bemerkte er wie nebenbei, mit den Spitzen der kalten, knochigen Finger gestikulierend.

Dann öffnete er einen ganzen Haufen peinlich saubere Bücher, aus denen ersichtlich war, daß die Einführung neuer Maschinen die Arbeit verkürzte, die Produktion vergrößerte und lediglich dadurch schon den Lohn fast um die Hälfte steigerte. Wäre vor einem Halbjahr die Forderung der Lohnerhöhung erhoben worden und hätte die Fabrik Konzessionen bewilligt, so würden die Arbeiter auch in diesem Falle um dreißig Prozent weniger als jetzt verdient haben. Auf diese Weise beeilen sie sich, mit neuen Lohnforderungen, die nicht im geringsten durch die wirkliche Geschäftslage gerechtfertigt sind, aufzutreten und verhindern dadurch die Fabrikverwaltung, neue Erweiterungen des Etablissements vorzunehmen, die doch zur Verbesserung ihrer eigenen Lage führen müßten ...

Und vor Mishujews Augen begann sich nebelhaft das riesige Bild eines Zauberkreises zu entfalten. Er sah in endlosen Reihen Fabrikdächer, Millionen Schornsteine, die die ganze Erdkugel bedeckten, Milliarden Arbeiter, die in hungrigen Haufen von einem Ende der Welt bis ans andere drängten. Und es wurde ihm klar, daß sie auch, wenn sie sich ruinierten, wenn sie an die Arbeiter alles weggeben würden, doch nichts ändern könnten. Nur ein Glied dieser fürchterlichen Kette wäre zerrissen, nur ihre Fabrik gesprengt; es würde Arbeitslosigkeit eintreten, die hungrigen Massen auf andere Fabriken abströmen und dort wieder den Lohn durch ihre Unterbietung herabdrücken.

Direktor Schanz sprach ununterbrochen fort und wand schnell und geschickt immer neue Glieder seiner furchtbaren Logik ineinander. Die Spitzen seiner toten Finger bewegten sich wie die Fühlfäden einer Spinne vor Mishujew, und voller Entsetzen fühlte dieser, daß er nichts tun, nichts erwidern konnte, daß er sich folglich damit einverstanden erklären muß, wogegen sich seine ganze Seele sträubte.

Wie hinter einem Nebelschleier sah er, daß der Ursprung dieses Widerspruchs in ihm selbst lag: es gab trotz allem eine mögliche, unbedingte Lösung — nämlich, das, was er für wahr hielt, durchzusetzen, und wenn er auch dadurch ruiniert werden würde! Dann mußte er eben zu Grunde gehen. Was weiter kam — das war eine andere Sache. Andere müßten finden, wie dann zu handeln wäre; seine Sache blieb es allein, die Wahrheit bis zum letzten Ende durchzusetzen.

Aber Nebel umhüllte diesen einfachen und klaren Gedanken: seit vielen Jahren war er gewöhnt, in der Genauigkeit der Zahlen ein unumstößliches Gesetz, eine Art neuer Wahrheit zu erblicken. Auch jetzt ließ sich sein klares und festes Denken durch die eiserne Logik verwirren, wurde schwach und unstet. Er bemerkte selbst nicht, wie er nicht mehr um Gerechtigkeit und Wahrheit stritt, sondern nur noch um die Frage, ob es richtig sei, zehn Prozent zu bewilligen und nicht zwanzig.

Hinter den Fenstern brauste und murrte es, wie ein ferner Wasserfall, und erschütterte die trüben Fensterscheiben, von Zeit zu Zeit schlugen scharfe, laue Ausrufe herauf.

Schanz sprach und sprach noch immer und warf ohne Aufhören mit Zahlen um sich, als streute er aus einem unerschöpflichen Sack böse, unüberwindliche Zwerge, die Hände und Füße fesselten, in den Kopf eindrangen und dort der Macht der Tatsachen gegenüber das schwere Gefühl völliger Ohnmacht hervorriefen.

„Begreife nur,“ mischte sich Stepan Iwanowitsch, jetzt schon in ruhigerem Ton, ein: „hier kann es keinen Mittelweg geben. Auf zehn Prozent werden sie nicht eingehen. Es wurde von dreißig Prozent gesprochen, zehn sind heruntergelassen worden, der Ausschuß gab nach, aber nun noch auf zehn ... Nein! ...“

Mishujew hob seine trüben, müden Augen auf.

„Man muß entweder alles bewilligen,“ sagte Stepan Iwanowitsch, gegen den Tisch gestützt, „oder nichts ... Nichts, damit wir nach der unvermeidlichen Katastrophe die Möglichkeit in der Hand behalten, sie aus freien Stücken durch eine selbständige Zulage zu beruhigen ...“

„Und bis dahin?“ fragte erblassend Mishujew.

„Und bis dahin ...“

Stepan Iwanowitsch wandte rasch die Augen ab und knackte mit den gekreuzten Fingern.

„Nein!“ rief Mishujew und richtete sich in seiner riesigen Größe auf. „Ich kann es nicht, kann es auf keinen Fall zulassen, daß man die Leute erschießt, nur weil sie hungrig sind, weil ihre Interessen nicht unsere Interessen sind ...“

„Dann gehe du zu ihnen und schlage ihnen deine Bedingungen vor,“ Stepan Iwanowitsch schlug die Arme auseinander.

Mishujew stand schweigend mit zu Boden gesenktem Blick auf. Ihn packte leidenschaftlich der Wunsch, daß Nikolajew hier wäre. Es schien ihm, daß sie zu zweit imstande sein müßten, diesen Zauberkreis zu zerreißen.

„Ich werde auch in der Tat gehen ... lieber so schon, als ...“ seine Stimme riß schmerzlich ab.

„Hm, wie du willst ...“ Stepan Iwanowitsch schlug wieder die Arme auseinander. „Vielleicht gelingt es dir auch ... Aber ich muß dich warnen, du setzt dich einer großen Gefahr aus ...“

„Wodurch?“

„Du wirst ihre ganze Wut auf dich lenken. Dieselben Arbeiter, für welche du dich so sehr ins Zeug legst, werden in einem Augenblick alle deine Bemühungen vergessen haben. Und zeigst du dich gegen sie, werden sie dich mehr als jeden anderen hassen, gerade für alles, was du bisher ihretwegen getan hast, und dafür, daß sie an dich glaubten!“

Mishujew sah ihn schweigend an.

„Höre, Fedja,“ sagte Stepan Iwanowitsch zärtlich, „meinst du wirklich, daß mir das Ganze nicht selber nahegeht? Aber du setzt dich der größten Gefahr aus ... laß es ... ich bitte dich!“

Mishujew stand lange regungslos auf der Stelle, dann drehte er sich rasch um und ging hinaus. Er fühlte, wenn er nicht zu ihnen hinausginge ... ihm war, als hörte er Gewehrsalven, Aufschreie, sah Blut. Er warf den schweren Kopf in den Nacken und trat, voll eines dumpfen, toten Gefühls in der Brust, als ob er allein ein schweres Kreuz auf sich nähme, auf die Steinstufen heraus.

Lärm und weißes Licht umbrausten ihn. Tausende Gesichter wandten sich erwartungsvoll ihm zu; viele fast froh. Er fing an zu sprechen.

Alles, was dann geschah, kam wie ein plötzlich ausbrechender Taifun heran. Er hörte seine ersten Worte fast gar nicht, bemerkte aber sofort, wie schnell sich die Gesichter um ihn veränderten. Im Augenblick war der Ausdruck des Vertrauens und der Freude verschwunden; die Mienen wurden ganz andere. Mishujew fühlte es; er wurde plötzlich inmitten dieser ungeheuren Menge einsam. Wurde einsam und allen fremd. Er versuchte noch, sich aus der Leere, in die er geriet, aufzuraffen, aber seine Worte hatten schon die Kraft verloren. Das Band, das so aufrichtig und fest schien, zerriß in einem Augenblick, als wenn es niemals existiert hätte. Und vor Mishujew standen nur noch Feinde.

Später erinnerte er sich noch, daß ihm ein Drechsler, ein ihm bekannter kleiner, schwarzer Mann mit durchbohrenden Augen, zu erwidern begann:

„Genug der Lügen!“ schrie er. „Sie haben jetzt Ihr wahres Gesicht gezeigt ... Sie sind auch so einer, für den zuerst seine Millionen Rubel kommen, und dann wieder seine Millionen Rubel, und dann erst die Millionen Menschen, die von Ihnen nichts als ihr Recht gewollt haben. Wir verlangen das unsere! ... Schießt auf uns, schießt ... tut Eure Sache! ... Henker!“

Totenblaß versuchte Mishujew zu sprechen, fand aber keine Worte mehr; plötzlich packte ihn ein Angstgefühl, wie wenn man im Traum in einen entsetzlichen Abgrund fällt.

Jemand riß ihn am Arm, er stieß ihn instinktmäßig von sich und wollte die Stimme erheben, aber diese Bewegung wurde als Drohung aufgefaßt. Man packte ihn noch stärker am Arm, dann an der Brust, ein Schneeball flog ihm scharf ins Auge, und unter furchtbarem Gebrüll verschwand er, kopfüber und totenbleich in der Menge. Instinktmäßig riß er seine rechte Hand los und schlug aus seiner ganzen Riesenkraft jemand über den Schädel. Für einen Augenblick öffnete sich vor ihm leerer Raum, und er sah rotköpfige Kosacken in den Hof einreiten und Nagaiken in der Luft schwirren. Von furchtbarem Entsetzen gepackt, stürzte er ihnen entgegen, aber von hinten fiel man über ihn her, und er sank nieder, den schwarzen Drechsler mit dem zerschlagenen, roten Kopf nach sich ziehend.

XV

Die Morgenröte stieg strahlend, freudig aus dem Meer empor und umschlang immer greller den blauen, eben erwachten Himmel, der im Feuer eiliger Wölkchen aufloderte.

Die weite Wasserfläche ruhte noch. Klare, grüne Wellen schlugen schläfrig gegen den Bord des Dampfers; die schlummernde Kühle der Morgendämmerung lag über dem Meere und den blauen, öden Abhängen der schweren Berge. Nur hoch, sehr hoch oben über dem Meer brannten im blauen Himmel einzelne spitze Gipfel, die von ihrer Höhe herab bereits die Sonne erblickt hatten, wie rote, rosige und goldene Flammenzeichen.

Mishujew kroch schwerfällig auf das Verdeck und sah sich mit müden Augen, in denen die schlaflose Nacht brannte, um.

Auf dem Dampfer schlief man noch. Zwei oder drei Matrosen wuschen mit Schwallen von Wasser das nasse, gleißende Verdeck; aus dem Schiffsraum drang ein unbestimmter weckender Laut herauf. Der Dampfer polterte dumpf und gleichmäßig, unmerklich und eintönig quirlte das Wasser. Es war kalt, und die breiten Schultern Mishujews zuckten in häufigen krampfhaften Schauern. Das verschlafene Gesicht sah wie zerknüllt aus, seine Haare waren zerzaust.

Mit schweren Tritten ging er auf Backbord hinüber und stand dort lange, bald das grüne, aufschäumende Wasser, bald die fernen Bergesgipfel, in denen schon der helle, sonnige Tag erglänzte, regungslos betrachtend.

Dann stieg er auf das obere Verdeck und ließ sich an einem der Marmortischchen, die fest auf ihrem Platz angeschraubt waren und unbequem und kalt wie Eis dastanden, nieder. Die massigen Arme auf dem Marmor verschränkt, sah er mit dem schläfrigen, engen Blick der eingefallenen Augen über das leere Verdeck.

Die Sonne stieg hinter dem Horizont rasch empor, und die Berge glühten schon bis an die Mitte im Morgenglanz. Man sah, wie schnell der kalte, blaue Schatten von einem Abhang nach dem anderen wich, wie er sich in Schluchten klammerte und dort immer tiefer und tiefer hinabglitt.

Auf dem Dampfer regte sich allmählich das Leben. Ein Kellner in weißer Jacke mit widerwärtig großen silbernen Knöpfen rannte vorbei, der erste Offizier, ganz von der Kälte durchschüttelt, ging von der Nachtwache hinunter, zwei junge Mädchen mit kaum erwachten Äuglein kamen aus der ersten Klasse herauf und sahen sich mit einem Ausdruck um, als wären sie furchtbar verwundert, daß es überall schon hell und schön ist, während sie soeben erst aufgestanden sind. Dann kam ein langer Engländer, wie aus einer Karikatur herausgeschnitten, mit Panamahut und streckte sofort die Beine von einer Bank auf die andere, wobei er eine ungeheuer lange Zigarre in Brand setzte. Ein kleiner Knabe in einem Matrosenjäckchen kam aufs Verdeck gelaufen und rannte mit den nackten Waden glänzend in die helle Sonne hinein. Immer mehr lächelnde Menschen, die noch schläfrig die Augen zusammenkniffen, erschienen, und als plötzlich die niedrige Morgensonne vollständig über dem Horizont auftauchte und ihr Licht strahlend über Wellenkämme, Segelstangen, das Verdeck und die grünen Ufer goß, lebte der Dampfer schon sein buntes, müßiges und vergnügtes Leben.

Zwei Französinnen mit lustig neugierigen Augen, wie Vögel, die den Morgen begrüßen, zwitschernd, setzten sich an das Nebentischchen, blickten sich nach rechts und links um, bemerkten den düstern Nachbar, sahen sich gegenseitig an und lachten.

Mishujew wollte fortgehen — ihn berührten alle die Menschengesichter und Menschenstimmen, die doch nicht die Wahrheit aussprachen, und alle die falschen Augen, unangenehm. Aber seine Hände und Füße zitterten, der Rücken schmerzte, in den Augenlidern schnitt es; er wünschte sich überhaupt nicht mehr rühren zu brauchen. Mit kurzem Klopfen gegen die Tischplatte rief er den vorbeistürmenden Kellner an und öffnete bereits den Mund, um sich etwas zu bestellen — als er einen neugierigen Blick der beiden Französinnen auffing, die schon wußten, daß er ein bekannter russischer Millionär sei; er blieb stumm. Ihm schien, daß es ihm in diesem Augenblick genügt hätte, den Schall der eigenen Stimme zu hören, um von einem Anfall blinder, nervöser Wut gepackt zu werden, die ihn in der letzten Zeit oft ergriff. Und er fand, daß es in der Welt nichts Ekelhafteres, Dümmeres und Unnützeres gäbe, als die eigene Stimme.

Der Kellner stand schweigend da und fing an, sich zu wundern. Da nahm Mishujew, für sich selbst unerwartet, den Bleistift und schrieb auf den glitschigen Marmor der Tischdecke:

„Bringen Sie Kaffee.“

Der Kellner legte den Kopf auf die Seite, wie ein zum Aufpicken bereiter Hahn, las mit einem Auge die Aufschrift, wunderte sich, stürzte aber sofort davon.

Mishujew war froh: warum war ihm das nur nicht früher in den Kopf gekommen? Das ist ja ganz einfach ... Man kann völlig verstummen und das Wenige, was man von den Menschen braucht, erhalten, ohne die eigene oder ihre falsche Stimme zu hören. Sogar etwas Neckisches glitt durch Mishujews Kopf, als ob er das Mittel gefunden hätte, sich vor allen zu verstecken.

Als der Kaffee serviert war, wandte er sich dem Meer zu, legte den schweren, kranken Kopf auf die Handfläche und versank in Nachdenken. Zwischen den Fingern, die den Schädel einpreßten, steckte wildzerzaustes Haar, und die Augen sahen trüb und leblos vor sich hin. Viele Tage waren für ihn schon zu einem einzigen Nachsinnen geworden, das sich schwer und mühselig durch den qualvollen Kopfschmerz schob. Und wenn er es in kurzem, krankem Schlaf vergaß und die starren Gedanken verschwanden, kam das unerträgliche, alpdruckartige Empfinden der Leere, in der er krampfhaft hin- und herschlug, sich an etwas zu klammern suchte, aber hilflos immer tiefer und tiefer sank. Im Laufe dieser Zeit hatte er eine bedeutende Entfernung zurückgelegt, eine Menge Menschen, Städte, Berge und Meere gesehen, doch in seinem Gehirn drückte sich alles so blaß und trübe ab, als wären es nur Erinnerungen an längst Vergangenes. Und beharrlich wiederkehrend, mit unentrinnbarer Genauigkeit wie in einem Kreise, in dessen Mittelpunkt sich sein kranker Kopf befand, standen vor ihm, klar, aber mit der verwirrten Klarheit eines Alpdrucks, stets dieselben Gesichter.

Auch jetzt rief Mishujew sie sich auf dem bläulich-grünen Panorama der vorbeischwimmenden Ufer, die er kaum noch bemerkte, eindringlich unter scharfen Schmerzen hervor.

Zuerst tauchte das verwirrte, ratlose Gesicht Nikolajews auf: er stand mitten in seinem Kabinett — dem zerfetzten, brüllenden, kaum bei Bewußtsein befindlichen Mishujew gegenüber —, schaute nach der Seite und knetete mit zittrigen Fingern die Quasten an seinem Gürtel. Mishujew erstickte in blinder Wut und strengte sich an, zu begreifen: wie konnte dieser Mensch, der beste von allen, die er je gekannt und geliebt hatte, nicht die fürchterliche Ungerechtigkeit verstehen, der er zum Opfer gefallen war. Menschen-Bestien, denen er nichts als Gutes getan hatte, denen er sein Leben weihen wollte und um derenwillen er zu allem bereit war, hatten ihn mißhandelt, schlugen ihn, wollten ihn totschlagen! ... Man mußte in Entsetzen geraten, in tolle Wut, bis in die Tiefe der Seele empört sein, — und statt dessen hörte er eine unaufrichtige, verwirrte Stimme, die ihm einredete, sie hätten keine Schuld.

„Das sind Bestien ... sinnlose, gemeine, begehrliche Bestien!“ schrie Mishujew, „was habe ich ihnen getan? warum?“

Aber Nikolajew blickte nach der Seite, und sein Gesicht sah eigentümlich, beinahe angeekelt aus.

„Sie haben dafür büßen müssen ... für einen Menschen ...“ sprach er leise.

„Büßen! ... Kann man denn das abbüßen? ... Sehr schön ... Büßen! Nur schade, viel zu wenig! Froh bin ich darüber, froh, froh!“

Mishujew schrie immer lauter und lauter, als ob er sich beeilte, die Wollust des Hasses, in dem er jetzt aufging, in diesem wilden Brüllen auszugießen. Aber je lauter er Worte voller Wut, die ihm jetzt einzig zu passen schienen, herausbrüllte, desto kühler und angewiderter wurde Nikolajews Gesicht. Sobald es Mishujew bemerkte und ihm voll quälender Bitterkeit vorzuwerfen begann, daß er ihn nicht verstehe und nicht mit seinem Schmerze mitempfinden wollte, sagte der mit stiller, aber grausamer Feindseligkeit:

„Diese Leute haben noch ganz anderes zu ertragen gehabt ... Mag sein, daß es in diesem Fall ein Irrtum war, ein blinder Ausbruch abgerackerter Menschen ... Aber, wenn wir die Wahrheit sagen wollen, was bist du denn für sie? Du bist ihnen doch der gleiche Feind wie alle anderen, wie dein Bruder ...“

„Ich?“ fragte Mishujew mit Entsetzen.

„Nun, du auch! ... Du lebtest auch von ihrem Schweiß und Blut, wie alle anderen ... Wenn du sie nicht noch getreten hast, ihnen sogar mitunter halfst ... so ... ist es doch, wahrlich ... kein großes Verdienst ...“

Das zerschlagene Gesicht Mishujews, mit der überhängenden Lippe und dem angeschwollenen Auge, wurde fürchterlich und bemitleidenswert.

„Also hatten sie, nach deiner Meinung, Recht, selbst wenn sie mich totschlugen?“ fragte er mit Entsetzen. Er rang nach Luft, wie ein Fisch auf dem Sand.

Nikolajew erblaßte, und nur stärker noch zitterten seine Finger, die an den Gürtelquasten zerrten.

„Wenn so, dann bist du ...“ begann Mishujew mit einer Empfindung, als stürze er in einen kalten Abgrund.

Und dann geschah das Ekelhafteste: Über Nikolajews Gesicht glitt ein feiger Zug, seine Augen liefen mit dem beschwerten Ausdruck eines versteckten Gedankens umher, und plötzlich fing er an, falsch tönende, blasse Worte der Versöhnung zu sprechen. Mit der Feinfühligkeit eines überreizten Menschen verstand Mishujew sofort den verborgenen Sinn: Nikolajew fürchtete einen Streit, damit Mishujew sich nicht weigere, Geld für die beabsichtigte Zeitschrift zu geben. Das Weitere spielte sich ganz eigentümlich ab: Mishujew wurde furchtbar verschämt. Er verstummte. Auch Nikolajew schwieg, sein freies, mutiges Gesicht bedeckte unsichere Röte. Eine Minute lang blickten sie einander in die Augen, und im Laufe dieser Minute schmolz und schwand ohne Spur das Band, das sie so viel Jahre verknüpft hatte und das so fest und aufrichtig gewesen war.

Als Mishujew eine halbe Stunde später fortging, waren sie nicht mehr zwei sich nahestehende Menschen, sondern zwei Feinde, die sich haßten und verachteten.

Später fand sich Mishujew im Eisenbahnwagen in einer toten, langen Nacht. Vorher war er wahrscheinlich in sinnlosen, dunklen Krämpfen überall herumgelaufen, bis er sich schließlich bei dem Menschen einfand, dem er sein ganzes Glück genommen hatte. Er wußte selbst nicht, weshalb er diesen Menschen aufsuchte, und erst als er seinen fragenden Blick sah, verstand er trübe: wahrscheinlich wollte er irgend jemanden, und wäre es auch ein Feind, finden, der ihm gerade ins Gesicht, ihm als Menschen ins Gesicht blicken würde.

Maria Sergejewnas Mann stand vor ihm, mager, mit langen, blassen Haaren, und sah ihm unverwandt mit einem Blick, der von unverlöschlichem Haß brannte, in die Augen.

„Was wünschen Sie?“ fragte er mit Mühe. „Ist Ihnen das, was geschah, nicht genug ... Sind Sie gekommen, um mich zu verhöhnen? Meinen Sie, daß Ihnen alles erlaubt ist?“

Mishujew erinnerte sich nicht mehr seiner eigenen Worte, sah aber deutlich, wie sich damals auf dem Gesicht dieses Mannes zuerst Nichtverstehen, dann trübes Begreifen, und schließlich kalter unversöhnlicher, fast triumphierender Hohn ausmalte.

„Aha ...“ sagte er leise, „es hat sich also gezeigt, daß es noch etwas gibt, das man auch um Geld nicht kaufen kann? ... Das ist gut!“

Und er fing an zu lachen, immer lauter und lauter, und jagte ihn schließlich wie einen Hund davon. Und Mishujew ging. Er hatte den lebendigen Faden der ihn zu diesem Menschen geführt hatte, längst verloren, und wußte gar nicht mehr, warum er gekommen war.

Nachts im Wagen schlief er nicht. Verschwommene, aber furchtbare Bilder quälten ihn. Vor seine Augen trat das Bild des großen Mannes, des Menschen, der Leben und Lebenswahrheit kennt. Er wußte nicht, wie und wann ihm der Gedanke gekommen war, zu dem großen Dichter zu fahren, zu dem Greis, dessen Namen er seit seiner Kindheit als das erhabenste Wort der Welt aussprach. Er erinnerte sich nur, daß ihn bei dieser Idee eine ungeheure Leichtigkeit und Hoffnungsfreude ergriff. So leicht und froh fühlte er sich noch, bis er die Antwort auf das abgesandte Telegramm erhielt. Sobald er aber verstand, daß der große Greis bereit sei, ihn zu empfangen, war alles geschwunden. Ihm schien es, daß er nur empfangen würde, weil er der Millionär Mishujew ist, und daß er selbst, der Mensch Mishujew, auch diesen einzigen Menschen nichts angehe und nichts angehen könne. Da war alles plötzlich matt geworden; Mishujew sah, daß es lächerlich war: er brauchte nirgends hinzufahren, niemand konnte ihm etwas sagen, was er selbst nicht wußte. Und ihm kam, zum ersten Mal in seinem Leben, der Gedanke, seinem Vermögen zu entsagen, arm zu werden, wie die meisten Menschen. Aber früher noch, als der Gedanke von ihm begriffen wurde, wußte er schon, daß es ihm unmöglich wäre.

Weshalb? fragte sich Mishujew, mit starrem Blick die dunklen Gespenster, die an dem Wagenfenster vorbeizogen, verfolgend. Und zur Antwort tauchten vor ihm armselige, lächerliche Bilder auf; er, ein Mann, der sein ganzes Leben lang das Allerbeste genoß, was es im Leben gibt, und der es zu genießen verstand, wird plötzlich absichtlich bettelarm, wird in ein Kontor gehen, zwanzig Rubel Monatsgehalt bekommen, und dann ... dann vielleicht ein bescheidenes Mädchen, das auf der Schreibmaschine tippt, heiraten? ... Wie dumm war das!

... Weshalb dumm?

Unbekannt weshalb, aber dumm und lächerlich, wie alles Sentimentale und Zwecklose.

Über seinem Kopf hing eine düstere Riesenmasse, die bekannte Empfindung qualvoller Leere packte ihn von allen Seiten, und plötzlich fühlte er die Nähe des Endes; seitdem sah er es stets vor Augen.

Noch einmal ein krampfhaftes Aufflackern: er erinnerte sich, daß irgendwo weit, in der Ferne, eine Frau lebte, die durch ihn unglücklich geworden war und die ihn einst geliebt hatte. Aber dieses Aufflammen erlosch ebenso schnell, wie alles, was jetzt in seinem Gehirn entstand und verging.

Qualvoll klar wurde ihm nur, daß er nirgends mehr hinzufahren hatte. Stets und überall blieb er, was er war. Nichts konnte das heilen, was in seiner Seele ein für allemal verkrüppelte.

Dieser neue Gedanke, daß es für ihn keinen Platz mehr in der Welt gab, und daß jeder neue Schritt nur ein Glied in der Kette von Leiden und Trübsal bildete, stieg auch jetzt klar und deutlich in sein Gehirn.

Er seufzte schwer, wendete seinen Blick von den vorbeigleitenden grünen Ufern des Mittelmeeres ab und schloß die Augen.

Gleich darauf hörte er neben sich sprechen.

„Wunderbar ist es, wissen Sie,“ sagte eine jugendliche russische Stimme, „wenn man mit einem Expreß von Norden nach Süden fährt ... Dann hat man den Eindruck, als käme der Frühling nicht mit jedem Tag, nein mit jeder Stunde ... man saust ihm einfach entgegen ... Ich kann es nicht ausdrücken, aber es scheint mir, einen größeren Genuß könnte es garnicht geben. Gestern war noch alles grau, kühl, heute gibt es schon geschmolzene Stellen und zerflossenen Schnee zwischen den Birken ... und morgen ist der blaue Himmel da ... Ach, wie schön!“

Mishujew öffnete mechanisch die Augen und blickte auf den Sprechenden. Es war ein ganz junger Mann, wahrscheinlich ein kranker, und er sprach zu einer sehr jungen Frau mit lebhaften, fröhlichen Augen. Sie standen am Bord, und der Wind blies ganz leise in ihr weiches Haar. An ihren strahlenden Gesichtern und daran, wie leicht und freudig ihr Atem ging, verstand Mishujew, ohne daß sie ihre verzauberten Augen von den Ufern, die sie offenbar zum ersten Mal sahen, abwendeten, daß darin wirklich Glück liege.

Dann ließ er seinen trüben Blick wieder über die Ufer gleiten, sah, was er schon hundertmal gesehen hatte, und schloß wieder die Augen, um in seiner wortlosen, schwarzen Leere zu versinken.

Auf der anderen Seite sprachen zwei Französinnen von Stierkämpfen.

„Und bevor ihn der Toreador tötet ... treiben alle Matadore mit ihren roten Mänteln den Stier immer nach einer Richtung ... verstehst du, immer nach einer Richtung ... bis er ganz verblödet wird ... dann erst stößt ihn der Toreador nieder ... Im Grunde ist das gar nicht mal schön!“

Mishujew wußte es.

Im Augenblick drängte sich vor seine geschlossenen Augen ein riesiger Stierkopf mit unbeweglichen, blutunterlaufenen Augen. Er sah ihm gerade ins Gesicht. Mishujew zitterte und erhob sich.

Überall waren Menschen; schwatzende, lachende Gesichter, die ihn mit neugierigen Blicken begleiteten. Er ging still an ihnen vorbei und kam bis an das Hinterteil.

Da stand er am Bord und schaute lange unverwandt auf die schäumige Spur, die der Dampfer hinter sich aufriß. Er sah so aus, als suchte er etwas in diesem trüben, unheimlichen Schaumstreifen. Mit einem Mal kam ihm vor, als habe er es gefunden; er blickte sich um, sah nach dem Himmel, den Bergen und dem Haufen fröhlicher, buntfarbiger Menschen, die in einiger Entfernung von ihm saßen. Und plötzlich, irgendwie seitwärts, ungelenk, stürzte er über Bord, mit dem blitzschnellen Bewußtsein der Ungeschicklichkeit dieser Bewegung und Scham vor den Menschen, die sie bemerken mußten.

Entsetzlicher Lärm schlug ihm um den Kopf. In Nase und Mund drängte eine klebrige, brennende Welle mit scharfem, reißendem Schmerz. Gleichzeitig erschütterte ein wahnsinniges, mit nichts vergleichbares Entsetzen sein Gehirn. Im furchtbaren Krampf sich gegen den Abgrund, der ihn ergriff, wehrend, tauchte er nochmals auf, sah durch den Nebel des Wassers, das ihm von den Haaren rieselte, in weiter Ferne den weißen Fleck des Dampfers und schrie:

„Hilfe!“

Aber sofort begann er in dem trüben grünlichen Abgrund, der ihm die Brust in Stücke riß, zu versinken. Ein Schwarm kleiner Fische sprengte wie Splitter nach allen Seiten auseinander, kehrte aber gleich zurück und starrte von allen Seiten mit runden rätselhaften Augen auf seinen ausgebreiteten schwimmenden Paletot, auf die gespreizten Beine in gelben Lackstiefeln und auf den toten blauen Kopf, der langsam tiefer und tiefer in der kalten grünen Finsternis untersank.

Der Tod des Iwan Lande

I

Gegen den Winter wurde es im Städtchen still. Alles, was in ihm an Jugend und Regsamkeit war, fuhr in die großen Städte. Zu Hause blieben nur die Alten an Körper und Geist. Sie lebten in eintöniger, althergebrachter Ordnung: spielten Karten, gingen in den Dienst, lasen und meinten, daß so das Leben verlaufen müßte. Auf den Straßen lag in reiner Helle das starre Leichentuch des Schnees; in den Häusern regten sich matt und schläfrig Menschen, die mit allem schon zu Ende gekommen waren. Im Frühling jedoch, wenn die schwarze, feuchte Erde zu duften begann und überall das Grün aufleuchtete, die Sonne freudig wärmte und jedes Hügelchen durchtrocknete; wenn abends alles leise, gespannt lauschend dalag, dann brachte jeder Tag irgend einen anderen mit der Bahn nach Hause, und auf den Straßen zeigten sich lebhafte, frische Gesichter, jung und freudig, wie der Frühling selbst. So wie es selbstverständlich ist, daß die Vögel ihre alten Nester wieder aufsuchen, das Gras auf den alten Plätzen wächst, kehrten auch im Frühling gerade alle die jungen, lebensfreudigen Menschen in ihr kleines, stilles, etwas trauriges Städtchen zurück.[2]

Auch in diesem Mai war der Sohn des erst kürzlich verstorbenen Vorsitzenden des Landschaftspräsidiums, der Student der Mathematik Iwan Lande, angekommen.

Den ganzen Tag über saß er bei der Mutter, die ihm mit trüben, müden Tränen vom Tode des Vaters erzählte; erst als es zu dämmern begann, nahm er seine Mütze und ging zum Boulevard hinunter. Die Allee lief am Ufer eines großen Flusses, der unter den Frühlingswassern gestiegen war, entlang. An einer Stelle fiel vom Ufer ein steiler Abhang ab; an seinem Rande standen zwei Bänke aus altem, grünem Holz, deren Bretter in der Feuchtigkeit weich geworden waren.

Hinter dem Fluß fing es an, finster zu werden. Die Ferne rückte mehr und mehr in die dunkle Weite zurück. Auf dem verdunkelten, tiefen Himmel leuchteten still und unmerklich Sterne auf; alles war voll jener feierlichen Stille, in der etwas Unsichtbares majestätisch und ruhig über der Erde zu schweben scheint.

Nur tief unten auf dem Fluß brüllte gedehnt, mit unbegreiflich banger Wehmut die Dampfpfeife eines Schiffes auf, als ob sie vor etwas warnen oder an ein trauriges und unvermeidliches Ereignis erinnern sollte, und auf der breiten, gläsernen Wasserfläche, die eigentümlich hell blieb, während alles von finsterem Schwarz umhüllt wurde, zeigte sich ein unruhiger, schwarzer Flecken, der hinter sich einen gleichmäßigen, breiten Streifen zurückließ.

Auf dem Boulevard war es menschenleer und öde. Nur aus den Fenstern des Klubs fielen gelbe Lichtstreifen, in denen sich lautlose Schatten bewegten, auf die Erde, und dicht an dem Abhang schimmerten undeutlich einige dunkle Gestalten. Zitternde Feuerchen von Zigaretten leuchteten auf, und schon aus der Ferne erschollen Stimmen und Lachen. Lande ging ruhig und still darauf zu und lächelte. Er war elastisch aber schwächlich; seine Schritte waren auf dem weichen Boden fast nicht zu vernehmen.

„... Singen wir ein Lied oder rufen wir mal, daß man es am anderen Ufer hört!“ sprach eine klangvolle, weibliche Stimme; ihre Worte blitzten weich und freudig durch die dichte, warme Luft.

„Fangen Sie nur an,“ antwortete eine frische Männerstimme; jemand lachte.

Lande kam näher und sagte:

„Guten Tag!“

Er sprach leise, aber deutlich und ruhig und wurde sofort gehört.

„Ah, Lande!“ rief ein junger, eckiger Student Schischmarjow freudig und so laut, daß es in den Ohren klang; über die Köpfe der anderen weg reichte er eine große Hand, die aus den kurzen Ärmeln der Litewka herausguckte.

Zart lächelnd drückte ihm Lande mit Vergnügen, lange und fest, die Hand und begrüßte ebenso liebevoll und zärtlich auch die anderen. Alle nahmen freudig und lebhaft seine magere Hand, und in dieser allgemeinen Freude lag so viel Schönes, so aufrichtige Einfachheit, daß selbst ein zugereister Maler Molotschajew, ein großer, starker Mensch, mit breitem Hut, der Lande noch nie zuvor gesehen hatte, von ihr angesteckt wurde. Als der auf ihn zukam und ihn anredete: „Ich bin Lande, machen wir uns bekannt,“ antwortete der Maler:

„Mit großem Vergnügen!“ und blickte ihm lächelnd ins Gesicht, blickte Lande gleichsam durch die reinen und ruhigen Augen in die Seele.

„Ich habe bereits von Ihnen gehört!“ fügte er hinzu.

Seine Stimme war fest und klingend, wie wenn man an eine Messingglocke anschlägt.

„Wirklich?“ fragte Lande, lächelte und wandte sich sofort ab. Aber darin lag keine Gleichgültigkeit, sondern eine gewisse verborgene Intimität, als ob er das längst gewußt hätte.

„Wovon sprecht Ihr denn?“ fragte Lande.

„Marja Nikolajewna möchte zu gern auf den Mond springen!“ gab lachend der kleine Student zurück.

„Das ist nett von ihr!“ Lande nickte ihr liebenswürdig zu.

Ein kranker Student, Ssemjonow[3], hustete heiser.

„Du bist noch immer krank?“ fragte Lande zärtlich und nahm ihn an den Schultern.

„Immer noch ...“ erwiderte Ssemjonow traurig, „wie früher.“

„Na, ist nicht so schlimm!“ meinte Lande, aber seine Stimme zitterte.

„Nein, Bruder, ich bin ganz kaputt!“ erwiderte Ssemjonow, wobei er sein von der Krankheit greisenhaft gerunzeltes Gesicht zu einem unnatürlichen Lächeln verzerrte; durch seine Stimme brach wider Willen fein und grell scharfe Verzweiflung. „Bald wird aus mir das schönste Unkraut sprießen!“

Alle wurden still. Ein kalte, fremde Regung, die ihnen aber doch entsetzlich nahe war, richtete sich in ihrem Innern auf. Deutlich klang die leise Stimme Landes, wie eine schwach aufgezogene Saite, als er sprach:

„Aber nicht doch, Täubchen! So soll man nicht über etwas reden, das niemand weiß. Wir werden alle einmal sterben, nicht ich, nicht du allein, nein alle, und wir werden es alle gleich erfahren, ob es ein Ende, ein Unkraut ist, wie du sagtest, oder ein neues Leben. Alle! Fühlst du denn wirklich nichts hinter diesem Wort? Unmöglich kann doch eine solche Kraft von Leiden, Lieben und Denken spurlos verschwinden, einfach als Unkraut aufgehen. Alle fühlen das auch und glauben es, auch du glaubst es. Nur willst du nichts glauben, weil du dich wie ein Kind vor dem Neuen, Unverständlichen fürchtest. Wir kennen doch den Tod nicht, und an ihm ist uns gerade furchtbar, daß wir ihn nicht kennen ...“

Die naive Aufrichtigkeit, die aber in ihrer Einfachheit feierlich wirkte, mit der Lande seine unklaren, in der Luft wogenden Worte sprach, umzog das gequälte Gehirn wie ein unfaßbar weicher Duft, wie ein warmer Strahl, der die Seele liebkost, das gespannte Denken beruhigt, es auf etwas Unbestimmtes und Helles ablenkt, wie zu einer fernen Morgenröte hin. Eine kindlich zutrauliche Hoffnung leuchtete schüchtern in der dunklen Tiefe des zitternden Herzens auf, und ohne sich weiter in Landes Worte zu vertiefen, sie allein mit dem Gefühl aufnehmend, lächelte Ssemjonow ruhiger und heiterer.

„Selig sind, die glauben!“ sagte er leicht scherzend. Alle atmeten freier auf und kamen wieder in Bewegung. Das unsichtbare, kalte Gespenst trat leise zurück und nahm seine fürchterlich schwere Hand von ihrem Gespräch.

Ein hochgewachsener Mensch, schwarz wie ein Schatten, kam den Boulevard hinunter; seine langen Beine scharrten über den raschelnden Sand.

„Da ist Firsow,“ sagte Lande und rief, ein wenig seine Stimme anstrengend: „Firsow!“

„Wer ist das?“ fragte Molotschajew leise.

„So ein Beamter am Kameralhof ...“ Schischmarjow machte eine wegwerfende Handbewegung. Er schien auf Lande ärgerlich zu sein.

Der schwarze Schatten blieb langsam stehen.

„Das sind Sie wohl, Iwan Ferapontowitsch?“ fragte eine knarrende, hölzerne Stimme mit einem undeutlichen Nebenklang, sodaß man den Ton, der in ihr lag, nicht erkennen konnte.

„Ich,“ rief Lande zurück.

Füße schlürften, und der flache Schatten verwandelte sich allmählich in einen langen, dürren Menschen. Firsow kam näher.

„Willkommen bei uns, Iwan Ferapontowitsch, willkommen!“

Mit übertriebener Freundlichkeit setzte er zu sprechen ein und drängte sich über die Füße der Sitzenden hinweg zu Iwan Lande. Es machte den Eindruck, als ob er sich Mühe gab, nach Möglichkeit zu lärmen und begeistert zu sein.

„Passen Sie auf! ... Sie!“ bemerkte unfreundlich Ssemjonow.

„Guten Abend, Firsow! Wie geht es Ihnen?“ sagte Lande mit festem Händedruck.

„Ja,“ antwortete Firsow, die Hände reibend, „wie sollte es mir schon gehen? Dienst und wieder Dienst. — So geht das ganze Leben! Doch natürlich lebe ich auch im Geiste. Wenn ich in der Kirche bin, da erneuere ich mich.“

Durch seine Stimme klang, während er von seinem Leben sprach, kaum hörbar ein falscher Ton von Selbstbeweihräucherung, als wollte er damit vor Lande prahlen.

„Reich ist Ihr Leben gerade nicht!“ bemerkte Schischmarjow mit unverhohlenem Spott.

Mit einer langsamen, fast knisternden Bewegung wandte sich Firsow zu ihm.

„Meinen Sie?“ Mit zusammengepreßten Zähnen fügte er hinzu: „Einen größeren Reichtum als die Gemeinschaft mit Gott kenne ich nicht. Sie denken darüber wahrscheinlich anders.“

In seiner Stimme zitterte leise eine versteckte Drohung, doch Schischmarjow blickte ihn verächtlich an und wandte sich ab.

„Tja ...“ sagte Firsow gedehnt nach einer Pause. „Iwan Ferapontowitsch, ich hatte neulich hier auf dem Gericht als Geschworener zu tun. Eine ganz interessante Sache kam uns in die Hände. Verstehen Sie, ein Arbeiter war wegen schweren Diebstahls angeklagt ... früher war er hier auf der Dampfweberei als Meister gewesen. Ich glaube, Sie kennen ihn übrigens: Tkatschow heißt er ...“

„Tkatschow?“ rief Lande erschrocken. „Das ist ja nicht möglich!“

„Jawohl,“ meinte Firsow vergnügt. „Wegen Diebstahls. Die Sache ist an sich eine Bagatelle, aber sein Verhalten ... Denken Sie sich nur: er wollte keinen Verteidiger haben; er plaidierte selbst. ‚Ich habe gestohlen, natürlich,‘ sagte er, ‚aber, meine Herren Geschworenen, wer von Ihnen ohne Sünde ist, der soll mich als erster verurteilen.‘ Eine Gotteslästerung, im Grunde genommen! Aber doch verstand ich da erst, welche Macht in diesen Worten liegt ...“

„Auf die Worte kommt es hier gar nicht an!“ warf Ssemjonow ein.

Firsow sprach in äußerster Entrüstung:

„Nein, gerade auf diese Worte! Nur auf die Worte!“

Und er versuchte unklar auseinanderzusetzen, daß gerade diese Worte wie ein Wunder, als „Gotteswort“, ganz unabhängig von dem Menschen, der sie aussprach, um sie auf sein eigenes, bitteres Leben zu beziehen, „auf die Herzen schlugen“. Aber alles, was er sprach, war so trocken und ohne Leben, daß ihm niemand zuhörte.

Marja Nikolajewna streckte ihren Arm, der in dem weiten, weißen Ärmel wie der Flügel eines großen Vogels aussah, in die Luft und rief fröhlich:

„Der Mond, der Mond geht auf!“

Firsow brach jäh ab und blickte sie gekränkt an.

„Tja, allerdings ... Der Mond ist wahrscheinlich wichtiger!“

„Alles ist wichtig,“ sagte Lande beruhigend und lächelte zärtlich.

Aus der tiefen Finsternis lugte hinter dem schwarzen Horizont etwas Rotes hervor und wurde allmählich runder und größer. Im dunklen Wasser glänzten sofort Funken auf, und eine feine, zittrige Brücke von Gold spannte sich geradlinig von einem Ufer zum anderen, wie eine geheimnisvolle, wortlose Aufforderung, in eine neue, azurne Welt hinüberzusteigen.

„Wie schön!“ rief Marja Nikolajewna mit voller, begeisterter Stimme, und freudig leuchtete diese frische und kräftige Stimme über den Abhang.

Lande richtete seinen Blick auf sie und schaute auf ihr junges, schönes Gesicht, das mit tiefen Augen an ihm vorbei in die Ferne sah.

„Iwan Ferapontowitsch,“ sagte Firsow mit trauriger, knarrender Stimme, während er sich erhob, „wir werden uns gewiß noch sehen ... Jetzt muß ich gehen.“

„Gewiß sehen wir uns noch!“ sagte Lande, indem er weich und schwach seine Hand mit den kalten, feuchten Fingern drückte.

Firsow verabschiedete sich schweigend von den andern und ging, die Füße über den Boden schleifend, fort.

„Welch Vergnügen macht es dir, mit dem anzufangen!“ Schischmarjow zuckte kühl die Achseln, als er fort war. „Ein Mucker, ein Geizhals ... treibt sich in Kirchen umher und quält zu Hause sein Kind.“

„Er ...“

„Ach, sprechen wir nicht davon, bitte!“ fiel ihm Schischmarjow geärgert ins Wort.

Lande lächelte traurig und verstummte.

Der Mond tauchte über der Erde auf und hing rund und schweigsam in der Luft.

„Hier, malen Sie mal so etwas, Molotschajew!“ sagte Marja Nikolajewna, ohne den Kopf zu wenden. „Ich werde Sie dann gleich für einen großen Künstler halten!“

Molotschajew blickte schweigend auf den Mond, seine Augen weiteten sich und wurden weicher und tiefer, als ob er etwas Geheimnisvolles und Großes sähe, das für niemanden außer ihm sichtbar war.

Schischmarjows Augen folgten ihm mit verächtlicher Aufmerksamkeit.

„Gleich wird er es malen!“ Er wandte sich an Lande und fing eilig, scharf und besorgt an, zu sprechen. „Lande, wir hatten auf der Werschilowschen Mühle folgende Geschichte: Werschilow wollte seinen Arbeitern faules Fleisch geben, und da haben sie ihm die Fenster eingeschlagen und den Geschäftsführer durchgeprügelt ... Zweiundzwanzig Mann sind verhaftet.“

„Na, Lande, hatten die Leute recht?“ fragte Ssemjonow mit gutmütiger Ironie.

„Ja ...“ antwortete Lande fest.

Ssemjonow stieß einen unbestimmten Laut aus und wurde düster.

„Ihre Familien sind in einer entsetzlichen Lage ... Eine furchtbare Geschichte!“ Schischmarjow schüttelte den Kopf. „Wir haben hier einiges für sie getan, — — aber ...!“

Alle schwiegen. Lande blickte auf den Boden und bewegte ein wenig seine dünnen Finger.

Ssemjonow hustete leise; der Schall hallte deutlich über dem Abhang wider. Unmerklich, wie auf Schleichfüßen, stieg der Mond über etwas Schwarzem, Unbegreiflichem immer höher und höher; je höher er stieg, desto begreiflicher und heller wurde dieses Schwarze, und bald lag das gegenüberliegende Ufer klar, wenn auch gespensterhaft, vor ihnen, und weiße Nebelstreifen wurden auf den Wiesen sichtbar. Auch aus dem Flusse hob sich der gleiche, kalte Nebel, und weiße, schweigsame Schatten begannen über das kalte, tiefe Wasser zu gleiten.

Feucht und kalt wurde es. Ssemjonow knöpfte seinen Paletot zu, stülpte sich die Mütze tief über den Kopf, sodaß seine Ohren tief in ihr steckten, und stand auf.

„Ich muß nach Hause ...“ sagte er. „Es wird kalt ... Und du, Ssonja, kommst du mit?“

„Nein,“ antwortete nachdenklich ein Mädchen, so dünn wie ein Grashalm, das die ganze Zeit unbeweglich dicht über dem Abhang gesessen hatte.

„Wie du willst ...“ sagte Ssemjonow gleichgültig mit trüber Stimme. „Es ist kalt ... Komm mal zu mir, Lande!“

„Gut!“

„Auf Wiedersehen!“

„Was?“ fragte Molotschajew mechanisch.

„Der Maler ist in Gedanken versunken! Auf Wiedersehen!“

Ssemjonow bückte sich krankhaft und ging langsam den Boulevard entlang.

„Höre, Ljonja ...“ meinte Lande plötzlich langsam; es war merkbar, daß er die ganze Zeit darüber nachgedacht hatte. „Man muß diesen Menschen helfen ...“

„Ja, was möglich war, ist getan worden. Es gibt kein Mittel“ antwortete Schischmarjow.

Lande stand auf.

„Weshalb keine?“ sagte er nachdenklich. „Du mußt morgen zu mir kommen ... Ich gehe jetzt. Meine Mutter wartet auf mich.“

Es wurde bald sehr kalt. Die Erde wie der Himmel, das Wasser, die Gesichter der Menschen — alles wurde hellblau und schien durchsichtig und kühl zu sein, wie blaues Eis. Schischmarjow ging mit Ljonja nach der einen Seite, Lande, Molotschajew und Marja Nikolajewna nach der anderen.

II

„Ich werde nach Ihnen einen Akt malen!“ sagte Molotschajew, während er sich nahe an das Gesicht Marja Nikolajewnas, das hell vom Mond bestrahlt wurde, neigte.

„Warum nicht gleich zwei!“ lachte sie, und ihre Augen funkelten vor fröhlichem Vergnügen.

Lande hob den Kopf, sah sie an und sagte:

„Das ist gut ...“

Er wollte ihnen sagen:

... Das ist gut, daß ihr beide so jung, so schön und daß ihr so ineinander verliebt seid! Er sprach aber nicht weiter und lächelte nur.

„Was wollen Sie also für die Arbeiter tun?“ Marja Nikolajewna erinnerte sich an Landes Worte und machte ein ernstes Gesicht.

Lande schlug leise die Hände auseinander.

„Auch nichts besonderes ... nur so, für die allererste Zeit ... ich habe Geld ...“

Molotschajew blickte ihn an. — Von diesem mondbeleuchteten, mageren, gar nicht schönen Gesicht mit den großen, herrlichen Augen wehte eine schlichte und unentwegte Entschlossenheit auf den Maler hinüber. Ein Gefühl unangenehmen, unbestimmten Neides regte sich in Molotschajew, als ob sich in der Tiefe seiner Seele irgend ein versteckter, trüber Geist unter einem Lichtstrahl zusammenzöge.

„Wollen Sie es hingeben?“ fragte er, mit einem mißtrauischen Zug um die Lippen.

„Ja,“ antwortete Lande.

„Das ganze Geld?“ fragte Molotschajew wieder, als hörte er einen schlechten Scherz.

„Ich weiß wirklich nicht, mein Täubchen ...“ antwortete Lande gutmütig, dabei selbst überlegend, als ob er sich mit ihnen beratschlagte. „Vielleicht auch das ganze ... je nachdem es notwendig ist.“

„Und Sie ... haben Sie viel Geld?“ sagte Molotschajew mit verstellter Ironie ... Er macht sich originell! dachte er, wurde aber sofort ärgerlich, weil er fühlte, daß er nur aus Neid die Unwahrheit dachte.

Marja Nikolajewna sah Lande aufmerksam an.

„Ich habe ...“

Lande strich die Mütze zurecht und fuhr ruhig fort: „Nicht sehr viel ... ich habe vier Tausend.“

Und wieder mußte Molotschajew denken:

... Hat doch eine wirkungsvolle Pause gemacht!

Dann blickte er zufällig auf Marja Nikolajewna und vergaß an Lande.

„Sie haben ein Gesicht wie aus einem Stuckschen Gemälde wenn Sie lachen oder wenn Sie nachdenklich werden!“ sagte er mit begeisterter, aufrichtiger Stimme, und seine Augen glänzten freudig.

Marja Nikolajewna lachte; ihre weißen Zähne schimmerten unter dem Mondlicht für einen Augenblick hell und geheimnisvoll zwischen den scharfumrissenen, halbgeöffneten Lippen. Lande blickte sie an und sah, daß ihr Gesicht in der Tat weiß und kräftig, zart und brutal war, wie auf einem Gemälde von Stuck. Und sie war auch sonst so hochgewachsen, schlank und kräftig; ein frischer und erregender Duft strömte von ihr aus.

„Wollen Sie ihnen wirklich gleich alles geben?“ fragte Marja Nikolajewna Lande und versuchte ihr Gesicht vor Molotschajew zu verbergen.

„Gleich alles geben!“ lächelte Lande freudig und zärtlich ihrer Schönheit und ihren klaren Augen zu.

Auch seine Stimme war so ruhig und innig, daß Marja Nikolajewna für einen Augenblick nachdenklich wurde. Irgend eine warme und sanfte Saite hallte feinfühlig im Innern ihrer Seele wider.

... Reizend ist er und ganz eigenartig ... Ein Seliger. Sie erinnerte sich wie Ssemjonow einmal Lande genannt hatte ... Nein, er ist kein Seliger.[4]

Sie wünschte, daß er es nicht wäre. Nicht weil er vor ihr stand. Aber in dieser Nacht stieg das Verlangen in ihr auf, daß jenes Machtvolle und Schöne, das im Mondenschein, im gestirnten Himmel, in der feierlich-ruhig schlafenden Erde um ihr war — jetzt auch, im Lebendigen und Bewußtsein schlicht und einfach aufleuchte.

„Ich muß hier ...“ Lande war unschlüssig. Er wäre am liebsten mit ihnen zusammengeblieben.

„Adieu!“ Molotschajew reichte ihm kühl und hastig die Hand.

Lande überlegte; dann ging er still lächelnd fort.

... Laß sie schon ...! sagte er sich; seine Seele wurde weit und gerührt, als umarmte er die ganze Welt.

Marja Nikolajewna ging lange schweigend neben Molotschajew; feierliche Stille schien auch ihre Seele zu überwältigen.

„Dieser Lande ist wohl übergeschnappt!“ meinte Molotschajew. „Ein Narr ... Vielleicht nicht mal ein Narr, ganz im Gegenteil!“ fügte er mit einer Grimasse hinzu; doch plötzlich fuhr er nachdenklich fort:

„Sein Gesicht ist nicht schön, aber sehr interessant.“

„Sie wissen nur von Ihrer Kunst etwas; — nichts mehr!“ sagte Marja Nikolajewna, lachte halblaut und wandte ihr Gesicht dem Mond zu.

„Nein, ich sehe alles Schöne!“ erwiderte Molotschajew, wobei er in diese unbedeutenden Worte einen besonderen Sinn legte, der aber ihr nahe und verständlich war.

„Und außer dem Schönen?“

„Weiß es der Teufel! Wohl nichts!“ Molotschajew zuckte die eine Achsel.

Marja Nikolajewna lachte. Unter der weißen Bluse hob sich durch das Lachen ihre Brust; sie sah bei dem Mondenschein, scharf umrissen von tiefen, feuchten Schatten, fast nackt aus.

Mit weitgeöffneten Augen schaute Molotschajew sie an; es trieb ihn gebieterisch zu ihr. Er beugte sich nieder und sah von der Seite ihre dunklen, glänzenden Augen, die nicht auf ihn blickten, die wortlos zu warten und etwas geheimnisvoll zu verheißen schienen.

Es war still. Nur irgendwo fern hinter den düsteren und kalten Häusern schlug einmal ein kleines Hündchen an.

Eine seltsam gespannte Erregung steckte in allem.

„Leben möchte ich!“ sprach Marja Nikolajewna erst leise, aber ihre Stimme wurde wie von selbst lauter und stärker. „Etwas tun möchte ich, lieben möchte ich ...“

Plötzlich brach sie in unerwartetes klingendes Lachen aus. „Auf den Mond springen möchte ich, wie es Schischmarjow nennt!“

„Schlafen, schlafen gehn!“ fügte sie mit singender Stimme hinzu. „Das ist es! Auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen ...“ antwortete Molotschajew immer noch zitternd und seufzte tief auf.

Sie standen schon an der Pforte zu ihrem Haus.

„Auf Wiedersehen!“

Leichte Schritte klangen hinter dem Zaun. Irgendwo schnappte einmal und ein zweites Mal ein Schloß; man hörte, wie die Tür schwer nach innen nachgab, jemand schläfrig irgend etwas fragte, und wieder alles still und leer wurde.

Molotschajew ging lange durch die leeren, vom Mondlicht überschwemmten Straßen, sah auf die ferne Mondesscheibe und dachte an nichts, obwohl er voller Freude war.

III

Als Lande nach Hause kam, saß seine Mutter am Tisch; sie wartete augenscheinlich schon lange mit dem Abendbrot auf ihn.

Zu Hause war es seit dem Tode ihres Mannes leer und öde; sie tat sich selber leid. Ihr schien, daß alles in der Welt zu Ende, gestorben sei; ihr Leben war durch eine dunkle und verhängnisvolle Macht in zwei gleiche Hälften gespalten worden. Das, was früher in ihm langweilig und schwer gewesen war, vergaß sie und sah hinter sich furchtbar weit, alles nur freudig und warm, wie von hellem, wärmenden Licht durchströmt. Jetzt aber blieb es kalt und leer. Nur wenn sie an den Sohn dachte, flimmerte etwas Lichtes vor ihr auf, und sinnvoller wurde alles, was sie tat.

„Wanja?“ fragte sie leise hinter der Lampe.

„Ich bin es, Mütterchen!“ antwortete Lande, warf seine Mütze auf den Tisch, ging auf sie zu und setzte sich neben sie, den Kopf gegen ihre volle, aber nicht mehr elastische Schulter, die warm wie eine Ofenbank war, gelehnt. Sie streichelte ihn über den Kopf, über die lockeren, sehr weichen und hellen Haare und dachte, daß ihre ganze Zukunft und Freude, ihr Glauben und Sinn, ihr ganzes unbegreifliches, fürchterliches Leben nur noch in diesem Sohne ist.

„Willst du essen?“ fragte sie und legte ihm die Hand auf die Schulter.

„Ja.“ Lande fing an, ihre volle Hand mit den kurzen, verschrumpften Fingerchen still und zärtlich zu küssen.

„Mein lieber Junge!“ sagte die Mutter mit Tränen in den Augen.

„Mutter, was hat uns Vater eigentlich hinterlassen. Alles in allem?“

Die Mutter war über die Frage nicht im geringsten verwundert, weil Lande darüber klar sein mußte, ob er weiter studieren könnte oder nicht.

„Nicht viel, Wanja ...“ sagte sie traurig, während sie an etwas anderes dachte. „Hier das Haus, und dann die Pension hat man mir, Gott sei Dank, nicht zu schlecht bewilligt. Aber an Bargeld haben wir nur vier Tausend.“

„So dachte ich es auch. Das Haus und die Pension gehören dir selbstverständlich, Mama, und das Geld, erlaube, daß ich es jetzt nehme — ich brauche es ...“ Lande empfand im gleichen Augenblick, daß ein schweres, banges Gefühl seine Seele durchströmte.

„Ah ja ... nimm, nimm es ... es ist dir ja auch vermacht worden ...“

Die Mutter sah Lande nachdenklich an und strich mit der Hand über sein Haar.

„Was willst du denn damit anfangen?“ fragte sie still und zärtlich, ihm wie einem Kind zulächelnd.

Nicht für einen Augenblick kam Lande der Gedanke, ihr es zu verschweigen. Er sah ihr in die Augen schlicht und klar, sein Gesicht wurde heller, und er antwortete freudig:

„Ich will es den Familien der Arbeiter geben, die Werschilow auf die Straße geworfen hat.“

„Was?“ fragte die Mutter. Sie lächelte und sagte: „Ein Dummchen bist du, ganz ein Kind, obgleich du schon einen tüchtigen Bart hast.“

Lande lächelte traurig und schwieg.

„Mach aber nicht etwa Ernst damit! Von dir wäre es schon zu erwarten!“ sagte sie, plötzlich mit einer ganz anderen, mit banger und warnender Stimme. Doch ehe sie noch zu Ende gesprochen hatte, sah sie an seinen klar und fast zu weit geöffneten Augen, daß er es wirklich im Ernst meine. Eine Minute schwieg sie und starrte ihm erschrocken ins Gesicht, dann meinte sie, mehr um sich zu beruhigen: „Unsinn! Und was wird denn aus dir selber?“

„Irgendwie wird es sich machen ...“ sagte Lande traurig. Er fühlte, wie eine unübersteigbare, eisige Mauer unsichtbar zwischen ihnen aufstieg.

„Unsinn!“ wiederholte die Mutter hartnäckig, als ob sie sich gegen etwas Feindseliges und Böses wehren müsse. Und tatsächlich waren auch seine Absichten für sie unannehmbar, weil dadurch alles in Nichts aufgelöst wurde, womit sie ihr langes, emsiges Leben aufgebaut hatte.

Er antwortete nicht mehr. Er schwieg und fühlte, wie sich ein blutender Fetzen aus seinem Herzen riß.

Als er nachts im Bett lag, dachte er:

... Was tun? Die Mutter wird es nicht verstehen und nicht verstehen wollen. Es wird für sie ein furchtbarer Schlag sein; aber ich kann nicht anders ... Wir würden uns einander in den Weg stellen, und da ich sie liebe, müßte ich ihr nachgeben. Und das darf nicht sein! Also muß ich von ihr fort ...

Ein heißes Gefühl entstieg diesem Entschluß; doch in der dumpfen Finsternis verlöschte es sofort wieder; er empfand sich plötzlich einsam, von allem losgerissen. Zum ersten Mal in seinem Leben sollte er die Verbindung mit einem unendlich geliebten Menschen abbrechen; es schien ihm unsagbar schwer, er bangte sich davor. Da sah er plötzlich den todkranken Ssemjonow auf sich zukommen; eine unerklärliche Erregung durchwühlte ihn.

... Hier liege ich nun, dachte er, allein mit der Überzeugung, daß ich alles zerbreche, daß ich Kummer und Schmerz zufügen muß; und vielleicht ist dennoch ... trotz allem ... nichts weiter um mich, nichts vorhanden, nur Leere, unendliche Leere ... Da sind irgendwo Sterne, nichts als Sterne! Und ich bin nicht einmal ein Sandkorn, viel weniger, unendlich weniger, mein Leben ist in der Ewigkeit kaum ein Augenblick, fast als ob es gar nicht existierte ... Und ich lebe, glaube, gebe selbst von meinem Leben ab ... Was tue ich denn?

Die Haare bewegten sich auf seinem Kopfe, das eine Bein zitterte unaufhörlich. Für einen Augenblick glaubte er, in irgend einer kalten, toten und majestätisch-furchtbaren Leere zu hängen. Unten und oben, alles ist dunkel und leer. Dann erinnerte er sich an ein Kätzchen, das ein Kutscher Werschilows in seiner Gegenwart am Genick packte, hoch hob und dann gegen den Boden schleuderte. Das Kätzchen war auf der Stelle tot. Ihm kam es vor, als ob er selbst, am Genick gepackt, in der Leere hänge, dem Tode nah, und hilflos seine Glieder bewege. Und gleich wird er niedergeschleudert werden, ein donnernder Schlag trifft ihn, und alles wird still, unbeweglich, dunkel sein. Das Gefühl der Einsamkeit wurde für seine überreizten Nerven unerträglich; es trieb ihn, von jemandem zu hören, daß er nicht in dieser Welt, die riesig wie eine Ewigkeit ist, allein sei.

Krampfhaft warf Lande den Kopf zurück. Seine aufgerissenen Augen starrten gespannt in einen schwarzen Abgrund, der sich vor ihm auftat, sein ganzes Wesen zerfloß in überquellender Verzückung; unwillkürlich begann er, zu einem zu beten:

... Herr, Herr ... Herr Gott ...

Seinen Kopf durchwirbelten in unglaublichem Chaos Gedanken, flimmerten, schlugen zusammen, verwickelten sich ineinander; alles in ihm ging in dem Gebet auf. Ihm kam nichts als diese Worte in den Kopf; in ihnen drängte sich sein ganzes Selbst zusammen, und in dem Übermaß der Spannung, die bis an die Grenzen des Ertragbaren ging, wuchs etwas Machtvolles, Großes, das unmöglich zwecklos sein konnte, heran.

... Herr, Herr!

Und er fühlte, daß ihm jemand zuhöre, gebieterisch und ruhevoll.

Plötzlich begann in dem Wirbel der Gedanken, unerwartet, unbewußt für ihn selbst, ein einziger Gedanke hervorzutreten, zu erstarken und aufzuleuchten.

... Ich bete, während ich in einem warmen Bett liege; und die Arbeiter Werschilows schlafen jetzt nach einem schweren, auswegslosen Tag auf kahlem Fußboden ...

Er blieb etwas stehen und lauschte erwartungsvoll, in ihm und um ihn. Alles war still, gespannt still, und Lande vernahm jeden seiner schweren und krampfhaften Atemzüge.

... Ja, was soll denn daraus werden? Was soll ich tun? fragte er den in ihm um Rat. Und tief in seiner Seele entstand, erst unmerklich, dann immer stärker und klarer, der abgerissene Wunsch, aufzustehen und sich auf den kalten Boden zu legen.

... Doch darauf kommt es ja nicht an! sagte er sich.

Der Trieb wurde immer größer, überwältigend groß und fing an, ihn zu quälen.

... Herr! er versuchte dagegen anzukämpfen und wieder zu beten, aber der Aufschrei hallte leer und tot in seiner Seele wider.

Da sprang er, von einem augenblicklichen Verlangen hingerissen, rasch vom Bette auf, sank in die Knie und legte dann die heiße Stirn auf den kalten Boden. Ringsherum war alles ebenso still und finster.

Seine Augen wurden plötzlich feucht; in seiner Seele wurde es ruhig; es ging wie ein Aufseufzen nach sehnsüchtiger Erwartung durch seinen Körper. Und sofort mahnte er sich daran, morgen den Arbeitern das Geld zu geben, ihnen alles abzugeben, was er nur geben kann, sich selbst, das Freudigste und Lichteste in seiner Seele fortzugeben. Wie er es tun würde, das wußte er noch nicht und an das dachte er auch nicht, wie er auch nicht mehr daran dachte, daß er die Mutter betrüben, viele Menschen gegen sich aufbringen und sein eigenes Leben erschweren konnte.

Ein volles, frohes Gefühl erwachte in ihm und erfüllte alles um ihn her mit breiten, klaren Lichtwellen. Die Furcht schwand wie Rauch. Vom Boden stieg Kälte auf, und sein Körper zitterte; aber es machte ihn glücklich, als ob er sich dadurch mit jemandem vereinigte und aufhörte, einsam zu sein. Und dann trat alles in Nichts zurück: die Härte des Fußbodens wie seine Kälte, die Finsternis, sein eigener, halbnackter, lächerlich zusammengekauerter Körper — alles trat in Nichts zurück und wurde unfaßbar, überflüssig.

... Herr, mein Herr! betete Lande wieder mit unstillbarem Verlangen.

Und in diesem angespannt freudenvollen Zustand, der dem größten, tiefsten Glücke glich, erstarrte er allmählich, wurde ruhig, verlor die Besinnung und war auf dem Boden eingeschlafen, als ein grauer, durchsichtiger Schein sich durch das Fenster schlich.

Es war das letzte Mal in seinem Leben, daß ihm Zweifel gekommen waren, daß er für einen Augenblick in der Voraussicht der schweren Wandlung beirrt wurde. Nun öffnete sich eine helle und gerade Bahn in seiner Seele.

IV

Am Morgen des nächsten Tages ging Lande ins Gefängnis. Hinter der Stadt glänzten die Mauern schon von weitem auf; in scharfem Weiß hoben sie sich längs der breiten Flußböschung von einer zarten, grünen Wiese ab. Die in der Sonne glänzenden Bajonette einsamer, schwarzer Soldatengestalten durchstachen kräftig die blaue Luft.

Lande wurde zu dem Inspektor geführt; einem Mann mit einem langen, so silberweißen Vollbart, wie er auf den flachen Ssusdaler Heiligenbildern gemalt wird. Der Inspektor starrte Lande höflich an und bewegte mit fragender Miene seine dünnen, mißtrauischen Lippen.

„Mein Name ist Lande. Sie kennen mich wahrscheinlich? Ich möchte sehr gern den Tkatschow sehen — denjenigen, der vorgestern vor Gericht freigesprochen wurde. Ich habe erfahren, daß er noch hier sitzt.“

Der Gefängnisinspektor mit dem Heiligenbilderbart machte eine leise Bewegung mit den knochigen Fingern.

„Das können Sie ... Er ist noch bei uns. Sehen dürfen Sie ihn, natürlich!“ wiederholte er, als ob er sich selbst noch einmal davon überzeugen wollte. „Ich lasse Sie zu ihm begleiten ... Oder soll er vielleicht hierher gerufen werden?“

„Ich würde lieber selbst zu ihm gehen, — er wird vielleicht gar nicht zu mir kommen wollen. Ich bin mit ihm eigentlich so gut wie unbekannt.“

Der Inspektor fixierte Lande scharf.

„Ssidorow, führe den Herrn hin!“ sagte er, indem er plötzlich die Augenbrauen barsch zusammenzog und aufhörte, Lande anzustarren.

„Wie dürfte ich denn über ihn verfügen, wissen Sie?“ sagte ihm Lande vertrauensvoll. „Ich möchte, sehen Sie, ihm vorschlagen ...“

„Das können Sie alles mit ihm selbst besprechen!“ herrschte ihn der Inspektor noch barscher an und machte sich mit Papieren auf dem Tisch zu tun.

Der Inspektor tat Lande seiner Grobheit und Kälte wegen leid; er beeilte sich.

Ein alter, rasierter und borstiger Soldat in schwarzer, sackartiger Uniform, die unter den Ärmeln zerrissen war, schob an Landes Seite den Aufschlag mit den verschlissenen Litzen in die Höhe und sagte:

„Zu Befehl, Euer Wohlgeboren! Bitte, Herr!“

Lande folgte ihm nach dem Hof.

Der Hof war sauber und groß, aber trotz des weichen Frühlingshimmels, der über ihm lag, war die Luft in ihm schwül. Es roch nach saurer Kohlsuppe, Flickstuben und dem intensiven, penetranten Geruch des Abortes.

„Schön ist es bei Euch gerade nicht ...“ meinte Lande.

Ssidorow ließ die kleinen Bauernaugen über den Hof schweifen, als suche er in komischer Ratlosigkeit, was an ihm eigentlich nicht schön sein könnte.

„Jawohl!“ antwortete er trotzdem so eilig und lustig, als ob es ihm ein großes Vergnügen wäre, mit Lande einer Meinung zu sein.

Lande sah, wie schwer und fest der Soldat mit den ungeschlachten Bauernfüßen ausschritt, und fügte hinzu:

„Ein schlimmer Dienst ist das hier: Menschen zu überwachen.“

„Jawohl,“ antwortete Ssidorow ebenso bereitwillig.

„Besser wär’s doch, im Heimatsdorf auf dem Feld zu arbeiten!“ fuhr Lande voll Mitleid mit dem Soldaten fort.

„Ja,“ meinte Ssidorow, „auch auf dem Feld zu arbeiten, das ist gut.“

Von seiner lustigen, bereitwilligen Stimme kam auch Lande in frohe Stimmung.

„Warum wird Tkatschow bisher noch nicht freigelassen? Er ist doch schon freigesprochen?“

„Er will von alleine nicht gehen!“ antwortete Ssidorow lächelnd.

„Warum?“

„‚Ich habe nirgends hinzugehen,‘ sagt er. So ’ne Geschichte. Ein komischer Kerl!“

Lande wurde nachdenklich; ein trauriger Schatten fiel ihm auf Gesicht und Seele.

Sie hatten den Hof passiert und gingen durch einen engen gewölbten Korridor; dort schien es nach dem hellen Sonnenlicht im Hof auffallend dunkel; überall sah man nur kalten, schmutzig-weißen Stein und altes, grünes Eisen.

Schmutzig und häßlich gekleidete Menschen jeden Alters, aber alle mit gleich blutlosem, ungesund aufgedunsenem Gesicht schlenderten teilnahmslos aus einer Tür in die andere. Sie begleiteten Lande mit unfreundlichen und frechen Blicken, blieben an der Wand stehen und schlichen dann wieder in die Tiefe der feuchten Korridore; in ihren sinnlosen, gleichgültigen Bewegungen lag etwas furchtbar Aufpeitschendes. In einer Zelle versuchte jemand zu singen, aber man konnte merken, daß er darauf mehr Kraft verwendete, als nötig war, und das Singen selbst glich mehr einem Fluchen — so wild war die Weise und so viel häßliche Worte enthielt das Lied.

„Tkatschow!“ rief Ssidorow fröhlich in den Korridor hinein.

„Hallo, Tkatschow! He ... du! ... Man ruft dich! Hörst du nicht?“ brüllten ungeordnet mehrere Stimmen, als ob sie froh wären, nicht mehr ziellos, sondern mit einem bestimmten Zweck schreien zu können.

An der Schwelle einer Zelle erschien ein Mann in einer zu großen Gefangenenjacke, mager, schwarz. Sein dunkles Gesicht mit hervortretenden Backenknochen sah Lande düster und mißtrauisch an.

„Ich möchte zu Ihnen ...“ Lande reichte ihm die Hand und lächelte vertrauensvoll; er bemühte sich, durch dieses Lächeln Tkatschow näher zu kommen und verständlicher zu werden.

Linkisch und doch, als ob er über den Besuch gar nicht verwundert wäre, gab Tkatschow die Hand.

„Ich wollte mit Ihnen über einiges sprechen,“ fügte Lande hinzu.

Tkatschow blickte ihn noch mißtrauischer an, biß auf seine dünnen, trockenen Lippen, trat dann unwillig zwei Schritte zur Seite und sagte mit gebrochener, etwas dumpfer Stimme:

„Hier wohne ich ... da ...“

Lande trat hinter ihm in die Einzelzelle ein. Es war ein gewölbtes Zimmer, so klein, feucht und dumpf, daß einem der Gedanke, hier wohne ein ausgewachsener Mensch und nicht etwa ein kleines verjagtes Tierchen, sehr sonderbar vorkam.

Tkatschow überlegte eine Weile, zog die Augenbrauen zusammen und schob dann Lande einen Schemel hin.

„Setzen Sie sich bitte ...“ sagte er mit unbestimmbarem Ausdruck.

Lande ließ sich nieder und sah Tkatschow weich an.

„Was wünschen Sie von mir?“ fragte Tkatschow, während er unter diesem Blick unruhig die Augenbrauen zusammenzog.

Wenn er es tat, nahm sein Gesicht nicht einen herben, sondern einen bemitleidenswerten Ausdruck an, wie er gekränkten Kindern eigen ist.

„Ich wünsche nichts ...“ erwiderte Lande gutmütig. „Ich habe nur von Ihnen gehört und bin gekommen.“

„Wozu denn aber?“ meinte mißtrauisch Tkatschow.

„So, mir tat es weh, daß Sie so erbittert und unglücklich sind; ich dachte mir nun, daß es Ihnen vielleicht leichter wird, wenn ich zu Ihnen komme ...“

„Mitleid? Brauche ich nicht!“ erwiderte Tkatschow abgerissen und dumpf und wandte sich nach dem Fenster ab, während seine schmutzigen, mageren Finger an die Tischkante drückten.

Lande ergriff leise Tkatschows Hand.

„Wozu sagen Sie das? ... Das ist doch nicht wahr! ... Sie sind doch unglücklich und erbittert, und gestohlen haben Sie nur, weil Sie wenig Mitleid und Liebe in Ihrem Leben gesehen haben. Ich bin zu Ihnen ohne jeden Nebengedanken gekommen, mit offenem Herzen, mit aufrichtigem Wunsch, Ihnen durch irgend etwas zu helfen ... Warum verletzen Sie mich also?“

Tkatschow blickte scheu auf Landes Hand, die ihn weich und vertrauensvoll bei den schwarzen Fingern hielt, und errötete plötzlich.

„Niemanden brauche ich ...“ erwiderte er leise aber trotzig und zog unauffällig seine Hand zurück. „Das ist alles dummes Zeug ...“

„Warum?“ fragte Lande mit schmerzlich erhobenen Augenbrauen.

Tkatschow wandte ihm seinen Kopf zu und lächelte verächtlich und angestrengt.

„Ihre naive Frage bringt mich in eine dumme Stellung,“ versetzte er in hochtrabendem Ton, durch den aber deutlich die Erbitterung klang. „Übrigens, aus welchem Grunde sollte ich mich denn mit Ihnen einlassen!“ Er zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Fenster, wo Tauben girrten, ohne daß man sie hinter dem Gitter und den Scheiben vernehmen konnte.

„Da ... ich füttre sie, meine Freunde!“ sagte Tkatschow nach dem Schweigen und lächelte verlegen mit einem Winkel seiner dünnen, abgemagerten Lippen.

„Die Tauben? ... Ja! ...“ Lande war über dieses Lächeln erfreut und lächelte selber. „Gewiß sind sie Freunde! Es ist doch nicht wahr, daß es nur ewige Feindschaft und die Notwendigkeit der Vernichtung gibt ... Eine solche Notwendigkeit kann es nicht, darf es nicht geben! ... Man muß im Gegenteil zu schützen suchen ... alle den Einzelnen und der Einzelne alle ... und Freunde sein, sogar Brüder! Ich glaube, wissen Sie, daß jetzt alles falsch ist, daß alles nicht so ist, wie es sein sollte. Man muß alles verbessern, abschließen, das ist eben die Aufgabe des Menschen! ... Ich glaube ...“

„Ich verstehe Ihre schönen Phrasen nicht!“ versetzte Tkatschow trotzig und düster, aber, wie es Lande vorkam, absichtlich schroff.

Lande lächelte traurig.

„Ich verstehe nicht, besser zu reden ... Verstehen Sie mich denn wirklich nicht? ... Ich glaube, doch! ... Ich wollte sagen, daß es das Böse und den Haß an sich gar nicht gibt, daß sie nur eine Folge der Arbeit an der Weltgestaltung sind und daß man sie bestätigen muß ...“

„Sieh mal!“ versetzte Tkatschow spöttisch. „Wie einfach!“

„Nein, nicht einfach ... schwer, furchtbar schwer ist es! Aber nicht unmöglich: kein Haß und Zorn ist so stark, daß man ihn nicht überwinden könnte!“

„Wozu erzählen Sie das alles?“ fiel ihm Tkatschow scharf ins Wort.

Lande beeilte sich, ihm zu antworten, als fürchtete er, daß Tkatschow fortgehen könnte. Er ergriff wieder seine Hand. „Ich sage es Ihnen, weil ich sehe ... es scheint mir, daß Sie aufgehört haben, an diese Möglichkeiten zu glauben, Sie meinen gewiß, daß das Böse ewig ist, daß das Böse überall triumphiert und daß man es nicht bekämpfen, sondern ihm nachgeben soll! Und das wäre schrecklich! ... Aber es ist nicht so. Sie haben einfach den Mut verloren, Sie sind verbittert worden, Sie verdichten jetzt selbst künstlich die Atmosphäre der Feindschaft um sich, als ob Sie in ihr erst richtig zu atmen gelernt haben ... Ach, Tkatschow, was für ein furchtbarer Irrtum ist das! Und Sie fühlen ihn doch: es wird Ihnen doch schwer, so zu atmen, bedrückend schwer. Ja?“

Tkatschow schwieg düster und atmete schwer durch die Nase.

„Man soll nicht Feindschaft mit Feindschaft vergelten!“ fuhr Lande, Glanz in den offenen Augen, fort, als ob er über seine Worte gar nicht nachzudenken brauche, als ob er überhaupt nicht spräche, sondern sänge, das Lied gleich aus dem Herzen quellen ließ. „Nur so wird sie überwunden. Und nie fühlte man solche Leichtigkeit, solche Befriedigung, als dann wenn Sie das Feindselige in sich überwinden, ohne auf fremde Feindschaft in gleicher Weise zu antworten. Weist Sie denn dieses Gefühl nicht dorthin, wo der Weg ist? Welche Freude ist es, das zu fühlen! Welche Marter könnte man nicht um dieser Freude willen ertragen! Und mögen auch die Menschen zu Ihnen schlecht, ja grausam sein; — die äußeren Verhältnisse können ja bei allen Menschen gar nicht gleich sein, und mit ihnen kann man sich, im Grunde genommen, leicht versöhnen, wenn nur ...“

„Haben Sie jemals gehungert?“ fiel ihm plötzlich Tkatschow bissig ins Wort. — „Wie, Herr Lande?“

„Ach, wozu, wozu reden Sie so!“ in Landes Stimme lag ein Flehen, das sich in die Seele bohrte. „Sie wissen doch, daß man Hunger und Qualen und selbst den Tod für seine Idee ertragen kann! ... Starben doch Märtyrer unter den entsetzlichsten Qualen! ...“

„Das sind eben Märtyrer!“ Tkatschow warf den Kopf in den Nacken.

„Meinen Sie denn, Tkatschow, daß die Märtyrer irgendwelche besonderen Menschen waren? Nein, ich, und Sie, und jeder, selbst der geringste Mensch, wird alles für eine Idee ertragen, wenn es nur seine Idee, sein Gefühl ist! Stimmt das nicht?“

„Vielleicht wahr ...“ meinte Tkatschow düster.

„Ja, wahr!“ Landes ganzes Gesicht leuchtete freudig auf. „Die Wahrheit lebt im Menschen, diese riesige Kraft, gerade im Menschen lebt sie! Und wenn dem so ist, dann kann der Mensch alles erreichen, dann kann jeder alles! ... Gegen jede Macht ankämpfen und siegen ... Warum haben Sie gestohlen, Tkatschow?“

Tkatschow erzitterte, fing an blaß zu werden, so daß man sehen konnte, wie ihm allmählich das Blut aus dem Gesicht wich, und starrte wütend, mit weit aufgerissenen Augen, aus denen furchtbare Qual hervorlugte, Lande an.

„Was geht das Sie an?“ schrie er ihm heiser zu, seinen langen, schwarzen Hals ausstreckend.

„Ich weiß warum,“ sagte Lande mit zitternden Lippen, „ich möchte darüber mit Ihnen sprechen ...“

Unverwandt durchstach Tkatschow mit einem furchtbaren Blick seine Augen. Nahe vor sich sah Lande die dunklen Pupillen, die völlig rund geworden waren; tief in ihnen wurzelte die ohnmächtige, unausreißbare Kränkung und Wut. Aus irgendwelchem Grunde schien Lande, daß ihn Tkatschow, wenn er jetzt blinzelt, niederschlagen oder ihm ins Gesicht spucken werde. Aber er blinzelte nicht.

Plötzlich senkte Tkatschow die Augen.

„Nichts wissen Sie!“ sagte er leise, grob und herausfordernd.

„O doch, ich weiß!“ erwiderte Lande fest. „Ich kenne Ihr ganzes Leben, ich habe viel von ihm gehört ... Und Sie haben selbst von vielem gesprochen, als Sie damals vor Gericht die Rede hielten ... Man hat es mir wiedererzählt. Sie haben alles so richtig und lebend geschildert, so daß schwerlich ...“

Ein törichter, prahlerischer Zug trat in Tkatschows Mienen.

„Und Sie meinten wohl, nur Ihr, die Herren Studenten, versteht zu reden? Nein, die Zeiten sind vorbei! Jetzt ...“ er redete fort, ohne bei der Sache zu bleiben.

„Sie haben doch auch nur gestohlen, obgleich Sie nie ein Dieb gewesen sind ...“ Lande hatte auf das Letzte nicht mehr gehört. „Ich weiß, Sie hatten stets ein bitteres Leben, und doch haben Sie weder gestohlen, noch tranken oder rauchten Sie. Ich weiß auch, wie Sie das Evangelium studierten, wie Sie aufhörten, Fleisch zu essen ...“

„Das ist dummes Zeug!“ erwiderte Tkatschow mit unnatürlicher, geheuchelter Verachtung.

„Nein, gewiß nicht dummes Zeug! Es ist eine gewaltige Tat, wenn der Mensch so an sich arbeitet! Dazu gehört eine große, eine ungeheure Kraft. Und Sie hatten sie, Tkatschow ... Warum fehlt Sie Ihnen jetzt?“ Lande fragte fest, flehend und griff nach seinen Händen. „Warum kämpften Sie nicht bis zum Ende mit sich?“

„Bis zu welchem Ende? Gestatten Sie die Frage, Herr Lande?“ Tkatschow verzog sein Gesicht zu einer schadenfrohen, aber gleichzeitig bemitleidenswerten Grimasse; er riß seine Hände los.

„Bis zum Sieg, Tkatschow! Alles kann der Mensch besiegen, wenn er um seine Idee kämpft. Sie hatten die Idee, daß alle Menschen Eins sind und daß das Leben und das Gefühl auch Eines, und schön sein muß! Und Sie würden gesiegt haben, Tkatschow — Sie sind ein starker Mensch! Warum haben Sie also den Mut verloren, was ist geschehen?“

Tkatschow schwieg. Auch Lande schwieg mit eigentümlichem Zittern. Die ungeheure Erregung, in der er sprach, erschöpfte ihn. Seine hellen Haare klebten an der Stirn, Lippen und Hände bebten und nur die Augen leuchteten wie früher, in Liebe und Mitleid.

Tkatschow schwieg ziemlich lange.

„Hören Sie, Herr Lande,“ sprach er mit erhobenem Kopf, doch ohne Lande anzublicken. „Sie sagten eben, daß Sie mich kennen; es ist richtig. Sie kennen ... kennen mein ganzes unglückseliges Leben und all das Leid, das in mir steckt ... Ja ... aber auch ich kenne Sie nicht weniger! Jawohl! Sie sind ein guter Kerl, — alle sagen das von Ihnen und ich weiß es auch. Besser als Sie gibt es bei uns in der Stadt, und vielleicht überhaupt keinen Menschen. ... Ich glaube, daß Sie vielleicht ein heiliger Mensch sind, weil Ihre Seele einfach ist ... gerade so wie Glas! Erlauben deshalb, daß ich frage: wo blieben Sie denn, als all das mit mir vorging?“

Lande hob die Hand.

„Nein, erlauben Sie, daß ich es jetzt ausspreche!“ schnitt ihm Tkatschow mit fester, gehässiger Stimme das Wort ab. „Alles haben Sie in meinem Leben bedeutet, Herr Lande, wenn ich die Wahrheit sagen soll. Ich kenne Sie schon lange. Sie waren damals noch ein Kind; ich war auch gerade noch nicht groß, als ... Sehr vieles haben Sie damals für mich bedeutet! Erinnern Sie sich aber, Herr Lande, wie ich zu Ihnen wegen Büchern kam? Sie waren damals in der Abreise, schnürten im Vorzimmer Ihren Koffer ... Ich hatte vorher drei Jahre auf Sie gewartet, und Sie — was haben Sie mir gesagt?“

Lande wurde in seiner qualvollen Erregung wie von Krämpfen durchschüttelt.

„Tkatschow, Tkatschow, das ist richtig ... aber ... doch ...“

Tkatschow wandte ihm ein schwarzes, steinernes Gesicht zu und sagte durch die gepreßten Zähne mit schneidender Stimme: „Sie haben mir gesagt, Sie wollten abreisen ... hätten keine Zeit, versprachen später einmal mit mir zu reden! Und das war alles ... Und ich erwartete damals von Ihnen ein Wort für mein ganzes Leben ... Irgendwas: entweder verstanden Sie mich nicht, sahen nicht, daß es in mir echt war, oder Sie merkten es, aber Ihre Abreise, Ihre privaten Angelegenheiten waren Ihnen wichtiger. So, Herr Lande, nicht? Oder verstehe ich es vielleicht falsch?“

„Bei Gott schwöre ich Ihnen,“ rief Lande, „daß ich geblieben wäre, wenn ich Sie damals verstanden hätte, Sie waren allein schuld, Tkatschow! Sie mußten offener, energischer an mich herankommen, gerade an die Seele pochen! Sie sahen doch, daß ich Sie nicht verstand!“

Tkatschow lächelte langsam und böse.

„Ich sah es! — Das ist es eben, daß ich es sah. Das war es auch, was mich ein für allemal von meinem Weg abbrachte!“

Lande riß weit die Augen auf.

„Hätten Sie Ihre Abreise, Ihre Interessen, einfach für wichtiger gehalten, Herr Lande, als daß ein Mensch mit seiner offenen Seele zu Ihnen gekommen war, so wollte ich wahrscheinlich auf Sie spucken und mir sagen: ‚Ein wertloses Menschenvieh, wie alle!‘ Aber das war es nicht. Ich sah, daß Sie mich einfach nicht verstanden, meine Qual nicht sahen ...“

Lande preßte die Finger zusammen.

„Jedem Menschen kann das doch passieren! Es gibt einen Zustand, den die Seele im Menschen schläft ... So schlief ich damals auch. Und Sie ... Warum haben Sie mich nicht aufgeweckt, nicht aus dem Schlaf gestoßen?“

Wieder lächelte Tkatschow langsam und böse.

„Und ich dachte so, Herr Lande ...“ seine Stimme klang wie eine feierliche, längst erwartete, in der Seele brennende Beichte. — „Hier ist ein Mensch — der Beste, — solchen zweiten werde ich in meinem ganzen Leben nicht finden, selbst ihm an die Seele zu pochen, ist schwer ...“

„Nicht immer, Tkatschow ...“

„Na, nicht immer ... Dafür ist es ja diesmal ein besonderer Mensch. Und auch er muß manchmal ordentlich gerüttelt werden, bis er den fremden Schmerz empfindet! ... Was ist dann erst mit den anderen? ... Die werden sich schließlich wohl gar nicht aus dem Schlummer stoßen lassen? ... wie, was meinen Sie?“ fragte Tkatschow spöttisch.

„Nicht möglich! Man muß rütteln ... man erreicht es schon!“

„Aber auf diese Weise, wenn man bei jedem Menschen einzeln pochen soll, werden die Kräfte nicht ausreichen. — Was soll dann noch zum Leben bleiben?“

Tkatschow verstummte triumphierend.

Landes Mienen wurden von einem hellen Schein überzogen: „Tkatschow, schon das ist doch ein ganzes Leben. Der Nachklang dieses Pochens allein ist schon ein Glück; ein packendes, ungeheures Glück, zu wissen, daß wir, wenn auch nicht in alle Herzen, doch in das gemeinsame Herz der Menschheit dringen, daß das von uns begonnene Pochen nicht abstirbt, daß andere ebenfalls pochen werden, nach uns, daß es von Herz zu Herz dringt, und einst ... Tkatschow! ...“

„A, ha—a!“ Tkatschow brach in ein heiseres Lachen aus, — vielleicht war es auch ein Schmerzensschrei. „Fju!“ Er stieß einen grellen Pfiff aus.

„Ihnen kommt es lächerlich vor, Tkatschow?“ fragte Lande mit Tränen der Begeisterung in den Augen. „Sie glauben nicht?“

„Und Sie meinten ja? Das heißt also nur in dem Wahn leben, im Leiden sein Glück zu suchen? Und ich selbst, ich soll ebenso sterben, wie ich lebte? Als ob ich gar nicht gepocht hätte? Oho! Trinken — Sterben, nicht Trinken — auch Sterben! Suchen Sie sich irgendwo anders einen Narren dazu!“

Seine Stimme wurde überlaut, frech und leer. Und wenn Lande noch eine Hoffnung gehabt hätte, daß Tkatschow ihn verstehen würde, so schob sich jetzt, beim Schall dieser Stimme, mit einem Mal eine unsichtbare, undurchdringliche Mauer empor, stand unüberwindlich zwischen ihnen, und ihre Kühle drang den beiden bis ins Herz hinan.

„Tkatschow,“ begann Lande zaghaft und ratlos. „Kommen Sie doch zu sich. Begreifen Sie denn nicht? ... Gehen Sie von hier fort, — diese entsetzliche Umgebung hat auf Sie eingewirkt!“

„Wo soll ich hingehen?“ spottete Tkatschow.

„Irgendwohin ... zu mir ... Ich habe für Sie Geld mitgebracht ... Sie nehmen es und reisen von hier ab, vergessen alles; und wenn die Zeit vergangen ist, sind Sie zu sich gekommen ...“

„Geld?“ fragte Tkatschow mit zusammengekniffenen Augen, und plötzlich rief er, entsetzlich grob, schroff und verzweifelt: „Ich brauche kein Geld von dir! Mit Geld will er mir das Maul stopfen! Schere dich fort! ...“

„Tkatschow, Tkatschow, warum? Lieber Tkatschow, ich habe doch ...“ stammelte Lande und griff krampfhaft nach seinen Händen.

Tkatschow riß sich heftig los, wandte sich schroff um und ging rasch aus der Zelle. Er kehrte jedoch sofort zurück. Auf der Schwelle blieb er stehen, blickte Lande einige Sekunden unverwandt und scharf an und sprach dann leise, wie vor sich hin:

„Der Selige ...“ Noch leiser, aber beißend als ob es ein feines Gift wäre, das er ausfließen ließ, fügte er hinzu: „Die heilige Seele auf Stelzfüßen ... Schafskopf! ...“

Dann machte er kurz, militärisch kehrt und ging den Korridor entlang.

„Tkatschow!“ rief Lande verzweiflungsvoll. „Tkatschow!“

Tkatschow antwortete nicht und ging fort.

V

Spät abends kam Schischmarjow zu Lande. Der kleine Student mit den hastigen Bewegungen und der scharfen Stimme war von dem Entschluß Landes, sein Geld fortzugeben, vollständig hingerissen. Aber er hatte ein ganz eigentümliches Gefühl: das, was Lande tun wollte, entzückte und rührte ihn, er empfand eine ungewöhnliche Erhebung, aber zur gleichen Zeit war es ihm peinlich, als ob er selbst etwas schlechtes beging. Vergebens suchte er sich damit zu beruhigen, daß er nichts mit Landes Entschluß zu tun hätte; er konnte die peinliche Stimmung nicht überwinden. Er trat eilig ins Zimmer ein, drückte Lande die Hand und sagte, während er es vermied, ihm gerade in die Augen zu sehen:

„Nun, hier bin ich ...“

Lande öffnete sofort die Tischlade und nahm das Geld heraus — vier Pakete lange, schöne Scheine, die unter seinen dünnen Fingern trocken raschelten.

„Ich wollte dir sagen ...“ begann Schischmarjow plötzlich, als ob er von hinten einen Stoß bekäme, mit erzwungener Stimme. „Vielleicht gibst du nicht alles? ...“

Lande erwiderte einfach, als ob er an etwas anderes dachte: „Das bleibt sich gleich; wenn schon, dann Alles.“ Er überlegte, schwieg eine Weile und fügte hinzu: „Ljonja, ich werde nicht mit dir gehen, verteile es selbst; ich werde dir sagen, warum: Mutter ist furchtbar böse auf mich, wegen dieses Geldes ... ich muß sie beruhigen, mit ihr sprechen ...“

Schischmarjow nahm unschlüssig das Geld.

„Siehst du, auch deine Mutter ist unzufrieden ...“

Über Landes Gesicht zog ein blasses aber festes Lächeln.

„In solchen Fällen darf man nicht an eine Mutter denken!“ sagte er ernst.

Schischmarjow rührte sich immer noch nicht; er fühlte sich immer peinlicher.

„Ich weiß wirklich nicht ...“ meinte er. „Wie soll ich denn allein ...“

Lande lächelte wieder; jetzt hell und zärtlich.

„Irgendwie ...“ er machte eine gleichgültige Handbewegung.

„Dein Herz wird dir schon sagen. Und es ist ja auch weiß Gott keine schwierige Aufgabe.“

„Na, wie du willst!“ Schischmarjow willigte ebenso unentschlossen ein und nahm seine Mütze. Auf einmal tat ihm Lande so leid, daß ihm fast die Tränen kamen. Im Zimmer war es etwas ungemütlich, leer, man hatte den Eindruck mönchischer Einsamkeit. Lande sah krank und trübe aus. Gegen seinen Willen fand Schischmarjow seltsam und unbegreiflich, daß ein Mensch, der eine so gute, große Tat vollbrachte, nicht Freude und Stolz in seinen Mienen zeigte.

„Er ist ein sonderbarer Mensch!“ dachte Schischmarjow, und dieser Gedanke schwächte in ihm, fast unmerklich für ihn selbst, das Gefühl für Lande und dessen Tat ab.

„Auf Wiedersehen, mein Lieber!“ sagte Lande.

„Wanja!“ rief hinter der Tür die zitternde Stimme der Mutter.

Ein schmerzlicher Zug strich um Landes Lippen.

„Geh, Lieber!“ sagte er leise, aber fest zu Schischmarjow.

Schischmarjow stand verlegen da. Das Geld brannte ihm in der Hand, als wenn es gestohlen wäre.

„Du mußt das einfach lassen!“ sagte er mit einem leichten Unterton trüben, unangenehmen Ärgers.

Lande schüttelte den Kopf.

„Nein,“ sagte er, „es muß getan werden. Dort ist entsetzliche Not, Kummer ... Der Mutter scheint nur, daß sie leidet ... Ich mußte doch so wie so dieses Geld für mich verwenden.“

Landes Mutter trat ein. Ihr weiches, von Trauer und Gutmütigkeit durchschienenes, altes Gesicht sah jetzt aufgeregt und böse aus. Sie atmete schwer und häufig, so daß ihr Atmen in dem ganzen Zimmer hörbar war.

Lande ging ihr rasch entgegen, nahm ihre beiden Hände und legte sie auf seine Brust.

„Mama ...“ sagte er, ihr flehend in die Augen blickend. „Nicht doch!“

Schischmarjow verbeugte sich linkisch.

Die Mutter riß ihre Hände los.

„Was nicht?“ begann sie mit schroffer und lauter Stimme, der man anhören konnte, wie viel sie geschrieen und geweint hatte. „Du hast kein Recht dazu! Der Vater hat nicht sein ganzes Leben lang für irgendwelche Bettler gearbeitet! Du Dummkopf!“

„Geh, Ljonja!“ sagte Lande traurig zu Schischmarjow.

Die Mutter sprang erregt auf und stellte sich in den Weg, obgleich sich Schischmarjow noch gar nicht vom Fleck gerührt hatte. Ihre grauen Haare zerzausten sich auf ihrer Stirn. Gierige Angst lugte aus den rund gewordenen, fast wahnsinnigen Augen.

„Sie verleiten ihn dazu!“ schrie sie wütend. „Wie unterstehen Sie sich! Ich werde Sie anzeigen. Das ist Plünderung ... Sie haben sich schon gefreut!“ ...

„Ich ...“ stotterte Schischmarjow verwirrt und verletzt.

„Geben Sie das Geld her!“ kreischte die Greisin auf und riß rasch das Geld mit gekrümmten Fingern, die mit einem Mal knochig und hakenartig, wie Krallen aussahen, aus Schischmarjows Hand.

Auf dem Gesicht des kleinen Studenten zeigte sich wütende Empörung. „So nehmen Sie es doch,“ brüllte er, die Fäuste ballend, so laut, daß man es auf der Straße hören konnte.

Im Augenblick wurde es still. Die Greisin sah ihn mit offenen, erschreckten Augen an. Schischmarjow wandte sich zu Lande hin, bewegte die Lippen, rang nach Atem; ein Krampf verzerrte sein linkes Auge und die eine Backe.

„So geht’s denn doch nicht,“ sagte er mit Mühe. „Adieu ... ich gehe!“

„Geh, Ljonja ...“ antwortete ihm Lande ebenso traurig. „Sei mir nicht böse!“

Schischmarjow machte eine Bewegung, setzte eine ratlose Miene auf, als ob er noch etwas hinzufügen wollte, sagte aber nichts und ging fort. Im Zimmer wurde es still. Die Mutter Landes hielt die Hand mit dem festgepreßten Geld tief in der Tasche; und Lande sah sie traurig und sanftmütig mit offenen Augen an. Sie waren zu zweit in dem kleinen Zimmer, aber jeder fühlte sich, als ob er nur allein wäre.

„Schlage dir gefälligst diese Dummheit aus dem Kopf!“ sprach endlich die Mutter mit verkniffener Stimme.

„Es ist keine Dummheit ...“ Lande schüttelte den Kopf.

„Wem willst du damit imponieren?“ fuhr die Mutter spöttisch fort. „Schämst du dich nicht? Wozu hast du es gebracht!“ Ihre Worte klangen plötzlich weinerlich; gleich nahm sie auch die Hand aus der Tasche und fing an, zu weinen.

Lande schwieg, bitter die Hände ineinander gefaltet. Im Zimmer war es dunkel und grämlich.

„Du wirst mir später selbst einmal danken!“ sagte die Mutter leise.

„Ich weiß nicht. Höre, Mama, wenn du mir nicht das Geld gibst, werde ich es nicht von dir verlangen. Mag es für dich bleiben ...“

Die Mutter fühlte sich gekränkt und beleidigt. „Wie du das nur sagen kannst!“ rief sie mit Tränen der Entrüstung, während sie vorwurfsvoll die Hände ineinander schlug. „Will ich es denn für mich? ... Wozu brauche ich es denn! ... Für mich ist die Zeit zu sterben ... Was du da sprichst, überlege nur!“

Lande schwieg. Dann erst sagte er: „Ich weiß. Doch nicht das will ich sagen. Ich liebe Sie ja, Mama, ich liebe Sie herzlich. Aber Sie glauben, daß Sie mich vor dem Untergang bewahren, indem Sie mir dieses Geld zurückhalten; und ich glaube, daß Sie mich dadurch zugrunde richten. Meinen Sie denn wirklich, daß ich das Geld jemals für mich behalten werde? Ich würde es doch fortgeben, ganz gleich, ob diesen Leuten oder anderen, wenn ich es eben meinem Gefühl nach tuen müßte ... Und daher ...“

„Du bist am Ende ganz verrückt?“ rief die Mutter entrüstet. „Und wovon würdest du leben?“

„Irgendwie schlage ich mich schon durch; darüber braucht man nicht nachzudenken!“ sagte Lande überzeugt.

„Du willst mir wohl ewig auf der Tasche liegen?“ fragte sie giftig.

„Nein, ich werde von Ihnen fortgehen. Es ist für uns schwer, zusammen zu leben, es geht nicht gut: Sie werden mich nicht so leben lassen, wie ich möchte; und ich werde Sie quälen ... Lieber will ich allein leben.“

Die Mutter riß die Augen auf; das Blut schwand langsam aus ihrem Gesicht.

„Wanja ... was sprichst du!“ stammelte sie entsetzt.

Lande seufzte still, kam auf sie zu, sank in die Kniee und fing an, ihre tränennasse Hand zu küssen. Sie blickte auf seinen Kopf mit den weichen, schwachen Haaren, und fühlte, wie ein unüberwindliches Unglück auf sie heranrückte.

„Weine nicht, Mutter, du teure! ... So wird es besser sein ...“ sprach Lande kaum vernehmbar mit schwacher, zitternder Stimme.

VI

Marja Nikolajewna saß am offenen Fenster und schaute unverwandt, in Gedanken versunken auf die lange Straße, deren eine Seite von grünlich-blauem Mondenschein überflutet war, während die andere im tiefen Dunkel lag. Fern flimmerten hell und kühl die Sterne, schwarze Bäume standen wie versteinert im Mondschein. Es war leer und kühl.

Aus der Ferne ertönten einsame Schritte, die still und deutlich auf den Brettern des Bürgersteigs widerhallten. Ein unsichtbarer Mensch kam durch die Nacht, immer näher und näher. Es war sonderbar und geheimnisvoll, diese Schritte zu hören, als ob sich in der kühlen, klingenden Stille die Töne von selbst näherten und ein eigenes einsames Geheimnis mit sich trügen.

Marja Nikolajewna lehnte weit aus dem Fenster und als sich in der Dunkelheit ein schwarzer Schatten abzuheben begann, sah sie genauer hin, erkannte ihn und rief: „Iwan Ferapontowitsch, sind Sie das?“

Lande fuhr zusammen und blieb stehen, dann lächelte er freudig und ging auf sie zu.

„Wo gehen Sie hin?“ fragte das Mädchen, als er direkt vor ihr stand.

„Nach Hause ... zu Ssemjonow. Ich wohne doch jetzt bei ihm ... vorläufig ...“ erwiderte Lande schwach und müde.

Er stand dicht am Fenster, und das Mädchen sah ganz deutlich sein eingefallenes Gesicht mit unnatürlich großen Augen. Das Gefühl neugierigen Mitleides, jenes Gefühl, welches Lande stets in ihr hervorrief, erhob sich in ihrer Brust, ebenso rein, jung und kraftvoll, wie diese junge Brust selbst.

„Iwan Ferapontowitsch ...“ fragte sie weich; ihr war vor ihm bange. „Ist es wahr, daß Sie mit Ihrer Mutter vollständig gebrochen haben?“

Doch sofort erschrak sie und sprach hastig weiter, als ob es ihr um die unwillkürliche Frage leid tat: „Ich frage Sie, weil Sie und Ihre Mutter mir so leid tun ... und bei Ihnen darf man doch nach allem fragen ... nicht wahr?“

„Mich kann man fragen ...“ antwortete Lande mechanisch. Er hatte offenbar ihr Erschrecken nicht bemerkt; er sagte traurig und nachdenklich: „Ich habe mit ihr nicht gebrochen, — ich habe nie und mit niemandem gebrochen ... Meine Mutter liebe ich auch jetzt — vielleicht sogar mehr noch, weil sie unglücklich ist ... Ich bin nur fortgegangen, um allein zu leben ... Da mußte ich eben wählen: entweder nicht so leben, wie mich meine Überzeugung heißt, oder fortgehen ... Ich glaube, Sie hätten ebenso gehandelt ... wie ich.“

Marja Nikolajewna sah ihn mit zutraulichen Blicken an. „Nein, ich könnte es nicht ... wie käme ich dazu!“ wehrte sie mit schwachem Lächeln ab.

„Wissen Sie,“ fuhr Lande, der nicht zugehört hatte, fort, und ein Ton feierlicher Trauer lag in seiner Stimme, — „es ist leichter das Leben zu opfern, als ... doch nein, ich verstehe nicht, es auszusprechen!“ ... er lachte plötzlich kurz und traurig auf und verstummte.

„Wo waren Sie denn?“ fragte Marja Nikolajewna nach einer Pause.

„Im Kloster,“ antwortete Lande.

„Haben Sie zu Gott gebetet?“ fragte scherzhaft das Mädchen.

„Nein, ich ging so hin ... dort ist es so still ... Und übrigens, ich habe auch gebetet ...“ erwiderte Lande ernst, als ob er ihren Scherz weder verurteilen, noch an ihm teilnehmen könne.

„Glauben Sie denn an Gott?“ fragte sie mit jugendlich leichtsinniger Neugierde.

Lande blickte sie an.

„Es ist unmöglich, nicht an Ihn zu glauben!“ erwiderte er still und überzeugt, fast verwundert.

„Warum unmöglich? Ich z. B. glaube nicht an ihn.“ Marja Nikolajewna senkte ein wenig den Kopf, als ob sie auf die süßen Töne ihrer Stimme lauschte.

„Sagen Sie das nicht!“ versetzte Lande heiß und innig. „Das ist nicht wahr. Alle glauben, und auch Sie glauben ...“

Er streckte plötzlich seine Hand aus und ergriff ihre feinen, zarten Finger. „Blicken Sie nur auf und Sie werden sehen, daß es unmöglich ist, nicht zu glauben ... Schauen Sie in den Himmel, schauen Sie!“

Unwillkürlich hob Marja Nikolajewna den Kopf, und von unten erschienen Lande ihre großen Augen voll tiefer Sehnsucht.

Kein Ende sah man für die Weite des Himmels und keinen Boden gab es für die strahlende Tiefe. Je mehr sie hineinsah, um so ferner und höher, unfaßbar, gingen die Sterne fort und schwanden gegenstandslos in dem unübersehbaren Raum. Es war, als ob das geheimnisvoll-feierliche Schweigen irgend eine unergründliche schwingende Bewegung durch seine ewige Kühle zum Stillstand gebracht und gefesselt hätte. Eine überdenkliche Kraft hob ein gewaltiges, undurchdringlich durchsichtiges Gewölbe über den Weltenraum und erstarrte in ungeheurer Spannung.

„Wie furchtbar ist es da!“ sagte Marja Nikolajewna plötzlich mit bebender Stimme. „Und wenn das einmal zusammenstürzt ... Herrgott, könnte man sich denken, vorstellen, was da sein würde! ...“

Lande lächelte zärtlich und still; leise fuhr er gleichmäßig streichelnd über ihre Hand.

„Nein, es stürzt nicht zusammen!“ sagte er. „Schauen Sie, was für eine erdrückend grenzenlose Größe das ist, und wir sind so klein, so klein; wir können nicht einmal den tollen Wirbel sehen, in dem alles dahinsaust. Vergegenwärtigen Sie das sich nur: wie klein muß doch der Mensch sein! In jedem Augenblick, in jedem millionsten Teil eines Augenblickes trägt ein furchtbarer Rausch das Riesengebäude der Welt in unbegreifliche Fernen; wir aber sehen nur Starrheit ... Welch ein Orkan von überwältigenden Tönen muß das sein; uns gaukelt es feierliche Stille vor! ... Und trotzdem schreiten wir, die so winzig sind, so frei vorwärts, als ob alle diese Riesenmassen uns aus dem Wege gingen! Als ob uns eine Hand leitet, die uns durch jedes Hindernis hindurchführen kann. Das geringste Teilchen der feindlichen Kraft könnte uns hinwegwischen; aber die menschliche Geschichte bewegt und entfaltet sich so frei, als ob sie in allem der Mittelpunkt wäre. Damit etwas so Kleines, Schwaches derart auf seiner Bahn gehen konnte, sicher, daß es zum Ziele vordringen wird, ist es notwendig, daß es zu irgend einem Zweck in der Welt nötig wäre und daß es vom Weltwillen für eine Zeit bewahrt würde, wenn ...“

Lande schwieg eine Weile, sah mit glänzenden Augen nach oben und fuhr fort:

„Scheint es Ihnen nicht so, als ob alles erstarrt wäre und wartete, bis hier, auf der Erde, etwas geschieht, was einmal geschehen muß ... Und wenn das eintrifft, dann wird alles urplötzlich in Bewegung geraten, hier vernichtet, dort geschaffen werden, irgend ein neues Licht aufleuchten, neue Formen, neues Leben emporsteigen.“

„Manchmal ist es so,“ antwortete still Marja Nikolajewna. Ihr war eigentlich bange zumute. Etwas wuchs vor ihr hoch, ungeheuer groß wie aus der Ewigkeit in die Ewigkeit, wie aus einem unendlichen Raum in einen unendlichen Raum hinein. Die Stille der Nacht schwang sich wie eine feierlich dröhnende, dräuende Musik vor ihr.

„Wie wunderbar, wie kompliziert ist das alles!“ sprach Lande mit geheimnisvoller Begeisterung. „Selbst die Ewigkeit und die Unendlichkeit, die nicht klein, nicht groß sind, die keine Zeit besitzen, durch welche ein Augenblick im Leben der Welten mit dem Augenblick im Dasein eines Menschen zu vergleichen wäre ... Soll das die kalte, tote Ordnung einer durch seelenloses physisches Gesetz geschaffenen Maschine sein? Das ist die furchtbare Tragik im Prozeß des Schaffens, der alles umfaßt, der keine Teilungen, gleich für welche Zwecke, duldet. Ein Geist dieses Schaffens, eine Seele der Welt — sie existiert. Es wäre unmöglich, das nicht zu glauben, unmöglich, das nicht zu sehen! ... nicht zu hören, nicht zu empfinden ...“

Ein eisiges, mystisches Grauen schlich stockend in die Seele Marja Nikolajewnas. Sie zog sich nervös zusammen; ihre Augen weiteten sich, wie bei einer Katze, die etwas ängstigendes vor sich sieht.

Lande verstummte; es wurde still, so still, als ob jemand über die Erde schreitet; mit metallnem Klang setzt er schwer und geheimnisvoll Schritt vor Schritt.

„Meine Ohren klingen!“ sagte Marja Nikolajewna, am ganzen Körper zitternd. „Es ist kalt ... Auf Wiedersehen!“

Sie zog sich in die schwarze Finsternis des Zimmers zurück und schloß das Fenster, das auf seiner einen Scheibe blind glänzte.

Lande blieb allein und stand lange inmitten der leeren Straße; mit feuchten Blicken schaute er nach oben, zwischen die Sterne, in die dunkelblaue, kühle Tiefe hinein.

VII

In ein Laken, aus dem unten die dürren, nackten Beine herausblickten, eingewickelt, einem schlecht kostümierten Gespensterdarsteller ähnlich, öffnete Ssemjonow Lande die Tür. Den Augen Landes, die noch an die feuchte Luft und den reinen Glanz der Nacht gewöhnt waren, kam das gelbe trockene Licht der Lampe, die dünnen, gebrechlichen Möbel, das durcheinandergeworfene Bett mit den heißen Kissen und das trockene, gelbe Gesicht Ssemjonows, seine stockdürren, weißen Beine, im ersten Augenblick ganz unerträglich vor.

Ssemjonow setzte sich auf das Bett; sein Aussehen war entsetzlich. Sein erdfarbenes gerunzeltes Gesicht, die dünnen Haare, die schweißdurchtränkt an den mit trockener Haut bezogenen Schläfen klebten, der magere Körper, auf schmale, spitzige Schulterblätter gespannt, alles sprach in einfacher, furchtbarer Sprache von der sinnlosen Krankheit, die von niemandem in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit begriffen werden konnte, die sich im Innern eines Menschen verbirgt; und an einer kleinen Stelle der Zerstörung seine ganze Welt — sein Leiden, Verzweifeln und Grauen — einschloß.

Ssemjonow blickte mit geweiteten, fieberglänzenden Augen auf Lande; sobald er sich neben ihm auf das Bett gesetzt hatte, sagte er hastig: „Es ist gut, daß du herkommst ... Mir ist schlecht ... bange, irgend warum ... gewesen. Ich werde schon bald sterben, Lande ...“

Es schien, daß er nicht auf Lande sprach, sondern auf jemanden, der sich in der Tiefe seines leidenden Körpers grämte, einredete, um ihn von dem unvermeidlichen, und doch nicht auszudenkenden Ende zu überzeugen. Stechendes Mitleid riß Lande fort. Er wandte seinen Körper ganz zu Ssemjonow hin und legte beide Arme um die mageren Schultern, die nach kaltem Schweiß rochen. Durch das abgeriebene, fadenscheinige Hemd ließ sich der heiße Körper und die harten Knochen fühlen.

„Wassja ... mein Lieber, Armer!“ sagte er und versuchte ihn, beinahe weinend, von alldem zu überzeugen, was er selbst liebevoll und naiv glaubte: „Unmöglich kann ein Leben nur für die Erde existieren, zu riesig sind die Mühen und Leiden, als daß sie vergehen könnten, ohne sich über das Irdische zu erheben. Unbegreiflich, armselig und sinnlos wäre dann die Existenz des menschlichen Geistes mit seiner lichten Vernunft und dem geschmeidigen, reichen Denken in der unendlich großen, schönen, ewigen Welt.“

Lande sprach lange, eilig, als ob er fürchtete, daß es seinen Worten nicht gelingen werde, das Gewaltige, Dunkle, das langsam von der leidenden Seele Besitz nahm, zum Stehen zu bringen, ihm den Weg zu verlegen. Ssemjonow hockte regungslos zusammengekauert und blickte starr in die Flamme der Lampe. Seine dünnen rissigen Lippen waren fest aufeinandergepreßt und von der Seite sah Lande ein glänzendes Auge, in dem sich die gelbe Flamme der Lampe wiederspiegelte. Manchmal kam es ihm vor, daß Ssemjonow gar nicht auf ihn höre; dann wünschte er ihm ins Ohr zu schreien, ihn anzurufen, an der Schulter zu rütteln, voll Trauer und Verzweiflung. Doch mit Entsetzen bemerkte er, daß dieses einsame Leiden taub und verschlossen blieb, wie der Deckel eines eisernen Sarges, der ebenso kühl und stumm ist und ein furchtbares Geheimnis in sich birgt, das ihm allein offenbar ist.

„Wassja, ich weiß doch, du glaubtest!“ rief Lande. „Erinnerst du dich, wie glücklich und frei wir waren, als wir von Gott, vom ewigen Leben, von den ewigen Freuden sprachen! ... Warum schweigst du denn, Wassja? ... Sage doch etwas!“

„Höre, Lande ...“ erwiderte Ssemjonow plötzlich, ohne den Kopf zu heben, als ob er einen verborgenen Ausdruck seines Gesichts vor ihm verstecken müßte. Er sprach auch nicht wie sonst, oberflächlich und ironisch, sondern mit bemitleidenswerter und ratloser Stimme, mit kindisch schluchzenden Tönen. — „Ich wollte dir sagen, Lande ... ich möchte gar nicht sterben! ...“

Ein feiner Gram weinte und flehte aus jedem Wort; seine Stimme grub sich scharf in die Ohren.

„Ich möchte nicht, Lande ... Mag alles so sein, vielleicht ... und ich ... komme nur früher als ihr ... zum gemeinsamen Ziel ... Mag auch Gott und alles sein ... aber ... aber ich möchte doch nicht sterben, Lande! ... Um das Leben schmerzt es mich, um dich, um mich, die Sonne, das Gras ... um alles schmerzt es mich. Vielleicht sehe ich es nie mehr wieder ... Lande!“

Lande weinte; dicke Tränen flossen über sein gespanntes Gesicht und die Hände bewegten sich ohnmächtig hin und her.

Ssemjonow schwieg. Dann setzte er sich auf, während er in seinem dünnen, hellen Kinnbart kraute, überlegte ein wenig, und fiel wieder zurück. Sein gerunzeltes Gesicht veränderte sich auf einmal; wurde trocken und gelb.

„Ein Dummkopf bist du, Lande!“ sagte er mit einem boshaften Lächeln: „glaubst du denn wirklich, daß all dieses dumme Zeug über Gott irgend eine Bedeutung haben kann, wenn man tatsächlich ans Sterben kommt? ... Es ist ja ganz tröstlich und behaglich, über Unsterblichkeit nachzudenken ... man muß darüber denken, um zu leben. Aber wenn man stirbt und weder vor noch hinter sich irgend einen Gott sieht ... da läßt man sich nicht betrügen ... es hat auch keinen Zweck ... Rede nur nicht weiter! ... Es regt mich bloß auf!“

Die letzten Worte rief er mit dünner und böser Stimme, sein Unterkiefer klappte unaufhaltsam gegen den oberen.

„Da leide ich ... kannst mir glauben, daß ich nicht zum Scherz die Schmerzen habe —“ auf sein Gesicht trat ein krummes Lächeln. „Mein Leben ist schon zu Ende, alle Freuden, Sinn ... alles zu Ende! ... Nur das Leiden allein ist geblieben ... Man könnte glauben, hier wäre dein Gott vor allem nötig ... Sonst ist das Leiden sinnlos! ... Aber wo bleibt nun dein Gott? ... Warum zeigt er sich jetzt nicht? ... Wenn ich im Todeskampf liege und meine Beine kalt werden ... vor meinen Augen, bei vollem Bewußtsein kalt werden ... Verstehst du es? ... Ach, auch dann werde ich immer noch nicht wissen, ob es wahr ist, ob es einen Gott gibt! ... Wozu sollte ich es auch wissen.“

Ssemjonows Stimme pfiff und kreischte auf, bohrte sich in die Wände und brach plötzlich ab. Er wurde blaß, sperrte wild die Augen auf, zitterte am ganzen Körper, und mit einem Mal riß ein abgerissenes, feuchtes Husten sein von Angst, Haß und Schmerz verzerrtes Gesicht fast in Stücke.

Lande ergriff ihn und stützte ihn mit zitternden Händen. Ssemjonow rollte ihm seine Augen, ungeheuer vergrößert wie das Leiden selbst, entgegen; er strengte sich noch immer an, weiter zu reden.

„Ah, also was für einen Wert hat dann noch dein Gott!“ sagte er, nachdem er aufgeatmet hatte, und schielte erregt auf das Taschentuch, in dem Schleim und Blut klebte. „Für einen lebenden Menschen. Der Mensch erkennt ihn also, falls er überhaupt existiert, nur dann, wenn alles Menschliche in ihm ... alles Lebendige bereits gestorben ist ... wenn der Mensch nicht mehr da ist, nur eine Leiche ist, aber kein Mensch ... Gehe schlafen ... Ich lösche die Lampe aus ...“

Lande antwortete nichts; er fühlte sich unfähig, sein Gefühl und seinen Glauben einem anderen Menschen mitzuteilen, der zwei Schritt neben ihm bitter litt.

Ssemjonow blicke ihn scharf an und lächelte mit selbstquälerischem Genuß.

„Weißt du, worüber ich heute nachgedacht habe, Lande?“ begann er in seinem gewöhnlichen Ton, indem er den Mund spitz verzog. „Daß alle Menschen meine Brüder sind und daher wirklich kommen werden, um mir ihre letzten brüderlichen Küsse zu geben ... Nun will ich dir aber sagen,“ er strengte sich wirklich an, die Rückkehr des Wutanfalls zurückzuhalten, „daß, wenn mich irgend etwas trösten kann, es nur noch das ist, daß dann alle an mir verrecken werden!“

Er warf sich ins Bett zurück, und, klein, schmächtig, wie ein geschlachtetes Huhn, erstarrte er.

Lande löschte die Lampe aus und legte sich, ohne sich auszukleiden, nieder, das Gesicht in die Kissen gepreßt. In dieser Nacht schlief er nicht ein; sie verstrich für ihn fast unmerklich, als ob er außerhalb jeder Zeit stünde. Ohne Schlaf und Ruhe dachte er darüber nach, daß er selbst nicht weit genug in seinen freudevollen Glauben gedrungen und vertieft war, da er nicht die Kraft hatte, ihn anderen mitzuteilen. Noch litt er selber, wenn auch nur an fremdem Schmerz, noch verlangte er selber nach Gnade, Erlösung und Heilung, wenn auch nur für einen anderen. Zum ersten Mal stieg in ihm der Gedanke auf, daß das Leben für seinen schwachen Geist bunt und sonderlich sei; in seinem Glänzen und Flackern verlor er das wahre Licht. Nur Einsamkeit, konzentriertes Vertiefen in die eigene Seele konnte ihm die Klarheit und Festigkeit im Glauben, die in ihm durch Mitleiden ins Wanken kam, wiedergeben.

Dieser Gedanke, erst undeutlich und unbestimmt, legte sich ihm aufs Herz.

VIII

Jedesmal, wenn Marja Nikolajewna Lande sah, erfaßte sie eine frische, zärtliche Regung, die ihre Seele wie stilles, klares Morgenlicht erwärmte. Sie mochte erregt sein, sich langweilen, sich nach irgend etwas unklar und gierig sehnen, — im Augenblick, wo sie Lande mit seinen vertrauensvollen, guten Kinderaugen begegnete, wurde sie ruhig.

Dieses Gefühl klarer, heiterer Ruhe bemächtigte sich ihrer besonders stark an einem hellen und warmen Abend, fast einen Monat nach Landes Ankunft, als sie beide zur Stadt hinaus spazieren gingen.

Gleich an die letzten fast zur Erde geneigten Häuser des Außenviertels schlossen sich breite Flächen weißen Streusandes an. Die Sonne ging weit hinten unter; ihre langen Schatten liefen voran, hoben unnatürlich hoch die Füße, als ob sie ihnen, wie unendliche schwarze Pfeile, den Weg weisen müßten. In weiter Ferne, mitten im leeren Feld, saß auf den Hügeln ein Mensch, der sich, hell von der niedrigen Sonne beleuchtet, deutlich von dem blauen Himmel abhob.

„Da sitzt Molotschajew!“ sagte Marja Nikolajewna.

Man konnte sehen, daß sich der Maler über eine kleine Staffelei, die komisch auf den dünnen spitzigen Beinchen stand, beugte.

„Gefällt Ihnen Molotschajew?“ fragte Marja Nikolajewna, und das Gefühl in ihr erwartete gerade jene ruhige, gute Antwort, die, wie ihr schien, nur Lande allein zu geben vermochte.

Lande lächelte.

„Mir gefallen alle ...“ sagte er. „Alle Menschen sind im Grunde genommen gleich, und wer den Menschen im allgemeinen liebt, der liebt auch alle und jeden ...“

„Aber es gibt doch bessere und schlechtere Menschen?“

„Nein, das glaube ich nicht ... Das meint man nur so, wenn man die Menschen nicht nach den guten Gefühlen bewertet, die in jedem enthalten sind, wie er auch sonst sein mag, sondern in seinem Verhältnis zu einzelnen Tatsachen, die man gerade von seinem persönlichen Standpunkt aus für gut hält ... Das ist doch ungerecht ... Man muß von seiner Unfehlbarkeit sehr überzeugt sein, um so zu urteilen! Ja ... jeder Mensch besitzt Liebe, Herzensgüte, Feinfühligkeit, Ehrlichkeit, Selbstaufopferung — alles, woran nur die Menschenseele reich sein kann. Nur die Lebensverhältnisse der Menschen sind ungleich, und daher können sich diese Gefühle nicht in einer Richtung entwickeln ... Niemandem kann es aber ein Vergnügen machen, so einfach, um des Gefühls willen, böse, neidisch, grausam, gierig zu sein ...“

„Mir aber macht es manchmal Vergnügen, grausam zu sein ...“ erwiderte Marja Nikolajewna nachdenklich.

Mit liebevoller Zärtlichkeit sah Lande von der Seite auf ihre schlanke, abgerundete Gestalt und das zarte, durchsichtige Profil, das stets traurig aussah, wie auch in Wirklichkeit der Gesichtsausdruck sein mochte.

„Das wäre doch wirklich ein quälendes Vergnügen ...“ sagte er. „Eine richtige, ruhige Freude an Grausamkeit kann auch der verstockteste Bösewicht nicht haben, wenn er nicht gerade geisteskrank — also — eigentlich kein Mensch mehr ist. Jeder Mensch muß stets etwas lieben, bemitleiden, sich für etwas aufopfern; stets wird er sich einen Gott schaffen, weil Gott in seiner Seele lebt. Und nicht er ist daran schuld, wenn das Leben sein Gefühl nicht auf den richtigen Weg führt ... Das hängt nur von den äußeren Umständen, von der Richtung ab, in der das Leben zufällig fließt. Auch hier ... Molotschajew! — Er liebt leidenschaftlich seine Kunst, die Schönheit; ich weiß, er würde zu jedem Opfer für sie bereit sein. Folglich liegt in ihm die Fähigkeit zu lieben — und eine große Fähigkeit — verborgen. Ein Zufall, ein anderer Antrieb — und seine ungeheure Liebe fließt in eine neue Form, und aus diesem ... von unserem Standpunkt aus scheinbar beschränkten hohen Künstler wird ein Mann der großen Tat, ein Menschenfreund ... alles!“

„Sie glauben an die Menschen!“ sagte leise Marja Nikolajewna.

„Ja, ich glaube!“ antwortete Lande fest.

„Was gibt Ihnen diesen Glauben?“ aus irgend einem Grunde schämte sie sich sofort ihrer Frage.

„Der Glaube an Gott!“ antwortete Lande im gleichen Ton, als ob er nur fortzufahren hätte. „Ich glaube, ich empfinde es, daß der Geist Gottes, den Gott in das Chaos warf, um sich ähnliches zu schaffen, durch den Menschen hindurchgeht, damit er Gottes Wunsch erfülle, hindurchgeht, damit die große Einsamkeit Gottes erleichtert sei ... Ich kann es nicht ausdrücken, aber ich glaube an den Menschen, als den Anfang des Zukünftigen ... Ich glaube!“

Lande verstummte in starker Erregung und lächelte nervös, seine feuchten, glänzenden Augen leuchteten, er knackte die mageren, schwachen Finger durch.

Seine Aufregung teilte sich eigentümlicherweise dem Mädchen mit.

„Aber der Tod?“ fragte sie mit unklarer Beängstigung, schon dadurch ihre eigenen Gedanken beantwortend.

„Fürchten Sie den Tod?“ fragte Lande statt einer Antwort.

„Ich fürchte!“ aber als Marja Nikolajewna ihre gedehnte Stimme vernahm, mußte sie selbst lachen.

Sie hatten sich langsam den dunklen Streifen einer dicken Fichtenschonung genähert; jetzt hallte Marja Nikolajewnas Lachen klingend von dort wieder.

„Nein, Sie fürchten ihn nicht!“ auch Lande lachte freudig. „Und es ist auch nicht möglich, den Tod an sich zu fürchten ... Nichts in der Welt hat Angst vor dem Tode, als der Mensch allein, und auch er fürchtete nicht den Tod, sondern die Ungewißheit. Die Furcht vor dem Tode — das ist die Müdigkeit des schwachen Geistes, der in der ohnmächtigen Anstrengung erschöpft wurde, vorzeitig in das Geheimnis einzudringen. Ich glaube überhaupt nicht, daß es einen Tod gibt!“

Sie kamen in die harzduftende Dämmerung der ersten, grünen Fichtenstämmchen. Zwischen ihnen war es ganz dunkel, als ob es schon Abend wäre. Nadelzweige wiegten sich leise über dem grünen Gras am Wege. Irgend ein Vogel flatterte lautlos von Wurzel zu Wurzel; ein Zweig brach, der Wind strich durch.

„Sie glauben also an ein Leben nach dem Tode?“ fragte Marja Nikolajewna mit kindischer, inkonsequenter Neugierde.

„Ich fühle nur, daß ich nicht spurlos vernichtet werden kann ...“ antwortete Lande, gar nicht erstaunt über ihre Frage. „Was es aber sein wird, das weiß ich nicht. Überlegen und vorstellen kann sich der Mensch nur etwas, das in den Grenzen seines gegenwärtigen Daseins, seiner irdischen Vernunft und Empfindung vorhanden ist. Man kann sich nicht ewiges Leben vorstellen, weil es außerhalb unseres körperlichen Lebens liegt. Unser Körper erfaßt es nicht, er zwingt es zu sich, reduziert es bis auf seine Größe ... Man kann es nur ahnen.“

„Das verstehe ich nicht ...“ erwiderte das Mädchen zaghaft. „Wenn es existierte, so wäre es sonderbar ...“

„Nein, nicht sonderbar. Was sollte daran sonderbar sein, daß Sie nicht imstande sind, sich eine große Ahnung zu erklären, da wir doch selbst Gefühle, die in unserem Körper spielen, noch nicht erklären können ... Was ist denn Liebe? ... Und sie kommt Ihnen gewiß nicht sonderbar vor? ...“

„Liebe? Ja, die Liebe! ...“ Sie wiederholte das Wort leise für sich.

„Ewigkeit und Unendlichkeit, das sind die größten Eigenschaften des Geistes Gottes ...“ sprach Lande verträumt. „Noch so weit ist der Mensch von der Aufnahme dieser letzten Geheimnisse entfernt ... Und wenn einmal ...“

„Wer ist das?“ rief Marja Nikolajewna erschrocken, und blieb stehen.

Zwei Menschen traten hinter den Büschen hervor und kamen ihnen entgegen. Ihre abgehobenen, bunten Gestalten glitten lautlos in der grünen, feuchten Dämmerung des Waldes über die Erde. Sie näherten sich ohne Eile, fast langsam, mit herabbaumelnden Händen, aber etwas Besonderes, Beunruhigendes, wie eine versteckte Drohung, ging von ihnen aus.

Lande erhob ruhig den Kopf und blickte sie an. „Tkatschow!“ rief er verwundert.

Einige Schritte vor ihnen blieben die Beiden stehen und sahen sich finster nach allen Seiten um. Dieses unruhige Umsehen in der heiteren, stillen Dämmerung wirkte unnatürlich und furchterregend.

„Wir müssen fortlaufen!“ flüsterte Marja Nikolajewna entsetzt dicht in Landes Ohr.

Er erkannte ihre angehaltene, vertrocknete Stimme nicht wieder und sah sich verwundert nach ihr um.

Tkatschow — schwarz und farblos, in einer zerrissenen Jacke über dem Hemd, blieb auf dem Fleck stehen; der andere trat mit nackten Füßen gewandt auf sie zu. Für ihr ganzes Leben blieben Marja Nikolajewna seine bloßen, weit gespreizten Zehen, zwischen die sich Nadeln und die Spitzen des zartgrünen Grases schoben, im Gedächtnis eingeprägt.

„Langt wohl für ein Gläschen, was?“ sagte der Mann frech und streckte ihnen eine grobe Hand entgegen.

Marja Nikolajewna klammerte sich krampfhaft an Landes Ellbogen und schmiegte sich direkt an ihn. Tkatschow bewegte sich nicht.

„Na, wird’s bald?“ wiederholte der Barfüßler drohend.

Lande zog mit der freien Hand linkisch die Börse heraus. „Hier ...“ sagte er, dem Landstreicher ernst in die Augen blickend.

Tkatschow lächelte ihm von weitem höhnisch zu.

„Warum so wenig?“ fragte hastig der Barfüßler, während er die Börse rasch verschwinden ließ. „Gib das Jackett her ... Aber rasch ... Sie sollten lieber beiseite gehen, Fräulein ... Das schickt sich vielleicht nicht!“ fügte er höhnend hinzu.

Mit weit aufgerissenen Augen, und am ganzen Körper zitternd, stand Marja Nikolajewna halb abgewendet am Weg. Lande lächelte wieder traurig, zog das Jackett aus, und in dem alten Hemd, mit schlecht gebügelten Fältchen auf der Brust, wurde er noch magerer und schwächlicher.

„Die Hose ist viel zu gut,“ sagte der Barfüßler, wobei er sich unruhig umsah und das Jackett dicht vor der Nase Landes schüttelte. „Immer runter mit ihr.“

„Sie haben sie notwendig?“ erwiderte Lande ruhig, setzte sich aber gleich aufs Gras. „Gehen Sie, Marja Nikolajewna ... Gott mit Ihnen ...“

Plötzlich packte Marja Nikolajewna ein Anfall nervösen, wahnsinnigen Lachens. Als ob ihr jemand zum Scherz, aber stark die Kehle zudrückte, war ihr angstvoll und doch gleichzeitig lächerlich zumute. Der halbentkleidete Lande saß mit ernstem, weichem Gesicht auf dem Boden, und der Landstreicher zog an seinem Hosenbein. Tkatschow bewegte sich und stieß einen eigentümlich heiseren Laut aus, aber niemand wandte sich um; er zuckte mit einer Schulter, als ob ihm kalt würde, und stand wieder starr auf seinem Fleck, den Blick unverwandt auf Lande gerichtet.

„Gehen Sie, Marja Nikolajewna!“ wiederholte Lande.

„Na, Fräulein ... warten Sie mal!“ rief der Barfüßler hastig. „Was haben Sie denn da?“ Er griff mit der Hand nach ihrer Brust, wo eine lange Uhrkette schaukelte.

Etwas Entsetzliches, Widerwärtig-Grobes lag für das Mädchen in dieser Bewegung. Wie eine Schlange sich windend, glitt es zur Seite; dann mit einem Mal stürzte es, das Kleid hoch und wundervoll unordentlich gerafft, die Straße hinunter, als ob der Wind eine große Blume erfaßt hätte und dahintrüge.

„Wohin?“ rief kurz der Landstreicher und, Lande das Jackett gerade über den Kopf schleudernd, sprang er, gewandt und leicht, wie ein Raubtier an ihm vorbei, hinter dem Mädchen her. Im selben Augenblick durchzuckte ein wilder Schrei, scharf und fein wie eine Nadel, den Wald und bohrte sich hoch in den dunkel gewordenen Himmel ein.

Diesen Schrei hörte Molotschajew, der hinter einer Wegesbiegung daherkam. Mit der blitzschnellen, instinktiven Entschlossenheit, die ihm eigen war, warf er Kasten und Staffelei beiseite und rannte vorwärts. Der Barfüßler erblickte ihn früher als die anderen. Im Sprunge blieb er stehen, glitt ins Gras und duckte sich zur Erde, blickte eine Sekunde lang Molotschajew mit glühenden Pupillen an und schnellte plötzlich in die Büsche, ein paar Zweige krachend zu Boden schlagend. Marja Nikolajewna lief gegen einen Baumstamm und blieb, am ganzen Körper zerschlagen, mit aufgelöstem Haare und blöden Augen, stehen, ohne in dem Augenblick zu wissen, was sich mit ihr zutrug. Schwer atmend rannte Molotschajew in großen Sätzen an ihr vorbei, achtete nicht auf Lande, der ganz weiß, dünn und schwächlich auf dem Gras am Rande des Weges stand, sondern stürzte sich sofort auf Tkatschow. Tkatschow hatte ihn schon von weitem bemerkt; einen Augenblick schien es, daß er ebenfalls weglaufen würde; er blieb aber stehen, zog sich ganz in sich zusammen und wartete schwarz und trotzig auf den heranstürmenden Molotschajew. Schweigend lief der auf ihn zu, und ehe Tkatschow eine Bewegung machen konnte, schwang er breit die Faust in die Höhe und schlug ihm mit furchtbarer Kraft mitten ins Gesicht. Tkatschow ächzte leise, erschrocken, warf die Hände hoch; seine Mütze rutschte über seinen Rücken herunter, er fiel, schwer und fest, auf die Kniee. Ein zweiter Schlag traf ihn von oben auf den Kopf; zur Seite geneigt, den Kopf gegen die Erde gestoßen, eigentümlich und ungelenkig brach er auf dem Weg zusammen.

„Molotschajew, Molotschajew!“ rief Lande gellend und wie er da stand, nur in seinem Hemde, stürzte er auf ihn zu und ergriff ihn an der Hand. „Lassen Sie ihn!“

Molotschajew senkte die Arme; er atmete schwer, war rot und aufgeregt. Lande ließ sich eilig in die Kniee nieder und bemühte sich, Tkatschow aufzurichten. Der Geschlagene regte sich nicht; auf dem dünnen und langen Hals schwankte sein Kopf dicht über dem Boden hilflos hin und her.

„Sie haben ihn totgeschlagen!“ stammelte Lande mit Entsetzen.

„Wenn schon. Hat’s nicht viel besser verdient!“ erwiderte Molotschajew grob.

Doch Tkatschow stützte sich plötzlich mit den Händen auf den Boden und stand auf. Über sein Gesicht floß dickes Blut, an der Schläfe blieb Erde kleben; die ganze linke Gesichtsseite und die Nase hatten eine entsetzliche, schmutzig rote Farbe.

„Na, wieder zu sich gekommen ... Wird es sich wohl für ein anderes Mal merken!“ Molotschajews Fäuste zitterten und ballten sich zusammen, als hätte er den dringenden Wunsch, wieder zuzuschlagen.

Lande hörte nicht auf ihn; er nahm aus der Tasche seiner Hose, die auf dem Grase lag, das Taschentuch heraus und steckte es Tkatschow zu.

„Wischen Sie ... das Blut ... Ach, mein Gott, was ist das!“ stammelte er zusammenhanglos, mit unendlichem Entsetzen und Schmerz.

Tkatschow regte sich nicht, nahm auch das Taschentuch nicht. Das eine Auge war schon angeschwollen; und vom Kinn und den zerschlagenen Lippen troff Blut auf den fettverschlissenen Jackettaufschlag herab.

„Noch viel Geschichten mit ihm machen!“ meinte Molotschajew gleichgültig. „Ich werde ihn lieber dahin bringen, wo er hingehört, das wird besser sein ... He, da! Komm mit, aber schleunigst,“ er packte Tkatschow grob am Kragen und gab ihm einen Stoß, daß er ohnmächtig zwei Schritt vorwärts machte und ausglitt.

„Aber lassen Sie ihn doch!“ rief Lande zornig und stürzte sich mit seinem ganzen schwachen Körper auf Molotschajews Hand.

Molotschajew sah ihn verwundert und wütend an. „Weshalb spielen Sie hier den Narren, zum Teufel!“ fuhr er auf, aber plötzlich ließ er seine Hand sinken, sah schweigend den entkleideten Lande an, stieß die Luft durch die Nase und brach dann in donnerndes Gelächter aus. Marja Nikolajewna, die selbst nicht bemerkt hatte, daß sie auf sie zugekommen waren, warf erst einen erstaunten Blick auf Molotschajew, dann auf Lande, besann sich aber und, bis an die Ohren errötend, wandte sie sich schnell ab und ging den Weg entlang.

„Ach, Sie Hansnarr, Sie komischer!“ rief Molotschajew lachend.

Plötzlich verzerrte sich die schwarze, blutige Fratze Tkatschows und er lachte selbst heiser und böse, während er gleichzeitig Blut spie. Dieses Lachen des Geschlagenen war widerwärtig und schrecklich. Lande sah auf; er lächelte ruhig und traurig, wie immer.

„Aber so ziehen Sie sich doch an, zum Teufel!“ schrie Molotschajew, machte eine wegwerfende Handbewegung und ging auf das Mädchen zu.

Lande schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, als ob er gar nicht existiere.

Tkatschow hörte mit dem Lachen auf, warf einen halben Blick auf Lande, dann auf den fortgehenden Molotschajew, wandte sich um und ging langsam davon.

„Tkatschow!“ rief Lande.

Tkatschow blieb stehen, wandte sich aber kaum um. Lande kam auf ihn zu.

„Tkatschow,“ sagte er mit flehendem Ton, seinen Arm berührend, „Sie haben das absichtlich gemacht, ich sah es an Ihren Augen! ... Warum das, Tkatschow, warum?“

Tkatschow blickte ihn schwer und düster an, als ob er nichts verstanden hätte und an ganz etwas anderes dachte.

„Hast du einen echten Menschen gesehen?“ fragte er heiser. „Da, kannst ihn sehen!“ er riß den langen, dünnen Hals nach der Richtung Molotschajews herum. „Das ist ein Kerl ... eine Kraft! ... Und du ... du bist so, ein Stück Dreck bloß! Zu nichts taugst du!“

„Mag sein,“ gab Lande zu, — „aber trotzdem, warum hassen Sie mich so? Wirklich nur, weil ich minderwertiger bin, als er?“

Tkatschow erwiderte: „Deswegen, weil ich so viele Jahre an dich geglaubt hatte! Bin selber, siehst du, dazu gekommen ...“ er schlug sich bitter gegen die zerschlagene Backe, — „und sehe jetzt, daß ich ein Schafkopf war, glaubte den süßen Schwindel. Aber mein Leben — wo ist es, he? Ist vorbei ... Ich sollte jetzt vielleicht ein Mensch sein, und bin ... Jetzt verstehst du es vielleicht? Du! ... Ihm aber ... dem bezahle ich’s noch! ...“ fügte er plötzlich hinzu und schwenkte mit ohnmächtigem Haß die schwarze Faust. — „Und wenn ich selber zum Teufel gehe, er soll an mich denken! ... Wart’ nur!“

Tkatschow drehte sich schnell um und ging fort. Lande kam es vor, als ob er noch weiter heiser vor sich hinbrummte; aber Tkatschow wandte sich nicht mehr um und verlor sich bald im grünen Walddunkel. Lande sah ihm lange nach, rang mit tiefer, ratloser Verzweiflung seine Hände, seufzte, zog sich langsam an, und schritt dann aus, um Marja Nikolajewna und Molotschajew einzuholen.

„Jetzt ist er verzweifelt; aber wenn er sich beruhigt, finde ich ihn noch ...“ schwirrte es trübe durch seinen Kopf.

„Hier habe ich Ihren Schrei gehört!“ erzählte lebhaft der Maler, indem er Kasten und Staffelei am Wege aufhob. „Ich habe Sie schon vorher bemerkt und wollte Sie einholen, hatte aber den Spachtel verloren und mußte erst lange suchen ... Nun, Gott sei Dank, ich bin doch noch zur rechten Zeit gekommen!“

Marja Nikolajewna sah sich kaum um, als sie Lande hinter sich fühlte. Er lächelte ihr vertrauensvoll und zärtlich zu, sie wandte sich aber schnell ab und mußte sich anstrengen, einen neuen Anfall ihres nervösen Lachens zu unterdrücken. In diesem Augenblick kam ihr Lande nur armselig und lächerlich vor.

Molotschajew sah ihn ebenfalls von oben bis unten an und sagte mit schadenfroher Verachtung:

„Ach, Sie! ... Held!“

„Ich bin kein Held!“ Lande machte eine wegwerfende Handbewegung mit einer bei ihm seltenen Aufwallung.

„Das merkt man!“ Molotschajew kleckste höhnisch.

Den ganzen Weg über machte er sich in grober und brutaler Weise über Lande lustig und erzählte mit prahlerischem Vergnügen von seiner ungeheuren körperlichen Kraft. Lande lächelte traurig, Marja Nikolajewna aber blickte mit einem eigentümlichen Gefühl physischer Neugierde von der Seite auf Molotschajew, und ihre feinen Nüstern, die, wie bei einem Rassepferd durchsichtig waren, blähten sich ein wenig. Er war ihr interessant und doch auch etwas widerlich.

IX

Es war noch finster, der Mond war noch nicht aufgegangen, als sich Lande seiner Wohnung näherte. Er dachte unablässig über Tkatschow nach; seine Gedanken waren eigentümlich starr und schneidend.

... Als er mich auslachte, litt er mehr als ich, ich sah es ... Das ist entsetzlich, aber wer hat Schuld, ich oder er ... oder irgend einer außer uns beiden? ... Ich weiß nicht ... Man muß kämpfen, aber wie kämpfen, wenn ich nicht einmal weiß, woher es kommt? ...

Es war still. Lande ging und starrte mit Augen, die nichts sahen, auf die dunkle Erde, die langsam unter seinen Füßen nach hinten glitt.

„Pa—a!“ schrie irgendwo in der Nähe verzweifelt, schmerzlich flehend ein Kind; plötzlich lebte die ganze öde, dunkle Straße in wilden, gräßlichen Tönen auf.

„Papa ... ich tu’s nicht wieder ... Papachen!“ schrie hilflos das Kind; es schien sich zu wehren.

„Tust es nicht? ... Tust es nicht? ... Tust es nicht? ...“ knarrte gleichmäßig eine abgerissene und fast ausgetrocknete Baßstimme, immer höher und nachdrücklicher im Ton. Es war, als ob in den kurzen Zwischenräumen von einem Wortfetzen zum anderen etwas Grauenhaftes geschah.

Unter einem Fenster stand jemand und lauschte gespannt. Der dünne, blasse Schatten eines jungen Mädchens mit weißem Gesichtchen und großen, bang glänzenden Augen schwankte eigentümlich undeutlich in der Dämmerung.

„Sind Sie das, Ssonja?“ Lande erkannte Ssemjonows Schwester und faßte ihre magere Hand. „Was geht hier vor?“

„Sie hören, er schlägt es tot!“ erwiderte sie mit eigenartiger, halb kindlicher, halb weiblicher Stimme; mit einer Bewegung grausamer, wilder Neugierde reckte sie den Hals zum Fenster hoch.

Lande, der sich nur mit Mühe von seinen Gedanken losreißen konnte, begriff im Augenblick alles, ächzte auf, rannte kopfüber in den Hof hinein, wobei er mit dem Knie gegen einen in der Finsternis unsichtbaren Holzpfahl stieß, sprang die Stufen hinauf und riß die Tür zum Zimmer auf.

Dort brannte groß und hell eine Lampe und warf eine Garbe goldiger Funken in einen Haufen Heiligenbilder, die in einer Ecke bis an die Decke aufgetürmt waren. Und in der Mitte des Zimmers stand, mit dem Gesicht zur Tür, in einer sonderbaren, fast wollüstig vornübergebeugten Stellung, Firsow ohne Rock, nur in der Uniformweste mit den kleinen glänzenden Metallknöpfen, und schlug, gleichmäßig durchziehend, mit einem langen, schmalen Riemen über einen geröteten schmalen Hinterteil, den er zwischen seinen langen, eckigen Knien fest eingeklemmt hielt.

„Tust es nicht wieder! Tust es nicht wieder!“ wiederholte er mit schneidender Stimme und schlug in den Zwischenräumen von einem Ausruf zum anderen klatschend und genußsüchtig mit dem Riemen, der in dunklen Streifen das zartrosige abgerundete Fleisch durchschnitt, darauf los.

Eine kalte, neblige Welle schlug Lande durch den Kopf, und ehe er sich besinnen konnte, was zu tun wäre, stürzte er, fast hingerissen von Wut, auf Firsow zu, ergriff die dünne, sehnige Hand und stieß ihn aus voller Kraft gegen die Brust. Firsow schlug mit den ausgleitenden Beinen hoch, ließ Riemen und Kind fallen, klammerte sich aber noch rechtzeitig an den Tisch. Es klirrte etwas und zerschlug am Boden.

„Was ist das wieder? Was wollen Sie?“ brüllte er, die Fäuste ballend.

Lande drückte das laut weinende Kind an sich und blickte Firsow mit weitgeöffneten, zornigen Augen entgegen.

„Firsow, kommen Sie zu sich!“ sagte er mit zitternden Lippen, aber mit eigentümlich unbesiegbarer Kraft.

Eine Minute lang blickte ihm Firsow halb wahnsinnig in die Augen und erkannte ihn nicht; dann wurde er plötzlich tiefrot; im gleichen Moment erlosch das düstere, wilde Feuer, das in seinen geöffneten Augen brannte. Er strich sich krampfhaft über den Kopf, und murmelte.

„Aah, Sie sind es, Iwan Ferapontowitsch! ... Entschuldigen Sie ... ich ...“

„Wieder, Firsow, wieder! Schämen Sie sich denn nicht; fürchten Sie nicht die Sünde!“

Er wandte sich um und schob das Kind Ssonja zu, die schweigend in der Tür stand.

Das gelbe lange Gesicht Firsows wurde kupferrot.

„Erlauben Sie, Iwan Ferapontowitsch ...“ sagte er heiser. „Sie können nicht wissen ... ich habe nicht ohne Grund ...“

„Welchen Grund könnte es dafür geben!“ rief Lande mit der früheren Kraft und mit zorniger Verachtung. „Kein Grund kann solchen Greuel rechtfertigen!“

Firsow trat plötzlich auf ihn zu und erhob seine knochige, zitternde Hand.

„Nein, doch!“ rief er, indem er die gelben Wurzeln der abgenützten Zähne zeigte und die Augen wieder weit aufriß. „Wissen Sie denn, was dieser Lausebengel hier getan hat? Wissen Sie es?“ Er stieß die Worte mit wachsendem Triumph aus.

„Was?“

„So, ‚was‘! Hier, bitte, Sie können es bewundern!“ Firsow trat siegesfreudig zur Seite und steckte den ausgestreckten langen Finger zwischen die Heiligenbilder.

Lande blickte hin, verstand aber nichts; er sah anfangs nur einen Kasten mit Farben, einen Pinsel und ein Glas voll schmutzigen, grünen Wassers.

„Was?“ wiederholte er.

„Hier!“ rief Firsow wieder mit dem gleichen Triumph und riß Lande am Arm zu den Heiligenbildern hin.

Lande unterschied, daß zwei auf Papier gedruckte Szenen aus der Heiligen Schrift kindlich mit widersinnigen Farben bemalt waren; den weiblichen Gesichtern waren Schnurr- und Kinnbärte aufgesetzt worden.

„Ah so!“ sagte er gleichmütig.

Das Kind schluchzte still.

„Weine nicht ... Wir lassen ihn nicht mehr ...“ Ssonja sprach ganz mechanisch; sie wandte keinen Blick von Lande.

„Aber es ist doch ein Kind, Firsow!“ Lande nahm ihn an der Hand und versuchte, ihn zu beruhigen.

„Das weiß ich, daß es ein Kind ist!“ Firsow warf den Kopf in den Nacken. „Wenn er kein Kind wäre, so hätte ich ihn vielleicht totgeschlagen! ...“

„Was reden Sie!“ Lande machte eine abwehrende Handbewegung.

„Gewiß ... totgeschlagen, totgeschlagen hätte ich ihn!“ schrie Firsow hartnäckig und klopfte mit den Fingerknochen auf den Tisch.

„Lassen Sie das, Firsow,“ befahl Lande energisch und nahm ihn an der Hand; dann sah er sich nach Ssonja um. „Lassen Sie ... wegen einer solchen Bagatelle! ...“

Firsow richtete sich blitzschnell auf, als ob er gerade auf diese Worte gewartet hätte.

„Bagatelle?“ wiederholte er, das Wort unnatürlich dehnend.

„Ja, wie kann man denn dem irgendwelche Bedeutung beimessen! Verstehen Sie denn nicht, daß Sie unendlich viel mehr sündigen als der arme Knabe?“ sagte Lande überzeugend und traurig.

„Ha! ... Das halten Sie für eine Bagatelle? So ...“ fing Firsow an, und plötzlich rief er in dem früheren, geheuchelt wütenden Ton, als ob er sich künstlich erhitzen müsse:

„Eine Bagatelle ist das?“ Er kreischte schrill und stampfte mit den Füßen. „Hinaus, hinaus mit dir! Gotteslästerer, Teufel! Hinaus, daß hier keine Spur von dir bleibe.“

„Firsow,“ sagte Lande erstaunt, „was haben Sie?“

„Hinaus!“ brüllte Firsow. Er hörte absichtlich nicht, spritzte Speichel, trampelte mit den Füßen und geriet nun wirklich in Wut.

Zum zweiten Mal in seinem Leben schien es Lande, daß es nicht ein Mensch war, der schreit, sondern irgend ein hinterlistiges, böses Wesen in ihm. Der Ekel stieg ihm in den Hals; aber dieses Gefühl war ihm so ungewohnt und qualvoll, daß er sich schnell abwandte und zurückwich.

„Ich gehe fort ...“ sagte er hastig. „Sie sind heute sehr eigentümlich ... Lieber will ich morgen kommen ... Nur nehme ich auch Sserjoscha mit, sonst können Sie ...“

Firsow erstickte fast vor Wut, sperrte die Augen auf, blieb aber stumm.

Lande wandte sich zu Ssonja.

„Wir nehmen ihn zu uns, Ssonja!“ sagte er.

Ssonja warf einen raschen Blick auf ihn, nickte schweigend mit dem Kopf, hob angestrengt den dicken, verweinten Jungen auf den Arm und ging zur Tür.

„Wir gehen fort, Firsow, und nehmen Sserjoscha mit ...“ wiederholte Lande.

„Glück auf den Weg!“ rief heiser Firsow und blieb wie angewurzelt vor den Heiligenbildern in der Ecke stehen.

„Wir nehmen ihn ja nur, weil Sie zu aufgeregt sind,“ sagte Lande in versöhnlichem Ton.

„Schon gut, schon gut!“ nickte Firsow schadenfroh mit dem Kopf. „Bringen Sie ihn nur zurück ... Dann werden wir weitersehen!“

Eine Sekunde lang stand Lande unbeweglich und blickte lange und gramvoll Firsow gerade in die Augen. Aber der wandte sich ab und ließ seine Blicke über die Heiligenbilder, den Fußboden, die Wände laufen.

„Aber was haben Sie?“ rief Lande bitter. „Niemals waren Sie so zu mir.“

„Schon gut, schon gut!“ murmelte Firsow. „Sie haben sich auch was in den Kopf gesetzt. Bilden Sie sich nichts ein! ... Es gibt noch andere wie Sie, wenn Sie sich auch nicht in den Vordergrund drängen ... Wie manch andere! Jawohl, und ... diesem Lausebengel werde ich es noch beibringen, wie er ...“

„Aber er ist doch vor allen Dingen Ihr Sohn!“ Lande schlug sich mit der Faust an die Brust.

„Es ist nicht Ihre Sache, mich über meine Pflichten gegen meinen Sohn zu belehren! Verstehen Sie? Nicht Ihnen und nicht mich! Der Herr weiß, wo das Richtige ist ... Der Sohn — ich weiß, was ein Sohn ist! Ich habe keinen Sohn über meinem Gott!“ rief er wieder, indem er sich plötzlich umwandte. „Hier! ...“

Er konnte nicht zu Ende reden und begann, sich krampfhaft an die Heiligenbilder zu klammern, während er etwas auf den Boden fallen ließ und sinnlos murmelte:

„Hier alles ... alles ... alles hier!“

Lande blickte Firsow fragend an, zuckte schwer mit den Achseln und ging aus dem Zimmer:

„Ich werde jetzt lieber fortgehen ... meine Gegenwart regt Sie wahrscheinlich auf ...“ sagte er weich.

Ssonja stand an den Stufen mit dem Kind auf dem Arm.

„Gehen wir, es ist unmöglich, mit dem Vater zu sprechen ... Er ist jetzt fast wahnsinnig!“

Er nahm das Kind zu sich auf den Arm und trug es, die Wange an das weiche kindliche Bäckchen geschmiegt. Ssonja ging hinter ihm und schaute mit einem unnatürlich begeisterten Blick auf Landes Nacken, während sie mechanisch die von Tränen genäßte Hand abwischte.

X

Am andern Tag trat Firsow, im Rock und hohen Kragen, trocken und gerade wie ein Stock, in Ssemjonows Zimmer. Lande saß angekleidet am Fenster und schrieb, den Kopf zur Seite geneigt, eifrig, mit etwas kindischen, säuberlichen Schriftzügen ein großes Manuskript ab, das ihm Ssemjonow zur Abschrift verschafft hatte. Der kranke Student lag noch auf dem Bett und rauchte.

„Ah, Firsow!“ rief Lande freudig und erhob sich, um ihm entgegenzutreten, wobei er auf das sauber abgeschriebene Blatt einen Klecks machte. Ssemjonow bemerkte von weitem diesen Klecks, sagte aber nichts.

Firsow warf einen kühlen Blick auf Lande; reichte aber die Hand nicht.

„Ich bin gekommen, meinen Sohn abzuholen!“ sagte er trocken und übermäßig offiziell.

„Sserjoscha ist schon längst in den Garten gelaufen ...“

„Ssonja ging mit ihm spazieren ...“ warf Ssemjonow in gleichgültigem Ton hin.

„Ich danke Ihnen!“ Firsow verneigte sich ebenso unnatürlich nach seiner Richtung. „Und nun bitte ich um Entschuldigung ...“

Und er wandte sich zum Fortgehen.

„Was soll das heißen, Firsow?“ fragte Lande betrübt.

„Nichts!“ Firsow zuckte mit merkwürdig flottem Vergnügen die Achsel.

„Aber lassen Sie doch das!“ erwiderte Lande.

„Macht eine Pose wie ein Idiot!“ bemerkte Ssemjonow zornig.

Firsow drehte sich rasch zu ihm herum; er geriet aus einem stockdürren plötzlich in einen äußerst biegsamen Zustand.

„Ich weiß nicht, wer der Idiot ist!“ erwiderte er scharf. „Aber da es nun dazu kommt ... so bitte, ich will mich mit Ihnen auseinandersetzen.“

Er legte rasch Stock und Hut auf den Stuhl und setzte sich ebenso rasch und impulsiv daneben.

„Sehr notwendig!“ schnaubte Ssemjonow. „Hampelmann!“

„Ruhig, Wassja!“ bat Lande.

Firsow tat, als ob er nichts gehört hätte und drehte sich kurz nach Lande um.

„Ich sehe mich gezwungen, etwas weit zurückzugreifen ...“ begann er hochtrabend, mit offensichtlichem innerem Behagen an der vorbereiteten Rede. „Sie ... Iwan Ferapontowitsch, hatten einmal auf mich einen bedeutenden Einfluß ausgeübt, ich muß das gestehen ... ja, ich will es aufrichtig gestehen ... Ja, ich darf schließlich sagen, daß wir sogar Freunde waren.“

Tiefe Ziegelröte trat auf die welken, trockenen Backen Firsows; für einen Augenblick schien es, daß er in seiner Rede gestolpert wäre, als fürchtete er, Lande könne es bestreiten.

„Ich war Ihnen immer zugeneigt, Firsow ...“

Ein Zug verborgener, ihn selbst erniedrigender Befriedigung huschte über Firsows Mienen; doch sofort wurde er grob und unverschämt.

„Sie haben mich durch den äußeren Eindruck Ihrer Handlungen, deren wahren Sinn ich damals meiner Jugend wegen nicht durchschauen konnte, verlockt ...“

„Ich glaube, ich habe Sie doch als erwachsenen Menschen kennen gelernt ...“ fiel ihm Lande, der ihm mit äußerstem Interesse zuhörte, naiv ins Wort.

Firsow wurde wieder von einer besonderen blaugelb gedeckten Röte überzogen.

„Jawohl ... Allerdings, ich ... Ich wollte gesagt haben, daß, als Sie, noch ein Jüngling, Arme und Kranke besuchten und alles verteilten ... und so weiter, da meinte ich, einen wahren Christen gesehen zu haben ... und auch Ihre Reden bekräftigten mich darin ... Ich fühlte große Sympathie für Sie. Ich muß es auch jetzt gestehen ... Dadurch, daß Sie infolge Ihrer Beredsamkeit die vertrauensvolle Jugend fortrissen, wurden Sie sozusagen zum Mittelpunkt ... zu einem Abgott für viele. Selbst ich, ein Mann, — ich darf es ohne Überhebung sagen —, von innerem Halt und gefestigtem Charakter, ein Mann von Überzeugungen, konnte lange Zeit nicht den wahren Sinn Ihrer Reden und Handlungen begreifen ...“

„Und welchen Sinn hatten sie, nach Ihrer Meinung?“ fragte Lande mit Interesse.

„Das werden Sie schon selbst wissen ...“ Firsow warf ihm einen schlauen Blick zu und hob den Finger, als ob er ihn zur Seite schieben wollte.

„Nun, doch?“

„Den folgenden ... wenn Sie es durchaus zu hören wünschen ... Indem Sie sich am Dienst der Kirche in keiner Weise beteiligten, wollten Sie gleichsam betonen und ... und hervorheben, daß die wahre christliche Religion außerhalb der Kirche liegt ... Jawohl! Und Sie haben auch in der Tat viele verlockt, so daß sie aufhörten, die Kirche zu frequentieren und sogar in eine Kritik der Dogmen verfielen! ... Viele, aber nicht ich ... Ihnen ging es natürlich gegen den Strich, ich aber bin kein dummer Junge von Student; nicht Sie wären imstande, mich zu beirren. Eher werde ich Sie auf den wahren Weg leiten!“

„O Gott!“ seufzte Lande schmerzlich auf. „Was Sie nur da alles zusammenreden, Firsow!“

Ssemjonow drehte sich mit unterdrückter Aufregung schwer auf dem Bett hin und her.

„Jawohl, jawohl!“ wiederholte Firsow hochmütig. „Nicht mich.“

„Und doch kann ich nicht verstehen, was das alles soll ...“ Lande schlug die Hände auseinander.

„Das Folgende!“ schrie Firsow grob; sein dunkelgrauer Backenbart ging borstig in die Höhe. Es war offensichtlich, daß er sich verwickelt hatte und sich, da er es einsah, in seiner Eitelkeit gekränkt fühlte. „Erlauben Sie, schließlich, Ihnen geradezu die Frage zu stellen: Sind Sie ein Christ oder nicht?“

Ssemjonow schnaubte.

„Ich weiß wirklich nicht ... und wir wollen doch lieber ein andres Mal darüber sprechen ...“ versuchte Lande, den es um Firsow schmerzte, das Gespräch abzulenken.

Wie von einem Strom mitgerissen, schlug Firsow kurz Wort für Wort herunter: „Soo, — — Glauben Sie an die rechtgläubige Kirche?“

Lande lief aufgeregt im Zimmer umher.

„Was ist das für eine Frage, Firsow? Wozu das? Übrigens, wenn es Ihnen wichtig ist, an die Kirche glaube ich ganz und gar nicht, das ist selbstver— ...“

„So—o!“ fiel ihm Firsow ins Wort, während er aufsprang und sich mit enger Freude die Hände rieb. „Dieses Gespräch im Zusammenhang mit vielem anderen, sowie mit der Lossagung von Ihrer Mutter ...“

Lande riß die Augen weit auf.

„Das ist nicht wahr, ich habe mich niemals von meiner Mutter losgesagt ... nur habe ich mich entschlossen, getrennt von ihr zu leben, weil —“

„Aber wozu redest du noch ein Wort mit diesem Aas!“ brauste Ssemjonow plötzlich auf und setzte sich im Bett auf, zerzaust und gelb. „Weshalb erlaubst du jedem Strolch, in deine Seele hineinzufassen!“

„Ich verstehe!“ stieß Firsow in dem früheren falschen Ton zwischen den Zähnen hervor, und zog vorsichtig seine Mütze zu sich heran. „Mehr habe ich nicht zu fragen, obgleich ich noch einiges sagen wollte ... was möglicherweise —“ er fügte es mit augengesenkter stolzer Bescheidenheit hinzu — „Ihnen einen gewissen Nutzen bringen könnte ... Aber da es einmal ... genug! Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe ... Und Sie können versichert sein, daß ich so handeln werde, wie es mir meine Pflicht und mein Gewissen vorschreiben! ... Jawohl!“

Und Firsow erhob sich triumphierend.

„Ach, du altes Mistvieh!“ schrie wütend Ssemjonow, wollte aufstehen, begann aber furchtbar heiser zu husten und fiel, von kaltem Schweiß übergossen, mit dem Gesicht in die Kissen zurück. Der dünne bloße Fuß, der sich unter der Decke hervorgestreckt hatte, zitterte in krampfhafter Anstrengung.

Schadenfroh sah ihn Firsow an und bleckte die Zähne. „Ja, so—o!“ sagte er gedehnt von oben herab, dann wendete er sich ebenso wieder an Lande. „Und Ihnen möchte ich noch das eine sagen: alle Ihre Handlungen sind nichts als Heuchelei und Lüge ... Den wahren Glauben haben Sie nicht, vielleicht können aber Menschen, die Sie für tieferstehend halten, als sich ... Sie sind eben ein Diener des Antichrist und ...“

„Scher dich zum Teufel!“ kreischte, außer sich vor Wut Ssemjonow, und seine kranke, gespannte Stimme zerschnitt die Luft, wie ein Peitschenhieb. „Raus mit dir!“

Firsow sah ihn stolz an, setzte die Mütze auf und öffnete die Tür.

„Dieser halbkrepierte Hund!“ sagte er abgesetzt mit unendlichem Haß und Genuß, hinter der Tür. „Schweigen sollte der wenigstens, wenn er schon von Gott geschlagen ist! Will auch noch mit den andern weiter!“

Lande stand blaß und kopflos mitten im Zimmer und lächelte unbeholfen. Ssemjonow sah ihn an und begann sich, wie verschämt über seine Wut, immer noch zitternd und nach Luft ringend, anzukleiden.

„Gott! ... Soviel Haß und Grimm, und weshalb? Habe ich denn ...“

Ohne aufzublicken, warf Ssemjonow still hin: „Du mußt das einfach nicht beachten ...“

Aber Lande hörte ihm nicht zu. Er hatte nur das einzige, unüberwindliche Bedürfnis, sofort, ohne Verzug, den Haß und Grimm auszulöschen, die neben ihm und, wie ihm schien, durch seine Schuld emporgelodert waren, weil er nicht verstanden hatte, ihnen vorzugreifen, und die ihm jetzt unerträglich das Herz verbrannten; ohne Überlegung stürzte er kopfüber aus dem Zimmer.

„Wo willst du hin?“ rief Ssemjonow. Er erschrak über dieses unnötige und seiner Ansicht nach erniedrigende Vorhaben Landes.

„Ich komme gleich wieder ...“ murmelte Lande, lief die Stufen herunter und stürzte auf den Flügel zu, in dem Firsow wohnte. Die Tür war zugeschlossen; Lande prallte hart an ihr zurück.

„Firsow! Machen Sie auf!“ schrie Lande; er klammerte sich an die Türklinke.

Hinter der Tür konnte man nichts als dumpfes, triumphierendes Schweigen hören, es schien, daß gleich hinter ihr jemand verborgen war, der sich in geheimem Vergnügen sein Schweigen auskostet. Lande drehte und rüttelte an der Klinke.

„Firsow! Es ist ein Irrtum! machen Sie auf — ich will Ihnen alles erklären ... Machen Sie auf!“

Firsow ließ nichts von sich hören. Lande sah sich mit traurigen Augen um, biß sich auf die Lippe, um nicht von seinem Schmerz überwältigt zu werden, und trat zurück.

Aus dem Garten kam die zarte, schlanke Ssonja, vor der Sonne von einem durchsichtigen weißen Kopftuch geschützt, unter dem große Augen forschend und düster hervorblickten, auf ihn zu.

„Wanja,“ sagte sie streng und ernst, „gehen Sie von hier fort, Sie erniedrigen sich.“

„Ssonjetschka,“ erwiderte Lande ernst, „kann man denn das lassen? Es ist doch entsetzlich, sinnlos ... Wozu, weshalb diese Wut?“

„Er ist ein Schuft, ein Stück Dreck, ein Nichts!“ sagte Ssonja überzeugt. „Er haßt Sie schon lange, weil Sie besser sind als er ...“

„Ach, was Sie für dummes Zeug reden, Ssonja!“ wehrte Lande ab.

„Es ist wahr!“ rief Ssonja beharrlich und riß das Kopftuch herunter.

„Na, mag sein ... Nicht darum handelt es sich, Ssonja, wer besser oder nicht ... Nicht das ist wichtig.“

Auf den Stufen erschien Ssemjonow, halbbekleidet, ungekämmt und safrangelb.

„Lande,“ rief er kurz. „Komm her, gleich! Sonst prügle ich dich durch, bei Gott!“

In seiner Stimme klang deutlich Liebe und Mitleid und eine gewisse helle Verwunderung.

XI

Abends brannte in Firsows Häuschen Licht. Bei der toten, starrgelben Flamme saß er kerzengerade, unbequem am Tisch und setzte eine Anzeige gegen Lande an den Bischof auf. Die Feder schabte am Papier wie eine nagende Maus; es war heiß, schwül, von der dumpfen Luft und dem schweren Haß, der die beleidigte Seele Firsows füllte.

Hinter dem Fenster leuchtete der weiße Mond, atmete leicht die kühle, blaue Nacht. Auf dem Boulevard hätte man beim Mondenlicht lesen können; alles war durchsichtig-blau und rein, wie mit grünlich-blauer Emaille überzogen. Spaziergänger gingen ihn entlang; ihre schwarzen Schatten legten sich leicht und scharf auf die glatte Erde.

Lande und Ssemjonow, der eine in seiner alten Litewka, der andere im Studentenmantel, den er vollständig zugeknöpft hatte, ließen die Menge hinter sich und setzten sich auf die Bank über dem Abhang.

„Und ich sage dir,“ Ssemjonow schwenkte entschieden den Stock, „daß die Menschen sich in der Suche nach einem sogenannten Glück zur Genüge gequält haben. Es ist längst an der Zeit, darauf zu spucken und auseinanderzugehen ...“

„Nein,“ erwiderte Lande traurig aber fest, „das ist Verzweiflung, und Verzweiflung ist eine Sünde; sie bedeutet, daß man den Mut sinken läßt. Wir kennen den Willen Gottes nicht und können uns daher nicht selbständig von ihm trennen. So oder anders, wir werden doch den Willen desjenigen, der uns geschickt hat, erfüllen. Und ich meine, daß wir nicht verbittert, nicht verzweifelt sein sollen. Wir müssen trachten, wie es am besten zu erfüllen ist, was wir nicht unerfüllt lassen können; — das ist das Leben! Es ist das Beste für den Menschen.“

Ssemjonow schwenkte verächtlich den Stock, und sein schwarzer Schatten wiederholte diese Bewegung.

„Und wer will uns lehren, wie es am besten zu erfüllen ist?“

„Unser Herz,“ antwortete Lande überzeugt. „Unser Gewissen.“

„Na, Bruder, das Gewissen ist bei den Menschen verschieden ...“

„Darüber braucht man nicht nachzudenken, Wassja ... Niemand beruft uns dazu, die verschiedenen Gewissen abzuschätzen und zu vergleichen: jeder Mensch hat nur an sein eigenes zu denken ... Es ist Überhebung, Wassja ... alles unbedingt gleich abzuschätzen und klarzumachen; auch sein Urteil über alles zu fällen. Es ist nur nötig, daß sich jeder Mensch aufrichtig mit allen seinen Handlungen im Recht glaubt.“

„Das ist alles sehr schön ...“ Ssemjonow schmunzelte. „Hat aber wenig Zweck ... so, mein Lieber!“

Ihnen näherten sich, auf dem dunklen Hintergrund der Häuser und Bäume vom Mondenlicht klar umrissen, Schischmarjow, Molotschajew, Marja Nikolajewna und Ssonja, die sich mit der Hingabe und Verliebtheit, die Backfische stets erwachsenen, schönen Mädchen gegenüber empfinden, an Marja Nikolajewna schmiegte.

Marja Nikolajewna drückte Lande unschlüssig und linkisch die Hand und lächelte unwillkürlich, weil ihr seine Gestalt am Abend des Überfalls in Erinnerung kam. Sie wandte sich ab und legte ihren weichen, vollen Arm um Ssonja; Molotschajew stand schön und groß am Abhang, wie von kaltem Silber des Mondlichts angeschmiedet, der kleine Schischmarjow sprach eiligst auf Lande ein.

„Höre, Wanja, das ist doch wirklich zum Teufel!“ sagte er mit scharfer Stimme, während er nervös die Hände bewegte und rieb. „Bist du denn wirklich ganz außerstande, Menschen zu unterscheiden? Dieser Firsow ist doch ein allgemein bekanntes Dreckstück, ein Mucker, Angeber, ein Mitglied des echtrussischen Verbandes, und du gibst dich mit ihm ab ... Mir hat Ssonja erzählt, daß du ihn beinahe um Verzeihung angefleht hast.“

„Er ist kein so schlimmer Mensch ...“ erwiderte Lande leise.

„Aber auf Schritt und Tritt begeht er Schuftereien.“

„Er begreift nicht, was er tut und wie sehr er sich dadurch selber schadet. Hätte er das verstanden, würde er es nicht getan haben ... Man muß es ihm klarmachen, ihn mehr bemitleiden, dann wird er es begreifen ...“

„Pfui Teufel!“ Ssemjonow spie entrüstet aus.

Schischmarjow starrte Lande fragend an.

„Sei mir nicht böse, mein Lieber! ...“ sagte Lande sanftmütig zu Ssemjonow. „Ich rege dich in einem fort auf, aber ich bin wirklich ...“

„Wenn du es wissen willst,“ fiel ihm scharf und hitzig Schischmarjow ins Wort, „eine solche Liebe ist einfach sinnlos. Lieben muß man Menschen, die der Liebe oder wenigstens des Mitleids wert sind; aber wer nur Verachtung verdient, der muß verachtet und vernichtet werden, wie man krankheitserregende Keime vernichtet, um die Luft, die von allen eingeatmet wird, zu säubern und gesund zu machen. Diese berühmte Nächstenliebe, diese unterschiedslose, widersinnige Liebe, hat nur dazu geführt, daß man eine ganze Menge von dem Schädlichen, das unbedingt vernichtet werden müßte, kultiviert und erhält!“

„Es gibt sehr viele Menschen, denen wir, ich und du schädlich vorkommen. Ich glaube nicht, daß es unter den Menschen Schädlinge geben kann ...“

„Du kannst unmöglich nicht daran glauben!“ erwiderte Schischmarjow hitzig und zupfte die Ärmel seiner kurzen Litewka zurecht.

Die schlanke Ssonja atmete gespannt auf; hielt aber gleich wieder den Atem ein, ohne ein Auge von Lande zu lassen.

„Nein, ich glaube es nicht!“ Lande schüttelte den Kopf. „Wenn es auch böse Menschen gibt, so sind es doch nicht schädliche Menschen. Hätte es nicht ihr Böses gegeben, so könnten auch nicht die besten Eigenschaften des menschlichen Geistes: Selbstvergessen, Vergebung, Selbstaufopferung, reine Liebe sich zeigen und entwickeln ... aber sie müssen in Erscheinung treten, ohne sie wäre das Leben nur sinnloses Vegetieren.“

„Ich danke dafür!“ erwiderte Schischmarjow aufgeregt. „Demnach wäre auch der Gestank nützlich, weil er die frische Luft zu schätzen lehrt?“

„Vielleicht,“ Lande lächelte. „Nur ist es etwas ganz anderes ... und zu einfach: ein Mensch ist Vieles zusammengenommen. Er ist doch zu schön und kraftvoll, als daß man an ihn das gleiche Maß anlegen könnte, mit dem man Mist mißt!“

„O Gott! Und der Mensch macht noch Kalauer!“ lachte Ssemjonow mit komischem Entsetzen.

„Ich? ... das war kein Witz, — das kam mir so in den Mund.“ Lande wurde verlegen.

„Der liebe Wanja! ...“ flüsterte Ssonja leise Marja Nikolajewna zu; sie blühte in einem hellen Lächeln auf, das ihrem stets exaltierten Gesicht gar nicht eigen war.

Marja Nikolajewna seufzte leicht. Das Lächerliche und Jämmerliche, das sie in der letzten Zeit an Lande gesehen und das ihr unbewußt leid getan hatte, — war an diesem Abend allmählich weiter und weiter von ihrem Herzen fortgezogen, bis es plötzlich irgend wohin ganz verschwunden war. Und ein stilles, frohes Gefühl trat an seine Stelle. Sie wendete Lande ihren Kopf zu, blickte auf sein mageres Gesicht, das unter dem Mondlicht und dem angespannten Denken blaß geworden war, und sagte sich:

„... Es ist alles richtig, was er sagt! Eine Wahrheit, die vor ihm allein offen liegt! ... Man kann es nicht mit Worten ausdrücken, aber wahr ist es ... Der liebe, der gute! ...“

Sie errötete, wandte sich ab und drückte Ssonja fest an sich.

„Wann werden Sie endlich genugsam gestritten haben, meine Herren?“ warf Molotschajew mit selbstsicherer Nachlässigkeit ein. „So werden Sie Ihr ganzes Leben lang verstreiten ... Gehen wir lieber rudern ... Mag doch jeder so leben, wie es ihm gefällt!“

„Sie verkünden eine heilige Wahrheit,“ erwiderte Ssemjonow und schwenkte die Hand. „Nur werde ich gerade ihrer richtigen Bemerkung gemäß nicht rudern, sondern schlafen gehen.“

„Auch ich kann nicht mitkommen,“ sagte Schischmarjow; „ich habe noch einiges zu lesen.“

Lande lächelte.

„So werden Sie wohl allein mitfahren, Marja Nikolajewna, weil ich auch fortgehe ... Ich fühle mich nicht ganz wohl.“

Sie gingen auseinander. Als das Boot in die Mitte des Flusses hinauskam, wurde es um sie ganz besonders hell und geräumig; es war leicht zu atmen. Ssonja kauerte unbeweglich auf dem Boden des Bootes und starrte von ihrem Sitz unverwandt in den Mond.

Das Wasser neben dem Boot war schwarz, schwer und bodenlos; in der dunklen Tiefe barg sich kaltes Grauen. Marja Nikolajewna beugte sich über Bord, und ein gieriger Hauch schlug aus der Tiefe in ihr Gesicht. Trübe spiegelte er sich in ihm wieder; es sah blaß und tot aus.

„Ah, es ist ängstlich!“ sagte sie und lehnte sich zurück.

Molotschajew warf den Kopf hoch, lachte und begann zu singen. Seine Stimme schlug wie herausfordernd an die glatte, düstere Oberfläche und hallte irgendwo im freien Raum wieder.

„Der Dampfer ...“ sagte Ssonja leise.

Sie sahen sich um und erblickten etwas Riesiges, Schwarzes, dicht neben sich aus der Finsternis herauswachsen. Schwarzer Dunst quoll, wie eine ungeheure, niederwuchtende Säule empor und beschmutzte Himmel und Sterne. Ein rotes Feuer blickte sie scharf und gierig an.

Man hörte schon, wie das Wasser düster aufwirbelte. Ein scharfes, messinghartes Pfeifen durchbohrte die Luft, erfüllte den Himmel, das Wasser, im selben Augenblick bedeckte der riesige Schatten den Mond vor ihnen, füllte alles mit Finsternis an, peitschte eine schwere kalte Welle auf und hüllte sie in einen erstickenden Rauch ein, der sich mit den Spritzern und der Gischt aus der aufgerührten Tiefe vermischte. Das Boot ging in die Höhe, prallte gegen etwas an, stürzte einen furchtbaren nassen Abgrund hinab; für eine Minute schien es, daß sie untergehen. Aber im selben Augenblick floh der Schatten vorüber, der Mond sprang empor und blieb wieder, hell und unbeweglich, über dem Wasser stehen, das jetzt in wilder Freude quirlte und glitzerte.

„Wunderbar!“ Molotschajew war ganz hingerissen.

„Wunderbar!“ rief gleichzeitig Marja Nikolajewna mit klingender Stimme, und preßte die Hände an die Brust. Und glänzend vor Jugend und frischer Kraft fügte sie hinzu: „Das Herz riß mir geradezu ab. Ich meinte, wir ertrinken ... Der Tod!“

„Aber ich war gar nicht erschrocken!“ warf unerwartet und ruhig Ssonja hin: „Ist es denn nicht gleich, wann wir sterben! ... Ich hatte keine Angst!“

Molotschajew riß mit komischer Verwunderung die Augen auf. „O Gott! ... Ein kleiner Lande! Es wäre doch schon an einem genug!“

Marja Nikolajewna blickte ihn an, er schien ihr kräftig und schön; sie seufzte tief auf und lachte dann im Einklang mit ihm.

„Sie können Lande nicht verstehen!“ erwiderte Ssonja feindselig.

Molotschajew hob verachtungsvoll den Kopf. „Mag sein ... Warum auch! Dafür verstehe ich das Leben, die Liebe, die Schönheit ... mit meinem ganzen Wesen! ... Das Leben, die Kraft, die Jugend, die Schönheit — sie mögen leben! Marja Nikolajewna, nicht wahr?“

Marja Nikolajewna seufzte angestrengt und reckte sich still und stark mit der glücklichen Sehnsucht der verlangenden und wartenden Jugend.

„Ja, richtig ...“ antwortete sie leise.

„Ach!“ rief Molotschajew wild, leidenschaftlich und sinnlos glücklich, und sein rufender, rätselhafter Schrei flog unendlich weit über das Wasser. Langsam und gleichmäßig stiegen und senkten sich die Wellen um das Boot, und die Lichtsäule des Mondes glitzerte und wiegte sich, mit ihnen.

XII

Im Garten war es finster, es roch stark nach warmer Feuchtigkeit. Die Bäume und Büsche waren nicht mehr im einzelnen zu erkennen, sie waren alle in eine tief dunkle Masse zusammengeschweißt, in der nur geheimnisvoll, unbeweglich Johanniswürmchen, wie winzige, weiße Fünkchen in dem dunklen Strom der Nacht, aufleuchteten.

Molotschajew und Marja Nikolajewna gingen durch die Finsternis; sie mußten sich auf dem unsichtbaren, festen Weg mit den Füßen vorwärtstasten.

„Setzen wir uns,“ sagte Marja Nikolajewna; ihre Stimme hob sich scharf von der gespannten Stille des Gartens ab.

Sie fanden, ebenso tastend, die Bank und setzten sich nebeneinander.

Nach wie vor glänzten hier und dort weiße Funken in der Tiefe der Finsternis auf. Molotschajew beugte sich nieder und griff in dem nassen, warmen Gras nach einem Leuchtwürmchen. Bläulich phosphoreszierendes Licht, das einem saphirgrünen Punkt entströmte, erhellte seine breite, kräftige Hand. Marja Nikolajewna neigte sich, und ihre Köpfe fielen in dem schwachen Lichtschein fest zusammen.

„Es ist nicht erloschen ...“ sagte Marja Nikolajewna leise, als ob sie fürchtete, das regungslose, still leuchtende Würmchen zu erschrecken.

Der stille Hauch ihrer Worte berührte weich und zart Molotschajews Wange. Er hob die Augen und sah im durchsichtigen Schein ihr feines, zartes Profil und den oberen Teil der vorgestreckten Brust.

Irgendwo neben ihnen fiel etwas weich ins Gras und man hörte, wie ein Zweig sacht ins Wiegen kam. Sie seufzten beide und sahen sich um. Molotschajew schüttelte das Leuchtwürmchen vorsichtig von der Hand ab; es wurde wieder finster und roch noch intensiver nach warmem, feuchtem Gras.

In Molotschajews Brust drängte bebend ein lockendes Gefühl; er meinte, die gespannten, rufenden Schläge ihres Herzens zu vernehmen. Vor seinen Augen, in trübem Grau, flimmerte eine schlanke, etwas geneigte, weibliche Gestalt; sie war in der Finsternis wie weit von ihm entfernt; nur der feine, erregende Duft ihres Körpers und ihres trockenen Haares strich dicht an seinem Gesicht vorbei. Die Dunkelheit wurde immer angespannter, die Finsternis verdichtete sich mehr und mehr, alles trat zurück, umgab sie mit toter Leere, in der es nur sie allein, nur eine Sehnsucht ihres kräftigen, überreizten Körpers gab. Immer enger zog sich zwischen ihnen die Entfernung zusammen; und allmählich traten sie, von einem eigenen, sinnbetäubenden Licht, still wie die Nacht, wie ihr Verlangen erhitzt und bebend wie ein Geheimnis, übergossen, aus dem Dunkel hervor. Molotschajew streckte leise die Hand aus, glitt auf den erzitternden, weichen Körper zu und umarmte ihn.

Langsam legte sie den Kopf in den Nacken, so daß ihre unsichtbaren, weichen Haare auf Schulter und Arm Molotschajews fielen; eine unüberwindliche Macht hatte sie in eins verschmolzen; es war nichts zwischen ihnen, als einzig das schmerzlich süße kreisende Verlangen.

Doch plötzlich zersprang die Finsternis in tausenden Feuern, erklang in dröhnenden Lauten, verschwand zwischen den vortretenden Bäumen, Büschen und den spöttischen nächtlichen Fünkchen: Marja Nikolajewna war Molotschajews Händen, biegsam wie eine gleißende Schlange entschlüpft, und lachte silberhell und spöttisch, während sie zur Seite sprang. Die wirbelnden und klingenden Töne ihres Lachens überstürzten sich; sie waren weit in den Garten, ihn mit einem Schlag aufweckend, eingedrungen.

Molotschajew erhob sich verwirrt, kopflos und reckte schwerfällig seinen großen, schweren Körper, der noch immer in jeder Fiber bebte.

„Marja Nikolajewna ...“ seine Stimme klang dumpf, zitternd. „Was sollen die Scherze?“

„Was?“ Marja Nikolajewna fragte mit geheuchelter Neugierde; ihm schien ihr Ton boshaft und höhnend.

„Was für Scherze? Was ist denn los?“

Wieder wirbelte ihr silberhelles Lachen in der Finsternis und klang zurück; heiße Furcht und gierige Wünsche tönten heraus. Von unten drückte sich in Molotschajews Kopf eine schwere, rachsüchtige Reizung durch. Die Haare klebten an seiner weißen Stirn, Nebel schwamm vor seinen Augen, im Kopf schwindelte es dumpf und still.

„Ah!“ schrie er heiser, beugte trotzig den Kopf, wie ein Stier, nach vorn, und schob sich langsam auf sie zu. Er vergaß an alles, entfernte sich von allem, sah nur noch, wie sie ihn biegsam und neckisch anlockte. Mit seinem ganzen Wesen empfand er, daß sie ihn ebenso heiß begehrte, daß sie nur fürchtete, ihn neckte und ihm trotzte. Das instinktive Verlangen vermischte sich plötzlich mit wollüstigem Haß, mit dem Durst nach brutaler Vergewaltigung und schamlosen Schmerzen.

„Na—na—na! ...“ schrie das Mädchen erschrocken auf und schlug ihn mit irgend einem nassen stechenden Zweig, der ihm das Gesicht mit kalten Tropfen bespritzte, über die Hand.

„Gehen wir lieber nach Hause ... Sie sind heute zu — — gefährlich!“ sagte sie, noch zitternd und doch schon ihren Sieg auskostend. Mit dem brennenden Genuß, mit dem der Mensch in einen tiefen Abgrund schaut, nahm ihn das Mädchen höhnend unter den Arm.

Und sie gingen. Sie blickte ihm von unten ins Gesicht; spottete über seine Ohnmacht, sprühte Tau und Funken ihres nervösen, erregenden Lachens auf ihn nieder und er, der Ungeschickte, Brünstige, Wilde, er ging demütig, feige neben ihr und bezwang das wütende Verlangen, sie zusammenzuknicken, aufs Gras zu drücken, zu unterwerfen, durch seine Kraft und Leidenschaft zu vernichten.

XIII

Die Nacht war heiß, drückend, voll sonderbarer, unruhiger Träume, voll erhitzten, unbefriedigten Blutes. Erst beim Tagesgrauen fiel Marja Nikolajewna in einen ruhigen, weichen Schlaf, erwachte aber früh, am sonnigen Morgen. Ein ganzer Strom lichter, frischer Luft drang zum Fenster herein und erfüllte das Zimmer mit dem unendlich leichten, blendenden Licht des freudigen Morgens.

Die Kissen waren zerknüllt, das Laken hing zum Boden herunter, das Hemd war von den Schultern geglitten, zeigte die zarten, weichen Füße, wand sich eng an den runden und feinen Körper, der es wie weiße Wellen trug. Die schwarzen Haare waren auseinander gefallen, die Arme hatte sie in einer wonnigen, geschmeidigen Bewegung hinter den Kopf verschränkt, ihre Augen blickten freudig, fragend; eine gewisse undeutliche und doch bestimmte Erwartung lebte in ihrer dunklen Tiefe.

Sie schämte sich dessen und fand es doch gleichzeitig eigenartig und äußerst interessant, was sich gestern im Garten abgespielt hatte. Die rosigen Zehen an ihren kleinen vollen Füßchen spreizten sich leise; darin, daß es die einzige, kaum merkliche Bewegung des von der Erinnerung gespannten, geschmeidigen Körpers war, lag ein trotziger, selbständiger Zug.

Sie senkte langsam den Blick, ließ ihn über den ganzen Körper gleiten; ihr Herz schlug plötzlich angenehm und bange; sie schauerte zusammen, wußte selbst nicht warum, sprang auf, streckte sich geschmeidig und leidenschaftlich und blieb mit einem einzigen Ruck halbnackt und rosig hochaufgerichtet stehen.

Ssonja, die bei ihr schlief, schlug die Augen auf. Sie lag klein und schmächtig unter der grauen Decke, und sah, ohne sich zu regen, forschend und ernst Marja Nikolajewna an, als ob sie wüßte, was in ihr vorging, aber es erst durchdenken müßte.

Marja Nikolajewna sah ihre weitgeöffneten, strengen Augen, fuhr erschrocken, schmerzhaft zusammen und stürzte sich auch jetzt, ohne zu wissen, warum, auf Ssonja, umschloß den mageren Körper mit ihren vollen, nackten Armen und drückte ihn an ihre elastische Brust.

„Ach, Ssonjka, Ssonjka,“ sagte sie freudig und schamhaft, „wie schön ist es zu leben!“

Ssonja hob den blassen, zerzausten Kopf, überlegte ein Weilchen und sagte dann:

„Ich weiß es nicht ...“

Marja Nikolajewna warf ihr einen einsichtigen, in sich vertieften Blick zu und lachte dann mitleidig und überlegen:

„Bist noch ein dummes Ding, Ssonjka! ... Du verstehst noch nichts.“

Ssonja setzte sich auf, die dünnen nackten Arme fielen am Körper herab.

„Ich verstehe alles!“ erwiderte sie mit unumstößlicher Überzeugung, „nur kann ich es manchmal nicht aussprechen! ... Nur das Große ist im Leben wichtig! ...“

Marja Nikolajewna fing an, hin und her zu schaukeln, sah dabei aber nicht sie an, sondern ihre feine, bläuliche Haut, die sich an den Gelenken der durchgedrückten, rosigen Arme in Falten legte und sich bewegte.

„Ssonja, warum bist du nur so lächerlich und ernst?“

„Ein ernster Mensch kann nicht lächerlich sein. ... Beides zusammen gibt es nicht,“ erwiderte Ssonja mit nachsichtiger Überlegenheit, als spreche sie mit einem mutwilligen Kind.

„Doch, es kann! Du Lächerliche, Ernste ... du Liebe!“ Marja Nikolajewnas Stimme klang singend, ganz durchstrahlt von leidenschaftlicher Freude. „Du wirst wahrscheinlich niemals anders werden ... Und wirst auch nie leben!“

„Ich weiß, wie ich leben werde ...“ erwiderte Ssonja nachdenklich.

„Wie?“

„Ich weiß schon ... Nicht wie alle ... wie es sich wirklich zu leben verlohnt, um ... zu etwas Höherem ... Ich werde wie Wanja leben,“ schloß sie triumphierend. Plötzlich errötete sie furchtbar und wurde zu einem wunderbar zärtlichen, lieben Mädchen, das man unter Tränen und Lachen abküssen möchte.

Marja Nikolajewna küßte sie auch, lachte und schüttelte sie, und beide wälzten sich halbnackt im Bett und verwickelten sich in dem Laken; die eine geschmeidig, kräftig und elastisch, die andere dünn und zerbrechlich. Zwei Mädchen, die das Weib in sich fühlen.

XIV

An diesem Tag reiste Ssemjonow mit dem Nachmittagszug nach Jalta. Dort konnte er, wie die Ärzte sagten, denen er nicht glaubte und doch glauben wollte, gerettet werden. Alle hatten sich versammelt, um ihn zur Bahn zu begleiten.

Ssemjonow fühlte sich sehr schlecht. Ihn freute nichts mehr. Ein nagender, unverständlicher Schmerz hüllte ihn wie ein schwerer Nebel, der ihn alles um sich nur undeutlich und trübe sehen ließ, ein. Gleichgültig und kühl reiste er fort, als ob sein Körper schon abgestorben sei, sein Geist aber nach innen gerichtet wäre, in die bodenlose Tiefe seiner einsamen Schmerzen. Er war weder erfreut, noch verdrossen, daß alle zum Abschied zu ihm gekommen waren. Ihm war es gleich. Nur Lande machte ihm Sorgen, und diese unbegreifliche, bekümmerte Aufmerksamkeit, die er für ihn hatte, berührte die anderen eigentümlich, wie ein Lächeln auf dem Gesicht einer starren, kalten Leiche.

„Nun, Lande, bleibe und lebe hier!“ sagte er mit trockenem Hüsteln. „Und wie wirst du essen?“

„Irgendwie ...“ beruhigte ihn Lande lächelnd und fügte scherzhaft hinzu: „Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie sähen nicht ...“

„Bist ein Dummkopf!“ versetzte Ssemjonow zornig. „Du bist doch kein Vogel ... Wenn man dich nicht füttert, wirst du vor Hunger krepieren. Eigentlich sehr komisch! ... Wäre ich der liebe Gott, ich hätte dich längst schon lebendig zu mir aufgenommen ... und in ein Irrenhaus gesteckt.“

Lande lachte ansteckend lustig und gutmütig.

„Liebster Wassja, du bist der beste von allen Menschen, die ich je gesehen habe ...“

„Und du der Dümmste ...“ Ssemjonow machte eine verdrossene, ungeduldige Handbewegung.

Er schwieg eine Weile.

„Schischmarjow versprach, dir Stunden zu verschaffen.“

„Na, also schön!“ Lande war erfreut.

Schischmarjow und Molotschajew kamen zusammen.

„Sie fahren?“ fragte gleichgültig der Maler.

„Natürlich!“ erwiderte Ssemjonow unfreundlich.

„Einen Schüler hätte ich für Lande gefunden,“ sagte Schischmarjow.

„Nun denn ... hörst du?“ Ssemjonow blickte auf Lande.

„Es ist schon bald Zeit, zur Bahn zu fahren.“ meinte Schischmarjow besorgt, während er auf die Uhr sah.

Als Ssemjonow einen Augenblick hinausging, fragte Molotschajew teilnahmslos.

„Wohin reist er? Nach Jalta? Mit welchen Mitteln?“

„Als Hauslehrer,“ antwortete Schischmarjow und zuckte die Achseln: „wie es Studentenbrauch ist!“

„Als Hauslehrer?“ Molotschajew wunderte sich, und ein Schatten von Mitleid glitt für eine Sekunde über sein Gesicht. „Wie kann er als Hauslehrer gehn? Ihn wirft doch jeder Windstoß um!“

Lande stand auf, drückte hastig die Hand gegen seine Wange, wie in plötzlichem Schmerz, setzte sich aber sofort wieder.

„Ach was!“ meinte Schischmarjow, und er machte eine Miene, als wenn er etwas Angenehmes sagte: „unsereiner, ein armer Teufel, kann nicht nach solchen Feinheiten fragen! Hat noch bisher keinen umgeworfen? Also wird es noch weiter gehen.“

Unter dem Fenster tauchte ein schwarzer, durchbrochener Schirm, dann ein zweiter hellroter auf.

„Marja Nikolajewna und Ssonja kommen!“ sagte Lande.

Sie traten zusammen mit Ssemjonow herein. Ssonja war ernst, still, machte ihren Schirm zu und setzte sich ebenso Lande gegenüber in die Ecke. Marja Nikolajewna lachte erregt und verlegen, grüßte kaum und blieb mitten im Zimmer stehen, drehte den offenen Schirm auf dem Boden herum, lachte, strahlte mit den Augen und den bloßen Armen und schien Molotschajew überhaupt nicht zu sehen.

Als sie eintrat, fühlte Molotschajew, wie irgend eine Sehne in der Kniekehle nervös zu zittern anfing. Er stand auf und trat an das Fenster; nachlässig angelehnt warf er nur hin und wieder einen raschen, gierigen Blick auf sie.

Der Fuhrmann kam. Man hatte schon von weitem den Wagen rasseln und die Gäule schnauben hören.

„Na, gehen wir!“ sagte Ssemjonow gleichgültig.

Lande wollte den Koffer nehmen, aber Molotschajew rief:

„Ach, was wollen Sie denn damit!“ Er griff selbst zum Koffer und hob ihn auf, als ob es eine Feder wäre, und trug ihn mit dem Vergnügen, seine Kraft zeigen zu können. Marja Nikolajewna sah ihn nur flüchtig an und schaute gleich auf Ssemjonow. Der gebeugte, kranke Student saß schon in seinem verblichenen, grünlichen Mantel mit grüngewordenen Knöpfen in dem Wagen, die Mütze hatte er tief über die Ohren gestülpt.

„Na, lebet wohl!“ rief er traurig, als das Pferd anzog.

„Auf Wiedersehen! auf Wiedersehen!“ riefen ihm junge, lebhafte Stimmen zu.

„Ja, halt!“ Der Fuhrmann hielt ein. „Also du, Lande ... Übrigens, was geht es mich an? Wie du willst! Lebe wohl!“ er schnitt sich selbst das Wort ab und fuhr weiter.

Seine gebeugte, unscheinbare Gestalt hüpfte lange noch inmitten der Straße. Sie nahm sich ganz seltsam aus, war dunkel, es schien, daß in dem hellen, lichten Tag voll Glanz und Freude nur auf ihn allein die warme Sonne nicht scheinen wollte ... Ssonja weinte still.

„Ich begleite Sie, Marja Nikolajewna!“ sagte Molotschajew; aus seiner Stimme hörte sie gebieterischen Willen.

Ein ganz eigenartiger Schreck bemächtigte sich ihrer.

„Ich bleibe hier bei Ssonja,“ sagte sie, obgleich sie zuvor nicht daran gedacht hatte.

Molotschajew wurde tiefrot, und wieder stieg ein wollüstig-rachsüchtiges Gefühl in ihm langsam empor.

„Das ist schön!“ rief Lande freudig. „Gerade mit Ihnen möchte ich jetzt sprechen!“

Molotschajew überflog ihn mit einem Blick; widerwärtige Eifersucht sog an seinem mächtigen, schönen Körper und warf ihn in ohnmächtigem Grimm zusammen.

„Wie Sie wollen ... Auf Wiedersehen! Gehen wir, Schischmarjow!“

In Ssemjonows Zimmer war es leer und kühl. Marja Nikolajewna hatte sich an das Fenster zum Garten gesetzt, Ssonja faßte ihre weichen Knie, und Lande stand neben ihr.

„Warum wollten Sie gerade mit mir sprechen?“ fragte Marja Nikolajewna und lächelte.

Lande lächelte ebenfalls aber freudig.

„Weil Sie so jung und schön und gut sind, möchte ich gerade mit Ihnen sprechen ... Die Sonne scheint so warm, so gut ...“

Marja Nikolajewna lachte hell und glücklich.

„Als ob ich wirklich so wäre!“

„Ganz gewiß. Sie sind es! ...“ wiederholte Lande mit naiver Überzeugung. „Und wie schön ist das.“

„Was?“

„Daß es wie Sie schöne, zarte, junge Frauen gibt! Ich glaube immer, daß Gott nur dazu den Menschen weibliche Jugend, Schönheit und Zartheit geschenkt hätte, damit sie nicht ganz an Freude und Liebe verzweifeln, solange ihre entsetzlich schwere, freudlose Arbeit am Leben dauert.“

Ssonja ließ kein Auge von ihm, unter den Lauten seiner Stimme wurden ihre blassen Wangen rosiger und lebendiger.

„Dann werden also, sobald diese Arbeit einmal beendet ist, gar keine Frauen mehr nötig sein?“ fragte Marja Nikolajewna nachdenklich.

„Nein, weshalb?“ erwiderte Lande freudig. „Sie werden bleiben ... ebenso herrlich, nur werden dann alle und alles ebenso herrlich, jung und zart sein. Dann wird einst alles hell und heiter werden, jetzt aber sind sie nur ein Strahl von dort, von dieser hellen Zukunft.“

Lande schwieg eine Weile und fügte hinzu:

„Mir tut es immer leid ... ich weiß nicht, vielleicht ist es ein häßliches Gefühl ... wenn sich ein junges, glückliches Mädchen einem gierigen, brutalen Mann hingebt ... Ich bin froh über ihr Glück; aber gleichzeitig tut sie mir leid. Als ob jemand ein klares Flämmchen, das für alle geleuchtet hatte, in seinen Besitz nimmt, fortschleppt, auslöscht ... Ich glaube, übrigens, daß ich nicht aus schlechtem Gefühl so empfinde ... es tut mir nur leid, weil viel zu wenig Menschen solche Flämmchen besitzen! ...“

„Aber es kann doch gar nicht anders sein!“ erwiderte Marja Nikolajewna leise und senkte den Kopf. Ihr erschien, daß er von ihr sprach.

„Ja, ja,“ gab Lande eilig zu, „gewiß nicht! ... Mir tut es nur leid, daß die Jugend und Schönheit nicht Allgemeingut sein kann. Übrigens, die Menschen glauben, daß das schlecht wäre ... Ich weiß nicht ... vielleicht ...“

Es war still und hell. Die reine, durchsichtige Luft versilberte jeden Laut und kleidete jeden Atemzug in Freude. Marja Nikolajewna wandte Lande ihre Augen zu, und eine seltsame Empfindung durchzuckte sie: für einen Augenblick überkam sie leidenschaftlich, wie nie zuvor, das Verlangen nach Leben; ihr schien, daß sie dazu imstande wäre und es tun wird: alle zu lieben, allen Lust, Genuß, Licht und Freude, ihre Jugend und Schönheit, ihren herrlichen, kraftvollen Körper hinzugeben. Das durchlief sie und verschwand; es blieb nur, wie eine tiefe Furche, nachdenkliche Zärtlichkeit und stille Zuneigung für diesen stillen, schwachen Menschen mit den herrlichen Augen zurück, der neben ihr stand. Lande sah sie klar und heiter an; da wünschte sie, undeutlich, zum ersten Mal, mit ihm eins zu werden. Ein leichter, schamhafter Gedanke huschte voran und beleuchtete klar die zukünftige Vereinigung ihres reichen Körpers mit jenem sonderbaren, träumerisch-zarten Wesen, das er in seiner Seele trug. Eine Vorahnung des unendlichen Glückes überflutete sie wie eine unaufhaltsame Woge von Rührung und Wonne.

Marja Nikolajewnas Schultern zogen sich geschmeidig zusammen. An ihren Knien machte Ssonja plötzlich eine kaum merkliche spröde Bewegung, als ob etwas leise gekracht hätte.

„Mir war noch nie im Leben so eigentümlich und wohlig zumute,“ sprach Marja Nikolajewna unwillkürlich laut.

„Sie müssen sich doch immer gut fühlen!“ sagte Lande mit feuchten Augen. „Es ist doch solch ein Glück, so viel Schönheit in sich zu fühlen, zu wissen, welche Freude man allen damit bereitet.“

„Nicht immer!“ erwiderte Marja Nikolajewna kaum vernehmlich, während sie den Kopf zurückwarf und den Nacken gegen das kalte, harte Fensterkreuz stemmte.

„Vielleicht dann nicht,“ sagte Lande, „wenn die Menschen zu ihrem eigenen Schaden weiblicher Jugend und Schönheit roh, unachtsam gegenübertreten ... Wenn sie sie erst begriffen hätten, dann würden sie ihre besten Kräfte, alle Möglichkeiten ihrer Seele aufbieten, damit das Leben veredelt wird. Wie leicht wäre es dann, zu arbeiten und zu warten!“

„Lande!“ schrie vom Hof her Schischmarjow. „Wo bist du?“

Alle fuhren zusammen; es fiel ihnen schwer, zu sich zu kommen. Lande ging eilig heraus. Man hörte, wie ihm Schischmarjow eindringlich sagte:

„Wir sind zu dir gekommen. Die Mutter des Gymnasiasten, den ich für dich gefunden habe, bittet, ich möchte dich gleich zu ihr schleppen; sie will mit dir sprechen.“

„Ich komme gleich ...“ antwortete Lande mechanisch, fast traurig.

Marja Nikolajewna seufzte tief, legte ihren Arm um Ssonjas dünnen Hals und zog sie an sich.

„Manja ...“ rief Ssonja feierlich.

Marja Nikolajewna blickte ihr schweigend in die Augen. Sie waren dicht an den ihren. Dunkel, entschlossen, voll unnatürlicher Erhebung und Begeisterung.

„Ich wollte dir sagen ...“ fuhr Ssonja ebenso feierlich fort. „Heirate Wanja!“

Eine zarte, gleich wieder geschwundene Röte hatte die Wangen des Mädchens bedeckt. Schweigend drückte sie Ssonja einen zarten Kuß auf die hohe, kühle Stirn, wo der glattgestrichene Scheitel ansetzte.

Lande trat herein.

„Ich muß gehen!“ sagte er mit Bedauern.

„Ich gehe mit Ihnen mit,“ Marja Nikolajewna blickte ihm eigenartig, lange und tief ins Gesicht. Sie erhob sich und ordnete die Frisur. In ihr war ein festes, ruhiges und volles Gefühl.

Sie trat hinter Lande auf die Stufen hinaus und sah plötzlich neben Schischmarjow das schöne, herbe und ein wenig blasse Gesicht Molotschajews, der sie unverwandt anstarrte. Sie wandte sich verdrossen ab.

... Wie konnte ich das gestern nur! ging es ihr ärgerlich durch den Kopf.

Als Ssonja allein geblieben war, schaute sie lange regungslos durch das Fenster; das Laub des Gartens verschwamm vor ihren Augen. Dann stand sie auf, seufzte krampfhaft, legte den leichten Ärmel des Kleides zurück und biß sich aus voller Kraft in den blassen, dünnen Arm. Auf der bleichen, feinen Haut traten zwei Reihen roter Flecken hervor. Ssonja sah lange trotzig zu, wie die weißen Fleckchen sich rasch mit Blut füllten und ein kleines purpurrotes Kränzchen bildeten.

XV

Spät abends, als die blaue Dämmerung schon hinter der Stadt verklungen war und der Staub sich gelegt hatte, war es still und wohl. Lande kam allein von seinem Schüler, trug den Kopf gesenkt und dachte nach:

... Fünfzehn Rubel ... Fünf genügen mir vollständig; zehn muß ich Wassja schicken ... Nur wird er sich ärgern! ...

Lande rieb gequält die Stirn.

... Ich werde ihm schreiben müssen, ich habe jetzt zwei Stunden ... meinte er und wurde froh.

Es war schon ganz dunkel geworden; alle Konturen schienen weich und zart. Am offenen Fenster, das wie ein schwarzer Flecken aussah, saß Landes Mutter. Trauer und Einsamkeit lagen auf ihrer kaum sichtbaren, in der Finsternis des Zimmer zerfließenden Gestalt. Lande erkannte sie von weitem, sein Herz zog sich schmerzlich zusammen. Er sah sie zum ersten Male wieder, seitdem sie ihm gesagt hatte, sie wolle von ihm nichts eher wissen, bis er seine törichten Ansichten vom Leben geändert hätte. Als sie es ihm mit kreischender Stimme zurief, war es Lande unmöglich, sie anzusehen. Er war in schwerer Trauer fortgegangen. Später fürchtete er, sie aufzusuchen; er glaubte, daß sie ihn noch einmal mit dieser fremden Stimme, die sie selbst quälen und beunruhigen mußte, anschreien könne.

Aber als er sie jetzt einsam und gebeugt am Fenster sitzen sah, erweiterte sich sein ganzes Wesen in lichter Zärtlichkeit und brennendem Mitleid. Er sprang über einen Graben, stellte sich auf einen Eckvorsprung und umarmte schweigend die Mutter. Und sie sagte kein Wort, weinte nur freudig und fing an, seinen Kopf zu küssen, ihn an ihren weichen, greisenhaften Busen zu drücken und sein Gesicht mit warmen Tränen zu benetzen.

„Mama, meine Mama!“ flüsterte Lande leise, und seine Lippen haschten nach der vor Zärtlichkeit und Freude zitternden Hand.

„Mein lieber, mein goldner Junge!“ klang eine unendlich teure, schluchzende Stimme an sein Ohr. Eng verflochten sich ihre Seelen.

„Du gehst nicht mehr fort ... du verläßt deine Mutter nicht mehr?“ fragte sie ihn.

„Ich gehe nicht fort, gehe nirgends mehr hin!“ antwortete er aus vollem Herzen.

Die Nacht kam still und unmerklich. Lande stand immer noch auf dem Gesims, und ihm schien, daß ihm in der ganzen Welt nichts als diese stille, süße Liebe und Liebkosung gefehlt hatte.

Groß und schwarz, kam jemand von der anderen Seite des Grabens heran und fragte:

„Iwan Ferapontowitsch, sind Sie es?“

Lande sah sich um, erkannte Molotschajew und sprang auf den Bürgersteig hinunter.

„Ich komme gleich, Mama!“ sagte er eilig. Er schwang sich über den Graben und fragte: „Ich bin es ... Was wollen Sie?“

Molotschajew atmete schwer und dumpf; er sah verlegen aus.

„Ich möchte Ihnen ein paar Worte sagen! Wollen wir nicht lieber gehen?“

„Gewiß ... Bitte!“

Sie gingen die finstere, leere Straße hinunter. Molotschajew atmete immer noch schwer und schaute gespannt vor sich hin.

„Ich wollte Ihnen sagen ... Sie haben sich mit Ihrer Mutter ausgesöhnt?“ Die Frage kam ihm selbst unerwartet.

Lande lächelte. „Ich hatte mich niemals mit ihr gezankt.“

„Ach ja ... ich habe ganz vergessen,“ sagte Molotschajew und verzog boshaft die Lippen, „daß Sie sich mit niemandem zanken, niemanden stören, niemals ... Nur wollte ich Ihnen gerade erklären, daß Sie mich stören!“ Er sprach mit Überwindung, und mit wachsender Wut.

„Wirklich?“ fragte Lande betrübt. Der Ton seiner Stimme, still und ernst, erregte Molotschajew, indem er ein undeutliches Gefühl der Scham in ihm hervorrief.

„Treiben Sie gefälligst keine Narrenspossen!“ schrie er grob und blieb stehen. „Sie wissen ganz genau, wovon ich spreche!“

Lande blieb ebenfalls stehen. „Schreien Sie mich nicht an ...“ sagte er, mit leidverzerrtem Gesicht. „Ich habe wirklich nicht gewollt ...“

„Und ich sage Ihnen,“ rief Molotschajew durch die fast knirschend auf einander gepreßten Zähne, immer lauter und lauter, und schwenkte den Griff einer Reitpeitsche vor Landes Gesicht, „daß ... wenn Sie sich mir in den Weg stellen, ich Sie ... wie einen Waschlappen beiseite schmeiße!“ Molotschajew erstickte vor Wut, wandte sich kurz um und ging mit raschen Schritten fort.

„Ich verstehe nichts ...“ sagte still und traurig Lande.

XVI

Im Stadtgarten war italienische Nacht. In der dunkelgrünen Baummasse glühten regungslos, wie märchenhafte Feuerblumen die bunten Flecken der Laternen. Militärmusik spielte. Ihre blechernen Töne füllten die grüne Dämmerung mit dem wilden Tanz kreisender, klingender Gespenster. Sie hallten unter den Bäumen wieder und schwebten einsam an das ferne Ende des Gartens, klangen durch dunkle, leere Alleen, überholten einander bald in kreischender metallner Traurigkeit, bald in ungestüm-scharfer Freude. Es waren nur wenige Menschen in den langen Alleen. Die unbeweglichen feurigen Blumen beleuchteten nur einsamen Tönen, die unsichtbar an ihnen vorbei flogen, den Weg.

In der Hauptallee und auf dem Platz neben dem Orchester und dem Buffet war es heller, einfacher und ruhiger. Die Musik dröhnte hier so nahe, daß man ihr betäubendes Gebrüll nur als Lärm empfinden konnte. Die Feuer flossen in ein grelles, gelbes Licht zusammen. Die Menge drängte sich dicht, lachend, plaudernd, in buntem Durcheinander. Es roch nach Puder, Kerzendunst und Parfüms.

Marja Nikolajewna war zusammen mit Lande hingekommen. Diese zwei Wochen ließ sie ihn kaum von sich. In seiner Gegenwart fühlte sie sich klar und ruhig; sie glaubte, ihn einfach und zärtlich zu lieben. Lande sprach ebenmäßig, still und gut, nie war in ihm Begehren oder Leidenschaft zu merken. Auch sie sprach mit ihm nicht von Liebe, aber tief in ihrer Seele, irgendwo in ihrem prächtigen Körper, glimmte verlegen die süße Erwartung eines lichten, herrlichen Augenblicks. Wenn sie Lande ansah, spiegelte sich in ihren Augen diese kristallklare, freudige Empfindung wieder.

Sie war mit Molotschajew schon seit langem nicht mehr zusammengetroffen. Er hatte zuerst versucht, mit ihr ein Gespräch anzuknüpfen, indem er sie plump an jene glühende Nacht erinnerte. Als sie jedoch erschrocken von ihm zurückwich, begann er mit seiner Abreise zu drohen; er war auch wirklich auf kurze Zeit fortgefahren. Sie atmete freier auf. Doch sobald sie erfuhr, daß er zurückgekehrt war, erwachte in ihr etwas wie bange Freude und Erwartung. Sie sah unruhig um sich, als ob sie sich vergewissern wollte, daß ihr niemand dieses Gefühl anmerke. Es rief viele qualvolle und sonderbare Regungen in ihr hervor.

... Was ist denn das? Bin ich denn wirklich so verdorben? schwirrte es quälend durch ihren Kopf ... Ich liebe doch Lande ... den lieben, den reinen. Nicht den andern ... das Tier!

Sie suchte sich Molotschajew vorzustellen; er war wie ein schönes, ungebändigtes Tier. Trotz ihres Widerwillens dachte sie doch mit interessierter Neugierde an ihn; ihre Nasenflügel spannten sich, ihre Brust hob und senkte sich und ihre Augen lagen weit geöffnet in den Höhlen. An dem Abend, an dem Molotschajew ein eigentümlich verworrenes Gespräch mit ihr gehabt, das in seinen simpeln Teilen Fieberphantasien glich, flogen wie abgerissene Fetzen dazwischen Andeutungen, scharf ausgeprägt, heuchlerisch lockend, während die Augen die Wahrheit sprachen.

Nachher, allein, hatte Marja Nikolajewna die undeutliche Vorstellung, daß in ihrem Körper ein Kampf tobte: etwas Reines und Helles ertrank ohnmächtig in heißen, wahnsinnig stürmischen Wogen hellroten Blutes. Nachts, als sie sich ankleidete, ergriff sie der brennende Wunsch, sich vollständig nackend zu entkleiden; lange, mit derselben ruhelosen Neugierde betrachtete sie ihren schlanken, nackten Körper, der in greller Windung aus der finsteren Tiefe des großen Spiegels zurückgeworfen wurde. Am Morgen darauf fühlte sie sich entsetzlich beschämt. In ihrer ohnmächtigen, einsamen Angst suchte sie Lande auf, rief ihn an, blickte in seine reinen, ruhigen Augen und erlangte bei seinem freudigen, zusammenhanglosen Reden die Ruhe zurück.

Sie wußte, daß Molotschajew zu dem Gartenfest kommen würde. Sie fühlte es an der unruhigen Kühle, die in ihrer Brust aufstieg, und von der ein leichtes Zittern durch ihre vollen Schenkel lief. — Er wird kommen ... Ich muß gehen! muß gehen! ... dachte sie halb unbewußt; ging aber nicht fort, wartete, und betrog sich selbst. Was geht er mich denn überhaupt an ... Ich habe nur Angst vor ihm ... vor seiner Brutalität! — rechtfertigte sie sich und fühlte, daß sie log.

Die Musik verstummte. Hinter den schweigsamen, regungslosen Bäumchen trat die Stille hervor; man hörte, wie erregt und abgerissen die Schritte der Spaziergänger über den Sand der Allee scharrten.

„Wissen Sie,“ sagte Lande, „daß Ssonja eine Pilgerreise zu Fuß unternehmen wird?“

Für eine Sekunde riß sich Marja Nikolajewna von ihren Gedanken los und sah ihn verwundert an: „Nicht möglich! Wohin?“

„Über hundert Werst weit ... Sie hat sich eine Reisegefährtin gesucht, eine einfache, alte Frau, und will gehen. Sie hat mich um Rat gefragt.“

„Und Sie haben ihr zugeredet?“

„Nein. Sie fragte mich so, daß ich sah, sie hat es nicht nötig. Ich habe nichts gesagt,“ erwiderte Lande ernst.

„Sie ist in Sie verliebt!“ meinte Marja Nikolajewna, mit einem häßlichen Gefühl, das sie aber selbst nicht merkte.

„Nein!“ erwiderte Lande entschlossen und ruhig. „Ihr scheint es vielleicht wirklich, daß sie in mich verliebt sei ... Ich habe es bemerkt. Aber das ist nicht richtig; — sie ist nicht in mich verliebt, sondern in ... ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll ...“ Lande lächelte schwach und schwenkte die Hand. „In das Große ist sie verliebt ... Sie ist ein wunderbares Mädchen, diese Ssonja! Sie hat ein großes Herz und wenig Liebe. Es gibt solche Menschen; sie sind unglücklich: sie möchten in ihr Herz etwas Riesiges einschließen, die ganze Welt, Heldentaten, Märtyrertum, und ihnen fehlt die Liebe, das Kleine zu fassen, das neben ihnen ist ...“

Marja Nikolajewna hörte Lande zu, blickte aber unverwandt, gespannt, auf den Lichtkreis am Eingangstor des Gartens. Dort sah sie plötzlich Molotschajew auftauchen, sah, wie er, da er sie offenbar nicht bemerkte, in eine andere Allee einbog, regte sich aber nicht.

„Molotschajew, hier sind sie!“ ertönte an der Seite die scharfe Stimme Schischmarjows, und die beiden kamen auf sie zu.

Molotschajew drückte schweigend die schmale, weiche Hand des Mädchens.

Schischmarjow fing sogleich an, energisch auf Lande einzureden. Marja Nikolajewna hörte sie nicht ... Sie atmete hastig, wobei sie ihre Brust hoch und nervös anhob, und schaute entschlossen vor sich hin; mechanisch klappte die Spitze ihres Schirms auf den Boden.

... Was geht in mir vor? fragte sie sich und biß sich mit launischem Ärger auf die Unterlippe.

„Mir kommt es vor,“ hörte sie plötzlich Landes Stimme, „daß sich die Menschen auf der Jagd nach dem Glück vor einer Tür zusammendrängen, wie die Eingeschlossenen bei einem Brand. Jeder glaubt, sich retten zu können, indem er sich so schnell als möglich, früher als alle anderen, zum Ausgang durchschlägt, aber in dem entsetzlichen Gedränge gehen alle unter.“

„Der Kampf ums Dasein!“ meinte Schischmarjow.

„Es darf keinen Kampf geben!“ erwiderte Lande fest. „Es ist unmöglich, herauszukommen, wenn man einen Haufen Leichen vor sich hochstapelt ... Man muß sich besinnen, stehen bleiben, sich nicht gegenseitig stören, einander aus dem Wege gehen ...“

„Wie jene zwei Franzosen, die sich gegenseitig höflich den Weg freiließen und beide im Schmutz wateten!“ warf Molotschajew mit einer Ironie dazwischen, aus der nicht Spott über Landes Worte, sondern über seine Person herausklang, und lachte kurz auf.

Die Musik begann leise und schwebend zu spielen, als ob sie nach dem vorhergegangenen Wirbelsturm der Töne ermüdet wäre.

„Das ist alles Sentimentalität!“ fuhr Molotschajew brutal fort und hob die Stimme an. „Wo Leben ist, soll es gelebt werden ... Nicht ich habe Schuld, wenn jemand schwächer ist als ich ...“

Er schwieg eine Weile und fügte hinzu:

„Ich werfe ihn in den Dreck, trete ihm auf den Kopf und steige hinüber ...“

Lande schüttelte traurig den Kopf.

„Genug in Tränen geschwommen ... Das ist ja kein Leben mehr, ein schläfriger Sumpf!“ sagte Molotschajew.

„Und wenn man Ihnen auf den Kopf steigt?“ fragte kühl, ohne aufzublicken, Marja Nikolajewna.

Molotschajew wandte sich rasch zu ihr um.

„Meinetwegen ... Das wollen wir erst mal sehen!“ und nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Marja Nikolajewna, ich habe mit Ihnen zu sprechen ...“

Er lächelte unsicher; seine Stimme klang falsch.

„Ich möchte Ihnen etwas erzählen ... über ihn!“ er zeigte mit dem Kopf auf Lande.

Lande hob verwundert die Augen.

„Reden Sie hier!“ Das Mädchen zuckte die Schultern.

Molotschajew lachte wieder falsch.

„In seiner Gegenwart geht es nicht ... Aber Sie scheinen vor mir Angst zu haben?“ fügte er leise hinzu, während er ihr herausfordernd in die Augen blickte.

Marja Nikolajewna lächelte hochmütig.

„Gehen wir!“ sie erhob sich. „Lande, kommen Sie gleich nach!“

„Gut!“ antwortete Lande ruhig und wandte sich wieder zu Schischmarjow hin.

Im Augenblick fühlte sich Marja Nikolajewna schmerzlich vereinsamt; sie wurde unruhig. Sie hörte noch, als sie nach einer langen Allee hinübergingen, die sich endlos in Leere und Finsternis aufzulösen schien, wie Lande sprach:

„Der Mensch kann nicht glücklich sein, wenn er andere zwingt, seine Rechte zu respektieren, sondern nur, wenn er sie zu lieben lehrt. Aber es ist noch weit, bis es dazu kommen wird.“

Sie waren ziemlich tief in das Innere des Gartens gekommen. Die Töne der Musik drangen nur dumpf hierher und klangen ihnen wie ausgehöhlt in die Ohren. Die Laternen leuchteten tot und trübe, mit gewöhnlichem Lampenlicht. Die Bäume standen nicht mehr dicht, und zwischen ihnen lugte der Sternenhimmel und die Kälte durch.

„Was wollten Sie mir sagen?“ fragte Marja Nikolajewna.

Molotschajew atmete schwer.

Sein Entschluß kam ihm jetzt unter ihrem absichtlich kühlen Blick, ihrer geraden Gestalt gegenüber, die von einem strengen Kleid umschlossen wurde, plötzlich sinnlos und schmutzig vor.

„Ich ...“ er zwang sich das Wort gewaltsam ab, wußte aber nicht, wie er fortfahren sollte. Seine Kiefer schlossen sich unwillkürlich wie aus Eisen, als ob gerade jetzt das harte Schweigen notwendig wäre.

Marja Nikolajewna fühlte, wie sich ihr eine ungeheure, furchtbare Gefahr näherte. Und es war sonderbar, daß ihre Furcht gerade in diesem Gefühl verloren ging; ihr wurde freier zumute, es war packend interessant, als befände sie sich über einem Abgrund, sie wünschte, noch tiefer hinabzublicken, eine unklare Regung brannte ihr wie mit einer Stichflamme durch das Hirn und überflutete die Wangen mit greller Röte.

... Ach, wie interessant doch das Leben ist!

Wie einer außer ihm liegenden Kraft gehorchend, beugte sich Molotschajew herab, lachte heiser und streckte die Hände aus. Marja Nikolajewna wich mechanisch einen Schritt zurück, rasch, uneben, sodaß ihr großer, schwarzer Hut auf die Augen herunterglitt. Sie hatte die Empfindung, daß ihr Herz plötzlich abriß und hinabfiel.

„Marja Nikolajewna, wo sind Sie?“ rief fröhlich Lande.

Molotschajew zitterte, ließ die Arme sinken und sah sich verwirrt um.

Marja Nikolajewna blickte ihn spöttisch an, und mit einer Handbewegung, als wolle sie sich von einem Abgrund zurückschwingen, hob sie die Hände zum Hut.

XVII

Es war gegen neun Uhr abends. In dem durchsichtigen, lichten Schein, den die lichte Abendröte, der blasse Mond und die breite, glatte Fläche des Flusses warfen, konnte die Nacht nicht aufkommen.

Lande kam später als die anderen zum Abhang hinaus, ungewöhnlich traurig und schweigsam.

Schischmarjow trat ihm aufgeregt entgegen.

„Komm her! Ich habe einen Brief von Ssemjonow bekommen ... Das ist bei Gott albern! Um welchen Teufels willen treibst du solchen Unfug? Ssemjonow schreibt, du hättest ihm zehn Rubel geschickt.“

Lande richtete seine weiten, traurigen Augen hoch.

„Laß es, Ljonja,“ sagte er einfach und wandte sich dem Flusse zu. Auf sein mageres Gesicht fielen kalte, blasse Lichtreflexe.

„Wie kann ich das lassen!“ brauste Schischmarjow auf.

Lande lächelte gequält, ohne sich umzuwenden. Schischmarjow sah ihn an, bewegte die Lippen und wandte sich mit einem Gefühl von kühlem Ärger ab.

... Meinetwegen, kannst du zum Teufel gehen! dachte er.

„Was haben Sie? Warum sind Sie so traurig?“ fragte Marja Nikolajewna weich und liebevoll, während sie den Ärmel von seiner grauen Litewka leise mit den Fingern berührte.

Lande wandte sich rasch um, und seine Augen leuchteten in weichem und zärtlichem Lächeln auf.

„Meine Mutter quält mich!“ sagte er leidend.

Seltsam schimmerte dieses Leiden durch das helle, stille Lächeln.

Molotschajew ließ den Blick mit kühlem Haß über Marja Nikolajewnas Hand, die auf Landes Ärmel lag, gleiten, wandte sich ab und rauchte sich eine Zigarette an.

„Womit?“ fragte still das Mädchen.

„Sie verlangt ununterbrochen von mir ein Leben, zu dem ich nicht fähig bin ... Sie drängt in mich, daß ich Geld nehme und nach dem Ausland fahre; und ich will es nicht. Ich habe dort nichts zu suchen. Die Menschen sind überall gleich ...“

„Das Leben ist anders!“ versetzte Schischmarjow.

„Nein, auch das Leben ist gleich, weil die Menschen gleich sind. Ich glaube nicht, daß das Leben von der Anzahl der Eisenbahnen, Universitäten und ähnlichem mehr abhängen könnte. Das Leben ist im Menschen, man muß es nur auszunützen verstehen. Und übrigens ... wenn dort auch das Leben anders sein sollte, weshalb müßte ich denn hinfahren? Ich würde es sicher nicht leben können ...“

„Es wenigstens ansehen!“ rief Schischmarjow mit innerer Lebhaftigkeit und durchbrechender leidenschaftlicher Schwärmerei.

„Nein, das wäre schlecht von mir ...“ erwiderte Lande, lächelte sein sanftmütiges Lächeln und fügte hinzu: „Nein, aber ich möchte einfach irgendwohin gehen.“

„Wohin? ... Das heißt, in welchem Sinne ... von den Menschen weg, oder nur irgendwohin, von hier weg?“ fragte Schischmarjow mit mißtrauischem Zweifel.

Lande schwieg nachdenklich eine Weile, die Augen zum Himmel gerichtet und still die Augenbrauen hochgezogen. „Von hier fort, irgendwohin, wie auch von den Menschen ... Nicht für immer: nur eine Zeitlang ... Mir kommt öfters der Gedanke, daß es eigentlich jeder Mensch nötig hätte, sich hin und wieder von allem zu entfernen, in eine Wüste meinetwegen, zu gehen ... Ich habe mir immer gedacht, was für ein riesiges Ding doch das Leben ist und wie leichthin und einfach wir herantreten ... Deshalb glückt es wahrscheinlich den Menschen so selten. Es wäre im Grunde nötig, daß sich jeder Mensch in einer gewissen Periode seiner Entwicklung zurückzieht und sich für eine Zeitlang allein auf sich konzentriert.“

„Da hätten Sie sich nur zuerst zurückziehen sollen!“ fiel ihm Molotschajew grob ins Wort; sein ganzes Gesicht verzerrte sich plötzlich vor Wut. „Es wäre wahrhaftig das Vernünftigste gewesen.“

Lande blickte ihn lange eindringlich an. Dann seufzte er, zuckte die schmalen Achseln und sagte: „Ich weiß, daß ich Sie störe. Mir tut es leid.“

Marja Nikolajewna sah rasch mit einem halben Blick zu ihm hin. Ihre Hand, die an einem zerzausten Strauß halbverwelkter, blasser Blumen zerrte, hielt inne, geriet aber gleich wieder in nervöse, hastige Bewegung.

„Mir tut es auch sehr leid!“ versetzte Molotschajew in seinem gewöhnlichen, schroffen Ton.

Gerade in diesem Augenblick bog ein langer Mensch plötzlich vom Wege ab, ging über das Gras und schwang, nachdem er mit zwei sonderbar schleichenden Schritten hinter Molotschajews Rücken gekommen war, blitzschnell einen langen Knüppel in die Höhe und schlug ihn dem Künstler scharf über den Schädel.

Entsetzen, scharf wie eine Messerschneide, zuckte allen durchs Hirn. Marja Nikolajewna schrie gellend auf, sprang, sich in ihren Rock verwickelnd, zum Abhang und hielt sich kaum am Rand zurück, ganz herübergebogen und das Gesicht in den Händen vergraben. Schischmarjow ließ die Mütze fallen und stand hilflos da. Lande sprang in die Höhe, ergriff Ssonja bei der Hand; das Mädchen richtete sich auf, und öffnete weit die Augen, aus denen wilde Neugierde und ein gewisses gieriges Gefühl strahlte. Molotschajew verlor nicht einen Moment die Ruhe. Sein schönes Gesicht zog sich in Schmerz und Schreck und schüttelnder Wut zusammen. Rasch und gewandt fing er mit der linken Hand den Stock auf, riß so scharf nach unten, daß Tkatschow beinahe vornüber gefallen wäre und hieb dann mit ihm, die Zähne verbissen, quer auf Tkatschows Gesicht, auf den Kopf und Hände ein.

Der vor Schmerz und ohnmächtigem Haß fast wahnsinnige Tkatschow taumelte, ließ den Hut fallen und suchte vergebens, sich mit den Armen zu decken. Man sah, daß von ihm Blut spritzte.

Der vierte dieser scharfen, furchtbaren Hiebe traf schon auf Landes Arm. Die Arme wie im Anfall einer sonderbaren Krankheit gegen Molotschajew ausgestreckt, ganz blaß, rief er fest und befehlend: „Nicht mehr ... weg mit dem Stock!“

Er deckte Tkatschow mit seinem Körper.

Eine Sekunde lang sah ihm Molotschajew mit toller Wut in die Augen. „Was ist da noch gefällig! — Endlich!“ sagte er heiser, den Stock krampfhaft gesenkt und in der Faust gepreßt, — plötzlich schwang er ihn kurz und hieb, eklig klatschend, Lande über die Backe.

Lande taumelte und wurde entsetzlich blaß. In seine Augen traten helle, dicke Tränentropfen, und sie öffneten sich so weit, daß sich hinter ihrem feuchten, leidenden Glanz sein ganzes Gesicht auflöste.

„Nun, mag es denn sein ... ja ...“ er ließ die Worte von den Rändern der feuchten, zitternden Lippen gleiten und schaute Molotschajew unverwandt gerade in die Augen, regte sich aber nicht und wandte sich nicht ab. Mit blinder, sinnloser Brutalität holte Molotschajew, nachdem er den Stock beiseite geworfen, aus, und schlug mit der linken Hand zu, machte dann einen Schritt vorwärts und schlug zum dritten Mal. Die letzte Ohrfeige klatschte noch stärker, deutlich und flach. Lande taumelte zurück, stolperte über die Bank und stürzte schwer, häßlich, von der Seite auf sie, mit den Beinen in die Höhe schlagend.

Molotschajew drehte sich jäh um, schleuderte Tkatschow mit furchtbarer Kraft beiseite und ging mit raschen, festen Schritten, ohne jemanden anzublicken, fort.

Was dann geschah, war wie ein schwerer Fiebertraum: alle schrieen auf einmal auf und stürzten im Haufen auf Lande zu. Tkatschow, mit dem Ausdruck des Entsetzens und Flehens auf dem schwarzen, düsteren Gesicht, setzte ihn mit bebenden Armen aufrecht hin. Marja Nikolajewna küßte seine blassen, zitternden Finger. Schischmarjow versuchte ihm die Mütze aufzusetzen und brüllte ganz zusammenhanglos irgend etwas vor sich hin. Ssonja umschlang ihn mit dünnen, durchsichtigen Armen. Sie taumelten am Rand des Abhanges, kopflos wie ein Schwarm unterm Schuß aufgeschreckter Vögel hin und her.

„Herrgott! was war das nur?“ fragte Marja Nikolajewna alle mit grenzenlosem Entsetzen und kroch an Landes Füße heran, mit dem unbewußten aber grellen Gefühl der Schuld, mit unendlicher Begeisterung und Mitleid, Liebe und Empörung. Ihr schönes Gesicht war verzerrt, die Haare auseinander gefallen, der Hut auf den Rücken gerutscht, der graue Rock wand sich hilflos im Staub.

„Iwan Ferapontowitsch ... verzeihen Sie ... Verzeihen Sie mir!“ stammelte Tkatschow.

Lande wandte ihnen sein im Augenblick angeschwollenes Gesicht zu, mühte sich, zu lächeln, faßte sie bei den Händen, streichelte sie unbewußt mit seinen zitternden und schwach gewordenen Fingern. Seine Augen waren dick geworden, aus Nase und Mund troff Blut, an der Schläfe war Erde und zertretenes, grünes Gras kleben geblieben.

„Das macht nichts ...“ sagte er, indem er mit Mühe die aufgedunsenen Lippen bewegte. „Er wollte mich nicht treffen ... Es wird ihm später selbst leid tun ... Ich gehe zu ihm ... warten Sie ...“

Ssonja schlug heiß ihre dünnen Hände zusammen, trat einen Schritt zurück, und, ganz von glückseliger Begeisterung durchglüht, rief sie mit heller Stimme aus:

„Wanja, Sie sind ein Heiliger!“

Lande machte eine schwächliche Handbewegung.

„Ach, was für Dummheiten reden Sie, Ssonja!“

Tkatschow riß sich verzweifelt die Haare.

Lande lächelte ihm eilig zu, erhob sich und ging mit ausgestreckten Armen vorwärts. Und da sahen alle, daß Molotschajew nicht fortgegangen war. Er stand zehn Schritte von ihnen, die Hände in den Hosentaschen und blickte mit schiefem, selbstbewußtem Lachen auf Lande.

Marja Nikolajewna zitterte am ganzen Körper; mit einer krampfhaften Bewegung stellte sie sich Lande in den Weg. „Sie dürfen es nicht, Sie dürfen es nicht!“ schrie sie mit schmerzlicher Anstrengung, mit klirrender Stimme.

Aber Lande schob sie ernst zur Seite.

„Sie wissen nicht, was Sie reden!“ sagte er einfach.

Mit demselben Ausdruck der Begeisterung und des Genusses zog sie Ssonja am Ärmel zurück.

Lande kam auf den unbeweglichen Molotschajew, der ihn unverwandt musterte, zu und streckte ihm seine Hand hin. Auf seinem verunstalteten Gesicht lag Mitleid. Molotschajew errötete tief und schwer. In seinen Augen flackerte erstickender Haß auf; mit kaltem Spott und Bosheit sprach er gedehnt durch die Zähne: „Diese rührselige Komödie!“

Dann drehte er sich rasch und entschlossen um und ging, ohne sich umzuwenden, fort.

Lande sah ihm lange nach; dann sank er auf einmal zusammen, setzte sich auf die Bank und schlug mit einer bitteren, gramvollen Bewegung die Hände vors Gesicht.

„Aber was heißt das, in der Tat!“ rief Schischmarjow empört. „Du bist wohl ganz und gar verrückt!“

Neben ihnen hatte sich ein Haufen Menschen von der Straße zusammengedrängt; jetzt kicherte man vergnügt und neugierig. Schischmarjow besann sich, sah sich rasch um, machte wütend kehrt und ging fort.

„Hol dich der Teufel, du Holzklotz ... Ein Seliger!“ stammelte er mit einer Erbitterung, die ihn selber schmerzte.

Tkatschow stand mit herabhängenden Armen, als ob er plötzlich mit kaltem Wasser begossen wäre da, und blickte Lande seltsam an; sachte verzogen sich seine dünnen, bösen Lippen. „Sowas kann zu rein gar nichts taugen ...“ sagte er mit beißendem Hohn, ganz unvermittelt, als ob er Lande antwortete und ihn warnen wollte.

Alle schwiegen. Der leidenschaftliche Drang, der sie erfaßt hatte, war ohnmächtig abgeflaut, es schien ihnen peinlich, überflüssig, stehen zu bleiben, man wünschte fortzugehen, dieser Szene, die allen widerwärtig war, ein Ende zu machen.

XVIII

In der Nacht bekam Lande Fieber. In dem zerschlagenen Kopf nagte und schwindelte es. Schischmarjow meinte, daß man ein nervöses Fieber erwarten könne, und Marja Nikolajewna mit Ssonja beschlossen, die ganze Nacht bei ihm zu bleiben. Lande sah sie zärtlich an und schwieg, weil seine Seele voll war von einem ungeheuer weiten, nur ihm verständlichen Gefühl. Die beiden Mädchen saßen lange an den Seiten des Tisches, jede hielt ein offenes Buch vor sich, ohne daß sie lasen und schauten trübselig in die Flamme der Lampe. Erst spät in der Nacht ging Ssonja fort, und Marja Nikolajewna blieb allein.

Ssonja blieb in dem dunklen Flur stehen. Niemand hatte sie gehen heißen, aber sie dürstete nach Qual und Rührung; sie preßte die Hände an die Brust und flüsterte leise, nur mit den Lippen: „Mag sie, mag sie ... ich werde fortgehen!“ und eine triumphierende, wenn auch bedrückende Regung drängte in ihr Herz.

Im Zimmer war es halbdunkel. Die Lampe erleuchtete trübe einen gleichmäßigen Kreis, der Marja Nikolajewna wie magisch schien. Sie saß, die Hände auf den Knieen gefaltet und den Kopf gesenkt. Saß unbeweglich, aber in dieser Bewegungslosigkeit ballte sich ein ganzer Orkan schwerer, chaotischer Gedanken. Sie dachte darüber nach, daß jetzt alles zu Ende sei: morgen wird die ganze Stadt wissen, daß sie hier die Nacht verbracht hat; dann wird etwas entsetzlich Schmutziges entstehen. Zuerst beängstigten und beschämten sie diese Gedanken lange Zeit, dann nahm ein einzelner Gedanke immer reiner und feierlicher eine bestimmte Form an und erwärmte ihre Seele: Von nun an ist sie endlich für immer mit Lande verbunden, mit dem lieben Lande, dem besten von allen Menschen, die sie kannte. Allen wird sie ebenso fremd sein, wie er, ihm aber wird sie mit ihrem ganzen Körper und mit voller Seele angehören; ein neues Leben, herrlich, voll Leid und Freude, wird sie wie eine lichte Wolke umfangen. Dieser Gedanke war so tief und führte sie so einfach und zwingend aus dem düsteren Chaos, daß ihr Herz vor Liebe und Glück erschauerte.

Marja Nikolajewna wendete sich zu Lande und schaute lange mit warmen Tränen auf ihn.

Lande lag auf dem Bett so, wie es ihm verordnet war, blaß, mager, die langen, weißen Arme auf der Decke ausgestreckt. Der Schein der Lampe reichte nicht zu ihm hin, so daß um das Bett durchsichtige Dämmerung war, in der sich Landes Gesicht hell und schön abhob. Seine zerschlagene, verunstaltete Backe blieb im Schatten.

Und plötzlich ließ sich Marja Nikolajewna, indem sie einfach dem unwiderstehlichen Trieb, der Seele und Leib in heißer Sehnsucht verzehrt, folgte, langsam vor dem Bett in die Kniee nieder, beugte sich über Lande, legte ihm still ihren schönen schwarzen Kopf auf die Brust und schloß die in dunklem Feuer glänzenden Augen.

Hier ist es! — dachte sie, und sie empfand, daß jetzt die eine Hälfte ihres Lebens, leer und sinnlos, von ihr abfiel, wie ein dürres Blatt. Alles schwamm an ihr in einer lichten Wolke vorbei; die Tränen rieselten in Strömen über ihre zarte, weiche Wange. Landes Herz schlug irgendwo in der Nähe, schwach und dumpf. Sie zog den unbekannten, eigentümlichen Geruch seines Körpers ein und fühlte die knochige, harte Brust.

Lande öffnete die Augen und schien nicht erstaunt zu sein. Er faßte sie still und behutsam an das kleine, abgerundete, weiche Kinn und hob ihren Kopf zu sich hoch. Sie weinte nicht mehr, die Tränen waren sofort auf den glänzenden Augen getrocknet; sie blickte glücklich und verlegen auf ihn, während sie darauf wartete, was er mit ihr tun werde. Sie reckte sich noch ein wenig höher, und ihre weichen, heißen Lippen drückten sich auf die Lippen Landes. Lande küßte sie zärtlich und still, wie man ein Kind küßt.

Das Mädchen fühlte, wie in ihr der feurige grenzenlose Überschwang ihrer Kräfte aufloderte. Dieses neue Gefühl, das ihr aber jetzt längst bekannt erschien, füllte mit einem Mal ihren ganzen Körper, der schon so lange gewartet hatte und jetzt wild erglühte. Sie schloß die Augen und begann, erst schüchtern, als ob sie es erst kennen lernen müßte, dann immer fester und anhaltender, ganz Genuß und Hingabe, zu küssen. Ihr weicher, elastischer Körper erzitterte und drückte sich unterwürfig und verlangend an ihn. Plötzlich öffnete sie schnell die dunkelgewordenen, fragenden Augen, und blickte fest in die Landes. Sie sah ein kaltes, erschrecktes, vernichtendes Gesicht, in diesem Augenblick schien es ihr unerträglich widerwärtig.

„Nicht so ... nicht doch auf diese Weise!“ sagte er mit verlegenem hilflosem Lächeln.

Das Bewußtsein, einen schweren, abscheulichen Fehler getan zu haben, zuckte wie grelles Licht durch das Gehirn des Mädchens. Gegen eine Sekunde lang sah sie Lande mit festen, in Scham und Verzweiflung glühenden Blicken an; eine helle, scharfe Röte setzte rasch ein, und überflutete ihr Gesicht. Ihre Wangen, Stirn, Hals flammten auf, und es schien, daß es für dieses rote Feuer der Scham und Verletzung kein Ende geben könne. Sie ächzte dumpf, warf sich zurück und erhob sich hastig, das Gesicht mit den Händen bedeckt.

Lande setzte sich verwirrt auf. „Marja Nikolajewna, ist das denn ... durchaus nötig? Ich liebe Sie ... nur nicht so! Wozu das?“ stammelte er gequält und streckte ihr seine zitternden Hände hin.

Das Mädchen wich zum Tisch zurück und fiel schwer in den Stuhl, ohne ihre Hände herunterzunehmen. Dann fing sie an, sich wie ein angeschossener Vogel hin- und herzubewegen, bald wollte sie aufstehen und fortgehen, dann setzte sie sich wieder, sinnlos lächelnd; ihre Blicke glitten bald mit Verzweiflung und Scham, mit innerer Verwirrung, bald mit einem Gefühl der Schuld und des Hasses über Lande hin.

„Nichts ... Das war so ... Ein Irrtum ... ich habe gescherzt ... ich weiß nicht ...“ sie strengte sich an weiter zu sprechen und fühlte doch, wie sie sich von ihm immer mehr entfernte.

Ssonja kam auf den Lärm leise herein und blieb auf der Schwelle stehn, mit großen und herben Augen. „Marja, was hast du?“ fragte sie streng; als ob sie sie warnen müßte.

„Nichts, nichts, Ssonjetschka!“ sagte das Mädchen abgerissen. „Ich geh fort ... es ist Zeit ...“ Sich in den Rock verwickelnd und ungeschickt mit der Schulter gegen die Tür stoßend, ging sie aus dem Zimmer und lief wie ein Gespenst über die leeren, kalten Straßen, durch Wind und Finsternis. Ssonja schloß hinter ihr vorsichtig die Tür und trat an Landes Bett.

„Ssonja, liebe ... wie schuldig bin ich! Was soll ich jetzt tun? Wie konnte ich das nicht voraussehen!“ sprach Lande und ergriff ihre Hände.

Ssonja preßte stark die Zähne zusammen, so daß die dünnen Backenknochen auf ihrem gespensterhaften Gesichtchen stark vortraten, und ein Gefühl unschöner Freude leuchtete in ihren Äuglein auf. „Sie sind nicht schuldig!“ sagte sie fest und entschlossen, und fügte mit bösem Triumph hinzu: „Alle sind sie Tiere, Bestien ... sie ist auch ein solches Geschöpf!“

Lande schlug verzweifelt die Hände zusammen. „Ssonja, was reden Sie!“ rief er.

„Ich hasse sie alle!“ sagte Ssonja, rachsüchtig die Augen kneifend. „Wie abgeschmackt sie alle sind, wie schmutzig ... wie die Hunde!“

Lande sah sie mit weitgeöffnetem Mund und Augen, mit unverholener Furcht an, ihm schien, daß dies nicht die kleine Ssonja, sondern irgend ein kleiner, böser Kobold wäre.

XIX

Die Prügelei am Abhang peitschte eine schleimige Welle klebrigen Klatsches auf. Der Name Marja Nikolajewnas wurde im Zusammenhang mit Lande durch die ganze Stadt geschleift. Wohin sie auch kam, traf sie dieselbe stechende Neugierde oder notdürftig umkleidete Verachtung. Das gehetzte Mädchen strengte sich vergebens an, dem Schmutzigen, Kalten, das sie unsichtbar umschloß, zu begegnen. Manchmal packte sie stumpfe Verzweiflung, in der das ganze Leben zerstört schien; dann wieder wuchs aus der matten Ruhe, die sie mit sich brachte, das Gefühl der Beschämung und körperlichen Kränkung und der Haß gegen Lande empor.

Doch als Lande zum ersten Mal zu ihr kam, regte sich in ihrem Herzen die trübe Hoffnung, daß alles wie ein häßlicher Traum vorübergehen und ihr Leben wieder wie früher schön und freudig sein würde.

Lande trat still ein; über Backe und Auge war eine dicke, weiße Binde gebunden, so daß sein Kopf unförmig groß aussah, wie eine riesige weiße Federblume, die sich auf einem dünnen, unsicheren Stengel wiegt.

„Guten Tag!“ sagte er still.

Marja Nikolajewna stand verwirrt auf, grüßte aber nicht; ihre zitternden Finger nestelten am Rand des Tisches.

„Ich bin gekommen um Ihnen zu sagen ...“ begann Lande, während er auf sie zukam und ihre Hand nahm. Die Hand zitterte; das Mädchen sah ihn mit ihren großen, feuchten Augen an.

„Ich bin gekommen ...“ wiederholte Lande. „Wenn Sie nur wüßten, wie lieb ich Sie habe, Marja Nikolajewna!“ rief er in einer plötzlichen Aufwallung aus. „Sie scheinen mir so licht, so herrlich, so heilig, wie ein Engel!“

Die Augen des Mädchens wurden rührend hell, die zarten, erhabenen Lippen zitterten leise in dem Versuch eines zaghaften Lächelns. Das Herz fing an, dumpf in der Brust zu schlagen.

Lande war es schwer, zu reden, er holte mit Mühe Atem und preßte die Finger zusammen.

„Nur kann ich nicht Ihr Mann sein ...“ schloß er mit abfallender Stimme.

Marja Nikolajewna fuhr zusammen, als ob sie einen Schlag ins Gesicht bekommen hätte. Die erwachende Hoffnung stürzte in einen Abgrund, blitzschnell schoß daraus das Bewußtsein einer neuen rohen Beleidigung empor.

„Was soll das? ... Hohn?“ fragte sie mit klirrender und gleichzeitig unheimlich-stiller Stimme, während sie sich voll aufrichtete. Gram ergriff Lande; er sah ihr mit traurigem Vorwurf in die Augen.

„Sie wissen doch, daß es keiner ist ... Niemals habe ich jemanden verhöhnt, wie viel weniger Sie ... Weshalb so reden? ... Ich sage, was ich fühle: ich liebe Sie, aber nicht so ... Ich weiß nicht, vielleicht bin ich ein Krüppel ... Aber gibt es denn wirklich keine andere Liebe ... und ist es denn durchaus notwendig? ... Mir ist nicht möglich ... verstehen Sie mich!“ Die Worte Landes verwickelten sich in unzusammenhängenden Worten, er bemühte sich vergebens, das heiße Gefühl gramvollen Mitleids zum Ausdruck zu bringen. Marja Nikolajewna verstand ihn nicht: zwischen ihnen war eine schwere Tür zugefallen, und die Worte draußen tönten nur entstellt, mit einer besonderen, verletzenden, Bedeutung hindurch. Für eine Minute lang benahm ihr Scham und Haß den Atem; ihr Kopf schwindelte. Sie hörte die Worte nicht, in den Ohren gellte irgend ein Tosen; die weiße Kugel auf dem dünnen Stengel drängte sich wie ein alpdruckartiger, widersinniger Knäuel vor ihren Augen.

„Ich bitte Sie ja gar nicht darum ... Gehen Sie fort!“

Lande hielt sie mechanisch bei der Hand; schon das rief in ihr Ekel hervor. Er legte seine ganze Seele, voll Leiden und Liebe, in die unzusammenhängenden Worte, die von seinen Lippen stürzten, doch das Mädchen riß ihre Hand aus der seinen. „Lassen Sie ... mich!“ wiederholte sie mit fremder, nicht eigener Stimme.

Lande fuhr mechanisch mit ihrer Hand an seinem Rock entlang; er strengte sich an, mit Augen voller Qual, in ihre Seele zu blicken. Sie antwortete ihm nicht, als ob sie taub wäre, und blickte ihn nicht an. Sein heißer Wille zerschlug sich ohnmächtig an diesem Haß, und drang nicht in die Seele; es war, als ob er sein entblößtes blutendes Herz, weit ausholend, gegen hartes, kaltes Eis schleuderte.

„Liebe, verstehen Sie mich doch. Es gibt doch eine andere Liebe ... es gibt doch,“ fragte Lande, ihre Finger drückend.

„Aber lassen Sie mich endlich los!“ sagte sie mit wildem, dumpfen Schmerz. „Es tut mir doch weh ...“

Lande kam zur Besinnung und ließ ihre Hand frei. „Verzeihen Sie mir ... ich habe es nicht gewollt ...“ stammelte er.

Das Mädchen sah ihn verächtlich von der Seite an. Mit unnatürlicher Ruhe ordnete sie das Haar, wobei sie Haarnadeln auf den Boden fallen ließ, und ging plötzlich an ihm vorbei aus dem Zimmer, unnahbar kühl und feindselig.

Um Lande her wurde es leer und dunkel. Durch die Fenster floß blaue, tote Dämmerung und füllte das Zimmer. In der Stille, die mit einem Mal entstanden war, leuchteten noch, wie es schien, Bruchstücke der gespannten geflüsterten Worte.

„Marja Nikolajewna!“ rief Lande leise, seine einsame Stimme hallte aus einer dunkeln Ecke etwas spöttisch zurück.

Die Tür knarrte und das Dienstmädchen trat, ein gefaltetes Stück Papier behutsam vor sich tragend, ein. Es hatte runde, dumme Augen und blickte Lande ängstlich an.

Lande nahm mechanisch den Zettel und las:

„Um Gotteswillen, lassen Sie mich in Ruhe! Vielleicht bin ich schlecht, garstig, aber Sie quälen mich. Ich kann nicht, ich hasse Sie, Sie sind mir ekelhaft ... Wie Ungeziefer!“ Das letzte war mit schiefen, unnatürlich eingedrückten Buchstaben angefügt.

„Ich muß sie allein lassen!“ schwirrte Lande durch den Kopf.

„Schön, sage dem Gnädigen Fräulein, ich komme nicht mehr ...“ sagte er fest, nahm seine Mütze und ging fort. Er trug das Gefühl endloser Ohnmacht in sich, wie ein Mensch, der sich einer steilen Mauer gegenüber sieht, die er nicht übersteigen kann.

„Ich muß fortgehen, abreisen ... irgendwohin, um ihr keine überflüssigen Schmerzen zu machen,“ dachte er.

Es war schon ganz dunkel, als ihn Tkatschow auf der Straße anrief. Schwarz und mager trat er irgendwo aus der Dämmerung auf ihn zu.

„Iwan Ferapontowitsch, — um Gotteswillen ... ich muß Sie sprechen ... Ich lauere schon den dritten Tag Ihnen auf.“

Lande blieb erfreut stehen.

„Guten Abend, Lieber! Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? ... Sie hätten mir wirklich sehr viel Freude gemacht ...“

Tkatschow lächelte verlegen, während er Landes Hand mit seinen rauhen Fingern drückte.

„Ich wäre vielleicht auch gekommen ... Aber bei Ihnen sind Menschen und ich möchte unter uns reden ...“ murmelte er.

„Ach, wie froh ich bin, daß Sie endlich gekommen sind, Tkatschow!“ sprach Lande ganz erregt und drückte ihm fest die Hand. „Vielleicht gehen wir zu mir? Wir werden Tee trinken. Ich werde Ihnen alles von mir erzählen ... Ich habe jetzt niemanden, mit dem ich sprechen könnte ... und ich möchte mir vieles herunterreden ... Auch jetzt augenblicklich ... Gehen wir lieber!“

„Schön, gehen wir!“ gab Tkatschow leise zu.

Es war nicht mehr weit, und sie legten den Weg schweigend zurück. Lande steckte die Lampe an, brachte Tee, setzte sich Tkatschow gegenüber und blickte ihm liebevoll in die Augen.

„Wenn Sie nur wüßten, Tkatschow, wie ich mich über Ihren Besuch freue,“ sagte er mit heiterem Lächeln.

„Ich wollte schon längst zu Ihnen kommen ... seit jenem Mal ... da, im Wald ...“ antwortete Tkatschow verlegen, nach der Seite schielend.

„Ja, ja!“

„Und als der Sie schlug, da ist mir ein Licht aufgegangen! ... Ich verstand gleich ... daß die Wahrheit nicht auf meiner Seite, sondern auf Ihrer war. Es gibt keinen zweiten wie Sie, Iwan Ferapontowitsch!“ sagte er mit überquellendem Gefühl und erhob sich etwas vom Stuhl.

Lande lachte voll Freude.

„Wie schön Sie das gesagt haben, Tkatschow!“

Tkatschow seufzte gespannt, als ob er sich vorbereitete, eine riesige Last auf sich zu nehmen.

„Ich glaube so, Iwan Ferapontowitsch, daß nämlich ... ich kann es nur nicht glatt ausdrücken ...“

„Reden Sie nur, Tkatschow! ... Sie werden schon alles gut sagen!“ er streichelte ihm die Hand. „Reden Sie und trinken Sie Tee ...“

„Ich werde es sagen ... ich bin ja dazu gekommen ... Sie müssen nur zuhören, Iwan Ferapontowitsch!“

„Ich höre schon!“

„Alles, was ich damals im Gefängnis zusammengeredet habe, das war nur so, aus lauter Verzweiflung! Soviel habe ich gelitten, soviel Böses und Ungerechtigkeit und Niedertracht gesehen, daß ich den Glauben an den Menschen verloren hatte ... Ich dachte mir, daß es eben so sein muß! Ein Lump ist der Mensch ein für allemal und damit basta! Wo ich auch hinschauen mag — lauter Raubtiere überall! Eine solche Verzweiflung hatte mich damals gepackt, eine solche Wut, daß ich es Ihnen gar nicht sagen kann ... Und Sie würden es ja auch nicht verstehen können, Iwan Ferapontowitsch! ... Zu hassen begann ich die Menschen und mich und das Leben!“

Tkatschow riß die Augen auf, hielt ein, um tief Luft zu holen. Lande blickte ihm traurig in die Augen und streichelte still seine Hand.

„Aber dann ... Sie haben mir die Augen geöffnet, Iwan Ferapontowitsch ...“ sagte er mit zitternder Stimme. „An Ihnen sah ich, was ein wahrer Mensch heißt! ... wie ein Mensch sein kann! ... Da erinnerte ich mich auch, wie der Herr Sodom und Gomorrha wegen zweier Gerechten verschonen wollte ... Und da dachte ich mir, daß ein solcher Mensch das Leben umgestalten kann ...“

„Tkatschow!“ Lande wollte ihm ins Wort fallen.

„Nein, warten Sie, warten Sie erst ... Ich weiß es, jetzt ist nicht ein jeder imstande, Sie zu verstehen, aber das dringt ein, dringt durch alles hindurch! ... Später erinnert man sich schon, man wird schon verstehen ... Wenn Sie nur ... Ich habe einen Plan, Iwan Ferapontowitsch.“

Tkatschow hob sich wieder ein wenig vom Stuhl und beugte sich ganz dicht zu Lande vor, sodaß ihm sein heißer Atem auf dem Gesicht brannte und seine dunklen, düsteren Augen fast in Landes Gehirn eindrangen.

„Man muß die Nachricht von einem neuen Glauben in das Volk tragen!“ flüsterte er gedämpft, begeistert drohend mit entflammten Blicken.

„Was?“ rief erstaunt und erschrocken Lande.

„Ein neuer Glaube! ... Ja ... das Volk wartet. Eine wahre Sehnsucht ... so daß ... weil es überall unerträglich zugeht! überall! ... Zu Ihnen wird man aus allen Ecken und Enden kommen, aus ganz Rußland kommen! ... Nur muß man die Nachricht davon in Umlauf setzen ... Sie werden über allen stehen, alle führen ... Iwan Ferapontowitsch!“

Tkatschow zitterte und brannte am ganzen Körper.

„Was für ein Glaube, wovon sprechen Sie, Tkatschow!“ erwiderte Lande streng. „Was kann ich ihnen geben?“

„Sie? Alles können Sie, Iwan Ferapontowitsch! ... Und der Glaube ist nur so, des Anfangs wegen ... Nur um Bewegung hineinzubringen!“

Blaß und streng stand Lande auf.

„Das ist nicht das Rechte, Tkatschow!“ sagte er. „Verstehen Sie denn wirklich nicht, was Sie wollen, was das für ein furchtbares Übel, Betrug und Frevel wäre! Wahrheit kann nicht aus Betrug kommen, und ich kann es nicht ... Lassen Sie das nur!“

Tkatschows Gesicht verfinsterte sich in unendlichem Schmerz.

„Iwan Ferapontowitsch! Sie sind der Einzige ... einen anderen, einen zweiten gibt es nicht! ... Sollen denn in der Tat alle zugrunde gehen?“

„Niemand geht zugrunde, Tkatschow!“ erwiderte ebenso streng und feierlich Lande. „Was sagen Sie! ... Untergang wäre gerade das, was Sie im Auge haben ... Und es wird Ihnen nicht gelingen, weil das nicht kommen darf! ... Man braucht nicht zu vergewaltigen, zu betrügen ... Der Kampf soll bleiben, weil er nötig ist, wie ein reinigendes Feuer ... Aber jeder Schritt in diesem Kampf muß wahr sein ... Das ist das allererste, und eben diese unentwegte Wahrheit wird zum Siege führen. Können Sie es denn wirklich nicht verstehen, Tkatschow? Lüge ist ein Übel ... Man muß sich Mühe geben, nichts Übles zu tun!“

„Und nichts mehr?“ fragte Tkatschow.

„Ja, weiter nichts!“ erwiderte Lande fest. „Das spricht der Hochmut aus Ihnen, Tkatschow! ... Wer hat uns beiden das Recht gegeben, Menschen nach unserem Geschmack mit Gewalt und List umzumodeln? Vielleicht sind gerade wir beide die schlimmsten, verlorenen Menschen? ... Wie kann man wissen, wozu und weswegen alles um uns her geschieht! ... Gehen Sie Ihren Weg, wer Ihnen folgen will — mag folgen. Voran müssen Sie gehen und nicht hinterdrein schieben! Falls Ihr Leben gerecht war, wird Ihre Spur nicht verloren gehen, sondern durch alle Jahrhunderte weiterleben!“

Tkatschow schwieg mit gesenktem Kopf. Auch Lande verstummte und blickte liebe- und mitleidsvoll auf das gesenkte Gesicht.

„Also ... nicht? ...“ sagte Tkatschow mit Mühe, ganz dumpf. „Also ... habe mich getäuscht ...“

Und aus seiner dumpfen Stimme klang der große Schmerz, den grandiosen Traum, die trübe, aber innige Hoffnung ein für allemal zusammenbrechen zu sehen.

„Vergessen Sie es, Tkatschow!“

Es war schon Nacht, als Tkatschow die Straße entlang ging, ohne Zweck und Sinn durch die kalte, windige Stille schreitend.

„O, hol mich der Teufel!“ rief er laut mit grauenvoller Verzweiflung; er blieb starr stehen, die Hände krampfhaft in den Haaren vergraben, den Kopf gegen den kalten, harten Zaun gepreßt. „Er hätte es doch tun können ... Dieser Idiot, dieser unglückselige!“

Der Nachtwächter schlug irgendwo in der Finsternis die Stunde an.

XX

Nach einer schlaflosen Nacht war Lande am nächsten Morgen schwach und krank aufgestanden. Die ganze Nacht dachte er an Tkatschow und Marja Nikolajewna.

... Wie kraftvoll sie beide sind, was für einen kolossalen Durst nach Leben sie haben! ... Der arme, liebe Tkatschow! welches Glück das ist, so das Leben zu lieben und so nach ihm zu streben ... Sie sind jetzt unglücklich, aber das geht vorüber, und die lebendige Kraft bleibt zurück, — sie werden glücklich sein, ob in Glück oder Leid.

Am Morgen beschloß er, zu Molotschajew zu gehen.

Der Künstler war zu Hause und saß düster auf dem Fensterbrett, eine Zigarette nach der anderen rauchend. Als er Lande erblickte, erhob er sich rasch und wurde rot.

Lande trat geradewegs ins Zimmer und streckte ihm schweigend mit einem Lächeln die Hand hin. Sein Gesicht war heiter und ruhig.

Für eine Sekunde ergriff Molotschajew plötzlich ein warmes Gefühl; er wünschte einfach, kräftig die gereichte Hand zu drücken; aber schon im nächsten Augenblick wurde in seiner Seele wieder alles durcheinander geworfen. Er witterte in der Handlungsweise Landes eine Beleidigung und zog sich ganz zusammen; sein schönes Gesicht drückte ablehnend höfliches Lächeln aus.

„Ist mir sehr angenehm ...“ näselte er und drückte mit einer Grimasse der übertriebenen Achtung Landes Hand.

„Nehmen Sie bitte Platz! Wie steht es mit Ihrer Gesundheit?“ fragte er, während er absichtlich mit seinem Blick die weiße Binde um den Kopf streifte.

Lande berührte die Binde und sagte schlicht:

„Nicht sehr gut. Sie haben mich furchtbar zugerichtet.“

Molotschajew verlor plötzlich den Halt. Eine tiefe Röte trat ihm ins Gesicht. Er versuchte, sich zu beherrschen und erwiderte in dem früheren, beleidigend höflichen Ton:

„Es tut mir wirklich äußerst leid ...“

Lande sah ihm mit einem klaren und ruhigen Blick in die Augen.

„Nein, warum denn?“ erwiderte er still. „Ihnen tut es gar nicht leid — Sie hatten doch den Wunsch, mich so zu schlagen, daß es schmerzt.“

Ein schweres, trübes Gefühl überwältigte Molotschajew. Als ob ihn etwas zu Boden gedrückt hätte. Das undeutliche Bewußtsein, daß nicht Lande lächerlich, daß vielmehr er selbst lächerlich, lächerlich und kleinlich sei, rieselte mit schmerzlicher Kälte durch sein Herz.

„Ich bin eigentlich zu Ihnen gekommen, um Ihnen zu sagen,“ sprach Lande kurz und ebenmäßig, „daß es mir sehr leid tut, Sie dazu gebracht zu haben. Ich weiß, daß Sie meinetwegen auf Marja Nikolajewna eifersüchtig waren ... Und ich wollte mich Ihnen gar nicht in den Weg stellen. Ich liebe allerdings dieses Mädchen des ungeheuer reichen Lebens wegen, das sie besitzt; aber ich habe sie stets ganz anders geliebt, als ... Jetzt haßt sie mich deswegen — weil sie sich getäuscht hat. Gehen Sie zu ihr — ich glaube, sie wird Sie lieb gewinnen ... Und mir verzeihen Sie, seien Sie nicht böse auf mich. Ich liebe Sie — Sie sind ein starker und schöner Mensch ... Jetzt gehe ich, — ich weiß, Ihnen kann es doch nicht angenehm sein, mit mir zu sprechen. Leben Sie wohl!“

Lande stand auf und reichte seine Hand. Molotschajew biß seine Lippe mit der gleichen Bewegung, wie es Marja Nikolajewna getan hatte und gab ihm die Hand. Lande ging fort. Der Maler empfand wieder die neidische Gehässigkeit. Er lief im Zimmer auf und ab und bemühte sich, absichtlich, dieses Gefühl zu schüren. Es gelang ihm scheinbar, und er lachte über Lande; aber gleichzeitig tat ihm irgend etwas leid. Er konnte nicht verstehen, was; aber die Empfindung war tief und beißend, und nach und nach schien es ihm, daß sie ihn nie mehr verlassen wird.

XXI

Landes Leben wurde immer einsamer; die Ahnung von etwas Unvermeidlichem stieg allmählich auf. Immer häufiger verzagte seine liebeglühende Seele; sie war wie ein lebender, grüner Zweig, den eine undurchdringliche und durchsichtige Eiskruste umschlossen hält. In den letzten Tagen war er stets allein gewesen. Nur Ssonja lief ihm unablässig nach, aber gerade sie, die einzige in der ganzen Welt, die ihm nahe stand, begann ihm Furcht einzuflößen. Ihm kam es immer wieder vor, daß sie, wie eine Geisteskranke, nicht ihn, sondern irgend einen andern in ihm sah, und daß sie, wenn nicht sofort, so in kurzer Zeit, ihre Täuschung gewahr werden wird. Dann muß sie ihn mit ihrer ganzen Seele hassen, und für diesen Haß kann es keine Grenzen und Schranken mehr geben.

Während einer langen, traurigen Nacht schrieb Lande einen langen, heißen Brief an Ssemjonow, in dem er an ihn viele qualvolle Fragen über Wahrheit, über Menschen, über Glück richtete. Auf diesen Brief antwortete der kranke Student folgendes:

„Lasse mich gefälligst in Ruhe! Ich sterbe und habe an wichtigeres, als an dich zu denken! Ich stehe jetzt der wichtigsten, der letzten und einzigen Frage des menschlichen Lebens gegenüber — wie ich sterben soll? Kann man denn von Menschen, von Liebe, von Einsamkeit reden, wenn der Mensch stets unter allen Umständen allein stirbt! Du kannst natürlich dieses Wort nicht in seiner wahren Bedeutung ermessen: seine Bedeutung ist — Grauen. Dieses Grauen muß ich allein ertragen, niemand kann mich — verstehst du es? — kann mich begleiten, selbst wenn er es am allersehnlichsten in der Welt wünschen würde. Jetzt ist für mich alles in zwei Teile zerfallen, die keinen inneren Zusammenhang mehr haben: der eine, geringfügige, ist das ganze Leben der Welt, der andere, unermeßlich große — das ist mein Tod. Jetzt, wo ich mich von allem getrennt habe und allein in der Leere stehe, seh ich ein, daß es auch in Wirklichkeit stets so war. Ich habe mir nur eingebildet, daß ich nicht allein lebe. Mein ganzes Leben lang mühte ich mich mit einem Eifer ab, der eines besseren Zweckes wert gewesen wäre, eine Art Gipsverband aus Glauben, Ideen, Liebe und Mitleid nun noch zu kleistern, ich meinte, daß er fest, unverwüstlich sei; doch von dem Augenblick an, wo ich mit der ganzen Schwere meines Ich über die Leere des Todes zu hängen kam, fiel alles sofort wie trockener Ton von mir ab, und ich stürzte allein wie ein Stein in die Tiefe. Über Nacht kann ich sterben, und die Menschen leben dann weiter, als wenn nichts geschehen wäre. Also wozu schwatzt du mir da solchen Unsinn vor? Du hast angefangen, dich einsam und unglücklich zu fühlen, weil die Menschen deine heißen Gefühle nicht würdigten, nicht in deine brüderlichen Umarmungen geeilt sind. Sehr erstaunlich! Ja, hast du denn nicht gewußt, daß die Menschen, sobald du nur aufs Sterben kommst, nicht einmal dein Gefühl werden begreifen können? Aus den innigsten Umarmungen werden sie dich dann loslassen müssen. Du bist allerdings ein gläubiger Mensch, — ich hätte beinahe daran vergessen; aber du mußt doch, wenigstens einmal in deinem Leben, begreifen, daß wir, falls wir uns dort, im neuen Leben, von dem wir nichts wissen und nichts wissen können, wirklich alle begegnen sollten, denn immer noch in angemessener Weise darüber diskutieren können. Dann stützen wir uns auf Tatsachen, auf das, was wir dort kennen lernen werden. Ich weiß, daß man wärmer lebt, wenn man von anderen Menschen gewärmt wird, — das ist sicher, darüber ist weiter kein Wort zu verlieren! Also schön, — laufe doch durch die Straßen und rufe: ‚O Menschen, Menschen, Menschen!‘ Man wird dir sicher nachlaufen und ebenfalls rufen: ‚O Lande, Lande, Lande!‘ ... Weiter aber nichts! Leiden wirst du doch allein, denn kriegst du dabei Bauchschmerzen, so wird sich deswegen auch dein allerbester Freund, dein Bruder, dein Weib, nicht aus Mitgefühl den Magen verderben.

Ich bitte dich noch einmal: laß mich in Ruhe! Einmal wirst du selbst verstehen, wie dumm alles ist. Du wirst die Menschen ebenso für die dumme Rolle, die du zu spielen versucht hast, hassen, wie ich sie jetzt hasse. Wenn du nur wüßtest, was für einen entsetzlichen, stickigen Haß alle in mir wachrufen ... Verflucht mögt ihr alle sein! Wenn es in meinen Kräften wäre, zerdrückte ich die ganze Erde. Wozu habe ich gelebt, Lande? Gott, wie grausig, öde, kalt! Um Gotteswillen, faßt mich nur nicht noch an!“

Kaltes Grauen atmete aus diesem Brief. Das Bild Ssemjonows, der in Einsamkeit stirbt, stand vor ihm wie eine ununterbrochen blutende Wunde auf.

Der arme Wassja, woher dieses Grauen, dieser Haß? Ein solcher Tod; ein Grauen, für das es keinen Namen gibt! Es ist nicht möglich, daß es so ohne weiters, aus sich selbst heraus dazu kommen konnte. Nur weil er einsam ist, fühlt er es, einsam in Schmerz und Furcht. Ich muß zu ihm.

Und alle Gedanken und Gefühle Landes flossen in dem Einen zusammen: zu ihm. Er wußte nicht, was er ihm sagen, wie er die gesunkene Seele wieder aufrichten würde; aber in ihm lebte der lichte, feierliche Glaube, daß die Liebe alles vermag: die Liebe wird durch alles Leiden gehen, wird die Seele erwärmen und neu beleben; wie ein Blumenkelch beim Sonnenaufgang wird sich diese Seele entfalten, erfrischen, wird einen liebevollen, weihevollen Glauben annehmen.

Das Blut schoß ihm so stark ins Gesicht und Herz, daß ihm vor den Augen trübe wurde. Ein leidenschaftliches Gefühl riß ihn in einen Fieberzustand hinein. Er trat mechanisch auf die Steinstufen hinaus, stand lange ohne Mütze da, mit dem Blick in den weiten Himmel, von dem ein unsichtbarer, feiner Sprühregen niederrieselte, versunken. Ein kalter, elastischer Windstoß peitschte ihm eine breite Welle Nässe ins Gesicht, fuhr durch seine Haare, schnitt ihm fast den Atem ab.

... Ich muß mir Geld verschaffen! zuckte es durch seinen Kopf ... Aber ich habe niemanden! dachte er gleich weiter ... Die Mutter zu bitten ist zwecklos — sie gibt ja doch nichts. Alles, was ich will, ruft in ihr nur Erbitterung hervor, und den Wunsch, das Gegenteil zu tun. Aber weiter habe ich keinen ... Schischmarjow hat selbst nichts.

Lande kehrte mit irrenden Blicken ins Zimmer zurück. Plötzlich sagte er sich, unverwandt die Lampe anstarrend:

... Ich gehe zum Vater Paul.

Wie er zu diesem Entschluß gekommen war, hätte er nicht erklären können. In seine Erinnerung kehrte einfach das Bild eines alten emeritierten Pfarrers zurück; die rosige Glatze, das gutmütige Greisengesicht, die weiße Priestersutane und jener fast zärtliche, mitfühlende Blick der Äuglein, mit dem er ihn bei Begegnungen begrüßte.

Gleich am nächsten Tag, noch immer mit verbundenem Kopf, schritt Lande, der aussah, als wäre er nach schwerer Krankheit genesen, quer über den großen, mit staubigem Gras bewachsenen Platz, öffnete die Pforte und trat in einen kleinen, gemütlichen, beinahe warmen Hof ein. Der Tag war grau, trocken, unbeweglich; aber die großen goldüberströmten Bäume sahen wie sonnenübergossen aus, und im Hof war es still und licht. Unbeweglich standen unter den Fenstern in einem winzigen Vorgärtchen naiv-bunte Blumen. Es roch nach Äpfeln, herbstlichen Blättern, Weihrauch und dem eigentümlichen Geruch der Stille und Ruhe.

Der alte Pope saß auf der sauber gehobelten Bretterveranda in einer reinen, weißen Sutane, ganz rosig und weiß.

Lande schritt eilig auf ihn zu.

„Guten Tag, Vater Paul!“

Der alte Pope blickte ihn an, als wäre er nicht im geringsten über den Besuch verwundert.

„Guten Tag!“ erwiderte er freundlich. „Setzen Sie sich! womit kann ich Ihnen dienen?“

Lande setzte sich ebenso eilig auf die gegenüberstehende Bank.

„Ich habe eine Bitte an Sie ...“ sprach er rasch, weil ihm schien, daß das Ungeheure, das seine Seele füllte, jedem Menschen gleich vom ersten Worte an verständlich sein müßte. „Ich habe einen Kamerad ... Sie kennen ihn wahrscheinlich — er heißt Ssemjonow.“

Der alte Pope schwieg.

„Habe gehört ...“ antwortete er unbestimmt und strich mit der kleinen, verschrumpften Hand über den Bart und die silbernen, trockenen Haare.

„Also ... Dieser Ssemjonow liegt jetzt an der Schwindsucht ... Ist nahe am Sterben ...“ beeilte sich Lande.

„Gottes Wille!“ sagte der alte Pope feierlich und schlicht.

Er seufzte tief und bekreuzigte sich.

„Ich habe von ihm einen Brief erhalten,“ sprach Lande, indem er seinen Kopf vertrauensvoll zu dem Popen herüberbeugte, „einen furchtbaren Brief! ... Man sieht, daß ihn die letzte Verzweiflung gepackt hat, von der nichts in der Seele zurückbleibt als Haß und Wut ... Ich werde Ihnen diesen Brief zeigen!“

Lande zog hastig den Brief aus der Tasche der Studentenlitewka hervor.

Der alte Pope sah auf das Papier, redete aber kein Wort.

„Wieviel Schmerz, Einsamkeit, Gram er trägt, er ...“ sagte Lande mit trauriger Anspannung. „Wieviel Verzweiflung und Unglauben! ... Grauen packt einen, wenn man diesen Brief liest ... Grauen und Mitleid bis zu Tränen! Sie verstehen, welchen Schmerz ein Mensch erleiden muß, wenn er im äußersten Unglauben stirbt! Kein Wort gibt es für diese Qual! ... Hier, lesen Sie doch den Brief!“

Der Pope sah wieder den Brief an, streckte aber seine Hand nicht danach aus.

„Ich habe das Gefühl, die feste Überzeugung,“ fuhr Lande fort, während er noch immer den Brief, ohne es zu bemerken, in der ausgestreckten Hand hielt, „daß es ihn bedeutend erleichtern würde, wenn ich zu ihm kommen könnte. Ich fühle, daß ich es kann, weil ich den Glauben daran habe. Er wird fühlen, daß er nicht mehr einsam ist, und das allein wird schon genügen ... Nur habe ich kein Geld für die Reise,“ fügte er plötzlich mit kindlichem Lächeln hinzu.

Er blickte dem Popen ins Gesicht, und mit einem Male kam es ihm vor, als seien diese gutmütigen Äuglein — keine Äuglein, sondern tiefe Löcher, die nur infolge der rosigen und strahlenartigen Runzeln gutmütig schienen, während in ihrer Tiefe etwas Böses auf der Lauer liegt. Mit instinktivem Schreck verstummte er und sah verwirrt den Popen an.

Der Pope schwieg und sah ihn ebenso an. Es war still, hinter des Popens Rücken fiel lautlos kreisend ein goldenes Blatt zur Erde nieder.

„Hier, lesen Sie doch bitte den Brief durch!“ stammelte Lande eilig und streckte dem Popen das gefaltete Blatt Papier bis zu den Knieen entgegen.

Der alte Pope seufzte, strich die Haare und den Bart und nahm den Brief.

Er las ihn lange, ruhevoll, als wäre es die friedliche, süße Lebensbeschreibung eines Heiligen. Dann seufzte er wieder, faltete den Brief und gab ihn Lande zurück.

„Nun sehen Sie!“ rief Lande, indem er lebhaft mit der Hand auf den Brief wies, nahm ihn und legte ihn neben sich auf die Bank.

„Das Briefchen nehmen Sie bitte zu sich; bei mir ist nicht der Ort für solches Zeug!“ sagte der Pope streng.

Lande verstand die Worte nicht, griff aber doch zum Brief und steckte ihn in seine Tasche.

„Da möchte ich Sie um Geld bitten ... Sie sehen, es ist notwendig, daß jemand zu ihm fährt,“ sagte er ernst und einfach.

Der alte Pope seufzte.

„Jawohl, das ist sehr gut möglich. Nur werde ich Ihnen dafür kein Geld geben. Sie müssen es schon entschuldigen ... Ich habe es zwar, verstehen Sie gut, gebe es aber nicht.“

Gleichsam eine kalte, schwere Last schlug Lande plötzlich auf den Kopf. Er sprang voller Verzweiflung auf.

„Warum? Sie haben doch selbst gelesen!“

Der alte Pope stand ebenfalls auf.

„Ja, verstehen Sie gut, weil ich diesen Ssemjonow seit lange schon und zur Genüge kenne. Es ist ein gottloser, frevelhafter Mensch, verstehen Sie gut, ein Ungläubiger, ein Apostat. Und, verstehen Sie gut, ich rate auch Ihnen nicht, zu fahren.“

Lande riß die Augen weit auf.

„Das heißt, ich soll mich von ihm lossagen? Ihn in Verzweiflung sterben lassen?“

„Dieser Tod ist der Lohn für seine Handlungen!“ meinte der alte Pope, die Hände hinter dem Rücken, und wieder lugte hinter der rosigen Maske etwas Böses hervor.

„Aber fürchten Sie Gott!“ rief Lande. „Was sprechen Sie, Väterchen!“

„Nicht Ihnen steht es zu, mich zu belehren, verstehen Sie gut!“ erwiderte der Pope.

„Aber Sie sind doch ein Diener der Kirche ... der Kirche Christi!“

„Der Herr Ssemjonow hat sich seit lange schon von der Kirche losgesagt, und es würde sich für die Kirche nicht schicken, ihm nachzulaufen, verstehen Sie gut!“

Mit stummer Verzweiflung sah ihn Lande an. Der alte Pope stand, die Hände ruhig auf dem Rücken gefaltet, vor ihm.

„Aber ... ich kann doch nicht ohne Geld fahren ...“ stammelte Lande mechanisch.

„Versuchen Sie es doch als blinder Passagier ... Oder Sie könnten auch zu Fuß gehen!“

Lande blickte ihn verwundert an, aber das Gesicht des Popen schien ernst zu sein.

„Aber das ist doch zu weit!“

Der alte Pope seufzte.

„Weit ist es. Ja, verstehen Sie gut, es soll ja nach Ihrer Meinung eine große Tat sein. Also werden Sie auch die Mühe nicht scheuen ...“

Und mit einem Mal wurde es Lande kalt neben diesem rosigen, grauhaarigen, weißgekleideten Popen. Er wandte sich mechanisch um und ging zur Pforte.

„Aber ich muß ja so schnell wie möglich dorthin ... Er kann sterben, bevor ich ankomme ...“ er blieb nochmals stehen.

Der alte Pope antwortete boshaft, jetzt schon mit unverhülltem Spott:

„So Gott will, werden Sie ihn noch am Leben antreffen.“

Lande schwieg. Wie eine weiße Wolke auf goldnem Untergrund stand der Pope in der Mitte des reinen, friedlichen Hofes.

„Nun schön,“ meinte Lande, „so werde ich wohl gehen müssen. Ich werde zu Fuß gehen, wenn ich mir kein Geld verschaffen kann — doch nicht darauf kommt es an ... Aber wie müssen Sie sich denn schämen!“ fügte er trauervoll und feierlich hinzu.

Da hob der Pope das dürre Händchen.

„Verstehen Sie gut, machen Sie, daß Sie fortkommen.“

„Väterchen, ich wollte Sie nicht beleidigen!“ rief Lande.

„Gehen Sie nur, gehen Sie!“

In der stillen, hellen Stimme des Geistlichen lag ein so kalter, unbequemer Druck, daß Lande nichts mehr sagte, den Kopf senkte und hinausging.

Er hörte, wie der alte Pope an die Pforte kam und den Haken anlegte.

XXII

Am Abend teilte Lande seinen Entschluß der Mutter mit. Sie sah ihn so erzürnt an, daß sich ihr gutes, altes Gesicht verzerrte; dann rief sie mit zischender Stimme:

„Wieder Dummejungenstreiche! ... Herrgott, wann soll das bloß ein Ende nehmen!“

Sie stand auf, ging mit kalter, stumpfer Bitterkeit im Herzen hinaus und schlug heftig die Tür hinter sich zu.

Lande blickte ihr traurig nach, nahm seine Mütze und ging zu Schischmarjow.

Der Student saß allein im Zimmer vor einem kleinen Samowar und trank Tee. Ein großes Buch lag aufgeschlagen vor ihm.

Beim Anblick Landes erhob er sich linkisch und streckte ihm die Hand hin.

„Ah, das bist du ... Guten Tag! Nimm Platz! willst du Tee? ...“ er sagte es nicht, sondern schrie es fast mit seiner schroffen Stimme.

„Nein,“ erwiderte Lande, „ich habe schon Tee getrunken ... Ich habe einen Brief von Ssemjonow erhalten.“

„So! ... Und was schreibt er?“

„Lies ihn selbst — ich kann es dir nicht erzählen.“

Der kleine Student las lange aufmerksam den Brief. „Ja, der arme Junge!“ seufzte er, als er zu Ende kam. Er faltete beide Hände, die aus den kurzen Ärmeln der Jacke hervorstachen, zwischen den Knieen und rieb sie aneinander, als fröre ihn.

„Ich will zu ihm fahren!“ sagte Lande.

„Wozu?“ fragte Schischmarjow ernst und aufmerksam. Seine scharfe Stimme drang Lande wie ein feines hartes Messer ins Herz. „Was kannst du dort ausrichten?“ wiederholte Schischmarjow, da Lande mit der Antwort zögerte.

„Ich weiß nicht, was ich tun kann ... Ich habe nur ein solch Gefühl, daß ich fahren muß.“

Schischmarjow fühlte sich schon seit langem Lande entfremdet, dessen Sanftmut dem kleinen Studenten nur Ohnmacht, Unfähigkeit zu kämpfen schien. Manchmal erkannte er dahinter noch etwas, das in ihm Überraschung und Staunen hervorrief; aber er dachte darüber nicht weiter nach, sondern betrachtete es mit absichtlich gleichgültigen Augen, wie alles, was nicht klar und einfach vor seinem scharfen, schroffen Denken lag.

Jetzt sah er Lande mit ernstem Blick ins Gesicht, vergrub die breiten Hände noch tiefer zwischen den Knieen und erwiderte: „Ich verstehe das nicht. Du betonst dieses Gefühl so kraß, als steckte etwas Mystisches darin. Nach meiner Meinung wirst du mit deiner Gegenwart absolut nichts helfen können. Wirst nur dich selbst und ihn abquälen ... Laß es lieber ... wozu denn?“

„Du sagst, wozu? ...“ erwiderte nachdenklich Lande. „Schon in dieser Frage ist ein Gedanke enthalten, der die Menschen zugrunde richtet ... Man darf nicht fragen. Man muß handeln, wie man empfindet. Das ist höher als wir: indem wir unser Maß anlegen, verkrüppeln wir nur die Seele!“

Schischmarjow zuckte die Achseln ohne die Hände aus ihrer Lage zu befreien. „Was willst du mit deiner Seele!“ erwiderte er ärgerlich. „Laß sie gefälligst in Ruhe ... Es muß doch ein für allemal irgend ein Unterscheidungsvermögen für Handlungen geben ... Wenn du hinfahren willst, so mußt du dir doch erst klar machen, welchen Nutzen es haben kann.“

Lande seufzte traurig. „Ich weiß nicht ... vielleicht wird es auch gar keinen Nutzen haben ...“ meinte er beklommen.

Schischmarjow zog verwundert die Augenbrauen hoch. „Was hat es dann also für einen Zweck?“

„Was für einen Zweck es hat? Jene Wahrheit, die ich empfinde und die mich ruft!“ sagte Lande mit einer Stimme, die tief aus seiner Brust kam.

„Wieder einmal die Wahrheit!“ meinte Schischmarjow ironisch.

„Natürlich ist sie die höhere, da es nichts gibt, das noch höher wäre!“ erwiderte Lande ernst.

Schischmarjow riß geradezu die Schultern in die Höhe. „Die höhere Wahrheit ist nur eine, diejenige, die uns die Vernunft, die Logik, gibt!“ rief er. „Wir besitzen nichts, was nicht durch Denken erworben ist!“

Lande schlug die Hände zusammen. „Was sagst du! Wie armselig, wie dürftig wäre das Leben, wenn dem wirklich so wäre!“

Schischmarjow sprang auf und schwang die Arme hoch; seine schmalen Schultern flogen dadurch fast bis an die Ohren.

„Wie — armselig? Meines Erachtens ist es gerade armselig, sich mit Märchen einlullen zu lassen, seinem Denken im Voraus Schranken zu setzen.“

„Die Vernunft kennt selbst ihre Schranken ...“ erwiderte leise Lande.

„Keine Schranken kennt sie!“ rief scharf Schischmarjow. „Die Horizonte des Denkens sind grenzenlos! Wenn wir auch momentan noch nicht alles wissen, folgert daraus doch durchaus nicht, daß wir es nie erfahren werden. Das Denken ist ebenso grenzenlos, wie die ganze Welt! wie alle Möglichkeiten ... Wie Möglichkeiten selbst sich erweitern, so erweitert sich auch das Denken ... endlos!“

„In das Leere hinein?“ fragte Lande mit weit geöffneten Augen.

„Ja, ins Leere!“ rief heiß und scharf, noch schärfer als früher, Schischmarjow.

„Aber das ist doch grauenhaft!“

„Mag es grauenhaft sein ... Ich weiß selbst gut, daß es unvergleichlich leichter ist, sich durch den goldenen Traum von einer allumfassenden Weltseele und ähnlichem mehr in den Schlaf wiegen zu lassen! Aber ich für meinen Teil ziehe doch das Leere einer Wahrheit vor, die nur deshalb Wahrheit ist, weil sich mit ihr leicht und bequem leben läßt. Hmm!“ Er verstummte und zitterte am ganzen Körper vor Aufregung. Die roten Hände waren tief in den Taschen der Uniformjacke vergraben, und die Finger bewegten sich dort rasch und unruhig.

„Ich will mit dir nicht streiten,“ sagte Lande schlicht, „du bist klüger als ich und dann soll man auch darüber nicht streiten. Aber gerade weil ich die ganze kolossale Größe innerer, menschlicher Kraft, menschlichen Geistes empfinde, kann ich nicht glauben, daß er aus absoluter Leere kommen und ebenfalls ins Leere zurückkehren soll, wie ein sinnloses Sumpffeuer, das im Schlamm entsteht! Zu hell brennt er, zu kraftvoll entfaltet er sich, umschlingt die ganze Welt, beleuchtet, erwärmt sie ... Nein, ich fühle die Wahrheit ... Und ... Ich werde doch zu Ssemjonow hinfahren, Ljonja!“

„Das ist etwas anderes ...“ erwiderte Schischmarjow zurückhaltend. „Wenn du es willst, wenn er dir leid tut, magst du fahren ... Das ist deine Sache!“

Er setzte sich wieder zum Tee und fing an, in dem halbleeren Glas mit dem Löffel klirrend herumzurühren. Seine Schultern zitterten noch immer vor Erregung.

„Ich werde fahren, nur habe ich kein Geld.“

„Na, Bruder, ich habe auch keines!“ erwiderte Schischmarjow im Ton einer Entschuldigung und schlug wie ein Schuldiger die Arme auseinander.

Lande krachte mit den Fingern.

„Ach Gott ... was soll ich tun?“

Schischmarjow schlug wieder die Arme auseinander. „Warte noch! Vielleicht wird es sich noch irgendwie machen lassen ...“

„Nein,“ Lande machte eine entschlossene Handbewegung. „Es ist keine Zeit, zu warten ... Ich gehe ...“

Schischmarjow erhob rasch den Kopf; ein lächelnder Zug der Verwunderung weitete seinen Mund.

„Du gehst hin? Das heißt, wie meinst du das. Zu Fuß?“

„Zu Fuß, natürlich ... Hin und wieder läßt man mich wohl ein Stück mitfahren ...“ antwortete Lande einfach.

Schischmarjow sah ihn unverwandt mit weit geöffnetem Mund an, wurde dann aber plötzlich ernst.

„Höre mal, Lande ... es muß eine Grenze für all diese Extravaganzen geben!“ sagte er, während er die Achseln in die Höhe zog, in überzeugendem Ton.

„Hier handelt es sich nicht um eine Extravaganz. Ich habe kein Fahrgeld, also gehe ich zu Fuß. Legen doch Pilgerinnen Tausende Werst zurück.“

„Pilgerinnen ...“ Schischmarjow wurde für einen Augenblick verwirrt. „Ja, die sind aber erstens Pilgerinnen, und zweitens nicht im Herbst ... Du wirst einfach unterwegs liegen bleiben!“

„Vielleicht bleibe ich doch nicht liegen.“

Die Erregung ergriff Schischmarjow von neuem.

„Die Pilgerinnen gehen um ihres Glaubens willen, der bei ihnen nur darin besteht ...“

„Auch ich gehe um meines Glaubens willen,“ lächelte Lande.

„Ja ... schon ... Aber du mußt doch wenigstens mit den Umständen rechnen!“

„Das ist so leicht, sein Leben nach den Umständen einzurichten!“ sagte Lande mit zartem Vorwurf, während seine hellen Augen weiterlächelten. „Dabei wird man schließlich ganz aufhören, an sich zu glauben und in allem nur nach den Umständen fragen ... Nein, mag es dabei bleiben, ich fühle, daß ich gehen muß, und ich werde gehen ... Auf irgend eine Weise ...“

„Aber begreife doch nur das Eine, daß du vor allen Dingen nichts daran ändern kannst!“

„Das wissen wir nicht!“ erwiderte Lande streng. „Das scheint nur so ...“

Schischmarjow schwieg. Er wußte nicht, was er noch sagen könnte.

„Das ist ja dumm, — du wirst gewiß Jalta nicht erreichen, wirst gewiß nichts besser machen! ... Das ist dumm und unmöglich.“

„Nein,“ seufzte Lande und sah ihn nachdenklich an, „ich weiß schon, daß es dir dumm, unmöglich, sinnlos scheint, aber ... ich werde doch gehen ... Versuche nicht, mich zurückzuhalten, Täubchen, tu das nicht!“

Schischmarjow zuckte mit einem sonderbaren Gefühl die Achseln.

„Weiß der Teufel, was das ist!“ murmelte er und neigte sich seinem Glas zu.

Sie schwiegen eine Weile.

„Nun, ich gehe, lebe wohl, auf Wiedersehen!“ sagte Lande und erhob sich.

„Sitze noch ein Weilchen!“

„Nein, Täubchen ... ich muß noch einiges vorbereiten.“

Er drückte Schischmarjow warm die Hand. Und plötzlich überkam den kleinen Studenten eine trübe Ahnung.

„Also, du gehst doch?“ fragte er mit dem Wunsch, zu lachen, aber etwas erzitterte in seiner Stimme.

Lande war um einen Kopf höher als er und sah ihn liebevoll von oben herab an.

„Ich gehe!“ er nickte mit dem Kopf.

Schischmarjow wollte noch etwas sagen, aber ein eigentümliches Gefühl schnürte ihm die Kehle zu, er zuckte nur schwer mit den Achseln.

Sie standen schon in dem engen Vorzimmer, in das nur ein schmaler Lichtstreifen durch den Türspalt fiel, als sich Lande plötzlich an Tkatschow erinnerte.

„Hast du den Mann, dessentwegen mich Molotschajew geschlagen hat, noch im Gedächtnis?“ fragte er. „Er ist einmal zu mir gekommen ...“

Und Lande erzählte sein Gespräch mit Tkatschow. Er erzählte schlicht und kurz, aber etwas Riesiges, Überwältigendes schob sich allmählich in Schischmarjows Kopf. Die grandiose Phantasie, auf eigentümliche Weise in der Gestalt des neben ihm stehenden Lande verkörpert, packte ihn und riß ihn fort. Er ergriff impulsiv Landes Hand und rief scharf:

„Aber das ist ja überwältigend! Und was hast du ihm geantwortet?“

„Ja,“ meinte Lande, „mir war es ein großer Schmerz, seinen Traum zu zerstören ... Es ist ein unglücklicher Mensch ... Mit einem solchen Sturm in der Seele wird man nie zur Ruhe kommen ...“

„Also, du hast dich geweigert?“ fragte Schischmarjow fast erschrocken.

Lande lächelte.

„Konnte ich denn darauf eingehen — ein Prophet zu werden, wenn ich keiner bin?“

Schischmarjow besann sich plötzlich, rieb die Hände und sagte düster:

„Ja, gewiß ...“

Er begleitete Lande bis an die Stufen heraus.

Der Mond war finster und grämlich.

„Lebe wohl!“ rief Lande zurück, während er sich in der Finsternis entfernte.

„Lebe wohl!“ tönte ihm die Antwort.

Schischmarjow stand lange auf den Stufen, kehrte dann in sein Zimmer zurück und setzte sich an den Tisch. Auf dem Tisch brannte die Lampe, aber ihr enger Lichtkreis fiel matt und welk an den Seiten herab. Die Zimmerecken waren in völlige Dämmerung gehüllt. Schischmarjow rückte das Buch näher; die Buchstaben drängten sich vor seinen Augen, ohne sich dem Gehirn einzuprägen. Eine eigentümliche Aufregung bemächtigte sich seiner. Er setzte sich bald, bald stand er auf, als wäre etwas Ungeheures über ihn gekommen, das ihn peinigte. Alle Gedanken und Gefühle waren von der Gestalt Landes erfüllt. Es war schwer, an ihn zu denken; die Vorstellungen sprangen durcheinander, verwickelten sich, eine löste die andere ab. Landes Stimme, weich und schwach, gellte in den Ohren; ein undeutliches Bild stand neben ihm, nebelhaft und groß.

Schischmarjow zuckte plötzlich die Achseln und lachte unnatürlich scharf, obgleich er noch nie zuvor gelacht hatte, wenn er allein war. Das Lachen gellte ihm selbst in den Ohren.

„Weiß der Teufel!“ sagte er heiser.

Er hatte ein Gefühl, als hätte sich durch seine spröde, zähe Seele eine tiefe, feurige Furche gegraben, deren Ende sich vor ihm in der unendlichen Ferne seines zukünftigen Lebens verlor.

XXIII

Des Nachts, im Anfang des Herbstes, als die Luft schon dünn und kalt wurde, ging Lande still aus dem Haus. Er war in eine schwarze, alte Sutane, die er einem Mönch abgekauft hatte, gekleidet und trug einen Sack auf dem Rücken. So wird es leichter und einfacher zu gehen sein, dachte er.

Still und leer war es in der ganzen Stadt. Den Himmel verdeckte eine undurchdringliche Hülle weißer Wolken. Kein Mond, keine Sterne waren zu sehen. Langsam traten die schwarzen Häuser mit ihren abgeschlossenen blinden Fenstern und kalte Bäume, an die sich schwarze Finsternis klebte, zurück. Bald war Lande ins Feld hinausgekommen. Der Wind riß die Schöße seiner Sutane auf und lärmte in seinen Ohren, gedehnt und schwermütig. Leer, weit und kalt lag das endlose Feld vor ihm. Die Wolken zogen hier, wie es schien, noch ferner, noch höher vorbei. Auf den dunkeln Hügeln wiegte sich dürres Gras. Die ungeheuer breite Empfindung des freien Raumes füllte Landes Brust, und eigentümlich gleichzeitig mit ihr schien das deutliche Bewußtsein zu kommen, daß er Jalta niemals erreichen wird. Doch ohne Schwanken, ohne Gram und Verzweiflung trat ihm diese Ahnung in die Seele; ihm wurde im Gegenteil leicht und frei zumute, als ob er gerade dadurch auf den richtigen Weg, der ihn nun endlich zum Ziele führt, geraten wäre; sein Herz zog sich wie im Vorgefühl einer hellen Freude leicht zusammen.

Es war aber nur eine Ahnung, kein klarer Gedanke. In seinen Gedanken stand einzig das Bild des kranken, leidenden Menschen, zu dem er ging; über das, was aus ihm wurde, dachte er nicht nach. Leichten, elastischen Schrittes, als ob die Erde selbst seine Füße von sich schnellte, ging er die breite, weite Landstraße entlang, sah sich freudig und verwundert um und lauschte entzückt auf jeden Laut, den ihm der öde Wind, der traurig die Straße entlang zog, aus der Steppe hertrug.

Der Morgen kam, dann der Tag, dann wieder die Nacht und ein neuer Morgen. Fünf Tage lang ging Lande durch Dörfer und nächtigte bei Bauern, die ihn mißtrauisch anblickten und ihn nur unwillig einließen. Nur wenige sprachen mit ihm, weil nur wenige ihn zu verstehen vermochten, obgleich er alle klar und einfach anredete. Alte Bäuerinnen fragten ihn aus, die welke Backe in die Hand gestützt, fragten, woher er komme und ob er nicht vom Kloster des Hl. Seraphim komme; die Bauern aber warfen ihm nur Seitenblicke zu, und blieben stumm. Am fünften Tag schrie ihn ein vierschrötiger schwarzer Bauer mit schwarzem, wie mit einem Beil zurechtgehauenen Bart und bösen Augen, grob an. „Geh nur weiter, los, sonst, es ist nicht weit bis zum Gendarmen ... Da schleicht hier so manch einer herum!“

Ein so unfreundlicher, unverständiger, fremder Zug lag in dem allen, daß es Lande schrecklich bemitleidenswert schien. Mit weit geöffneten, neugierigen Augen sah er auf das Dorfleben, aber es glitt ebenso absonderlich, lebensarm und reich an ihm vorbei, wie die Bilder der großen, bunten Rinderherden, die ihm ihre starken, gehörnten Köpfe zuwandten und ihn mit rätselhaften, großen Augen begleiteten, wenn er an ihnen vorbeiging. Mit Liebe und Rührung betrachtete Lande diese Menschen, die Rindern glichen, und die Rinder, die wie eigenartige, sonderbare Menschen aussahen; aber er fühlte, daß er ihnen fern, überflüssig, fremd war. Ihm wurde schwer zumute; ihn überkam der schwärmerische Wunsch, mit seinem Blick irgendwo in der Weite einzudringen. Aber der Blick blieb stumpf und kraftlos. Nur wenn die Steppe ganz frei dalag, und die Sonne scheinbar nur für ihn allein in der unermeßlichen Welt leuchtete, war es Lande froh ums Herz. Doch das war nur selten; denn auf allen Seiten machten Menschen, zahllos wie die Ameisen, sich mit irgend etwas zu schaffen.

Als man ihm den nächsten Weg durch den Wald, der Lande wie eine zackige Wand gegenüberstand, zeigte, als er unter die feierlichen, friedlichen Laubkronen trat, da erfaßte ihn ein Freudentaumel; zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er ein Gefühl der Erleichterung darüber, daß es hier keine bekümmerten, verfinsterten Gesichter gab.

Den ganzen Tag hindurch ging er über kaum kenntliche, verwachsene Waldespfade, und den ganzen Tag standen nur hochgewachsene, nachdenkliche Bäume um ihn. Nach allen Richtungen hin dehnte sich ihre durchsichtige, grüne Tiefe. Stumme Vögel flatterten lautlos an ihm vorbei; als gäben sie sich den Anschein, daß sie den Wanderer nicht bemerkten. Irgendwo knisterten Zweige, als ginge jemand, doch nicht ein Mensch, durch den Wald. Dann wurde der Wald allmählich lichter, ein Geruch von Feuchtigkeit und die Empfindung einer unbegreiflichen, aber deutlich wahrnehmbaren Kraft zog heran, etwas glänzte zwischen den Bäumen. Es war ein großer, tiefer, wasserreicher Fluß. Nur an den Uferrändern wuchs grünes Schilf und wiegte seine schmalen Blätter wie grüne scharfe Dolche über der Tiefe; aber die ungeheure Masse des freien und vollen Wassers glitt in langsamer, ebenmäßiger Bewegung, rein und breit, dahin. Auf der anderen Seite stand wie eine dichte Mauer ein ebenso dunkelgrüner Wald; hinten rückten schweigsame Bäume heran und streckten knorrige Äste über den Fluß.

Es war einsam und blieb lange Zeit einsam; Lande saß nachdenklich am Ufer. Dann kam auf dem Wasser lautlos ein Kahn heran, ebenso grünlich, feucht und wild, wie die Baumstämme des Waldes, den ein nasser, knorriger Bauer kniend ruderte. Er störte die Fluß- und Waldesruhe nicht, zerrann vielmehr in dem Ganzen, sodaß das Auge über ihn ohne Anhalt, wie über Schilf, Wasser und Himmel, glitt.

„Großväterchen!“ rief Lande, sich aufrichtend.

Auf dem anderen Ufer rief eine dünne, eigentümlich hallende Stimme:

„O—äää!“ verstummte aber sofort, wie es schien, in furchtbarer Entfernung.

Der Bauer legte das Ruder auf die Knie, quer über den Kahn, der langsam von selbst weiterglitt und einen dünnen, silberhellen Streifen, der wie gläsern klirrte, hinter sich zurückließ.

„Hier!“ rief der Bauer zurück.

„I—i!“ schallte es wieder aus dem Wald; eilig lief etwas in das Dickicht zurück.

Dann ruderte der Bauer und ruderte, und Lande saß im Vorderteil des Kahnes und spiegelte sich wie ein langer, schwarzer Streifen im Wasser wieder.

„Gehst du noch weit?“ fragte der Bauer mit dumpfer Stimme.

„Weit!“ antwortete Lande.

Der Bauer blickte ihn mit kleinen, raschen Äuglein an.

„So ...“ sagte er, hörte auf zu rudern und starrte aufs Wasser.

„Man sagt, in Sibirien soll viel mehr Raum sein ...“ fing er plötzlich an, als stände das, was Lande gesagt hatte, in Zusammenhang mit seinen alten, zähen Gedanken. „So geht das Volk herum, zu suchen, wo es besser ist ... Das ist ja richtig, man weiß nicht, wo man sich lassen soll, aber so hat es auch keinen Zweck ... Man geht, um Recht zu suchen, und es gibt kein Recht auf der Welt ... Ganz gleich, ob du hier oder da wohnst ... So wie ich zum Beispiel, im Wald ... Du denkst das so, als wäre niemand außer Gott über dir ... Alles kommt von Gott, und du selbst kommst auch zu Gott wieder, und außer ihm hilft dir niemand; aber im Gegenteil, — gleich kommt wer weiß wer, wer weiß wozu und greift zu ... wissen tun wir ja nichts, tappen wie im Dunkel herum; vielleicht muß es auch so sein, wer kann es wissen! ... Seine Gedanken macht sich jeder, aber wer wird sie aussprechen! ... So strengt man das Leben lang seinen Buckel an, rackert sich ab wie eine Schindmähre, ist man aber dazu gekommen, einmal freier aufzuatmen, sich an Gott zu erinnern — paff! und wieder einmal nichts mehr da! Und dann nachher — in die Schenke, was bleibt dir anderes übrig. Es gibt kein Recht, lieber Mann, kein Recht! Und ob hier oder da, alles gleich, die Erde ist überall gleich!“ Die Stimme des Bauers war eintönig, gedrückt, aber aus ihr schrie lautlos die verborgene Sehnsucht einer gemarterten Seele.

„Dieses Rechte liegt im Menschen selbst, und nicht in der Erde,“ antwortete Lande traurig. „Man muß einander lieben und bemitleiden, und das übrige wird schon von selbst kommen!“

Der Bauer lächelte düster.

„Das wissen wir gut, lieber Mann, was kommen wird!“ Er warf es achtlos hin, als bezöge sich das Gespräch auf den Tag, der morgen eintreten muß. „Wie sollen wir aber heute leben, das sage uns erst ... Lieben, meinst du ... Wie kommt man aber zum Lieben, wenn man manchmal bereit ist, sich einander wegen eines Stück Brot die Kehle abzuschneiden! ... Da hast du es.“

Der Bauer schwieg, dann fügte er in tiefem Baß hinzu:

„Die Herrschaften haben gut reden ... Die Herrschaften und die Popen! ... Nein, finde du mal erst das Recht hier!“ und er steckte Lande seine knorrige Faust, die vom Fischpökeln zerfressen war und mit der er das Ruder hielt, entgegen.

„So ist’s ...“ begann er nach einer Pause mit einer ganz anderen Stimme. „Gott sieht am besten, wo alles hinsteuert! ... Darum leben wir auch, sonst ... Es gibt keine Gerechtigkeit in der Welt, und vielleicht kommt alles gerade darauf an: Gott will Gerechtigkeit mehr als Sattsein; deshalb stehen auch die Menschen Qualen aus, weil durch sie die Gerechtigkeit auf die Erde kommt! ... So ist’s, was, lieber Mann?“

„So, so!“ nickte Lande erfreut mit dem Kopf. „Alles, was es in der Welt gibt — alle Wissenschaften, und alle großen Taten und alle Gedanken, — alles wird durch Leiden weitergeführt ... Wenn es keine Leiden gäbe, wäre auch die Seele zum Stillstand und zum Sterben gekommen!“

Der Kahn stieß ans Ufer. Lande kroch unschlüssig und langsam heraus. Der Bauer blieb unten. Eine Minute sahen sie sich beide schweigend an. Etwas Starkes und Kräftiges verband sie miteinander; sie waren sich in dieser Minute beide fern und nahe, wie die beiden Enden eines ausgespannten Taues; beide hatten das brennende Verlangen, etwas zu sagen, etwas Bedeutsames, Einigendes; doch konnte er es nicht ausdrücken, weil es keine Worte gab, die gleich stark und gleich verständlich für sie beide, für den Bauern wie für ihn, gewesen wären.

„Lebe wohl, Großvater!“ sagte Lande traurig.

Der Bauer murmelte düster etwas Unverständliches vor sich hin, stieß vom Ufer ab und glitt wieder über den Fluß, knorrig und naß wie ein schwimmender Baumstumpf. Lande schaute ihm lange nach, bis er hinter einer Biegung verschwunden war, und sich die langen, silberhellen Streifen auf dem breiten Wasserspiegel wieder geglättet hatten. Gegen Abend verlor Lande den Weg; er fand aber eine alte verlassene Hütte und blieb in ihr über Nacht.

Die Nacht war kalt, schneidend, und Lande schlief schlecht vor Kälte und Müdigkeit.

Der Nebel, der die ganze Nacht zwischen den hohen, regungslosen Bäumen wie eine dichte, weiße Hülle hing, geriet gegen Morgen in Bewegung und wurde grau. Etwas Unfaßbares erzitterte in der Luft, und alles erwachte gleichzeitig leicht und rasch wie auf Verabredung. Ein Vogel zwitscherte leise, als ob er etwas zu fragen hätte. Ein Rabe erhob sich schwer von einem feuchten Ast und flog, während seine taudurchnäßten Flügel linkisch dürre Zweige streiften, geradeaus in den Nebel hinein. Das Gras erschauerte, die Blätter regten sich, und plötzlich fing alles an, strahlend hell zu werden. Der Nebel kam mit einem Ruck ins Schwanken und zog sich in leichte, wankende Säulen zusammen, die eilig, lautlos zwischen den Baumstämmen auf- und niederschwankten.

Lande kroch aus der Hütte; seine dünne, schwarze Gestalt richtete sich über einem hellgrünen Grashaufen in der weißen Dämmerung wie eine schwarze Zickzacklinie auf. Die Nacht hindurch war er stark durchgefroren; sein Gesicht war blaß, grau, zerknittert. Er sah sich um, und im ersten Augenblick kam ihm in dem wogenden Nebel alles sonderbar verändert vor.

Aber der Morgen wurde immer heller. Der Nebel löste sich spurlos, sklavisch auf. Nah und fern erhob sich mit unsichtbarem, mächtigen Brausen das Leben des Waldes. Die Wipfel der Bäume loderten in grellem, rosigen Brand auf und zwischen ihnen in tiefem Blau der Himmel. Lande wurde von der lebendigen Wärme und dem Licht, das sich in mächtigen Strömen über alles ergoß, vollständig durchdrungen.

Er mochte nicht von hier fortgehen. Er ließ sich neben der Hütte auf die Erde nieder und saß still, mit gespannten, freudigen Augen alles um sich her beobachtend, ohne sich zu rühren.

Der Tag stieg auf. Sein grelles, unendlich-mächtiges, lebendiges Licht erwärmte das Herz. Lande saß bald, bald lag er unter einem Baum, der leichte goldene Blätter auf ihn streute, und verfolgte gierig das für ihn neue, geheimnisvolle Waldleben. Ihm schien, daß er langsam anfange, es, wenn auch undeutlich, zu verstehen.

Immer tiefere Ruhe überkam ihn; um so schwächer wurde sein Körper.

Er bemerkte diese Schwäche und aß ein wenig; aber die Bissen wollten nicht durch die Kehle rutschen, und nach dem Essen wurde er noch schwächer. Er stand auf, konnte aber kaum den Fuß anheben: eine eigentümliche Mattheit zitterte in seinen Knieen, ihm schwindelte es, der Kopf war schwer und das Herz schlug leise und schwach.

Ich bin krank, dachte Lande, aber ohne sich zu fürchten oder zu wundern, als wenn er es so erwartet hätte. Wahrscheinlich habe ich mich in der Nacht erkältet, ging es ihm mechanisch durch den Kopf, — ich muß hier bleiben. —

Eine undeutliche, ruhige Freude stieg allmählich in ihm auf. — Worüber bin ich froh? — fragte er sich und lächelte sich selbst zu. — Weil ich hier bleiben muß oder über etwas anderes? Ich weiß nicht ... aber wie licht, still und wohl mir ist! ...

Den ganzen Tag lang sah er ohne bestimmte Gedanken, ganz in ein beschauliches, zärtliches Gefühl versunken, vor sich hin.

So viel Licht, Farben, Durchsichtigkeit und Leben zitterte um ihn, daß ihm vor Glück und rührender Sehnsucht die Augen brannten.

Unaufhörlich tönte der Stimmenchor des Waldes über ihm, aber außer stillen Vögeln mit grünen Schwanzfedern, sah er nichts. Nur um die Mittagszeit kam aus dem Walde, hinter dem Gebüsch, ein magerer zottiger Bär hervor. Seine kleinen, schwarzen Äuglein blickten Lande aufmerksam und ernsthaft an. Er setzte sich auf die Hinterfüße, reckte den Hals ein wenig an, seufzte auf und starrte dann wieder auf Lande. Ein Vogel wiegte sich leise auf grünen Zweigen, die sich auf dem Himmel ausprägten. — Gott, wie schön! sagte Lande zu sich, seine Augen wurden feucht.

Der Bär stieß einen sonderbaren, beinahe schluchzenden Laut aus und streckte wieder seinen Hals.

Lieber Kerl! rief Lande, und plötzlich wünschte er sehr, auf den Bär zuzugehen und ihn über das braune, ausgetrocknete Fell, an dem die Zotten herunterhingen, zu streichen. Nur fürchtete er, daß er ihn erschrecken würde. Daß sich der Bär auf ihn stürzen könnte, das kam Lande gar nicht in den Sinn; in seiner Seele war es still und sanft; sie konnte keinen brutalen Gedanken fassen.

Soll ich ihm Brot geben? dachte Lande und lachte selbst über diesen Gedanken.

Der Bär stieß wieder einen schweren, langgedehnten Seufzer aus, blickte noch einmal mit den schwarzen Augen umher, stand auf und trottete, leicht wiegend, in den Wald zurück. Lande kam es traurig und gleichzeitig fröhlich an, zuzusehen, wie er sich unter den säulenhohen Bäumen entfernte.

Hier wäre es gut zu sterben, dachte er plötzlich mit feuchten Augen.

Und der Gedanke an den Tod, mit dem deutlichen, abgeschlossenen Bewußtsein seiner Nähe, trat gebieterisch aber ruhig in seine Seele.

Ssemjonow fiel ihm ein, doch blitzte dieser Gedanke nur auf, um sich gleich wieder in dem vollen, prächtigen Licht des Tages aufzulösen, als ginge er zu einem anderen, einem Mächtigeren, über.

XXIV

Der Regen goß in Strömen, anhaltender Lärm hing über dem Wald. Manchmal schien irgend jemand in der Nähe, hinter einem Busch zu schluchzen, mit dünner, silberklirrender Stimme zu weinen; später hörte man deutlich, daß es nur Regentropfen waren, die klangen.

Lande lag in der Hütte. Es war naß, dumpf und undurchdringlich finster. Manchmal war ihm, als ob er über bodenloser Leere liege, dann hob er mit Mühe die heiße, zitternde Hand, stieß neben seinem Gesicht an unsichtbare, schwere, durchnäßte Zweige, und dicke, kalte Tropfen schlugen auf sein Gesicht. Der Kopf brannte ihm, Fieberfrösteln riß ihm den Körper in Stücke, und er wand sich in dem vergeblichen Bemühen, unter der nassen Sutane warm zu werden, ohnmächtig auf der Erde hin und her. Vor seinen offenen Augen sprühten in der Finsternis Feuerfunken, wirbelten goldene Kreise.

Ich sterbe, — dachte Lande. — Ja ... Herr, dein Wille geschehe!

Vor Kälte, vor Schmerz weinte er. Einsame, niemandem sichtbare Tränen fielen heiß auf die nasse Erde, rieselten ihm in den Mund und auf die krampfhaft klappernden Zähne.

Herr, Herr! — rief er still, und dieser einsame Laut war so sonderbar in Wald und Finsternis, daß es ihm selbst vorkam, als verfiele unter ihm alles für einen Augenblick in Schweigen, würde es still und lauschte. Und dann rauschte, fern und nahe, noch stärker der Regen, das Wasser gluckste.

Lande verlor die Besinnung, regungslos auf der Erde zusammengekauert, die Kniee in einer kalten Pfütze. Er fieberte.

Aus der Finsternis lugte ein großer Hasenkopf. Die langen Ohren waren zurückgeworfen, die roten Augen starrten Lande unverwandt an. Etwas Schreckliches, Höhnendes lag in diesem schweigenden Kopf. Leise, langsam, kaum merklich nickte er Lande zu. Plötzlich leuchtete alles in gelbem Licht auf, als wäre irgendwo in der Nähe, hinter seinem Rücken, eine unsichtbare Flamme entzündet; in ihrem Licht erblickte Lande, wie von der Seite, seinen Körper, widerwärtig und armselig in einer Pfütze zusammengekauert, von der nassen, schwarzen Sutane beklebt, schmutzig, unglücklich, wie ein Wurm. Entsetzliche Angst drängte sich an sein Herz. Mit einem wilden, sinnlosen Schrei setzte er sich auf; dabei stieß er mit dem Kopf an die Zweige. Ganze Bäche kalten Wassers rieselten auf ihn herab, aber er kam nicht zu sich. Eine Menge bekannter Gesichter zogen lebend, augenglänzend, in einer endlosen Reihe, die sich in der Ferne verlor, an ihm vorüber. Sie näherten sich, neigten sich zu ihm, sahen ihn an und gingen weiter, hinter ihnen kamen neue heran. Die Flamme leuchtete nicht mehr hinter Landes Rücken; dafür schien von ihm selbst ein mattes, aber klares Licht auszugehen. Es legte sich auf die Gesichter, die sich verneigten, drang immer weiter und weiter, nach allen Seiten hin. Ihm wurde still und wohl. Dann brannte wieder die Flamme, und wieder wand sich ein schwarzer Körper wie ein zertretener Wurm auf dem Boden; wieder nickte kaum merklich ein Hasenkopf.

Es war kein Gedanke und keine Wahnvorstellung, kein Gefühl, nur das grelle Licht einer wunderbaren Erkenntnis, die Landes erhitztes Gehirn durchdrang. Im selben Augenblick wurde sein ganzes Leben in zwei Teile gespalten: Als hätte ihn das Gewaltige, das in seiner Unbegreiflichkeit Helle und Wundervolle, das, was er sein ganzes Leben lang getan hatte, jetzt verlassen und wäre langsam zerronnen, um alles ringsumher zu erfüllen, er selbst aber war von einem scharfen Leiden, einem einsamen, unbesiegbaren, letzten Schmerz gepackt worden, der ihm seine scharfen Krallen einbohrte und ihn mit schrecklicher Wucht zu Boden drückte.

„A—a—a!“ schrie Lande mit schwacher, dünner Stimme in die Finsternis hinein.

XXV

Rjasaner Bauern, Zimmerleute, die nach ihrer Heimat gingen, fanden im Wald, fern von jeder Wohnstätte, einen toten Menschen.

Die Leiche lag in einer Hütte, die aus dürren Zweigen zurechtgebaut war, mit angezogenen Beinen und krampfverzerrten Fingern. Der Kopf auf dem dünnen, langen Hals war halbverrenkt, so daß man das Gesicht nicht sehen konnte. Der Tote trug eine schwarze Sutane; ein Fuß war aus irgend einem Grunde entblößt. Von der Leiche ging ein schwerer, toter Geruch aus und verband sich eigentümlich schrecklich mit dem feinen, süßlichen Geruch welken Farnkrauts, das an dieser Stelle stand.

Einer der Zimmerleute, ein rotbärtiger, hochgewachsener Bauer, berührte den Fuß der Leiche mit der Stiefelspitze. Der tote Fuß bewegte sich kaum und wurde gleich wieder unbeweglich.

„Gestorben ...“ meinte tiefsinnig der Bauer, kratzte sich im Nacken, blieb eine Weile stehen und riß dann plötzlich, mit einem Gesicht, das von Angst und ihm selbst unbegreiflicher Wut verzerrt war, an der Leiche und schleppte sie am Fuß aus der Hütte heraus. Der Kopf schwankte und sprang über den Boden, die Hände schlugen auf die Erde, klatschten schwer nieder, und ließen sich, vom Staub bedeckt, nachschleifen. Doch mit einem Mal schlug ein so entsetzlicher, penetranter Geruch hoch, daß die Bauern zurücktaumelten.

„Oh, Teufel!“ sagte verwundert der Rotbärtige, als hätte man das auf keinen Fall erwarten dürfen.

Die Bauern standen und blickten auf die Leiche.

Bitter und einsam lag sie auf der Erde, schaute mit toten, wie von schweren Tränen getrübten Augen geradeaus über sich in den fernen Himmel. Kalt und stumm, mit für ewig zusammengepreßten Lippen, die ohne Worte von einem schrecklichen Geheimnis berichteten, verbreitete sie zusammen mit dem schweren Geruch ein gramvolles Schweigen um sich. Auf der Brust war der schwarze Stoff zerrissen, die ausgetrocknete Haut schimmerte lehmgelb hervor, welke Blätter und trockener Schmutz klebten daran, als hielte die Erde schon den Toten mit ihren grauen Fangarmen umschlungen und zöge ihn langsam aber unwiderstehlich zu sich hinab.

Lange standen die Bauern und sahen die Leiche an, als ob sie nicht darauf kommen könnten, was zu tun sei. Endlich seufzte ein alter, gravitätischer Bauer auf, nahm die Mütze ab und bekreuzigte sich. Er bekreuzigte sich einmal, dachte eine Weile nach, sagte: „Sei dir das Himmelreich beschieden!“ und bekreuzigte sich dann noch zweimal. Und alle Bauern rissen, eilig, als wälzten sie dadurch eine drückende Last von sich ab, ihre Mützen herunter und fuhren mit Fingern durch die Luft.

Dann gingen sie davon, einer hinter dem andern, ohne sich umzuwenden.

Lange noch schien ihnen der goldene Wald und das Sonnenlicht, das Gras und der hohe Himmel wie von einem unsichtbaren Schleier verhüllt, von schwerem Schweigen gefesselt. Aber in Wirklichkeit quoll alles in Freude über, strahlte und flimmerte im Sonnenglanz und leuchtete durch ewig-lebendiges, selbst im Absterben noch fröhliches Grün.

Der Bauer, der zuletzt ging, blickte sich verstohlen um; nur ganz von ferne sah er hinter einem goldbraunen, lichten Busch den blassen Umriß eines ausgedörrten, unbeweglichen Fußes.

Es war an einer Stelle, wo jahraus, jahrein das Farnkraut besonders üppig wächst.

Fußnoten

[1] Tretjakow, ein reicher Moskauer Kaufmann, legte eine Gemäldegallerie an, die als eine der größten und besten in Rußland gilt und dem Publikum frei zugänglich ist.

Die Übers.

[2] In Rußland werden die gesamten Lehranstalten im Frühling, Anfang Mai, geschlossen und dann erst, Gymnasien gegen Ende August, Universitäten Mitte September wieder geöffnet.

D. Übers.

[3] Die Figur Ssemjonow wurde später von Artzibaschew auch in seinen Roman Ssanin herübergenommen, in dem auch auf Lande zurückgegriffen wird.

D. Übers.

[4] Im Volksmund die Bezeichnung für religiös überspannte Personen.

D. Übers.

Druck von Mänicke u. Jahn, Rudolstadt.

Anmerkungen zur Transkription

Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. Der fehlende Fußnotenanker von Fußnote 2 auf Seite 222 wurde hinzugefügt.

Offensichtliche Fehler wurden stillscheigend korrigert. Die variierende Transliteration häufig vorkommender russischer Personennamen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Formen in Klammern):

Maria Sergejewna (Marja Sergejewna)
Pawel (Pawl)
Ssergej (Ssergei, Sergej)
Sergejewna (Ssergejewna)
Ssonjetschka (Ssonetschka)
Stepan (Stefan)
Tschetyrjow (Tschetyrjew)
Wassja (Wasja)

Weitere Änderungen, teilweise unter Zuhilfenahme des russischen Originaltextes, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):






End of the Project Gutenberg EBook of Millionen, Der Tod des Iwan Lande, by 
Michail Petrowitsch Arzybaschew

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START: FULL LICENSE

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or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    [email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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International donations are gratefully accepted, but we cannot make
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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
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