Project Gutenberg's Der Silbergarten. Der Stein des Pietro., by Frances Külpe This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Der Silbergarten. Der Stein des Pietro. Zwei Erzählungen Author: Frances Külpe Release Date: May 26, 2019 [EBook #59613] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SILBERGARTEN. DER STEIN *** Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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Philipp Reclams
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Zwei Erzählungen
von
Frances Külpe.
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
Das Abendlicht lag mit einem rötlichen Schimmer über den weiß verschneiten Parkbäumen. Durch die hohen Fenster des Herrenhauses leuchtete es nachdenklich und klar in das Kinderzimmer hinein.
An den weißen Wänden saß im Halbkranze eine zahlreiche Gesellschaft stocksteif und winzig auf kleinen Stühlchen und starrte mit teilnahmlosen Glasaugen in die Mitte des Raumes.
Hier ging etwas Seltsames vor.
Ein kleines weißgekleidetes Mädchen mit aufgelöstem Blondhaar schwang sich mit feierlicher Anmut in einem Tanze, den es offenbar selbst erfunden hatte, vor dem Puppenpublikum hin und her.
Bald glitt es in gebückter Haltung, die Händchen weit hinter sich gestreckt, mit wunderlichen, schleichenden Bewegungen langsam vorwärts, bald stand es auf den Zehenspitzen und hob die schmächtigen Arme in einer verzückten Gebärde zur Zimmerdecke empor, bald drehte es sich, wie zu einer getragenen Musik, langsam um sich selbst – endlich blieb es stehen, wie erstarrt, das lange Haar wie einen goldenen Schleier mit den Händen fassend, die es auseinandergebreitet hielt, die verträumten Augen ernsthaft vor sich hin gerichtet.
»Das war der Sonnentanz!« sagte die Kleine leise. »Habt ihr auch ordentlich zugeschaut?«
Die steifen, rotbäckigen Puppengesichter mußten wohl genickt haben, denn mit einer hoheitsvollen Bewegung hob die kleine Sibylle den Arm und sprach: »Wenn ich einmal gestorben bin, dann werdet ihr nicht trauern, das nutzt gar nichts – aber da ich nun doch eure Königin bin, so sollt ihr mir ein Denkmal setzen. Weiß muß es sein, ganz schneeweiß, aus Marmor, wie Großmama eins hat, und darauf muß mit goldenen Buchstaben stehen: Demut und Gerechtigkeit. Habt ihr's gehört? Hebt also den rechten Arm und versprecht es!«
Wie ein Feldherr, der Umschau über seine Truppen hält, kreuzte sie die Arme über der Brust, runzelte die Stirn und trat einen Schritt zurück.
Dann nickte sie herablassend und gnädig.
»Ich will euch aber auch eine gute Königin sein, solange ich lebe, und niemandem werde ich unser Geheimnis sagen – auch nicht Arno.«
Hierbei krauste sich die klare Kinderstirn wieder nachdenklich, ja fast schmerzlich – aber ruhig wiederholte das kleine Mädchen: »Nein, auch nicht Arno, nur dann, wenn er … euer König sein will.
Und jetzt – seid gehorsam, schwatzt nicht und zankt euch nicht. Geht artig zu Bett und schlaft bald ein. Dann sollt ihr auch morgen den Schneetanz zu sehen bekommen.«
Die Tür ging auf und eine zarte Frau trat ein. »Mit wem redest du denn da, Silly?«
Die Kleine lief der Mama freudig entgegen. »Mit meinen Puppen, Mama. Ich muß sie noch zu Bett bringen.«
»Ich wollte dir etwas Hübsches sagen, Kind. Arnos Eltern reisen in der nächsten Woche nach[5] Italien, und solange sie fortbleiben, kommen Arno und Elisabeth zu uns mit ihrem Hauslehrer. Nun, freust du dich denn nicht?«
»Elisabeth auch?« fragte Sibylle ein wenig gedehnt. »Arno allein wäre hübscher. Elisabeth ist immer so … so schrecklich langweilig.«
»Aber, Silly!« sagte die Mutter mit leisem Tadel, »die Kinder werden unsere Gäste sein – und gegen Gäste ist man immer sehr liebenswürdig. Komm jetzt mit nach unten, du sollst Arnos Mama begrüßen.«
Freifrau v. Wolf-Rüdinghausen fuhr nervös zusammen, als die Tür sich öffnete und die Gräfin mit Sibylle am Arm in den Salon trat. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Züge waren scharf und gespannt; jetzt verklärten sie sich zu einem erfreuten Dulderlächeln.
Das Kind hatte sich zärtlich an die Mutter geschmiegt und sah dem Gast mit einem frischen Glanz in den Augen erwartungsvoll entgegen.
»Ich freue mich sehr auf Arno und … Elisabeth!« sagte die Kleine artig und küßte der Freifrau nach einem schönen Knicks die Hand.
Während sich die Damen über den näheren Termin unterhielten, an dem die Kinder in Wangen eintreffen sollten, hörte sie aufmerksam zu. Als die Freifrau lachend erzählte, daß Arno und Elisabeth am liebsten ihren ganzen Kaninchenstall auf dem Nachbargute einbürgern wollten, schlug Sibylle die durchsichtigen grauen Augen bittend zu ihr auf.
»Ach ja, erlauben Sie es doch! Und Arnos Reitpferdchen lassen Sie doch mitkommen, Tante Marga, bitte!« sagte sie leise. »Er wird sich doch langweilen ohne sein Pony.«
Die Freifrau warf der Gräfin einen amüsierten Blick zu. »Mein Arno hat eine tapfere Fürsprecherin in Silly,« sagte sie wohlgefällig. »Wenn die Kinder doch nur künftig ebenso zusammenhielten wie wir Erwachsenen!« fügte sie mit einem schmerzlichen Seufzer hinzu. »Wissen Sie auch, Liebe, daß mein Mann sich mit dem Gedanken trägt, Rüdinghausen zu verkaufen?«
Ihre eingesunkenen Augen füllten sich mit Tränen. Scharf zeichnete sich unter der blaßgelben Haut der feine Backenknochen.
»Nein – davon habe ich kein Wort gehört.«
»Es ist so – leider!« erwiderte die Freifrau wehmütig. »Arno soll aufs Gymnasium, ich unter die Obhut der Ärzte und vor allem – meinen Mann zieht's nach Berlin. Nun, hoffentlich findet sich sobald kein Käufer!« schloß sie mit einem leichtsinnigen Lächeln, das sie sehr verjüngte, »denn unter uns gesagt, Beste, die Männer lieben es, ihren eigenen Wünschen das Mäntelchen eines Opfers für die Gattin umzuhängen. Gott, ich fühle mich ja eigentlich ziemlich wohl – das böse Husten, das sich im Frühjahr immer regelmäßig einstellt, das werde ich auch in Berlin behalten.«
»Sillchen, geh jetzt nach oben zum Fräulein,« sagte die Gräfin freundlich.
Das Kind, das in den letzten Augenblicken ganz blaß geworden war, verbeugte sich und bog den Kopf zurück, um sich von der Freifrau auf die Stirn küssen zu lassen, dann glitt es aus dem Zimmer. Die Freifrau verfolgte die zierliche Gestalt mit den Blicken.
»Was ist Ihre Silly für ein liebliches kleines Wunder!« sagte sie enthusiastisch. »Ich war vorhin[7] ganz frappiert, als Sie mit ihr hereinkamen. Einen Charme hat sie, um den manche Prinzessin sie beneiden dürfte!«
»Vor allem ein gutes, reines Herzchen, aber leider auch eine allzu große Empfindsamkeit und – eine Phantasie, für die es keine Grenzen gibt. Ich freue mich von ganzem Herzen auf unsere jungen Gäste und hoffe viel von dem gesunden Einfluß Ihrer Kinder!«
Die Freifrau erhob sich und stand lang und schmal der Gräfin gegenüber. Sie streckte ihr herzlich beide Hände entgegen. »Nochmals vielen, vielen Dank!« sagte sie bewegt. »Auch in Fritzens Namen. Und Ihrem Gatten die schönsten Grüße. Auf Wiedersehen also im Sommer, liebe Gerda!« – –
Es war zwei Wochen später.
»Du, Arno, ich … ich möchte dir etwas zeigen!« flüsterte Sibylle eines Morgens, »komm mit mir ins weiße Zimmer, aber so, daß es Elisabeth nicht merkt, ja, willst du?«
Elisabeth saß steif und gerade vor dem Piano und spielte gewissenhaft ihre Tonleitern.
Arno sah leuchtend von seinem Buche auf und nickte. Er war ein schöner Knabe von etwa zwölf Jahren. Seine Züge waren regelmäßig und klar. Das nußbraune Haar lockte sich ein wenig und fiel in die hochgewölbte weiße Stirn. An den Schläfen spielte leicht ein zartes blaues Geäder. Ein paar stahlgraue Augen blitzten keck über der kühn geformten Nase und widersprachen in ihrem Ausdruck der frauenhaften Zartheit des Mundes.
Lebhaft sprang er auf, aber Sibylle hielt ihn schüchtern am Arm fest.
»Möchtest … möchtest du gern König sein?« flüsterte sie gespannt.
Er sah sie lachend an. »Lieber schon Indianerhäuptling, aber warum fragst du, Silly?«
Sie antwortete nicht. Über ihr schmales Gesichtchen flog eine leise Röte. Mit leichten Schritten verließ sie das Zimmer, Arno folgte ihr hastig.
»Wohin gehst du, Arno?« fragte Elisabeth.
Er sah sie spöttisch an. »Wohin ich will!« sagte er ungeduldig. »Du hast nicht immer aufzupassen.«
Er lief mit Sibylle die Treppe empor. Beide Kinder traten gleichzeitig in das Kinderzimmer.
Aufrecht an die Wand gelehnt standen Sillys Puppen in Reih und Glied.
»Das ist ja wie zu einem großartigen Empfang!« rief er lachend. »Auf wen warten denn deine Puppen, Sillchen?«
»Auf dich … und mich!« sagte sie leise und feierlich. »Denn ich bin ihre Königin. Sag das aber niemand. Möchtest du nicht ihr König sein?« fragte sie mit einem flehenden Ausdruck.
»Puppenkönig …?« Ihm spukten noch die Indianergeschichten im Kopf herum, aber ein Blick in ihre gespannten Züge ließ ihn die entrüstende Zumutung sanftmütiger hinnehmen. »Nein, Silly,« sagte er endlich ehrlich, »alles, was du willst, aber das – kann ich nicht.«
In ihre durchsichtigen grauen Augen traten Tränen. »Du sollst ja nicht, wenn du nicht willst,« sagte sie traurig und hing den Kopf, »aber dies mußt du doch von mir annehmen. Es ist die liebste und kleinste, die ich habe, und sie heißt Lady Rosalind.«
Sie drückte ihm ein gewöhnliches Zündholzschächtelchen in die Hand und bat flehend: »Geh, geh jetzt, Arno, mach die Schachtel nicht hier auf, bitte. Später, wenn du allein bist!«
Betroffen von dem schmerzlich-leidenschaftlichen Ton ihrer Stimme blieb der Knabe unschlüssig stehen und sah Sibylle an.
Aber sie drängte und schob ihn zur Tür hinaus.
»Bitte, bitte geh!« flüsterte sie.
Er ging.
Auf der Treppe öffnete er das Schächtelchen. Ein winziges, rosagekleidetes Püppchen mit einer langen seidenen Schleppe lag darin.
Wie versteinert blieb Sibylle vor ihren Puppen stehen, dann brach sie in ein leises, trostloses Weinen aus. Bittend und demütig trat sie den Puppen näher.
»Er will nicht euer König sein – ich kann nichts dafür,« sagte sie gepreßt. »Und ich weiß wohl, daß ich nun auch nicht mehr Königin sein darf, weil ich ihm das Geheimnis gesagt habe. Die weiße schöne Frau im Traum hatte es mir ja verboten. Nun ist's zu spät. Verzeiht mir und lebt wohl!«
Das Puppenreich hatte seine kleine Königin auf immer verloren. – –
Die Obstbäume standen in Blüte. Baum an Baum reihten sich die schneebedeckten Kuppeln. Ein leichter Wind fuhr durch die weißen Wipfel und wehte die Blütenblätter ins Gras.
Sibylle stand unter den Kirschbäumen und fing die Blüten in ihrem Kleide auf, das sie wie ein Schürzchen hochhielt. Blüten über Blüten fielen über sie hin, blieben in ihrem Haar hängen und rieselten leicht zur Erde nieder.
Graf Theodor stand am Fenster und schmunzelte. »Sieh nur, Gerda,« sagte er, »ist das nicht ein hübsches Bild?«
Langsam kam die Gräfin herbei und lehnte sich an ihren Gatten.
»Mir ist manchmal um das Kind bange, Theo,« sagte sie wehmütig. »Sibylle ist so anders wie andere Kinder. Statt sich zu Elisabeth oder Arno zu halten, den sie offenbar bevorzugt, geht sie immer eigene Wege.«
Graf Theodor zog die Augenbrauen hoch. »Die Exklusivität liegt ihr eben im Blut, mag sie doch!« meinte er zufrieden. »Mir ist sie gerade recht, wie sie ist.«
»Du verstehst nicht, wie ich's meine. Das Kind ist seelisch so zart und verletzlich, dazu so wunderlich verschlossen – wie wird sie das Leben tragen können?«
»Ist sie denn etwa nicht glücklich?« forschte der Vater. Sein kluges, hochmütiges Gesicht wurde weich.
Gerda schüttelte den Kopf. »Es gibt Seelen, so zart und keusch, daß sie sich vor ihrer eigenen Verletzlichkeit scheuen. Wie die Bäume des Winters kommen sie mir vor, wenn sie sich in den Rauhreif hüllen. So, unter dieser weißen silbernen Hülle, entfaltet sich ihr stilles Wesen und spinnt eigene leise Träume. Die Welt aber nennt sie kalt. Hast du schon bemerkt, Theo, wie ähnlich Sibylle solchen Winterbäumen ist?«
»Meiner Treu,« sagte der Graf behaglich, »mich dünkt, sie gleicht eher unseren Kirschbäumen. Übrigens ist dein Vergleich sehr hübsch, Gerda, es fragt sich nur, ob er stimmt.«
»Seltsam ist auch ihre Vorliebe für alles Weiße,« fuhr Gerda fort. »Farbige Blumen mag sie fast gar[11] nicht, aber weißen Flieder, weiße Rosen, weiße Nelken trägt sie sich immer behutsam zusammen.«
Der Graf stutzte. »Sieh!« flüsterte er aufmerksam.
Sibylle hatte das Röckchen voller Blüten mit einer raschen Bewegung hochgeschnellt – wie Schneeflocken wirbelten die Blüten um ihren Kopf, um Haar und Arme, flogen und tanzten lustig an ihr nieder. Nun kniete das Kind unter diesem Blütenregen ins Gras und breitete selig die Arme aufwärts. Es war, als sähe es in den weißen Baumwipfeln eine Erscheinung.
»Wie so 'n Elfenmädel!« brummte der Graf wohlgefällig. Energisch pochte er an die Fensterscheibe. »Ich will sie mal fragen, was all der Hokuspokus bedeuten soll,« sagte er mit gutmütigem Lachen.
Doch Gerda fiel ihm rasch in den Arm. »Ich bitte dich, tu's nicht!« rief sie. »Du würdest dem Kinde die Unbefangenheit nehmen. Wenn Silly sich beobachtet wüßte, es wär' ihr auch nicht lieb. Ich habe auch sonst allerlei Wunderliches an ihr bemerkt,« fuhr sie zögernd fort; »neulich als sie mir aus meinem eigenen früheren Kinderbuche vorlas, ließ sie die Worte Demut und Gerechtigkeit in der Erzählung, die ich genau kannte, absichtlich aus und ersetzte sie durch andere. Dabei wurde sie blutrot, der Atem stockte ihr, und ich fühlte, wie ihr Herzchen pochte. Was mag nur in ihr vorgegangen sein?«
»Kinderphantasien! Auch ich hab' einmal als Tertianer das Kunststück fertiggebracht, einen Aufsatz einzuliefern, in dem kein einziges Mal der Buchstabe r vorkam. Diese Leistung brachte mir die ungeteilte Anerkennung meiner Klassenkameraden ein, unser Lehrer war freilich anderer Meinung.«
»Silly … Silly! Wo bist du?« hörte man jetzt rufen.
Arno stürmte durch den Obstpark. Er hielt einen flatternden beschriebenen Bogen hoch.
Sibylle trat langsam unter den Kirschbäumen hervor. Der Knabe ergriff sie bei der Hand und zog sie eifrig zu einer Bank.
Sie setzte sich ruhig. Arno warf sich der Länge nach ins Gras, stützte die Ellbogen auf den Boden und den Kopf in die Hände. Dann begann er ihr ernsthaft vorzulesen. Sie nickte und faltete still die Hände. – –
Viermal hatte die Erde ihr grünes Kleid mit dem weißen vertauscht, und wieder war es Winter. Und Jahr um Jahr gleichförmig, und dennoch im Innersten wunderseltsam bewegt, spann sich Sibylles Leben durch die wechselnden Jahreszeiten.
Schlanker und zarter war Sibylle geworden, verständiger und wehrloser. Ihre durchsichtigen Augen voll feiner Schwermut sahen ernsthaft und groß ins Weite. Ihr schüchterner junger Mund flüsterte oft heiße, abgerissene Dichterworte vor sich hin, die sie irgendwo gelesen, deren dunklen Sinn sie mehr ahnte als begriff. Wenn sie nachts in ihrem kühlen Bett wach lag, regte sich ein geheimnisvolles Träumen in ihren jungen Gliedern, und sie fühlte, daß das Leben viel, viel schöner sein müsse, als sie es bisher gekannt.
Die Eltern nahmen sie einmal mit in die Stadt, und sie hatte zum erstenmal eine naturwissenschaftliche Bilderfolge in einem Kinematographen gesehen.
Wie die Raupen sich seltsam verpuppten, wie sie sich, ihrem Instinkt zufolge, selbst einspannen in das starre graue Gehäuse, in dem sie nun wehrlos gefangen[13] waren, bis aus der unschönen Hülle, in glänzender Verwandlung, fremdartig und lieblich, das geflügelte Schmetterlingsinsekt herausschlüpfte – das hatte Sibyllens Herz vor Spannung und heiligem Staunen klopfen gemacht. Nun begann sie sich eifrig mit naturwissenschaftlichen Büchern zu beschäftigen. Die Mutter sah das gern. So würde ihr Kind aus seinem Hinträumen zu positiven Kenntnissen geleitet.
Arnos früherer Hauslehrer, Herr Brandt, der nach Übersiedlung der freiherrlichen Familie nach Berlin ins Haus gezogen war, unterstützte Sibylle darin. Im übrigen hatte er sich nicht so recht an seine neue Schülerin gewöhnt. Elisabeths eiserne Pflichttreue und ihr Ehrgeiz waren Sibylle ebenso fremd wie Arnos leidenschaftliche Hingabe an alles Neue. Sie lernte nicht eigentlich ungern, doch wollte es Herrn cand. theol. Tobias Brandt scheinen, als glaube die kleine Gräfin, ihm persönlich einen gnädigen Gefallen zu erweisen, wenn sie lerne, so völlig gleichgültig ließen sie die Ereignisse der Weltgeschichte, die Taten, Meinungen und Dogmen der großen Männer aller Zeiten. Das empörte Herrn Brandts Autoritätsbewußtsein. Dagegen begrüßte er das Interesse Sibyllens an den Vorgängen der Natur mit gemischten Gefühlen. Auf diesem Gebiet fühlte er sich nicht heimisch, auch hatte es ihn nie sonderlich beschäftigt, und ihre ernsten Fragen setzten ihn oft in Verlegenheit. Immerhin war es ihm eine Genugtuung, daß seine Schülerin sich für etwas Besonderes interessierte, denn er stand nun einmal in dem Rufe, ein anregender Lehrer zu sein, und er hätte von seinem schwerverdienten Renommee auch nicht ein Titelchen freiwillig hergegeben.
So wuchs Sibylle eigengeartet und fremd unter den Augen ihrer liebevollen Eltern heran, gehütet, umhegt, halbverstanden und einsam.
Das Land lag weiß und still verschneit in fleckenloser Reinheit, wie Sibylle sie liebte. Sie kam von einem Gange durch den Park zurück, erfrischt und geheiligt. Da hörte sie vom Fenster her die Stimme der Mutter, die sie rief.
Die Gräfin trat in der Vorhalle ihr entgegen, einen Brief in der Hand. Sie ließ Sibylle, ihrer Gewohnheit entgegen, kaum Zeit, den Mantel und die weißgestrickte Sportmütze abzunehmen. Erregt sagte sie: »Weißt du, Kind, Arno ist todkrank gewesen.«
Sibylle blieb wie angewurzelt stehen. »Todkrank …?« wiederholte sie.
»Ja, denke dir, eine schwere Lungenentzündung. Tante Marga muß eine entsetzliche Zeit durchgemacht haben. Immerzu hat der Junge geredet und phantasiert, keine Minute ist er ruhig gewesen. Elisabeth hat sich musterhaft benommen – wie zur Krankenschwester geboren, schreibt Tante Marga.«
Sibyllens leicht gerötete Wangen waren blaß geworden. »Elisabeth ist ja immer musterhaft,« sagte sie kurz.
Die Gräfin überhörte den bitteren Unterton in ihres Kindes Stimme. »Ich will dich etwas fragen, Silly,« sagte sie zögernd; »es ist mir nicht ganz verständlich, wie die Sache zusammenhängt – aber … in seinen Fieberphantasien hat Arno immerzu von einem Versprechen geredet, das er dir halten müsse – was ist das für ein Versprechen gewesen?«
Sie sah Sibylle an und erschrak.
Völlig verstört stand das Kind da, sehr blaß, die Arme schlaff niederhängend, die Augen voll eines wunderlichen, hilflosen Ausdrucks.
»Was ist das für ein Versprechen gewesen, Silly?« wiederholte Gerda eindringlich und beruhigend. »Hast du denn kein Vertrauen zu mir?« fragte sie nach einer Pause schmerzlich verwundert.
Sibylle zuckte zusammen. »O ja, Mama – aber – aber bitte, frage mich nicht.«
Sollte es gar eine frühreife Liebesaffäre sein? dachte Gerda ängstlich, doch nein, das ist ja nicht möglich – solche Kinder!
Nach einer Weile sprach sie weiter: »Die andere Frage betrifft nicht dich, doch nehme ich an, daß du etwas davon weißt: wer ist Lady Rosalind?«
Jetzt wurde Sibylle rot wie mit Blut übergossen – ihre Finger krampften sich unstet ineinander, ihre zarte, lang aufgeschossene Gestalt zitterte, sie schlug die Augen auf und zu und blinzelte, als sähe sie in die Sonne.
»Weißt du es?«
»Ja!« flüsterte Sibylle bedrückt. Sie schien einer Ohnmacht nahe. Flehend sah sie ihre Mutter an.
Ach, es war ja eigentlich kein Geheimnis, nur eine Kinderei – gab es etwas Harmloseres, als daß Arno ihr versprochen hatte, zum Zeichen, daß er an sie denke, ein Tagebuch im Namen des rosenfarbenen Püppchens, das Sibylle ihm geschenkt, zu schreiben? Es war dies eine ritterliche Pönitenz, die er sich selbst auferlegt, weil er Sibylle mit seiner Weigerung, Puppenkönig zu werden, so weh getan. Nachher hatte ihm die Sache Spaß gemacht, und der begabte, phantasievolle Knabe fand ein ganz ungewöhnliches[16] Vergnügen daran, sich in die Seele einer englischen holdseligen Lady hineinzudenken und aus dieser heraus die Welt zu sehen und das Leben zu beschreiben. Den ersten Teil dieses literarischen Machwerkes kannte Sibylle bereits und hatte ihn begutachten müssen. Sollte sie das jetzt preisgeben? Nein, es war unmöglich.
»Es … es ist nichts Unrechtes –« stotterte sie endlich mühsam.
»Das setze ich auch nicht voraus,« erwiderte die Gräfin gehalten, »aber gerade deshalb …«
Sibylle trat einen Schritt vor, auf die Mutter zu und hob die Arme. »Bitte … bitte, nicht fragen, Mama …«
Die Gräfin wurde einen Moment irre an ihrem Kinde. Nicht ohne Härte sagte sie kühl: »Gut, ich will nicht mehr fragen, aber du selbst, Sibylle, vergiß das nicht, hast eine Schranke zwischen uns aufgerichtet.«
Sie bereute sofort das gesprochene Wort. Sibylle sah sie starr an und schwankte ein wenig, dann fiel sie still und schwer zu Boden. – –
Ein wunderliches Innenleben, ein Traumleben, fern, still und abseits von allem Hergebrachten, hielt Sibylle in seinem zwingenden Bann.
Sie wuchs, erblühte und wurde fast schön. Sie sah die Dinge um sich her und sah sie doch wieder nicht. Es war, als hätte sie kein Organ für die täglichen kleinen Geschehnisse ringsum; für den Wandel der Natur jedoch, für den großen allgemeinen Zug allen Werdens und Wirkens, Blühens und Vergehens hatte sie weit offene Sinne.
Sie liebte die Dämmerstunden der heißen Juli- und Augusttage, wenn die Bäume zu horchen schienen und die Springbrunnen lauter murmelten; sie liebte die klaren Herbstnächte mit ihrem zärtlichen Sternenglanz, liebte die frühen Maimorgen, wenn die Obstbäume, noch betaut von der Nacht, ihre weißen Blütenreigen spannten; vor allem aber liebte sie den Winter, zu allen Stunden des Tages und der Nacht.
Ihr Verhältnis zu Herrn Tobias Brandt war unpersönlich geblieben wie am ersten Tage. Pflichtgemäß lernte sie, was sie zu lernen hatte, nur fühlte sie jetzt manchmal einen sonderbar aufdringlichen Blick aus seinen runden blauen Augen, den sie instinktmäßig von ihrem Antlitz wegzuwischen versucht war.
Der Sommer brütete heiß über dem Park. Die Blumen schlossen müde ihre Kelche, der weidenumsäumte Parkteich schillerte wie aus Stahl gegossen, und der Hauslehrer ging schwitzend und rot die Kastanienallee auf und nieder, ein Buch in der Hand.
Sibylle sah ihn von weitem und schlüpfte an den Obstbäumen vorbei, zwischen den Beerenhecken an ihr Lieblingsplätzchen, den Teich. Hier, im Schutz der alten Bäume und des dichten Gestrüpps, pflegte sie manchmal in der Dämmerung unbemerkt zu baden.
Sie zog ein Buch aus der Tasche, setzte sich auf einen alten, weit über den Teich hineinragenden Stamm einer Weide, entkleidete ihre Füße und ließ sie in die kühle Frische hineinhängen. In einem halbwachen Zustande von Traum und Leben schaute sie auf die glatte, silberne Fläche. Schwärme von Mücken tanzten im Abendsonnenschein, hin und wieder hüpfte ein Fischlein aufwärts und zog schnell sich weitende Wasserringe. Schweigsam und reglos, sommermüde[18] und träumend, standen die Bäume. Ihr war sehnsüchtig und fragend zumute. Mit scheuer Schwere war zum erstenmal bange die Frage in ihr aufgetaucht, wer das Ich sei, das sie als das ihre empfand – warum war sie gerade – sie selbst? Woher kam sie? Wohin trieb sie? Warum mußte sie sein wie sie war? Gehörte sie außer sich selbst, außer ihren Eltern, einem unbekannten Reiche an, wie die Bäume und Pflanzen der Natur? Glich sie der silberstämmigen Birke oder gar der ernsten dunklen Tanne? Konnte sie für ihre Wesensart?
Die Fragen jagten einander in wunderlicher Hast. Sie wurde sich des erwachten Zustandes ihrer Seele fast schmerzhaft bewußt.
Langsam begann sie ihr Blondhaar aufzulösen. Wie ein lichter Mantel hing es weit über die Hüften nieder und verhüllte das weiße Sommerkleid. Ein Durst nach Kühlung dehnte ihr die Glieder. Die Schatten der Bäume waren länger geworden und senkten sich weit über das ruhende Wasser. Sie widerstand nicht länger, rasch schlüpfte sie aus ihren Kleidern und ließ sich in das Wasser hineingleiten.
Sibylle stand vorgeneigt und horchend im Wasser, mit einem scheuen Ausdruck in dem schmalen Gesicht – hatte es nicht soeben im Gebüsch geknackt?
Das Wasser stieg ihr bis über die Knie, sie faßte ihr Haar wie einstmals als Kind mit den Fingerspitzen und ging, sich leise wiegend, weiter hinein. Sie mußte an ihre Puppen denken, die seit Jahren in enge Kisten verpackt, einen totenähnlichen Schlaf schliefen. »Die Armen,« sagte sie mitleidig vor sich hin, »das Puppenreich ist zu Ende – kommt jetzt ein anderes Reich …? Ja es kommt,« flüsterte sie[19] freudig, »ich fühl's –« Um ihre Lippen war ein Lächeln von einer scheuen, verirrten Seligkeit.
Wieder knackte es im Gebüsch, und sie schrak zusammen. »Ist jemand da?« fragte sie halblaut.
Stille, Schweigen. Jetzt fiel ihr ein, daß sie schon manchmal beim Baden gemeint hatte, jemand könnte da sein und sie belauschen.
»Wie dumm!« murmelte sie vor sich hin – und nun kam ein Hochgefühl, etwas wie ein Wonnerausch über sie – sie bückte sich tief, teilte das Wasser mit ihren schlanken Armen, ließ ihre jungen, schüchternen Glieder von dem schmeichelnden Gewässer umkosen, glitt behutsam weiter, hob die Arme dem verglühenden Abendhimmel entgegen und begann leise zu summen: »Es kommt – es kommt … das neue Königreich kommt …« Ihr war töricht leicht ums Herz geworden – vorbei alle düsteren, sehnsüchtigen Fragen.
Unbefangen und froh wie ein Kind spielte sie dahin – irgendeine Macht weihte sie, sich eins zu fühlen mit der träumenden Stille, die sie umgab, eins mit Luft und Wasser, Laub und Sonne.
Endlich hatte sie genug und warf langsam und müde ihre Kleider wieder über.
Sie flocht sich das Haar, steckte es ruhig auf, saß noch ein Weilchen träumend und ließ die Füße im Wasser plätschern. Ohne Eile zog sie Strümpfe und Schuhe an, nahm ihr Buch und schritt durch die dämmernden Schatten der Bäume wieder dem Hause zu, die Augen zu Boden gesenkt.
Da blieb sie plötzlich stehen – verwundert, betroffen – auf dem Boden, etwa zehn Schritte vom Ufer, lag ein kleines rotes Notizbuch. Sie kannte es[20] wohl, es gehörte Herrn Brandt. Wie war es dahin gekommen? Vorhin war es nicht dagewesen …
Ah! Nun wußte sie. Ihr Herz tat einen ungeheuren Schlag – alles Blut strömte ihr ins Antlitz – so hatte er sie belauscht … pfui!
Ein Ausdruck unsäglichen Ekels spannte ihre Züge; sie hob das Büchlein auf, weit ab von sich mit gespreizten Fingern hielt sie es … endlich pflückte sie ein großes Klettenblatt und wickelte es hinein.
Sibylle sah an diesem Tage Herrn Brandt nicht wieder.
Am nächsten Morgen um neun wartete sie wie gewöhnlich im Schulzimmer auf ihren Lehrer. Sie sah eigentümlich blaß aus; ein Zug von einsamer Entschlossenheit lag um ihren Mund. Die überwachten Augen waren von dunklen Rändern umsäumt.
Herr Brandt trat geschäftig herein, begrüßte sie und setzte sich an den Tisch.
Mit einer ihm eigentümlichen Bewegung strich er sich flott zweimal durch das struppige Blondhaar, zupfte seine maisgelbe Krawatte zurecht, räusperte sich, schlug das Geschichtsbuch auf und begann: »Wir waren also bei der Verfallszeit Roms stehengeblieben. Was wissen Sie mir darüber zu sagen?«
Sibylle sah auf ihren Schoß nieder und schwieg.
»Nun?« sagte er ermunternd, »es handelt sich um die letzte Kaiserzeit, geben Sie mir ein Bild dieser Cäsaren. Auf Caligula also folgte wer?«
Zwei brennrote Flecken flogen wie fremde Gäste auf Sibyllens Wangen, sie atmete schwer und preßte die Lippen fest zusammen.
Herr Brandt sah sie erstaunt an und fuhr fort: »Am 13. Oktober 54 nach Christo bestieg Claudius[21] Nero, 17 Jahre alt, den römischen Kaiserthron, der Sohn der Agrippina, einer Schwester des Caligula. Was wissen Sie von Nero?«
Ein wunderliches Schweigen wie vorhin.
»Wollen Sie mir etwa nicht antworten?« fragte Herr Brandt streng.
Da hauchte sie zitternd: »Nein!«
Herr Brandt glaubte nicht recht gehört zu haben. »Wie? Sie wollen nicht antworten? Wie soll ich das verstehen? – Sind Sie krank?« Sein Ton war ängstlich besorgt.
Sibylle schüttelte den Kopf.
»Nun also – erklären Sie sich. Wollen Sie antworten oder nicht?«
Wieder ein stummes Kopfschütteln, diesmal energisch, ja heftig.
»Ja, wissen Sie, für Launen bin ich nicht zu haben,« sagte Herr Brandt selbstbewußt; »ich will Ihnen Zeit zum Nachdenken geben.« Er legte seine Taschenuhr auf den Tisch. »Wenn Sie mir innerhalb einer Minute nicht sagen, was los ist, gehe ich zu Ihrer Frau Mutter und beschwere mich – ja!«
Eine Reihe von blitzschnellen Augenblicken jagte stürmisch vorüber. Sibylle fühlte ihre Pulse pochen.
Herr Brandt bemühte sich gewaltsam, sie nicht anzusehen, und blickte mit gekränkter Würde zum Fenster hinaus.
Mit einem Male sah sie von ihrem Schoß auf und sprach langsam: »Ich werde Ihnen nie mehr antworten, Herr Brandt. Bitte … nehmen Sie Ihren Abschied von sich aus.«
Er fuhr zusammen, kalt überlaufen, und starrte seine junge Schülerin an.
Da saß sie, weiß, großäugig und fein – einen stahlharten Zug um den Mund.
»Wa–was soll denn das heißen …? Sind Sie – Sind Sie …?« Er brach ab.
Ganz still legte sie ein grünes Etwas auf den Tisch. Aus einem welken Klettenblatt sah sein rotes Notizbüchlein schämig hervor.
»Sie wissen schon warum …« murmelte Sibylle tonlos. Dann stand sie auf und glitt aus dem Zimmer.
An demselben Tage hatte Herr Brandt einen dringenden Brief von daheim erhalten, nahm unverzüglich seinen Abschied und verließ das gräfliche Haus. – –
Wieder war es Winter. Der Himmel hing wie eine riesige weiße Glocke über der silbernen Winterwelt. Die Bäume träumten schneebedeckt vor sich hin.
Unter der Kastanienallee hervor traten zwei Mädchengestalten ins Freie.
»Ja, Sibylle, Arno macht sich, er ist in maßgebenden Kreisen ungeheuer beliebt, die Uniform steht ihm großartig.«
»Und du, Elisabeth – wirst du wirklich Diakonissin? Dein Vater wird dich doch furchtbar entbehren.«
Elisabeth streckte ihre herbe Gestalt im Trauerkleide und ließ ihre kühlen blauen Augen auf Sibylle ruhen.
»Ja, weißt du – zum Dahinträumen haben wir keine Zeit. Seit unsere gute Mama starb, geht jedes von uns seinen Pflichten nach. Werte müssen wir schaffen, Nutzen bringen. Der Diakonissenberuf ist ja nicht leicht, Demut vor allem müssen wir lernen,[23] dann aber –« sie atmete tief auf, »haben wir auch einen herrlichen Lohn – Einfluß auf die Kranken und Leidenden und ihr Vertrauen. Wir ersetzen ihnen ja auch ihre Familien und alle, die ihnen nahestehen – nicht?«
Sibylle schauerte in sich hinein. Weshalb hörte sie unter Elisabeths Worten, die so gut und vernünftig klangen, einen Unterton von Herrschsucht heraus?
»Die armen Menschen,« murmelte sie, »leiden müssen und dann noch von denen getrennt, die sie lieben.«
»Ja, meinst du denn, daß wir unsere Kranken nicht lieben? Freilich, die egoistische, persönliche Liebe, die auf Gegenliebe rechnet, fällt bei uns weg. Wir müssen einen Trunkenbold, ein unappetitliches altes Weib ebenso umsorgen, wie das liebenswürdigste junge Mädel oder ein sympathisches Kind aus gutem Hause. Auch kommen wir kaum zur persönlichen Anhänglichkeit, das Material wechselt ja beständig – was hast du, Sibylle?«
Das Wort Material hatte Sibylle einen Ruck gegeben. Jäh stand sie still, über und über mit Rot übergossen. Ach, sie fühlte es, mit der nüchternen, braven Verständigkeit Elisabeths konnte sie sich nimmer befreunden.
So schleppten sich ihr die Wochen von Elisabeths Besuch mühselig dahin. Wenn die Nachbarn nicht genug Worte des Lobes für Elisabeth und ihre entsagungsvolle Tätigkeit finden konnten, so hörte Sibylle fast teilnahmlos zu, denn die Wahrhaftigkeit und Zartheit ihrer Wesensart, die durch Elisabeths Auffassung schmerzlich berührt worden war, ließ sich weder irre machen noch beeinflussen.
Um die Frühjahrszeit erkrankte Sibyllens Vater unvermutet an einer Lungenentzündung. Und nun war es, als habe die schlummernde Kraft in Sibylle nur auf ein Ereignis dieser Art gewartet, um sich zu bewähren. Sie begann den Vater mit einer Umsicht, Geduld und Treue zu pflegen, die sie ihm unentbehrlich machte. Sie wurde der Trost und die Stütze ihrer Mutter. Ihr Vertrauen zu seiner Genesung gab der Gräfin den verlorenen Mut wieder; ihre Ruhe und Anmut, die ein Ausströmen ihrer inneren Harmonie war, wirkte Außerordentliches, während sie sich nur bewußt war, einfach ihre Pflicht zu tun.
In der Tiefe ihrer Seele lebte ein stiller Glaube, den ihr nicht der Unterricht Herrn Brandts und nicht Bücher, nicht Angeerbtes und nicht Erworbenes gegeben hatten, sondern der von Anfang an in ihr war – ein Geschenk der Gnade, das ihre Kräfte immer wieder am rechten Ort und an rechter Stelle wach und tätig sein ließ. Sie wußte: die Welt war voller Schönheit und Gott war gut. Es verstand sich von selbst für sie, daß sie streben müsse, gut zu werden, und alle Forderungen der Sittlichkeit faßte sie, wie schon unbewußt als kleines Kind, in zwei einfache Begriffe zusammen: Gerechtigkeit und Demut. In ihrem Verhalten zu den Menschen, deren es manche gab, die sie nicht lieben konnte, glaubte sie Gerechtigkeit üben zu müssen, und aus dem Gefühl der Schönheit der Dinge und dem Bewußtsein der Größe ihres Schöpfers entsprang ihr ganz naturgemäß jene kindliche Stimmung vertrauender Ehrfurcht, die sich als Demut zu äußern pflegt.
Das unbestimmte Gefühl ihres inneren Reichtums erfüllte sie mit einer zuversichtlichen Ahnung kommenden[25] Glücks. Vorbei war ihr Kindertraum vom Puppenreich – ein anderes, schöneres Reich schwebte wie eine duftige Verheißung in der Ferne. Durfte ihr denn unter diesen Vorgefühlen etwas so Schmerzliches widerfahren wie der Tod ihres Vaters? Nein, sie wußte, ihr Vater würde und mußte genesen.
Und er genas.
Der Arzt war heute dagewesen und hatte Sibylle und ihre Mutter beglückwünscht, und die Gräfin hatte Sibylle, die in der letzten Zeit wenig in die frische Luft gekommen war, ins Freie geschickt.
Dämmerung lag auf dem Frühlingsgelände. Wieder standen die Kirschbäume in Blüte und reihten sich duftig Baum an Baum. Im grünlichen Himmel hing ein mattgoldener Mond. Sibylle zog die reine Luft ein, wandelte unter den Bäumen, wiegte sich erleichtert in den Hüften und dachte.
Ja so – heute war ein Brief von Elisabeth gekommen, Arno habe sich verlobt, schrieb sie.
Sibylle hatte im Laufe des Tages nur flüchtig daran gedacht, da sie um den Vater beschäftigt gewesen war, nun aber stand die Tatsache plötzlich klar und sonderbar vor ihr, so als gewahre sie nach einem langen Gang durch einen Tunnel plötzlich einen rotfarbenen Himmel, den sie zuvor anders gesehen. Sie empfand etwas wie einen Schrecken und schüttelte mehrmals leise den Kopf.
Nicht Wehmut, nicht Schmerz fühlte sie, nur eine Art Leere. Wie war das nur gekommen? Und mußte es so sein? Elisabeth schrieb über Arnos Wahl sehr befriedigt. »Ella ist sehr tüchtig,« schrieb sie, »liebenswürdig und talentvoll. Die Beverns[26] machen ein großes Haus, und in pekuniärer Hinsicht ist Arno völlig gesichert.«
Wie seltsam das alles war – gerade wie bei einem Pferdekauf! dachte Sibylle verwundert.
Sie zog den blütenbedeckten Zweig eines Kirschbaums zu sich nieder und versenkte ihr Gesicht in die kühlen Blüten.
Ist nicht überall Zufall? Wäre Arno in Paris gewesen statt in Berlin, er hätte sich wahrscheinlich mit einer Französin verlobt – und wäre er hier in Wangen, dann – wer weiß …?
Sie lächelte träumerisch und schüttelte wieder den Kopf.
Unser Pastor sagt, es gebe keinen Zufall, alles sei Gottes Wille, spann sie weiter. Wer kann das entscheiden? Nehmen wir nicht die Dinge, die für uns viel bedeuten, zu schwer, und andere wieder zu leicht? Wenn ich Arno auf der Straße begegnet wäre, während ich an ihn gedacht hätte, so wäre das nichts, ein Zufall; da er sich nun aber verlobt hat, wo ich in dieser Woche so oft in Gedanken bei ihm war, kommt mir das ungeheuer wichtig vor – warum? So mag er sich doch verloben – was ist denn weiter dabei?
Sie lachte leise, bog wieder einige Zweige zu sich nieder und ließ sie spielerisch zurückschnellen – die Blütenblätter regneten sanft über sie hin.
Da legte sie die Hände ineinander und sah mit sehnsuchtsschweren Augen ins Weite. »Ich wollte, es wäre wieder Winter,« flüsterte sie, »und ich wäre alt, steinalt wie die weiße Trude im Armenhause. Die freut sich wie ein Kind auf ihre Abendsuppe und über jeden Groschen. Und ich? Ich kann mich[27] nicht einmal freuen, wenn Arno sich verlobt. Ja, ich bin recht schlecht.«
Und auf einmal begann sie zu weinen, hilflos wie ein Kind. Weinte sie über ihre eigene Schlechtigkeit oder über Arnos Verlobung …? – –
Der Doktor hatte Sibyllens Vater eine Nachkur in einem Sanatorium verordnet, und da der Graf sich von Frau und Kind nicht trennen mochte, reiste man gemeinsam in eine süddeutsche Heilstätte.
Hier sah Sibylle zum erstenmal Berge. Die Pracht der schneebedeckten fernen Gebirgszüge stand vor ihr auf – ein schimmerndes Wunder – und füllte sie mit Ehrfurcht und Begeisterung. Wenn nun noch die sinkende Sonne Kuppen und Grate in Röte und Glanz tauchte, staunte sie wie verzaubert und wagte kaum zu atmen. Sie bedurfte keiner Beziehungen zu neuen Menschen, um ein gesteigertes Lebensgefühl zu empfinden, ihre Welt war von jeher die Natur gewesen und das Reich, das ihre Phantasie sich selber schuf und bevölkerte.
Aber wie sich auch Sibylle von den Gesunden und Kranken zurückhalten mochte, sie konnte es nicht hindern, daß ihr bewundernde Blicke folgten und daß dieser oder jener Sanatoriumsgast merklichen Anteil an ihr zu nehmen begann. Einmal in die eigentümliche Luft eines Genesungsheims mit seinen vielen verschiedengearteten Insassen versetzt, mußte sie sich der Lebensweise der Gesündesten unter ihnen anpassen, und das gab natürlich Gelegenheit zu Berührungen.
Da waren vor allen zwei junge Leute, die ihr bei jeder Gelegenheit in den Weg zu kommen versuchten.
Der eine war Polytechniker, ein braver, blonder Bursch, dessen blaue Augen sich vor Innigkeit mit einem schüchternen Glanze füllten, wenn er Sibylle erblickte. Sie brachte die rätselhaften Spenden von Alpenveilchen und anderer Gebirgsflora, die sie morgens auf dem Flur in ihren gesäuberten Stiefeletten zu entdecken pflegte, mit ihm in Zusammenhang, denn er galt als tüchtiger Bergsteiger.
Der andere war Balte, ein langhaariger, düsterer Jüngling; er fristete in München ein ärmliches Bohêmedasein und hatte es der Gunst eines reichen Freundes zu verdanken, daß er seine angegriffenen Lungen im Sanatorium zurechtpflegen durfte. Mit so gewöhnlichen Dingen, wie Blumen es sind, befaßte er sich nicht, doch schien Sibyllens Fußbekleidung auch für ihn von besonderer Anziehungskraft zu sein, denn alle drei Tage etwa fand sie neben den duftenden Blüten ein formvollendetes Sonett in einem ihrer kleinen Schuhe, die sie abends auf den Gang hinauszustellen pflegte, und da Herr Bruno Treu jedesmal, wenn sie eine poetische Gabe erhalten hatte, in ein grüblerisches Auf- und Niedergehen verfiel, wobei er mit gerunzelten Brauen die Lippen bewegte und skandierend den Arm hob und senkte, so bedurfte Sibylle keines besonderen Scharfsinns, um in ihm den Urheber jener Verse zu erraten.
Übrigens waren diese Sonette keine Liebesgedichte, weit gefehlt. Sie bezogen sich teils auf die schönsten und lautersten Dinge der Natur, auf Quell und Strom, die Gebirgswelt und die weite Ebene, teils auf die erhabensten Gefühle der Menschenseele. Immer aber brachten sie ein künstlerisches, höchst empfindliches Schönheitsgefühl zum Ausdruck, und nur wie[29] ein Hauch zog sich eine Stimmung von Sehnsucht und verhaltener Leidenschaft durch sie hin.
Sibylle wurde unter diesen ungewohnten Huldigungen, die die jungen Leute mit Ausdauer und Eifer fortsetzten, fast ein wenig übermütig, ohne jedoch etwas von ihrer Zurückhaltung zu verlieren.
An einem sonnigen Morgen war Sibylle nacheinander ihren beiden heimlichen Verehrern im Sanatoriumsparke begegnet.
Irgendein Schalk hüpfte ihr in den Nacken, rasch trat sie auf den Polytechniker zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Ich danke Ihnen herzlich für Ihre schönen Gedichte, Herr Weber,« worauf der arme Junge mit puterrotem Kopf stotterte:
»Aber, Komtesse, die … die sind ja gar nicht von mir – ich … ich habe mir ja nur erlaubt, Ihnen die Blumen …«
Sibylle lachte hell auf. »Aber Ihre Blumen sind ja auch Gedichte, nur in einer anderen Sprache geschrieben. Vielen schönen Dank, Herr Weber.«
Als sie um die Wegbiegung schritt, traf sie den Balten, der mit schwungvoller Miene vor sich hinredete. Als er Sibylle sah, ruckte er zusammen und machte ihr eine ausdrucksvolle Verbeugung. Sie blieb stehen, sah ihn an und lächelte schelmisch.
»Es ist wirklich zu freundlich von Ihnen, Herr Treu, mich mit den köstlichen Blumen zu bedenken. Tausend Dank!«
»Blumen …?« Der Poet starrte sie wild an. »An den Blumen bin ich, weiß Gott, unschuldig, wenn Sie aber, gnädigstes Fräulein, meine Verse für Blumen zu nehmen geneigt sind, so habe ich nur zu danken!«
Von nun an änderte sich das Bild. Sibylle fand jetzt Verse, die in hergebrachten Reimen hergebrachte Gefühle schüchtern zum Ausdruck brachten, und Wiesenblumen, ungeschickt zusammengestellt und in solcher Menge, daß ihre Schuhe bis in die Spitzen hinein damit vollgepfropft waren. Die Verehrer hatten ihre Rollen getauscht, und die Beteiligten, Sibylle mit eingeschlossen, befanden sich im Nachteil dabei.
Wie das so oft im Leben zu gehen pflegt, daß die Mühen einzelner Personen nicht gewertet werden und andere, die sich nach keiner Richtung besonders hervorgetan haben, ihnen den Rang ablaufen, so geschah es auch hier zum Kummer der beiden Liebenden.
Sibylle lernte einen Offizier kennen, der mit Arno in einem Regiment diente und sofort allein dadurch ihr Interesse erweckte. Freiherr v. Zur-Linden, ein hagerer, überschlanker Leutnant mit aufgewecktem Gesicht und treuherzigen blauen Augen, wurde oft mit Sibylle von den unglücklichen Nebenbuhlern erspäht, wenn er im Gespräch mit ihr die Parkgänge auf und nieder wandelte.
Sibyllens Interesse wuchs, als sie hörte, daß er auch Arnos Braut kannte. Er mußte ihr von Ella Bevern erzählen. Und er erzählte so geschickt, daß seine Schilderungen stets ein unausgesprochenes Kompliment für seine Zuhörerin enthielten.
So hatten sich die beiden jungen Menschen einander unwillkürlich genähert, doch wie unbefangen und ruhig auch Sibylle blieb – der Leutnant hatte sich trotz seines wohlgezügelten Temperaments über Hals und Kopf in sie verliebt. Sie trafen einander wieder und wieder. Er kannte die Wege alle, die Sibylle zu wandern liebte, und er stellte sein Wild[31] wie nur ein geübter Jäger. An einem heißen Sommertage trat er ihr aus einem Boskett entgegen, in das sie sich vor der Schwüle des Tages mit einem Buche zurückziehen wollte.
Er sah hagerer und leidender aus denn je.
»Ist Ihnen heute nicht gut, Herr von Zur-Linden?« fragte Sibylle teilnehmend.
»Seit einem Augenblick geht's mir ausgezeichnet.«
Sie sah in sein gequältes Gesicht, und ihr wurde weh zumute.
»Ich habe mich oft gefragt,« begann er leise und entschlossen, »ob das Interesse, das Sie meinem Kameraden Wolf-Rüdinghausen schenken, nicht so stark ist, daß es anderen Empfindungen hinderlich sein könnte.«
Es schien, als habe er sich diesen Satz wohl einstudiert.
Sibylle war blaß geworden. »Ich verstehe nicht,« sagte sie verwirrt, »ich … es ist nur eine Kinderfreundschaft, ich habe Arno seit seinem dreizehnten Jahre nicht wieder gesehen.«
»Bei Ihrer Veranlagung, Komtesse – es gibt Tiefen, die ein gewöhnlicher Sterblicher nicht zu ermessen vermag –«
Das junge Mädchen zuckte zusammen und schlug die Augen nieder. »Ich weiß nicht …« murmelte sie hilflos, »bin ich denn –?«
»Sie sind eigenartig, einzig – wie im Traum leben Sie Ihr Leben dahin – wie eine geheimnisvolle Blume – und dennoch wissen Sie, was Sie wollen.«
»Was ich will?« wiederholte Sibylle und sah ihn mit erschreckten Kinderaugen an, »ich will ja nichts[32] Besonderes – nur in meiner Art sein, in meiner Art – leben –, das tut doch ein jedes,« setzte sie etwas kühner hinzu, mit einem zarten Lächeln, das über ihre Züge hinrieselte.
»Ihre Art zu sein, ist mir heilig, Sibylle –« er stockte, »soll mir heilig sein bis ans Ende, wenn Sie, o Sibylle, sprechen Sie nur ein Wort, sagen Sie, daß Sie mir ein wenig gut sind, daß Sie mein Kleinod, meine Frau sein wollen!«
»Ihre … Frau?«
Ihre Augenwimpern zitterten, ihr Gesicht zuckte. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und sah mit starren Augen vor sich hin. »Ich bin Ihnen recht gut,« flüsterte sie, »aber das, das – kann ich nicht.«
Er trat einen Schritt zurück. »Ich wußte es ja!« sagte er schwer.
Sibylle kam ihm näher und legte schüchtern ihre Hand auf seinen Arm. »Bitte, bitte, seien Sie mir nicht böse … aber nicht wahr, was man nicht aus vollem Herzen tun kann, das soll man nicht. Ich bin Ihnen herzlich gut wie einem Kameraden, mehr ist nicht in mir und –« Sie brach in ein leises, kummervolles Weinen aus. – –
Einige Tage später saß Sibylle allein in dem efeuumrankten Boskett, grübelte und sann. Der Leutnant war in der Morgenfrühe ohne Abschied abgereist. Die poetischen und Blumengaben waren seltener geworden. Scheu und vorwurfsvoll suchten die beiden bekümmerten Jünglinge die schöne Ursache ihres Leides zu meiden. Sibylle kam sich auf einmal frei und erleichtert vor, und doch …
Der Laubeneingang verdunkelte sich. Ein altes Fräulein, das Sibylle gern mochte, auch eine Rekonvaleszentin,[33] hüstelte und trat ein wenig näher. »Störe ich Sie nicht, mein liebes Kind?«
Sibylle war aufgesprungen. »O nein … bitte.«
Die alte Dame setzte sich neben sie und streichelte zärtlich ihre Hände. »Ja, ja,« sagte sie dabei und nickte, »ja ja.« Ihre weißen Lockenwickel zitterten. »Ich habe Ihnen auch einen Gruß zu bringen –«
»Von Leutnant Zur-Linden?« fragte Sibylle.
Die alte Dame nickte wieder und fuhr fort, die jungen Mädchenhände zu streicheln. Ihre zarte Art griff Sibylle ans Herz. Gedämpft und voll eines plötzlichen Vertrauens, das sie sich nicht zu erklären wußte, begann sie zu sprechen.
»Es ist so unbegreiflich, so schmerzlich …« murmelte sie stockend in die heiße Sommerluft hinein, »man will doch niemandem wehe tun und tut doch wehe. Da kommen sie und bringen einem Blumen und Verse und sind betrübt und enttäuscht und reisen ab, wo es für ihre Gesundheit gut wäre, die Kur zu Ende zu brauchen, und quälen sich und andere …«
Das alte Fräulein nickte wieder und sah sie gütig an. »Ist es denn eine so schwere Last, Liebe zu erwecken? Ja ja, ich verstehe, wenn man selbst nicht –«
»Ja!« rief Sibylle, »und ach, ich weiß nicht … vielleicht kann ich überhaupt nicht … ich muß doch sein, wie ich bin!«
»Sie haben Ihr eigenes Leben und Ihren eigenen Maßstab, Kindchen, da haben Sie recht. Aber das Leben liegt noch vor Ihnen, und es kann gut und schön werden so oder so. Wir Alten – wir sind über all das hinaus; für uns haben sich die goldenen Tore des Lebens geschlossen, was wir sehen, wenn wir zurückblicken, ist wie Traum und Schatten, auch[34] das Leid, das wir erlebt haben. Wie in einem winterlichen Silbergarten stehen wir, bereifte alte Bäume, und schauen nach innen und träumen und warten …«
»Ach ja!« seufzte Sibylle, »so gerade, so ist mir's auch, das kenn' ich so gut.«
»Sie …?« Die alte Dame sah sie grübelnd an und lächelte mild. »In unseres Herrgotts Garten wachsen verschiedene Bäume und Blumen,« sagte sie leise. »Jedes hat sein Recht und seine Art, da läßt sich nichts dreinreden. Es gibt Blumen, die nur einmal blühen, aber zum Blühen und zur Vollendung soll ein jedes kommen, früher oder später. Sieh da – Sibylle, ist das nicht Ihre Mutter, die Sie sucht?«
Sibylle trat vor den Laubeneingang und schaute hinaus. Die Gräfin stand an der Biegung eines Parkweges, hielt die Hand über die Augen gebreitet und spähte umher. »Sibylle!« rief sie.
»Ja, Mama, ich komme!« Dann eilte das junge Mädchen noch einmal in die Laube zurück, beugte sich über die Hand der alten Dame und küßte sie. »Ich danke Ihnen.« – –
Nach Zur-Lindens Abreise gestaltete sich das Verhältnis der Eltern zu Sibylle liebevoller als je. Sie hatte der Mutter offen von seinem Antrage erzählt. Glaubte das Ehepaar, seinem Kinde für den jugendlichen, sympathischen Verkehr, der mit Zur-Linden verloren gegangen war, einen Ersatz bieten zu müssen, oder war den Eltern bewußt geworden, daß sie Sibylle schwerlich lange für sich allein würden behalten dürfen, kurz, das Zusammenleben der drei war von erquicklicher Harmonie und Innigkeit.
Auch nach ihrer Rückkehr in die Heimat. Wie ein kostbares Kleinod, das fremden Augen nicht preisgegeben[35] werden durfte, hüteten und wahrten diese drei Menschen den Schatz ihrer gegenseitigen Liebe und ihres Verständnisses füreinander.
Der Graf hatte für Sibylle als Überraschung daheim ein Jungmädchenzimmer von auserlesener Zartheit herrichten lassen, das Sibylle bewundernd ihr Silberparadies nannte. Es war in der Tat ein solches. Silberweiß die Wände und weißlackiert die Möbel, selbst die Bücher im zierlichen Schrank waren in weißes Leder gebunden. Duftige Fenstervorhänge und eine schwere, weißseidene Portiere schlossen diesen festlich-anmutigen Raum vor der übrigen Welt ab.
Hier stand Sibylle oft träumend an einem der Fenster und blickte in die Winterpracht hinaus. Im Frühjahr, Herbst und Winter, wenn die Bäume noch nackt aufragten, konnte sie von ihrer Höhe einen See erspähen, der wie ein unheimliches Auge in den grauen Wolkenhimmel emporstarrte oder an schönen Tagen die Bläue des Himmels glitzernd widerspiegelte. An diesen See knüpfte sich eine Sage: alle zehn Jahre, hieß es, müsse er sein Opfer haben, und Sibylle erinnerte sich, als Kind von einem blinden Manne gehört zu haben, der beim Überschreiten des Eises eingebrochen und ertrunken war. Jenseits des Sees lag ein Gutshof, in den jetzt das Glück eingekehrt war. Die älteste Tochter des Freiherrn v. Wrede hatte sich verlobt.
Der gesellschaftliche Verkehr beschränkte sich hauptsächlich auf diese Familie Wrede und den alten Pastor, der Sibylle konfirmiert hatte, und dem sie herzlich zugetan war.
Wenn der verwitwete alte Herr mit dem klugen, ehrwürdigen Gesicht ins Schloß kam, war's immer[36] eine Freude für Sibylle, und die beiden pflegten sich in einer Art zu unterhalten, die an das Gespräch mit dem greisen Fräulein im Sanatorium erinnerte. Pastor Büttner behauptete oft der Gräfin gegenüber, er erbaue sich an der Weise Sibyllens, die eine stille Naturfrömmigkeit zum Ausdruck bringe, mehr als an den frommen Redensarten seiner anderen Gemeindeglieder.
»Lieber Herr Pastor,« sagte Sibylle einmal nachdenklich, »warum fürchten die Menschen den Tod, da er doch nur ein Übergang ist? Sterben wir nicht alle viele Male, wenn wir aus einem Zustande in einen anderen übergehen? Stirbt nicht die Natur, um zu leben? Ich weiß nicht, wie es kommt, aber ich fühle mit dem Wasser, wenn es langsam zu Eis erstarrt; mir ist, als sei ich mitten unter den absterbenden Herbstblättern, und ich bin auch wieder in den jungen treibenden Knospen – ich fühle mich als sie, und mir ist, als wüßten alle diese Dinge viel mehr und als seien sie viel weiser als wir Menschen.«
Der alte Geistliche wiegte den grauen Kopf, sah das junge Mädchen sinnend an und sagte sanft: »Sie denken mit dem Herzen, Sibylle, und darum sind Sie reich – wie die Kindlein, derer das Himmelreich ist. Aber warum meinen Sie, daß die Dinge weiser sind als wir?«
»Sie widerstreben nicht, sie tun, was die Jahreszeit von ihnen will und ihre eigene Art,« antwortete Sibylle. »Wir Menschen aber, wir wollen uns nicht fügen – das ist ja auch manchmal sehr schwer,« fügte sie entschuldigend mit einem verirrten Lächeln hinzu.
Im Laufe dieses Winters ward Sibylle von seltsamen Träumen heimgesucht, die sich ihr mit außerordentlicher[37] Deutlichkeit einprägten. Insbesondere war es ein immer wiederkehrender Traum; sie sah ihm mit einem Gefühl von Unruhe, ja Angst entgegen, weil er immer, in derselben ihr unbekannten Gegend anhebend, sich mit wenigen Veränderungen abspielte und ihr ein schweres Wehegefühl hinterließ. Sie stand in einer hohen Felsschlucht, auf einer schwebenden Brücke, unten kochte der Gebirgsbach, oben sah der freie Himmel hinein, und zu beiden Seiten wand sich die Schlucht in einen finsteren Grund weiter. Neben ihr, auf der Brücke, stand ein Mann in einem dunklen, faltigen Mantel, und sie hörte ihn die Worte sprechen: »Natur und eine geliebte Menschenseele – welch ein wundervoller Zusammenklang!« Dann aber, wie sie sich nach ihm umsah, war sie allein auf der Brücke, und unten in der tosenden Tiefe sah sie sehnsüchtige Hände, die nach ihr langten und sie nicht fassen konnten. Und es war ihr, als seien es die Hände ihrer Eltern. Sie sprach zu niemand von diesem furchtbaren Gesicht. Die Worte des alten Fräuleins fielen ihr ein: »Was wir sehen, wenn wir zurückblicken, ist nur Traum und Schatten, auch das Leid, das wir erlebt.« War nicht auch Traum und Schatten, was man vor sich sah? Sibylle wußte es nicht.
Inzwischen begann man sich zur Hochzeit Selma Wredes zu rüsten. Da Sibylle Brautschwester sein sollte, so gab das eine angenehme Geschäftigkeit. Immer wieder fand die Gräfin etwas an den Toiletten zu verändern und zu vervollkommnen. Schneiderinnen bekamen alle Hände voll zu tun, und auch die Gräfin fand noch eine wehmütige Freude daran, sich selber zu schmücken. Botschaften gingen über den See hin und her.
Endlich war alles, wie man es sich wünschen konnte, und strahlend in Heiterkeit und Anmut, trat die Mutter am Hochzeitsmorgen Selma Wredes in Sibyllens Stübchen. Wie erschrak sie, als sie ihr Kind mit dunkelumränderten, fiebrigen Augen im Bett sitzen sah.
»Sibylle, was ist?«
»Ach, Mamachen, nichts von Bedeutung, aber ich fürchte, ich werde das Fest nicht mitmachen können, ich habe die ganze Nacht durch Halsschmerzen gehabt.«
Bestürzt beugte sich die Mutter zu Sibylle nieder und faßte ihre Hände. »Du fieberst ja, Kind!«
Sibylle lächelte, bog sich zurück und küßte die Hand ihrer Mutter. »Nein, küsse mich nicht, Mama, ich könnte dich anstecken – wahrscheinlich nur eine gewöhnliche Halsentzündung.«
Der Arzt ward geholt und bestätigte Sibyllens Annahme. Die Sache sei durchaus nicht gefährlich, natürlich aber dürfe die Komtesse nicht ausfahren.
Nun wollte auch die Gräfin zu Hause bleiben, aber Sibylle ließ ihr keine Ruhe, das würde Selma doch zu sehr enttäuschen. Sie bat und flehte, bis ihre Mutter endlich nachgab und auf das Fest zu gehen versprach. Vor Sibyllens Augen ließ sich die Gräfin von der Jungfer ankleiden, obwohl ihr die Freude an dem Tage gänzlich verdorben war.
»Was habe ich noch für eine schöne, junge Mama!« sagte Sibylle zärtlich mit feucht glänzenden Augen – »wie heller Flieder bist du, laß dich von allen Seiten anschauen! Und Väterchen soll sich auch präsentieren!«
Betrübt nahmen die Eltern Abschied, und Sibylle horchte angestrengt auf die verhallenden Schlittenglocken.
Eine halbe Stunde etwa mochte vergangen sein, als Sibylle von einer grauenvollen Unruhe befallen ward. Unheimlich kroch eine Angst, die sie sich nicht zu erklären vermochte, über ihre Glieder und schüttelte sie. Von Schauern durchrieselt, warf sie sich in ihrem Bett hin und her, ächzend richtete sie sich auf, langte mühsam nach einem Schal, hüllte sich hinein und starrte verloren vor sich hin. Was sie empfand, war nahezu Verzweiflung – warum? weshalb? Sie wußte es sich nicht zu erklären. Ich bin doch kränker als ich glaubte, dachte sie; gut, daß es Mama nicht gemerkt hat!
Vor Erschöpfung schlief sie endlich ein.
Als sie erwachte, war es heller Tag. Sie griff erschreckt nach der Glocke, um dem Mädchen zu klingeln. Es war doch unerhört, daß sie die Rückkehr ihrer Eltern verschlafen hatte! Aber kaum schrillte der Glockenton durch das Haus, als im Zimmer nebenan ein erregtes Flüstern hörbar wurde – Sibylle vernahm ein Huschen, ein unterdrücktes Räuspern, die Tür ward aufgeklinkt, der weiße Vorhang beiseite geschoben, und vor ihr stand der alte Pastor.
Er sah feierlich und so blaß aus, daß Sibylle ihn entsetzt anstarrte.
»Lieber Herr Pastor – was ist …« flüsterte sie.
Der alte Mann trat näher, setzte sich auf ihr Bett und nahm ihre beiden Hände. Er mußte reden. Nie war ihm eine Aufgabe so jammervoll schwer geworden.
»Mein liebes Kind,« murmelte er, »Gott der Herr muß wohl unbegreifliche Dinge mit Ihnen vorhaben, Geben und Nehmen liegt in seiner Hand – liebe Sibylle – er helfe Ihnen in Ihrem Leide … Ihre Eltern sind beide …«
»Tot –?« flüsterte Sibylle erstarrt.
Der Pastor beugte sein greises Haupt und brach in Tränen aus, er zitterte vom Kopf bis zu den Füßen.
Sie saß da in ihrem Bett wie zusammengebrochen, den Kopf kraftlos gebeugt, die Augen halb geschlossen, totenblaß. Alles um sie herum schien zu kreisen. Es war, als habe sie einen Schlag vor die Stirn bekommen wie ein zum Töten bestimmtes wehrloses Tier.
»Tot …« murmelte sie mit irrem Lächeln, »tot – Herr Pastor, nein, das ist ja nicht möglich – ein böser Traum … sagen Sie, daß es nicht wahr ist, bitte, bitte, Herr Pastor …«
Sie sprach wie im Schlafe mit einer kleinen, zerbrochenen Stimme, die fremd und wunderlich klang.
Als der Pastor schwieg, malte sich ein steinernes Grauen auf ihren Zügen, der Kopf sank tief auf die Brust nieder, und flüsternd fragte sie: »Der See …?«
Der alte Mann nickte nur, dann fiel er vor dem Bett in die Knie, rang die Hände hoch empor und begann laut zu beten: »Herr, hilf deinem Kinde! Herr, sei deinem Kinde barmherzig und gnädig, Herr, gib Kraft zu tragen …«
Scheu hob er das Haupt und sah Sibylle an.
»Ertrunken …« murmelte sie abwesend, »ertrunken – zuviel, zuviel –«
Sie ächzte leise auf, stieß einen furchtbaren, durchdringenden Schrei aus und fiel vornüber, bewußtlos.
Die ersten Wochen nach dem entsetzlichen Ereignis vergingen dumpf wie ein lastender Traum. Sibylle war in einen Zustand teilnahmloser Schwäche geraten, aus dem sie nichts, weder die zärtliche Hingabe der[41] Wredeschen Familie, noch die liebevolle Fürsorge ihres geistlichen Freundes zu reißen vermochte. Die Baronin Wrede war für einige Tage ganz zu Sibylle hinübergezogen; eine ältere Verwandte, ein Fräulein v. Trebnitz, hatte man aus Berlin herbeidepeschiert zur Pflege Sibyllens und zur Leitung des Hauswesens. Unter ungeheurem Zudrang der nahen und ferneren Nachbarschaft waren die Leichen, die man aus dem See gezogen hatte, in der Familiengruft beigesetzt worden. Nur der alte Kutscher allein hatte sich gerettet. In dem Moment, als der Coupéschlitten einbrach, war er halb besinnungslos vor Schrecken ins Wasser geglitten. Die stolpernden, bäumenden Pferde hatte er zuvor noch zurückreißen können, hinter sich aber hatte sich das Coupé plötzlich gesenkt – ein Krachen, Bersten, Auseinanderklaffen und eiskalte Fluten Wassers – als er wild um sich greifend, eine Eisscholle gepackt hatte, war alles verschwunden, versunken. Geschrien hatte er wie ein Wahnsinniger – einen Pferdekopf hatte er noch einen Moment gesehen, dann nichts mehr. Laut weinend erzählte er den furchtbaren Hergang und nahm sofort seinen Abschied. »Ich könnte ja der Komtesse nie mehr unter die Augen treten,« sagte er, »obwohl ich ja bei Gott keine Schuld habe. Noch tags zuvor bin ich ja mit dem Lastschlitten, den Möbelkisten, die unsere Herrschaft der Baroneß Wrede geschenkt hatte, über dieselbe Stelle gefahren, und die Kisten waren wahrhaftig schwerer als das leichte Coupé. Da hat der Teufel seine Hand im Spiel gehabt – ich kann das Unglück nicht begreifen!«
Es verhielt sich in der Tat so, wie der alte Mann ausgesagt hatte. Untersuchungen und Vernehmungen[42] ergaben die Richtigkeit seiner Behauptungen. Man mühte sich, die Ursache des Unglücks in einer verstärkten Strömung des Unterwassers zu erklären, die durch außerordentliche Herbstregengüsse hervorgerufen sein könne und vielleicht das unterseeische Strombett eines durchziehenden Flüßchens verändert habe; man erschöpfte sich in Hypothesen und Vermutungen – die ältesten Bauern aber schüttelten düster die Köpfe und meinten, der See habe nun wohl auf zwanzig Jahre Ruhe, da er mit einem Male zwei Opfer gefordert – daß es aber die liebe, gütige Herrschaft habe treffen müssen – das sei bitter hart.
Daß Sibylle zur Beisetzung ihrer Eltern nicht hatte zugegen sein können, empfand man als ein Glück für sie. Es war auch ein Glück, daß sie die lieben, entstellten Züge nicht mehr gesehen hatte. Täglich regnete es von allen Seiten Erkundigungen und Nachfragen, und täglich konnte Fräulein v. Trebnitz nur dieselbe trübe Antwort finden: »Immer noch völlig teilnahmlos.«
Sibylle war wie ein gebrochenes Rohr. Still, blaß und wie bewußtlos lag sie viele Stunden, ohne sich zu rühren, mit geschlossenen Augen und nahm gehorsam Stärkungsmittel und Nahrung zu sich mit einem gemurmelten Danke. Arzt und Pastor kamen täglich, verhandelten flüsternd miteinander und mit Fräulein v. Trebnitz, und verließen bekümmert das Haus.
»Sie sollte sich doch einmal aufraffen können,« meinte die ältliche, spitznasige Verwandte seufzend und schüttelte ergeben in fremdes Leid den dünnen, graubezopften Kopf. »Wo bleibt denn das Vertrauen zu unserem Herrgott?«
»Man muß ihr Zeit lassen; eine so zarte Seele wie die ihre, die sich die Erleichterung des Aussprechens versagt, braucht mehr Zeit als andere!« murmelte der alte Pastor weich. Im geheimen wünschte auch er schmerzlich, Sibylle möge ihren Trost dort suchen, wo er ihn selbst gefunden: im Glauben und im Gebet.
Und eines Tages, als er wieder bei ihr saß und sie wie immer liebevoll nach ihrem Befinden gefragt hatte, hob Sibylle mühsam den Kopf aus den Kissen, sah ihn mit einem scheuen, langen Blick an und streckte ihm eine abgezehrte Hand entgegen.
»Sie sind so gut und geduldig, mein lieber alter Freund, viel zu gut sind Sie, und ich …« Sie schwieg, ein wundes Zucken rann über ihr Gesicht.
»Und Sie …?« fragte der alte Herr gespannt.
»Ich habe vor, sehr undankbar zu sein,« sagte Sibylle matt, »und Sie alle zu verlassen – ich kann es nicht mehr ertragen, in meinem Heim zu leben wie früher – zu schwer, zu entsetzlich ist das. Fort will ich – irgendwohin, in den Süden, in die Berge, wo es – so anders ist. Ich will Wangen verkaufen und nie, nie mehr wiederkehren …«
»Wangen – verkaufen?« Der Pastor starrte sie entsetzt an.
»Ja … kann ich denn hier leben? Sagen Sie selbst, Herr Pastor, wo alle Dinge tausend Augen haben und mich so weh anstarren –« Schnell und leise sprach sie weiter: »Fort, fort muß ich um jeden Preis – in die Berge, in die Stille, in den tiefen, einsamen Winter hinein, wo niemand mich kennt, niemand fragt, niemand weiß. Dann will ich sehen, was mir zu lernen not tut – nicht vergessen, Herr[44] Pastor, o nein, nur mich selbst finden, wenn ich – anderen – etwas sein kann.«
Der alte Mann seufzte tief auf und schwieg. Hatte er sich früher in den hellen, glücklichen Tagen an Sibyllens Weise gefreut, so erschien ihm jetzt ihre Art fremd. Die Kinder des Glaubens pflegten sich Schicksalsschlägen gegenüber zu beugen mit Weinen, mit Beten, mit Reue und Selbstanklagen, mit Flehen um Trost und Gnade, oder aber sich aufzulehnen mit Empörung, Trotz und Hader. Sibylle aber duldete schweigend wie eine gebrochene Blume, und da, wo man es am wenigsten erwartete, da handelte sie. Er empfand, daß er wenig von ihrer Seele wußte, so gut er sie auch zu kennen geglaubt. Ihre Natur zog sich still und stolz in sich selbst zurück und wich einfach aus, wo sie sich gebunden und gehemmt fühlte, ohne sich über sich selbst zu äußern.
»Wen Gott der Herr liebt, den züchtigt er,« sagte er leise.
Sibylle schlug die durchsichtigen Augen zu ihm auf und sah ihn schmerzlich an. »Es ist ja gleich,« flüsterte sie, »ob wir leiden oder uns freuen – im letzten Grunde kommt es darauf nicht an für unsere Seele, so schwer auch das Leiden ist, nur wir selbst müssen wir zu bleiben suchen und die Wege gehen, die uns dazu führen.«
Es lag eine Art schmerzlicher Stille über ihrem schmalen Gesicht, wie sie bei Menschen erscheint, die sich zu einer läuternden Wahrheit durchgerungen haben.
»Dürfen wir aber die Aufgaben verlassen, in die uns Gott hineingesetzt hat?« fragte der alte Herr zögernd, von ihren frühreifen Worten betroffen.
»Wenn uns eine Wahl bleibt – ich glaube ja. Ich muß innen gesund werden, ehe ich an Aufgaben denken kann, und das kann ich nur allein und fern von hier.«
»Sie sind ja noch so jung, Sibylle – wenn Sie später anders dächten …«
»Ich bin mündig, Herr Pastor. Bitte, seien Sie gut und veranlassen Sie meinen Vormund, Baron Klaus Wrede, morgen zu mir zu kommen. Ich muß alles mit ihm besprechen.«
Sibyllens Entschluß, abzureisen und das Stammgut ihrer Eltern zu verkaufen, rief eine allgemeine Mißbilligung hervor. Baron Klaus Wrede, ein Freund ihres Vaters und der Vater Selmas, ein Mensch von strengen Grundsätzen, widersetzte sich mit Entschiedenheit ihren Wünschen.
Der stattliche Herr mit dem Wallensteinkopf wurde fast ausfahrend. Mit rotem Gesicht und gerunzelten Brauen saß er Sibylle gegenüber und räusperte sich bei jedem Satz, den er mißmutig hervorstieß.
»Ahem, nein, Sibylle, solche Auffassungen kann ich nicht begutachten, da verlangen Sie zuviel – wie? was? Wangen verkaufen? Das geht denn doch nicht, Kindchen, hm.«
Sibylle sah ihn durchdringend an. »Ich muß darauf bestehen!« sagte sie sanft.
Er fuhr auf, sich während des Sprechens immer mehr und mehr ereifernd. »Hm, was verlangen Sie? Ich kann das nicht verantworten. Reisen Sie denn in Gottes Namen, aber so wie es für eine Dame Ihres Standes schicklich ist, mit Begleitung. Ich will meinetwegen den Verwalter Berg hersetzen, das ist ein ordentlicher Mensch, und Ihnen halbjährlich[46] eine Summe hinaussenden – aber – verkaufen? Ne – wäre ja Unvernunft, Kindchen!«
Gequält schloß Sibylle die Augen. »Ich reise allein,« murmelte sie, »weil ich muß, gleichviel, was die Leute denken, und Wangen möchte ich verkauft haben …«
Baron Klaus wurde blaurot. Mühsam beherrschte er sich. »Nach zwei Jahren wollen wir uns wieder darüber aussprechen,« sagte er kühl. »Wenn Sie dann noch auf Ihrem Willen bestehen, hm, dann ja, meinetwegen. Aber das sind so kranke Ideen, man verkauft doch nicht ohne weiteres ein Prachtgut wie Wangen; Ihre Eltern, die hier gewirkt und gearbeitet haben, wären schwerlich damit einverstanden gewesen!« schloß er wieder zornig.
Er hatte mit Härte das schroffste Argument hervorgeholt, das ihm zu Gebote stand. Nun war er selber darüber erschrocken.
Sibylle schwieg lange. Endlich sagte sie einfach: »Das ist keine Laune, Baron Klaus. Wenn meine Eltern wüßten, wie es in mir ist, sie würden mich verstehen und meinen Wunsch billigen. Man kann auch – an Überwindung – zugrunde gehen,« hauchte sie, blaß wie eine Sterbende.
Es blieb Baron Wrede nichts übrig, als ihr zu willfahren.
So reiste denn Sibylle an einem trüben Märztage nach Süden, von den guten Wünschen und kritischen Prophezeiungen ihrer nachbarlichen Freunde begleitet. Fräulein v. Trebnitz besonders fühlte sich tief verletzt, sie konnte es nicht fassen, daß ihre junge Verwandte ihre Gegenwart so offenbar scheue und meide.
Wohin Sibylle sich wenden wollte, wußte sie selber kaum, es trieb sie nur fort von den tausend Augen der Dinge im heimatlichen Hause, die ihr Glück und ihre Qual angesehen hatten und kannten.
In ihrem Coupéabteil saß sie endlich allein und rang die schmalen Hände, die sich wie weiße Blütenblätter von dem Schwarz des Trauergewandes abhoben.
»Ich wollte ja niemand wehe tun,« flüsterte sie und weinte leise vor sich hin, »und ich habe es doch getan, weil niemand weiß, wie ich leide. Niemand, niemand weiß …« wiederholte sie und sah starr vor sich hin, »und ich bin daheim viel einsamer als allein.«
Als sich der Wagen allmählich zu füllen begann, glitt mancher neugieriger Blick über die junge Fremde hin, die versunken dasaß, das leibhaftige Leid, und niemand wagte es, sie anzureden. Wie Rauch und Ruß hingen die Wolken dunkel und niedrig am Himmel und zogen langsam vorüber. Städte, Dörfer und Ortschaften tauchten auf, verschwanden. Müdigkeit und Trauer wiegten Sibylle traumhaft in einen zeitlosen Zustand von innerer Tiefhörigkeit. Zwischen Möglichkeiten, halb verhüllten Reichtümern, seltsamen Offenbarungen und unbekannten Hoffnungen schwebte ihre Seele wie ein taumelnder Schmetterling über bunte Wiesen …
Ich muß wieder leben lernen, sann sie, leben lernen … als ich ein Kind war, da lebte ich … ich hatte meine Puppen lieb und Arno und Mutter … jetzt will ich die Berge lieben. Lieben – lieben muß ich etwas außer dem Unsichtbaren …
Die Großstadt Berlin, eine rauhe Wirklichkeit, riß sie aus ihren Träumen. Sie empfand jedoch mit[48] einer flatternden Freude, daß etwas Neues und Bedeutsames über sie gekommen sei. Der Lärm, das Tosen der wechselnden Bilder hatte nur auf einige Zeit vermocht, ihren seelischen Zustand zu überdecken. Die Gewißheit dessen, was sie wollte, trat wieder unversehrt und klarer in ihr hervor. Und als sie auf dem Wege nach München von einigen Mitreisenden laut die Schönheit der Tiroler Dolomiten rühmen hörte, beschloß sie in sich, dorthin zu ziehen.
Von nun an handelte sie wie nach inneren unbekannten Gesetzen, planmäßig und überlegt. Die Großartigkeit des Hochgebirges versetzte ihr immer wieder den Atem. Ja, hier in dieser stolzen Schneeeinsamkeit, in dieser winterlichen Ruhe, angesichts dieser steinernen Riesenwunder mußte sie Frieden, mußte sie sich selbst finden.
Sie scheute keine Mühe. In einer Talschlucht, die von beiden Seiten mit dunklen, aufklimmenden Tannenzügen bewachsen war, nahm sie bei einfachen Bauersleuten Quartier auf einige Tage und erbat sich deren Rat und Hilfe. Die ältliche Bäuerin war eine prächtige Frau. In ihrer biederen, schnellerfassenden Art hatte sie bald heraus, was das blasse junge Blut wollte – einen Herzenskummer überwinden. Da tat es nichts zur Sache, daß sie die Trauerkleidung ihres Gastes mit einem verlorenen Liebsten in Zusammenhang brachte. Sie umgab Sibylle mit der derbfreundlichen Sorgfalt, die durch ihre Ehrlichkeit wohltat, und verletzte sie nicht durch aufdringliches Ausfragen. Ihre beiden Söhne, den Jockel und den Franzl, schickte sie in die umliegenden Gastwirtschaften und Sommerhäuser auf Kundschaft aus, und so kam es, daß sie Sibylle eines Tages[49] mit freudestrahlendem Gesicht begrüßte, die Hände in die breiten Hüften gestemmt, lachend wie eine runde, gute Sonne.
»Die Buabn han schon was Guats g'funden, Freili.«
»Wo denn, Mutter Walser, ist's weit?«
»Sell schon, aber guat ischt's.«
So stieg denn Sibylle in Begleitung der beiden Burschen auf mühsamen verschneiten Pfaden durch einsame Wälder aufwärts und fand sich endlich vor einer seltsam geformten Burg. Ein paar alte Leute hausten als Kastellane darin und waren von den Besitzern befugt, einen Teil der Räume an Fremde zu vermieten.
Die Burg stand keck und wuchtig hoch über dem Dorfe auf einer Bergkuppe; dicht darunter lag eine Gastwirtschaft mit mehreren Gehöften, wo Sommerfrischler einzukehren pflegten. Ein dunkler Gebirgsbach brodelte mit steilem Gefälle an den vereisten weißen Ufern vorüber, überschlug sich und tanzte jäh zu Tale nieder. Was aber Sibyllens Freude zum Entzücken steigerte, war ein ausgedehnter, parkartiger Wald von Tannen und Lärchenbäumen, der die Rückseite der Burg erhellte, da er in ein silbernes Prachtgewand gekleidet war. Hoch, hoch darüber stiegen, unnahbar und fern, schroffe Gesteinswände, türmten und zackten in königlicher Majestät ihre Zinken wolkenwärts.
Sibylle beschloß sofort, hier zu bleiben. Das war es, was sie gesucht hatte.
Eine Zimmerflucht der alten Burg war in gutem Zustande, da die Besitzer ab und zu einmal einen Sommer hier zu verleben pflegten. In den letzten[50] Jahren aber, so erzählte die greise Kastellanin, lebten die Herrschaften da unten in Italien, denn ihr Sohn sei länger krank, und die Familie wolle sich nicht von ihm trennen. »Machen Sie es sich nur bequem, gnädiges Fräulein,« sagte die saubere alte Frau knicksend; »es ist durchaus nicht gesagt, daß Sie bloß Ihre zwei Zimmer benutzen dürfen. Uns Alte wird es freuen, mitten in der harten Winterwelt ein junges Blut in den dunklen Räumen zu sehen. Ein Klavier ist auch zur Verfügung,« setzte sie ermutigend hinzu, »und drüben in der Kapelle haben wir ein Harmonium. Früher hat mein Alter darauf gespielt.«
So richtete sich denn Sibylle häuslich ein. Sie packte ihre Bücher in den weißen Lederbänden aus und ordnete sie auf den geschnitzten Regalen. Sie stellte die Bilder ihrer Eltern, des alten Pastors und ein Kinderbild Arnos auf einen Ecktisch, die Photographie ihres heimatlichen Hauses ließ sie tief unten im Boden ihres Koffers ruhen. Sie versank in den dunklen Möbeln, stand oft wie verzaubert vor den hohen Bogenfenstern und schaute in das Wunder von Tiefeinsamkeit und Bergesfrieden hinaus. Oder sie ließ träumerisch eine Melodie auf dem alten Klavier erklingen, und niemand störte sie in ihrem Tun und Lassen.
Wenn des Morgens lebendiger Hauch den lockeren Schnee von den Bäumen wehte, wenn das junge Licht purpurn durch die Tannen blinkte, wenn der Felsen Wolkenzinken im goldenen Flammenstrahl erblitzten, und wenn der Silbermond sein sanftes Licht flimmernd über das reißende Gewässer streute und die ganze Welt in seinen keuschen Mantel hüllte – dann weinte wohl Sibylle vor Weh und Lust, und sie kam[51] sich vor wie verwunschen und verzaubert. Das Leben aber schien ihr schmerzlich süß und lebenswert.
Es kamen aber auch Tage, wo die Wälder wimmerten, ächzten und erzitterten und der Sturmwind heulend um die einsame Burg fuhr, Tage, an denen die Welt erstorben dalag wie verpackt in dichte weiße Tücher, in unablässig wandernde Schneeflockenwände, wo ein banges Gefühl Sibyllen übermannte, und es ihr war, als gehe sie am Leben vorüber. An solchen Tagen wanderte sie ruhelos durch die dunklen braunen Schloßräume wie ein Gefangenes und gedachte des fernen, verwaisten Heims mit bitteren Tränen. Wie unbestimmt und lückenhaft aber auch die Erkenntnisse auf sie einströmten, die die Einsamkeit und das Schweigen ihr zuflüsterten – Erkenntnisse waren es dennoch, und sie füllten ihre trauernde Seele mit Stille und Frieden.
Es machte sich allmählich von selbst, daß man die Fremde drunten in der Gastwirtschaft und den zerstreuten Gehöften ringsum kannte. Wenn die junge zarte Gestalt in den Trauerkleidern an den Kindern und Erwachsenen vorüberwanderte, grüßte man sie freundlich. Sie kannte schließlich die verschiedenen kleinen Resis, Vronis, Seppls und Tonis bei Namen, und obwohl sie selten mit ihnen sprach, hatte sie doch ihre Lieblinge unter ihnen. Als die Kastellanin eines Tages seufzend von der schweren Erkrankung eines kleinen Mädchens sprach, faßte sich Sibylle ein Herz, stieg den Berghang hinab, klopfte an die Tür der Bauersleute und fragte nach der kleinen kranken Resi.
Man ließ sie eintreten. Das hübsche blonde Kind lag in seiner Wandbettlade in hitzigem Fieber und ächzte. Vater und Mutter standen ratlos dabei.
»Dreie sein uns scho wegstuorben – d' Hals geht dem Resele so vial zua!« klagte weinend die Frau.
Sibylle faßte die heißen Kinderhände, richtete das Kind auf, bat um einen Löffel und ermöglichte es, der Kleinen in den entzündeten, verschwollenen Rachen zu schauen.
Sie sah beruhigt auf. »Es ist nur eine schlimme Halsentzündung liebe Frau,« sagte sie lächelnd, »das habe ich selber vielmal durchgemacht und bin doch immer wieder gesund geworden. Jetzt wollen wir dem Resele einen Halsumschlag machen, und nachher komm' ich wieder und bring' ein Gurgelwasser, und wenn sie's artig nimmt, soll sie was Schönes geschenkt bekommen. Gelt, Resele, du willst doch gesund werden?«
Sibyllens liebe Art weckte Vertrauen. Als sie fand, daß die Leute ihre Verordnungen nicht richtig einhielten und das Fieber des Kindes durch übermäßige Stubenwärme und erhitzenden Wein steigerten, bat sie sich aus, die Kleine auf ihre Weise pflegen zu dürfen, und blieb halbe Tage bei den Hubersleuten. Sie hatte den schönsten Erfolg, das Dirnchen genas, das Vertrauen der Umgebung war ein für allemal gewonnen. Man wandte sich auch in anderen Krankheitsfällen an sie, und da Sibylle einsah, wie wenig erfahren sie sei, ließ sie sich medizinische Handbücher kommen und begann sich gründlich mit diesen Dingen zu beschäftigen.
Eine Tätigkeit war gefunden, ohne daß sie sie gesucht hatte. Mit dem gleichen Vertrauen begannen sich die Leute auch in schweren Fällen an sie zu wenden. Sie lernte es, Notverbände bei Quetschungen und Wunden aller Art anzulegen, und wo sie nicht[53] Rat wußte, da schickte sie zum Arzt. Bald war auch die weitere Umgegend ihres Lobes voll, und die Leute kamen aus dem Dorf, um sich Rats bei ihr zu erholen.
Ein schmerzliches Mitgefühl mit allem, was lebte und litt, beseelte sie, und mit ihrem stillen Wirken wuchs auch eine eigene Ruhe und gesammelte Stimmung in ihr und breitete einen seltsamen Schimmer über ihr Wesen.
Allmählich begannen die Wälder von Vogelstimmen zu hallen, die Bäche brausten wilder von den Bergen, erwärmend ruhte die Sonne auf Wiesen und Auen und lockte das feine Grün hervor, und auch in diese hohen Regionen zog der König Frühling. Wie lebte da Sibylle mit den knospenden Blüten und Blättern, wie freute sie sich an den silberglänzenden Wiesen, wo das taubedeckte Gras schüchtern hervorsproßte, wo hin und wieder ein farbiges Blümchen fromm-verwundert in den blauen Himmel blickte, umgaukelt von eifersüchtigen Schmetterlingen und Bienen – wie von neuem staunte sie das heilige Wunder alles Werdens an! Liebte sie auch den Winter um seiner herben Reinheit willen mehr als die übrigen Jahreszeiten – ein Frühling im Hochgebirge war etwas Berauschendes, und die alten steinernen Riesen hüllten sich noch immer in ihre Schneemäntel, das hatten sie nun einmal vor der Ebene voraus, und Sibylle liebte sie um so mehr dafür.
Wie kurze, grelle Visionen flogen oft die Bilder ihres jungen Lebens an ihr vorüber. Jene Zeit war die glücklichste gewesen, da sie, ein fröhlich-ernstes Kind, über ihrem Puppenreich gewaltet hatte. Wie ein Traum leuchtete der Sommerabend vor ihr auf, als sie in grenzenlos gesteigertem Lebensgefühl und[54] seliger Ahnungen voll im Bade von ihrem Hauslehrer belauscht worden war. Hernach die Erkrankung ihres Vaters, Arnos Verlobung – wie war das alles schon lange her – und die unruhige Zeit im Sanatorium. Warum hatte ihre frohe Ahnung nicht gehalten, was sie versprochen? Lag das nicht auch an ihr? Aus dem Reiche der Kindheit war sie leise, leise in das Reich der Jugend hinübergeglitten, und tottraurige, furchtbare Dinge hatte sie erlebt. Wer hinderte sie aber nun, sich ein eigenes, stilles Reich zu schaffen, ein Reich, da sie herrschte durch Liebe und durch Dienen?
Und Sibylle schrieb an ihren Vormund, sie befinde sich wohl und bereue ihren Auszug nicht, sie bitte ihn jedoch, ihr die Kisten mit ihren alten Puppen senden zu lassen.
Um Pfingsten bereitete sie sich ein Fest. Wo Kinderaugen lachten, wurden sie groß und strahlend vor Entzücken: Sibyllens alte Puppen fanden Eingang in die engen Bauernstuben und brachten ein wenig Märchentum und Poesie und viel Glückseligkeit mit hinein. Sich selbst aber hatte Sibylle am seligsten beschenkt: Für die vergebenen Puppen gewann sie sich die Kinderherzen. Wo sie an den Bauernhäusern vorüberging, grüßten sie zutrauliche, glänzende Kinderaugen, und das »schiane Freili« stand, ehe sie's selber wußte, mit beiden Füßen in einem holden, sonnigen Reich der Liebe.
Aber Liebe erlegt Pflichten auf, und Herrschen ist nur ein versetztes Dienen. Das mußte Sibylle an ihrem Teil erfahren. Es dauerte gar nicht lange, so wußte sie um die Sorgen und Kümmernisse der großen und kleinen Leute Bescheid und teilte auch ihre einfachen Freuden mit ihnen. Den kümmerlichen[55] Alten las sie vor und verplauderte manch Stündlein mit dem rüstigen blinden Sepp, der ihr ergeben war wie ein treuer Hund. In letzter Zeit beschäftigte sie sich damit, ihn die Blindenschrift zu lehren.
Und über all ihrem stillen Tun erfuhr sie, daß sie nicht leer ausging. Sie sah und lernte das Hinleben dieser einfachen Menschen mit ihren einfachen Bedürfnissen verstehen, sie tat blitzartige Einblicke in das Kreisen von Lust und Schmerz, sie erfaßte das große und wunderliche Leben und die notwendige Folge von Schuld und Leid.
Wogende Nebel schwammen über dem Tale, und die Sonne konnte nicht durchblitzen, obwohl in der Höhe ein klarer Maimorgen lachte und strahlte. Im Dorf unten hatten sich schon die ersten Ausflügler und Sommerfrischler gezeigt; auf den Gassen regte sich ein buntes Treiben. Kinder standen vor den Häusern und betrachteten neugierig die städtischen Fremden, die, Maireiser auf dem Hut und Rucksäcke auf dem Rücken, zu Fuß in das Dorf gewandert kamen oder auf dem Rade lustig hineinfahren. Eine Gesellschaft hielt gar mit einem prächtigen Zweispänner vor der Gastwirtschaft, und unter den geputzten Federhüten neigten sich lachende Frauengesichter aus dem Wagen.
Die Straße herauf kam eine schlanke, schwarzgekleidete Mädchengestalt daher; »'s schiane Freili«, jauchzten die Kinderstimmen, Kinderaugen funkelten, Mützen und Kappen flogen von den struppigen Bubenköpfen. Sibylle schritt lächelnd und grüßend an den Kindern vorüber, die sie umdrängten, ließ sich hier und da ein Händchen geben und fragte nach diesem und jenem.
Heute war die Lust jählings über sie gekommen, auch einmal einen weiteren Ausflug zu machen und andere Menschen zu sehen als diese Dörfler. Die Kastellanin hatte ihr schon lange von der Falkenschlucht gesprochen und ihr den Weg dahin, der zunächst durch das Dorf führte, genau beschrieben.
Sibylle war so recht von Herzen froh. Eine ruhige, erwartungsvolle Heiterkeit war in ihr, deren sie sich fast schämte, wenn sie des furchtbaren Unglücks gedachte, das sie in diese stille Welt getrieben. Die ganze, in Blütenwonne aufgelöste Natur atmete Duft und Frische. Die Nebel hatten sich allmählich geteilt und verzogen sich wie lichtdurchwobener Dampf und Rauch; hellfreundlich strahlten die Bergwände die Morgensonne wieder. In zackigen Schneelinien hob sich hoch und herrlich die ferne, wogende Bergwelt.
Rüstig schritt Sibylle die Talmulde entlang, die von beiden Seiten eng in Bergwände hineingelagert war; immer enger schoben sie sich zusammen, immer steiler wurden sie. Bäche rieselten nieder ins duftende Gras, flüsterten und rauschten, junge Birkenbäume schmiegten sich vereinzelt in geschützte Eckchen und schüttelten ihr lichtdurchstrahltes zartes Laub, bunte Blumen tanzten auf dem sonnigen Grün, ein leiser Wind wehte, der Himmel lachte …
Und mit blitzartiger Erkenntnis wurde der Gedanke in Sibylle lebendig, daß die Natur selbst ein Spiegel unserer eigenen, inneren Welt sei. Wer sie anschaut, wer in ihre Tiefen dringt, dem muß sie manche Frage beantworten, dem kann sie innere Rätsel lösen, und wer sie liebt, so recht aus voller Seele, der wird sich in ihr verstanden fühlen. Sie lügt und schmeichelt nie, sie schüttet Reichtümer aus[57] über Bedürftige, sie erfreut und bezaubert unsere Augen und erleuchtet unseren Geist durch ihre tiefere Bedeutung.
Sibylle lächelte in sich hinein, während sie weiterschritt. War nicht auch eine übereinstimmende Bedeutung in der weißsilbernen Winternatur und ihrer eigenen, scheuen Seele, die aus Gefühlsüberschwang herbe wurde und kalt zu sein schien? Hatte sich der Rhythmus ihres eigenen Wesens nicht schon in jenen feierlichen, einsamen Tänzen geäußert, die sie als Kind vor ihren Puppen aufzuführen gepflegt? Weshalb war sie nie mit ihren stummen porzellanenen Untertanen intim geworden? War ihr nicht das Bedürfnis, Distanz zu halten, eingeboren? Warum wohl? Sie wußte es jetzt mit einem Male: es war Selbstschutz, nicht Mangel, sondern Tiefe des Empfindens. Und taten nicht die schneebedeckten Berge das gleiche? War da nicht eine innere Verwandtschaft?
Sie nickte ihren weißen, glitzernden Freunden heimlich zu und lächelte glücklich. Nie hatte sie sich nach der üppigen Natur der Tropen mit ihren glänzenden, prallen Farben, mit ihrer tastenden Aufdringlichkeit gesehnt. Ihr Reich war der reifbedeckte Märchenwald, der Silbergarten, wo das Schneelicht leuchtete, wo der Mond kühl und geheimnisvoll durch die flimmernden Zweige spielte, wo die Stille horchte und das Schweigen redete …
Der Wagen mit den nickenden Federhüten holte sie rollend ein, sie hörte Stimmen lachen und schwatzen – wie er an ihr vorüber war, erschien ihr alles ringsum lebendiger. Hastiger quirlten und sprudelten die Bäche, liefen eiliger an ihr vorüber, lauter flüsterte das Birkengezweig, tönender summten die Bienen –[58] die lustige Gesellschaft hatte die Stille mit fortgenommen.
In Gedanken wanderte Sibylle dahin. Ihre Seele war wach und rege. Die Felsschlucht begann einen düsteren, schwermütigen Charakter anzunehmen, steiler und drohend drängten sich die Wände zusammen, enger, kühler und dunkler ward es. Die spielenden Gewässer hatten sich, ehe sie es gewahr wurde, in einem steinigen Flußbett gefangen und schwollen zu einem Bach an, der düster grollend an ihr vorüberrauschte. Bedrückt und seltsamer Ahnungen voll wanderte sie wohl eine halbe Stunde weiter – plötzlich stand in einer Wegbiegung ein gewaltiger Felsblock vor ihr auf, hoch und still wie eine Mauer, als wolle er ihr den Weg versperren. Ein ängstliches Vorgefühl machte ihre Pulse klopfen – was würde nun noch kommen? Sie schloß die Augen und eilte vorwärts, erst hinter jener jähen Wegbiegung wollte sie wieder hinsehen, sie zählte ihre Schritte, 15, 30, 60, sie blinzelte zwischen den halbgeschlossenen Wimpern – noch etwa zehn Schritte, die Wendung war erreicht. Verwirrt blieb sie stehen und spürte einen furchtbaren Ruck in ihrem Körper: kannte sie denn etwa diese Gegend nicht? Wenn etwas in der Welt, so sollte sie dieses Bild kennen, war es doch mit ihr gewandert in ahnungsvollen Schauern, hatte es sich ihr leidvoll eingeprägt und war von ihr oftmals und immer wieder und wieder in ihren Träumen gesehen worden!
Das war die finstere Schlucht ihrer Träume, ja, das war sie – hier das treibende Gewässer, dort die hängende Brücke, vor ihr die düsteren, eng aneinander gerückten Felsen, hoch oben in dem schmalen Spalt ein blauer Himmelsstreif – und dort, Herr[59] Gott, es war so, schritt ein Mann in dunklem Faltenmantel über die Brücke –
Sibylle fühlte, wie ihr Herz stillstand – war nicht alles wieder nur Traum? Etwas Entsetzliches ging in ihr vor. »Kehre um, kehre um!« rief eine Stimme in ihr, und »Nein, bleibe, steh und erkenne!« eine andere.
Dumpf und starr vor Grauen schritt sie weiter, die Augen fest auf die Brücke gerichtet. Wie im Nebel gewahrte sie, daß die Schlucht sich in zwei Arme gabelte; der eine Arm wand sich, von dem Bache begleitet, in eine vertiefte, unheimliche Finsternis hinein, der andere, breitere, schien wieder allmählich in die grüne Gotteswelt hinauszuführen. Hier stand, eng an die Felswand gedrückt, das Gefährt, das an Sibylle vorbeigerollt war. Es war leer. – Helle Frauengestalten traten aus dem dunklen Gang ans Licht. Ein kleiner Knabe eilte ihnen voraus und kam hastig auf den Mann, der auf der Brücke stand, zugelaufen.
Eine junge Frau folgte. »Arno,« rief sie ängstlich, »nicht so schnell, vorsichtig, Arno!«
»Papa!« jauchzte der Kleine und umfaßte die Knie des einsamen Mannes. Dieser hob das Kind hoch empor, küßte es und stellte es wieder auf die strammen Beinchen.
Sibylle fühlte, wie alles Blut ihr nach dem Herzen trieb. »Arno …« wiederholte sie flüsternd, »der Mann da ist Arno, und das ist sein Kind!«
Sie betrat die Brücke nicht. Während sie daran vorüberschritt, warf sie einen scheuen Blick in das dunkle Männerantlitz. Er ist's! jubelte sie innerlich, das sind seine grauen Augen, das ist seine Stirn,[60] sein Mund, sein Lächeln … aber ist er denn nicht glücklich …?
Sie zögerte einige Augenblicke, sie sehnte sich, seine Stimme zu hören; ob sie in ihr wohl den warmen Klang seiner Knabenstimme wiederfände?
Die Dame nahm zuerst das Wort. »Ich finde es hier schauerlich öde, ich dächte, wir brächen wieder auf. Was fesselt dich eigentlich so an dieser unheimlichen Gegend, Arno?«
Die Stimme gefiel Sibylle nicht, sie hatte einen oberflächlichen Ton.
Er reichte seiner Frau die Hand. »Also dann auf Wiedersehen in zehn bis vierzehn Tagen am Gardasee, Pension Dante, Garda, vergiß das nicht. Ich mache meine Dolomitenreise zu Fuß weiter, wie verabredet. Viel Vergnügen!«
Sibylle ging ruhig weiter. Ihre seelische Tiefhörigkeit raunte ihr eine schwere, bange Wahrheit zu: sie wußte, Arno war es, und Arno war nicht glücklich. Wie kühl hatte sein Abschied geklungen! O fort, fort von hier, ehe er sie erkannte!
Schnell entschlossen kehrte sie um und eilte beflügelten Schritts den Weg zurück, den sie gekommen war. Hinter sich her hörte sie scherzen und lachen, hörte durcheinander schwirrende, mutwillige Frauenstimmen, sie hörte wie der Wagen aus der Stelle rückte, wie der Kutscher den Pferden zuredete – noch einmal schaute sie zurück: in dem Gefährt unter den anderen Damen saßen Arnos Frau und Arnos Kind – jetzt rollte es mit seiner munteren Bürde nach der entgegengesetzten Seite hinaus ins Freie. Sie sah es nicht wieder.
Und jetzt kam ein brennendes Weh über sie –[61] sie senkte das Haupt – über ihre schmalen Wangen stürzten schnell hintereinander bittere Tränen. Das Bewußtsein ihrer schmerzlichen Einsamkeit beugte sie nieder wie ein Rohr im Winde.
So würde sie auch Arno nie wieder sehen! Ein Fremder war er ihr geworden, ein Fremder mußte er ihr bleiben. Sie vermochte das Weh, das sie gepackt hatte, kaum zu fassen, noch weniger zu bändigen. Weshalb hatte dieses Wiedersehen ihr Wesen in den furchtbaren Aufruhr versetzt? Wußte sie es nicht seit Jahren, daß Arno verheiratet war? »Aber er war doch mein einziger Freund, mein letztes Stückchen Heimat …« klagte ihre weinende Seele. Doch groß und schwer wie eine verhüllte Frau stand plötzlich die Wahrheit vor ihr auf und sprach herb und streng: »Du betrügst dich selbst; Arno hast du geliebt seit deinen Kinderjahren um seiner selbst, nicht um deiner Heimat willen. Die Heimat hast du ohne besondere Kämpfe verlassen.«
Betreten stand Sibylle still und schaute wirr um sich. Ja, ja – es war so. Sie hatte ihn immer geliebt, liebte ihn immer noch, trotzdem er einer anderen gehörte – sie liebte ihn jetzt mehr als jemals. O fort, fort mit diesen Gedanken, fort aus Arnos Nähe!
Besinnungslos begann sie zu laufen, als hetzten sie Gespenster … sie lief und lief atemlos, ohne nach rechts und links zu sehen, sie lief, als liefe sie um ihr Leben – da – schlug ihr Fuß an einen Stein, sie stürzte jählings und blieb mit einem schneidenden Schmerz im Knöchel liegen.
Betäubt richtete sie sich auf und brachte sich mühsam in eine sitzende Stellung, sie konnte den Fuß nicht bewegen – er war verstaucht.
Der ganze Jammer ihrer Verlassenheit brach über ihr zusammen – was nun?
Da saß sie, hilflos, allein in der feierlichen Einsamkeit, das brennende Bewußtsein einer furchtbaren Entdeckung in der Seele, preisgegeben dem Mitleide jedes Vorübergehenden, unfähig sich auch nur zu rühren und ein Stück vorwärts zu kriechen. Der Schmerz in ihrem Knöchel wurde immer heftiger – »Wasser, ach Wasser!« ächzte Sibylle mit zitternden Lippen; halb ohnmächtig schloß sie die Augen.
Die Zeit ging hin; langsam, unerträglich langsam schlichen die Minuten dahin, oder waren es Stunden? Schon stand die Sonne im Zenit und sandte ihre heißen Strahlen auf den steinigen Weg. Ermattet, erschöpft, völlig unfähig zu denken, schmerzlich ergeben in ihr Schicksal, versuchte es Sibylle, ihren Fuß in eine erträgliche Lage zu bringen. Sie starrte versunken vor sich nieder, ihre Lider wurden schwerer und immer schwerer, endlich schlief sie ein.
Sie erwachte von einer leisen Berührung.
Ein Ton, der sich erschüttert wie aus einer dunklen Tiefe rang, schlug an ihr Ohr: »Mein Gott, sind Sie – bist du es – Sibylle?«
Noch benommen von Schlaf und Weh, streckte sie die Arme empor und stammelte mit einem leisen Aufschluchzen: »Arno …!«
Er kniete zu ihr nieder, er küßte ihre Hände – ach, nun war ja alles, alles gut. Er faßte sie und hob sie empor – mit einem Wehlaut brach sie zusammen und wies auf ihren Fuß.
Schnell, gewandt knüpfte er den kleinen Stiefel auf, entblößte den Fuß – jetzt sprang er an den[63] Bach, tauchte sein Taschentuch in das kalte Wasser und legte es sorglich auf das geschwollene Gelenk.
»Liebling,« flüsterte er, »armes Herz, wie ist denn das gekommen? Ach, wenn du einen Moment Mut haben wolltest, ich glaube, ich könnte es richten.«
»Nur zu!« murmelte sie lächelnd, »ich halte aus.«
Mit weichen, sorgsamen Händen faßte er das Füßchen, dehnte, zog und richtete – »Da, nun ist's gut, schon vorüber!« sagte er triumphierend. »Aber sag, Kind, um des Himmels willen, wie kommst du denn hierher? Und allein?«
»Ich … ich lebe ja hier – schon seit Monaten, seit das Furchtbare mit den Eltern geschah, daheim konnt' ich nicht bleiben.«
»Ich verstehe,« sagte er hastig, als fürchte er, die Wunde ihrer Seele zu berühren, »ich hörte davon. Ich wagte dir nicht zu schreiben – Worte sind ja so armselig – Und hast du mich denn gleich erkannt?«
Sie lächelte traumhaft. »Schon drüben – in der Schlucht!«
»In der Schlucht?« wiederholte er, »so warst du die fremde dunkle Erscheinung – und du hast mich nicht begrüßen wollen; aber, Sibylle, warum das?«
Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Ach, Arno, die Vergangenheit … es war zu schmerzlich –«
Düster sah er sie an. »Ja, ja, du hast recht, o Sibylle, es hätte alles, alles anders werden können!«
»Und du –?« fragte sie scheu, »hast du mich denn auch gleich erkannt?«
»Nicht gleich …« sagte er heiß; »ich sah von weitem eine Dame mitten auf der Straße liegen, Herrgott, dachte ich, eine Ohnmacht oder ein Raubüberfall, ich sprang herzu, ich stand und sah dich an. Du[64] schliefst wie ein Kind, du hattest geweint, die Tränen hingen dir noch an den Wimpern, und aus deinen schlafenden Zügen stieg mit einem Male die kleine Silly vor mir auf. Ich erschrak – an dieses Glück wagte ich ja kaum zu glauben – da sprach ich –«
»Ach ja,« murmelte Sibylle selig, »ein Glück, ein Glück …«
Er kauerte neben ihr nieder, schlang seinen Arm um sie und küßte sie auf die Stirn. »Wir haben uns ja noch gar nicht begrüßt, Sibylle.«
In trunkener Selbstvergessenheit nestelte sie sich näher an ihn heran, ihre Lippen fanden sich – ein langer, heißer, seliger Kuß –
Erschrocken fuhr sie zurück – »Deine Frau, Arno …«
Ihn übergoß eine heiße Glut. »Jawohl!« sagte er bitter. »Sibylle, meine kleine Silly, warst du nicht meine Silly?«
»Früher einmal –« flüsterte sie.
»Und jetzt – jetzt!« rief er stark. »Es ist noch nicht aller Tage Abend – Silly, jahrelang hab' ich ja nur an dich gedacht, jahrelang – weißt du noch unser Geheimnis, Lady Rosalind?«
»Ich weiß, weiß alles.«
»Und dann kam eine bunte, tolle Zeit, Geselligkeit, Tanz, Mädchen, Schulden, ein Strudel, ein Wirbel sag' ich dir, das riß mich mit – ich mußte mich rangieren, da vergaß ich – aber ich hab's bereut, bitter bereut, Silly, hörst du?«
Ja, sie hörte, sie trank jedes Wort von seinen Lippen, noch ehe es ausgesprochen war; sie lächelte irr vor Seligkeit und Hingebung.
»Ich war ein Narr!« sagte er dumpf, »aber auch Narrheiten lassen sich überwinden, wieder gutmachen. Alles hängt nur an dir.«
»An mir …?« hauchte sie. Sie lächelte wie eine Sterbende und schloß die Augen. Was wollte er damit sagen? Und als fürchte sie den Sinn seiner Worte, deren Wahrheit sie nur halb begriffen hatte, als wolle sie dieser Wahrheit keinen Raum lassen, sagte sie schüchtern: »Denk nur, Arno – diese Schlucht habe ich heute zum erstenmal mit Augen gesehen und doch, ich kannte sie, kannte sie schon lange. Wie oft sah ich sie im Traum, ehe das Schreckliche mit den Eltern geschah!«
»Du sahst sie im Traum?« wiederholte er staunend.
»Ja, auf ein Haar genau, und auch den Mann sah ich auf der Brücke – ach, Arno, wie war mir zumute, als ich dich erkannte! Ich dachte, ich müßte wahnsinnig werden –«
»Mein Gott,« sagte er erschüttert, »wie seltsam, wie unfaßlich!« Er schwieg einige Augenblicke, dann leuchteten seine Augen auf und er sprach, rings um sich blickend: »Sollte das eine Vorbedeutung gewesen sein? Herr Gott im Himmel, was kann es denn auch Größeres geben, als große Natur und eine Menschenseele, die uns versteht?«
Sibylle war totenblaß, ihre Lippen öffneten sich – abwehrend hielt sie die Hände vor sich – sie atmete in kurzen Stößen.
»Was ist dir, Liebling?« stammelte er.
»Auch das!« flüsterte sie, vor Grauen geschüttelt. »Diese Worte, genau so, sagte mir der Mann auf der Brücke, sagtest du mir, Arno. Und dann – war ich – allein …«
Ihr Kopf fiel hintenüber, mit einem schwachen Seufzer sank sie bewußtlos zusammen.
Entsetzt nahm er sie in seine Arme, hob sie auf und trug sie zärtlich an den Bach. Hier bettete er sie in dem Schatten einer Birke, kühlte ihre Schläfen und murmelte angstvolle, sinnlose, heiße Worte.
Endlich schlug sie die Augen wieder auf und sah in sein verstörtes Gesicht.
»Ach, es ist nichts,« sagte sie tonlos, »nur eine Schwäche. Ich habe das manchmal. Hast du dich erschreckt, Arno?«
Er nickte gepreßt. Und er schwur sich, diese zarte Mädchenblume nie durch leidenschaftliche Äußerungen aus dem kristallklaren Zustande, der ihrer Seele gemäß war, zu scheuchen. Er würde an sich halten, hüten würde er sich. Vor Bewegung unfähig zu sprechen, nickte er wieder und beugte sich über die hingestreckte Gestalt.
»Wie kannst du nur so ängstlich sein, du großer, lieber Junge?« versuchte sie zu scherzen und strich ihm zaghaft mit zwei Fingern über die Stirn. »Sieh mal, wie groß und braungebrannt du bist! Schön bist du geworden, Arno, schon als Knabe warst du immer schön … weißt du noch, wie du nicht Puppenkönig werden wolltest? Von dem Tage an spielte ich nie mehr mit meinen Puppen.«
Ihm traten die Tränen in die Augen. »Warum denn?«
»Weil ich sie verraten hatte!« sagte sie ernsthaft. »Jedenfalls faßte ich das damals so auf, und im Grunde hatte ich recht, denn wenn mein Gelöbnis auch nur auf einem eingebildeten Grunde beruhte, ein Gelöbnis war es immerhin, und das soll man halten.«
Er richtete sie behutsam auf. »Fühlst du dich noch sehr schwach?«
»Kaum der Rede wert. Aber, Arno, gehen werd' ich nicht können!«
»Ich trag' dich!« rief er jubelnd. »Wohnst du im Dorf?«
»Nein, oberhalb, in der Burg. Ich hab's da gut, Arno, meine alte Kastellanin verwöhnt mich riesig, und mit allen Dorfkindern bin ich gut Freund. Ich hab' sie mir auch allmählich gezähmt, weißt du. Wenn sie krank wurden, pflegte ich sie, und alle meine Puppen hab' ich an sie verteilt. Kinder sind so lieb, Arno.«
Seine Züge strafften sich. »Ja, o ja!«
»Und dein Söhnchen erst!«
»Ich habe auch noch ein Töchterchen,« sagte er gepreßt, »das ist bei den Großeltern, es heißt Marie-Sibylle.«
»O!« rief sie strahlend. »Und wie alt?«
»Erst ein Jahr.«
»Wie mußt du glücklich sein mit den Kindern!« sagte sie träumerisch.
Er schwieg und beugte sich über den kranken Fuß. »Das sieht ja schon besser aus,« sagte er froh. »Jetzt ziehen wir den Strumpf wieder an und tragen unser müdes Kind heim.«
»Ach ja,« murmelte sie, »ich wäre gern dein Kind, Arno.«
Er hob sie auf, sie schlang ihre Arme vertrauend um seinen Nacken und schmiegte ihr Köpfchen an seine Schulter. »Bin ich dir auch nicht zu schwer?« fragte sie, vor Behagen blinzelnd.
»Kinderleicht!« rief er feurig. Und wacker begann er auszuschreiten.
Sibylle lachte leise vor sich hin. »Was werden meine guten Dörfler sagen, wenn sie ihr ›schianes Freili‹ so wiedersehen? Die Kastellanin kriegt sicher Krämpfe vor Mitleid.«
Er drückte seine leichte Bürde zärtlich an sich. »Sonnenkind!« flüsterte er zärtlich und dann: »Willst du nicht schlafen?«
»Schlafen? Wie kann man denn schlafen, wenn man so glücklich ist? Nach dem Furchtbaren, weißt du, da hab' ich wochenlang nicht schlafen können. Und als ich fort wollte, da waren alle bös mit mir, die Tante Betty Trebnitz und der Vormund Klaus Wrede, auch der gute Pastor … das war schrecklich, aber fort mußte ich dennoch, denn alle Dinge hatten Augen bekommen und sahen mich fürchterlich an in meiner Verlassenheit – ich wäre wahnsinnig geworden. Am schwersten war es, so mitten im Winter fortzuziehen – die lieben alten Bäume … unser Garten … die Gräber, aber es mußte ja sein. Daheim glauben sie, ich hätte kein Herz für die Heimat. Aber konnt' ich denn anders? Und hier hat's lange gedauert, bis ich ruhiger wurde. Die weißen Berge und die feierlichen Bäume machten mich allmählich ruhig, und dann zuletzt auch meine Pflichten.«
»Pflichten?« fragte er lächelnd.
»Aber ja, gewiß. Siehst du, man kann doch nicht nur für sich selbst dahinleben.« Und sie begann ihm ausführlich zu erzählen von ihrem blinden Sepp, den sie die Blindenschrift gelehrt hatte – die habe sie ja selbst zunächst lernen müssen, und da habe es anfangs gar nicht geklappt, von der Großmutter Gräsern, der alten Mutter Koppen, den beiden Hubergreisen, von[69] den medizinischen Büchern, die sie studiert habe, und von dem Vertrauen, das die Leute ihr schenkten.
Ein reines, reiches Leben voller Unschuld, Tiefe und Tätigkeit tat sich vor ihm auf, und während sie sprach, wußte er: so mußte es sein, so war Sibylle, und nur so hatte sie werden können. Das entsprach ihrem Sein, ihr Wesen aber hatte sich ihm in seiner Ganzheit offenbart und intuitiv eingegraben, und wenn er immer wieder neue Fragen einwarf, so tat er es kaum, um mehr von ihr zu erfahren, denn er kannte sie ja schon, sondern um ihre holde, süße Stimme zu hören, die ihn bezauberte und beruhigte wie Brunnenplätschern und Quellengeriesel.
Traumhaft fragte Arno, während er mit Sibylle dahinschritt: »So fühlst du dich denn niemals einsam?«
Sie sah ihn sehnsüchtig an. Sich selbst erkannte sie nicht wieder. Wie ein entfesselter Strom brauste ihr Wesen frei dahin, das sonst immer so gehalten zu sein pflegte. Das macht, weil ich ihn liebe! dachte sie voll Jubels, und er hat mich ja auch lieb, und ihm allein kann ich alles, alles sagen.
»Jetzt erst weiß ich, daß ich einsam war,« sagte sie leise. »Aber dann – hatte ich ja meine Bücher. Einige davon lese ich immer und immer wieder, ich kenne ganze Seiten davon auswendig.«
Er nickte. Auch das stimmte zu ihr. Tastend fragte er weiter: »Sehnst du dich denn nie nach Menschen? Nach Standesgenossen, meine ich.«
Sibylle schüttelte langsam den Kopf. »Im Leid sind wir alle Standesgenossen, und Leid gibt's überall, nur zuviel. Ich habe auch früher niemand vermißt, weil ich ja nicht ahnte, daß ich jemals zu einem Menschen so frei reden könnte wie zu dir, denn auch[70] Mama … kannte mich nicht, wie ich mich von dir gekannt fühle.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Nicht weinen, Liebling!« sagte er weich. Seine ganze Seele war gefangen, berauscht und zugleich geheiligt durch ihr liebliches Vertrauen. Ja, er verstand sie, weil er sie liebte – wie er sie aber liebte, durfte er ihr das sagen?
»Ja, so ist es,« plauderte sie unbefangen weiter, »ich bin ein richtiger Einsiedler. Die Leute erzählen mir von ihrem Kummer, ihrem Leide. Nach dem meinen fragen sie nicht, und ich möchte auch um alles in der Welt nicht gefragt werden. Sie meinen, ich trüge Trauer um meinen Bräutigam.«
»Aber, Herz, so könntest du doch nicht weiterleben.« Er wußte genau, daß sie es konnte.
»Warum nicht?« fragte sie unschuldsvoll. »Ich bin im Grunde sehr bedürfnislos, Arno, nur frei muß ich mich fühlen können. Und was gibt es Freieres und Schöneres als die Schnee-Einsamkeit der Berge! Da ist auch Religion, Arno. Einsam bis ins innerste Mark, fühle ich doch das Leben der Natur mit, das ich in seiner Größe und Schönheit anschauen darf. So wird die Natur ein Spiegel der Seele.«
Er war hingerissen. Fast schämte er sich, sie durch seine nichtigen Einwürfe zu veranlassen, immer mehr die Schönheit ihrer Seele zu offenbaren.
»Aber du hast ja noch gar nicht gelebt,« sagte er leise im Gefühl seiner Schuld.
Sie kniff die Augen ein und lachte glücklich. »Meinst du? Ich glaube, ich lebe nur zu intensiv. Ich habe aber auch Männer kennen gelernt, dein Regimentskamerad Zur-Linden wollte mich heiraten.«
Das hatte er nicht erwartet. »Und du?«
»Ich konnte ihn nicht lieben, wie er es wollte,« sagte sie einfach. »Ja, ich bin in einer Beziehung sehr unerfahren,« fuhr sie schelmisch fort; »außer einer kleinen Tanzgesellschaft bei Wredes habe ich noch nie einen Ball mitgemacht. Aber sind denn Bälle zum Leben nötig? Dennoch aber sagt mir ein Instinkt: dies hast du zu tun, das zu lassen. So konnte ich auch nicht Zur-Lindens Frau werden.«
Arno fühlte sein Herz beben. Was er da in den Armen hielt, war ein Wunder, sein heiliges Wunder! Er hatte es erfaßt, dennoch aber überwältigte es ihn.
»Kind –« sagte er gepreßt, »ist denn das möglich, ist es denkbar, daß ein junges Mädchen so aufwächst, in solcher Stille, solch heiligem Frieden? Hast du denn nie schlechte Menschen getroffen?«
»O,« meinte sie eifrig nickend, »mein Hauslehrer und deiner, der Herr Brandt, der war schlecht. Er hat mich beim Baden belauscht, aber ich bat ihn, seinen Abschied zu nehmen, und er tat es. So hat niemand etwas davon erfahren.«
Auch dieses Erlebnis war ihm neu, und doch schien es ihm, als kenne er auch ihre Fähigkeit der Abwehr. »So hast du auch Stacheln?« fragte er.
»Ellenlange, wenn's nötig wird. Denke nur ja nicht, daß ich keinen Willen habe und nur ein gefügiges Lamm bin, Arno. Die Leute haben immer Respekt vor mir. Jetzt aber hab' ich genug von mir geredet, nun will ich von dir hören!«
»Du weißt ja schon alles,« sagte er traurig. Dennoch begann er zu erzählen, wie sie es wollte, und ein bitterer Schmerz brannte sich dabei ihm in die Seele. Während sie wie ein Schmetterling in schöner Verklärung Friede und Freude aus des[72] Lebens mannigfachen Blüten, den süßen und bitteren, gesogen hatte, war er wie eine Motte um flackernde Flammen getaumelt, hatte sich die Flügel versengt und die Kraft der Seele geschwächt. Ihm blieb nur noch eine Hoffnung: rein zu werden in ihrer Reinheit, stark, indem er sie schützte, und frei dadurch, daß er sich selbst befreite.
Nachdem er ausführlich berichtet, sich selbst nicht schonend, schloß er: »Den hellen Stern meiner Kindheit hatte ich verloren, mein Gewissen verhärtet und betäubt. Toll genug habe ich gelebt. Anfangs fand ich viele Freunde, mit den Jahren wurden sie seltener. Mein Beruf – nun ja, ich suche ihm zu genügen. Ein paar Avancements – was will das im Grunde sagen? Das Beste im Leben ist ja doch an mir vorübergegangen, oder ich an ihm. Äußerlichkeiten, Geselligkeit – das ist übriggeblieben. Meine Frau liebt das. Nie kommen wir dazu, gemeinsam ein gutes Buch zu lesen, wir reden eben verschiedene Sprachen. Meine einzige Stärkung ist jährlich eine einsame Fußtour in die Berge, die ich liebe wie du.«
Sie wußte und verstand ihn, noch ehe er zu Ende gesprochen. Sie sah ihn voll Trauer an. »Aber du hast ja doch deine Kleinen!« sagte sie leise.
»Das ist auch das beste, was ich bisher besaß,« erwiderte er bedeutungsvoll.
Sie versanken in ein tiefes Schweigen. Er fühlte sein Herz pochen, als wolle es ihm die Brust sprengen. Konnte, durfte er ihr von seiner Liebe sagen? Sie liebte ihn, das fühlte er mit einer Seligkeit, die ihn schwindeln machte. Keinen Augenblick hatte sie gestrebt, ihm ihr Empfinden zu verbergen – offen und klar, wie ein Gebirgssee, lag es vor ihm da. Aber[73] folgte daraus, daß sie einwilligen würde, seine Frau zu werden? Würde sie ihm erlauben, die anderen Bande zu zerreißen? Wie hatte sie doch gesagt? »Wenn mein Gelöbnis auch auf einem eingebildeten Grunde beruhte – ein Gelöbnis war es immerhin, und das soll man halten.« Hatte sie ihm damit einen Fingerzeig geben wollen? Oder hatte sie das unbewußt hingesprochen, und war es nur einfach der Ausdruck ihres Wesens? In ihrer Hand lag sein Geschick – er war zur Scheidung, auch zur Trennung von seinen Kindern bereit – ja auch von seiner kleinen Marie-Sibylle. Aber durfte er heute schon sprechen? Er hatte ja vierzehn Tage Zeit, vierzehn goldene, endlose Tage! – Er schwieg, sie aber fühlte sein rasendes Herzklopfen.
»Was ist dir, Arno?« fragte sie sanft. »Ich bin dir doch wohl auf die Dauer zu schwer. Rasten wir ein wenig.«
Da brach es aus ihm hervor, heiß, glühend, unaufhaltsam: »O Sibylle, o Geliebtes – was sollen wir miteinander Versteck spielen? Du weißt es ja, und du mußt es in jeder Fiber fühlen: Ich liebe dich, ich liebe dich …«
Sie wurde sehr blaß. »Ich habe dich mein Leben lang geliebt,« flüsterte sie. »Du weißt es auch.«
»Und Sibylle … und … und …?« drängte er, »willst du, kannst du mein werden?«
»Setze mich nieder,« sprach sie erstickt. »Ich will dir zu antworten versuchen …«
Er setzte sie behutsam auf einen Stein, warf sich vor ihr nieder und vergrub den Kopf in ihrem Schoß.
Sie legte die Hand auf sein Haar und rang nach Worten. Mit zitternder Stimme begann sie zu[74] sprechen: »Daß es so kommen würde und mußte, wußte ich in dem Augenblick, als du vor mir standest. Ich habe dir nichts verhehlt … zu lange Jahre habe ich gedürstet – nach dir, Arno, ohne es zu wissen. Aber jetzt antworten kann ich dir noch nicht, denn ich weiß nicht – was ich soll. Hättest du nicht die Kleinen, die du liebst, die an dir hängen, denen du Vater und Vorbild sein sollst – sieh, dann wüßt' ich's. Laß mir Zeit, Arno, dränge mich nicht. Sprich mir nicht mehr davon, ich will's dir selber sagen, wenn ich Klarheit habe …«
Ihre Stimme klang flehend und zerbrochen.
»Daß ich dir Kampf und Leid bringen muß!« schluchzte er.
»Du hast mir die Seligkeit meines Lebens gebracht, Arno – ob sie Stunden dauert oder Jahre, ist gleich. – Es gibt Blumen, die nur einmal blühen – sagte mir einmal eine alte Freundin – und vielleicht nur eine kurze Stunde lang, aber zum Blühen und zur Vollendung kommen sie doch, früher oder später. – Du hast mir meine Blüte geschenkt, Arno, und ich habe nicht umsonst gelebt. Das ist das eine, das andere aber ist: dein Gelöbnis und daß du Vater bist und Pflichten hast.«
»Ja! Ja!« stöhnte er.
Sie sah ihn leuchtend an. »Du Armer, Lieber!« sagte sie, »daß du deine Pflichten nicht leicht nimmst, das macht dich mir ja noch lieber.« Sie schwieg, in sich versunken, dann fuhr sie leise und fast feierlich fort: »Die nächsten Tage werden es mir sagen, wie lieb ich dich habe – denn noch kenne ich mein Herz nicht – ob für die Ewigkeit, Arno, und daraus folgt Trennung, oder für die Zeit. Trage mich heim,[75] Arno, Geliebter, und sprechen wir nicht mehr darüber. Ich sage es dir selbst.«
Er beugte sein Haupt tiefer und tiefer. Ihm war, als sei sein Urteil schon gesprochen – ehrfurchtsvoll, von heiligen Schauern erschüttert, berührte er ihren Fuß mit seinen Lippen.
»Trage mich heim!« gebot sie tonlos.
Und er nahm sie wieder in seine Arme und trug sie heimwärts. Sie sprachen kein Wort. Ihre Seelen aber redeten miteinander ununterbrochen. – –
Es folgten nun seltsame Tage. Sibylle mußte ihres geschwollenen Fußes wegen der Ruhe pflegen; Arno besuchte sie auf der Burg und saß die Tage über bei ihr in ihrem Zimmer, oder er trug sie hinunter in den Park, wo er ihr in der breiten Hauptallee, die die Aussicht auf die Schneeberge frei ließ, ein Ruhebett hergerichtet hatte. Da saßen sie stundenlang schweigend Hand in Hand unter den schweigenden Bäumen, angesichts der hart und gewaltsam aufgetürmten grandiosen Hochgebirgskette, die Seelen voll ungesprochener tiefer Zärtlichkeit. Manchmal sah ihn Sibylle mit einem so strahlenden Blick der Liebe an, daß er bis ins Innerste in Hoffnung erbebte – es war ja nicht möglich, daß sie ihn wieder gehen hieß! Nach und nach aber wurde es ihm zur schmerzlichen Gewißheit, daß sie gerade um der Größe ihrer Liebe auf ihn verzichten werde. Sie konnte ruhig, fast heiter mit ihm reden. Sie sprach von ihren Lieblingsbüchern, bat ihn, das oder jenes zu lesen, erzählte mit freundlicher Selbstironie von ihren naturwissenschaftlichen und medizinischen Studien, sie berührte die höchsten und tiefsten Dinge mit schlichtem, wahrheitsuchendem Ernste, aber Tag für Tag sah er,[76] daß sie feiner, blasser und zarter wurde, daß sie gleichsam dahinschwand in einer seelischen Verklärung. Manchmal fühlte er, daß sie zum Sprechen ansetzen wollte und doch wieder innehielt, weil sie die Kraft in sich nicht fand, oder weil sie die kostbaren Stunden weder ihm noch sich zu verkürzen wagte.
So war ihnen jede Minute ihres Beisammenseins zum Kleinod geworden, das sie hüteten wie einen Schatz, der ihnen unter den Händen zergehen könnte wie ein Tropfen Wassers, ein Hauch, ein Klang …
Qualvoll-süße, selige Stunden waren es, aber wie sie auch die Augenblicke festzuhalten, wie sie sie auch in heiligem Schweigen zu verlängern strebten – diese Augenblicke schwanden unaufhaltsam, unwiederbringlich dahin. –
Zwei Tage vor der angesetzten Zeit seiner Abreise saßen sie wieder Hand in Hand, stumm vor seligem Leid. Arno sah, daß Sibylle mehrmals die Lippen öffnete und tief Atem schöpfte. Aber ihre Lippen erzitterten immer wieder, und sie schwieg. Er sah, wie sie litt. Um ihretwillen mußte der Qual ein Ende gemacht werden. Er kniete vor ihr nieder, nahm ihre beiden Hände, küßte sie und legte ihre Fingerspitzen auf seine Augenlider.
»Sprich, mein Liebling!« sagte er sanft, »ich bin gefaßt.«
Es kam kein Ton als ein schwerer, leidvoller Seufzer, dann einige unverständliche Flüsterworte. Er wartete, wie man auf den Todesstoß wartet.
»Arno, Geliebter –« begann sie, als sie ihre Stimme gefunden hatte, »ich habe die Tiefe meiner Liebe erkannt; sie ist wie das Himmelsgewölbe, sie reicht so weit, daß ich selber eher alles Leid und jeden[77] Schmerz auf mich nehmen könnte, als das Bewußtsein, dich mir weniger groß, weniger stark und frei zu denken. Das Bittere ist nur, daß du leiden sollst …«
»Süße … Süße …!« stammelte er.
»Du sollst dir nie vorzuwerfen haben, deinen Kindern nicht ein Vorbild gewesen zu sein, nie sollst du dich einer unerfüllten Pflicht wegen anklagen dürfen. Ich danke dir – mit meinem ganzen Leben, mit jedem Atemzuge für deine Liebe, Arno, aber wir zwei wollen nichts halb tun – nicht wahr?«
Sie rang nach Atem, ihre Finger zitterten auf seinen geschlossenen Lidern, sie waren eiskalt, obwohl die heiße Junisonne brannte.
»Ich darf dich weder deinen Kindern nehmen, noch will ich dich deiner Frau stehlen,« fuhr sie tonlos fort, »du sollst mir nie schreiben, Arno, weder Briefe noch Karten.«
Er zog ihre Hände an seine Lippen und küßte sie voll unendlichen Schmerzes, voll unendlichen Mitleidens.
»Versprich mir das, mein Liebling –«
Er beugte das Haupt und gelobte.
»Ich … habe nie einen Menschen geliebt wie dich und werde nie einen Menschen lieben wie dich …«
Jetzt sah er auf. Sie war geisterhaft bleich, um ihre Lippen zuckte ein herzzerreißendes Lächeln.
Mit letzter Kraft hauchte sie: »Küß mich noch einmal.«
Sie umfingen sich, sie wußten: das war Abschied auf Leben und Tod. Die schneeweißen Berge schwiegen, die Bäume horchten und staunten, die ganze wundergroße Natur schien sich in Andacht zu beugen vor Menschenleib und Menschengröße.
Sie konnten voneinander nicht lassen.
»Mein … mein … du meine Seele – du mein Glück und mein Leid,« murmelte er.
»Du ganzer Mensch – ich will deiner wert zu werden suchen.« Mit einer kleinen, fernen Stimme sagte sie noch: »Arno, wenn dein Junge einmal groß ist, schick ihn zu mir – ja, willst du?«
Er erhob sich schwankend – er sah sie noch einmal an, noch einmal streckte sie ihm die Hände entgegen, noch einmal suchte er ihren Mund – dann ging er. – Die Bäume schauerten zusammen, die Berge leuchteten. – –
Sibylle hat ihn nie wiedergesehen. Jahre kamen und gingen, und sie wuchs und erstarkte in ihrer Seele. Sie entfaltete sich wie eine Wunderblume. Wie ein freundliches Gestirn sandte sie ihre Strahlen in Nacht und Dunkel an Kranken- und Sterbebetten. Wo es Leid zu tragen und Wunden zu heilen gab, war sie zur Stelle; wo es zu raten, zu helfen, zu lindern galt, fand sie sich ein; wo man der Mitfreude bedurfte, da konnte man gewiß sein, ihrem freundlich-gütigen Lächeln zu begegnen. Wenn aber jemand über Sünde und Schuld richtete und hart verurteilte, die gefehlt hatten, da war sie es, die zur Milde ermahnte. »Wir stehen allesamt an der Schwelle der Schuld,« sagte sie dann; »es weiß keiner, ob er nicht schon diese Schwelle übertreten hat. Niemand hebe den ersten Stein!« Die Leute im Dorfe nannten sie oft kopfschüttelnd ihre Heilige. Gegen Kummer, Kränkungen und Leid jeder Art schien sie fortan gefeit zu sein – es gab ja nichts mehr, wodurch man sie hätte leiden machen können. – Mitten im Winter, am Datum ihres Geburtstages, am 9. Dezember, legte sie plötzlich[79] ihre Trauergewänder ab und ging fortan in ihren lichten weißen Kleidern wie vor dem Tode ihrer Eltern. Die Leute zerbrachen sich die Köpfe über diese freudige Wandlung; die alte Kastellanin hatte den Grund vielleicht erraten, aber sie nickte nur mit dem greisen Kopf und schwieg. Sibylle hatte an diesem Tage zwei Pakete aus Berlin erhalten; in dem einen war ein Buch: »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«, aus dem anderen fielen duftende Stiefmütterchen, das Wort »Pensées« stand auf einem Zettel.
Geliebt, auf Händen getragen von ihrer Umgebung und dennoch gänzlich vereinsamt, lebte sie dahin, Jahr um Jahr, und sie freute sich wie ein Kind, als sie ihr erstes weißes Haar entdeckte. Ihr Leben ward in seiner scheinbaren Einförmigkeit so reich und vielfältig, daß sie es nicht hätte gegen irgendein anderes eintauschen wollen. Alle Jahre zweimal aber hatte sie besondere Festtage: das eine Mal an ihrem Geburtstage, wo sie immer wieder einen Strauß Stiefmütterchen oder weißen Flieders und ein gutes Buch erhielt, das zweite Mal an dem Datum ihres Wiedersehens mit Arno im Mai. Da brachte ihr die Post einen Strauß Alpenblumen, Edelweiß und Veilchen, oft als Gruß aus nächster Nähe, und sie wußte, Arno streifte dann einsam durch die Dolomiten, seine innere Heimat – sie – mit der Seele suchend.
Sie begann sich im heißen Sommer auf den Silbergarten des Winters zu freuen und im Winter auf den Mai, der ihr in seinem zarten Frühlingsgewande fast ebenso lieb geworden war. In ihrem tiefsten Innern aber hatte sie sich einen eigenen Silbergarten gezogen, den sie vor fremden Blicken zu wahren und zu hüten wußte. Hier träumten Wunderbäume,[80] ihre heiligsten Erinnerungen, bereift und seltsam, schauten nach innen und harrten der Zeitlosigkeit entgegen. Die goldenen Tore des äußeren Lebens hatten sich für Sibylle früh geschlossen, andere goldene Tore aber taten sich weit und lockend auf. Gestorben war sie, um zu werden.
Einmal war sie auch wieder nach Wangen gefahren, aber sie blieb dort nur kurze Zeit. Der Vormund schlug ihr nun selbst vor, das Gut zu verkaufen, da er einen zahlungsfähigen Käufer gefunden hatte. Sie aber schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf. »Ich habe meine Verfügungen darüber schon anders getroffen,« sagte sie freundlich.
Das Erbgut ihrer Eltern vermachte sie testamentarisch Arnos Sohn und der kleinen Marie-Sibylle.
Der alte Pastor schüttelte bekümmert das Haupt. »Sie hatte alle Anlagen zu einer echten Christin,« meinte er, »aber ihre Verinnerlichung und Umdichtung der Natur ist doch wohl nicht der direkte Weg zum Heil.« Und zu Sibylle sprach er, als er von ihrer Tätigkeit hörte: »Martha, Martha, du machst dir viele Mühe.«
So war sie einsam, wie sie als Kind gewesen, einsam bis ins innerste Mark, doch nicht allein. Sie hatte ja doch ihren köstlichen Silbergarten, und da träumten hohe, schlanke Bäume und dufteten, leuchtete glanzerfüllte Stille. – –
Der 18. Mai war gekommen. Sibylle saß in festliches Weiß gekleidet in ihrer tiroler Heimat in ihrer Lieblingsallee, einen köstlichen, taufrischen Strauß Alpenblumen vor sich, den ihr die Post soeben gebracht hatte.
Da trippelte die alte Kastellanin freudig erregt auf sie zu. »Es ist ein junger Herr da, gnädig Fräulein,« sagte sie geschäftig, »der fragt nach gnädig Fräulein.«
Sibylle öffnete weit die Augen – ein schöner, schlanker Knabe von etwa fünfzehn Jahren kam eilends über den Gartenkies gelaufen und schwenkte seine Touristenmütze.
»Tante Sibylle! Liebe Tante Sibylle!« rief er von weitem. Er trat vor sie hin, groß, braun, feurig, und küßte ihr ritterlich die Hände.
»So bist du Arnos Sohn!« sprach sie mit zitternder Stimme. Sie legte ihm die feinen Hände auf die Schultern und sah ihm tief in die Augen. »Arnos Augen!« murmelte sie.
Der Knabe stand betreten. Eine heilige Ahnung mochte seine junge Seele durchrieseln.
»Mein Vater –« er stockte, »wir sind auf einer Gebirgstour – die Blumen hat er alle selbst gepflückt … ich darf vierzehn Tage bei dir bleiben, wenn du mich magst.«
»Mein lieber Junge,« sie schloß ihn in ihre Arme, »wenn du bei mir bleiben magst!«
»O – gern!« sagte er ein wenig gönnerhaft. »Du bist mir doch viel lieber als Tante Elisabeth, die redet immer so gräßlich fromm.«
Sie lachte hell auf.
»Wie du lachen kannst!« sagte er anerkennend, »und doch hast du weiße Haare!«
»Wir wollen noch oft zusammen lachen – du mußt mir aber auch alle deine Schulstreiche erzählen, gelt?«
»Hm,« meinte er listig zwinkernd, »wenn wir erst damit anfangen, gibt's sobald kein Ende. Ich[82] bin aber Primus in Sekunda geworden – weißt du das schon?«
»Potztausend!« sagte Sibylle mit lachenden Augen, »da wird sich der Papa aber gefreut haben!«
»Na und ob!« meinte der Junge selbstbewußt. »Ich hab' ja auch nur Papa zuliebe gebüffelt, denn eigentlich mach' ich mir aus dem ganzen gelehrten Kram wenig. Landwirt möcht' ich werden! Das ist doch eine andere Sache!«
»Du bist ja ein Blitzkerl!« sagte Sibylle strahlend. »Was sind denn sonst deine Passionen? Schlittschuhlaufen, Skilaufen, Reiten und, ich wette, Sahnentörtchen – heraus mit den Leibspeisen, Junge!«
»Oho! Das kommt später – ausführlich. Ich hab' dir aber noch was mitgebracht, Tante Sibylle. Erst die Pflicht, dann das Vergnügen. Das ist nämlich Papas Lieblingsspruch.«
Er suchte umständlich in seinen Taschen und holte eine Photographie hervor. »Das da ist Marie-Sibylle!« sagte er mit verschämtem brüderlichen Stolz. »Ein ganz passables Mädel – nicht? Und hier – das schickt dir der Papa, das hast du ihm einmal als kleines Mädel geschenkt. Vielleicht macht es dir Freude. Ihm ist es lieber als alle Schätze – komisch, was? Aber Papa kann man so was nachsehen – er ist schon so besonders!« schloß er großmütig. Wichtig überreichte er ihr eine alte Zündholzschachtel. Sie zog sie auf, darin lag in verblaßtem rosa Seidengewand ein winziges Püppchen – Lady Rosalind.
In Quinto bei Genua, dort, wo sich der Weg nach Nervi zu gabelt, lag vor einigen Jahren noch ein mächtiger Quaderstein. Rauh war seine Oberfläche und ein wenig schartig, wie das pockennarbige, mitgenommene Gesicht eines älteren Mannes, der auch sonst vom Leben nicht allzusehr geschont worden war. Die Unbilden der Witterung, sowohl die sengende Glut italienischer Sommer wie die andauernden Regenperioden und die heftigen Stürme des Mittelmeeres, hatte er seit vielen, vielen Jahren über sich ergehen lassen müssen. Dennoch stand er so bieder, so fest und treuherzig da wie am ersten Tage, da ihn ein unbekannter Zufall auf diesen Platz gestellt haben mochte.
Zu welchem Zweck und aus welcher Ursache er hierhergekommen war, danach fragte niemand; genug, er stand nun einmal da, trotzig und unentwegt, und diente bereits seit grauen Zeiten den Wanderern als willkommener Ruheplatz, den Fremden als orientierendes Merkmal, den spielenden Kindern, die lachend auf ihm herumzuklettern pflegten, als freundlich stummer Gefährte.
Vor vier, fünf Jahren etwa kam ein sonnengebräunter, fremder Gesell des Wegs gezogen, einen[84] Basthut im Nacken, einen derben Stock in der Hand, einen abgenutzten Ranzen auf dem Rücken. Er kam von Genua und mußte seiner Kleidung nach von weit her sein.
Düster schaute er aus brennend schwarzen Augen geradeaus. Das magere, braune, fest umrissene Gesicht war von wenigen, aber tiefen Falten durchfurcht, die Zeit und einförmiger Kummer hineingegraben haben mochten. Von den Nasenflügeln an den Mundwinkeln vorbei gruben sich wie vielbenutzte, einsame Fahrstraßen harte Linien und verliefen erst unter dem festen Kinn. Auch die schön gewölbte Stirn zeigte Furchen und Rinnsale, die sich über den beweglichen Augenbrauen in scharfen, bogenförmigen Strichen zeichneten.
Als habe das Leid sich nicht genuggetan in der Ausmeißelung dieser schmerzlichen Züge, hatte es auch noch zwei finstere, tiefe Rinnen von den Augenwinkeln quer über die Wangen gezogen. Ein dunkler Schnurrbart verschleierte einen feinen, träumerischen Mund, über den sich eine starke, hagere Nase buckelte, als erhebe sie energischen Protest gegen alle weicheren Regungen. Es war ein einsames, schwermütiges Gesicht.
Rüstig wanderte der Mann vorwärts und begleitete seinen Schritt mit dem taktmäßigen Aufschlagen seines Stockes.
Seine Gangart war noch jugendlich. Er mochte in der Mitte der vierziger Jahre stehen. Als er den großen Quaderstein von weitem erblickte, leuchtete es hell auf in seinen durchfurchten Zügen.
Rasch ging er auf ihn zu und blieb gedankenvoll vor ihm stehen.
»Hier war es,« murmelte er, »grad vor dreiundzwanzig Jahren … an einem heißen, blauen Tage wie heute.«
Und fast zärtlich strich er mit der gebräunten, feingliederigen Hand über die rauhe Steinfläche.
Dann setzte er sich darauf, warf seinen Ranzen ab und stützte die Ellbogen auf die Knie.
Trübe starrte er die Straße entlang.
»Alles verändert – neue Häuser, neue Menschen, neue Zeiten. Annunziata verheiratet, Emilio und Giovanni hinaus in die Welt … von dem Hause des Vaters auch nicht ein Stein! Ah, sakramento!«
Seine Züge zogen sich in bitterem Gram zusammen.
Alle Furchen wurden tiefer.
Er nickte düster mehrmals vor sich hin.
»Nur dieser Alte hat noch das gleiche Gesicht.«
Regungslos blieb er eine Weile sitzen. Seine hagere Gestalt war in sich zusammengesunken.
Die Kindheitserinnerungen gaukelten ihm lichte, freundliche Bilder vor die Seele.
Drüben an Stelle des fünfstöckigen, kasernenartigen Gebäudes hatte die kleine Osteria seines Vaters gestanden mit weinumranktem Laubengang. Sein freundliches Erbe.
Als kleiner Junge war er dem dicken Vincenzo, der hier täglich seine zwei Liter Chianti einzunehmen pflegte, auf den Schoß geklettert und hatte aus seinem Glase genippt, und der feiste Alte hatte lachend gesagt: »Jetzt bist du bei mir zu Gast, Pietro; aber wenn du groß bist, komm' ich zu dir und trink' meinen Chianti umsonst. Für die alte Kundschaft hätt' ich's verdient, mein' ich.«
Und der kleine Pietro hatte ernsthaft genickt und[86] gesagt: »Aber die Annunziata bringst du dann immer mit, Vincenzo?«
Die kleine Annunziata war des alten Vincenzo Enkelin und sein Augapfel, ein zierliches, elfenhaftes Ding mit großen, frommen grauen Augen.
Um Annunziatas Gunst hatte es mit den Nachbarskindern Emilio und Giovanni in späteren Jahren blutige Schlägereien gegeben. Wenn Pietro mit zerschundener Nase und trotziger Schweigsamkeit von der Straße ins Haus kam, lachte seine Mutter und sprach: »Die Hexe mit den Madonnenaugen hat euch wohl wieder aneinandergehetzt? 's geschieht euch recht, warum seid ihr solche Narren!«
Später, als Pietro beim Marmorarbeiter Lukkoli in die Lehre trat und täglich nach Nervi hineinwanderte, geschah es, daß Annunziata mit ihrem Blumenkorbe dieselbe Straße zog. Aber sie ging stets auf der anderen Straßenseite und sprach kein Wort. Nur unter den langen, seidenen Wimpern warf sie ihm einen Blick von der Seite zu – einen Blick, der sich wie glühendes Eisen in seine Seele brannte. An der Ecke, wo ihre Wege sich trennten, griff sie mitunter in ihren Blumenkorb und warf dem hübschen Gesellen mit koboldartigem Lachen einen Veilchenstrauß zu. Dann war der Tag voll Sonne für Pietro, auch wenn die grauen Wolken trübe niederhingen. Hoffnungen und Wünsche wurden in ihm groß, vor deren Seligkeit er selber erschrak, ja einmal fand er den Mut, Annunziata um eine rote Nelke zu bitten. Sie aber schüttelte lachend ihr schwarzlockiges Haupt, und nun blieben auch die Veilchenspenden aus.
Er hatte gesehen, mit leibhaftigen Augen gesehen, wie sie dem langen Giovanni, der einst dicht hinter[87] ihr herschritt, ein Veilchensträußchen wie unversehens vor die platten Füße fallen ließ. Von nun an haßte er den langen Giovanni wie seinen Todfeind und suchte Händel mit ihm, wo er konnte. Barkenführer war der, und sein Geschäft war, die Fremden ins blaue, schillernde Meer hinauszurudern. Sonst aber lag er stundenlang faul auf dem Rücken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen.
Zwei Jahre waren hingegangen und ein Gerücht verbreitete sich, Annunziata wolle den dicken Bäcker Philippo Grimaldi in Genua heiraten. Pietro verlor den Schlaf und ward rauflustiger denn je. Beim Bocciaspiel hörte man sein zorniges, rauhes Lachen, und bei seinem Meister arbeitete er mit einer Vehemenz, die ihm den Spott der übrigen Gesellen und die Achtung des Meisters eintrug. Wenn die anderen laute sozialistische Reden führten, nickte er nur grimmig und ward schweigsamer und trotziger denn je.
Da geschah es an einem strahlenden Morgen, daß Annunziata auf ihrem gewohnten Wege nach Nervi eine rote, glühende Nelke aus ihrem Körbchen zog, quer über die Straße ging und die Blume mit einem leisen Nicken ihres Madonnengesichtchens dem Pietro vor die Füße fallen ließ.
»Komm um die Mittagszeit an den großen Stein,« lispelte sie.
Pietro glaubte seinen Sinnen nicht zu trauen. Versteinert stand er da. Leicht war sie an ihm vorübergeschritten – aber da lag ja die Nelke – er hob sie hastig auf und preßte sie an die Lippen. Er hatte also nicht geträumt, und die Worte vom Stein hatte sie wahrhaftig gesprochen. – Lange vor Mittagszeit fand er sich auf dem Platz ein.
Fiebernd vor Erwartung stand er da. Wenn sie ihn angeführt hätte …! Aber da kam sie mit sittig gesenkten Augenlidern um die Ecke geschritten, leicht wie eine Elfe, schön wie eine Madonna.
Sie warf einen scheuen Blick auf die Nelke in seinem Knopfloch. »Pietro,« sprach sie leise, »der dicke Grimaldi ist mir zuwider. Dir bin ich gut. Sprich du mit dem Großvater …«
Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Träumte er denn nicht?
»Annunziata …« stammelte er, »o Annunziata!«
Er griff nach ihrer Hand, sie drückte seine zitternden Finger leise – dann war sie davongehuscht.
Pietro fühlte den Mut eines Löwen in sich. Und mit dem Ungestüm eines hitzigen Knaben verdarb er sich seine Sache.
Der feiste Vincenzo hörte ihn ruhig lächelnd an und sprach: »So! Ihr junges Volk seid also einig, und nach uns Alten fragt ihr nicht. Nun, wollen sehen, wollen sehen, mein Sohn. Ich gebe keine Versprechungen. Die Zukunft wird's ja zeigen.«
Und was die Zukunft zeigte, das war so entsetzlich gewesen, daß Pietro beschloß, nach Amerika auszuwandern, um nicht vor Wut und Gram zu ersticken und zum Mörder zu werden.
Annunziata wurde zwar nicht mit dem dicken Bäcker Grimaldi versprochen, aber mit dem reichen, hübschen Kaufmann Torresino, und das Schlimmste – sie war ganz glücklich.
»Ich hab' mein Herz nicht gekannt, Pietro – jetzt erst weiß ich, was Liebe ist. Verzeih mir.«
Er verzieh nicht. Mit dem ersten besten Schiff zog er aus nach Amerika, ein ruheloser Mann.
Viele Jahre trieb er die verschiedensten Hantierungen; Straßenarbeiter war er und Steinklopfer, Hausierer, Handlungsreisender und Diener.
Nach zwölf Jahren erfuhr er vom Tode seiner Eltern. Die Osteria war verkauft. Er erbte einige tausend Lire. Nun eröffnete er ein eigenes Kolonialwarengeschäft. Es glückte ihm nicht. Sein Geld sickerte ihm durch die Finger. Wieder stand er mittellos wie einst auf der Straße.
Da nahm sich seiner ein deutscher Maler an. Es war ein echter Künstler mit einem weiten, warmen Herzen. Pietro blieb bei ihm als Diener und sah ihm so viel von seiner Kunst ab, daß er sich selbst darin zu versuchen begann. Der Maler hatte seine Freude daran, und für Pietro erschloß sich ein neues Leben.
Er blieb bei seinem gütigen Herrn, der ihm mehr ein Freund war. Sie durchstreiften auf langen Reisen Amerika, hielten sich in den verschiedensten Städten auf, und der Künstler sprach davon, den treuen Pietro zu seinem Erben zu machen. Ehe er an die Ausführung seines Testaments ging, ereilte ihn der Tod.
Nun war Pietro ganz und gar vereinsamt. Nur das Malgerät seines Freundes und Herrn durfte er sich aneignen. Wieder stand das Leben leer und öde vor ihm wie ein dunkles, fragendes Rätsel.
Da packte ihn die Sehnsucht wieder, in seine Heimat zu ziehen – nach dreiundzwanzig Jahren.
So saß er nun auf seinem Stein, dem einzigen Gegenstande, der im Wechsel der Zeiten der gleiche geblieben war – heimatlos, vereinsamt wie zuvor.
Mit einem schweren Seufzer stand er auf, faßte den Ranzen gleichgültig am Riemen und warf ihn[90] über den Rücken. Suchend schritt er die hohe Häuserreihe entlang. Wäschestücke flatterten melancholisch an Seilen über seinem Haupte. Aus den Fenstern eines weitläufigen Gebäudes schallte wüster Streit.
Behäbig stand der Schenkwirt in Weste und Hemdsärmeln an der Tür einer Osteria und horchte lachend zu den Schimpfreden empor, die wie abgeschossene giftige Pfeile aus zwei getrennten Fenstern desselben Hauses auf die Straße flogen.
Zwei wirre, ungekämmte, von Wut entstellte alte Weiberköpfe bogen sich heraus, jeder an seinem Fenster, und schimpften mit auserlesener Übung und Liebe zur Sache.
Zwischen ihnen lag ein geschlossenes Fenster. Die Sicherheit, daß die Streitenden nicht zueinander gelangen konnten, gab ihren Mienen und ihren Worten eine außerordentlich gesteigerte Ausdrucksfähigkeit.
Pietro schob sich an dem Schenkwirt vorüber in die dunkle Osteria und setzte sich an einen Tisch.
»Einen Salami und ein Viertel Chianti!« befahl er kurz.
Der Schenkwirt brachte das Geforderte und stellte sich neugierig vor ihm auf.
»Ihr seid wohl fremd hier?« begann er.
»So ziemlich.«
»So dacht' ich, denn sonst müßtet Ihr Eure Freude an dem Konzert da oben haben. Das geht nun schon seit fünf Jahren alle Tage so her. Ohne diese lebhafte Begrüßung hätten die alten Hexen keinen Appetit.«
»Worum handelt sich's denn?« fragte Pietro gleichgültig.
»Jeden Tag um etwas anderes. Heute hat die alte Carmela es gewagt, ihr Kamisol auf die Wäscheleine der Barbara zu hängen, und morgen behauptet Barbara, die Carmela hätt' ihren Liebsten, den Michele Punta, der vor dreißig Jahren nach Amerika ausgewandert ist, zu kapern versucht. Die Wahrheit ist, er war ein kluger Mann und ist seiner sanftmütigen Witwe beizeiten ausgerückt. Hätt' ich auch getan, an seiner Stelle. Ah, per bacco!«
Pietro verzog keine Miene. »Ist das Zimmer zwischen den beiden bösen Nachbarinnen zu vermieten?« fragte er.
»Jawohl. Da wird sich so bald keiner finden, der in die Höhle zieht. Zu beiden Seiten die täglichen Explosionen – tausend Dank! Von unten hört sich das ganz erfreulich an, aber so mitten drin – das ist kein Vergnügen!«
»Mir kommt's auf die Billigkeit an – ich bin taub und stumm, wenn ich will.«
So ward die Sache beschlossen und eingerichtet. Noch an demselben Tage bezog Pietro die einfenstrige Kammer zwischen den beiden feindlichen Gewalten.
Es war, wie er gesagt hatte. Er war taub und stumm. Die wütenden Reden der geifernden Weiber prallten ohne jegliche Wirkung an ihm ab und gingen über ihn hinweg wie Wellenschaum über Felsenklippen, selbst wenn er sein Fenster öffnete und gelassen hinausschaute. Seine Gegenwart schien im Gegenteil die Hexen zu ausgesucht tückischen und wortreichen Schmähungen zu entflammen.
Eine Woche hatte der Trödel nun schon gedauert – endlich riß auch Pietro die Geduld. In demselben Moment, da die Alten wieder einmal ihren[92] üblichen Morgengruß austauschten, die zusammengekrallten Finger erhoben und mit fletschenden Zähnen aufeinander losgeiferten – erhob Pietro, der sie bisher niemals beachtet hatte, gebieterisch seinen Zeigefinger, faßte sie nacheinander fest ins Auge und sprach: »Basta! Nun ist's aber genug. Wenn ihr nicht aufhört, werde ich euch das Schweigen schon beibringen.«
Starr vor Staunen fuhren sie einen Augenblick zurück, stürzten aber sofort gleichzeitig wieder hervor, beugten die Oberkörper weit zum Fenster hinaus, und schmetternder und wütender als zuvor erhob sich das ohrenzerreißende Gekeife – nun gegen ihn.
Ruhig blinzelte Pietro sie an, eine nach der anderen, dann stülpte er seinen Hut auf und wanderte an seinen Lieblingsplatz, den großen Stein.
Er zog ein Stück Kohle aus der Tasche und begann mit sicheren, festen Strichen auf der Steinfläche zu zeichnen.
Zwei geöffnete Fenster mit halb aufgeklappten Jalousien – aus jedem beugte sich ein alter Weiberkopf von grotesker Häßlichkeit. Die krummen Hände hielten beide wie Krallen gegeneinandergerichtet. Das dazwischenliegende Fenster war geschlossen.
Neugierig trat ein Vorüberwandernder nach dem anderen an den Stein und blieb stehen. Bald war eine ganze Gruppe versammelt. Ein Lachen ging durch den Kreis.
»Benissimo! Bravo! Die alten Hexen, wie aus der Kanone geschossen! Das leibhaftige Leben!«
Pietro sah sich nicht um. Schweigsam zeichnete er weiter und fügte neue Einzelheiten zu dem Gesamtbilde.
»I say!« klang eine näselnde Stimme. »That's well done!«
Ein Lirestück flog auf den Stein.
Bewundernd stand ein Engländer in kariertem grauen Anzug daneben.
Pietro schaute ihn düster an, dann schob er die Lire gleichmütig in die Tasche.
»Non capisco!« log er, rückte den Hut in den Nacken und trollte sich davon.
»A strange fellow!« murmelte der Brite.
Vergnügt und gestikulierend blieben die Italiener stehen und suchten ihm begreiflich zu machen, um was es sich handle.
»Aoh, I see! A funny chap!«
Damit ging er weiter. Der Stein aber blieb bis zum späten Abend der Sammelpunkt regen Interesses und heiterer Unterhaltung.
Als es zu dämmern begann – sah man die alte Carmela, ein schwarzes Schleiertuch über dem Haupt, sachte zu dem Stein hinschleichen und fünf Minuten später die Barbara.
Für sie war er ein Stein des Anstoßes geworden.
Stumm, gelb und bleich vor Entsetzen und Wut standen sie da, dann ergriff jede einen Rockzipfel und scheuerte keuchend über ihr eigenes Bildnis. Ein lautes Bravorufen schallte ihnen von der anderen Straßenseite entgegen, und flüchtig wie graue Gespenster huschten sie davon, jede in einer anderen Richtung.
Von nun an hatte Pietro seine Ruhe.
Aber zum monatlichen Zahlungstermin des Mietzinses stand ein großer Karren vor der Haustür,[94] drei langgespannte, hochbeinige Maultiere davor, und kunterbunt und einträchtig war das Hausgerät der beiden Feindinnen übereinandergeschichtet. Sie zogen beide friedlich aus, um ihre grausam gestörten Feindseligkeiten in einem anderen Hause einer anderen Straße wieder aufzunehmen. An einem lang andauernden erzwungenen Frieden wären beide erstickt.
Die längste Zeit seines Tages begann Pietro an seinem Stein zuzubringen. Die Erfahrung mit dem Engländer hatte ihm einen praktischen Gedanken eingegeben. Passierte irgend etwas Bemerkenswertes auf der Straße, gab's irgendwo Händel oder eine Schlägerei, oder zogen die Burschen mit ihren Mandolinen singend durch die Straßen – Pietros Kohlenstift wußte die Gestalten festzuhalten, und mancher Soldo flog als klingender Lohn auf seinen Stein.
Endlich begnügte er sich nicht mehr mit den schwarzen Kohlenzeichnungen. Er brachte bunte Pastellstifte mit hinunter und begann die Osteria seines Vaters hinzuwerfen, wie sie in der Erinnerung an seine Jugendjahre vor ihm stand. Es wurde eine schmerzlich süße Beschäftigung.
Die Unebenheiten der Steinfläche wußte er geschickt auszunutzen, hier nur mit ein paar Lichtern nachzuhelfen, dort den graubräunlichen Grundton stehen zu lassen. Lebendig wuchs das alte, zusammengesunkene Häuschen vor ihm auf, mit den grünen Jalousien, dem lichtdurchstrahlten Weinlaubengang und dem blauen Himmel darüber. Vorn auf der Bank die breite Gestalt des festen Trinkers Vincenzo und vor der Haustür – ein schlankes Weib im roten Rock, seine Mutter. Das Bildchen rief lebhafte Anerkennung hervor.
»Der versteht's« riefen bewundernde Stimmen, und mehrere Soldi rollten klappernd auf den Stein.
Aber es war niemand von den Alten da, die das Haus wiedererkannt hätten, und Pietro empfand seine Einsamkeit mit einem Gemisch von drückender Schwüle und wehmütiger Befreiung.
Sein Stein und er waren die einzigen Wissenden; sein Stein und er hatten sich allein etwas zu sagen.
Und aus der Tiefe seiner Seele quoll der Wunsch in ihm hervor, seinem Stein ein anderes geliebtes Bild aufzuprägen.
In feierlicher Stimmung begann er an einem stillen, heißen Sommertage die Züge Annunziatas in Pastellfarben auf den Stein zu zeichnen.
So wie sie damals vor dreiundzwanzig Jahren vor ihm gestanden, lieblich, berückend, mit grauen Madonnenaugen in dem schelmischen Elfengesicht.
Er gönnte seiner Seele diesen Feiertag. Wer wußte hier noch von ihr und ihm?
Es wurde kein Meisterwerk, aber sein Meisterwerk war's immerhin. Nie hatte er Besseres geschaffen. Sein Herz, sein Blut und seine Trauer hatten mitgemalt, und lebendig leuchtete ihm die Annunziata seiner Liebe aus der graubraunen Fläche des Steins entgegen.
Wie immer sammelten sich die Müßigen um den wunderlichen Gesellen.
Die freudige Neugierde, der zufriedene Stolz auf den Künstler und Landsmann machten sich in lauten Beifallsworten Luft.
Der einsame Pietro, er, in dessen verschlossene Seele kein anderer hineingeschaut hatte, er gehörte zu ihnen. Ihnen gehörte dieser Sonderling, den sie[96] nicht begriffen, dieser weltfremde Schweiger, so wie ihnen das stumme Vorgebirge Portofino gehörte, das blaue Meer und die stachligen Agaven. Ein Gewächs ihres schönen Landes war er wie sie. Wer fragte danach, warum das Meer so blau, warum Portofino so schön, warum die Agavenblätter so spitz und drohend aussahen wie Schwerter? Es war so, und daher nahm man die Dinge so, wie sie waren, die Dinge und die Menschen. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und einer Note von überlegenem, gutmütigem Spott.
Pietro Ferrari war der Ihre. Er war viele Jahre außer Landes gewesen. Er war in der Fremde geworden – was kümmerte das sie? Ob seine engere Heimat Genua gewesen oder Florenz – danach fragten sie nicht. Genug, er war Italiener.
Nun aber trat ein Genuese an den Stein heran und betrachtete das Bildnis lange.
»Per bacco!« sagte er, »das ist ja die schöne Signorina Maria Torresino, wie sie leibt und lebt! Die soll ja nächstens Hochzeit machen mit dem reichen Seidenfabrikanten Andrea Parrini aus Bergamo.«
Er warf ein blankes Zwanzigcentesimistück auf den Stein.
Pietro zuckte zusammen, aber er würdigte ihn keiner Antwort.
»Der, der den Pietro zum Reden bringt, wenn er nicht will, der muß noch erst geboren werden!« höhnte ein brauner, schmucker Bursche in Hemdsärmeln. »Das ist ein Schweiger aus eigenen Gnaden und ein Künstler dazu! Jeder Mann hat eben sein Vergnügen!«
Zu aller Erstaunen wendete Pietro sich um.
»Wo soll die Hochzeit sein und wann?« fragte er kurz.
Die Frage kam so unerwartet, daß alle ihn verblüfft anstarrten.
»Nun, übermorgen, im Lorenzodome. Halb Genua spricht ja davon. Hoch soll's hergehen dabei. Wie schön die Braut ist, davon redet ja sogar Euer Stein! Das brauche ich Euch nicht erst zu sagen.«
Schweigsam packte Pietro seine Pastellstifte zusammen. Dann fuhr er mit dem Ärmel gleichmütig über das blühende Antlitz, und in eine unkenntliche, farbenreiche Masse aufgelöst, starrte ihm sein zerstörtes Werk entgegen. Er wandte sich zum Gehen.
Ein einziger Laut des Bedauerns ging durch die Reihen.
Pfiffig zwinkerte der Genuese mit den Augen.
»Solche Künstlergrillen haben ihre Geschichte,« flüsterte er. »Ich wette, euer seltsamer Maler hat sein Herz an die schöne Maria Torresino verloren!«
»Dann muß er ein Genuese sein!«
»Nein, er stammt hier aus Quinto. Das weiß ich von dem alten Eisenwarenhändler Philippo – der will ihn sogar erkannt haben.«
»Wie, der alte Maulwurf mit seinen triefenden, halb blinden Augen?«
»Vor dreiundzwanzig Jahren soll der Pietro ein schöner Bursch gewesen sein!«
»Dreiundzwanzig Jahre! Das ist eine lange Zeit!«
»Nun freilich. Aber einen Maler Pietro Ferrari hat's damals hier nicht gegeben.«
»Wenn Euch die Sache keine Ruhe läßt, so geht doch selber zu ihm hin und fragt ihn.«
So schwirrten die Reden und Gegenreden durcheinander. Pietro war schon längst in seiner Stube und starrte trübsinnig vor sich hin. Was gingen ihn all die schwatzenden Leute an? Er sehnte sich nach seinem Stein und dem verlorenen Bildnis seiner Annunziata.
Maria Torresino – das also war ihre Tochter.
Er mußte sie sehen. Er mußte.
In aller Frühe, noch ehe der glühende Sonnenball über das Vorgebirge Portofino hervorschaute, wanderte er am nächsten Morgen nach Genua.
Zwecklos trieb er sich in den lärmenden Straßen umher. Aber am folgenden Tage fand er sich im Lorenzodome ein.
Er sah sie wieder. Seine Annunziata, verjüngt, verklärt in dem Bilde der wunderschönen, lieblichen Braut Maria Torresino.
Seine Annunziata aber erkannte er nicht wieder. Eine dicke, gemächliche Frau, laut und aufdringlich in Stimme, Kleidung und Bewegungen. Und er sah Maria Torresino als Maria Parrini über die breiten marmornen Kirchenfliesen zurückgehen – nein, Annunziata, noch immer seine Annunziata …
Und alles, was vom Künstler und vom einsamen, um sein Glück betrogenen Menschen in ihm war, schrie auf und heftete sich in einem langen, verzehrenden, glühenden Blick an ihre Züge.
Sie hatte er gemalt. So ähnlich war sie ihrer Mutter. Sie war die Sehnsucht seines Lebens gewesen! Zurück – zurück zu seinem Stein!
Dort mußte sie wieder auferstehen …
Ärmer denn je, verlassener denn zuvor – nur sein Stein, sein Stein, der stumme Gefährte all seiner[99] verschwiegenen Bitternisse, der Wissende, der einzige Freund – zu ihm zurück!
Er lief mehr als er ging, die Landstraße entlang. Brütende Mittagglut über dem blauen, schillernden Meer. Rasselnde Fuhrwerke hüllten ihn in Wolken von Staub. Der Schweiß troff in Strömen von seiner Stirn. Er achtete es nicht. Zurück zu seinem Stein!
Er allein war Heimat ihm und Freund, er allein gab Nahrung ihm und Arbeit, gab ihm die wehmütig-trübe Freude der Erinnerung.
Sein Stein!
Vor Pietro tauchten die ersten Häuser Quintos auf. Erschöpft verlangsamte er seine Schritte.
Wie nach langer, mühseliger Lebenswanderung fühlte er sich von den wenigen Meilen entkräftet und zerschlagen.
Schon sah er die beiden gegabelten Straßen, die nach dem nahen Nervi führen. Dort, wo die Wege zusammentrafen, stand eine lärmende Menschengruppe.
Er hatte doch nichts Neues auf seinen Stein zeichnen können, weshalb wären denn die vielen Menschen da? War ihm jemand im Zeichnen zuvorgekommen?
Mit erzwungener Gemessenheit schob er sich heran.
Da blieb er stehen, als hätte ihn ein Schlag vor den Kopf getroffen. Bleich wie Kreide stand er da und blinzelte hastig und unsicher mit den geröteten Lidern.
Um der Barmherzigkeit willen – was war geschehen? Wo war denn sein Stein?
Ein tief eingedrücktes Viereck im harten, trockenen Erdboden war die einzige Spur seines letzten Freundes.
Wo war sein Stein hin …?
Ratlos, benommen stierte Pietro nach dem leeren Platz. War er verhext?
»Wo … wo ist …?«
Heiser und kraftlos gurgelte er die wenigen Worte hervor. Er wies auf die leere Stelle.
»Ah, der Alte da – das war harte Arbeit – einen Riß hat er beim Heben davongetragen. Angekauft ist der Platz zum Hausbau. Den Stein hat man soeben fortgeschafft – ins Meer soll er, ist ja zu nichts mehr gut.«
Pietro atmete kurz und schwer. Ein Schwindel wirbelte ihm alle Dinge wild im Kreise. Häuser, Menschen tanzten auf und nieder, hin und her.
»Mein Stein …« sagte er nur mechanisch vor sich hin, »mein Stein …«
Rasch eilte er die untere der Parallelstraßen entlang. Dort um die Ecke bog ein schwerer, zweiräderiger Karren, von fünf Maultieren langsam fortbewegt. Darauf sah er seinen Stein.
Atemlos rannte er ihm nach. Unbarmherzig hieben die Lastfuhrleute auf die müden Tiere ein. »J–uh! J–uh!« tönte es aufmunternd aus drei rauhen Kehlen.
Pietro hielt seinen Stein mit beiden Armen umklammert. »Nicht ins Meer,« bettelte er mit zerbrochenem Ton, »nicht ins Meer … den Stein!«
Die Treiber sahen den wunderlichen Gesellen an.
»Das ist so Befehl vom Syndako,« sagte einer gleichmütig. »Fortgeschafft soll er werden.«
Und weiter mit »J–uh! J–uh!« karrte der hochräderige Wagen.
Betäubt, zerbrochen folgte Pietro dem Fuhrwerk. So war es gewesen, als man seinen Herrn begrub.
Das Letzte hatte man ihm genommen. Das Allerletzte.
Am Klippenstrand von Nervi, dort, wo ein vormaliger Sarazenenturm trotzig aufragt, steht jetzt ein Frauenkloster, die letzte Zuflucht der aus Frankreich vertriebenen grauen Schwestern.
Still und lüstern funkelte tief unten das blaue Meer …
Auf den äußersten Vorsprung dieser mächtigen, graubraunen Klippen lenkte man das Fuhrwerk.
Still standen die geduldigen Maultiere – wie aus Stahl gegossen.
»Uno momento – – avanti!«
Wie zwei Säulen durchschnitten die Fehmerstangen des Karrens plötzlich die mittagsblaue Luft – der Karren kippte – mit dröhnendem Krachen sauste Pietros Stein hinein in die azurblaue Tiefe.
Weit beugte sich Pietro vor. In dem glasklaren Wasser von tiefsmaragdenem Grün sah er seinen einzigen Freund.
»Ecco! Basta!« rief einer der Maultiertreiber.
Und wieder über den knirschenden Kies knarrte das leere Fuhrwerk weiter – –
Pietros Leben hatte allen Inhalt verloren. Auf einem anderen Stein konnte er nicht zeichnen – es war ja nicht sein Stein.
Verstört und ruhelos schlich er in den Straßen umher. Die Leute beobachteten ihn scheu.
»Es ist nicht richtig mit ihm!« flüsterten sie.
»Wie er an dem alten Stein hing!«
»Nie war er ein Mensch unter Menschen!«
»Was redet ihr da? Ein Stein ist er unter Steinen, und zu den Steinen gehört er auch hin …«
Pietro hatte die letzten seltsamen Worte gesprochen, düster, mit bitterem Grimm.
Betreten wichen sie zurück.
Und eine Woche später war er verschwunden.
Man suchte ihn vergebens. War er verunglückt? Niemand wußte es zu sagen. Vielleicht war er von den schlüpfrigen Felsenklippen hinabgeglitten … denn immer wieder hatte es ihn zu seinem Stein getrieben.
In seiner Kammer fand sich kein Bissen Brot, kein einziger Soldo – nichts außer dem Malgerät und ein paar Kleidungsstücken.
Trübe schüttelte der Schenkwirt das Haupt.
»Mich dünkt, er war ein Mensch unter Steinen!« sprach er gedankenvoll.
Ende.
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Hirschberg-Jura, Hans im Glück. 4666/67.
Höcker, Leichtsinniges Volk. 3212.
Hochstetter, Die Tafeln im Walde u. and. Feld-, Wald- und Wiesengeschichten. 4894.
Holzamer, Der Held und andere Novellen. 5200. Geb. 60 Pf.
Hopfen, Böswirt. 4400. Geb. 60 Pf.
–, Mein Onkel Don Juan. 4541–44. Geb. M. 1.20.
Jensen, Die Erbin von Helmstede. 4421–23. Geb. M. 1.
–, Hunnenblut. 3000. Geb. 60 Pf.
Junghans, Wisel. – Das Gelübde. 4981.
Kleinecke, Bergbauern und Stadtleut'. 4196.
Kretzer, Der Baßgeiger. 3207.
Krickeberg, Die Krähe und andere Novellen. 5250.
–, Überflüssig. – Der Häßliche. 3945.
Kröger, Wohnung d. Glücks. 4570. Geb. 60 Pf.
Land, Ja – die Liebe! und andere Novellen. 5330. Geb. 60 Pf.
Lingg, Byzantinische Novellen. 3600. Geb. 60 Pf.
Lorm, Gabriel Solmar. 732–35.
Mackay, Die letzte Pflicht u. Albert Schnells Untergang. 5236/37. Geb. 80 Pf.
Milow, Novellen. 5005. Geb. 60 Pf.
Muellenbach, Waldmann u. Zampa u. and. Nov. 4500. Geb. 60 Pf.
Olden, Eine brillante Idee. – Die Versöhnung. 4496.
Ortmann, Der Teufelswalzer und sieben andere Novellen. 4428.
Perfall, Die Uhr. 4130.
–, Das verlorene Paradies. 4801/2.
–, Dämon Ruhm. Roman. 5317–20. Geb. Mk. 1.20.
Peschkau, Am Abgrund. 2219.
–, Moderne Probleme. 3440.
–, Suzons Ende. 5112.
Pötzl, Hoch vom Kahlenberg. 3844. 3888. 3905. Geb. M. 1.
–, Die Leute von Wien. 2629/30. Geb. 80 Pf.
–, Der Herr von Nigerl u. a. humor. Skizzen. 3005/6. Geb. 80 Pf.
–, Wien. 2065. 2101. 2169.
Presber, Das Eichhorn und and. Satiren. 4715. Geb. 60 Pf.
–, Der Untermensch und andere Satiren. 4688. Geb. 60 Pf.
Proelß, Modelle. 4169/70.
Raabe, Zum wilden Mann. 2000. Geb. 60 Pf.
Reichenbach, Oberschlesische Dorfgeschichten. 4240.
Resa, Mein erster Freier u. a. H. 3708.
Reuter, Gabriele, Eines Toten Wiederkehr und andere Novellen. 5001. Geb. 60 Pf.
Roberts, Um den Namen. 4249/50. Geb. 80 Pf.
Rosegger, Geschichten und Gestalten a. den Alpen. 4000. Geb. 60 Pf.
Rüttenauer, Sommerfarben. 2499.
Schanz, Frida, Wolken. 4959/60. Geb. 80 Pf.
Schnitzer, Wunderliche Lebensläufe. 5255.
Schönthan, Fr., Der General. 4444. Geb. 60 Pf.
Schwarzkopf, Der Magier u. and. Satiren und Skizzen. 4957.
Skowronnek, Fr., Garbata. – Der Kawaljer. 5131.
Spielhagen, Alles fließt. 4270. Geb. 60 Pf.
–, Dorfkokette. 4100. Geb. 60 Pf.
–, Was die Schwalbe sang. 4138–4140. Geb. M. 1.
Stern, Gluck in Versailles. – Nanon. 4960. Geb. 60 Pf.
–, Die Wiedertäufer. 1625.
Telmann, Unheilbar. 3750.
Torrund, Weiße Narzissen und and. Novellen. 4540.
–, Sein Herzenskind. 4950. Geb. 60 Pf.
Trinius, Miß Annie und andere Geschichten. 3850.
Villinger, Die Sünde des heiligen Johannes und andere Novellen. 4900. Geb. 60 Pf.
Voß, Amata. – Liebesopfer. 5324. Geb. 60 Pf.
–, Maria Botti. 1706.
–, Narzissenzauber. – Das Wunderbare. 4991. Geb. 60 Pf.
–, Rolla. 5221–24. Geb. M. 1.20.
Weiser, Ein genialer Kerl. 3400.
Westkirch, Diebe. 3800. Geb. 60 Pf.
–, Gletschermühle. 4786. Geb. 60 Pf.
–, Junker Freds Roman. 4727.
Wichert, Ein Komödiant. 3878.
–, Am Strande. 1227. Geb. 60 Pf.
Wichmann, Die Parze. 4501.
Wildberg, Dunkle Geschichten. 5160. Geb. 60 Pf.
Zobeltitz, König Pharaos Tochter u. and. Novellen. 4200. Geb. 60 Pf.
–, Das Brett des Karneades. 4311.
End of the Project Gutenberg EBook of Der Silbergarten. Der Stein des Pietro., by Frances Külpe *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SILBERGARTEN. DER STEIN *** ***** This file should be named 59613-h.htm or 59613-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/9/6/1/59613/ Produced by The Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. 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