The Project Gutenberg eBook, J’accuse, by Max Brausewetter

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Title: J’accuse

Zwei Jahre in französischer Gefangenschaft

Author: Max Brausewetter

Release Date: July 23, 2016 [eBook #52633]

Language: German

Character set encoding: UTF-8

***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK J’ACCUSE***

 

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Anmerkung zur Transkription

Antiquaschrift wird kursiv wiedergegeben, Passagen in gesperrter Schrift erscheinen in Fettdruck.

 


J’accuse

(Ich klage an)

Zwei Jahre in französischer Gefangenschaft

von

Max Brausewetter

Stabsarzt a. D.

Verlagssignet

1918

Verlag Bruno Cassirer, Berlin

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Abschrift

des

Tagebuches

[S. 2]

Inhalt

Wo warst Du? 2
Château d’If 3
Frioul I 28
Frioul II 39
III Casabianda 57
Kerker in Casabianda 104
Uzès 113
Weihnachten 121
Nachspiele von Casabianda 124
Meine Anerkennung als Offizier 129

Wo warst Du?

Einstellen aller Fehden,
Befehl, Gewehr in Ruh!
Nun, Deutschland, frage jeden
Das eine: Wo warst du?
Hast du den Ruf vernommen
Vom heil’gen Deutschen Reich?
Bist du zurückgekommen,
Und kamst du alsogleich?
Uns hat ein Heimatkünden
Wie Schreckensruf gejagt,
Der Weg war schwer zu finden,
Wir haben ihn gewagt — — —
Und dann in Kerkermauern
Den falschen Weg gebüßt,
Doch ohne Reu und Trauern,
Weil wir es so gemüßt. —
Wag’ einer, uns zu schmälen,
Weh dem, der unser spott’!
Den Weg galt’s uns zu wählen,
Wohin er führte, Gott. —
Wir haben schwer gelitten,
Daß noch das Inn’re brennt,
So wie wir keinem Dritten
Zu leiden je gegönnt.
Eh’ wer uns höhnend stelle,
Ballt uns’re Faust sich zu:
Auf Widerfrag’, Geselle,
Sag’ an: Wo, wie warst du?

[S. 3]

Es war eine klägliche Rolle, die mir im Weltkriege 1914 zufiel, ich hatte mir alles so anders gedacht, als ich auf den ersten Kriegsruf hin von Malaga nach Barcelona fuhr, mich zu stellen. Zweimal machte ich die Fahrt, war inzwischen auch in Valencia, um dort einen Weg nach der schwerbedrohten Heimat zu suchen. Die Würfel fielen ungleich. Während einige von uns mit gutem Glück nach Genua gelangten, wurden wir trotz der Zusicherung, die wir von der deutschen, französischen und spanischen Regierung erhielten, in Marseille gefangengenommen und zur Untätigkeit rettungslos verdammt. Wenn mir je ein Wort Goethes Trost gewesen, so war es in dieser trostlosen Zeit Fausts Mahnung an den Menschen: Er stehe fest und sehe hier sich um, dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Dieses weltumfassende Wort verkleinerte ich mir für meine augenblickliche Lage so: Nicht jedem ist es vergönnt, in so gewaltiger Zeit da zu stehen, wo der Tod oder das E. K. winkt. Auch andere Posten verteilt das eherne Kriegsgesetz, und wen es auf minderwertigen gestellt, von dem fordert es gleiche Hingabe wie vom Vorposten. Fest soll er stehen und sich umsehen, dem Tüchtigen weist auch geringe Stellung seine Aufgabe, und ein Zusammenarbeiten aller erfordert so ernste Zeit. So lernte ich mich bescheiden und gewöhnte mich daran, dem Kasernenton französischer Korporale zu gehorchen und die hämische Behandlung unserer Vorgesetzten zu ertragen, unter der wir mehr litten, als unter schlechter Behausung und Ernährung. Ich suchte[S. 4] meinen Anteil am Kriege zu gewinnen, so klein er sei, und es ist mir oft gelungen, nicht immer.

Was ich bringe, ist wahr, mag es auch romanhaft klingen. Alle Briefe sind authentische Kopien, mit Ausnahme der Briefe an meine Frau, welche nur meinem Bedürfnis Rechnung trugen, mich ihr mitzuteilen, die ebenso litt wie ich. Sie hätten natürlich in dieser Form die Zensur nie passiert. So mag das Buch von seelischen und körperlichen Leiden erzählen. Es bringt davon vielleicht mehr, als sonst Gefangene erduldet haben; es mag auch berichten von einer Auferstehung unserer selbst, die viele, nicht alle, feiern durften.

Da unsere Beglaubigungen, die der Sisterleute, in Bausch und Bogen gemacht sind, bringe ich diejenigen zur Veröffentlichung, mit welchen versehen zwei Herren, auf demselben Wege wie wir, drei Wochen später unser Schicksal zu teilen gezwungen wurden. Die beiden Herren, Herr Müller und Herr Weißschedel, trugen folgendes Schriftstück in spanischer und französischer Sprache und amtlich beglaubigt bei sich:

Staatsministerium: Als Resultat der vom Staatsministerium bei Empfang der Verbalnote der deutschen Gesandtschaft vom 24. August d. J. unternommenen Schritte, gibt die Regierung der französischen Republik die Zusicherung, daß die deutschen Untertanen — Nichtkombattanten —, welche, von Barcelona kommend, auf der Heimreise einen französischen Hafen berühren und mit einem Ausweis des deutschen Generalkonsulats, der vom Zivilgouverneur von Barcelona visiert ist, versehen sind, weder angehalten noch belästigt werden sollen. San Sebastian, 28. August 1914.

In den ersten Morgenstunden des 24. August fuhren wir auf dem spanischen Schiff „Sister“ an den Inseln „Château d’If“ und „Frioul“ vorüber in den Hafen von Marseille, von wo wir, nach kurzem Aufenthalt, nach Genua sollten. Die Gestalt der durch[S. 5] Dumas Grafen von Monte Christo, genugsam bekannten Insel in der fahlen Dämmerbeleuchtung reizte uns zur üblichen Unterhaltung. Wir ahnten nicht, wie tief wir in die Geheimnisse der sagenumsponnenen Ruine eindringen sollten. Aber der Anblick allein warf seine Schatten voraus. Es ging wie ein banges Ahnen durch unsere Reihen, und die frohe Stimmung des gestrigen Abends wollte nicht mehr aufkommen. Wir verloren an dem bedrückenden Morgen mehr und mehr die Zuversicht, und wie ein Alpdruck legte sich langsam die Erkenntnis unserer Lage auf uns. Nachmittags war es bestimmt: 72 Männer, also fast alle, gleichviel ob sie über 45 Jahre, ob sie Invaliden, Aerzte oder Priester waren, wurden zu Kriegsgefangenen der französischen Republik gemacht. Wehrlos mußten wir den Bajonetten der französischen Soldaten gehorchen, und nach einem kurzen und würdigen Abschied von den Unseren — ich reiste mit meiner Frau und meiner 16jährigen Tochter — wurden wir aufs Ponton kommandiert, von Bajonetten umschlossen, und fuhren, zuerst von dem erschütternden Jammern der Unseren, dann von dem Johlen und Kreischen der Marseiller Weiber: à bas! à bas! à la mer! à la mer! begleitet nach Château d’If. —

Wir langten etwa um 4½ Uhr nachmittags an der Landungsbrücke an, mußten unsere Koffer usw. bis nach oben zum Platze, der das eigentliche Château umgibt, tragen, dann kam die Revision des Gepäcks auf Waffen, Ferngläser und photographische Apparate, eine Untersuchung, die sich in der Zeit unserer Gefangenschaft noch bis zum Ueberdruß wiederholen sollte. Dann waren wir für einige Zeit uns selber überlassen. Wenn man mir mit einer Keule über den Kopf geschlagen hätte, mir wäre, glaube ich, nicht übler zumute gewesen, als diesen Nachmittag. Der Major, welcher uns auf dem Schiffe gefangennahm, hatte so freundlich meiner Frau versichert: „Seien Sie ganz unbesorgt, Ihr Herr Gemahl wird es gut haben, gutes Bett, gutes Essen, gerade wie zu Hause.“ Er hatte das so treuherzig versichert, und wir kannten damals die hämische Art unserer Quäler noch nicht. Nun standen mein Freund[S. 6] Moritz und ich vor den öden Mauern der Burgruine, durch deren vergitterte Fensterhöhlen die untergehende Sonne kümmerlichen Weg suchte. Wir sahen erstaunt einander an und unsere blöden Gesichter fragten: „Soll das die standesgemäße Unterkunft für uns bedeuten?“ Gegenüber vom Kastell lag ein Café für Sonntagsbesucher; der Preis für Erfrischungen war noch aufgeschrieben, aber die Wirtschaft war außer Betrieb gesetzt. Senkrecht dazu die Kantine, welche uns ihre Räume heimlich öffnete und uns, die wir den ganzen Tag nichts genossen, etwas Speise und Trank verabreichte. Vergebens spähte unser Auge nach einem kasernenartigen Gebäude, das uns wenigstens gefensterte Räume, die durch Türen zu schließen waren, geboten hätte. Man ließ uns keine Zeit zu solchen nichtswürdigen Betrachtungen. Château d’If öffnete sein Kerkertor, nachdem wir je 2 und 2 Mann mit einer Strohmatratze beladen waren, und schloß sich hinter uns. Wir suchten ermüdet Raum, wo wir ihn fanden, uns zu betten, und die kleinen Schlafgesellen, die wir von nun an nie mehr ganz entbehrten, hätten uns kaum erweckt, wenn nicht ein französischer Offizier diese Aufgabe übernommen hätte, wohl in der löblichen Absicht, uns daran zu gewöhnen, daß wir in Frankreich nicht auf Rosen gebettet seien. Wie einer nächtlichen Vision erinnere ich mich dieses Besuches. Das Geisterzimmer plötzlich blendend hell, durch Fackeln erleuchtet, blitzende Uniformen, grell leuchtende Bajonette, ein kurzer Befehl, vier Hände rissen eine Matratze mit rasender Geschwindigkeit an sich, deren schlaftrunkene Inhaber zu einem kunstvollen Saltomortale gezwungen wurden. Aufschlagen, wie von gebrochenen Leibern, Abmarsch der Sieger, leises Wimmern der Besiegten, tiefe Dunkelheit und Ruhe. — Wir hatten es eben ganz wie zu Hause. — — — Am nächsten Morgen erwachten wir beim ersten Grauen des Tages. Es lag eine bleierne Schwere auf uns, die in tiefem Schweigen Ausdruck fand. Was einer dem anderen mitzuteilen, was er ihn zu fragen hatte, das tat er in geheimnisvoll erwartendem Tone. Ich denke mir, so müssen die Gefangenen in[S. 7] der Bastille miteinander gesprochen haben, und es erinnert mich an die Darstellung von Hanneles Himmelfahrt im Schauspielhause, als beim toten Hannele die Leidtragenden vorüberdefilieren und sich ihre Beobachtungen mit Grabesstimme zuraunen. Die Sonne stieg höher und noch öffneten sich die Kerkertore nicht. So machten wir uns schnellere Bewegung, wie die Engländer auf dem Schiffsdeck, und die Szene wurde lebhafter. Wir konnten durchaus Anspruch darauf machen, mit den Gefangenen damaliger Zeit verglichen zu werden, denn unsere Gesellschaft war recht bunt zusammengesetzt und bestand zum großen Teil aus Geistlichen und Gelehrten. Wir zählten 10 geistliche Herren und 12 des Gelehrtenstandes unter 72. Außerdem Kaufleute, Farmer, gewesene Offiziere usw. Gleiches Leid führt leicht zusammen, und so begannen wir, uns einander zu nähern und die ersten Meinungen über das Schicksal auszutauschen, das uns bevorstand. Da stießen wunderbare Optimisten gegen ebenso gewaltige Pessimisten. Von der Freilassung heute, morgen, ging es sprungweise zum Kriegsgericht, zur Füsillade. Im Grunde konnte jeder recht haben, und das sollten wir später mehr und mehr einsehen, vielleicht gerade der, welcher am wenigsten logisch deduzierte, denn wir waren von heute an Gefangene im großen Frankreich, dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Ueber Denken und Erwägen richtet die Metze Fortuna. — Von 5 Uhr morgens bis 10 Uhr ist eine lange Zeit für den, welcher es nicht gewohnt ist, mit der Sonne sich zu erheben, und so schienen die Stunden unendlich langsam zu vergehen.

Um 10 Uhr begann unser Sträflingsleben. Wir wurden etwa eingekleidet, der Arzt erschien, ein freundlicher, grauer Herr, der nach geruhigem Familienleben und behaglichen Mahlzeiten aussah. Der Uniformrock stand ihm schlecht. Er trat uns mit Worten wohlwollend entgegen, sonst ging er weder im positiven noch im negativen Sinne über den Nullpunkt hinaus. Die ausgestreckte Zunge wurde meist recht gut befunden und blieb maßgebend[S. 8] für Lungen-, Leber-, Nieren- oder sonstige Leiden. Darüber hinaus erstreckte sich die Untersuchungskunst nicht, und nachdem er unsere Zuchthausfähigkeit im allgemeinen festgestellt hatte, enteilte der Brave froh getröstet zum heimischen Frühstück. Eine Ahnung sagte uns, daß wir doch wohl länger als die Optimisten hofften, beieinander bleiben dürften, und wir beschlossen, uns zu organisieren, um allen an uns herantretenden Fragen einig entgegentreten zu können. Und das war gut, es hat uns in Château d’If eine relativ selbständige Stellung gegeben, die wir später nie mehr gekannt haben. Auf den Vorschlag der Patres wurde ich zum Präsidenten gewählt und auf meinen Vorschlag die Herren Dr. theol. Franz Beyer, der Grazer Kanzelredner, und Leutnant a. D. Kurt Schmidt aus Las Palmas als Beisitzer. Als unser Dolmetscher wurde Herr Peter Klein aus Saarburg-Lothringen gewählt, ein Herr, der aus französischer Abstammung im Herzen französisch war, dem aber meine Gefährten und ich das Zeugnis ausstellen können, daß er, solange er an unserer Seite wirkte, uns ein treuer und ehrlicher Kamerad gewesen ist. Ich betone das schon hier, weil er leider zu den ganz wenigen Ausnahmen in unseren schweren Erfahrungen gehört, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben. Und da ich von lobenswerten Ausnahmen spreche und unsere Leidenszeit daran so jämmerlich arm war, so will ich gleich hier unseres aufsichtführenden Sergeanten gedenken. Er war ein Mann aus einfachem Stande, von ehrlicher und vornehmer Denkungsart, von ernstem Wohlwollen gegen uns, die wir ihm unterstellt waren. Wir haben ihn als einzigen Vorgesetzten kennengelernt, den wir voll und ganz achten konnten. Ganz besonders hoch sei es ihm angerechnet, daß er deutsche Patrioten höher schätzte als deutsche Verräter und demgemäß handelte. Er ist der einzige dieser Kategorie geblieben. — Wir hatten Muße genug, unser Gefängnis von außen und innen zu betrachten, da wir zwei Stunden auf dem Platze spazierengehen durften, wo wir zugleich unsere erste Atzung: Kohlsuppe, Brot und ein Stück Wurst, erhielten. Der Hunger sugge[S. 9]rierte uns ein köstliches Mahl, und wir äußerten uns gegenseitig sehr befriedigt über die schmackhafte Kohlsuppe. Dann ging’s in geordnetem Zuge zurück über die Brücke, zu zwei und zwei geordnet, um besser gezählt zu werden, was selten beim ersten Male ganz gelang. Die Pforte schloß sich knarrend hinter uns, und als ich sie sinnend von innen betrachtete, fiel mir zum ersten Male die große Inschrift auf dem Torbogen auf: Hotel du peuple souverain. Nun wußte ich, wo ich geborgen war. Nichts ist mir im Leben so zuwider gewesen, wie der souveräne Pöbel, von dessen Herrschaft Château d’If so prächtig Zeugnis ablegt. Dessen Zwangsgast also war ich geworden. — Wenden wir uns vom Eingang nach rechts, so stoßen wir auf ein großes Tor, welches in einen weiten und wüsten Raum führt, der uns einen geradezu unheimlichen Eindruck machte. Die Wände waren feucht und modrig, Gestank erfüllte die Luft, der Fußboden bestand aus trockenem und feuchtem Lehm, Staub, Abfällen von Lumpen und Kot. Dieser Raum erschien uns, so sehr wir unsere Ansprüche auf das Mindestmaß herabgesetzt hatten, kaum für Hunde bewohnbar.

Dieses Gefängnis sollte in kurzem Grund zu einer tragikomischen Szene geben, und Grauen sollte ihm folgen. Der innere Längsraum verlängerte sich noch zu einem Querraum, dieser stieß — verbunden durch eine Tür — an den durch Dumas berühmt gewordenen Danteschen Kerker.

Ob Dumas aus reiner Phantasie geschöpft hat, weiß ich nicht, einiges scheint wahr zu sein, oder wird heute noch geglaubt. Die Verbindung zwischen dem Kerker Edmond Dantes, des künftigen Grafen von Monte Christo, und dem des Abbé Faria durch ein ziemlich bedeutendes Mauerloch besteht noch. Wir haben sie des öfteren und genau beleuchtet. Fürwahr, genug Elend ist geschichtlich wie sagenhaft in den wenigen Räumen aufgespeichert, und man darf sich nicht wundern, wenn unseren erregten Sinnen sich manche der bleichen Gestalten belebten. Wußten wir, was Frankreich mit uns vorhatte?

[S. 10]

Aber der obere Raum bietet der Phantasie noch größeren Spielraum, und der war uns vorläufig als Wohnraum bestimmt. Eine Treppe führt vom unteren Brunnenhof auf die obere Galerie, welche die dort befindlichen Kerkerräume verbindet. Wenden wir uns von der Treppe gleich nach links, so kommen wir zum Kerker des Abbé Peretti, welches nun unseren Priestern Wohnung bieten sollte.

Dann folgte das Zimmer der eisernen Maske, die wieder Dumas zu einem Roman gereizt hat. Die Inschrift des Nebenraumes lautet: Kerker Louis Philipps von Orleans, genannt Philipp Egalité! Dann kam die Zelle, die mir für die nächste Zeit Herberge gewähren sollte, und die wenigstens insofern bevorzugt war, als in sie, wie die Inschrift besagte, ein Glücklicher seinen Einzug gehalten hatte: In diesem Raum wurde der einbalsamierte Leichnam des Generals Kleber nach seiner Ueberführung aus Aegypten im Jahre 1806 aufgebahrt. Die Beisetzungsfeierlichkeiten haben in seiner Vaterstadt Straßburg stattgefunden. Es war das einer der angenehmsten Räume. Ein weiteres Zimmer war der Kerker des Verräters Prinzen Casimir, Bruder des Königs von Polen, Ladislaus XVII., der sich gegen Frankreich mit den Spaniern verbündete. Mir ist das Zimmer des Verräters später das behaglichste geworden, das ich in Château d’If fand, soweit von Behaglichkeit auch nur annähernd die Rede sein kann. Dem folgten die finsteren und geheimnisvolleren Räume. Es blieb noch ein letzter trostloser Raum, oder vielmehr waren es ihrer zwei, klein, abgeschlossen von allem, was Leben in dieser Ruine heißen durfte. Einer stockfinster, der andere, daran grenzend, halbfinster. Es knüpft sich auch an diesen Raum eine humoristische Erinnerung. Als wir aus unseren Zellen einige Wochen nach unserer ersten Besitznahme vertrieben waren, suchten Schmidt, Moritz, Bonitz und ich einen Raum, wo wir uns vor der Unmenge von Ungeziefer und Unrat wehren konnten, und fanden endlich diesen. Wir waren schon glücklich, ihn gemeinsam und eng geschlossen bewohnen zu dürfen,[S. 11] nachdem wir die nötigsten Ausbesserungen selber besorgt hatten, und baten unseren braven Sergeanten Bonel um die Erlaubnis, ihn uns anzuweisen, die er aber streng verweigerte, wohl weil höherer Befehl ihm verboten hatte, so kostbare Wohnräume an uns abzugeben. Um unsere Bescheidenheit zu beweisen, bringe ich hier die Inschrift, die über diesen beiden Dunkelräumen prangte, die uns so begehrenswert erschienen: Gefängnis der zum Tode Verurteilten. Der brave Sergeant hatte auch Humor bewahrt, denn gleich darauf überließ er uns das immerhin bessere Casimirgefängnis. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf zum Mauggouvertturm mit flachem Dache, der einen wunderbaren Ausblick auf Marseille, Frioul und das offene Meer bot, leider aber die unangenehme Eigenschaft hatte, daß die köstlich reine Meerluft durch Abortdünste stark gefälscht wurde. Oben befand sich noch ein großer runder geschlossener Kuppelraum, in dem später neue Gefangene einquartiert wurden. Unten im Erdgeschoß war der große Ziehbrunnen, welcher uns hygienisch noch viel zu schaffen machen sollte. Weiter bot das Château noch drei große Räume, welche nicht von der Hauptpforte zugängig waren und eigene Türen nach draußen hatten: Es waren das zwei beiderseits gleichliegende und gleich große Kuppelräume im Erdgeschoß, deren einer uns bald als Hospital diente und ein dritter, der Donjon, in welchem die Hinrichtungen vollzogen wurden. Wenn nun auch durch die Freundlichkeit unseres Sergeanten schon am nächsten Tage Wandel geschaffen wurde in unserer Freiheitsbeschränkung, und unsere Lage sich in dieser Beziehung von Tag zu Tag besserte, so war doch unsere Ernährung ganz minderwertig und entsprach nicht im entferntesten dem, was wir gewohnt waren. Wir litten bald durch eine Unterernährung beträchtlich, die wir im Anfang für gering achteten, als unser Körper noch genug Widerstand bot. Wir Sisterleute waren zum größten Teil aus gesellschaftlichen Klassen, die an ein gewisses Wohlleben, und sei es in einfachsten Grenzen, gewöhnt waren. Was uns jetzt geboten war, stand in Quantität und[S. 12] Qualität weit unter dem, was der Körper forderte. Der täglichen Kohlsuppe wurden wir zum Speien überdrüssig, und als Zugabe immer ein Stück fetter und harter Knoblauchwurst verbesserte die Verdauung nicht. Ich fing bald an, meine Kameraden auf das eindringlichste zu warnen, ja nicht einer gewissen heroischen Energie das Wort zu sprechen, sondern sich klarzumachen, wie wichtig die Pflege des Leibes sei, und wie schwere Folgen eine Vernachlässigung haben könnte. Daß ich recht hatte, erwies sich später. So mußten wir uns Extrasachen kaufen. Zuerst den Morgenkaffee, den wir nicht geliefert bekamen, dann anderes. Aber auch mit dem Kaufen war es eine eigene Sache: wir waren von der Seite unserer Familie gerissen und hatten denen von dem knappen Gelde, das wir meist auf der Heimreise bei uns führten, geben müssen. So war unsere Barschaft gering, außer bei einigen wenigen, und wir wußten nicht, woher Geld nehmen. Es war vor allem das „Wie“ des Geldsendens, welches uns Sorge machte; dazu kam, daß kaum einer Franken bei sich führte, sondern Lire, Pesetas und Mark. Wie wechseln auf dieser Insel und bei wem? Freilich boten sich bald genug Gemütsmenschen an, die dieses Geschäft aus lauter Menschenfreundlichkeit auf sich nahmen; aber die Augen gingen uns über bei solchem Tausch, zu dem wir bald gezwungen waren.

Also unser offizielles Essen, bestand morgens um 10 Uhr aus Suppe und Brot, dazu ein Stück Wurst oder Käse, abends 4½ Uhr Suppe; das war alles. Jeden zweiten Tag ein Stückchen Fleisch dazu. Die Suppe war, wie gesagt, fast immer eine reichlich wässerige Kohlsuppe, ohne anderen Inhalt; Bohnen oder Linsen gab es nicht oft. Einer solchen Leibespflege waren wir nicht gewachsen. Nun hält der Mensch viel aus, aber nicht auf die Dauer, und wenn wir noch anfangs uns aufrechterhielten, das blieb nicht lange so. Wir mußten Wandel schaffen, und damit begann unsere Organisation. Dieses unselige System, die Verpflegung der Gefangenen an den Meistbietenden zu vermieten, wie das in Château d’If[S. 13] und in Frioul geschehen war, muß natürlich zum Nachteil der Gefangenen ausschlagen. Wir wurden vom Unternehmer schamlos ausgehungert und konnten ihm nachrechnen, daß er für die Beköstigung des einzelnen — der für 80 Cts. Nahrung zu fordern hatte — höchstens die Hälfte bezahlte. Was half es uns, wenn auf dauernde Beschwerden, deren Berechtigung eine Nachprüfung ergab, der erste seines Amtes entsetzt und ein zweiter eingesetzt wurde? Zwei Tage ging es, und dann war es gerade wie vorher. Wir wandten uns also an unseren ersten Retter in der Not, eine Frau, welche die Kantine unter sich hatte, eine dicke, rundliche, freundliche und tüchtige Frau, welche mit gewisser Gutmütigkeit von nun an für uns sorgte, nie ohne reichlichen Gewinn (Wein mit 100 Proz. Aufschlag mindestens), aber doch zu unserer Zufriedenheit. Wir sind später weit mehr und in weniger freundlicher Art geschröpft worden. Die gute Frau hatte auch einige, die sie besonders bevorzugte, zu denen ich mich rechnete. Sie gab mir stets den Ehrentitel „monsieur le président“, und es gelang mir bald, in meinem kümmerlichsten Französisch mich mit ihr zu verständigen. So richteten wir denn ein tägliches Extragericht ein, das etwa 30–40 Cts. pro Teller kostete und auf Vorbestellung hin ausgehändigt wurde. Es handelte sich um einfache und nahrhafte Gerichte, und da die Frau außerdem für gute Schinkenstullen, Käse und Eier sorgte, so war der augenblicklichen Not einigermaßen gesteuert. Leider waren unter uns einige, die die Not zwang, sich alle Extrakost zu versagen. Denen zu helfen, fanden wir allmählich Wege. Schlimmer bestellt war es um andere, welche ihrer Widerstandsfähigkeit zu viel zutrauten, denen war nicht zu helfen. Aber die meisten kehrten bald von selber geängstigt um, bei zweien war es zu spät gewesen.

Da die Geldfrage prekär war, so wurde es auch den meisten unmöglich gemacht, sich ein einigermaßen annehmbares Lager zu verschaffen. Geliefert wurden uns nur Strohmatratzen, und zwar in unserem Zimmer 4 für 11 Mann. Sie wurden zusammen[S. 14]gelegt, und nun hatte jeder selber dafür zu sorgen, daß er sich zwischen eng zusammengekeilte menschliche Körper einzwängte. In unserem Zimmer — man verzeihe es einer kindlichen Gewohnheit aus früheren Zeiten, wenn ich Räume, die uns zwangsweise als Wohn- und Schlafräume zugewiesen wurden, euphemistisch mit dem Worte Zimmer bezeichne, derlei sprachliche Ungezogenheiten laufen dem Neuling so leicht durch, der sich noch nicht zum Verbrecherjargon durchgearbeitet hat — also in unserem Zimmer gab es einige Begüterte, welche sich den Luxus eigener Matratzen schon in den ersten Tagen gönnten. Dadurch wurde uns anderen der relative Luxus zuteil, daß wir das übriggebliebene Material in Anspruch nehmen und uns zu zweit auf einer Matratze breitmachen durften. Decken, Kissen usw. erhielten wir als durchaus entbehrlich nicht und suchten aus den Koffern vorerst das notwendige Ersatzmaterial. Mein Freund Bonitz aus Málaga und ich einigten uns nun zu ständigem gemeinsamen Besitze einer Matratze, die wir später, als unsere Finanzen stiegen, durch eine ganz neue eigene ersetzten. Auf dieser einen Matratze haben wir beide fünf Monate lang geschlafen und uns so aneinandergewöhnt, daß wir eine körperliche Beschränkung kaum mehr empfanden. Ich entsinne mich nicht eines Streites, den wir wegen Raummangels gehabt hätten. Wir waren bescheiden geworden, und andere Sorgen quälten uns weit einschneidender bald so schwer, daß Bequemlichkeit nicht mehr gegen seelische Leiden in Frage trat. Unsere Unterkunft entsprach auch sonst nicht dem „Ganz-wie-zu-Hause“, das merkten wir an den von nun an ständigen Begleitern, die in veränderter Gestalt grimmige Gewalt übten, und die wir schon nicht mehr entbehrten, wenn sie gleich kalt und frech uns selbst verhöhnten. Hier in Château d’If traten sie vorwiegend in Gestalt der Skorpione und Flöhe auf. Die letzteren behandelten wir von Anfang an mit souveräner Verachtung, den ersteren hatten wir mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, etwa täglich wurde Jagd auf sie gemacht und täglich einige Exemplare gefunden. Sie dienten auch zur Beschäfti[S. 15]gung der schwindligen Gemüter. Wie oft haben wir sie zu dem sagenhaften Skorpionenselbstmord in Feuerumzingelung treiben wollen. Gelungen ist es uns nie. — Von uns hat auch keiner Selbstmord begangen! —

So verteilten wir mit dem Sergeanten Bonel die verschiedenen Räume. Er überließ uns derartige Bestimmungen bald allein, da er sah, daß unsere Selbstverwaltung sehr gut funktionierte. Der zweite Punkt, auf den wir unser Augenmerk richteten, war die Hygiene des Körpers. Zuerst die Wasserfrage. Ein tiefer Ziehbrunnen stand in der Mitte des Kastellhofes. Es wurde uns zwar von dem Arzt versichert, das Wasser sei gut, aber wir sind doch recht vorsichtig damit gewesen, besonders, da uns einmal der furchtbare Verdacht aufstieg, der sich glücklicherweise als grundlos herausstellte, die Bedürfnisanstalten des oberen Stockes hätten in ihrem Abfluß auch einen Weg zum Brunnen gefunden. Um aber einer Verunreinigung des Brunnens durch falschen Gebrauch vorzubeugen, wurden strenge Weisungen gegeben, und eine Wache hatte den Wasserausschank nach ärztlicher Verordnung zu überwachen. So entstanden die ersten Gesetze in unserer Republik Château d’If, auf die ich sämtliche Mitgefangene durch Handschlag feierlich verpflichtete.

Da alles im Leben Geld kostet, auch Reinlichkeit und Ordnung, und da kein Staat ohne Finanzen regiert werden kann, so wurde eine Sammlung veranstaltet, die über 100 Fr. ergab, und Schmidt stieg auf zum Finanzminister. Das Geld hat sich stetig durch neue Spenden vermehrt und ist später sehr segensreich geworden. Die Körperreinlichkeit wurde dadurch ermöglicht, daß das Waschen im Freien und in Gruppen zu sechs Mann eingerichtet wurde. Die Erlaubnis zum Baden im Meere bekamen wir leider damals nicht. Ein anderes Erfordernis trat an uns, die Gedanken aus dem täglich sich mehrenden Elend auf etwas Besseres abzulenken. So begannen wir, uns abends auf der Galerie zu vereinen, sangen zuerst einige Volkslieder und hielten bald auch Vor[S. 16]träge. Einer der eifrigsten Förderer solcher Bestrebungen war Dr. Beyer, der mit seiner klangvollen Stimme uns Loewesche Balladen und Arien oft weihevoll vortrug. Er hat auch später durch seine Predigten und Ansprachen sich große Verdienste um uns erworben, und manch einen, auch mich, verband bald eine herzliche Freundschaft mit ihm, die, so schwerer Leidenszeit entsprungen, hoffentlich desto fester hält. Ich werde den tief sentimentalen Eindruck nicht vergessen, den solche Abende auf uns machten. Es war die Zeit des Vollmondes, und wenn der in das kahle Gemäuer unheimlich strahlte, und wir Gefangenen unter französischen Bajonetten mit halb unterdrückter Stimme heimatliche Lieder sangen, so trieb die Wehmut manch einem von uns die Tränen in die Augen. Ich habe nie in so stimmungsvoller Umgebung Bürgers „Leonore“ und Goethes „Totentanz“ vorgetragen, und eigenartig paßte es auch in die Umgebung, als Schmidt und ich dort die ersten Akte „Faust“ rezitierten. Bei schlechtem Wetter hatten wir den Hintersaal „Eiserne Mark“ für Vorträge und für den Gottesdienst eingerichtet und denken gern der herzlichen Worte, die zu uns, gleichviel welchen Glaubens, von katholischen Geistlichen Sonntags gesprochen wurden.

Doch auch die Lust an Vorträgen und Unterhaltungen ließ bald nach, als ein Gespenst, zuerst in unseren Reihen kaum merkbar, dann aber mehr und mehr sichtbar, sich eingeschlichen hatte, das wir nie mehr ganz von uns abschütteln sollten, das Gespenst des Kleinmuts, der Verzweiflung. Wie manchen von uns hat es die ganze Zeit der Gefangenschaft so fest umkrallt gehalten, daß er die Folgen bis an sein Ende spüren wird! Gepackt hat es jeden von uns, und jeder von uns hat eine Zeit durchgemacht, da er wie ein Schwerkranker sich von der Gesellschaft ausschloß und den bittersten Gedanken nachgrübelte. Ich weiß von manch einem, und es war durchaus nicht immer ein Weichling, der sich nachts die Decke über den Kopf zog und bitterlich weinte. Das war nicht Schwäche, das war Scham vor sich selber. In Château d’If waren[S. 17] es noch wenige, in Frioul mehrte sich die Zahl, und in Casabianda griff die geistige Ansteckung erschreckend um sich, und in jener Zeit, da wir unsere Kameraden an Dysenterie und Typhus verloren, da die Fluchtversuche mißglückten und auf das härteste bestraft wurden, hatte das Gespenst gewonnenes Spiel. Nur langsam richtete den einen oder den anderen wieder der kategorische Imperativ auf: Du darfst nicht in Feindesland kläglich erliegen! — Daß keiner von uns durch Selbstmord fiel, betrachte ich noch heute als große Genugtuung. Wie nahe hat manch einer von uns vor solcher Lösung gestanden. Was diesen Kleinmut erhöhte, war die ewige Sehnsucht nach Freiheit, die täglich wiederkehrende Hoffnung, sie stünde uns nahe bevor, und die täglich wiederkehrende Enttäuschung. Wer von uns gedenkt nicht der Sistermontage, der festen Hoffnungen, die sich an das montägliche Wiedererscheinen dieses verdammten Fahrzeuges geknüpft hatten. Es war wie eine fixe Idee in uns, die Sister, die uns so heimtückisch ins Gefängnis geführt, müsse uns die Freiheit wiederbringen. Und unsere braven Kommissäre, denen wir trotz ihrer Verlogenheit immer wieder trauten, bestärkten uns hämisch in diesem Glauben. Wie oft mögen sich die Braven ins Fäustchen gelacht haben, wenn sie uns wieder einmal zum Narren gehalten hatten! — Ich darf mich wohl zu denen rechnen, die eigene Energie aufrechterhalten hat, wenngleich ich die Tage und Stunden der Verzweiflung durchmachte, wie jeder von uns, der etwas zu verlieren und etwas zu wünschen hatte. Als die Aussicht, freizukommen, immer weiter entschwand, entschloß ich mich, den Franzosen meine ärztlichen Dienste anzubieten, wenn sie mich in ein Lager schicken wollten, in welchem ich verwundete Deutsche behandeln könnte. Ich war naiv genug, zu glauben, daß mir die Bitte erfüllt werden könnte. Mein Gesuch wurde aber zweimal abgeschlagen und mir bedeutet, daß es ganz aussichtslos sei, wenn ich ein offizielles Gesuch an das Kriegsministerium richten würde. Es wären auch zu viele Bedingungen, die ich absolut stellen mußte, ein Hindernis gewesen. Doch hat meine an Ereignissen[S. 18] so reiche Gefangenschaft auch eine Periode gekannt, die mich offiziell zum Medizinmajor in Vertretung beförderte, die freilich, wie ich später berichten werde, mit traurigem Eklat endete.

Auch an den Ratsversammlungen, die fast täglich auf der Galerie abgehalten wurden, war es mehr und mehr erkennbar, wie eine gewisse Hast und Nervosität sich vieler bemächtigte. Es wurden Anträge auf Anträge gestellt, bei der französischen Regierung, bei der spanischen und deutschen, bei der amerikanischen Botschaft vorstellig zu werden wegen unserer ungerechten Gefangensetzung, das und das zu fordern für bessere Behandlung usw.; besonders war es wieder das Tribunalzimmer, das die äußerste Linke bildete. Ich war durchaus gegen solche Schritte und mit mir meine Kollegen vom Vorsitz. Noch in späteren Tagen ist mir der Vorwurf gemacht worden, daß ich durch starke Ablehnung solcher Vorschläge vielleicht eine frühere Freilassung verhindert hätte. Die Zeitenfolge hat bewiesen, daß dieser Vorwurf ungerechtfertigt war. Eingaben an alle Regierungen, die etwa tagtäglich gemacht wurden, führten zu nichts, als zu ewigen Enttäuschungen, welche die Nervosität zum Unerträglichen steigerten.

Mit dem Tribunal schloß ich an einem feierlichen Tage Frieden, es war der 2. September, den wir in diesem Zimmer im kleinen Kreise und so heimlich als möglich feierten. Und doch war diese Feier, so primitiv sie war, von unvergeßlicher Weihe. Ich sprach in kurzen Worten von der Bedeutung dieses Tages und dem wehmütig-zaghaften Gefühl, mit dem wir hinter Schloß und Riegel unserer Helden von damals und unserer Helden von heute gedächten. Dann sprach noch Dr. Beyer herzliche Worte für mich, und es wurden mit leiser Stimme patriotische Lieder gesungen. Erst um 9½ Uhr trennten sich die nächtlichen Schwärmer. Eine Pfirsichbowle, die wohlpräpariert war, hatte wesentlich zur Hebung der Stimmung beigetragen. So seltsam habe ich den 2. September nie begangen.

Bald darauf begann ein neuer Einzug der Gäste in unsere[S. 19] Burg. Es waren das Offiziere und Mannschaften der „Elsa Köppen“ und einiger anderer Schiffe. Die „Elsa Köppen“ war in Nizza angehalten und ihre Mannschaft gefangengenommen, ehe noch der Krieg ausgebrochen war. Das nahm uns nicht wunder; derlei waren und wurden wir immer wieder von neuem gewöhnt. Es waren 34 Mann, darunter der Kapitän und mehrere Offiziere. Sie waren teilweise scharf zugerichtet und erzählten von ähnlichem Empfang durch die französische Damenwelt, wie er etwa den meisten zuteil geworden ist, und den wir erst später genauer kennenlernen sollten. Wir begrüßten die Herren und räumten ihnen mit Einverständnis des Sergeanten Bonel als vorläufige Unterkunft den Festsaal ein. Die Offiziere wurden in einzelne Zimmer verteilt, der Kapitän William ins Tribunal, der Erste Offizier Heinrich zu uns. Am nächsten Tage gab es Revolution im revolutionären Zimmer: der neue Ankömmling schnarchte so, daß die festesten Mauern der Ruine ins Wanken gerieten. Es gibt Charaktersünden des Menschen, die beim Kriegsgefangenen zur Todsünde werden; dazu gehört das Schnarchen. Der Kapitän selbst verstand die Aufregung der Masse durchaus nicht und erklärte am nächsten Morgen mit Seelenruhe, daß er selten so gut geschlafen habe. Er ließ sich auch später nie durch die Nervosität der anderen aus so gleichmäßiger Ruhe bringen. Uebrigens liegt es mir fern, dem Herrn etwas Böses nachsagen zu wollen; er hat mir im Winter durch einen prachtvollen dicken Wintermantel und Kopfkissen die kalten Nächte erträglich gemacht. Auch wurde gegen etwaiges Weitertragen der Krankheit dem Herrn Kapitän mit drei anderen Herren, die rücksichtslos demselben Laster frönten, ein Extracachot in Château d’If angewiesen, dessen Akustik minderwertig war. Diese 34 reihten sich uns an, und wenn wir 72 Gefangene der Sister als Sisterleute von nun an eine eigene Gruppe bildeten, so erweiterte sich diese mit den 34 Matrosen zu den Château d’Ifern. Zu uns gesellten sich dann noch der alte Herr Müller und Herr Weißschedel, deren Schriftstücke mit der Versicherung un[S. 20]gehinderter Fahrt ich anfangs in Kopie wiedergab. Der eine von ihnen war ein Greis, der andere schwer krank; aber doch hielt sie Frankreichs Starrsinn und Unberechenbarkeit als mobilisable Gefangene.

Und noch eines muß ich gedenken, der in unsere Gruppe aufgenommen wurde. Den darf ich nicht mit drei Worten abspeisen; er bot uns lange Unterhaltungsstoff und war ein Gradmesser für unsere erregten Nerven. Es war an einem Dienstag. Wir schrieben den 9. September. Hinter uns lagen die üblichen Sonntagsbesuche, die meist aus Damen bestanden, welchen wir als „boches“, also als besondere Spezies von Menagerietieren, gezeigt wurden. Der Montag hatte uns mit dem Einfahren der Sister die üblichen Hoffnungen, mit ihrer Ausfahrt die übliche Enttäuschung, der Dienstag den Katzenjammer gebracht. Unsere Stimmung war die denkbar schlechteste und gefährlich für Kombinationen. Noch dazu hatte am Nachmittag einer der Herren tschechischen Geistes, der uns als besonders gewaltiger Redner gepriesen war, eine herzlich öde Rede über den Marienkultus gehalten, kurz, wir waren reif zur Aufnahme einer Sensation. Die ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie erschien — das war an und für sich durchaus nichts Besonderes — in Gestalt eines neuen Gefangenen. Aber die Begleitumstände! Die bekannte Treppe hinauf durch das Tor schritt ein Jüngling von etwa 24 Jahren, französische Soldaten — ja, das war es! — trugen ihm Koffer, Matratzen, Kissen und Decken nach; er lohnte sie ab und entließ sie.

Was das sagen will, versteht nur der, welcher je Sträfling gewesen ist. Ich will darauf nicht weiter eingehen, weil ich vielleicht nicht genug Sachverständige fände, die unser Entsetzen voll würdigten. Wer war der Jüngling, der wie ein verkappter Fürst, von französischen Soldaten bedient, hier einzog, wohin wir noch vor kurzem, begleitet und bedroht von französischen Bajonetten, unser Gepäck im Schweiße unseres Angesichts heraufgeschleppt hatten? Wer war der Knabe, der mit einer, nach unserer heutigen An[S. 21]schauung, kompletten Schlafzimmereinrichtung hier eintraf? Sein Aussehen war kaum deutsch, eher französisch.

Während die Besonnenen unter uns sich scheu und vorsichtig zurückhielten, duldeten einige der Jüngeren seine Annäherung. Er sprach fließend Französisch, Deutsch und Spanisch, nannte einen deutschen Namen, „Silberger“; aber das kann schließlich jeder. Die Neugier überwog, und auch wir lauschten schließlich dem krausen Zeug, das der Ankömmling, sich überstürzend, im Anblick der erstaunten gläubigen Gemeinde vortrug. Mir ist nicht alles im Gedächtnis geblieben; aber wenn ich es heute rekapitulieren soll, war es etwa so: Die Russen waren in Eilmärschen bis dicht vor Danzig gelangt (da wohnt mein Bruder), nachdem sie Königsberg (da habe ich viele Onkel und Tanten) in zwei Tagen erledigt hatten, wurden von der russischen Flotte in der Zerstörung Danzigs unterstützt (armer Artur!), die inzwischen wohl schon Faktum geworden sei. Die Deutschen waren vor Paris (also doch!). Stettin wurde beschossen (da wohnt meine Mutter). Der Kurs der Mark war zu 60 für Franken usw. Er, der Träger dieser Nachrichten, war auf irgendeinem Ueberseeschiffe mit Franzosen zusammen gereist, hatte sich für deutschen Deserteur ausgegeben und sei gezwungen worden, die Marseillaise zu singen. Er unterrichtete uns schnell und legendär. Bald ging ein Raunen durch unsere Reihen, hier lauert Verrat! Wer ist der gesprächige Jüngling, und welchen Zweck verfolgt er? Und immer lauter wird die Frage: Gebet acht! — Und man gab acht, und es offenbarte sich immer mehr, was wir längst erwartet: Der Ankömmling, der so fürstlich ausgestattet zu uns kam, der in Marseille allein in einem Hotel gewohnt hatte, war ein von der französischen Regierung für uns bestellter Spitzel! Nun war es heraus und nicht mehr zu bannen. — Die Nervosität trieb wunderliche Blüten, und das mehrte sich, als er sich mir vorstellte, mich fragte, ob ich Arzt sei, und ob ich so freundlich sein wollte, ihn zu untersuchen, da er an einem schlimmen Fuße litte.[S. 22] Ich tat das auch ganz ruhig und stellte eine allgemeine Schlaffheit der Gelenkbänder fest. Damals stieg in mir noch nicht der fürchterliche Verdacht auf wie in den anderen. Bald wurde ich meines Leichtsinns wegen gescholten und schwer gewarnt: Durch die Kantinenwirtin, die es einem andern unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, war es herausgekommen, daß die französische Regierung auf einen aktiven deutschen General mit falschem Paß fahnde, und der befände sich in unseren Reihen. Auf zwei fiel der stärkste Verdacht, auf Moritz und mich. Bei Moritz war die Feststellung nicht so einfach. Wenn auch sein Aussehen durchaus dem eines Generals entsprach, so war es doch schwer, ihm Gespräche zu entlocken, die ihn bloßstellten. Bei mir war es schon leichter; ich war nicht so vorsichtig und hatte mich außerdem als Arzt ausgegeben, und es brauchte nur festgestellt zu werden, ob ich wirklich Arzt sei. Daher die Konsultation. So kam etwas Spannendes in die Oede des Alltags, und die scharfen Beobachtungen, die wir dem Jüngling von nun an gönnten, wirkten als Nervenreiz. Ich hielt mich ganz frei von der allgemeinen Spitzelkrankheit, und alle Warnungen, auch die ängstlichsten, prallten ab. Schmidt und ich sahen uns den Herrn im Gegenteil zuerst von der nüchternen, praktischen Seite an und entlockten ihm für die allgemeine Kasse nicht nur reichlichen Beitrag, sondern auch Zigaretten usw., die wir zum allgemeinen Besten verauktionierten. Aber die Gespensterfurcht war nicht mehr zu bannen. Einen Moment ergriff mich selber der Wahn, als ich sah, wie sich der eine Kommissär dem Herrn näherte und ihm zuflüsterte: „Nun, sind Sie gut untergekommen?“ Auf meine Frage an Herrn S. erklärte dieser, daß er den Kommissär von früher her kenne. Das war wohl möglich und einfach. Das Einfachste aber glaubten wir natürlich am wenigsten. So wurde der Arme längere Zeit ängstlich gemieden, bis sich der Bann löste.

Er hat unsere Gefangenschaft redlich geteilt, und da er durch die Kenntnis der französischen Sprache oft zum Vermittler ge[S. 23]wählt wurde, so bot sich ihm auch Gelegenheit, sich den Gefangenen nützlich zu erweisen; und die hat er ergriffen und sich immer unzweideutig auf unsere Seite gestellt, was man leider nicht von allen sagen konnte, die des Französischen mächtig waren.

Das gute Klima und der Ueberschuß an Gesundheit, den wir alle mitbrachten, verhinderte noch damals das Auftreten von Epidemien, wie sie bald in Frioul und später in besonderer Schärfe in Casabianda uns bedrohten. Immerhin gab es Kranke genug. Dr. Heller und ich teilten uns in die Behandlung. Die französischen Aerzte taten nichts für uns. Von dem einen habe ich schon gesprochen; der andere war ein ganz schneidiger Bursche. Um seine tiefwissenschaftliche Art zu kennzeichnen, will ich kurz von seiner ärztlichen Tätigkeit berichten. Die erste Meinung, welche der Menschenfreund äußerte, war, die Brunnen sollten geschlossen werden. Er hielt den Ausschank von Wasser an die „boches“ durchaus für Luxus. Dann schlug er einem im Vorübergehen die Mütze vom Kopf, sagte einem anderen, welcher um die Bewilligung von Decken für die Gefangenen bat, daß Decken für solche Banditen überflüssig seien. Er fand das Essen als Völlerei und schritt nach solchen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung. Wie immer gab es einige Harmlose, die ihn wirklich konsultierten. Den ersten, einen alten Herrn mit Blasenkatarrh, fuhr er an: „Sie sind ein Schwein“; dann ertönte sein Kommando: Die Zunge herausstrecken! Aus dem Befund diagnostizierte er mit tödlicher Sicherheit, daß ein Blasenleiden nicht vorliege. Von nun an nahm er sich nicht so ausgedehnte Zeit zu weiterer Untersuchung. Die Patienten mußten schon mit ausgestreckter Zunge herantreten, und da diese meist reinlich war und keine Zeichen von Ueberfütterung des Magens aufwies, so trieb er schnell seine Opfer davon und strich sie aus den Listen der Kranken. Damals stand noch nicht Gefängnis auf solcher Krankmeldung, wie später; aber verdient hätten sie es. So schlug der Herr im Gebiete der Schnelluntersuchung wohl den äußersten Rekord. Ich sah dem tüchtigen Kol[S. 24]legen von der Galerie aus bewundernd zu, und als ich mich auf einen Augenblick in das Zimmer verfügte und wieder heraustrat, war die Diagnose bei zwölf Kranken gestellt. Zu einigen Krätzekranken sagte er: „Ihr seid Wilhelms Söhne!“ Ich habe unter den französischen Aerzten in unserem Lager die besten und die schlechtesten kennengelernt; auch ein Ungeheuer war unter ihnen, dem ich später noch ganze Kapitel widmen muß und das die französische Regierung gern zu den Geisteskranken geworfen hätte. Als später noch Dr. Vosselmann in unser Lager kam, traten wir zu dritt in die Organisation der Krankenbehandlung ein. Sergeant Bonel hatte uns drei Aerzten das Casimirzimmer eingeräumt und den größeren, etwas dunklen Kuppelraum außerhalb des Gefängnisses als Hospital sowie einen kleinen Schuppen am Meere als Infektionsstation übergeben. Das war sehr dankenswert von unserem braven Sergeanten, und da er uns Aerzten noch laissez-passer ausstellte, die Erlaubnis, uns zu jeder Zeit frei auf der Insel zu bewegen, so wurde unsere Lage recht erträglich. Ich bin in den letzten Besprechungen schon der Zeit vorausgeeilt und wende mich zurück zum Tage neuer Einquartierung.

Am 10. September erfuhren wir, daß wir am Abend den Einzug von 130 neuen Gästen zu erwarten hätten. Wir sahen Kommissäre und Offiziere geschäftig hin und her wandern, alle Räume durchstöbern, um zu erkunden, wo ihre Unterbringung möglich wäre. Selbst das Prison des condamnés politiques wurde einer eingehenden, langdauernden Untersuchung unterzogen. Ich habe dieses im Anfang des genaueren geschildert. Kot und Abfälle lagen dort herum; der Raum war dunkel und stank nach Urin und verschimmelten und verdorrten Kadaverteilen. Der Boden war aufgewühlt, staubig, lehmig; jede Berührung des Bodens trieb den bazillengeschwängerten Staub in die Höhe. Daß dort Menschen untergebracht werden sollten, war ja ganz undenkbar. Ein Schweinestall, der monatelang nicht ausgemistet war, erschien palastartig gegen diesen Raum.

[S. 25]

Nachmittags hielten wir auf der Galerie Versammlung ab über eventuelle Maßnahmen für den Empfang der neuen Ankömmlinge. Und nun ereignete sich etwas, was in seiner Tragikomik allen unvergeßlich bleiben wird. Es trat als Redner auf Herr Julius Meyer, welcher auch sonst zündend und reichlich lange zu sprechen pflegte. Dieser setzte uns in bewegten Worten auseinander, daß aus den Besichtigungen der unteren Räume, die nun einige Tage hintereinander sich wiederholt hätten, erleuchte, daß diese Räume den Erwarteten als Unterkunft angewiesen werden sollten. Im Namen der Humanität wende er sich gegen die Möglichkeit solcher Maßnahmen. Die Aerzte müßten zugeben, daß ein Wohnen in solchen Räumen Todesgefahr berge (wir gaben das unbedingt zu); im Namen der Humanität fordere er von den beiden Aerzten, daß sie sofort vorstellig würden, dergleichen Ungeheuerlichkeiten zu vermeiden. Im Namen der Humanität fordere er von uns allen, daß wir zusammenstehen, und im Falle, daß die französische Regierung wirklich derart Gefangene unterbringen wollte, auch zusammenrückten und die armen Opfer in unseren Zimmern aufnähmen, und ob wir gleich wie die Heringe zusammengepreßt würden. Im Namen der Humanität. Dixi!

Die Rede war schwung- und wirkungsvoll und verfehlte nicht tiefsten Eindruck. Armer Julius Meyer! Es kommt manchmal so ganz anders, und das Tragische liegt so nahe beim Komischen. Die Wirkung, die die Rede gehabt und die sicher die Bewilligung der geforderten Opfer zur Folge gehabt hätte, wurde zunichte durch den lakonischen Befehl, welcher von draußen zu uns drang: Sämtliche Deutsche haben sofort die oberen Zimmer zu räumen und ziehen in das Prison des condamnés politiques! Die Ankömmlinge übernehmen die oberen Zimmer. — Schluß!

Armer Julius Meyer, wo blieb die Humanität, die dich also beseelte bei den Neuangekommenen?

Und wer den bittersten Schaden hat, soll noch den Spott dazu in Kauf nehmen, das ist harte Bedingung. Den Namen[S. 26] „Humanitätsmeyer“ bist du nie losgeworden, und für uns wirst du ihn bis an dein seliges Ende tragen. Aber doch hast du es gutgemeint.

Also das war der Anfang!

Unsere tüchtigen Seeleute griffen nun ein. Wir erhielten vom Sergeanten Erlaubnis zur gründlichsten Reinigung des Todesraumes. Er versicherte uns mehrfach, wie peinlich ihm die Ausführung des Befehls, der von oben kam, geworden sei. Es wurde tüchtig gearbeitet, alles nach draußen getrieben, während drinnen die Ausräumung des Augiasstalles unternommen wurde. In Haufen wurde der Dreck in den Graben geworfen, der das Kastell umgab. Die Skorpione wurden an einzelne Liebhaber verschenkt; dann wurde gescheuert und gewaschen, bis es schien, daß der Raum bewohnbar sei. Aber unser bemächtigte sich eine tiefe Depression. Wenn das möglich war, wie werden wir Epidemien auf die Dauer fernhalten? Der Sergeant hat uns auch hier geholfen. Er nahm erst einige, dann andere aus dem furchtbaren Raum, erst uns Aerzte, dann die Priester, und später belegte er mehr und mehr den oberen Turmraum. Er hat mir noch einmal wiederholt, wie schwer es ihm geworden sei, dem Befehle zu gehorchen, da er uns höher einschätzte. Es ist das ungefähr das einzige Mal gewesen, daß wir solche Meinung von einem Franzosen gehört haben.

Unsere Gefangenschaft in Château d’If nahte mehr und mehr ihrem Ende, und nur weniges ist noch von ihr zu berichten. — Ich wurde eines Tages zu den Kommissären gerufen. Man bedeutete mir, daß ein großer Korb mit Damenkleidern noch im Lager sei, und man vermeinte, es sei der meinige. Zu meinem Schrecken mußte ich das zugeben. Meine arme Frau wird schön in Verlegenheit gekommen sein! Da sie im letzten Augenblick noch einige Sachen aus dem Reisekorb für mich herausgegeben hatte, war dieser zum Schluß auf dem Ponton geblieben. Mein Entsetzen wurde indes falsch gedeutet, und da ich auf die Frage, wem die Kleider gehörten, antwortete, „meiner Frau und Tochter“, stellte man immer ver[S. 27]fänglichere Fragen, ob meine Frau kleiner sei als ich usw. Ich war harmlos genug, immer noch nicht darauf zu verfallen, in welch fürchterlichem Verdacht ich stände, bis der Kommissär mich aufklärte, ob ich denn nicht begriffe, daß ich dadurch in den Verdacht käme, in Frauenkleidern spioniert zu haben. Nein, daran hatte ich nicht gedacht. — Ich weiß von vielen, die um Geringeres an die Wand gestellt wurden. Gut, daß die Kleider mir durchaus nicht paßten. So entging ich meinem Schicksal und trug meiner Frau Kleider auch weiterhin mit uns. Aus verschiedenen Gründen riskierte ich es nicht, sie nach Hause zu schicken.

Das Baden im Meere war uns in letzter Zeit erlaubt, aber das Wetter, das sonst unser einziger guter Freund gewesen war, ließ uns nur einige Male zum vollen Genuß kommen. Immer lauter wurde gemurmelt, daß unsere Tage in Château d’If gezählt seien, und unsere Freude, daß die Freiheit winke, wurde zu ausgelassenem Jubel, als wir eines Tages herausgerufen wurden, der Kommissär uns antreten ließ und mitteilte, daß beide Regierungen einen Austausch der Zivilgefangenen beschlossen hätten, und daß die Sisterleute zuerst in Frage kämen. Dann stellte er an jeden einzeln die Frage, ob er zum Austausch bereit sei, die jeder einzeln, fast schreiend, mit „ja“ beantwortete. Dann waren wir entlassen. Wie die Kinder oder wie die Trunkenen gebärdeten wir uns in unserem Jubel. Ich stürmte herauf, Moritz, der sich krank fühlte und sich hingelegt hatte, die Nachricht zu bringen; aber Bonitz war mir schon zuvorgekommen, und Moritz war im Augenblick gesund. Wir vereinigten uns im Saale der Matrosen, da verteilten wir unsere Kasse, sammelten für die Hinterbliebenen, Rede und Gegenrede wurde gehalten, über all das, was wir gemeinsam und einzeln uns angeschafft, wurde verfügt, Abschied wurde genommen; denn schon drang durch den Kantinenwirt ein neues Gerücht zu uns, daß wir noch heute nacht abgeholt werden sollten, um an die Schweizer Grenze befördert zu werden. Aber die Nacht verging, die viele wachend zugebracht haben, und noch manche Nacht, bis endlich der[S. 28] Tag erschien, da das Gerücht deutlichere Fassung annahm, es geht wirklich fort. Die Kantinenwirtin besorgte sich schon keinen Vorrat mehr, und unsere Koffer standen auf höheren Befehl gepackt. Der Kommissär kam eines Tages, und da wir in unsere Becher die Tage unseres Aufenthaltes in Château d’If eingeschnitzt hatten, fragte er, welchen wir denn als Abschiedstag gesetzt hätten. Wir sahen ihn fragend an, und er erwiderte: „Schreiben Sie getrost den heutigen Tag!“ Nun brach der Jubel von neuem los. So schändlich würde der Mann nicht an uns handeln und unser in dieser Lage spotten! Wir hätten ihm nicht trauen sollen. — Mein Panamahut war am Tage vorher bei kolossalem Sturm von oben aus ins Meer getrieben, und da ich seinen Verlust am nächsten Tage beklagte, trat „mit fröhlichem Gesichte ein Fischer“ vor mich hin und gab ihn mir wieder. Ein Aberglauben hatte manchen von uns stutzig gemacht, und ich stehe nicht an, heute zu bekennen, daß ich als aufgeklärter Mann jedem, auch finsterstem und albernstem Aberglauben mehr traue als dem Wort eines Franzosen. Wir haben darin noch bessere Erfahrungen gemacht.

Der Mann hat zweimal unser gespottet, hier und später in Frioul, und es mit herzlichstem Behagen getan.

Das Schiff kam wirklich, uns fortzuführen, aber nicht in den Hafen von Marseille, sondern am Nachmittag des 20. September in unseren zweiten Kerker nach Frioul.


Frioul I.

Und ob das Meer nach Unrat roch,
Und ob sich unsre Fäuste ballten,
Zwang man uns in das gleiche Joch
Mit zweifelwürdigen Gestalten,
Und regnet’s durch manch Mauerloch
Auf Stroh und Decken, durch die Spalten,
— — — — — — — —
[S. 29]
Da in Frioul hat man uns doch
Für Menschen immerhin gehalten.

Abends fahren wir in Frioul ein. Geduld! Es kann ja nur noch für wenige Tage sein. Die Kommissäre haben es uns versichert, daß die Austauschverhandlungen noch in vollem Gange seien, und daß es nur wenige Tage noch dauern würde, bis wir zu Hause wären. Und wir wappnen uns mit neuer Geduld und stärken uns mit neuer Hoffnung. Vielleicht werden wir auch nur nach Frioul geschafft, weil wir von da leichter transportiert werden können. Frioul ist Quarantänestation für Marseille. Sei dem wie es wolle, vorläufig landeten wir in einer Bucht der Insel, marschierten auf die andere Seite der Bucht und zogen nach dem Anschauen eines riesigen Kochtopfes mit Linsen, die wir hatten schleppen müssen, von denen wir aber nichts zu essen erhielten, knurrenden Magens in den großen Quarantäneschuppen, dessen Anblick uns erschauern machte. Dreckiger Steinfußboden, Holzwände, die überall schadhaft sind, so daß der Wind durch die Hallen pfeift. Unser Abendessen ist Brot, ein bißchen Wein geben die Soldaten, Stroh und Decken werden verteilt, wir suchen müde einen Platz, der nicht zu sehr von Schmutz strotzt und der auch nur einigermaßen geschützt ist. Aber wo den finden? Der Sergeant hat die Krätzekranken abgesondert, und die haben dadurch den einzigen Platz erhalten, wo pritschenartig einige Holzbetten sich über dem Fußboden erheben. Der Platz ist zu schön und einladend, und ich schlage Moritz und Bonitz vor, wir wollen uns zu den Krätzekranken legen. Ich mußte fast lachen, als ich, wie ich es ja bei dem sonderbaren Vorschlag erwarten konnte, ihre entrüsteten Gesichter sah; aber Not bricht Eisen, und als ich ihnen auseinandersetzte, daß wir hier wenigstens die Krätzemilben sehen oder ihren Aufenthaltsort kennen, die Bakterien am schmutzstarrenden Fußboden und die Ungeziefer aber nicht, daß diese geradeso todsicher da wären wie die Krätzemilben, da wirkten so schlagende Gründe,[S. 30] und sie ergaben sich, wie ich, in das rauhe Kriegsgeschick. Wir nahmen Platz neben den Krätzekranken und baten sie nur, einen Isolierraum zwischen uns zu lassen. So schliefen wir auf hartem Lager, eingewiegt von der einen großen Hoffnung: Morgen ist Sistertag, da wird man uns holen und uns die Freiheit wiedergeben. Nach Deutschland! Schon ist fast ein Monat vergangen, und ewig wird die Gefangenschaft ja nicht dauern. Ja, wenn das da nicht wäre, diese sichere Aussicht, die doch nicht täuschen kann — — — Gute Nacht, und morgen — — —!!

Montag! — Es war ein jämmerliches Erwachen am nächsten Morgen. Wie ein Alp drückend legte sich das allmähliche neue Begreifen unserer elenden Lage auf die Brust. Nicht möglich, so kann es nicht fortgehen. Ein Ende muß geschaffen werden! Und wieder stand das Gespenst der Verzweiflung vor uns. Heulender Sturm draußen. Wir wollen heraus, müssen aber wieder zurück. Die „Sister“ kommt nicht, wir sehen nichts von ihr. Vielleicht, daß der Sturm sie zurückgehalten, vielleicht, daß sie in die Bucht von Frioul nicht einlaufen kann. Und wenn sie heute nicht kommen kann, morgen kommt sie gewiß. Was soll sonst aus uns werden? Wie die Versinkenden klammern wir uns an den Halm der Hoffnung. Und dann trifft uns wie ein Schlag die Nachricht: Die „Sister“ hat Marseille schon passiert und ist auf dem Wege nach Genua! — Wer das miterlebt, weiß, was Enttäuschung heißt. Nun klappt im Augenblick alle Energie zusammen, und eine heiße Wut steigt in uns auf angesichts des Viehstalles, in den wir getrieben werden wie die Herde. Aber ich tue dem Viehstall unrecht, wenigstens dem, was wir unter diesem Namen zu Hause verstehen. Da will ich lieber Wohnung aufschlagen als hier. Der Sturm brüllt, hinaus dürfen wir nicht, durch alle Löcher des verfallenen Stalles pfeift der Wind und treibt allen Schmutz auf unser Lager und in unsere Lungen. Schon zeigen sich neue Begleiter, die Wanzen und Läuse, die an uns saugen und knabbern. Skorpione gibt es hier wie in Château d’If. Der Ekel steigt uns in die Kehle.[S. 31] Zu essen gibt es nichts als Kohlsuppe, die wir nicht mehr sehen können. Wir hungern und frieren. Der Kommandant kommt nachmittags und fragt uns, wie wir zufrieden seien. Wir sagen ihm, daß wir hier nicht leben können. Er zuckt die Achseln: „Glauben Sie, daß es die Unsern in Deutschland besser haben?“ Einer erwidert: „Wir wissen es nicht, aber wir wünschen es ihnen.“ Der Kommandant wendet sich ab und fährt in seinem Benzinmotor davon. Leicht hat er sich auch fernerhin seine Aufgabe gemacht. Meist kam er auf Schleichwegen, daß niemand ihn bemerkte, der etwa Beschwerden vorzubringen hatte, und drückte sich ebenso, ehe wir ihn fassen konnten. Wir wandten uns an den Sergeanten und baten ihn um Hilfe. Er ist der einzige, der helfen kann und will, der Mitleid mit uns hat und wie ein Mensch fühlt. Er zeigt mir einen Raum für die Aerzte und Priester. Er soll nur noch gereinigt werden. Das tut auch not. Gut denn, noch einige Tage bei den Krätzekranken. Was hilft’s? „Das ist der Krieg.“ Wir wälzen uns wieder unruhevoll auf unserem harten Lager. Der Unmut hat sich gemehrt, und alle wohl ausnahmslos packt die Furcht: nicht hier krank werden, nicht hier verrecken, ehe wir die Heimat wiedergesehen haben und ihr in etwas nützlich geworden sind. Bleiern lastet die furchtbare Erkenntnis auf uns, daß bald die Würfel über uns geworfen werden; und die Sorge läßt uns nicht mehr, und an ihren Fersen da hinten, da hinten, von ferne, von ferne, da naht er, der Bruder, da naht er, der Tod.

Die Krankheiten mehrten sich. Kaum einer, der sich noch frisch fühlte bei diesem jämmerlichen Lager und dieser ganz unzureichenden Beköstigung. Und der Tod kam; der erste Fall berührte uns weniger, weil er nicht in unserem Lager war. Die Mutter eines unserer Gefangenen, eine ältere Dame, zuckerkrank, die trotz aller Reklamationen nicht freigelassen war, starb im Krankenhaus zu Marseille. Ihr Sohn fuhr zur Beerdigung. Weitere Opfer fielen, und es war unabweisbar, daß unsere Lage die weniger Widerstandsfähigen niederstrecken mußte. Es war ein Hohn, von[S. 32] Hygiene oder sanitären Maßregeln zu sprechen. Zwar tat der brave Sergeant wieder alles, was er konnte, aber sein Können war am Ende. Er gab uns einen Raum als Hospital, und der füllte sich. Da lagen aneinandergereiht Kranke an Tuberkulose (Kehlkopf-, Lungen- und Darmtuberkulose), an Disenterie und an Fiebern, die mit unseren unzulänglichen Mitteln nicht zu diagnostizieren waren, von denen wir aber in einigen gastrischen schon den typhösen Charakter vermuteten. Wie sollten wir uns gegen die Verbreitung des Typhus wehren? Wir hatten recht vermutet, neben der Dysenterie oder etwa nach ihrem Erlöschen mehrten sich die Fälle des Abdominaltyphus.

Sehr gering waren die Erkältungen. Unser Sergeant gab uns viel Freiheit. Wir durften eigentlich immer draußen sein. Das Wetter war in Château d’If meist schön, in Frioul kalt, oft regnerisch und stürmisch, aber doch so, daß ein klimatisch heilsamer Einfluß auf die Lungen ein Gegengewicht bot gegen den gefährlichen Aufenthalt im Schuppen. Der Himmel war für uns. Was aus uns in einem rauhen Klima geworden wäre, mag ich nicht ausdenken. Der Platz, welcher uns als Aufenthalt zur Verfügung gestellt war, war reichlich groß, wir konnten spazierengehen und uns auch von den anderen absondern, wir waren nicht immer aneinandergekettet. Der Sergeant, der der einzige Gebietende war (den Kommandanten sah man einmal täglich, meist auf der Flucht), gab uns auch die Erlaubnis zum Angeln. Das taten wir reichlich, es war unser einziger Zeitvertreib; denn Bücher waren damals nur wenige im Lager, und andere Beschäftigung, welche uns hätte ausfüllen und die schwarzen Gedanken hätte vertreiben können, fehlte. So angelten wir, und wenn der Fisch biß, lenkte er die Gedanken ab. Es war dadurch noch ein anderer Vorteil erreicht, oder er hätte erreicht werden können, der einer besseren Ernährung. Das war freilich illusorisch, denn unser Angelplatz war dicht neben den Aborten, die den Unrat von vielen hundert Gefangenen auf direktestem Wege nach guten Zielversuchen ins Wasser führten, und den Aborten[S. 33] zunächst wurden die fettesten der kleinen Fische geangelt. Da das Buch, soweit das möglich ist, es sich zur Aufgabe gemacht hat, ästhetisch zu bleiben, so übergehe ich das Kapitel „Abortwesen“ ganz. Ich will nur bemerken, daß in der langen Gefangenschaft in ganz kühnen Träumen uns etwas von einem W. C. vorschwebte, auf dem man regelrecht Platz nehmen könnte. Wenn wir uns trotzdem im Anfang Fische brieten, um den Hunger zu stillen (wir haben ja auch bei Krätzekranken gelegen, um Schlaf zu finden), so erfaßte uns doch bald ein unbeschreiblicher Ekel davor, und auch die anfangs viel belobten Polypensuppen fanden keinen Beifall mehr, und der Ekel erstreckte sich immer weiter. Wir mochten das Meer nicht mehr sehen. Das schwamm voller Unrat. Nicht mehr baden, das war ganz unmöglich geworden; wir mochten auch nicht mehr am Wasser vor dem Schuppen uns aufhalten, denn da stank es, und es stank bis zum Schuppen hinein, und es stank in der Kantine, die direkt den Aborten gegenüberlag, fünf Schritt davon entfernt.

Die Ernährung, die bei jedem Oekonomenwechsel mit Pomp als „nun endlich besser“ verkündet und die ersten zwei Tage wirklich so verabfolgt wurde, blieb unglaublich schlecht und wurde immer schlechter. Alle Vorstellungen, auch die Beschwerden des Sergeanten, halfen nichts. Als mir einmal der Kommandant nicht entgehen konnte (ich hatte ihm auf der Lauer gelegen) und ich ihm als Beweis schädlicher Ernährung ein durch und durch verschimmeltes Brot zeigte, versprach er, die Sache zu untersuchen und steckte sogar das Corpus delicti ein. Aber er hat wohl zu gründlich untersucht, denn ich sah ihn in den nächsten Tagen nicht wieder. Aber die Leute hungerten, und die Stimmung der Gefangenen wurde mehr und mehr gereizt.

Eines Abends kam ein Militärarzt aus Marseille in unser Lager, der sich recht eingehend nach allem erkundigte. Da er deutsch sprach, so konnte ich ihm besser als sonst die Beschwerden vortragen, die er freundlich anhörte. Ich sagte ihm, daß, wenn die[S. 34] Ernährung so weiterginge, man uns einen doppelten Raum anweisen müsse, unsere Kranken unterzubringen. Ich stellte ihm vor, daß, abgesehen von der geringen Menge der Nahrung, die Suppen zum Teil ekelerregend seien, daß wir nur alle drei Tage ein Stückchen Fleisch, oft ganz ungenießbar, erhielten, daß die Darmkrankheiten sich erheblich mehrten, und daß auch die Schaden litten, welche Mittel hätten, sich einiges in der Kantine zu kaufen. Er antwortete mir höflich und fast herzlich, daß es durchaus nicht die Absicht der Franzosen sei, deutsche Gefangene Schaden nehmen zu lassen, er wolle alles tun, um dem zu steuern. Dann reichte er mir die Hand, und das Fauchen des Benzinmotors kündete mir, daß wieder einmal jemand froh war, einer immerhin peinlichen Situation glücklich entronnen zu sein. Geändert hat sich durch den Besuch nichts, und wir lernten wieder einmal erfahren, daß das durchaus nicht der Zweck derartiger Besuche war. Wie gesagt, eine gewisse Besserung lag darin, daß wir uns einiges, auch Wein, in der Kantine kaufen konnten. Abgesehen davon, daß das nur diejenigen begünstigte, die Geld hatten, war auch der Raum so schmutzig, häßlich und ungemütlich, daß wir, wenn möglich, ihn mieden. Zudem war die Kantine in den Stunden, wo sie geöffnet war, so überfüllt, daß man warten mußte, um Platz zu bekommen, und — last not least — die Düfte...

Wein war damals noch unbeschränkt erlaubt, und das war auch nicht gut. Die Folgen waren schlimme und sind es lange geblieben.

Frioul, 2. Okt. 1914.

Meine liebe Armgard!

Du glaubst nicht, wie quälend es ist, Dir schreiben zu müssen und noch dazu in französischer Sprache, wie es anfangs war, „je me trouve assez bien“. Ich habe nie gelogen, wenn ich Dir schrieb oder sprach, und wir waren gewohnt, mehr auszutauschen als die gewöhnlichen Erlebnisse des Alltags.[S. 35] Da will ich mich trösten mit Briefen, die Dich nicht erreichen und Dich nicht erreichen sollen, die, wenn ich hier falle — ich darf getrost den stolzen Ausdruck gebrauchen — Dir überbracht werden mit meinem Tagebuche, und die, wenn ich gesund die Heimat erreiche, ich Dir selber vorlesen werde. Ein anderes ist noch möglich, daß man mir das, was mir das Liebste in der unwürdigen Gefangenschaft geworden ist, fortnimmt. Ich hüte meine Blätter wie ein Heiligtum, aber wer steht für das Ende, das sie, das ich finde? — Wir sind erst 40 Tage in Gefangenschaft, und jeder Tag, wenn er auch dasselbe Gesicht zeigt, bringt etwas Neues, und das Neue überholt das Erlebte des vorigen Tages und läßt die Zukunft uns dunkler und dunkler erscheinen. Ich meine unsere Zukunft, denn auf den endgültigen Sieg unseres Heeres und unserer Marine baue ich so felsenfest, wie ich von je darauf gebaut habe. Darin machen mich die hämischen Bemerkungen unserer Wärter nicht irre. Wir dürfen keine Zeitungen lesen, und das ist wohl gut. Eins fürchte ich, und wohl jeder von uns, hier zu verrecken, ehe wir etwas für unsere Heimat getan haben. So ganz ruhmlos möchte ich nicht aus diesem Kriege hervorgehen, und daß ich noch nichts habe tun können, schmerzt mich am meisten. Darum hatte ich der französischen Regierung den Vorschlag machen wollen, mich anzustellen, mit der Bedingung, daß ich in Gefangenenlagern vorzugsweise meine Landsleute behandeln dürfte, wenn möglich verwundete Soldaten. Das ist abgeschlagen, aber nun wird es in gewisser Weise in Erfüllung gehen, denn Krankheiten mehren sich in unserem Lager und die Zahl der Gefangenen. Aber wie sollen wir behandeln? Uns steht ja kein Medikament, kein Bett, kein Verbandstoff zur Verfügung. Kranken nur Trost zusprechen, wo man selber keinen Trost findet, ist ein nichtig Ding. Sie glauben uns nicht, weil wir auch nicht glauben. So greift die Verzweiflung mehr und mehr um sich, und der Verzweiflung entspringt der wilde[S. 36] Plan der Selbsthilfe. Darum, wenn wir den Krankheiten entgehen — und wir werden es durchaus nicht alle, das ist sicher —, so wird jedes Opfer unwürdiger Verhältnisse, jeder weitere hämische Uebermut unserer Gefangenenwärter uns mehr und mehr zum Widerstande reizen, und dem Kriegsgesetze, das scharf ist und scharf sein muß, unterstehen wir.

Darin liegt die größte Gefahr, in der Auflehnung.

Ich kann nicht dauernd den Korporalston vertragen, ich kann es nicht hören, wenn einem an Dysenterie Kranken, der zu unerlaubter Zeit den Abort aufsuchen muß, wie ich es neulich hörte, zugerufen wird: „S’il ne peut pas attendre, qu’il peut sortir, qu’il se merde dans son pantalon!“ Es sind so viele gebildete Männer unter uns, die derlei nicht gewöhnt sind. Ich nehme mir täglich wieder vor, über meine Lage hinwegzusehen und das Empfinden dagegen abzustumpfen, daß ich der Willkür irgendeines rohen Burschen ausgesetzt bin, der sein Mütchen an mir kühlen will, dem „boche“, den er nur im Felde fürchtet. Und wenn ich mich auch vielleicht für mich gewöhnen würde, werde ich es für andere, oder werden sie es für sich können? Ich weiß, Ihr fürchtet in demselben Sinne für mich, weil Ihr mich kennt und auch meine Freundschaft für die Franzosen. Neulich hätte es beinahe eine zweite Tragödie, wie auf unserer Reise nach Marseille, gegeben und mit ernsteren Folgen.

Oekonomen kommen und gehen. Jeder treibt es, solange man wucherische Uebervorteilung hinnimmt, und solange sie nicht Rand und Band überschreitet. Geschieht das, so kommt ein neuer und treibt es wieder so weit, bis ein neuer ihn ablösen muß.

Wir hatten wieder unsere Kohlsuppe, nachmittags war uns auf unsere Beschwerde hin Fleisch versprochen, und es gab auch Fleisch, so hart und zähe wie Leder, ungenießbar. Ich trat vor, reklamierte in schlechtestem Französisch, aber mit deutlicher[S. 37] Zeichensprache, und warf dem Oekonomen das Fleisch vor die Füße. Der wollte den Koch verantwortlich machen, bis der ihm seinen Kochlöffel vor die Füße warf. Die Stimmung war böse, da trat der Sergeant, vom Korporal gerufen, herzu. In anderen Lagern war mir Gefängnis sicher, aber der trat, wie immer, auf unsere Seite und wieder wurde ein Oekonom entfernt.

Heute, liebste Armgard, ist unserer kleinen Renate Geburtstag und ich habe ihn würdig unserer Lage gefeiert. Ich geleitete einen armen kleinen Kriegsgefangenen, das achtjährige Töchterchen des Notars Lützerer, zu Grabe. Er sowohl wie seine Frau und sein einziges Kind waren Gefangene und hierhertransportiert. Die Mutter hat mir eine jämmerliche Beschreibung des Transportes gegeben. Das arme Kind war tagelang ohne Nahrung geblieben, einige fette Suppen ausgenommen, die der schwache Magen nicht vertrug. Schmutziges Wasser diente als Getränk. So erkrankte es schwer, und alle Medikamente im Hospital zu Frioul nutzten dem armen Wurm nichts. 40 von unserem Lager waren abgeordnet zur Leichenfolge, darunter ich, 40 vom Frauenlager in Frioul. Wir trafen uns vor dem Hospital. Ein Bierkarren stand vor dem Fenster, aus dem der Sarg des armen Opfers gehoben und aufgeladen wurde. Du kannst Dir nicht denken, wie uns zumute war. Es war ein jämmerliches, klägliches Schauspiel, und die armen Eltern, die so ihr Einziges hergeben mußten, waren fast die Mutigsten unter uns. So brachten wir den armen kleinen Körper, der die Kraft nicht mehr gehabt hatte, so rauher Kriegsbehandlung zu widerstehen, auf den Friedhof. Der Sergeant ließ die Posten präsentieren. Das ist später nicht wieder geschehen. Die Priester gingen voran, dann der Wagen, mit vielen Blumen geschmückt, dann die Eltern und das übrige Gefolge zur Seite, in gleichem Abstand französische Bajonette. Der französische Pfarrer segnete die Leiche ein,[S. 38] dann wurde der Sarg auf dem Friedhof versenkt. — Friedhof! — ein ödes, von Gestein und Unkraut umwuchertes Stückchen Land, das den ersten Toten aufnahm. Pater Kaspar sprach wenige, aber so herzliche und erschütternde Worte am Sarge, daß jedes Auge voller Tränen stand.

Waren wir so unmännlich empfindsam geworden oder lag tiefe Tragik in diesem Schauspiel? Ich glaube, beides. Wir werden uns an Leichenbegängnisse gewöhnen müssen, um härter zu werden. Dafür ist gesorgt und wird weiter gesorgt werden. Morgen sind zwei Beerdigungen, eine eines elsässischen Bürgermeisters, der in unserem Krankenzimmer an Kehlkopftuberkulose elend zugrunde gegangen ist, die andere eines acht Monate alten kriegsgefangenen Kindes, das dem Hunger erlegen ist. Ich wurde zuletzt noch hinzugerufen und ließ dem armen Wurm ut aliquid fiat etwas warmen Tee mit einigen Tropfen Kognak einträufeln; es starb kurze Zeit darauf. Ich werde nicht mehr folgen, es ist nicht gut, daß derartige Stimmungen überhandnehmen; ich will versuchen, ihrer Herr zu werden. — Wenn wir zur Heimat dürften! Täglich und immer wieder tauchen Gerüchte der Auslieferung oder des Austausches auf, und immer wieder sind wir die Genarrten. Das reißt an unseren Nerven. Und in welcher Gesellschaft leben wir? Frankreich hat alles aufgelesen, wessen es habhaft werden konnte, und die neuen Gefangenen bieten oft wunderbaren Anblick. Da ist einer, halb verrückt. Wir nennen ihn Ravachol. Einige Spaßvögel haben ihn heute frisiert und rasiert — ein gefährliches Wagestück, er war völlig verlaust — dann mit Lackstiefeln, Stehkragen und schwarzem Rock bekleidet, so stolzierte der Narr grinsend einher, ein widerlicher Anblick.

Einer von uns, ein braver Kerl, er gab sich als Schweizer aus, hat heute nacht ein Boot genommen und ist ausgerissen. Unsere Lage hat er erschwert, aber wir wünschen ihm von Herzen, daß er durchkomme.

[S. 39]

Ich will auf meine Lagerstätte, liebste Armgard, und hoffe, nach üblicher Wanzenjagd Ruhe zu finden. Grüße mir die Kinder, ich will ihnen viel erzählen, wenn ich wiederkomme. Bleibe nur fein geduldig!

Max.


Frioul II.

Der Stationsarzt in Frioul war der Médecin-Major Gros, ein Herr, welcher der schweren Situation gewachsen war, wie vor ihm und nach ihm kein anderer. Unter ihm stand noch, durchaus minderwertig, Herr Dr. Michel als Assistenzarzt. Von deutschen Aerzten waren auf der Insel: Sanitätsrat Dr. Spindler (Elsaß), Dr. Berger (Els.), Dr. Vösselmann (Els.), Dr. Heller (Oesterreicher) und ich, von Gefangenen 1200–1300 Männer, etwa 250 Frauen und ebensoviel Kinder. Eine Lösung der ärztlichen Frage mußte also gefunden werden.

Die Frauen und Kinder lebten von uns etwa zwanzig Minuten entfernt in einem Kasernement auf einer Anhöhe der Insel. Es war schon des öfteren gemunkelt worden, daß Dr. Gros die Baracken an einem Vorsprung der Insel instand setzen ließe und beabsichtige, die Arbeit unter französische und deutsche Aerzte zu teilen. Das wurde mit großer Freude von uns begrüßt; aber wenn wir auch die Botschaft hörten, der Glaube fehlte uns. Eines Tages, es war am 5. Oktober, wir hatten gerade wieder einen der lächerlichen Aufzüge neuer Kriegsgefangener bewundert (Männer, die leere Kinderwagen vor sich herschoben), kam an uns die Aufforderung vom Médecin-Major, wir möchten uns zu einer Besprechung einfinden, und zwar am nächsten Tage bei den Baracken. Dort empfing uns zur festgesetzten Stunde Dr. Michel, völlig kollegial, er hatte sogar seine Freude daran, uns mit einigen Ferngläsern zu zeigen, wie gerade ein deutsches Handelsschiff von einem Torpedo eingebracht wurde, und knüpfte daran etwa die sinnbildliche Betrachtung vom Untergange des heiligen deutschen Reiches. Derlei waren wir gewohnt. Wichtiger war es[S. 40] uns, daß er uns die Baracken zeigte, die zwar noch nicht ganz fertig, aber doch schon etwa bewohnbar waren, sagte, daß Dr. Gros eine Teilung beabsichtige, etwa so: einer von uns solle die innere Station, ein anderer die äußere, ein dritter den Revierdienst und endlich der vierte die Frauenstation übernehmen. In der letzteren sei die Kenntnis der französischen Sprache notwendig. Herr Dr. Gros behielt sich das Hospital, welches neben unserem Schuppen lag, und in welchem die beiden Kinder gestorben waren, sowie die Aufsicht über die anderen Stationen vor, da er die Verantwortung für das Ganze trage. Wir möchten uns alles überlegen und am nächsten Mittag mit Dr. Gros alles selber besprechen. So schieden wir in recht gehobener Stimmung. Ein laisser-passer für die Insel wurde uns sogleich ausgestellt, auch die Erlaubnis, im Kasino zu essen und jederzeit zu verkehren. Ebenso wurde uns vier Aerzten, außer Sanitätsrat Dr. Spindler, der als Kranker im Hospital lag und somit von der offiziellen Behandlung ausschied, in den Baracken je ein kleines Zimmer mit Bett — Gedanke voller Majestät! — zugewiesen.

Wir vereinigten uns mit unserer neuen Erlaubnis in der Kantine und schwelgten einmal in recht gutem Essen mit Bier und Wein, froh, daß wir endlich in unserem Beruf angestellt waren.

Inzwischen übernahmen wir provisorisch die einzelnen Schuppen. Am Abend schickte Dr. Gros reichliche Mengen Lymphe, und ich impfte mit Dr. Spindler in zwei Tagen mehr als 1000 Mann gegen die Pocken. Gegen Typhus wurde im Lager nicht geimpft, wenngleich die ersten verdächtigen Fälle schon zu verzeichnen waren. Am nächsten Tage bestimmte Dr. Gros für die äußere Station Dr. Heller, für die innere Station Dr. Vösselmann, mich für den Außendienst, und Dr. Berger, der perfekt Französisch sprach, für die Frauenstation.

So froh wir waren, eine Enttäuschung war es doch für mich, von der Frauenstation versprach ich mir den besten Erfolg, denn was mir von da berichtet war, erschien mir recht trostlos.

[S. 41]

Frioul, 10. 10., abends 9½ Uhr.

Liebste Armgard!

Nun hat sich wieder alles so eigenartig verändert, der Ekel und Widerwille ist gemildert. Eben verläßt mich Herr Geißler, der zugleich mit Herrn Schülke uns als Krankenpfleger zugeteilt ist, und der Kollege Berger. Sie gehen aus „meinem Zimmer“, einer Bude von 3 mal 2½ Meter, aber es ist doch mein Zimmer, und ich habe es mir blutsauer verdient. Ich bin also doch ausgezogen aus dem Stall, in dem wir auf Steinfußboden, immer zwei zu zwei auf einer Matratze nebeneinander, eingepfercht zwischen anständigen Menschen und einem widerlichen Gesindel, der Kälte, dem Winde, dem Ungeziefer, Krankheit und Tod preisgegeben waren. Ich sitze vor Deinem Kleiderkorb, der mir als Tisch dient, auf meinem Koffer und schreibe Dir. Eine Stearinkerze, die ich mir für 15 Cts. gekauft, erleuchtet festlich mein Zimmer. Eine Flasche Wein steht vor mir, und ich rauche eine gute Pfeife. Ja, liebe Alte, man kann mit wenigem nicht nur zufrieden sein, sondern sich sogar mehr daran freuen, als man sich an vielem je freute. Mein Bett hat eine Matratze aus Stroh, aber sie erscheint mir köstlicher als die beste Sprungfedermatratze, und das eiserne Bettgestell kommt mir luxuriös vor, denn es ist ein wirkliches Bettgestell, das vermutlich nicht einmal Wanzen birgt; doch ich will nicht unbescheiden sein, das werden die nächsten Nächte schon lehren. Die paar Flöhe in Decke und Stroh sollen meine gute Laune nicht trüben. Heute war der große Umzug in die Baracken, die so schlecht gebaut sind, daß ein Sturm sie aufheben kann. Ich habe mein Zimmer mit einigen Arbeitern wieder zurechtgezimmert, und nun steht es gerade. Vielleicht hält die Bude, solange ich halte. Wir sind also, um mich großsprecherisch auszudrücken, menschlich untergebracht.

Aber das gilt leider nur von uns vier Aerzten, den Krankenpflegern und den Kranken. Die anderen, auch Moritz,[S. 42] Bonitz, Schmidt, Dr. Bayer und die übrigen Geistlichen und verwöhnten Herren hausen da in dem Stalle weiter, wo der Regen nachts auf ihr Strohlager träufelt, und verzweifeln. Die Krankheiten mehren sich, und es heißt, man habe in Marseille beschlossen, das Gefangenenlager Frioul als solches zu räumen. Daran knüpfen sich wieder vage Hoffnungen, deren Endziel ist: „Nach Hause“. Seit ich wieder eine geordnete Tätigkeit habe, kann ich viel ruhigeren Blutes alle solchen Gerüchte aufnehmen. Vielleicht ist, hier im Lager viel zu leisten und die Aufgabe dankbar.

Aus unserer Insel sind zugleich — natürlich getrennt von uns — die gefangenen Frauen und Kinder untergebracht. Ich habe bisher einige von ihnen bei der Beerdigung des Lützererschen Kindes gesehen, und Frau Lützerer, deren Mann gleichfalls an schwerer Dysenterie im Hospital liegt, sehe ich täglich am Krankenlager. Es steht nicht gut mit ihm. — Einige von den Frauen haben ihre Männer hier im Lager, welche sie von Zeit zu Zeit besuchen dürfen. Sie berichten recht Trauriges, wenn sie auch wenig Einblick in das Lager haben können. Es war mein Wunsch gewesen, diese Station zu bekommen. Der Médecin-Major, welcher die Einteilung vornahm, wählte dafür Dr. Berger, weil er fertig Französisch spricht und ich nicht. Zu meiner großen Freude hat er das heute widerrufen und mir die Station gegeben. Er bat mich, morgen auf der Station den ersten Besuch zu machen und gab mir ein Schreiben an den maréchal des quartiers mit, des Inhalts, der maréchal möchte mich auf der Station einführen und der französischsprechenden Krankenpflegerin, Mme. Vogl, vorstellen, ich würde dann noch nach eigener Wahl eine deutschsprechende Dame beauftragen, zugleich mit Mme. Vogl unter meiner Leitung die Krankenpflege zu übernehmen. So, liebste Armgard, nun will ich auch den äußeren Menschen wandeln. Ich rasiere mich und trage den häßlichen Vollbart ab, der Dir immer so besonders[S. 43] mißfiel, dann packe ich die Koffer aus und lege mir neue gestärkte Wäsche zurecht, um alles abzulegen, was an unser Sträflingtum erinnert. Ich habe ja nun eine relative Freiheit gewonnen und darf mich auf der ganzen Insel, wann und wo und wie ich will, bewegen. Morgen schreibe ich weiter. Gute Nacht!

Sonntag, den 11. 10., abends 11 Uhr! Kollege Berger nahm eben einen Abendschoppen bei mir. Wir werden unsolide. Mein neues Zimmer wird täglich einladender. Eine Kiste gibt eine Art Waschtisch, eine andere größere einen pompösen Schreibtisch. Als Stuhl dient mir die Bettkante, und Besucher setzen sich entweder auf die Bettkante oder nehmen je nach Gefallen auf dem Waschtische oder dem Schreibtische Platz. Die Franzosen fangen an, uns ernstlich zu verwöhnen. Es war ein eigenartiger Tag heute. Wie gesagt, meine Toilette machte ich wie in alten Tagen, um den traurigen Menschen der letzten Zeit abzustreifen und hatte etwa zwei Stunden dazu nötig, was sonst nicht mein Fall ist. Dann war es acht Uhr geworden, und ich machte mich auf. Ich schreite gleich hinter den Baracken auf den Bergweg und genieße einen wunderbaren Morgenspaziergang. In Bergwindungen und Buchten führt der Weg, der die schöne Aussicht auf das Meer, Marseille und die anderen Inseln freigibt, bis herauf zur Bergeshöhe, einem eigenartigen, kasernenartigen Gebäudekomplex, der die gefangenen Frauen und Kinder einschließt. Es war ein Spaziergang von etwa zwanzig Minuten, der mich wunderbar zu neuer Tätigkeit stärkte.

Oben auf der Station angelangt, ließ ich mir den maréchal rufen und gab ihm den Brief des Majors. Er stellte mich der Mme. Vogl vor, einer hübschen Französin, Gattin eines Deutschen in Paris, welcher mit uns das Gefangenenlager teilte. Sie hatte bisher die Krankenpflege allein geleistet. Dann wählte ich mir als deutsche Pflegerin Frl. Schnell, ur[S. 44]deutsch, eine Dame, welche zu unseliger Zeit ihren Bruder in Paris besucht hatte und nun diesen Wagemut mit Gefängnis büßte. Sie wohnte oben mit der Frau Schnell, und der Bruder teilte unser Lager. Sie nahm sich mit großem Geschick der Pflege an, und Arbeit gab es in Hülle und Fülle.

Ich machte meinen ersten Besuch durch die verschiedenen Räume. Es waren ungefähr 250 Frauen und ebensoviel Kinder dort. Und in welcher Ordnung und in welchem Zustande?!

Da waren zuerst die Damen, welche, soweit das möglich war, sich etwas abgesondert hatten, dann Frauen aus dem Volke, fast alle Elsässerinnen, endlich Weiber verschiedenen Ranges, verschiedenen Alters und verschiedenen Wertes. Dieses Durcheinander! Ich habe anständige Mädchen und Frauen zusammen in einem Zimmer mit Freudenmädchen interniert gesehen, und versucht, da zu helfen; andere, Gesunde, mit Krätzekranken, die später auch infiziert wurden. Ich sah in einem Zimmer eine Mutter (Elsässerin) mit acht Kindern. Das Zimmer war, deutsch gesprochen, ein Schweinestall. Die Kinder verrichteten ihre Notdurft in das Stroh, und nur die 17jährige Schwester versuchte, die äußerste Reinlichkeit aufrechtzuerhalten, wusch sogar bisweilen die Geschwister. Die Fenster waren geschlossen, und es stank pestartig. Die Mutter ertrug blöde ihr Los, unfähig zu helfen. Ich entsetzte mich wahrhaftig. Auch andere Zimmer zeigten mir, wie furchtbar solche Frauen in der Gefangenschaft hausten. Eine Sorge für die Kinder fand ich wohl hier und da, bei einigen Frauen sogar ausgesprochen peinlich. Manche Zimmer waren auf das korrekteste gehalten, zum Teil sogar gemütlich gestaltet, was recht schwer war, der Durchschnitt war aber entsetzen- und mitleiderregend. Als ich noch in einem dunklen Loch eine Menge Zigeunerweiber mit Kindern in eklem Schmutz fand, da bat ich den Maréchal, blasen zu lassen. Alle Kinder sollten heraustreten. Das habe ich von nun an täg[S. 45]lich beibehalten. Immer, wenn ich auf Station war, mußten die armen Würmer an die Luft. Und was sah ich da! Unter einigen frisch gewaschenen, spielenden und fröhlichen Kindern weitaus die größere Zahl blasse, abgehärmte Gestalten, deren Jugend und Vernachlässigung in Pflege und Ernährung es mir klarmachte, daß hier der Tod fürchterliche Musterung halten würde, wenn nicht schleunigst Abhilfe geschaffen würde. Ich ging nun mit den beiden Damen ernstlich zu Rate, auch mit dem Maréchal, der wohl nicht mit Unrecht alle Schuld auf die Mütter schob. Von den Kindern litten so viele an unstillbaren Durchfällen. Die schweren Bohnen, in Fett gekocht, konnten die Jammergestalten nicht vertragen, und wunderbarerweise gab es gerade auf der Frauenstation weit konsistentere Nahrung. Milch und Milchsuppen gab es nicht, Hautkrankheiten grassierten, Läuse und Ungeziefer gab es überall, Krätze hatte sich unerbittlich fest eingenistet. Noch einmal versuchte ich, mit den beiden Damen auf einzelne Frauen einzureden, aber die Worte schlugen an taube Ohren. Die Gleichgültigkeit ist vollkommen: „Hier haben es die Kinder wenigstens warm, da draußen frieren sie und erkälten sich.“ — Es ist ihnen alles gleich, ob sie mit ihren Kindern verkümmern oder nicht. Wo ihre Männer sind, wissen sie nicht, Nachricht haben sie nicht erhalten, Hab und Gut ist zerstört, nun mag die Sintflut einbrechen. Was nützt es, gegen den Stachel zu löcken? Sie kommen mir vor wie die Armen, die im Schnee verirrt die Energie zum Weiterschreiten verlieren und das kalte Totenlaken begrüßen. Ein Elend ohne Ende; so hatte ich es in seiner ganzen Nacktheit nicht erwartet.

Das war der erste erschütternde Eindruck, den ich von dem Lager der gefangenen Frauen in Frioul hatte. Wie bitter not tat hier Hilfe! Ich wählte mir nun einen Raum zur Sprechstunde. Der Maréchal stellte mir liebenswürdigerweise eine große helle Glashalle zur Verfügung, und wir begannen nach dem Krankenbesuche die Sprechstunde.

[S. 46]

Ich verließ recht gedrückt die Station, aber doch wieder glücklich, daß ich hier eine große Aufgabe zu erfüllen hatte. Der Major hatte mir völlige Freiheit in der Behandlung und Pflege gelassen, auch Medikamente standen zur Verfügung. Aber welche Medikamente wirken bei Verhungernden? Opium gegen Brechdurchfall, Tannin oder Wismut? Hier mußte der Unterernährung gesteuert werden, und Milch, Reis, Grieß, Sago und weiße Semmel erschienen mir die einzigen Heilmittel. — Ich ging auf dem herrlichen Wege zurück zu den Baracken, und da ich zur allgemeinen Suppe zu spät kam, aß ich im Kasino und besuchte die anderen Lager der Deutschen. Gewiß, das Elend war dort auch groß; aber man sah doch Männer, die so viel Energie bewahrten, den Kampf aufzunehmen.

Zum Kriegführen gehört bekanntlich Geld und dreimal Geld, und um Notleidenden in Kriegsgefangenschaft zu helfen ebenso. Ich wandte mich zuerst an einige Herren, die im Kasino täglich zweimal ein großes Essen zu sich nahmen und sich selber wenigstens tadellos pflegten. Auf meine Bitte, mir oder vielmehr den armen Kindern zu helfen, erhielt ich zur Antwort, das sei Sache des französischen Staates. Aber dafür konnte ich den Würmern nichts kaufen. — Ein Bote kam und rief mich von da ab wieder zur Frauenstation. Ein Kind, blaß und elend, ließ unter sich und krümmte sich vor Bauchschmerzen. Kann ich ihm helfen?

Ich suchte abends das Lager der Deutschen auf, und da fand ich Mitleid. Herr Schnell war der erste, der reichlich gab, dann die Herren Vogl, Silberberg, Moritz und Leonhardt. Keiner, den ich darum anging, versagte mir die Hilfe. Dann wandte ich mich an unsere Sisterleute und berief sie zur Versammlung. Ich brauchte ihnen nur zu sagen, daß oben deutsche Kinder hungern, und erhielt nicht zur Antwort, daß die französische Regierung für die Kinder zu sorgen hätte,[S. 47] sondern ich hatte kaum ausgesprochen, als auch schon der Antrag gestellt wurde, die halbe Sisterkasse, und dann die ganze, mir zur Verfügung zu stellen. Als ich erklärte, es genüge vorläufig die halbe Kasse, wurde einstimmig dies als Antrag angenommen. Später sollte ich mehr haben, wenn ich forderte. Auch erbot sich jeder einzelne zu freiwilligen weiteren Beiträgen. Auch die Matrosen kamen zu mir und stellten mir den Inhalt der Matrosenkasse zur Verfügung. In der Kantine bestellte ich für morgen fünf Liter frische Milch, Tapioka, Grieß, Eier und weißes Brot. Morgen wird Suppe gekocht. — und damit gute Nacht.

Max.

Frioul, Mittwoch, den 14. 10., abends 8 Uhr.

Liebste Armgard!

Ach, wenn in unsrer dunklen Zelle
Die Lampe freundlich wieder brennt,
Dann wird’s auch in dem Busen helle,
Im Herzen, das sich selber kennt.

Ich erlebe und erlebe, und die Eindrücke sind so traurig und erschütternd. Allein das sehen, wie die verhärmten Kinder unbewußt Hilfe suchen gegen ihre stupiden Mütter, und dann die männlichen Gefangenen, deren Lager durchnäßt ist vom ewigen Regen, die erkältet sind und verzweifeln! — Es kommt mir fast wie ein Unrecht gegen die Kameraden vor, daß ich es nun soviel besser habe seit wenigen Tagen. Um wieviel besser! Nicht nur, daß ich meine kleine Holzbude für mich besitze und meine eingedeckte Strohmatratze auf Holzgestell, ich habe zu tun und kann so den bösen Gedanken wehren. Die anderen klammern sich an die Hoffnung, daß wir bald von Frioul fortkommen, nach Hause oder in ein anderes Lager, gleichviel, nur fort von hier. Und ich habe das Gefühl, daß ich Deserteur wäre, wenn ich die da oben verlasse, wo sie mich[S. 48] doch so nötig haben. Unsere Baracken sind schön gelegen, und ich versuche bisweilen, einige der anderen durch die Posten mit meinem laissez-passer durchzuschmuggeln. Das geht manchmal glatt, wenn die Posten gutmütig, manchmal nicht, wenn sie bösartig sind. Gestern nahm ich fünf Herren mit mir. Der Posten rief uns an. Ich zeigte mein laissez-passer. — Er: „Ja, Sie kenne ich; aber die anderen dürfen nicht durch.“ Ich bedeutete ihm, daß sie dazu da wären, Medikamente und Milch zu tragen. Da lachte er: „Fünf Mann zum Milchtragen?“ und ließ uns durch. Herrn Schnell, der seine Frau besuchen wollte, gab ich eine Terpentinflasche und ein laissez-passer „mit Medikamenten“. Unglücklicherweise war gerade oben Revision; er wurde zwar durchgelassen, mir aber bedeutet, ich möchte doch kein laissez-passer mehr ausstellen.

Doch nun zum Bericht:

Also am Montag kam ich zur Station und erzählte Frl. Schnell von dem guten Erfolg, den ich gehabt und der bewiesen wurde durch einen großen Korb mit Lebensmitteln, in dem sich auch noch gute Schokolade befand. Dann ließ ich alle Kinder herunterrufen und warten, damit sie die frische Luft genossen. Der Maréchal stellte uns die Küche zum Suppenkochen zur Verfügung. Ich bat die Damen zur Besprechung, und drei von ihnen erklärten sich bereit, die Suppe zu kochen, Frl. Brunswich, die Besorgungen in der Kantine zu übernehmen. Heute wurde für 60 Kinder Grießsuppe mit Ei und Milch gekocht. Ich ließ die Kinder antreten und suchte mir die schwächlichsten aus. So verteilten wir 60 Bons. Die Damen erzählten mir nachher, daß sie noch etwas übrig gehabt haben für einige Blaßgesichter, die ich übersehen hatte. In der Sprechstunde hatte ich auch viel zu tun, von den Damen auf das eifrigste unterstützt. Wir arbeiten uns ganz gut miteinander ein. Frl. Schnells gleich freundliche und bestimmte Art macht sie besonders für solche Pflege geeignet; ich hoffe, daß[S. 49] sie einmal von Grund aus hier Wandel schaffen wird. Gestern kamen mir bei meinem Besuch die Kleinen schon von selber unten entgegen; sie hatten Vertrauen gewonnen, und als ich heute mehr Bons für Semmelsuppe verteilen konnte, da streckten sich die kleinen, mageren Aermchen schon nach dem Zettel aus, und ich habe selten so hohe Befriedigung im Leben empfunden. Einige haben auch Schokolade bekommen. Der Médecin-Major und Dr. Michel, denen ich Mitteilung vom Suppenkochen gemacht hatte, schickten mir jeder 3 Fr. für die Sammlung, auch von anderen Seiten flossen Gelder zu; nur die so reichlich im Kasino essen, haben noch nichts von sich hören lassen. Aber ich kann darauf verzichten. Als ich gerade Sprechstunde abhielt, kam der Médecin-Major, der sich durchaus kollegial benahm. Er schickte zwei Patienten, die ich ihm dafür empfahl, ins Lazarett zu Marseille. Wenn ich früher Böses von französischen Aerzten gesehen, später Schamloses, so sei hier auch der Platz, lobend eines Arztes Erwähnung zu tun, der seiner schweren Aufgabe so voll und ganz gerecht wurde.

Nach der Konsultation besuchte ich noch Frau und Fräulein Schnell, die mit einer kräftigen Tasse Kaffee meine ermatteten Lebensgeister wieder auffrischten. Ihr kleines Zimmerchen mit zwei Strohmatratzen als Lager machte einen so behaglichen Eindruck, daß mancher häßliche Eindruck verwischt wurde. Ich bestellte für morgen Tapiokasuppe mit Ei und hoffe, bald den Kindern eine Schokoladensuppe zu bringen.

So ging auch heute alles seinen guten Gang. Schwerere Erkrankungen haben wir nicht zu verzeichnen, wenn auch manches von den kleinen Kindern vom Tode gezeichnet ist. Vielleicht reicht einmal das Geld, auch etwas Wäsche usw. anzuschaffen. Von seiten des Arztes, der Damen und des Maréchals finde ich das willigste Entgegenkommen. — Einzelne Fälle sind typhusverdächtig, auch Diphtherie haben wir. Die[S. 50] Kranken sind gut isoliert, aber ich möchte sie doch aus dem Häuserkomplex heraushaben. Ich spreche darüber mit dem Arzt; der sagt mir, daß er auch schon daran gedacht habe und beschlossen habe, ein Haus zu diesem Zwecke zur Verfügung zu stellen. Er habe an eins auf dem Wege zu den Baracken gedacht, in welchem augenblicklich die Geniesergeanten untergebracht sind. Ich sollte dort Wohnung nehmen, die Infektionsstation leiten und die Frauen- und Kinderstation weiterbehalten. Ich war natürlich sehr erfreut darüber. Der Maréchal wurde beauftragt, mir das Haus zu zeigen; ich solle ihm dann sagen, wie ich es einrichten wolle. In zwei bis drei Tagen solle der Umzug stattfinden. Auf dem Rückwege zeigte mir der Maréchal das Haus, ganz geeignet für unsere Zwecke. Es hat vier Zimmer nach dem Süden als Krankenzimmer, die ich gut mit je vier bis fünf Patientinnen belegen kann, dann ein Zimmer für mich mit Bett und Schreibtisch, daran anschließend eine kleine Küche und Apotheke. Vor dem Hause kleiner Raum und kleiner Garten, schöne Aussicht auf das Meer. Ich sagte natürlich gerne zu, bat noch, Bonitz als Pfleger dorthin mitnehmen zu dürfen; das wird wohl keine Schwierigkeiten haben. Bonitz ist natürlich von dem Gedanken sehr erbaut.

Am meisten erbaut bin ich selber. Wie anders hat sich seit wenigen Tagen mein Los gestaltet! Ich bereute fast nicht mehr, daß ich gefangen war. Ich aß im Kasino und ging dann zum Schuppen meiner Kameraden.

Dort schwirrten die seltsamsten Gerüchte. Morgen sollten 500 Elsässer fortkommen; wohin wußte keiner, wahrscheinlich nach Korsika. Das Schiff, welches bei uns im Quarantänehafen seit heute morgen lag, soll Pest an Bord haben. Die Sache der Sisterleute soll entschieden sein. In den nächsten Tagen werden alle nach der Schweizer Grenze geschafft und zur Heimat zurückbefördert. Es war wie ein Rausch, der die Aufgeregten erfaßt hatte. Endlich winkte die Freiheit. Aber[S. 51] es gab auch die Bedächtigen, welche böse aussagten, wir würden fortkommen, aber nur, um die schon infizierte Insel zu räumen, in neue Gefangenschaft. Wohin wußte heute noch keiner.

Mich hatte der Rausch mit den anderen ergriffen. Der Gedanke, freizukommen, war so beseligend, daß keiner das nachfühlen kann, der nicht in unserer Lage war. Und doch machte ich mir einen gewissen Vorwurf, daß ich so leicht meinen Platz, der mir so wichtig geworden war, verlassen wollte. Und wie ein Schrecken lähmte die Furcht, ich solle nur von hier fort, in ein neues Gefangenenlager, von neuem all das durchmachen, was ich vordem gelitten, und das aufgeben, was mich so froh gemacht hatte!

Das Gerücht läuft beharrlich weiter und weiter.

Bei schwerstem Regen kam ich nach Hause; er klatscht gegen das Wellblech. Man fühlt sich so köstlich geborgen nach sieben Wochen der Entbehrung. Soll ich das alles hergeben um einen Tausch, bei dem ich nicht gewinnen kann? — Aber, wenn mich das Schicksal zu Euch zurückführte, wenn das Ende der Gefangenschaft da wäre...? Ich wage es nicht auszudenken. Der Gedanke ist zu schön! Was wird der morgige Tag bringen? Ich bin sehr müde. Gute Nacht. — Vielleicht auf Wiedersehen!

Max.

Und nun folgte ein kritischer Tag erster Ordnung, den ich nie in meinem Leben vergessen werde, so voll der Freude, des Erwartens, der Aufregungen, wie ich ihn früher nie, später des öfteren erlebt habe. Am nächsten Morgen schon war die Luft elektrisch gespannt; einer sah den anderen an, ein fragender Blick, und der andere antwortete durch Gegenfrage. Etwas sollte geschehen, das war gewiß; etwas mußte der heutige Tag bringen. Ein großes Schiff fuhr in den Hafen. Die Insel Frioul sollte von Gefangenen geräumt werden, und der erste Schub, eine beträchtliche Zahl, sollte[S. 52] heute mittag fort. Uns Sisterleuten winke die Freiheit, so hieß es, und eine gewaltige Freudenstimmung bemächtigte sich allen. Aber bisher waren nur die 500 Elsässer aufgerufen worden, nichts weiter.

Alles ist heute in Unordnung. Fräulein Brunswich, die mich zum Einkauf in der Kantine für die Kindersuppe abholen soll, erscheint nicht. Ich mache mich auf den Weg, da es Zeit ist zum Besuche der Frauenstation. Auf der Hälfte des Weges begegnet mir Fräulein Brunswich mit dem großen Korbe. Und nun beginnt das Wetterleuchten. Aus dem großen Korbe springen die Neuigkeiten nur so heraus. „Die Elsässer kommen fort, nach Korsika oder sonst wohin. Von den Sisterleuten wird allerhand gemunkelt; Gewisses ist noch nicht heraus; das Schiff, welches gestern mit der Quarantäneflagge einlief, hat Pest an Bord; einer oder zwei sind tot, die übrigen sind als pestverdächtig heute in das Hotel de Dieu (Hospital), welches im Bereich der Frauenstation liegt, eingeliefert, um da behandelt zu werden. Man sucht manches zu verheimlichen; aber allmählich sickert es doch durch.“ Darauf fährt sie fort, man habe ihr geraten, sie solle nicht mehr heruntergehen, damit sie die Pest nicht mit nach unten trüge.

So hatte sie in erregten Worten alles heruntergebeichtet, was sie vermochte. Ich neckte sie und meinte, sie habe sich einen Bären aufbinden lassen, und die Pest, die sie herunterbringen könne, sei nur verheerend für die jungen Kriegsgefangenen dort. Aber sie blieb fest bei ihren Behauptungen, und sie hatte in allem recht.

Ich kam auf die Station. Auch hier bemerkte ich sichtliche Unruhe. Ich fragte den Maréchal, ob es auf Wahrheit beruhe, was man über die Pestverdächtigen sagte. Er bestätigte es. Ein Singhalese war kurz vor der Einfahrt in Marseille an der Lungenpest gestorben. Man hatte ihn sofort ins Meer versenkt, und einen anderen mit ihm, der auch tot oder nur krank war, oder vielleicht auch nur die ersten Symptome der Krankheit bot, so genau war das nicht festzustellen. Es waren ja Singhalesen. — Dann gingen wir nach dem Hotel de Dieu, dessen Front zum Meere, die Rück[S. 53]seite nach dem Hofe der Frauenstation zu lag, und trafen die nötigen Abschließungsmaßregeln. Dann begann die Sprechstunde.

Ich war mitten im Untersuchen und Verordnen, als plötzlich atemlos Fräulein Brunswich in die Halle gestürzt kam: „Herr Sanitätsrat, Sie sind frei! Alle Sisterleute sind aufgerufen, Sie kommen direkt nach Genua. Eilen Sie, das Schiff liegt schon da!“ Nun war Aufregung im Lager, aber weit mehr in meinem Innern. Ich mußte die Sprechstunde unterbrechen und mich schnell von den Damen verabschieden. Der Abschied war kurz und herzlich. Fräulein Schnell sagte wehmütig: „So sieht nun ein glücklicher Mensch aus!“ Ich tröstete sie alle, daß sie nun bald auch so aussehen würden, — ein Händedrücken, und ich verließ die Stätte, die einzige, die mir in der Gefangenschaft lieb geworden ist, und eilte fliegenden Fußes nach unten zum Lager, von einer Aufregung gepackt, die unbeschreiblich war. — Dort begegnete ich gleicher Bewegung. Einzelne Pessimisten, die wissen wollten, man führe uns in ein neues Gefangenenlager nach Korsika, kamen nicht zu Worte. Der größte Optimismus herrschte vor. Man rief mich an, ich solle eilen, den Koffer packen; in einer Stunde führe das Schiff. Nun, das Kofferpacken hat bei mir nie lange gedauert; in zehn Minuten war ich reisefertig und frühstückte noch schnell etwas in der Kantine.

Auffallenderweise waren drei Sisterleute, tschechische Priester, Barth, Kurdin und Kerlitzky, nicht aufgerufen. Sie waren außer sich, als sie so von uns getrennt wurden und nahmen in gedrücktester Stimmung Abschied. Wir waren frei, und sie blieben in alten Ketten. Gerade Barth, an den wir uns besonders angeschlossen hatten, war aufs tiefste erregt, von unserer Seite gerissen zu werden. —

Nun hieß es eiligst Abschied nehmen. Ein Motorboot schickte uns an Bord des Dampfers „Pelion“. Ein Grüßen, ein Hüteschwenken, und wir fuhren aus dem Hafen, wieder einmal ins Ungewisse; denn schon erhoben die Ungläubigen lauter ihre Stimme[S. 54] und warnten vor Selbstbetrug. Wir wurden im untersten Lagerraum verstaut; es fehlte uns Licht und Luft. Der „Pelion“ war einer der ältesten französischen Kästen, gerade gut genug für die „boches“. Als wir uns trotzdem einrichten wollten, wurden die oberen Lagerräume von den Elsässern besetzt, die uns das letzte Restchen Licht und Luft nahmen, und deren Anwesenheit drückend die Frage auf uns legte: Wenn die auch mit uns fahren, wie ist dann an ein Freikommen zu denken? Aber noch hielten die Optimisten den Kopf hoch: „Ganz einfach, das Schiff setzt die Elsässer in Korsika ab und fährt uns dann nach Genua.“ Ein furchtbarer Sturm. Der Kasten wackelt hin und her, schlingert und rollt, daß es eine Art hat. Aber das Schicksal meint es gut mit uns, da es uns Sturm schickte; denn die Posten, des Seefahrens nicht gewohnt, fielen ab. Einer nach dem anderen. Sie lagen zum Teil langgestreckt, das aufgepflanzte Bajonett neben sich, und erbrachen die Seele aus dem Leibe. So war ihre Wachsamkeit gleich Null; einer nach dem anderen von uns kam an Deck und schloß Eß- und Trinkhandelsgeschäfte heimlich mit den Stewards. Aber mens sana in corpore sano. Als das Meer höher ging und wir zum großen Teil kaum noch dem allgemeinen Elend entgingen, faßten seltsame Gedanken in unserem Hirn Wurzel. Wir waren an Zahl weit überlegen; ein Handstreich, und das Schiff war unser. Schiffsmannschaft, Kapitäne und Offiziere hatten wir unter uns. Und so erhitzten wir die kranke Phantasie mit seltsamen Gespinsten. Die Großredner führten das Wort und begeisterten sich an ihnen.

Wir waren noch nicht reif; wir hatten noch nicht genug gelitten; es mußte noch viel heftiger auf Nerv und Niere gehämmert werden, ehe derlei zur Tat sich gestalten konnte. Aber auch sonst, was sollte uns derlei? Wir fuhren ja in die Freiheit; in zwei Tagen sollten wir die Heimat wiedersehen. Warum vorgreifen?

Die Kommissäre waren mit uns an Bord, und auf unser wiederholtes Fragen hatten sie ihr feines Lächeln: „Staatsgeheim[S. 55]nis“. Und ihr Lächeln sagte dem einen „Freiheit“, dem anderen „neue Ketten“.

Wenn aber die Herren Kommissäre auch keinen Mißbrauch mit Gefühlsduseleien trieben, etwas anderes war ihnen geläufiger, das Handelsgeschäft. Und so wurden zehn Mann von uns, auch ich war unter den Auserwählten, aus lauter Freundlichkeit Kabinen eingeräumt, zu 10 Fr. pro Mann, so wurden kleine Essen veranstaltet, teuer und schlecht; der Wein stieg auf seltene Preishöhe, und das Bier, als es begehrter wurde, auf 2,50 Fr. die Flasche. Die übermütige und grobe Behandlung der Stewards erhöhte den Genuß. All das war natürlich nicht erlaubt und entsprang nur der Gutmütigkeit der Biedermänner, wie sie es selber versicherten. Sie nahmen den Abfall und füllten die Taschen.

Der Sturm heulte und der Kasten wackelte immer bedenklicher. Ich hatte mit Moritz und Bonitz zusammen eine Kabine, und was mir seit Jahren nicht passiert ist, nicht einmal im Sturm auf den kleinen Fischdampfern bei Màlaga, ich wurde so jämmerlich seekrank, daß ich alles andere Leid vergaß.

So kam der Morgen, da wir in Bastia landen sollten; denn daß dies das Ziel der Reise war, hatte die Schiffsmannschaft verraten, der auch von einer Weiterreise nach Genua nichts bekannt war. Wir waren nicht vorwärts gekommen, und so ging die widerliche Fahrt noch einen Tag länger.

Wir mußten morgens die Kabine verlassen, durften aber an Deck bleiben, da die Posten unfähig waren, Ordnung zu halten. Der Tag verging; abends durften wir für eine Zulage an die Herren Kommissäre in die Kabine zurück. Wir sollten uns nicht entkleiden, da man annahm, wir könnten schon in der Nacht ausgebootet werden.

Um zehn Uhr zeigte uns ein wüstes Johlen, Kreischen, Pfeifen und Heulen unsere Landung an. Wenn der Inhalt von zehn Affenkäfigen in voller Tätigkeit ist, so kann das Ohr nicht so gräßlich durch die höchsten Mißtöne beleidigt werden als hier durch das[S. 56] Kreischen der alten Weiber. Wir wurden in unsere Kabinen eingeschlossen und uns die Weisung gegeben, uns nötigenfalls darin zu verrammeln. Dann ein Hin- und Herlaufen, wir hören das Aufpflanzen der Bajonette, das Kreischen dauert fort und dringt näher. Man ruft uns durch die verschlossene Tür zu, wir sollten das Licht löschen und uns ganz still verhalten; die Menge wolle das Schiff stürmen und uns lynchen. Wir gehorchen schweigend dem Befehle. Eine unheimliche Nacht! Die Weiberstimmen überschlagen sich in Fisteltönen. Ein Ausbooten sei unmöglich, ruft man uns wieder zu, die Menge würde uns zerfleischen.

Nun habe ich zwar des öfteren gesehen, wie tapfere, alte Weiber, auch junge, durch Flaschenscherben oder Steine Unheil anrichteten; manch ein Loch im Kopfe gab davon Bericht. Aber hier erschien es mir doch noch etwas anders. So grausig auch das Menageriegeheul durch die dunkle Nacht drang, das Ganze wirkte mehr als Theater, wie das der Franzose liebt, Musica, wie der Spanier derlei bezeichnet. Es kam mir so verabredet vor, uns bange zu machen.

Dann verstummte allmählich das Geheul; Offiziere kamen säbelklirrend in die Kabinen, es wurde allerhand verlesen und besprochen, bis ein Uhr nachts etwa. Was in der Nacht durch unser Hirn gezogen, was wir alles, die wir aufgeregt horchten, aus den seltsamen Verhandlungen herausgehört haben, das übersteigt die Phantasie des kühnsten Dichters. Bonitz verstand nicht Französisch, Moritz verstand nicht Französisch, ich verstand nicht Französisch, aber jeder von uns hatte auf der Schule und im Leben so viel von dieser unangenehmen Sprache aufgefaßt, daß wir gerade in der Lage waren, uns ein Hexengesudel aus dem zurechtzumachen, was an unser Ohr klingelte: — Wut der Korsen — starke Bemannung — Schutz — Genua — Militär vermehren — wieder Genua oder etwa Genf — einige bleiben hier, andere nach — Genua! — und was immer wieder an unser Ohr schwirrte, war — Genua!

Am folgenden Morgen setzten wir unseren Fuß auf die Insel[S. 57] Korsika, und alle Träume der Freiheit waren begraben; wir waren von den Korsen zu Gaste geladen.

So begann das widerlichste Kapitel unserer Gefangenschaft, Casabianda. — — —


III. Casabianda.

Und wieder erfaßt mich ein ekles Entrüsten,
Durchblättr’ ich noch einmal, was hier ich gebucht.

Kaum eine Stunde hatten wir in jener denkwürdigen Nacht Ruhe gefunden. Um drei Uhr morgens schon ging das Blasen und Lärmen los; wir kamen übermüdet aus einzelnen Kabinen und tauschten nun aus, was wir erhorcht hatten. Da stießen denn die Meinungen gewaltig aufeinander. Wie wenn wir im Bremer Ratskeller geträumt hätten, so zog in verschiedenen Variationen diese gruselige Nacht an unseren Sinnen vorüber. Und dem entsprachen die Berichte. Die Kühnsten verstiegen sich dazu, gehört zu haben, daß das Schiff weiter sollte nach Genua; die Pessimisten hatten herausgehört — und daran war viel Wahrheit —, daß alle Elsässer, Dalmatiner, Tschechen usw. besser behandelt werden sollten, daß die schlimmste Behandlung die Deutschen treffen sollte. Und wieder schwirrte es durcheinander, und wie Hexenmusik klangen immer wieder die Worte „Gênes“ und „Gêneve“ durch. Die Elsässer gingen zuerst von Bord. Aber das Schiff machte keinen Dampf auf; unser großes Gepäck wurde verladen, und das kleine mußten wir in die Hand nehmen, und dann ging es herunter von dem gräßlichen Kasten zur Eisenbahn, in der wir, dicht gedrängt, in einigen Viehwagen verladen wurden. Die Bevölkerung war ruhig dank den großen Absperrungsmaßregeln, die getroffen waren. Oder war doch der ganze Empfang gestern nichts als Musica gewesen, unsere Männerherzen im Tiefsten zu erschüttern? Nun war ja manch einer von uns tapfer und manch einer weniger; aber dem Weibergekeife hätten wir wohl alle noch standgehalten.

[S. 58]

Uebrigens wurde der Trick, uns das Gruseln zu lehren, von nun an eigentlich dauernd angewandt; ich werde noch des öfteren darauf zurückkommen. Auch jetzt kam der erste Befehl, wir sollten die Köpfe tief halten, da man für den Zornesausbruch der tapferen Korsen nicht einstehe, und da Steinwürfe oder verirrte Kugeln leicht Unschuldige treffen könnten. Es gab auch wirklich deren, die nur im Tunnel den Kopf mutig erhoben und bei jeder Lichtung ängstlich bargen. Nun ging die Fahrt vier Stunden durch die herrliche Landschaft. Auf jeder Station sah das Volk erregt in unsere Menageriekäfige, und besonders Pater Kaspar in seiner Körperfülle und braunen Kutte erregte die Menge zu den seltsamsten Ausrufen. Daß man einen ganz besonderen Fang gemacht hatte, das war schon reichlich verbreitet, und im ganzen Volke schien man es nicht anders zu wissen, als daß es der französischen Regierung gelungen sei, einen ganzen Wald voll Affen, pardon, ein ganzes Nest von Spionen, auszuheben, deren Bestimmung nur die weiße Wand sein konnte und sein würde. Auf einer Station gefiel sich ein hämischer Pfaffe besonders darin, uns Eingepferchte für die Zertrümmerung der Kathedrale in Reims verantwortlich zu machen, und mit Entsetzen sah man auf die Heiligtumschänder, bis sich die Menagerie wieder in Gang setzte. Innerhalb der Tierkäfige ging es friedlicher zu. Manch einer hatte sich auf dem Schiffe mit Vorräten, Wein und Atzung, versorgt. Die Flasche kreiste, und der gutmütige Soldat, der uns mit aufgepflanztem Bajonett bewachte, wurde so reichlich bewirtet, daß er, ermüdet, den Schlaf des Gerechten schlief, nachdem er noch mit Aufbietung der letzten Willenskraft Herrn Kuchenbecker, einem alten, weißbärtigen Herrn, seine Mordwaffe vertrauensvoll in die Hand gedrückt hatte. Wer das Bild gesehen, Herrn Kuchenbecker an der Seite des schlafenden Soldaten, als Wächter französischer Ordnung, der wird es so bald nicht vergessen. Endlich langten wir in Aleria an, wo wir ausstiegen. Ein Hauptmann der Forestiers auf einer merkwürdigen Rosinante mit einer Schar von Förstern empfing uns, und nun[S. 59] ging es langsamen Schrittes — wir mußten uns dem Gang der Rosinante anpassen — nach Casabianda. Dort waren schon einige Militärgefangene interniert. Man führte uns in eine Halle, wo einige Offiziere die Begrüßungsformeln, Abnahme von Messern, Streichhölzern und ähnlichen Artikeln vornahmen. Dann gab es ein freudiges Wiedersehen mit der uns so wohlbekannten Kohlsuppe. Die Sonne neigte sich, und wir sanken ermüdet ins Stroh. Ein großer Kübel wurde uns als nunmehr unentbehrliches gemeinsames Gerät ins Zimmer gestellt. Immerhin hatte er wenigstens einen großen Holzdeckel. Die Wachen traten heraus, und die Riegel klirrten. Noch ein kurzer Besuch, Feststellung, daß wir alle da wären, und wir blieben uns selber überlassen.

Am nächsten Morgen ging das alte Rezept los. Wir sollten das Gruseln lernen. Zu dem Zwecke rief der Offizier, Herr Simeoni traurigen Angedenkens, einige, die Französisch sprachen, zusammen und sagte ihnen, sie sollten es weiter unter uns verbreiten, daß die große Wachsamkeit, die sie an uns verschwendeten, zu unserem Besten sei. Die Korsen seien gefährlich und haben uns Tod geschworen. Sie sähen in uns allen Spione, und wir seien vor ihren Dolchen nicht sicher. Auch wenn wir herausgelassen würden, dürften wir nicht einen Schritt außerhalb der Umfassungsmauern uns wagen, da der Kommandant ausdrücklich gesagt, er stünde für keinen derartigen Unfall ein. — Also sprach Simeoni. — Er war ein Mann, der von der Pike auf gedient, bei der Fremdenlegion avanciert und schließlich Offizier geworden war. Dem entsprach er ganz. Er war groß, kräftig, trug einen martialischen Schnauzbart und gefiel sich in starker Pose. Er bekam bald den trefflichen Namen „der Operettenleutnant“. Ich beschäftige mich mit dem Mann genauer, weil er berufen war, eine schwere Rolle in unserem künftigen Schicksal als Gefangene und auch in dem meinen zu spielen.

Bei der Revision der Koffer, die programmäßig am zweiten Tage nach dem Quartierwechsel stattfand, passierten wieder einige kleine Humoristika. Eines will ich berichten: Dr. Bayer hatte aus[S. 60]ländisches Geld bei sich, das der untersuchende Korporal mit besonderer Neugier betrachtete. Wessen Kopf ist das? — Kaiser Franz Joseph. Und der? — König Georg von England! Ein bewunderndes Ah! Und der? — Kaiser Wilhelm. — Da verzerrten sich die Züge des Korsen, und er warf das Geldstück klirrend auf den Boden. Wilhelms Name ist Kinderschrecken, aller Haß entlädt sich auf unseres Kaisers Haupt. Einen Schuldigen will das Volk haben, und im Fälschen der Geschichte sind sie Meister.

Unsere Lager werden nun genau bestimmt. Ich teile wieder mit Bonitz eine Matratze, wir sind aneinander gewöhnt. Abends erfaßt mich ein dumpfer moralischer Schmerz. Warum nahm man mich von Frioul fort, von meiner Tätigkeit, ehe ich sie eine Woche nur ausgeübt hatte, und was tue ich hier? Nun ging das Verzweifeln von neuem los, und es wuchs uns über den Kopf und wuchs zu einer solchen Stärke, daß wir ihm nicht wehren konnten, wir gerieten in wirkliche Gefahr, nach innen und nach außen.

Schön liegt Casabianda, der Neid muß ihm das lassen. Als uns die Terrasse freigegeben war, atmeten wir auf und genossen in vollen Zügen die reine Luft und die prächtige Aussicht. Vor uns, fast greifbar, nur durch Wiesen von üppigem Grün und kleine Waldungen getrennt, ragten in riesiger Kette die schneebedeckten Berge Korsikas empor. Der Anblick ist imposant, und er imponierte uns heute und er erfreute uns heute noch, auch noch am anderen Tage und einigen folgenden; dann aber erwachte wieder das quälende Bewußtsein, daß das nichts anderes sei als vergoldete Stäbe unseres Käfigs, und daß wir anderes zu tun hätten, als arbeitslos uns der Natur zu erfreuen. Und als uns so auch die Freude an der Natur genommen war, begann unser Leiden immer drückender die Brust zu beengen, daß wir fast zu ersticken meinten. Ein Etwas trat damals in die Erscheinung, das uns fast das Unerträglichste dünkte. Aus unseren eigenen Reihen traten einige hervor, die, der französischen Sprache kundig, sich dazu hergaben, ein gewisses Kommando über uns sich anzumaßen, unterstützt[S. 61] von der französischen Behörde. Es war natürlich, daß bei einer immer wachsenden Zahl von Gefangenen Disziplin herrschen mußte. So wurden wir in Gruppen und Sektionen eingeteilt, welche ihre Gruppen- und Sektionschefs hatten, für jedes Zimmer war weiter ein Zimmerältester verantwortlich. Zu diesem Posten waren nur solche möglich, welche Französisch gut sprachen. So war die Auswahl beschränkt, und es sind nicht immer die Taktvollsten, leider auch nicht immer die Besten gewesen, welchen solch Posten zugewiesen wurde.

Die Korsen hatten in Maurer ein gutes Medium gefunden, uns aufzuregen, nur hatten sie nicht bedacht, wie lange sich unser Haß zurückdrängen ließ, ohne zum Ausbruch zu kommen. Es war in ihnen von Anfang an die Lust wach, uns bis aufs Blut zu reizen, und dieser Lust frönten sie, wie ich es später noch zeigen werde, bis zum Satten. Der Spanier quält Tiere, ist aber gutmütig zu Menschen, der Franzose aber quält Menschen mit Lust, mit satter Lust. Was nun alles zu einem wilden Gebrodel in dem Höllenkessel von Casabianda vereinigte, war die verdammte Gleichheit unter den Franzosen und übertragen auch auf uns. Das habe ich nie so ausgeprägt empfunden als in jenen Tagen in Casabianda, „dort, wo es keinen Herrn und keinen Diener gibt“. Das mag schön klingen, aber für den souveränen Pöbel paßt es nicht. Einer dient nicht etwa dem anderen, sondern die Sucht, Herr zu sein über den anderen, ist nie so ausgeprägt wie hier. Wer nicht Herr sein kann und aufsteigen, der tut alles, hernieder zu ziehen; nur keinen Besseren anerkennen! Keine Autorität! Der gemeinste Schwätzer soll dem Denkenden gleichstehen. Der Kommandant, Herr Teissier, war ein Mann von Formen und Anstand, nicht gutmütig, aber entgegenkommend. Was wir anfangs für Gutmütigkeit hielten, war Schwäche, er konnte nicht „nein“ sagen, zu uns nicht, aber weniger noch zu seinen Untergebenen, und das führte naturgemäß zu Wirkungen. Der Operettenleutnant und allen voran der Arzt führten Regiment über ihn, diese an bevorzugter Stelle. Aber auch[S. 62] jeder Forestier, jeder Gendarm fühlte sich als Kommandant. So passierte folgendes, was etwa typisch für die Verhältnisse in Casabianda war:

Ich genoß als Arzt eine gewisse Ausnahmestellung, welche zwar nicht im entferntesten derjenigen glich, die ich in Château d’If und Frioul gehabt hatte, die mir aber doch Freiheiten sicherte. So hatte ich keine Arbeit zu verrichten, trug ein laissez-passer, ausgestellt vom Kommandanten, bei mir, das mich berechtigte, die Posten jederzeit ungehindert zu passieren. Das ist ein Vorteil oder sollte einer sein. Als ich eines Tages mir aus der Kantine etwas besorgen wollte, ging ich am Posten vorbei, der mich anhielt. Ich zeigte ihm das Dokument, woraus er mir achselzuckend bedeutete, das sei ihm ganz gleichgültig. Ich pochte etwas energischer auf meine Rechte und bekam nun die Antwort, die wir von nun an zu allen Gelegenheiten und fast täglich hörten: „Ich sch..... auf den Kommandanten, der Kommandant bin ich!“ — Ich geriet in Wut und wollte nun gerade durchdringen, weil ich damals noch reichlich harmlos über Machtbefugnisse des Kommandanten dachte; aber schon hatte der Kerl im Augenblick seinen Revolver entblößt, setzte ihn mir auf die Brust und sagte: „Einen Schritt weiter, und ich schieße Sie tot.“ — Dieser Logik gehorchend, zog ich mich zurück und beschloß, über solches Vorgehen, das mir damals noch unerhört erschien, mich beim Kommandanten zu beschweren. Das geschah am nächsten Tage. Der Kommandant war außer sich über die Rücksichtslosigkeit des Forestiers und schrieb eine äußerst strenge, aber immerhin weise und gerechte Maßregelung einer solchen Insubordination auf mein laissez-passer als Zusatz. Nun hatte ich das drohendste aller Schriftstücke in der Hand, aber versucht habe ich nie mehr, die Kraft solchen Talismans zu erproben. — Wie gesagt, wo es nur am Platze war oder sein konnte, gebrauchte man das Wort: „Ich pfeife.“ Jeder Forestier (ich drücke mich sehr gewählt aus) pfiff auf den anderen, die anderen auf ihn und mit ihnen zusammen auf den vorgesetzten Offizier, dieser auf sie und auf die anderen Offiziere,[S. 63] und dann wiederum in Gemeinschaft mit dem Arzt, auf den sie alle pfiffen, und den anderen Offizieren auf den Kommandanten. Nur dem armen Kommandanten blieb im Lager nichts zu pfeifen, so mußte er sich schon höher hinaufbemühen. So herrschte ein Geist der Unordnung in Casabianda, der allem hohnsprach, was ich im militärischen Leben für möglich gehalten hätte, der Geist des souveränen Pöbels.

Casabianda, 10. November 1914.

Liebste Armgard!

Der letzte Brief, der wirklich an Dich abging, war eigentlich nicht für Dich berechnet, sondern für den Kommandanten. Ich schrieb ihn in gewisser Verzweiflung, um das Ohr des Kommandanten zu erreichen, das uns der Erste Offizier künstlich verschließt. Der Herr Maurer hatte mich dazu getrieben. Wiederum war ich zum Leutnant Simeoni gerufen, der mir sagte, daß der Geist der Rebellion in unsere Reihen gedrungen sei, und daß ich der Rebellenführer sei, der die anderen aufhetze. (Ich hatte meine Lampe erst fünf Minuten nach 9 Uhr statt Punkt 9 Uhr ausgemacht.) Er wolle heute noch Rücksicht nehmen, auch habe er das nur im allgemeinen gehört, nicht etwa durch Mr. Moré (das war gelogen, denn Mr. Moré hatte sich wieder einmal gebrüstet, daß er es dem Sanitätsrat eingebrockt habe). Er wollte also von Bestrafung absehen, aber wenn ich es noch einmal wagen sollte, mich beim Kommandanten zu beschweren, so würde er (der Kommandant bin ich) mich auf zwei Tage einsperren.

Ich hatte es satt und suchte das Ohr des Kommandanten durch den Brief an Dich, in dem ich Dir alle Schandtaten des Mr. Moré aufzählte, in der Sicherheit, daß er die Zensur nicht passieren, daß aber der Kommandant ihn lesen würde. Nun höre ich, daß er ungelesen durchgegangen ist, der Kommandant hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen, sein Zweck[S. 64] ist verfehlt, Dich hat er höchstens geängstigt. Das habe ich nicht gewollt! — Neulich bekamen wir den ersten Sold in französischen Diensten, auch die Priester und Aerzte, die nicht gearbeitet haben. Einen Sou pro Tag, ich erhielt 4 Sous. Es werden noch mehrere kommen, die will ich für Hans bewahren. Ein Memento!

Unser Los ist unerträglich. Doch da es eben ertragen werden muß, solange psychische und physische Kraft standhalten, so will ich nicht jammern. Viele andere haben schwereres Los zu tragen, nur nicht so elend, so gedemütigt wie wir. Ich klammere mich nur noch daran, daß, wenn wir unseren alten früheren Stolz ganz eingesargt haben, ein neuer geläuterter Stolz entstehen wird. So muß es wohl kommen. Es ist unendlich schwer, die täglichen Demütigungen, die stündlichen Nadelstiche zu überwinden, den Hohn des Pöbels und unsere Ohnmacht. Manchmal meine ich, daß wir vom Propheten von Nazareth lernen dürften, dessen Stirn-, Hand- und Fußmale leuchteten als Sinnbild seines Stolzes. Wenn wir uns erst dazu durchgerungen haben werden, Schmähungen und gewollte Demütigungen unserer Feinde als Ehre zu empfinden! — Ich glaube, ich komme solcher Auffassung näher, heute kann ich mich noch nicht zu ihr aufraffen.

Zurück aus dem Feindesgewoge zur Idylle. Wir hatten eine Eingabe gemacht, man möchte uns gestatten, in einer Küche, die wir uns provisionell einrichten wollten, für einige Herren selber zu kochen. Die Eingabe ist günstig beschieden und uns ein kleiner Raum neben der Küche zur Verfügung gestellt, in welchem wir zwei kleine Herde aufstellen konnten. Zum Küchenchef bin ich erhoben, wieder eine der vielen Wechselstufen in meinem bewegten Leben. Präsident der Republik Château d’If, Chefarzt der Frauen- und Kinderstation in Frioul, Oberkoch für die Zuchthäusler mit garantiertem Mehreinkommen! — Was winkt mir noch? Der Pfad scheint[S. 65] etwas abschüssig, aufwärts weist er nicht. Aber ich habe doch etwas zu tun. Der Arzt hier, ein junger Mann, ebenso abstoßend wie gesucht freundlich, hat sich mit Heller stark überworfen und ihm jedes Eingreifen in die Behandlung von Kranken, auch jede Bestellung von Medikamenten untersagt. Ich selber bin mit dem Knaben noch nicht recht in Berührung gekommen. In unseren Räumen sieht man ihn nicht, trotzdem er da oft genug not täte bei der wachsenden Dysenterie. Einen Toten hat sie schon gefordert.

Wenn ich also für den Magen der anderen sorge, so leiste ich ärztlich mein gut Teil, denn die Verpflegung ist erbärmlich, und die Fälle der Dysenterie sind zum großen Teile der Unterernährung zuzuschreiben.

Moritz und Radei sind mir zugeteilt. Radei versteht die Küche schon und kocht selbständig, Moritz gibt sich der neuen Schule mit bewunderungswürdigem Eifer hin. Wir kochten am Tage der Eröffnung ein recht einfaches Gericht, Rindfleisch mit Gemüsesuppe. Es war dasselbe wie in der Menage, und doch, wie anders! Uns mundete es kostbar, wie am heimatlichen Tisch. Alles, was wir bisher vermißten, Kraft in der Bouillon, Verschiedenheit in den Gemüsen (Kohl hatte ich ausgelassen), ein weiches und großes Stück Fleisch, ganz durchgekocht, fanden wir hier. Radei und ich übernehmen jeder abwechselnd die Garantie für gutes Essen. Am nächsten Tage kochte der „ungarische Professor“ sein Gulasch, das allgemeinen Beifall fand. Heute sitze ich nun frühmorgens 6½ Uhr bei scharfer Kälte oben in meiner offenen Küche und habe glücklicherweise so viel an die Mäuler der Fresser zu denken, daß ich den trostlosen Gedanken keinen Raum geben kann. So geht mein Leben in dem neuen Beruf Tag für Tag zu wie folgt:

Morgens beim Grauen Appell, dann ziehe ich zur Küche und mache großes Feuer, meist aus Selbsterhaltungstrieb, denn die Kälte macht sich recht bemerkbar. Dann bringt mein[S. 66] Bursche (wir leisten uns solchen Luxus für 50 Cts. täglich) Wasser und Waschgeräte nach oben, wo ich mich einer gründlichen Reinigung unterziehe, dann meinen Morgenkaffee wärme. Inzwischen kommen Radei und Moritz zur Menuberatung, dann Linke mit dem großen Einkaufskorb, Küchendienst. Endlich naht der Financier der Küchengesellschaft, Herr Gerson, mit seinem Notizbüchelchen und notiert, was wir ihm an Einkäufen als notwendig vorschlagen, nickt bejahend oder schüttelt mißbilligend den Kopf. Wir alle fünf gehören zu den Senioren der Gefangenen. Radei, der jüngste von uns, zählt 35 Jahre, Gerson und Moritz sind noch älter als ich, Linke geradeso alt. Nun geht es zum Einkauf. Zuerst herauf zum Fleischer, einem dicken braven Manne, der uns manch gutes Stück ausgesucht, manchen Vogel besorgt und auch manche Flasche Wein heimlich zugesteckt hat. Für 22 Personen Fleisch, also immerhin eine tüchtige Portion, denn wir haben Hunger und müssen nachholen. Dann zur Kantine, wo wir auch freundlich empfangen werden, wir sind immerhin gewichtige Gäste. Die alte Frau erzählt uns ihr altes Märchen von Guillaume, das ihr das Käseblättchen immer mit neuen Tricks mundgerecht auftischt, und die junge, deren Mann im Kriege ist, gibt aus, je nach den Nachrichten, die sie empfangen, reichlich oder weniger reichlich. Die Nachrichten müssen selten gut sein, denn sie wiegt immer knapper und steigt in Preisen. Bisweilen wird uns ein Morgenschnäpschen kredenzt, Branntwein, der Krämpfe erzeugt. Nun geht es ans Reinigen der Gemüse, des Fleisches, Aufsetzen des Wassers usw., bei dem sich mein Freund Moritz wie immer durch besondere Sorgfalt auszeichnet, bis die verschiedenen Sachen aufgesetzt sind und die Frager sich einstellen: „Was gibt es heute?“ Ihre Zahl vermindert sich zusehends, denn sie werden meist nicht eben freundlich behandelt. Sie sollten sich auch solche Fragen abgewöhnen, denn die Antwort ist doch immer die[S. 67] gleiche: Das weiß der Koch erst ganz bestimmt, wenn das Essen auf dem Teller liegt. — Wie oft hat es sich gerächt, wenn wir so tiefe Weisheit mißachteten und in vorschneller Prognose die Tagesplatte verraten hatten, und nachher gestehen mußten, daß eben aus dem Wunderkochtopfe zum Schlusse etwas ganz anderes hervorgegangen war, als unsere Meinung gewesen. Wenn ich nun verrate, was es bisweilen gab, und bis zu welchen Höhen sich unsere Kochkunst verstieg, so schelte man uns nicht Schlemmer, wir haben es vorher schlecht genug gehabt, und solche Perioden des Wohllebens waren immer von kurzer Dauer, wer weiß, wie wir es später haben werden? Also nach dieser entschuldigenden Vorrede zur Aufzählung der Tagesplatten, die zu den außerordentlichen gehörten: Aal grün, Aal gebacken mit Breikartoffeln (dabei half, wie auch sonst oft, der Kapitän der Elsa Köppen, Herr William, der eine wunderbare Fähigkeit besaß, die Aale durch den Essig laufen zu lassen und dann ihnen das Fell über die Ohren zu ziehen), Kalbskeule mit Gemüse (hors de concours), Schweineschinken, Apfelmus, Fischsuppe mit Tomaten, Huhn mit Reis, gebratene Hühner, Rindfleisch mit Senfsauce, Bouillonkartoffeln und Sellerie, Karotten und Steinpilze mit Koteletts, frische Champignons, Kartoffelpuffer, Eierkuchen mit Obst usw. usw. Wenn man bedenkt, daß der Durchschnittspreis für die Portion 50 Cts. sein sollte, daß Herr Gerson böse Augen machte, wenn wir das Budget überschritten, daß wir keine weiteren Gewürze als Zwiebeln, Salz und Pfeffer zur Verfügung hatten, daß die Butter unerschwinglich teuer und das Schmalz ungenießbar war, so denke ich doch, daß wir das Unsere geleistet haben. Zur Kräftigung der Kasse wurde nachmittags Kaffee gekocht, an dem wir pro Tasse etwa 7 Cts. verdienten, und ein Cedratine dazu ausgeschenkt, der auch einen kleinen Ueberschuß ergab. Andernfalls wäre unser gemeinnütziges Unternehmen verkracht. Wenn nun alles sich gesättigt entfernt hatte, begann[S. 68] die Reinigung der Küchenräume durch eine angestellte Kraft. Später stand die Küche noch einmal den 22 Mitinhabern zur Verfügung, und manch Eierkuchen oder Kartoffelpuffer wurde darauf gebacken. Bisweilen, aber nur selten, an ganz besonders kalten Tagen, braute ich abends einen Eierpunsch, zu dem Anmeldungen zugelassen wurden. Das geschah besonders, wenn die Kasse Ebbe aufwies.

Daß ich nun doch die Küche aufgeben werde, hat verschiedene Gründe. Zuerst kann ich selber nicht essen, wenn ich koche, und nehme so viel zu wenig Nahrung zu mir. Ich werde Radei auf einige Zeit die Leitung übergeben und für einige Zeit auf Urlaub gehen. Der wird wohl auch nicht lange aushalten und Moritz auch nicht, denn sie sind beide nicht die Stärksten, und Arbeit, die zu leisten ist, ist weit größer, als der ahnt, welcher mit seinem möglichst tiefen Teller ankommt und sich seine Portion zumessen läßt. Dann aber will ich mich zurückziehen, weil die Küche zu exponiert liegt und wir das ganze Getriebe der korsischen Forestiers und Gendarmen wie auch Simeoni mit seiner Kommandostimme täglich vor Auge und Ohr haben. Ich möchte die Aussicht auf die Berge und alle Schönheiten der Natur entbehren, wenn ich einmal ein Zimmer für mich hätte, in das ich mich verschließen und ausdenken könnte, ohne immer wieder mit ansehen zu müssen, was uns Gefangenen hier täglich und stündlich von den Korsen zugefügt wird.

Gestern passierte etwas, so widerlich, wie ich lange nichts erlebt. Nach dem Essen saß ich auf der Mauer gegenüber der Küche mit Herrn Großpietsch, einem jungen Manne von 21 Jahren, der mir in der Küche geholfen hatte. Während wir uns unterhielten, sehen wir, wie ein französischer Soldat in der Küche herumschnüffelt. Ich frage: „Was will der Kerl?“ G. geht hin und fragt den Soldaten, was er da suche, worauf der sofort grob wird und G.s Namen fordert.[S. 69] Ein Gendarm kommt aus der anderen Küche, packt G., der sich verteidigt, und nun prügeln beide zusammen auf den einen Wehrlosen in der rohesten Weise. Dann verhaften sie sie ihn. Unterdessen war schon wieder unten ein wüstes Durcheinander entstanden. Alle, welche den Vorfall mit angesehen hatten, entrüsteten sich gegen solche Mißhandlung. Der Hauptmann kam, ein bequemer, weißhäuptiger kurzer Herr, dem der Name Schildkröte beigelegt war. Die Forestiers zogen, wie sie das so gewohnt waren, den Revolver und bedrohten jeden einzelnen, einige weitere Verhaftungen wurden vorgenommen, der Hauptmann sprach mit dem Gendarmen und bestätigte die Strafe. Da trat ich an den Hauptmann heran und bat, gehört zu werden, da ich direkt neben G. gestanden habe. Ich wurde nicht gehört, sondern mir die Antwort zuteil: „Wenn ein französischer Gendarm sagt, er habe nicht geschlagen, so gilt das mehr, als wenn 200 Deutsche beschwören, er habe geschlagen.“ Unsere Hoffnung auf Freilassung taucht täglich auf und täglich wieder unter. Unseren Nerven wird reichlich viel zugemutet. Wie lange werden wir aushalten? Welche Zustände! Wer uns hier sähe, würde sich entsetzen. Wir liegen auf Stroh am Boden, in unsere Wäsche kriechen die Läuse, die Ratten beginnen sich zu zeigen und werden uns allmählich an Zahl näherkommen. Im Zimmer steht neben den Lagern ein Kübel, der, sobald wir eingeschlossen sind, bis zum Morgen benutzt wird und fast immer besetzt ist. Wie soll da der Infektion Halt geboten werden?

Willkür und Unordnung treiben Blüten. Neulich wird Klaebisch als Sektionschef plötzlich ins Gefängnis gesteckt, weil ein Mann seiner Sektion fehlt. Wir zählen nach und finden, daß alles stimmt. Nun werden die Franzosen gerufen und zählen auch nach, dreimal, bis sie wirklich herausbekommen, daß keiner fehlt und Klaebisch wieder entlassen wird. Das[S. 70] Gefängnis füllt sich, der brave Arzt läßt alle ins Gefängnis stecken, welche sich krank melden und von ihm nicht als krank befunden werden. So beugt man Krankheiten vor. Wir leben im Lande der Humanität.

Dr. Bayer hat eine Karte geschrieben, darin heißt es: „Wir haben auch Nachbarn, Ratten, Wanzen, Läuse, Krankheiten und den Tod.“

Max.

Am 1. November waren neue Zivilgefangene unserm Zuchthaus zugeteilt, es waren das alles Wehrpflichtige, welche, von Spanien kommend, auf Schiffen, die meisten auf dem Federigo, abgefangen waren. Wir bedauern die Armen, die mit uns leiden sollen. Von den in Frioul zurückgelassenen drei Priestern erfahren wir, daß sie freigeworden und nach Spanien zurückgeschickt sind. Barth schreibt an Bayer folgende humoristische Karte, die wunderbarerweise durch die heute noch harmlose Zensur geht, trotzdem ihr Sinn allzu deutlich ist. Sie lautet:

18. 11. 14.

Lieber Freund!

Ich habe Deinen Brief, den Du nach Graz schicktest, gelesen, ebenso die Briefe Pressel und Klaebisch, und freue mich, daß es Euch wohlgeht. Da ich weiß, wieviel Dir an unseren Vereinen liegt, so teile ich Dir mit, daß sie, besonders unser Theater, brillant funktionieren, trotz der schlechten Zeit. Nur Franz Rebl und Peter Schwarz sind im Kriege gefallen und können nicht mehr aufstehen. Sehr schwer verwundet sind Nikolas Schnaps und Georg Nordwassermann, dagegen ist unsere Demi-Monde sehr viel beschäftigt und tritt mit uns in verschiedenen Rollen auf. Wir ernten alle sehr viel Beifall und Lorbeerkränze. Brauchst also um unsere Sache nicht besorgt zu sein. Hoffe, daß wir uns zu Ostern wiedersehn. Beste[S. 71] Grüße an alle Freunde, und bitte um einige Zeilen an Deinen alten Freund

Philipp.

Der brave Barth. Wenn wir ihn noch bei uns hätten! Aber wir gönnen ihm alle sein besseres Los. Wir freuen uns für jeden, der diesem Kerker entgeht, und erwarten, daß er in der Ferne für uns wirkt.

So leben wir weiter im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Wenn wir doch schneller abstumpften gegen Kränkungen! Es ist das, was wir täglich üben müssen, es wäre die erste Phase zur Gesundung, der Sieg über uns selber, aber es geht noch nicht. Ein vielleicht krankes, gewiß nicht berechtigtes Ehrgefühl zuckt immer wieder in uns auf. Wir sagen uns, daß uns der Feind nicht kränken kann, und ärgern uns über uns selber, wenn es ihm doch immer wieder gelingt. Wir dürfen nicht aufhören, gerade in dem Sinne an uns zu arbeiten.

Verlaß ist auf nichts, und was heute gilt, wird morgen nicht gelten. Ist der Kommandant für uns, so haben wir Simeoni als Gegner oder die Forestiers. Und wer hat die Macht? Ein ganz nettes Stückchen passierte neulich. Dr. Mayne hatte irgend etwas Unbesonnenes begangen und sollte ins Gefängnis; da ging er zur Frau vom Domänenverwalter, die für uns Partei nimmt und auch gründlich die Hosen anzieht, wenn sie unter den Offizieren auftritt. Diese Frau sagt ihm, sie würde das schon regeln (und sie hat es auch geregelt), rät ihm weiter, er solle vor allem den korsischen Forestiers gehorchen; was der Kommandant sagte, wäre unwesentlich, alles hinge von den Forestiers ab. Die gute Frau hat uns auch später oft geholfen.

Der Kommandant hat uns Aerzte von jeder Arbeit befreit. Am 20. November kam ein neuer Genieoffizier, um Arbeitsverteilung vorzunehmen. Simeoni sagt ihm, als er an mich kommt, daß ich als Médecin-Major frei von Arbeit sei. Er kehrt sich nicht[S. 72] daran: „Gut, Landarbeiter“. Dr. Heller passiert das gleiche. Die Pfarrer sind gerade in Aleria, sonst kämen sie auch dran. So nehmen wir Spaten in Empfang und gehen als Ackersmann hinaus aufs Feld. Wir nahmen die Sache humoristisch, und es lohnte sich, sie so zu nehmen. Es war der erste Tag meiner Zwangsarbeit und einer von den wenigen, die mir gefallen haben. Ich will dabei verweilen.

Nachdem wir einem Korporal zugeteilt waren, ging es zur Feldarbeit; vor allem heraus aus dem Bau und dem Kasernenhofe! Vor uns die schneebedeckten Berge. Wir sind der Abteilung zugeteilt, in der auch Moritz und Bonitz arbeiten. Was die können, warum nicht wir auch? Bonitz hat schon Arbeit gewählt: er unterhält das Feuer, und ich helfe ihm und unterhalte ihn und wir uns gegenseitig und das Feuer. Die Landschaft ist herrlich. Der Korporal gibt meinen Spaten einem andern und fordert mich gutmütig auf, nicht zu arbeiten. Ich sehe um mich und mache die Entdeckung, daß die anderen auch mit recht wenig Arbeit auskommen. An der Zwangsarbeit wird keiner zugrunde gehen, das ist ein Trost, wenn mir auch Moritz sagt: „Du hast schön reden, guckst einmal in die Sache herein, hast Glück in der Wahl des Korporals, und nun willst du über derlei urteilen?“ Recht hat er, aber ich auch, denn ich habe auch später die Waldkolonnen und Essenträger begleitet und die verschiedenen Arbeiten gesehen. Immer fand ich, daß die Arbeit kräftigend wirkte und ein gutes Gegengift war gegen die seelische Depression.

Nachdem wir also das heilige Feuer zu schöner Glut geschürt hatten, zogen wir aus, neues Holz zum Brande zu suchen. Bonitz führte mich an einen Bach, an dessen Ufern viel trockenes Holz lag und vertrocknete Bäume standen. Wir sammelten einiges, machten aus den größeren Stämmen eine Bahre und luden das gesammelte Holz darauf. Das war das Werk von zehn Minuten, aber eine halbe Stunde arbeiteten wir dann viel schwerer an der Vertilgung unseres mitgebrachten Frühstücks und einer halben Flasche Rot[S. 73]wein. Die Sonne neigte sich schon. Wir genossen die herrliche Ruhe. Kein Geschrei, kein ewiges Gekeife: „Was soll’s, flott! Vorwärts, flott!“ — Wir atmeten tiefer. Dann nahmen wir unser Holz auf, brachten es zum Feuer, dessen Bewachung andere übernommen hatten, und verbrachten noch ein Viertelstündchen am Feuer mit den anderen. Der Korporal saß bei uns. Als wir nach Hause kamen, sah der Médecin-Aide-Major gerade aus dem Fenster. Es muss ein wohltuender Anblick für ihn gewesen sein. Er kam aber doch heraus, reichte uns seine kleine weiche Hand und fragte uns naiv aus, ob wir denn arbeiteten. Wir bejahten das, und Dr. Heller sagte lachend: „Wir sind leider noch nicht recht an dieses Instrument gewöhnt“, und wies auf die Hacke über seiner Schulter. Hierauf sagte er, wir möchten am nächsten Tage zu ihm kommen. Er hat uns dann freigeschrieben von aller Arbeit, aber wird uns das nützen? Vielleicht sagt schon der nächste korsische Forestier: „Ich pfeife auf den Arzt, ich bin der Arzt. Vorwärts also!“ Aus allem Elend taucht immer wieder die Hoffnung auf Befreiung. Heut heißt sie Infantin Beatriz von Spanien (die in hochherziger Weise sich um meine Befreiung bemüht hat), morgen Sister, dann Auswärtiges Amt, Genf, Bern, Repressalien, Austausch, Arzt, Militärarzt. Heut hat sie eigenartige Gestalt gewählt, sie heißt Italien. Gerüchte über Gerüchte dringen an unser Ohr, Telegramme nach Italien untersagt, Geld über Italien wird nicht ausgezahlt, Spannung zwischen Italien und Frankreich, geheimer Vertrag zwischen Italien (Bülow in Rom) und Deutschland, der Italien verpflichtete, im Anfange des Krieges neutral zu bleiben, damit die Einfuhr von Lebensmitteln leichter sei. Und durch das Labyrinth des Ohres dringen die Gerüchte tief ein ins Gehirn, klopfen an die Ganglien und legen sich fest in den Nervenzentren. Und nun beginnt die Phantasie seltsame Blüten zu treiben. Bis zum Appell steht alles auf der Terrasse und hält Ausschau nach italienischen Kriegsschiffen, die nicht erscheinen wollen. Neue[S. 74] Meldungen kommen. Einer hat gehört, wie einer zu einem gesagt hat, in Spanisch: „Italien hat den Krieg an Frankreich erklärt“, ein anderer, wie ein anderer einem anderen zugeflüstert hat: „Der Krieg ist erklärt.“ Und wir berauschten uns förmlich an romantischen Phantasiegebilden. Es genügt nicht, daß der Krieg entbrannt ist, wir bauen weiter. Was tut Italien, was wird der erste kriegerische Schritt sein, den es unternimmt? Natürlich die Besetzung Korsikas. Und Korsika wird sich nicht wehren können, Bastia wird fallen und Ajaccio. Die Italiener rücken ein und bringen uns Waffen. Unsere Vögte werden Kriegsgefangene, und hei! wie wir ihnen lohnen werden für all die Schmähungen und Kränkungen, mit denen sie uns überhäuft. Simeoni unser Gefangener und der hämische Arzt! Gewiß, so wird es werden, und wenn heute die Schiffe noch nicht da sind, so kommen sie morgen, und wenn morgen nicht, übermorgen. In Bereitschaft sein ist alles! Es bläst zum Appell, und wir reißen uns unwillig los vom Anblick des verheißenden Meeres, da unten weit und tief unter uns. Zum Schuppen geht es, und die Gläser füllen sich, und ein gedämpftes „Evviva Italia“ geht von Mund zu Munde. Die Erregung ist ins Ungeheure gestiegen, und manche Flasche wird geleert. Herrgott im Himmel, wenn das wahr würde! Wenn unsere Knechtschaft so schön, so romantisch schön endigen sollte! Aber endlich übermannt uns die Müdigkeit, und Wein vertragen wir auch nicht mehr. Glückselig sinken wir auf unser Strohlager und freuen uns auf den morgigen Tag. Das Wetter ist unwirsch geworden, und leiser Donner grollt in der Ferne. Plötzlich etwa nach Mitternacht werde ich aus schwerem Schlaf geweckt, auf unserer gemeinschaftlichen Matratze hat sich Bonitz erhoben, er stößt mich wieder und wieder an, es wird ihm schwer, mich wach zu bekommen. „Max, Max! Siehst du es nicht? Sieh doch da! die Scheinwerfer!“ — Ich weiß nicht mehr, ob es ihm gelungen war, mich zu überzeugen; ich weiß nur, daß in derselben Nacht auch Blitz und Wetter leuchtete und bat meinen Freund Bonitz am anderen Morgen, wenn er in[S. 75] der nächsten Nacht wieder Scheinwerfer sähe, so möchte er mir solches Faktum doch erst später, wenn ich ausgeschlafen sei, mitteilen. Und so vergeht die Nacht und der nächste Tag in äußerster Spannung. Einige versteckte Ferngläser werden hervorgeholt und das Meer abgesucht nach italienischer Kriegsflagge. Auch die nächste Nacht brachte keine Ruhe, die Geister spukten in unseren Köpfen. Ich wollte gerade einschlafen, als ich plötzlich eine lange Gestalt vor meinem Lager sehe. Es war ein Brasilianer, der mir mit flüsternder Stimme zuruft: „Erheben Sie sich!“ — Ich folgte dem seltsamen Befehle und setzte mich aufrecht auf mein Lager, mir den Herrn anzusehen. „Reichen Sie mir die Hand, Sie werden mich kennenlernen!“ fährt er in Geisterstimme fort. Da ich merkte, daß das Oberstübchen, ob chronisch, ob akut, nicht ganz richtig funktionierte, so lud ich ihn ein, bei mir Platz zu nehmen; aber mit Gespensterlächeln erwiderte er: „Heute nicht, heute wird Ihnen noch vieles seltsam erscheinen, aber morgen. Sie werden von mir hören.“ Dann schlich er davon, und ich sank in Schlaf oder versuchte es, denn der Mann mir gegenüber ließ mir keine rechte Ruhe. Ich war eben gerade eingenickt, als ein seltsames Fauchen mich weckte. Der Mann hatte sich, auf allen vieren schleichend, wie ein Panther vorgestreckt, ergriff mit einer Vorderpfote einen Schemel, und mit dem Rufe „Feuer, Feuer!“ schleuderte er ihn nach vorn und traf einen der Unseren recht kräftig. Es wurde zum französischen Arzt geschickt, der natürlich nicht kam. Dr. Heller holte Morphium, und er verfiel in tiefen Schlaf, den er uns nicht gönnte. Den Schemel hatte er, wie er sich am nächsten Morgen entsann, als Bombe gegen ein französisches Kriegsschiff (es war der Kübel der allgemeinen Notdurft) geschleudert. Ein Jüngling neben mir hatte sich in Todesfurcht in die äußerste Ecke des Schuppens geflüchtet, ohne auch nur eine Decke in seiner Herzensangst mitzunehmen, und da die Nacht durch gefroren. Er gehörte gottlob zu den „Nichtkombattanten“. — Und Italien griff doch nicht ein. Die Enttäuschung war bitter, schwer gewöhnten wir uns wieder an die[S. 76] ganz gemeine, hämische Wirklichkeit mit Gefängnis und Fußtritten und — Maurer...

Aber auch Patroklus ist gestorben und war mehr als du!

Die Erregung steigt ins Ungeheure, und eine Rebellion scheint unausbleiblich. Wer die Wochen der Tragik miterlebt, dem werden sie als etwas Furchtbares ins Gedächtnis geprägt bleiben. Sie begann am 9. November, erreichte ihre schroffe Höhe am 22. Januar 1915 durch Grimms Auflehnung, wurde am 24. Januar durch den Gewaltcoup gegen Maurer vorübergehend zum Schweigen gebracht, wiederholte sich immer wieder in kleinen Szenen und lenkte, dann in ein Fahrwasser stumpfer Resignation ein und führte zum Schlusse zu einer ruhigen Regeneration, wenn ich so sagen soll, zu unserer Rettung, die wir erst dann als vollendet betrachten durften, als wir das Schreckenslager von Casabianda verlassen hatten. Und auch dann noch nicht. Aus Casabianda brachten wir schwere Krankheit und Tod mit. Einer der Unseren wurde zur Kugel verurteilt und drei vor ein Kriegsgericht gestellt. — Mir schlägt noch heute das Herz, wenn ich solche fürchterliche Erinnerungen zurückrufe, wenn ich derer gedenke, denen Casabianda Elend, Siechtum und Tod gebracht hat!

Es wird klingen, als schreibe ich einen Roman, aber ich rufe alle meine Mitgefangenen mit nur einer Ausnahme zu Zeugen auf, daß ich der Wahrheit gemäß schreibe, nicht übertreibe, eher mich mäßige. Selbst wenn ich dem gewaltigen Zorn, der mich noch heute in Erinnerung der furchtbaren Szenen in der Tragödie Casabianda packt, Zügel und Kandare anlege, was wahr ist, will ich auch niederschreiben, ohne zu verschärfen, aber auch ohne zu schonen.

Ich muß nun etwas chronologisch vorgehen und komme zurück auf das Kapitel Maurer.

Der Unwille gegen Maurer war auf das äußerste gestiegen, hier und da hörte man laute und versteckte Drohungen. Besonders die Matrosen hatten Rache geschworen, und dem Braven war wohl selber für sein Leben bange. Am 9. November kam der Matrose[S. 77] Grimm, ein Hüne von Gestalt, zu Maurer, um von ihm Stroh zu fordern, das der verweigerte. Ob es böse Worte gab, weiß ich nicht, im Augenblick hatte Grimm die Faust erhoben, die wuchtig auf Maurer niedersauste, dann stürzte er sich auf ihn, und wer Grimm kannte, wußte, was bevorstand. Zwei Nachbarn warfen sich dazwischen und erreichten es gerade noch, daß Maurer sich seinem Gegner entwinden konnte. Er flüchtete sich zu seinen Schützern, den Franzosen. Grimm wurde ins Gefängnis geworfen und zu dreißig Tagen verurteilt. Nun war Maurers Urteil zugleich gesprochen, denn daß die Matrosen ihren Kameraden rächen würden, war gewiß. So wählte Maurer sauren Gesichts das einzige Mittel, das ihm blieb, er machte sich zum Fürsprecher für seinen Angreifer und erreichte, daß dieser freigelassen wurde. Das Schicksal hatte ihn zu schwererer Tat und schwererer Buße aufbewahrt.

So zog diese Wolke noch vorüber. Von dem Tage an war Maurer vorsichtiger geworden und wir vorsichtiger gegen ihn, denn wir fürchteten heimtückische Rache. Aber neue Angriffe konnten nicht ausbleiben, so sehr wir sie zu verhindern suchten. Die Wut der Matrosen legte sich nicht. Am 24. desselben Monats wiederholte sich der Vorfall. Ein Matrose wandte sich drohend gegen Maurer, die anderen standen ihm zur Seite, und es drohte ein allgemeiner Ausbruch gegen den Vogt zu werden. Der Appell war vorüber, die Türen schon geschlossen. In seiner Herzensangst schlug Maurer mehrere Male gegen die geschlossene Tür, um Hilfe heischend und rief nach den Wachen. Die kamen, und der Matrose wurde von Maurer bezeichnet und abgeführt. Die Türen wurden wieder geschlossen, und als nun definitive Abrechnung erfolgen sollte, war Maurer verschwunden. Er hatte sich ins Wachtzimmer gerettet und hat es nicht gewagt, auch bei Tage nicht, zu uns zurückzukehren. Er begegnete uns nur noch, wenn Gendarmen auf dem Hofe waren, und das war gut so, es hätte leicht böse enden können.

[S. 78]

Ereignisse folgten auf Ereignisse, fast ein jeder Tag brachte neue Aufregungen, und der Mann stand noch an seiner Stelle, die Franzosen schätzten die Dienste, welche er ihnen leistete. Das haben sie uns häufiger gesagt, und das schnitt jede Beschwerde ab. Sie hatten wohl auch Grund dazu, und sie schützten ihn recht wirksam. Wer sich dem Mann widersetzte oder ihn beleidigte, flog unerbittlich ins Gefängnis. Er nutzte diese Macht aus, nur so konnte er sich halten, und so war er den Franzosen genehm. Damals füllten das Gefängnis zwei Kategorien von Verbrechern:

  1. die, welche Maurer beleidigt hatten,
  2. die, welche sich beim Arzt krank gemeldet hatten und nicht krank befunden wurden.

So erwachte dem Würdigen damals ein Nebenbuhler, welcher den Haß der Gefangenen auf sich und von ihm ableitete, es war das der Arzt des Gefangenenlagers, der Médecin-Aide-Major Dr. Marcantoni, und eines seiner ersten Opfer war wieder ich. Darin bewies ich bewundernswürdiges Talent, das sich später noch steigerte.

Casabianda, 30. November 1914.

Meine liebe Armgard!

Und wenn man überhaupt nichts mehr glaubt und wenn alles Narretei erscheint, es geschehen doch noch Zeichen und Wunder. Das heißt nicht etwa: „Ich bin frei“, aber ich, der noch vor wenigen Wochen fürchtete, daß die Nerven reißen und das Herz klappen werde, der gestern auf Stroh lag im Schuppen unter dauernder Aufsicht der Gendarmen und Forestiers, auf verlaustem Stroh und nachts unter dickem Mantel frierend, bewohne heute ein Zimmer mit Bett! Mit Schreibtisch! Ein Klosett zur Verfügung, auf das ich mich setzen darf! Ein Ofen im Zimmer zum Heizen und Kochen. Er prasselt lustig, während ich schreibe. Das alles kam so:

Heute morgen wollte ich, wie meist, mit der Waldkolonne ausrücken. Ich tue das gern, um dem ewigen Getöse und[S. 79] Nervengepauke hier zu entgehen. Da treffe ich den Burschen von Dr. Marcantoni, der mir sagt, des Doktors Bruder sei im Kriege gefallen, er selbst ginge auf Urlaub, wie lange wisse man nicht, er suchte mich, um mir seine Vertretung zu übergeben. Ich kehrte um und folgte dem Burschen zu Marcantoni. Der saß im Offizierskasino, stand natürlich nicht auf, als ich eintrat, reichte mir seine linke Hand und bat mich, seine Vertretung zu übernehmen, da er sofort reisen müsse. Ich erteilte ihm meinen Segen zur Reise und wünschte im Herzen, er käme nie wieder. So zog er ab.

Der Bursche führte mich nach oben, dort Revier zu halten. Ich weigerte mich und ging zum Kommandanten. So bekam ich im neuerbauten Hospital ein freundliches Zimmer und fühlte mich wieder einmal Mensch und Arzt. Nachmittags hielt ich Sprechstunde und machte Krankenbesuche. Mehrere der Kranken sind besorgniserregend, besonders ein junger Mensch, Ziesing. Er leidet an schwerster Dysenterie, und der Arzt hatte es bisher noch nicht für nötig gehalten, ihn zu besuchen, so oft er darum gebeten ist.

Dann gehe ich nach Aleria, einem kleinen Flecken, 20 Minuten von Casabianda entfernt, um Geräte für meinen neuen Haushalt zu besorgen, denn ich nehme an, daß ich hier bleiben werde, auch wenn Dr. Marcantoni zurückkommt. Dann bitte ich den Kommandanten, für unsere eigene Rechnung Medikamente aus Bastia verschreiben zu dürfen, was mir erlaubt wird. Ich habe mir die Lampe angesteckt, mein Tisch steht gerade vor dem großen Fenster, das auf freies Feld führt. Die Lampe leuchtet wie ein heller Scheinwerfer hinaus. Ich bewohne das Hospital, welches noch im Bau ist, ganz allein und habe mich von innen eingeschlossen. Der ganze Bau liegt am Ende der Domäne, außerhalb des Tores, das die Gefangenen abschließt. Nun bin ich also den Korsen ans Messer geliefert und kann erproben, ob sie wirklich so grimmig sind,[S. 80] wie Simeoni sie schildert. Ich bin weit hinaus sichtbar, das Fenster hat keinen Vorhang. In zehn Meter Entfernung stehen drei große Platanen, die gute Deckung bieten. Ein Schuß von da, und ein Boche ist weniger, der Schütze liefe nicht die geringste Gefahr, entdeckt zu werden.

Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich. Und wenn es so geschähe! Die Kugel schreckt mich nicht mehr, Furcht habe ich überhaupt abgelegt, aber Euch möchte ich wiedersehen nach allem Leid, Dir danken und den Kindern erzählen, was ich gelernt habe, und sie lehren.

Die Ruhe des heutigen Abends! Ich bin todmüde von allen Aufregungen, aber Krankheit und Unmut sind gewichen. Ich wollte ja nichts anderes, als meinen kleinen Anteil am Kriege gewinnen. Nun ist mir wieder zumute wie damals in Frioul, in der Glanzzeit meiner Gefangenschaft. Vielleicht kann ich hier wirken wie damals, ein Arzt tut so not. Wenn Marcantoni nur lange genug fortbleiben oder besser gar nicht wiederkommen wollte. Die tiefe Ruhe des heutigen Abends nach dem ewigen Krakeel und Geschrei da oben! Nach den sinnverwirrenden Gerüchten und Debatten! Die tiefe Ruhe des heutigen Abends wirkt so erschütternd. Ich glaubte, ich hätte das Denken verlernt und ich denke! Der heutige Abend wird mir unvergeßlich bleiben, wie eine Aussprache mit Gott. Ich hab’s besser gehabt als die anderen und war doch Tag für Tag verzweifelt. Nun will ich für andere schaffen.

2. 12. Heute, der hundertste Tag unserer Gefangenschaft, verlief ruhiger, vielleicht mehr für mich. Ich hatte die Nacht gräßlich geschlafen in meinem neuen Bette, der Ofen war ausgegangen, und ich bekam ihn nicht wieder an. So fror ich erbärmlich und sehnte mich nach meinem Ehebette mit Bonitz zurück. Auch gesundheitlich fühlte ich mich nicht wohl. Man kann alle diese Magen- und Darmkrankheiten gar nicht recht präzisieren. Sie sind bedeutungslos, wo man in seiner eigenen[S. 81] Behausung sich pflegen kann, und wachsen zu unendlichen Belästigungen, wo alles fehlt.

Um ½7 Uhr weckten mich die Arbeiter, welche ihr Werk begannen. Ich schloß auf und ließ sie herein. Es war gräßlich kalt. Mein Bursche, ein Soldat, machte Feuer. Ich wusch mich, kochte mir Schokolade, röstete mir Brot und aß es mit Butter dazu. Kein Lärm, kein Streit, auch morgens die köstliche Ruhe. Ich hörte kein Signal zum Appell, kein Sergeant trat herein: „Vorwärts, eilen Sie sich, flott, flott!“ Ich sah keine rote Hose und keine blaue. Ich kleidete mich wieder wie in Frioul, dem Range entsprechend. Dann ging ich um 8 Uhr durch das Tor auf den Kasernenhof. Der Lärm dort ging an meinen Ohren vorbei. Ich besuchte einige der Bekannten (Moritz und Bonitz waren ausgerückt), Schmidt und Dr. Bayer, ging dann zu den Schwerkranken, sie zu vertrösten, daß zwar noch keine Medikamente da seien, daß ich sie aber bestellt habe. Es wirkte das; die bisherige Behandlung besser zu gestalten, war keine Kunst. Sie verlangten so wenig, die armen Menschen, und dem wenigen war nicht zum zehnten Teil Genüge geschehen. Dann ließ ich den französischen Trompeter das Signal blasen „Zum Arzt“, das etwa wie ein Triumphsignal klingt, und hielt Sprechstunde. Die Leute sollten nicht, wie bei meinem humanen Kollegen, stundenlang auf dem eisigen Flur warten, darum war ich sofort zur Stelle und begann. Reichlich war doch die Krankenzahl, etwa 30 heute. Ich hatte gebeten, es möchten nicht zu viele am ersten Tage kommen, um den Unterschied nicht zu augenfällig zu machen. In den letzten Tagen hatte sich bei dem Unmenschen von Arzt kaum jemand noch gemeldet, um nicht noch die übrigbleibenden Räume des Gefängnisses auszufüllen und sich dem Zuge anzuschließen, der nachmittags bei uns vorbeigeführt wurde. Unrecht war es auch, daß viele Gesunde die günstige Konjunktur ausnutzten und so den Kranken es erschwerten, sich krank[S. 82] schreiben zu lassen. Die Sprechstunde beginnt mit den Herren Franzosen. Es ist doch ein anderes Bild, wenn jetzt der Mann von „Vorwärts, vorwärts! Flott, flott!“ vor mir steht, von meinem Urteil abhängig. Ich denke immer, was würde ich tun, wenn alle unsere Vögte einmal in einem Gefangenenlager von mir abhängig geworden wären, wie es unser Traum war beim geträumten Einzug der Italiener. Ich fürchte fast, wir ließen sie es doch nicht genug entgelten. Jetzt behandle ich die Kerle natürlich gut, nicht meinetwegen, sondern der anderen wegen und weil ich auch denke, es könnte mir gehen wie weiland Prinz Sigismund in Calderons „Leben ein Traum“. Da kommt so einer unserer größten Schinder und winselt mir täglich in die Ohren, ich möchte doch für ihn sprechen, daß er vierzehn Tage Urlaub erhält. Ich tu’s natürlich schon meiner Kameraden wegen, daß sie ihn für einige Zeit los sind, und hab’s auch durchgesetzt. Wenn er gehängt worden wäre, wär mir’s natürlich lieber gewesen; so war aber das doch immerhin ein Ausweg.

Danach kommen noch andere vier Franzosen ordnungsgemäß mir vorgeführt. Ich bin konziliant und schreibe sie alle dienstfrei. Dann folgen die 34 Deutschen, und ich muß meine ganze Diagnostik zu Hilfe nehmen, alle zu rubrizieren. Ein schweres Stück Arbeit. Es gelingt bei gutem Willen, und ich hätte mir eher den Finger abgehackt, ehe einer von ihnen durch mich in den Kerker käme. Wenn sie das ausnutzen, fällt das auf sie zurück, grob behandle ich manchen, aber bestrafen durch die Franzosen lasse ich ihn nicht.

Nach der Sprechstunde gehe ich nach oben, besuche meinen Freund und Nachfolger als Küchenchef Radei, dem die Arbeit auch schon über ist, dann zum Bericht beim Kommandanten, der interessiert scheint. Ich versuche sogar, Französisch mit ihm zu sprechen. Ich bitte ihn um Autorisierung meiner Unterschrift für Rezepte, die ich ausstelle und aus Bastia schicken[S. 83] lasse und erhalte sie. Weiter bitte ich zur Bereitung von Krankensuppen um Extrabewilligung von Reis usw. Er geht sogar selber mit mir zum Furageoffizier, der mir alles Verlangte in einen Sack füllt; da ich keine Träger beanspruchen kann, trage ich den Sack eben selber in die Küche. Nun kommt etwas weit Wichtigeres. Das Hospital hat so viele Betten unbenutzt. Da einige Kranke auf dem Strohlager nicht weiter bleiben können und das Lazarett zur Aufnahme nicht fertig ist, bitte ich, provisorisch die Betten den Schwerkranken, deren ich fünf zitiere, heraufschaffen zu können, um sie, sobald die Arbeiter fertig sind, im selben Bett wieder nach unten zu transportieren. Das wird mir nicht bewilligt. Gut denn: Der Wille genügt. Also das nächst zu Erreichende: ich hoffe, daß Dr. M. noch lange fernbleibt und möchte das Lazarett nutzbar machen. Morgen werde ich wieder vorstellig werden. Ich gehe zurück und finde von Schwägerin Else ein Paket mit Pfefferkuchen, Katharinchen, wie sie Großmutter immer nannte, und wie wir sie zu Weihnachten uns wünschten, und ein zweites mit warmen Strümpfen. Du weißt gar nicht, wie solche Gaben freuen. Es ist das Erfreulichste am Tage, wenn ich von Dir und den Geschwistern solche Geschenke erhalte. — Also ich brenne den Ofen an und röste mir die Katharinchen, verbrenne sie zum Teil, aber sie schmecken doch. Dann setze ich mich hin und schreibe an Dich, dabei bin ich noch.

Radei und Bonitz, die nachmittags hier waren, gaben mir doch den Rat, ich sollte etwas vor das Fenster hängen, denn die Verlockung für die Korsen sei zu groß. Ich tue das und hänge meinen Operationsmantel davor.

Ich habe heute seltsames Glück gehabt. Wäre ich abergläubisch, so dächte ich an den armen Polykrates, aber ich will optimistisch denken und hoffe, ich werde weiter Glück haben. Beim Waschen war mir Frau Boehmes Ring, den ich, wie Du weißt, nach ihrem schweren Schicksal und Tode sehr hochhalte,[S. 84] von meinen immerhin abgemagerten Fingern geglitten, und ich hatte es nicht gemerkt. Zwei Stunden später, als ich zurückkam, sah ich etwas im Sande funkeln, und es war der Ring. Dann vermißte ich ein Pfundstück englisch. Es war mir mit dem Taschentuch aus der Tasche geglitten. Auf dem Wege zur Küche traf ich Dr. Heller und erzählte ihm von dem Verluste. Natürlich war es mir fraglos, daß ich das Goldstück nicht wiedererhielte. Er griff in die Tasche und sagte: „Da nehmen Sie es wieder.“ Ich war sprachlos, die Lösung war einfach. Ein Herr hatte das Goldstück gefunden, zu Heller gesagt, wenn wir ausrufen, ein Pfundstück ist gefunden, so melden sich wohl fünfzig Verlierer. Also warten wir ab, ob jemand den Verlust beklagt, sonst verwenden wir es fürs Rote Kreuz.

Also es sei eine gute Vorbedeutung.

Es ist 10 Uhr, ich habe meine Mahlzeit verzehrt und stecke mir trotz Maurer eine Pfeife an und trinke behaglich guten Wein. Der Wein ist fast glühend, er stand zu nahe am Ofen, und ich habe tüchtig eingekachelt, weil es eisig kalt war. Ich will mich einmal ordentlich aufwärmen auf Franzosen- und Korsenkosten. Darum lasse ich das Feuer nicht ausgehen, stecke immer neue Scheite hinein. Mögen sie mir das abziehen vom Gehalt als Médecin-Aide-Major, oder später von den Ersatzansprüchen; für die Franzosen besser, sie zahlen’s jetzt und ziehen’s später ab. Ich habe noch genug Holzscheite im Zimmer, und der Korridor liegt voll davon. Heute sind wir hundert Tage gefangen. Im Holzschuppen da oben feiert man gewiß. Ich wollte wohl mitfeiern, aber heute taugte ich wenig dazu. So sehe ich ins Feuer und schreibe folgendes herunter:

Zum hundertsten Tage unserer Gefangenschaft.

Am Franzosenfeuerofen feire ich allein den Tag,
Und ich werfe große Stoven in den überheizten Ofen,
[S. 85]
Kost es, was es kosten mag,
Mich kostet es nichts!
Wär ich als Spion gefangen, setzte ich mich nicht zur Wehr,
Mitgefangen, mitgehangen, an die Wand und ohne Bangen,
Das ist Krieg, und das ist Ehr,
Das kostet das Leben.
Aber so vom Schiff gezogen aufs Ponton und Château d’If,
Immer weiter weggelogen, nach Frioul und auf die Wogen,
Bis die Korsin heiser rief:
Das kostet das Leben!
Hundert Tage so bezwungen, so begeifert, maledeit,
Von den blödesten der Jungen, Korsenförstern, Weiberzungen,
In den Ofen, Scheit auf Scheit,
Mag’s teuer euch kosten!

Rektor Kalb sagte mir vor einigen Tagen, daß die Gefangenschaft so sehr auf ihn gewirkt habe, daß er sich seiner Schüler nicht mehr entsinnen könne, kaum seiner Verwandten, er könne sie sich bildlich nicht mehr vorstellen. Andere versichern dasselbe. Ich zwinge mich, nicht an die Vergangenheit zu denken, weil das zu nichts führt, vor allem lasse ich die fruchtlosen Vorwürfe: Warum hast du das so gemacht und nicht so. — Fatum. — Was ich tat, mußte ich tun; daß es unglücklich ausschlug, wer will mich dafür verantwortlich machen, wo ich es selber nicht tue? Darum konzentriere ich mich auf das eine: Durch! — Dich selber erhalten! — Die Gefahr ist groß, aber vielleicht beurteilen wir die Möglichkeiten schwerer als sie sind, das habe ich in den letzten Tagen erfahren. Ich höre nicht mehr das sinnenverwirrende Stimmendurcheinander, ich spreche mit einzelnen, wie Mensch zum Menschen. Man muß sich langsam daran gewöhnen. Das Fürchterlichste war es doch: hundert Tage im Kreise schreiender, sich zankender, politisierender Massen zu leben. Es gab so viele gute[S. 86] Elemente, aber die schweigen mehr; und die schrien, waren meist die Gewohnheitsschreier, und sie zwangen die Ruhigen, auch zu schreien, wenn sie zu Worte kommen wollten. Das empfinde ich jetzt so tief, wo ich allein sitze. Das große Leiden bestand darin, daß wir hundert Tiere in einem Käfig waren, alle gierig nach derselben Kost, nach Freiheit, und edel genug, zusammenzustehen und keinen drinnen zu lassen, wenn der Wärter, die Käfigtür öffnen sollte. Das Massenwesen war es, was uns erdrückte, und es war uns aufoktroyiert, wir durften uns ihm nicht entziehen, wenn wir nicht Verräter werden wollten an denen, die mit gleicher Schmach von unseren gemeinsamen Feinden behandelt wurden. Aber daß das Massenwesen unsere Nerven zerreißt, das empfand ich gestern, als ich die erste ruhige Stunde nachmittags mit Radei sprach und später in Ruhe mit Bonitz über alles verhandelte. Köstliche Ruhe. Das vielköpfige Ungeheuer, die Masse, wirkt in kleinem Umfange so unerträglich. Man sagt zwar, daß die Einzelhaft weit schwerer zu ertragen sei als die Massenhaft; auf die Dauer mag beides gleich erdrückend wirken, wie alles, was dem Wechsel nicht unterlegen ist.

Der Kommandant erlaubt mir, Erholungsbedürftige, nicht Schwerkranke, ins Hospital zu nehmen, immer „auf ihre eigene Gefahr“. Schwerkranke, schon dysentrische, kommen nicht in Betracht, weil die Heizungsvorrichtung noch nicht funktioniert; eine provisorische auf unsere Kosten legen zu lassen, wird mir erst erlaubt, dann wird die Erlaubnis wieder zurückgezogen. So nehme ich Bonitz und Radei ins Hospital. Bonitz ist stark erkältet, leidet überhaupt unter niedriger Temperatur, ich lege ihn zu mir ins Zimmer, wo ordentlich geheizt wird.

5. 12. Heute ist noch Dr. Arranza hinzugekommen. Ich werde zum Hauptmann gerufen, und nun passiert etwas, was wieder, meiner Meinung nach, nur im Lande der unbegrenzten[S. 87] Möglichkeiten geschehen kann. Vier Forestiers haben das Gesuch um Invalidisierung eingereicht, ich werde beauftragt, das ärztliche Gutachten abzugeben. Man legt mir genau das vorgedruckte Gutachten vor, wie es Dr. M. früher gezeichnet hatte. Der Hauptmann bringt mir selber die vier Leute zu, setzt sich in mein Zimmer, während ich untersuche. Unter den vieren ist der, welcher mich nicht durch den Posten ließ und mir den Revolver auf die Brust setzte. Heut sieht er bittend zu mir. Ich untersuchte, gab genaues Urteil ab, es handelte sich um echte Staatskrüppel, unterzeichnete als offiziell beauftragter Médezin, und sie sind alle vier frei geworden, ohne neue Untersuchung. Ist das bei uns möglich? Es wird hier alles auf den Kopf gestellt, vor einigen Tagen sagte mir derselbe Hauptmann, der heute bei der Untersuchung zugegen ist, daß zweihundert von solchen, wie wir, Eide leisten können, das Wort eines französischen Soldaten sei glaubwürdiger. Santa Republica! — Nun sind sie alle äußerst höflich, und die Hunde, die eben so laut bellten, wedeln. Auch den Revierdienst der französischen Soldaten halte ich regelrecht mit Eintragung in die Revierbücher und Zeichnung meines Namens ab.

Der Kommandant hat einfach gefordert, daß ich für das Lazarett volle Verantwortung nähme, auch für die, welche ich hereinlege. Das macht er gern so. Wir sitzen abends zusammen, Radei, Bonitz und ich, und sprechen über alle Ereignisse der vergangenen Tage. Wir lassen Revue passieren. Wir leben ein Narrenleben und wissen nie, was der morgige Tag bringen wird. Morgen ist Papas Todestag. Ich werde nach Hause denken. Was wir hier durchmachen, wird uns als klares Bild erst vor Augen treten, wenn der Vorhang sich darüber geschlossen hat, wenn das ewige Bildzittern, wie im Kinematographen, das schnelle Hin- und Herbewegen, wie dort, sich vor dem klareren Auge der Erinnerung zu einem vielleicht sogar folgerichtigen Bilde vereinigt. Manchmal[S. 88] denke ich, vielleicht ist all das, was wir erleben, gar nicht so unwichtig für uns, als könne es beitragen, Charaktere zu erziehen. Darin werde ich bestärkt, wenn ich sehe, wie der Willensschwache so widerstandslos verkümmert. Ja, wenn wir jünger wären und ein Leben vor uns hätten, das zu verwerten, was wir gelernt. Den Jüngeren mag die Schule wertvoll sein, für die Aelteren ist sie reichlich hart. Wir haben uns in unserem Alter und in unserer Stellung wie Hunde demütigen müssen, gehungert, gedarbt, uns mit Stroh, mit allerhand Ungeziefer geplagt, wir haben die zu Grabe getragen, die dem auferlegten Lose nicht gewachsen waren, andere hat die schwere Zeit für Tod oder Siechtum gezeichnet. Und ich sage mir doch, es war der Einblick in so vieles, das ich nie geahnt, politisch nicht und menschlich nicht, es war eine so romantische, gewaltig traurige Zeit, daß ich nur hoffe, ich halte sie durch, um den Kindern zu erzählen von dem, was das Leben bietet und fordert, von Recht und Unrecht, Ordnung und Unordnung, von falscher und wahrer Ehre. Ich fühle mich in der Besserung und denke, ich werde Widerstand leisten können. Wer weiß, was morgen auf mich hereinbricht. Gefaßt bin ich auf alles. Küsse die Kinder!

Max.

Herr Kommandant!

Ich erlaube mir, folgendes beschwerdeführend mitzuteilen: Am 30. November wurde mir von Herrn Dr. Marcantoni, Aide-Major, dann von Ihnen die ärztliche Vertretung des ersteren übertragen. Sie gaben mir schriftlich die Erlaubnis, in der Infirmerie Wohnung zu nehmen.

Ich übernahm den Posten und führte ihn, wie wir gelehrt sind, gemäß den Gedanken der Genfer Konvention in gleicher Behandlung der französischen Forestiers und Gendarmen, welche mir täglich zugeführt wurden und welche ich auch auf[S. 89] ihren Zimmern besuchte, wie der deutschen gefangenen Soldaten und Zivilisten aus. Von Ihrer Erlaubnis, Herr Kommandant, machte ich Gebrauch und legte drei Kranke, Bonitz, Radei und Dr. Arranza, provisorisch in die Infirmerie.

In der Zeit meiner Vertretung des Herrn Dr. Marcantoni wurde ich zugleich beauftragt, vier Forestiers auf Invalidität zu untersuchen, was ich tat, in der Meinung, hierin wie in der anderen Vertretung meine Pflicht getan zu haben. Gestern abend gegen 8.40 Minuten wurde gegen das Tor des Hospitals geklopft. Herr Dr. Marcantoni trat mit einigen Zivilisten und einigen Forestiers ein, Bonitz, Radei und ich waren in dem uns zur Verfügung gestellten Zimmer, welches durch den Ofen gut durchwärmt war. Dr. Arranza auf seinem Bette in der Halle. Herr Dr. Marcantoni führte aus, sein Haus sei zum Hotel und Bordell geworden, und forderte uns auf, sofort die Infirmerie zu verlassen. Als ich fragte, ob ich bleiben dürfte, sagte Herr Dr. Marcantoni: „Sie dürfen natürlich bleiben, aber besser, Sie gehen auch.“ So mußte ich schleunigst das Zimmer räumen; es wurde mir nicht erlaubt, meine Zigarrenkiste oder Eßwaren zu berühren. Als auch meine Patente als Stabsarzt von einem Zivilisten mit Beschlag belegt wurden, rief ich Herrn Dr. Marcantoni zu Hilfe, welcher mir erlaubte, meine Papiere mitzunehmen. Ich selbst wurde in einem Aufzuge, der meines Standes unwürdig war, in die Halle oben gebracht, wo ich ein Strohlager fand. Mein Einwurf, daß es sich bei den anderen um Kranke handele, begegnete einem Lachen des Herrn Dr. Marcantoni. Ich bin bereit, die Krankheiten der drei Kranken, wie ich sie notiert, wissenschaftlich zu beweisen.

Ich bitte, Herr Kommandant, Protest einlegen zu dürfen gegen eine derartig entehrende Behandlung, 1. als Arzt im Namen der Wissenschaft und Humanität, 2. als deutscher Sanitätsoffizier, in Berücksichtigung des erschwerenden Um[S. 90]standes, daß ich kriegsgefangen und nicht in der Lage bin, mich gegen Beleidigung zu verteidigen, 3. als von Ihnen, Herr Kommandant, und von Herrn Dr. Marcantoni persönlich eingesetzter offizieller Stellvertreter des französischen Aide-Majors, dessen Funktionen mir übertragen sind und die ich erfüllt habe.

Sollten Sie, Herr Kommandant, für diese Frage nicht die zuständige Behörde sein, so bitte ich Sie, diese Beschwerde weiterzureichen. Zugleich bitte ich als Offizier meine Versetzung nach Corté so bald als möglich anordnen zu wollen, da nach der gestrigen Behandlung meine Stellung hier entwürdigt ist, und mich vom Dienste bei Herrn Dr. Marcantoni zu entbinden. — Mit der Versicherung.....

Dr. Br., San.-R., St.-Arzt a. D.

Das Dokument, welches mir die Erlaubnis gab, in der Infirmerie zu wohnen, zeigte ich dem rasenden Marcantoni, der mir natürlich wieder sagte: „Ich pfeife auf den Kommandanten.“ Der Mann ist von einer satanischen Schlechtigkeit, das erkannte wohl jeder, auch die Franzosen. Er will uns zugrunde richten, uns schädigen und erniedrigen, wie er kann. Radei und Bonitz mußten am nächsten Tage zum Arzt, der sie, ohne sie zu untersuchen, gesund schrieb, ihnen sagte, sie sollten das Lazarett reinigen, und sie dazu anstellte. Dann sollten sie in den Kerker. Wofür? Es schreit zum Himmel!

Meine Beschwerde legte ich dem Kommandanten persönlich vor, der mich, nachdem er sie nochmals gelesen, rufen ließ. Es war dies auf dem Hofe. Er nahm mich beiseite, dann sagte er, er selber sei außer sich, daß so etwas vorgekommen sei, aber er könne nichts dabei tun. Ob ich nun damit zufrieden sei, daß er sofort nach Corté geschrieben, der Gouverneur möchte provisionell Order geben, daß ich als Offizier nach Corté berufen werde. Er selber könne nur verfügen, daß, ich nicht weiter unter Herrn Dr. M. zu stellen habe.[S. 91] Ich sprach nun sehr erregt zu ihm, erst französisch, dann riefen wir den Dolmetsch, Comte Peraldi. Ich bat ihn, dem Kommandanten zu sagen, daß ich nicht für mich spräche, sondern für die anderen. Dr. M. hat heute zwei Herren, Radei und Bonitz, die sich krank gemeldet, gesund geschrieben, und läßt sie wegen falscher Krankmeldung einsperren. Aber er hat kein Urteil über ihre Krankheit und kann es nicht haben, da er sie nicht einmal den Rock hat öffnen lassen, geschweige denn irgendeine Untersuchung vorgenommen hat. Ich kann wissenschaftlich beweisen, daß der Herr Dr. M. so keine Diagnose stellen kann, daß es sich bei ihm also nur um persönliches Uebelwollen handelt. Ich fuhr noch erregter fort: „Herr Kommandant, so sterben die Menschen hin, und so wird einer nach dem andern diesem Arzt zum Opfer fallen.“ Graf Peraldi verdolmetschte, ich griff des öfteren in schlechtem Französisch ein und sprach mit Händen und Füßen. Er fragte, was ich von ihm verlange. Ich antwortete, wir bäten um einen anderen Arzt, der Kranke sich zum mindesten ansähe. Weiter bat ich, man möchte von einer Bestrafung Radeis und Bonitz’ Abstand nehmen. Sie könnten weder arbeiten noch ins Gefängnis; sie seien krank. Er versprach alles, der arme Mann, wenn er es auch halten könnte! Um seinen Worten Applomb zu geben, rief er den Leutnant Simeoni, dem diktierte er die Namen beider mit dem Befehle, sie dürften nicht arbeiten, auch nicht in der Infirmerie, es sei ihnen auch jede Strafe zu erlassen.

Dann wandte er sich an mich und fragte, ob ich nun zufrieden sei. Ich war es und dachte, es würde geschehen, wie er es gesagt. Ich Optimist! Es waren wenige Stunden nach dieser Unterredung vergangen. Ich stehe in der Küche mit Bonitz und Radei und erzähle ihnen von dem Erfolge bei dem Kommandanten. Da kommt die Ordonnanz des Arztes: Bonitz und Radei sollen kommen zur Arbeit. — Ich sage: Ich habe Auftrag vom Kommandanten, die beiden dürfen nicht arbeiten. Er kommt zum zweiten Male; ich rufe mir[S. 92] den Comte, der heute verdolmetscht hat. Der sagt der Ordonnanz: Sagen Sie dem Dr. M., Befehl vom Kommandanten, daß Bonitz und Radei arbeitsfrei sind. Jetzt kommt er zum dritten Male. Der diensthabende Offizier Simeoni steht da; ich wende mich an den. Simeoni sagt, daß er den Befehl habe, die beiden nicht zur Arbeit zu schicken.

Während ich mit dem verhandle, stürzt wie eine Viper aus dem Verstecke Dr. M. auf mich zu, den keiner vorher gesehen hatte. Er ergreift mich an der Weste: „Sie sollen’s mir büßen; jetzt sollen Sie arbeiten!“ Im Nu war ich umringt von bewaffneten Forestiers und wurde abgeführt.

Nun kommt, was folgt:

Casabianda, 10. Dezember 1914.

Herr Kommandant!

Meiner gestrigen Beschwerde über Herrn Dr. M. füge ich heute eine neue, weit schwerere zu:

Herr Dr. M. hat mich gestern handgreiflich festgenommen, mich unter Zurufung der Forestiers, unter Androhung von Gefängnis zum Lazarett zur Zwangsarbeit führen lassen, ist selber dorthin gekommen und hat mir aufgetragen, den Abort des Lazaretts zu reinigen und mich zur Arbeit angetrieben. Ich habe die Arbeit getan, bis ich durch Sie, Herr Kommandant, erlöst wurde. Der französische Militärarzt hat mich als wehrlosen gefangene deutschen Militärarzt in einer Weise, die mich entehren sollte, beleidigt.

Mit dem Vorgehen des Herrn Dr. M. gegen mich ist der internationale Aerztestand durch einen Arzt, der Offizierstand durch einen Offizier beschimpft. Ich bitte Sie, Herr Kommandant, mich zu schützen vor den Angriffen dieses Herrn und meine Beschwerde höheren Ortes vorzulegen.

Ich bin...

[S. 93]


Der Vorfall hatte natürlich im Lager das größte Aufsehen erregt. Marcantoni stand wie ein Satan neben mir; ich war völlig ruhig, er um so erregter. Er schaufelte mit den Händen Schmutz vom Boden und sagte mir, so sollte ich es machen. Ich nahm einen Eimer, Wasser zu holen, während er im Lazarett blieb. Den Eimer ließ ich am nächsten Wasserkran stehen und lief herauf zum Kommandanten, der gerade im oberen Lager war. Der ging mit Simeoni und dem Comte. Ich trat auf ihn zu und berichtete deutsch, was mir Dr. M. zugemutet. Er war äußerst erregt, schickte sofort den Comte mit mir zu Dr. M., mit nun endlich energischem Befehl, mich zu keiner Arbeit, sei es, welche es sei, zuzuziehen. Der Comte war selber erregt, als er den Befehl überbrachte. Der Arzt gab mich frei.

Es war viel und Schweres, was mir in der kurzen Zeit durch den Kopf ging. Widerstand, Weigerung! Fünf bis zehn Jahre Zwangsarbeit stehen darauf. Den Mann niederschlagen! Tod ohne Zweifel, füsiliert werden. Ehrlos verscharrt werden in französischer Erde, nie den Meinen sagen dürfen, was mir geschehen und in mir unserer Nation, unserem Stande!

Ich bin mit Willen der Waffengewalt gewichen und tat das einzige, was ich tun konnte und mußte. Die Gründe sind klar. Erstens stehen Bonitz und Radei mir gesellschaftlich nicht nach, und was die arbeiten müssen, kann ich auch. Außerdem hat man mir eine Waffe in die Hand gegeben, die ich für andere gebrauchen kann. Ueber einen Zwischenfall traurigster Natur, der in diese ganze Aufregung fällt, will ich hier berichten. Schielke und Pressel sind flüchtig geworden, sie wollten am Strande ein Boot nehmen und nach Elba oder Sardinien fahren. Das ist fehlgeschlagen, sie sind festgenommen und zu vier Wochen schweren Kerkers verurteilt worden. Was das heißt, weiß keiner, der nicht diese vorweltlichen Löcher gesehen. Lt. Simeoni hat sich geäußert, sie wüßten wohl, daß da keiner nach vier Wochen lebendig herauskäme. Wir hoffen, es zu erreichen, daß die Strafe gemildert wird, sonst fürchten wir für ihr Leben.

[S. 94]

Mein Kelch ist nicht voll, er beginnt sich langsam zu füllen. Ich bin gefaßt auf alles. Das eine hoffe ich jetzt mit immer größerer Zuversicht, daß man mich nicht geistig unterkriegen wird, wenn der Körper standhält. Ich spüre im Gegenteil etwas wie Gesundung. Je mehr auf mich geschlagen wird, desto härter will ich werden.

Am nächsten Morgen, dem 10. Dezember, überreichte ich meine Beschwerde persönlich dem Kommandanten. Er geriet in heftigste Erregung, ich habe ihn nie so gesehen. Aber die Angst, die Beschwerde weiterzugeben, überwog doch alles anständigere Denken. Er beschwor mich, ich solle ruhig bleiben, die Schuld trage die wahnsinnige Erregung der Franzosen gegen uns. Ich blieb fest, der Comte unterstützte mich. Der Kommandant sagte in größter Erregung: „Le docteur est un homme charmant mais d’un race sale.“ Der Comte übersetzte mir das: Dr. Br. ist ein scharmanter Mann, aber leider eben Deutscher. — Ich hatte mir das Wort, das ich nicht verstand, aber gemerkt, und ließ es mir später richtig übersehen, sale heißt schmutzig. So beleidigte also auch der Kommandant seine Gefangenen, der uns als Gentleman galt.

Der Kommandant lief dann noch einige Male im Zimmer umher. Schließlich blieb er vor mir stehen und sagte: „Besinnen Sie sich 24 Stunden, so lange gebe ich Ihnen Bedenkzeit. Wenn Sie dann auf der Beschwerde bestehen, werde sich sie weiterreichen. Aber ich warne Sie.“ Ich ging, und nach 24 Stunden trat ich wieder vor ihn.

Was wird nun kommen? Vielleicht leugnet M. alles, dann komme ich vors Kriegsgericht wegen Verleumdung, oder 30 Tage Kerker! — Gut! —

Repressalien folgen auf Repressalien, unerträglich fast.

Die Arbeiter und die Soldaten haben durchaus minderwertige Ernährung und weigern sich, hungernd zu arbeiten. Ein Trupp Soldaten wird vom Arbeitsführer zurückgebracht, jeder einzelne hat[S. 95] erklärt, er habe Hunger und fühle sich nicht fähig zur Arbeit. Sie werden vor das Haus des Kommandanten geführt, der droht ihnen, Bericht zu machen und ihren Transport nach Marokko zu beantragen. Aber er fühlt doch, daß es so nicht weitergehen kann, und so verhandelt er mit einigen von ihnen und gibt den Arbeitern Zulage an Brot und sonstiger Nahrung. Wieder wurde eine drohende Gefahr beseitigt. —

Wenn in unserem Zimmer auch keine Infektion aufgetreten ist, so hatten wir doch einen schweren Fall von Blinddarmentzündung, der für uns den immer wiederkehrenden Streit mit dem Lagerarzte auslöste. Marcantoni wird gebeten, den Kranken zu sehen. Er verweigert das: „Herunter soll er kommen, oder oben krepieren.“ Wer nur eine Ahnung von Blinddarmentzündung hat, der kennt auch die Gefahr, welche ein Aufstehen und Gehen mit sich bringt. Die Temperatur steigt und Schüttelfrost tritt auf. Zufällig kommt nachmittags der Kommandant zu uns, nun bitte ich ihn, den Kranken zu sehen, wir ständen machtlos, da uns jede Hilfe verweigert würde. Der Kommandant sagte, wie ein Greis mit den Achseln zuckend, wieder dasselbe: „Ich kann nichts tun. Marcantoni und immer noch Marcantoni! Keiner ist verantwortlich als der.“ Nun aber nahte auch die Aera Marcantoni ihrem Ende und heute war der Vielgeplagte auf Urlaub gefahren, ein junger Arzt vertrat ihn, der ihn bald ersetzen sollte. Das überdachte in diesem Augenblick der gestrenge Kommandant, und er gab mit Genehmigung dieses Arztes die Erlaubnis, das zweietagige Bett abzusägen und den Patienten im Bett herunterzutragen. Der hat sich in wenigen Wochen vom ersten Anfall erholt, und Marcantoni ließ seiner wissenschaftlichen Ader wieder freien Lauf und gab der Krankheit einen anderen Namen. — Aber es ging abwärts mit Marcantoni. Die Schweizer Kommission kam unter Führung des Obersten Marvall. Auf den trat ich im Beisein Marcantonis zu, Dr. Heller auch, und nun berichteten wir von diesem Manne, der sich seines Standes unwert gezeigt, als Arzt und als Offizier. Wir[S. 96] wurden erregter und erregter, Marcantoni sah hämisch drein, er konnte nicht Deutsch, aber er fühlte jedes Wort, und unsere Augen wandten sich immer wieder zeigend gegen ihn, und der Oberst hörte zu und machte Notizen. Als ich auf das unerhörte Vorgehen Marcantonis gegen mich kam, wandte sich der Oberst zu mir: „Ah, Sie sind Doktor Brausewetter?“ Als ich bejahte, sagte er: „Nun, dieser Vorfall ist schon dem Roten Kreuz genau zur Vorlage gekommen; aber bitte, berichten Sie darüber noch einmal ausführlich.“ Einige Male unterbrach er: „Wurden Sie mit Gewalt bedroht?“ Ich bejahte, er notierte. Wir wollen hiermit die Tragödie Marcantoni beschließen, auch Patroklus-Maurer ist gestorben! Marcantoni verschwand bald von der Bildfläche, man hat ihn nicht wieder gesehen. Nach Berichten hat er die Uniform ausziehen müssen und ist zu 30 Tagen Gefängnis verurteilt. Jedes weitere Wort über diesen psychologischen Jago wäre zuviel. — Ob wir dafür Herrn Obersten Marvall zu danken hatten, weiß ich nicht. Marcantoni war zum Fällen reif gewesen, und ich weiß auch, wer in der Schweiz so energisch für mich und gegen diesen Partei ergriffen.

Mit dem neuen Kommandanten, den wir als Ersatz des Herrn Teissier in Herrn Pleit, erhielten, sahen wir das Aufgehen gerechterer Tage, und es schien wirklich so, aber der Herr blieb nur kurze Zeit bei uns, wir haben es bedauert. — — —

Fünf unserer Mitgefangenen sind entflohen.

Sie haben am Strande ein Boot genommen, das sie eingerichtet haben. Zwei Nächte noch mußten sie auf der Insel kampieren, während sie am Tage segelten, am dritten Tage kamen sie nach Sardinien, wo sie gut aufgenommen und nach Rom befördert wurden. Dort nahm die deutsche Botschaft sie in Empfang und versorgte sie zur Weiterfahrt. Die Glücklichen! Sie haben Mut bewiesen und ihr Glück verdient. — Daß wir darunter litten, war klar. Wieder wurde verschärft, was noch zu verschärfen war. Ein neues Mittel wurde erfunden. Sämtliche Ausgänge wurden[S. 97] mit Gefangenen als Posten besetzt, das war ein ergötzliches Bild und führte zu ergötzlichen Szenen. Marder, welcher an dem Tore, das zu den Ställen führte, Wache hatte, waltete streng seines Amtes. Ein Franzose hatte einen Gefangenen beauftragt, ihm etwas von dort zu besorgen, Marder ließ ihn nicht durch. Nun kam der Franzose selber und forderte den Durchgang für den Beauftragten, worauf M. ihm kühl erwiderte: „Sie dürfen durch das Tor und sich alles besorgen, der Gefangene darf nicht durch. So ist mein Auftrag.“ Ein „sale boche!“ fluchend, mußte der sich nun selber bemühen. Gleich darauf wurde Marder seines Amtes, das er zu genau verwaltet hatte, entsetzt. Man kann es den Herren nie recht machen. — —

In diese Zeit fällt der Entscheid über meine von allen Seiten unterstützte Eingabe um Freilassung. Und nun muß ich noch einmal, trotz meines Schwures, den Namen des widerlichen Mannes erwähnen. Die französische Regierung schrieb an die amerikanische und spanische Botschaft, daß sie gern meine Freilassung verfügt hätte, besonders da eine so hohe Dame, wie die Infantin Beatriz von Spanien, sich darum bemüht habe, daß dies jedoch unmöglich geworden sei durch das Attest des Arztes. Dr. Brausewetter sei „en parfait état de sante“, wie eine „enquête minutieuse“ ergeben, und „mobilisable“. Das war die Rache Marcantonis gewesen. Ich war ja so vieles gewöhnt worden, aber um meine Frau war mir’s leid. Die hatte so tapfer gekämpft, und nun diese Enttäuschung!

Der Zorn war bei ihr aufgewallt und bei mir. Ich setzte mich sofort hin, schrieb an beide Botschaften und auch an die Infantin Beatriz, daß mich das sichere Urteil des Arztes und die „enquête minutieuse“ aufs äußerste in Erstaunen gesetzt habe. Dr. Marcantoni habe nie eine Frage meiner Gesundheit wegen an mich gestellt, trotzdem die Bescheinigung des preußischen Kriegsministeriums vorgelegen, daß ich wegen Lungentuberkulose aus dem Heere geschieden sei; viel weniger habe er auch nur einmal mich[S. 98] untersucht. Es sei unerklärlich, wie er zu solchem Urteil käme und wie die Note der französischen Regierung von einer „minutieuse enquête“ sprechen könne. Wieder kam der Stein ins Rollen, aber der Weg, den er rollen mußte, war vorgezeichnet. Ein Arzt aus Bastia kam nach einiger Zeit, mich — nun zum ersten Male — zu untersuchen. Er bestätigte meine Angaben nach genauer Feststellung des Befundes und sagte mir dann, ich würde nun freikommen, sein Bericht sei günstig für mich. Durch das Bureau erfuhr ich, daß er mich als immobilisable für jeden militärischen Dienst eingegeben habe, und daß damit meiner Freilassung nichts im Wege stände. Aber das konnte dem Ministerium natürlich nicht passen, es wäre in eine schlimme Lage gekommen und hätte der Infantin gegenüber einfach bekennen müssen, daß die leichtsinnige oder bewußt feindliche Eingabe des Marcantoni zu einem Irrtum geführt habe. Ein zweiter Arzt wurde beordert, das war bestellte Arbeit; er untersuchte mich und erklärte, daß zwar die Leiden vorhanden seien, daß ich aber doch soweit gesund sei, um einen service militaire zu tun. Was sollte das wohl für ein service militaire sein? Ich war doch Arzt, sollte ich zum Schreiber degradiert werden? Die Antwort der Regierung war klar. Es sei, so hieß es, nach dem Attest des ersten Arztes schon meine Freilassung verfügt gewesen, man habe aber nach dem Attest des zweiten die Verfügung wieder streichen müssen. Das war ja sonnenklar und hat uns nicht weiter überrascht. Ausharren hieß es nun und immer wieder ausharren, ob auch schwere Wolken über uns hingen.

Daß die fünf Flüchtlinge nicht zurückkehren wollten, erzürnte die Machthaber, und deren Gereiztheit stieg. Nun hatten wieder fünf Mann einen Fluchtversuch gemacht: Marder, Seifried, Liebscher, Soennickens und Kühl, aber das Glück hatte sie nicht begünstigt wie ihre Vorgänger, sie wurden eingefangen und Gegenstand neuer unerhörter Vorgänge in Casabianda. Der frühere Polizeipräfekt von Paris, Herr Lepine, kommt nach Casa[S. 99]bianda und betrachtet den Schauplatz so vieler Fluchtversuche. Die Erregung steigt auf allen Seiten aufs höchste, und ein seltsamer Abend war es, wie die Vorabende schwerer Ereignisse, als ich am 29. März, unserem Hochzeitstage, noch spät aufsaß und an meinem Tagebuch schrieb. Ich war lange über Erlaubnis aufgeblieben und schrieb alles nieder, was mir durch Herz und Sinne ging. Da öffnete sich gegen elf Uhr etwa, ohne daß ich ein Geräusch hörte, die Tür, ein Korporal wies auf mich: „Voilà.“ Hinter ihm trat der Chef-Adjutant, der Schwarze oder Mephisto, wie wir ihn nannten, ein, eine unheimliche Figur, wie auf der Lauer. Als er mich sah, war er ruhig: „Es ist Zeit, zu Bett zu gehen!“ sagte er, weiter nichts; dann ging er, lautlos wie er gekommen. Die Reitpeitsche, die ihn immer begleitete und die noch eine große Rolle spielen sollte, hatte er in der Hand getragen. Was hatte er gewollt, auf wen fahndete er? Etwas war im Gange gewesen, und der nächste Morgen brachte die Enthüllung. Wenige Stunden nach dem rätselhaften Besuche, der wohl mir nicht gegolten hatte, waren aus dem Nebenraum wieder sechs Mann entflohen. Sie hatten sich an Seilen von ihrem Fenster, dessen Kreuz sie ausgebrochen hatten, an der Stallmauer herabgelassen, waren so ins Freie auf gefährlicher Tour gelangt. Am nächsten Morgen war eine furchtbare Aufregung im Lager, die Flüchtlinge waren schon um drei Uhr morgens wieder eingefangen und saßen im Kerker.

Das war in der Nacht vom 29. zum 30. März geschehen. Vor wenigen Tagen hatten wir erfahren, daß der Chef-Adjutant drei der früheren Flüchtlinge in ihrer Kerkerzelle aufgesucht und mit der Reitpeitsche geschlagen hatte. Was diese Nacht geschehen, war das Ungeheuerlichste, was wir in unserer Gefangenschaft erlebten. Es drang erst gerüchtweise zu uns, wir wollten ihm nicht Glauben schenken, bis eine dahingehende Frage, die den vorübergeführten Gefangenen rasch gestellt worden war, bejaht wurde. Immer mehr kam aus guten Quellen eines nach dem anderen zutage. Simeoni hatte die Flüchtlinge um drei Uhr morgens, als sie von der Wache[S. 100] herangeführt wurden, vor dem Tore sich nackend entkleiden lassen, sie mit der Peitsche blutig geschlagen, auf den nackten Körper, jeden einzelnen, ihre Kleidung ins kalte Wasser geworfen, sie dann mit der Peitsche in den Kerker getrieben, dort von neuem gepeitscht. Wir wollten nicht glauben, was wir erfuhren, aber der Graf Peraldi selber sagte einem von uns alles, und als die erste Beschwerde abging, in welcher wir fälschlich den Chef-Adjutanten bezichtigten, gab er das Schreiben zurück: es sei nicht der, sondern Simeoni und ein anderer Offizier gewesen, den wir Falstaff nannten. Darüber hinaus gab es nichts, war das möglich gewesen, so konnten wir alles erwarten und es galt jetzt zu handeln. Faikos hatte die erste Beschwerde als Gruppenführer geschrieben, es war keine Antwort erfolgt. Jetzt trat an andere die gleiche Aufgabe heran, an mich als etwa Rangältesten, an Baron v. Weichs und Dr. Steinbrecher, die von ihren Gruppen dazu ersehen waren. Wir unterzogen uns der Aufgabe, der Gefahr uns wohl bewußt. Ehe ich die Eingabe machte, habe ich noch einmal mir von den Gefangenen die Einzelheiten bestätigen lassen, und folgende Briefe trafen aus dem Kerker ein.

Zivilist X., Korporalschaft Y.:

Lieber X.!

Simic, Lariga und ich waren heute zur Untersuchung. Der Arzt sagt, daß wir uns, die von dem Hieb herrührenden Wunden selbst beigebracht hätten. Ich konnte allerdings an seinen Mienen und an denen des Mephisto und des Grafen sehen, daß sie vom Gegenteil überzeugt waren. Man hat eben nur der Form genügt. Der Rote wartete draußen auf das Resultat. Der Graf und Mephisto sind uns wohlgesinnt. Der Graf bedauerte mein hartes Los. Ihr könnt mir alles bringen, Mephisto drückt beide Augen zu. Laß Dir also von Klos zwei Decken, Unterhosen und Mundharmonika geben und bringe den Kram rauf, auch Eßwaren aus der Kantine und[S. 101] falls Pakete angekommen sind. Auslagen vergüte ich Dir. Ebenso die weißen Schuhe vom Wandbrett und Spielkarten von X., und an der Bettstelle hängt ein kleiner Mantel, in welchem Du alles verstauen kannst. Besten Dank usw.

Lieber X.!

Zuerst die Angelegenheit mit Simeoni. Wir wurden also hinter dem Gut an der Düngergrube von einem Posten 3¼ Uhr und unter vielem Theater an das verschlossene Eingangstor geführt. Nachdem wir etwa eine Viertelstunde gestanden, kam Simeoni mit der Wache, die Bajonette aufpflanzen mußte. Simeoni gebärdete sich wie ein in höchster Ekstase befindlicher Wahnsinniger. Die eine Faust im Munde, knirschte er wie ein angeschossener Eber und in der erhobenen Rechten schwang er einen dreizölligen Ochsenziemer, den er zunächst wahllos über alle herniedersausen ließ. Als er dann des Heer ansichtig wurde, glaubte ich, er platze vor Wut: cochons, boches usw. regnete es. Er fuhr Heer mit der Linken an die Kehle und ließ die Rechte fast drei Minuten lang auf dessen Schädel platzen, während ihn außerdem noch ein Förster festhielt. Dann hieß es, obgleich wir durchnäßt von Schweiß waren, splitternackt ausziehen. Heer war zuerst fertig, unter beständigen Schlägen, bekam einige besonders wuchtige Hiebe und flog nach links. Dann kam Simic, dem der bärtige Oberleutnant Stefani an die Kehle fuhr und ihn an die Wand drückte, mit der Rechten fest den Kopf bearbeitend. Dann flog er zu Heer. Mittlerweile hatte Simeoni bei Reichel das um den Leib gewickelte Seil entdeckt. Neuer Ausbruch des Vesuvs. Mit dem umgekehrten Ochsenziemer einen Schlag über den Kopf, das Loch sieht man heute noch. Noch einige Schläge über Rücken, Gesicht und Schenkel, und er flog samt Amade rüber zu den übrigen. Amade erhielt einen Hieb über den Rücken von ungelogen 2 Zentimeter Breite. Jetzt erblickte er mich.[S. 102] Ich wurde die ganze Zeit von einem Förster visitiert, der mich vielleicht so vor dem Strafgericht zu retten dachte. Simeoni zu mir: Was, du Schwein bist noch nicht ausgezogen? begleitet von einigen Hieben. Ich zog mich so schnell als möglich aus, welchen Augenblick Lariga benutzte, um zu den anderen zu entweichen. Ich bekam seine Hiebe mit und flog mit einem Fußtritt zu den anderen. So standen wir etwa sechs Minuten. Dann mußten wir die Kleider über die Arme nehmen und zum Kerker marschieren. Ich war der letzte und bekam unterwegs noch einige Hiebe über den Rücken. Am Kerker neue Wutszene. Wir mußten einzeln vor die Halle treten, bekamen jeder zwei echte germanische Jagdhiebe und durften eintreten. Dann wurde Reichel herausgeholt, natürlich immer noch ohne jedes Bekleidungsstück. Mit der Linken hielt er ihm den Revolver vors Gesicht, in der erhobenen Rechten wieder den Ochsenziemer. „Jetzt sagst du Schwein mir die Wahrheit, wo ihr heruntergekommen seid.“ — „Bei der Bäckerei.“ Klatsch, gab’s einen Hieb. „Willst du die Wahrheit sagen.“ Reichel blieb dabei. Dann kam ich und ich sagte natürlich dasselbe, und daß wir Eier holen wollten. „Du lügst, du Hund, um vier Uhr war man bei mir und hat mir alles gesagt.“ Ich sagte: „Ich verstehe das nicht, da doch alles so ist, wie ich sage.“ In dem Augenblick kam der Kommandant und wir durften uns anziehen. — Wer hat nun die Geschichte brühwarm hinterbracht? Gruß

Ulrich.

Ein anderer Herr im Lager hatte einen Beschwerdebrief aufgesetzt, der mir und vielen anderen viel zu lau gegen diese unerhörte Barbarei erschien; ich sagte ihnen, ich wolle selber das Schreiben verfassen und verlas es dann. Es hatte vollen Beifall und folgenden Inhalt:

[S. 103]

1. 4. 15.

An die amerikanische Botschaft, Paris.

Im Namen und Interesse der in Casabianda unter Militärverwaltung internierten Zivilgefangenen erlaube ich mir folgendes vorzutragen:

Die in Casabianda internierten Zivilgefangenen sehen sich in der dringenden Lage, die Hilfe der nordamerikanischen Botschaft, deren Schutze sie unterstellt sind, anzurufen, weil ihre Behandlung dem hohnspricht, was sie selbst in Kriegszeiten als menschenwürdig anzusehen gewohnt sind. — Alle Repressalien, welche gegen sie ergriffen sind, wiegen nichts gegen das eine, die entehrendste aller Strafen, die Prügelstrafe in ihren Reihen. Die Prügelstrafe durch eine Reitpeitsche auf den bekleideten und nackten Körper ist ausgeführt durch drei französische Offiziere und ausgeübt an etwa acht Gefangenen durch dieselben Offiziere. — Der erste Fall der Prügelstrafe betraf einige Flüchtlinge im Kerker. Der zweite ist noch gravierender, er ereignete sich vor zwei Tagen, nachdem eine Beschwerde über den ersten Fall eingereicht worden war, und trug sich so zu: Sechs Gefangene, welche auf einem Fluchtversuche eingeholt waren, wurden morgens etwa drei Uhr am Tore von Casabianda durch zwei französische Offiziere des Lagers gezwungen, sich nackend auszuziehen, mit dem Revolver bedroht und gepeitscht. Dann mußten die armen Gefangenen ihre völlig durchnäßte Wäsche in den Arm nehmen, wurden den etwa 150 Meter weiten Weg zum Kerker heraufgetrieben, dort wiederum gepeitscht. Sie mußten im nassen Hemde, von Frost und Schmerzen fast erstarrt, im Kerker bleiben; erst heute ist ihnen Stroh und Unterzeug gegeben. — Ein Fluchtversuch, der von den Franzosen aus deutschen Lagern als Heldentat in französischen Zeitungen gepriesen wird, kann, von Deutschen ausgeführt, keine Schande sein und eine Strafe fordern, die [S. 104]bisher jeder Kulturstaat als unmenschlich aus seinen Rechtsbüchern ausgestrichen hat.

Eure Exzellenz bitten wir um schleunige Entsendung einer Kommission zur Feststellung unserer verzweifelten Lage und Bericht bei unseren Regierungen, da wir den augenblicklichen Stand für gefährlich erachten.

(gez.) Dr. M. Br....


Zugleich hatten Baron Weichs und Dr. Steinbrecher ihre Schriften verfaßt und sandten sie auf demselben Wege zum Kommandanten. Dessen erste Eingebung war, uns jeden auf 30 Tage, das Höchstmaß seiner Strafbefugnis, einzusperren.

Kerker in Casabianda.

Die Tage schleichen so dahin, fast zählen wir die Stunden. Wir haben uns gegenseitig zu ertragen und müssen gute Miene zum bösen Spiel machen. Keiner zeigt es, wenn es ihm bisweilen schwer aufs Herz fällt, wie unwürdig doch unsere ganze Lage ist! Keiner klagt, und das ist gut, es war kein Feigling unter uns. Aber manchmal denke ich doch an Lears Worte: „Ich stürb’ vor Mitleid, säh’ ich andre so!“ Gestalten wie der alte Moor treten mir lebhaft ins Gedächtnis, wie ich als Jüngling erschauert bin, wenn der Alte von seiner Kerkerzelle seinem Raben, dem Hermann, dankte. Ich hatte damals das Gefühl, als röche man den Unrat der furchtbaren Zelle von der Bühne herauf zur Galerie, wo wir Schüler saßen. — Das Innere unseres Kerkers spottete jeder Beschreibung. Immer wieder baten wir um Stroh und wurden vertröstet; das wenige, welches uns zur Verfügung stand und welches so rücksichtsvoll geteilt wurde, hatte schon lange in der Zelle gelegen und war faul und voller Läuse. Man hatte Läusespiritus für uns aufgetrieben und uns in die Zelle geschickt, und jeden Morgen nach dem Waschen (wir mußten uns in unseren Gamellen, die auch zum[S. 105] Essen dienten, waschen) kam die Einreibung mit dem Spiritus und jeder hatte acht auf den anderen, daß er von dem köstlichen Stoffe nicht mehr nahm, als unumgänglich nötig war, besonders aber nichts vergeudete. Wir mußten sehr haushälterisch damit umgehen, auf neuen konnten wir nicht rechnen. So kämpften wir gegen diese furchtbare Plage, aber doch nicht mit ganzem Erfolge, wenn auch jedes Stück Wäsche nach draußen zum Auskochen gegeben wurde. Die Läuse sind das fürchterlichste Ungeziefer, das zur Plage des Menschen bestimmt ist, kein anderes kommt dem gleich, und wir vier Aussätzigen litten darunter mehr, als wir uns gestehen mochten. Aber wir kämpften gegen den Unmut mit ganzer Energie. Krieg ist Krieg, und wenn wir auch zu der verzweifelten Rolle der zwecklos Leidenden verdammt waren, auch da trat die Aufgabe an uns heran, unseren Mann zu stehen, und wir haben sie erfüllt und einen gewissen bösen Humor gepflegt, der uns über schwere Stunden hinweghalf. Ich schrieb einmal auf einem Zettel an Remer, der sich noch relativer Freiheit mit den anderen erfreute: „Uns geht es vorzüglich, wir brauchen nicht um sechs Uhr aufzustehen, wir hören kein zweistündiges Blasen zum Appell, unser Essen müssen wir uns nicht selber holen, wir sehen nur zweimal am Tage und zu genau vorbestimmter Zeit Korporale und Offiziere; und vor allem, wir leben nicht wie Ihr in der beständigen Furcht, daß wir für irgendein unbedachtes Wort in den Kerker fliegen.“ Remer hat in der Zeit rührend für mich gesorgt, was möglich war, bekam ich, und sowohl Simeoni wie Mephisto ließen alles, auch Briefe, durch. Um neun Uhr etwa ging die Zellentür auf, drinnen war es halbdunkel, nachts ganz, das ist etwa dasselbe. Wir hatten uns vorher gewaschen und gesäubert, dann kam der wachthabende Offizier mit dem Korporal, Posten und den Kerkerverpflegern. Wir bekamen Brot und Wasser und die Träger ließen hier und da einige inoffizielle Gegenstände aufs Stroh fallen. Der Kübel wurde herausgeholt und gereinigt, die Gamellen gereinigt und die Zelle selber. Dann wurde alles wieder geschlossen und wir lagen wieder[S. 106] im Dunkeln. Das dauerte freilich nicht lange, denn schon zündeten wir eine Kerze an und durchsuchten das Stroh nach eventuellen Nachrichten oder Eß- und Trinkwaren, besonders Käse, Eier und Wurst waren begehrt, dabei Tabak und Zigarren, Streichhölzer usw. Nun, wir fanden meist genug, besonders in dem sogenannten nahrhaften Wasser, welches meist Konserven und gekochte Eier barg. (Zwei freundliche Männer hatten den Transport unserer Lebensmittel übernommen, aber sie kamen dabei zu Schaden. Wieder verriet einer, der den Posten, bei welchem immer kleine Geldgeschenke abfielen, haben wollte, die beiden, und jeder erhielt fünfzehn Tage Kerker.) Danach wurde gefrühstückt, meist mit gutem Appetit. Um 10½ Uhr durften wir auf eine Viertelstunde draußen im Korridor spazierengehen, da ordneten und glätteten wir unseren äußeren Menschen, um nicht dem alten Moor ähnlich zu werden, und schnappten in sehr homöopathischer Dosis Luft. Danach lasen wir in der Dunkelzelle, spielten auch wohl Karten oder vertrieben uns durch Nachdenken oder Gespräche die Zeit, und sie verging auch wirklich. Manchmal schrieb ich auch einige Gedichte nieder und freute mich, daß ich dazu noch in Verfassung war. Ich will einige wiederholen: „Ich bin nicht stolz.“ „Wo warst du?“ „Sträflingen den Tod versagen.“ (Zum größten Teil verloren oder von der Zensur in Uzès verstümmelt.) Und ich schrieb auch an meine Frau, natürlich nicht von dem, was mir geschehen war, das wäre grausam gewesen; und ich bin später besonders stolz gewesen, als auf meine Briefe aus dem Kerker ihre Antwort eintraf: „Ich freue mich, daß ich aus Deinen Briefen ersehe, wieviel besser es Dir geht. Du hast nie so kräftig und zuversichtlich geschrieben.“ Und darin hat sie recht behalten, ich hatte durchaus nicht poesiert. Ich habe mich wirklich kräftig gefühlt, gerade durch diese Zeit, die die schwersten Anforderungen an unsere Energie gestellt hatte, und in der Kerkerzelle habe ich die Feigheit abgeschüttelt, als könne eine Demütigung, sei es, welche es sei, die von Feindes Seite kommt, uns erniedrigen. Damals zeigten wir stolze Mienen, weil wir ver[S. 107]mochten, das Unerhörte gleichgültig über uns ergehen zu lassen, und ich glaube heute noch, daß wir ein Recht dazu hatten. Wie ich die Briefe geschrieben hatte, schickte ich auch ein Gedicht, das für meine Frau bestimmt war: „Streich getrost ein Jahr des Lebens.“ Wir mußten sparsam sein mit unserem Lichte, und so wurde es nachmittags wieder dunkel; wir unterhielten uns. Dann kam um vier Uhr das Essen, die Suppe. O Gott, wie schaudert mir davor! Das gräßliche Fett! Aber sagen durften wir das nicht, und ich denke noch mit herzlichem Vergnügen, wie wir, nachdem jeder einen mehr oder weniger großen Teil in den Abfalleimer gegossen hatte, mit schmunzelnder Miene einer zu dem anderen das übliche: „Nun, die Suppe war heute durchaus nicht schlecht, die ließ sich essen“, äußerten. Ja, wir waren bescheiden und durften uns nun wohl an ein Wurstbrot wagen, oder Eier nehmen, falls wir solche hatten. Auch Konservenbüchsen wurden hervorgeholt. Abends wurde meist noch ein Skat gespielt und dann zur Ruhe gegangen. — Wir schliefen, abgesehen von schweren Hautreizungen, nicht schlecht. Und so ward aus Abend und Morgen ein neuer Tag, und der neue glich dem alten aufs Haar, und gerade weil einer war wie der andere und verging wie der, weil wir keinen Wechsel hatten, so schien es uns auch, als ob die Zeit nicht gar so langsam hinginge, und wir trösteten uns mit Shakespeares Wort, daß die Zeit auch durch den rauhesten Tag geht. Neues konnten wir ja nicht erwarten, und es geschah auch nicht viel. Ulrich hatte im Namen der anderen Gefangenen eine Beschwerde über die Prügelaffäre an den Kommandanten aufgesetzt und wurde zitiert. Aber an der Strafe änderte das nichts. Das Wort zweier französischer Offiziere schlug das von tausend gefangenen boches und mit dem „Sie sind gar nicht geschlagen“ war ein so lächerlicher Zwischenfall erledigt, bis viel, viel später die sechs Gefangenen vor dem Kriegsgericht in St. Nicola ihre Aussagen nunmehr eidlich bekräftigen durften. Und daß sie später zum Eide zugelassen worden sind, gab uns zu denken. Was wir im Lager erfahren, sind ja[S. 108] immer nur halbe Nachrichten. Der Tag, wo uns verkündet wurde, oder vielmehr nicht verkündet, denn man nahm das als selbstverständlich, daß unsere Strafe auf dreißig Tage erhöht sei, gehörte nicht zu den angenehmsten; aber wir haben auch den in Fassung über uns ergehen lassen. Es waren nämlich auch in unseren Kerker die Gerüchte gedrungen, daß die französische Regierung den Anträgen der amerikanischen Botschaft nachgegeben habe und das Lager Casabianda noch im April räumen wolle. Das war erfreulich, aber weniger war es die Aussicht, daß wir im neuen Lager gleich wieder als Sträflinge ins Gefängnis abgeführt werden sollten. Aber was sein soll, mag sein. Schlimmer konnte es ja doch nicht werden wie hier. Und es wurde wirklich so. Die Gerüchte, daß wir nach Uzès kämen, wurden sicherer und schließlich bestimmt; der Termin, der dreißigste April, war festgesetzt. Am Tage vorher dankten wir es der Gnade Mephistos, daß wir uns einmal am ganzen Körper unter fließendem Wasser waschen durften, und das war köstlich. Ich schrieb noch am Abend in meine Blätter die erwartenden Zeilen für Uzès. Am dreißigsten April, früh sechs Uhr, kam der Schwarze und holte uns ab. Gepackt war alles, und gegen acht Uhr setzten wir uns in Bewegung. Vor dem Abmarsch fiel von Weichs in schwerem Anfall zu Boden; die Tage waren doch nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Nun kamen die Gruppenführer und baten den Kommandanten, zu gestatten, daß der Kranke auf den Transportwagen gelegt würde. Der bestimmte in rührender Humanität, daß „das Schwein da“ zu Fuß ginge, und daß der Offizier dafür zu sorgen habe, daß ihn keiner unterstütze. Das war der Abschiedsgruß des Ehrenwerten. Wir gingen an einem recht heißen Tage auf Umwegen zum Bahnhof — die freie Luft tat doch wohl — und wurden nach Bastia verladen. Die Freundlichkeiten, die wir hörten, waren schon etwas matter geworden, auch die Steinwürfe, und unser neuerwachter Freiheitsdrang erzeugte wieder die seltsamsten Gerüchte: Wir kämen zunächst nach St. Nicolas, da würden die ausgesondert, die[S. 109] nach Hause geschickt würden usw. usw. Derlei versagte nie seinen Eindruck. In Bastia ging’s aufs Schiff; diesmal hieß es „Galvani“ (undeutlich im Original). Bei ruhigem Meer hatten wir eine sonst gleich gräßliche Fahrt. In Marseille wurden wir wieder umgeladen auf ein anderes, kleineres Schiff, das uns nicht zum anderen Bahnhof führte, wie wir gemeint hatten, sondern in gerader Fahrt zum Ponton, also Zwischenstation. Ob das zur Erholung war, oder ob die ausgemustert werden sollten, welche zur Heimreise bestimmt waren, das erfuhren wir damals nicht, später auch nicht. Der Ponton ist ein alter, ausrangierter, schwimmender Güterschuppen. Er soll anfangs als Quarantänestation benutzt worden sein, diente nun als Gefangenenlager. Er ist etwa 20 Meter lang, 10 Meter breit, 10 Meter hoch, in drei Etagen geteilt.

Wir wollen auf ein anderes Kapitel unserer Gefangenschaft kommen, so groß, so erhaben, daß es uns über alles, was kleinlich war, hinweghalf, das uns oder die Besseren unter uns für unser großes Leiden entschädigte, das war die Verfolgung des gigantischen Feldzuges in Rußland. Damals durften wir noch, oder auch wieder, französische und englische Zeitungen lesen und kämpften in Gedanken an der Seite der Unseren, mit ihnen Siege feiernd. Das enthob uns für Stunden dem Grau des Alltags. Freilich hatten wir auch unter guten Nachrichten zu leiden, und das gab uns einen gewissen Anteil daran. Unsere Bedrücker verhehlten uns gegenüber ihre Stimmung durchaus nicht, und wir standen wehrlos ihnen gegenüber. Wir durften uns nicht glückwünschend die Hände reichen, wenn wir es auch oft verstohlen taten. Wir bekamen keine Extrablätter vom Falle Warschaus und sahen nicht Knaben und Mädchen jubelnd aus der Schule kommen, weil unser braves Heer ihnen wieder einen schulfreien Tag geschlagen hatte. Wir bekamen gute Kost so neidisch und hämisch und in so kleinen Portionen zugeteilt, daß wir hungerten. Damals waren auch noch spanische Zeitungen erlaubt, freilich nur die franzosenfreundlichen,[S. 110] sie wurden aber bald verboten, da Spaniens Haltung Frankreichs Mißtrauen weckte. Auf deutsche Zeitungen wurde wie auf Spione gefahndet, sie wurden aus jedem Paket herausgerissen; wo sie besonders gewandt versteckt waren, wurde der Empfänger mit Gefängnis nicht unter vier Tagen im Einzelfalle bestraft. Auch die englischen Zeitungen waren unseren Aufsichtsräten noch zu offenherzig, und so wurden sie nur durch großen Scherenschnitt verstümmelt uns ausgehändigt. Aber auch Scheren sind tückisch und schneiden oft falsch; so ließen sie oft stehen, was fort sollte, und nahmen Unwichtiges weg, wirkten auch, wie ein Vergleich ergab, oft verschieden in verschiedenen Exemplaren der Zeitungen.

Wie gesagt, pillenweise schluckten wir gute Nachrichten. So fiel Warschau etwa so:

  1. Der Traum der Deutschen: Einige übergeschnappte Phantasten in Deutschland träumen sogar von einer möglichen Einnahme Warschaus. Napoleon hatte bekanntlich 1812 ...
  2. Ein Herr, der absolut zuverlässig ist und in Amsterdam wohnt, erklärt uns, daß Warschau nie den Russen entrissen werden kann. Er erklärte unserem Korrespondenten zugleich, daß nach mathematischer Berechnung die victoire finale auf allen Fronten für die Alliierten sein müsse.
  3. Nach Nachrichten aus der Schweiz, die natürlich rosig gefärbt sind für die boches, sollen hartnäckige Kämpfe bei Warschau stattfinden.
  4. Die Russen haben bei Warschau einen großen Sieg zu verzeichnen, sie haben die Stadt in tadelloser Ordnung geräumt, der Feind ist eingezogen, und der Großfürst Nikolaus hofft, ihn nun nach sich zu ziehen, wie es ihm beliebt, denn Napoleon hatte 1812 ...
  5. Die Deutschen feiern in ihrer kindlichen Art den Fall[S. 111] Warschaus, der doch für Rußland so ganz bedeutungslos gewesen ist. Daß die victoire finale unseren glorreichen Alliierten nicht entrissen werden kann, erleuchtet aus einem historischen Vergleiche: Napoleon zog bekanntlich im Jahre 1812 ...

So war es ein eigenartiges und durchaus nicht leichtes Studium, uns durch alle Floskeln hindurchzulesen, aber wir lernten es; wir lernten auch, zurückzudatieren und nach dem, was nicht geschrieben oder gelogen wurde, allgemeine Stimmung herauszulesen. Wir zeichneten Karten. In allen Zimmern hingen schließlich solche aus, bis sie verboten wurden, wie auch die Zeitungen; das war im Februar 1916. Wir verfolgten das siegreiche Vordringen der Russen in ihr eigenes Land, immer uns den Weg weisend, den wir folgen sollten, jusqu’à la victoire finale. Die Tage nach Warschau, da unerwartet schnell eine Festung nach der anderen fiel, waren mit unseren diplomatischen Siegen im Balkan die schönsten, auch wenn jede Zeitung uns täglich seit mehr als einem Jahre die Schlacht an der Marne und den Rückzug der deutschen Truppen dort als Dessert vorsetzte. Eigentümliche Leser müssen die Franzosen sein, die Presse darf die frechsten Lügenkombinationen in die Zeitungen bringen, die ein deutscher Leser mitsamt dem Annoncenteil und dem Feuilleton dem Redakteur um die Ohren schlüge. Der Franzose will es so. Er mag nicht beunruhigt werden und seine patriotische Anregung mag er auch nicht vermissen, es gehe wie es gehe, nachher kommt ja doch, was unvermeidlich ist. Er ist darin, sonst durchaus nicht, dem Spanier ähnlich. Er belügt sich gern, darum müssen vor allen Dingen die Ueberschriften aufregend sein. Holland, Spanien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Amerika, alles ging in dicken Ueberschriften jede Woche mindestens zweimal mit den Alliierten in den Krieg. Was nach der Ueberschrift kam, brauchte ja niemand genauer zu lesen, auch nicht, aus welcher Quelle die erschütternde Nachricht stammte.

[S. 112]

Wir haben genau an der Hand der Karten die Vorgänge auf dem Kriegsschauplatz verfolgt und uns begeistert an so mächtiger Führung, aber all das drückte den Stachel der Erkenntnis nur tiefer und schmerzhafter in unser Inneres: wir waren nur Zaungäste, wir durften nicht mithelfen, ja nicht einmal zeigen, was uns froh machte. Schwer drückt die Gefangenschaft! — Auch empfindlich macht sie und reizbar. Jede Nachricht eines Rückganges oder einer größeren Zahl von Verlusten auf unserer Seite wird natürlich gerade umgekehrt zu uns getragen. Seesieg bei Riga!

  1. Die deutsche Flotte teilweise vernichtet! Acht Torpedos, zwei große Kreuzer und der Dreadnought „Moltke“ zum Sinken gebracht! Einige Schiffe haben sich bis in den Hafen von Libau geflüchtet, wo sie bis Danzig verfolgt wurden. Der Zar hat in allen Kirchen Tedeum angeordnet, er empfängt von seiten aller Verbündeten Glückwunschtelegramme. Siegesfeier in Petersburg und allen Städten Rußlands. —
  2. Englischen Blättern zufolge ist es nicht sicher, daß der Dreadnought „Moltke“ torpediert ist, es heißt nach neueren Berichten „im Stile Moltke“. —
  3. Die lügnerische deutsche Presse dementiert unsere Berichte über die Seeschlacht von Riga, man sieht daraus, wie zuverlässig ... usw. —
  4. Die „Times“ berichtet, daß bei Riga zwei Torpedos versenkt sind, zwei andere sollen nach Libau entkommen sein. Die „Moltke“ ist in neutralen Häfen gesehen worden.

Das war der Schluß der Riesenseeschlacht bei Riga.

Als ich diese Zeilen schreibe, lese ich in der Zeitung, die Franzosen haben nördlich von Châlons in einer Front von 25 Kilometern einen großen Sieg erfochten, 20000 Gefangene gemacht und die Reihen der Feinde durchbrochen. Das letztere wird im weiteren widerrufen, es wird auch sonst vieles übertrieben sein; aber ich mag bei solchem Berichte die Zeitung schon gar nicht[S. 113] mehr in die Hand nehmen, viel schwerer empfinde ich das Fernsein bei Niederlagen als bei Siegen. Der Russe soll ja ein reichlich dickes Fell in politischen Fragen haben, sonst müßte das Los eines in Deutschland gefangenen Russen das kläglichste sein, das ich mir denken kann. Wenn nicht unsere Erfolge, das ganze und volle Vertrauen auf unsere Regierung, Heer und Marine uns aufrechterhielte und ein starkes Gegengewicht gegen das Elend im Lager gebildet hätte, was wäre aus uns geworden? Ich kann mir nicht denken, daß ich ein so hoffnungslos klägliches Schicksal durchgehalten hätte.


Uzès!

Doch nun zu Uzès! Ich will das tägliche Lagerleben kurz abmachen, um den Leser nicht zu langweilen, wie wir uns gelangweilt haben. Der Grundzug des Lebens in Uzès bestand in einer großen Oede, unterbrochen von Ereignissen der traurigsten Art, zum großen Teil Nachwehen von Casabianda.

Unser Einzug in Uzès fand am 4. Mai 1915, abends 7 Uhr, unter dem Jubel der Bevölkerung statt. Ein Gejohle, Pfeifen, Brüllen, Kreischen, Zischen, Heulen empfing uns, wie beim Einzug in Korsika, nur näher und daher sinnbetäubender, daß selbst die stärksten Trommelfelle kaum standhielten. Wir dankten nach beiden Seiten für die lärmenden Huldigungen, fanden aber kein rechtes Verständnis bei der exaltierten Menge, außer daß uns einige Damen ihre Zungen grüßend entgegenstreckten und Grimassen schnitten, die auch bei dem fahlen Laternenlicht ihre Gesichter nicht verschönten. Gegen 8 Uhr gelangten wir durch einen Toreingang auf einen Kasernenhof von 70 Meter Länge, 30 Meter Breite, der schwach erleuchtet war. Wir erhielten zu essen und wurden dann namentlich ins Bureau gerufen. Der Kommandant sagte zu mir auf deutsch: „Sie sind bestraft, nicht wahr?“ Ich bejahte das und er fragte warum? „Weil ich mich um Hilfe an den Herrn General[S. 114]gouverneur wandte gegen die Prügelstrafe, welche einige Offiziere in Casabianda gegen uns Gefangene eingeführt haben.“ Er kannte die Sache und es war mir schon gesagt, daß er auf meiner Seite stand. So beschied er mich auf morgen. Wir gingen dann nach oben, erhielten ein Zimmer zu zehn Mann, darunter Moritz, Bonitz, Schmidt, Schaaf, Pasch, von Maltzahn, Spangenberg, Hirschfeld, fanden für jedes Lager Strohmatratze, Strohsack, Schlafsack und zwei Decken vor. Das Zimmer war geräumig und nicht unfreundlich und wir schliefen gut, doch wußte ich, daß ich mein Lager wieder mit einem weniger freundlichen vertauschen müßte, denn noch fehlten neun Tage Kerker. Am nächsten Morgen erfuhren wir das eine, daß wir in ein ganz gutes Lager gekommen waren, und daß es wohl kein Lager in ganz Frankreich gäbe, das Casabianda an die Seite zu stellen wäre. Wir drei Schwerverbrecher, Baron von Weichs, Dr. Steinbrecher und ich, wurden zum Arzt geschickt, der Kommandant hatte vielleicht gedacht, uns so von der Fortsetzung der Strafe zu befreien. Der Arzt fand bei den anderen etwas, bei mir nichts, was ihn nicht hinderte, uns alle drei als haftfähig zu erklären. Der Kommandant sagte uns denn auch sehr liebenswürdig, er könne die Strafe nicht aufheben, weil sie vom Generalgouverneur verhängt sei, er wolle sie uns aber leicht gestalten. Dann rief er uns alle und sagte in einer Ansprache, er wüßte, wie schlecht wir es in Casabianda gehabt hätten, und er wolle sorgen, daß wir es hier besser haben. Im Grunde hat er das gehalten und ist wohlwollend geblieben. Wir konnten uns über das, was an Maßregeln von ihm ausging, nicht beschweren. Was an Ungerechtigkeiten, Repressalien usw. kam, ging nie von ihm aus, und als er seine Stellung verließ, erfuhren wir, wie sehr ein Lagerleben vom guten oder bösen Willen des Kommandanten abhängt. Auch Offiziere und Mannschaften benahmen sich zu damaliger Zeit nicht ungebührlich, wir waren ja auch nicht verwöhnt in Casabianda. Am Abend wanderten wir in den Kerker, das war freilich ein Unterschied gegen Casabianda. Ein heller,[S. 115] großer Raum mit Lagerpritschen. Decken nahmen wir uns mit, wie wir wollten. Der Kommandant besuchte uns am zweiten Tage, gab uns eine Kiste Papier, wenn wir arbeiten wollten. So sind die neun Tage hingegangen, wir kamen zwei bis drei Stunden auf den Kasernenhof, durften auch in die Kantine, und wenn die Wanzen auf den Pritschen nicht gewesen wären, so hätten wir keinen Nachteil gegen die anderen Gefangenen empfunden, die mit ewigen Revisionen und Appellen geplagt wurden. Die Wächter kannten den Grund unserer Bestrafung und benahmen sich durchaus gebührlich. Später sind Freiheiten, wie wir sie genossen, nicht mehr gewährt, auch kamen viele Gefangene in die Einzeldunkelzellen. Die Bestrafungen waren in Uzès etwa so zahlreich wie in Casabianda, nur handelte es sich in den ersten Monaten meist um kurze Ordnungsstrafen. Am 14. Mai endete unsere Kerkerzeit und das Lagerleben begann von neuem.

Wenn ich die Wahrheit bekennen soll, so muß ich gestehen, daß nach den ewigen Aufregungen vergangener Tage die Oede von Uzès fast unerträglich war. Wir waren so ganz heraus aus dem gewohnten Getriebe, kein Korporal setzte uns bei dem ersten Widerstand den Revolver auf die Brust, Schüsse fielen selten und auch nur dann, wenn ein kriegsunkundiger Kämpfer sein Gewehr laden und die Sicherung probieren wollte. Das tägliche Theater fehlte, das unseren Nerven so unbedingte Gewohnheit geworden war. Uns war zumute wie in einer Abstinenzkur, wir hatten sogar einen Korporal, der uns ein gewisses Wohlwollen entgegenbrachte. Das verstößt so gegen alle Regeln und Kriegsgesetze des jüngsten Krieges, wie wir sie bisher in Frankreich erfaßt hatten. An Strafen fehlte es, wie gesagt, nicht; aber es fehlte ihnen so der intime Reiz der Gemeinheit, sie waren nicht einmal immer ungerecht, und es hatte nicht einmal jeder Korporal das Recht, dem ersten besten boche, wenn es ihm gefiel, an die Gurgel zu springen und mit ihm abzufahren. Hier pfiff nicht einer auf den anderen, es herrschte etwas wie militärische Ordnung, und daran muß man sich nach[S. 116] so strapaziöser Zeit erst langsam gewöhnen. Auch der Kerker war, wie ich schon sagte, so gar nicht romantisch, wie in Casabianda, mit verfaulten, dumpf riechenden Mauern und Ungeziefer jeder Art. Die paar Wanzen, was ist das? Auf die Gefahr hin, daß meine Leser einschlafen, will ich mich zwingen, einen Tag der Gefangenschaft zu schildern, den ich ebenso den 1. Juni wie den 20. August oder den 23. Oktober nennen kann. Was galt uns überhaupt ein Datum? Ein Traum war alles und wir ersehnten das Erwachen. „Nur mit Entsetzen wach’ ich morgens auf, ich möchte bittre Tränen weinen, den Tag zu sehn, der mir in seinem Lauf nicht einen Wunsch gewähren wird, nicht einen.“ Also zur Prosa, die besser hierherpaßt. Morgens um 5 Uhr, auch 5½, selbst 6, je nach dem Gang der Sonne, tönt das Signal „Wecken“. Jeder regt, reckt sich und legt sich auf die andere Seite des traurigen Strohlagers, denkt noch zwanzig Minuten nach, erhebt sich, meist der gewohnten Reihenfolge nach, der Langschläfer folgt dem Kurzschläfer. Neben dem Lager steht ein Schälchen Kaffee, seiner braunen Farbe wegen so genannt, den mit dem Wecksignal der Diensthabende in die hingestellten Gefäße gegossen hat. Man greift dazu, ich habe mich an den Verzicht gewöhnt. Einige stürzen sich darauf, essen und trinken dazu, ehe sie sich die Zähne geputzt haben, aber das schwarze Brot, welches eine Nachahmung des K. B. sein soll und extra gemacht ist, uns zu ärgern, wirkt der Zahnbürste ähnlich. Also wir erheben uns, greifen zum gefüllten Eimer, wenigstens die, welche sich einen gekauft haben, zu Handtuch, Seife, Glas, Pebeco, Zahnbürste und gehen in den Waschraum, dessen Fülle und Akustik gräßlich ist. (Ich selber war so undiszipliniert, daß ich die Reinigungsprozedur im Zimmer vornahm.) Dann kam der Diensttuende und reinigte das Zimmer, erst trocken, dann naß. Wir Begüterten stellten Vertreter, da uns die Arbeit nicht so recht von der Hand ging, unsere Burschen machten unsere Lager zurecht, zuletzt ging alles in eiligem Tempo, denn schon erklang eine Stunde nach dem Signal „Wecken“ das zweite Signal[S. 117] „erster Appell“. Wir stellten uns vor die Lager in Reih und Glied und die Regierung nahte, die mit Herrschermiene die Meldung des Zimmerchefs entgegennahm. Dann kam ein solennes Frühstück, Tee, Kaffee, Kakao, je nach dem Sortiment der braven Alten in der Heimat, die mich reichlich versorgt hatte. Dann verteilte sich der Schwarm. Es gab Unterrichtsstunden. Moritz unterrichtete im Englischen, leider nur kurze Zeit, Bonitz im Spanischen, ich nahm Unterricht in Stenographie und später im Neugriechischen und Türkischen, fast alle Sprachen wurden unterrichtet, auch gab Rektor Kalb für die weniger Gebildeten Elementarunterricht, Mathematik usw., was dem Herrn, der sich auch sonst große Verdienste um das Lagerleben erworben hat, besonders gedankt wurde. Der morgendliche Frühgang hatte bei sieben Lokalitäten und über fünfhundert, welche Anwartschaft darauf geltend machten, recht große Schwierigkeiten. Wie eine Schlachtreihe aufgepflanzt, lauerte man auf das Erlösungswort: Ablösung vor; wohl dem, der nach Scheffelscher Sangesweise altphilosophischem Grundsatz der Guanovögel folgen konnte! Aber auch dort war die Einrichtung, so primitiv sie war, doch golden gegen die in Casabianda. Dann kam ruhige Zeit des Arbeitens oder Lesens, anfangs auf eigenem Stuhl am eigenen Tisch, bis das verboten wurde. Ich schrieb mein Tagebuch, mit dem ich später so traurige Erfahrungen gemacht habe, und wenn ich so im Freien saß und schrieb, dann vergaß ich bisweilen das Elend der Gefangenschaft. Ich selber war dienstfrei von jeglichem Dienste. Für die anderen kam um 8½ Uhr das Signal „Turnen“, das war für uns insofern unangenehm, als wir um diese Zeit nicht im Freien sitzen durften. Im Freien — nun, das Wort mag hingehen, der Himmel war über uns, und etwa zehn Bäume gab es auch auf dem Hofe, sonst war der Ausblick freilich durch Haus und Mauer versperrt. Nach einer Stunde wurde das Turnen abgeblasen, wieder nach einer halben Stunde wurde zum Brotempfang und dann zum Essen geblasen.

Meist wurden inzwischen noch einmal die Korporalschafts[S. 118]führer zusammengeblasen, um Spezialaufträge in Empfang zu nehmen. Beim Essensruf vereinigte sich alles, was essen wollte. Man mußte auf Empfang der Portion meist so etwa zwanzig Minuten warten (das ist später dadurch vereinfacht, daß die einzelnen Zimmer durch Vertreter das Essen in Eimern für jedes Zimmer holen ließen), aber es lohnte sich, besonders wegen des Wechsels im Menü. Montags gab es Fleisch mit Sauce und Kohlsuppe, Dienstags auch, Mittwochs dasselbe, Donnerstags auch, Freitags Stockfisch oder Sardinen und Sonnabends und Sonntags Fleisch mit Sauce und Kohlsuppe. Wir upper ten thousands hatten eigene Art, den Leib zu pflegen. Einige aßen extra in der Kantine, andere kochten selbst oder ließen sich kochen. Zu den letzteren gehörte ich und ich bin nicht schlecht dabei gefahren. Der Mittagstisch, wie ich ihn mit einigen kurze Zeit in der Kantine hatte, wurde bei der dauernden Steigerung der Lebensmittel zu teuer, so daß wir uns derlei nicht mehr leisten konnten, besonders seit die Auszahlungen aus dem eigenen Depot immer mehr beschränkt wurden. Au titre de repressalies wurde überdies bald in der Küche nur dreimal wöchentlich Fleisch verabfolgt und das Brot wurde täglich ungenießbarer.

Der Leser verzeihe mir, wenn ich immer wieder abschweife, die Oede des Alltags in Uzès wirkt noch in der Erinnerung wie Augustgewitterschwüle, und jede Abschweifung ist mir, auch wenn ich mich zwingen will, beim Thema zu bleiben, wie kühlender Wind.

Also weiter: Um 10¾ wurde wieder geblasen, diesmal zum wirklichen Appell. Ich schrieb damals an meine Frau, sie möchte sich doch beizeiten eine ordentliche Trompete anschaffen, denn es würde mir unmöglich sein, ohne das nötige Geblase mich zu Bett zu legen, mich zu erheben, mich zu waschen, zu essen, Nachmittagsschlaf zu halten oder gar aus ihm wieder zu erwachen. Gleich nach dem Appell ertönt das Signal: Die Kantine ist eröffnet. Sechsmal am Tage gibt es Kantinensignal: dreimal Kantine offen, drei[S. 119]mal Kantine zu. Um die Stunde wird Zeitung verkauft und nun stürzen wir uns auf die neusten Nachrichten. Das war zu Zeiten des russischen Feldzuges die schönste Stunde des Tages neben der Abendstunde, wo wir den „Radical“ nach dem Abendappell lasen, der anfangs starke Artikel brachte, dann zahm wurde und aus der Hand fraß. Um ½2 dumpfes Signal: Antreten zum Vortrag. Dahin gehe ich fast nur, wenn ich muß, und ich muß, wenn ich selber spreche. Es ist das nicht selten, weil ich zu den Berufsvortragenden gehöre. Später, als die Möglichkeit zu neuen Themata sich immer mehr erschöpfte, habe ich mich gänzlich emanzipiert. Ich sprach abwechselnd über Medizin und Literatur, bereitete mich wenig dazu vor. Das Publikum ist selten gewählt, es gilt mir als eine Uebung zum freien Sprechen. Ich nehme es keinem übel, der nicht in meine Vorträge kommt, wie ich vice versa dieselbe Rücksicht gegen mich verlange. Aber doch hat es einen gewissen Wert, daß solche Vorträge gehalten werden, es gehört durchaus zum Stil. Ich möchte, ohne jemand zu kränken — mich selber nun schon gar nicht —, behaupten, die Vorträge bilden die Höhe des Stumpfsinns, denn bekanntlich kann man, ohne eine Bibliothek zur Hand zu haben, etwas Wissenswertes kaum bringen, da hier und da Lücken sich zeigen, die aus dem Gedächtnis nicht auszufüllen sind. Nach dem Vortrag der übliche Spaziergang zwischen vier oder sieben Mauern, immer auf und ab und ab und auf, und nun blüht der Stumpfsinn: die Zeitungen und neusten Nachrichten werden besprochen. Da ist Herr A., der hat eigene Interessen und weiß, der Friede steht nahe bevor, weil dadurch seine finanziellen Verhältnisse gebessert werden; da ist Herr B., der genau weiß, daß der Krieg noch zwei Jahre dauert; Herr C., der von Hause im bekannten Hieroglyphenstil der Gefangenen Nachricht erhalten hat, daß Onkel Ruß am Abschnappen und Tante Fränzchen schwerkrank ist, oder daß Onkel Polnickel aus der Hauptstadt ausgezogen ist, womit der Fall Warschaus gemeint ist, den wir schon seit Wochen wissen; Herr D., welcher wieder einmal einen Beitrag zu seiner[S. 120] zahlreichen Korrespondenz mit der amerikanischen Botschaft zu Paris bespricht, von dem er nun endlich Erfolg erwartet; Herr E., Journalist, der mathematisch sicher nachweist, wie sich die Balkanstaaten, jeder einzeln, verhalten müssen und werden, und sich doch immer irrt. Prophezeien ist sehr schwer, nach der Tat schon weniger. Besser man wartet ab und behauptet dann, man habe das alles vorher gewußt. — Nach 19 Monaten der Gefangenschaft hat der französische Staat sich überzeugt, daß meine Patente und Papiere, die ich im Anfange meiner Gefangenschaft eingereicht hatte, wirklich in Ordnung waren, und mich, nachdem ich, wie Schmidt, der in der gleichen Lage war, etwa wöchentlich Eingaben gemacht hatten, als Offizier anerkannt. Ich kam dann mit Hauptmann Engelhard in ein Zimmer und genoß aus vollem Herzen die Ruhe.

Um 3 Uhr war Paketverteilung. Die Liste der Begünstigten stand von Mittag an am schwarzen Brett angeschlagen. Zur selben Stunde — später wurde das anders — war auch Postverteilung. Das waren die Höhepunkte des Tages, und bemitleidenswert die, welche von keiner Seite bedacht waren. Ich hab’ es oft auf Kirchhöfen gelesen und erinnerte mich jetzt, wenn ich sie auch nicht mehr geschmackvoll finde, an die Inschrift: „Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, er ist nur fern; tot ist nur, wer vergessen wird.“ So geht es auch uns lebendig Begrabenen. Solange wir den Unseren wirklich fehlen und immer wieder Liebeszeichen von ihnen erhalten, rechnen wir uns noch zu den Scheintoten und arbeiten noch am Erwachen. Traurig daran sind die, welche kein Band an die Heimat fesselt, trauriger die, bei denen das lange Fernsein das Band lockert oder gar zerreißt. „Alle nicht, die wiederkehren, werden sich der Heimat freuen.“ —

Zuerst kleine Pakete, die werden schneller befördert als große oder gar Briefe, und dann ersehen wir aus der Adresse einen Gruß, der uns wenigstens sagt, daß der Aufgeber lebt und gesund ist. Sie[S. 121] enthalten meist Frühstückstaschen, aber das Wichtigste an ihnen ist doch Handschrift und Poststempel. Wenn wir die vielen Todesnachrichten hören, die unsere Genossen im Lager erhalten, so freuen wir uns doppelt über jede frohe Nachricht. Die Bestimmungen und Repressalien verändern sich im Lager von einem Tag auf den anderen. Der kluge Mann baut vor und sorgt, daß er im Falle der Not in seinem Depotkoffer Vorrat finde. Was heute gilt, gilt morgen nicht. Ich war, dank meiner braven besseren Hälfte, immer reichlich versorgt und kam nur dann in Not, wenn meine Freilassung etwa sicher war, das war zufällig beide Male um die Weihnachtszeit, man erwartete mich mit Sicherheit zu Hause.

Weihnachten.

Unter gleichem Franzmannsjoch
Winkt der zweite Weihnachtsbaum;
Träum’ ich? Wach’ ich? Immer noch
Schreckt mich’s wie ein wüster Traum.
Und ich hör’ die Mär erschallen —
Nie wird sie zur Wahrheit werden —
Von dem Frieden auf der Erden
Und der Menschen Wohlgefallen.
Nein, ich mag den Baum nicht seh’n,
Der zum zweitenmal mich narrt;
Weihnacht will ich heut’ versteh’n:
Schwert am Knauf, nach Preußenart!
Mag, wer will, von Liebe sprechen
Mitten in Gewitterstürmen,
Wo sich Leib und Leiber türmen,
Wo im Hassen Herzen brechen!
Keinen Baum, nicht hier und dort,
Der die Friedensbotschaft trägt;
[S. 122]
Wilder Haß für heut’ das Wort,
Den ich Tag für Tag gepflegt,
Daß ich ihn den Kindern bringe
Und nur denke, ihn zu mehren —
Kindeskind soll ihn noch ehren —
Jenen Haß, der Frieden zwinge!

Was Repressalien sind, läßt sich schwer beschreiben. Wir haben eigentlich den Eindruck gehabt, daß wir in puncto Repressalien immer die Dummen waren. Ein Franzose schreibt, daß er im deutschen Lager nur schwarzes Brot bekommt, das er nicht mag. Sofort bekommen wir aus Reziprozität auch nur schwarzes. Da man aber schwarzes Brot hier nicht backen kann, so kommt eine Masse heraus, die die Därme zu wildester Tätigkeit aufstachelt. Im deutschen Lager bekommen die Franzosen Bier; sofort dürfen wir auch Bier haben, keinen Wein, der naturgemäß hier billiger ist als Bier, weil er Nationalgetränk ist wie bei uns das Bier. Das Bier ist in Deutschland gut und billig, hier unerschwinglich teuer und schlecht.

Doch zurück zu den Paketen. Neben den Familiensendungen kamen auch Liebesgaben in unser Lager, recht reichlich. Meist vom „Roten Kreuz“, auch von Privaten, die natürlich unter die Bedürftigen verteilt wurden. Aber einmal fiel auch für mich etwas ab, und das erzähle ich, weil es mich in so trostloser Zeit wirklich gefreut hat. Hauptmann Engelhard, mit dem ich später das Zimmer teilte, erhielt von der Vorsteherin der Gundelfinger Schule in Basel ein Paket mit Waschlappen, welche die kleinen Mädchen ihrer Schule für die armen Gefangenen gestrickt hatten; davon gab er mir einen zugleich mit dem Briefe der kleinen Spenderin, der also lautete:

Ich bin ein kleiner Stumpen
Und habe gestrickt vier Lumpen
Für die gefangenen Soldaten,
[S. 123]
Die auf ihre Freiheit warten,
Daß sie sich können waschen rein,
Wenn sie siegreich wieder kehren heim.
Mit Gruß Luise Schnetzler, Basel.

Ich antwortete ihr umgehend.

Nachmittags um 4½ blies es „Kantine offen“, um 4¾ „Essen“, um 5½ „Kantinenschluß“, um 6 oder 7 „Aufs Zimmer“, um 6½ oder 7½ „Abendappell“, um 8½ „Lampen auslöschen“, kurz, es blies den ganzen Tag. Wenn die Lampen, die wir natürlich, wie das Petroleum dazu, selbst bezahlten, gelöscht waren, dann setzte die staatlich gespendete Zimmerbeleuchtung ein. Das war ein kleines Oellämpchen mit Schwimmer und leuchtete gewaltig durch die Räume. Man konnte es auch auslöschen, das machte keinen Unterschied. — Also unerbittlich ins Bett, um den Stumpfsinn des durchlebten Tages noch einmal in Gedanken durchzukosten. Ich bin gewohnt, abends zu arbeiten und spät zu Bett zu gehen; aber auch bei der geistigen Degeneration, der wir hier unrettbar verfallen müssen, ist es mir doch unmöglich, einigen Schlafkünstlern gleich, die es auf etwa fünfzehn Schlafstunden tags und bei Nacht bringen, mehr als sechs oder höchstens sieben Stunden zu schlafen. So denke ich nach, und das ist gefährlich. Manchmal schreibe ich auch noch einiges nieder; ich habe sogar gelernt, im Dunkeln zu schreiben. Von Stunde zu Stunde unterbricht mich ein seltsamer Ruf draußen. Ein Posten fängt an zu rufen: „Sentinelle, prenez garde a vous“. Der andere gibt es dem nächsten weiter, und so fort. Ob sie sich gegenseitig wecken, weiß ich nicht; es muß aber doch wohl nötig sein. Der ewig gleichmäßige Ruf schreckt mich nicht mehr auf und stört mich nicht. Ich genieße immerhin eine oder einige ruhige Stunden, die dem Heim, den Meinen und den... (Bricht ab.)

Ich freue mich der Einsamkeit, die ich mir dadurch künstlich herstelle, daß ich durch Decken und Mäntel mein Lager von dem[S. 124] der anderen abschließe. Dann bin ich so ganz für mich und denke mit Hamlet: Ich könnte in einer Nußschale eingesperrt sein und mich für den König der Könige halten, „wenn nur die bösen Träume nicht wären“. Und die bösen Träume, die mich quälten, waren den seinigen nicht so fern, die Qualen des Unfreien, gekränkter Ehrgeiz. — Wie hätte ich das erbärmliche Leben und mit welchem Stolze hätte ich es ertragen wollen, wenn die verdammte Frage „Wozu“ mir nicht immer wieder entgegengegrinst hätte. Was Selbstbetrachtung und Selbsterziehung sein sollte, artete in bösen Stunden in fressenden Neid aus auf die, die etwas einsetzen durften. In Casabianda hatte ich es gelernt, mich zu überwinden und falschen Stolz niederzuzwingen, in Uzès war ich davon ganz geheilt; aber das eine verwand ich nie, und die heiße Sehnsucht, der Traum meiner Freilassung würde doch wahr werden, wiegte mich zuletzt in ruhigen Schlaf. Ja, ich träumte oft und viel von den Meinen zu Hause, bis das Wecksignal mich herausriß in die dumpfe Resignation des neuen Tages. Man hat mich oft getröstet: Wenn Sie gar nicht daran denken, just dann wird es Ihnen gehen wie den anderen, die freikamen. Schlechter Trost! Ich denke Tag und Nacht, im Stehen und im Gehen, im Wachen und Schlafen nur das eine: die Freiheit. Im Schlafe träume ich, wie meine Frau mich in Konstanz empfängt, oder wie ich im Lazarett arbeite, wie ich heimatlichen Boden als jämmerlich Freigelassener betrete, da die Arbeit beendet ist. Wenn also meine Befreiung nur überraschend kommen kann, so werde ich wohl darauf verzichten müssen und weiter träumen. — — —

Nachspiele von Casabianda.

Wie ich schon sagte, wir waren in der ersten Zeit in Uzès weit besser aufgehoben als in Casabianda; das merkten wir drei Schwerverbrecher am meisten, als wir im Gefängnis zu Uzès die letzten neun Tage unserer Kerkerhaft abbüßten. Wir hatten es kaum schlechter als die anderen und brauchten uns um kein Signal[S. 125] zu kümmern. So entging uns denn auch die Entwicklung der ersten Eindrücke in Uzès. In uns hallte noch die entrüstete Erinnerung an Casabianda nach, und wir sollten die Folgen noch schwer spüren. Das erste und traurigste Nachspiel von Casabianda war Krankheit und Tod von Moritz. Ich habe Edgar Moritz aus Hamburg des öfteren erwähnt; wir waren zusammen von Barcelona auf der „Sister“ gefahren, hatten schon den ersten Abend, Moritz, Schmidt, Heller, Kratt, Bonitz und wir, die vier letzteren mit Familie, die ersten zwei ohne, einen recht vergnügten Abend in halbbanger Erwartung auf dem Schiffe verlebt. Nachher bildeten Moritz, Schmidt, Bonitz und ich engeren Zusammenhang. Ich schloß mich mehr und mehr an den vornehm denkenden, gemütvollen Mann an, der gleichaltrig mit mir auch gern von den Seinen sprach und mit tiefster Anhänglichkeit dem Hause verbunden war. Es war ein Mensch, dessen Seele zu feinen Klang hatte, und das Saitenspiel zerbrach in so rauher Wirklichkeit. Der Gefangenschaft und ihren täglichen Entbehrungen, ihren Aufregungen und Demütigungen war er nicht gewachsen, das fühlte er selber immer wieder. Aber die Gefahr suchte er, wo sie nicht drohte. In ihm lebte die Idee, er würde der Malaria zum Opfer fallen, die in Casabianda grassierte, und deren Wiederkehr im Sommer zu erwarten stand. Die französische Regierung schien geneigt, den Gesuchen des korsischen Deputierten nachzugeben und uns auch im Sommer zur Bearbeitung des Landes auf Korsika zu lassen, gleichviel, ob wir der Malaria erlagen. Die amerikanische Botschaft ist damals wohl eingeschritten und hat es erreicht, daß wir nach Uzès gebracht wurden. Wie oft sagte Moritz: „Ich wäre gerettet, wenn wir von hier fortkämen!“ Die drohende Reihe der Typhuserkrankungen, teilweise durch den Tod unterbrochen, hatte sich nicht geschlossen, und doch sprach der unregelmäßige Verlauf der letzten Fälle schon für ein Weichen der Epidemie. In der gefährlichsten Gegend unseres Schlafraumes in Casabianda lag Schmidt; die Erkrankungen an Typhus waren im unteren Schlafraume und gerade hier bei weitem die[S. 126] häufigsten. Schmidt aß meist mit Moritz zusammen, dann kamen Bonitz und ich. Ich büßte schweren Kerker, und vielleicht war das meine Rettung.

Während meiner Kerkerzeit erkrankte Schmidt, als wir schon glaubten, die Epidemie sei erloschen. Die Symptome traten sehr schwer auf; der Arzt (Marcantoni war lange entlassen) nahm ihn ins Hospital, diagnostizierte Typhus und behielt ihn dort bis zum Umzug nach Uzès. Ich erschrak, als ich ihn wiedersah, so war der korpulente Mensch heruntergekommen.

Beim Auszug aus Casabianda war Moritz ein anderer geworden. Ein Druck war von ihm genommen; er war jetzt sicher, daß er seine Familie wiedersehen würde, eine Hoffnung, die er in Casabianda ganz aufgegeben hatte. Er war wie ausgewechselt, auch im Ponton, wohin wir zunächst für vier Tage geschafft wurden, war er vergnügt. In Uzès sah ich ihn wiederum die ersten neun Tage nicht, da ich hinter Schloß und Riegel saß. Bald nachdem ich herausgekommen, fiel mir bei ihm ein gereiztes, empfindliches Wesen auf; er konnte leicht in Streit geraten, was früher nie vorkam, und vertrug keinen Widerspruch. Ende Mai notierte ich mir, daß bei Moritz der begründete Verdacht auf Typhus bestände. Bald setzten Kopfschmerz und Temperatur ein, und eines Mittags trat eine erschreckende Untertemperatur mit Kollapserscheinungen auf. Der Arzt nahm ihn ins Lazarett, nachdem ich ihm die Reihenfolge und den Charakter der Typhusfälle in Casabianda auseinandergesetzt hatte, besonders Schmidts Fall, glaubte ihn aber nach einigen Tagen entlassen zu dürfen, nachdem er nur niedrige Temperaturen fand mit Nachmittagssteigerungen. Mir war gerade das verdächtig, und der Irrtum war verhängnisvoll, wenn auch wohl das Schicksal nicht mehr abzuwenden war. Er kam auf das Zimmer 63, wo nur zwei andere Herren noch schliefen, und durfte sich eigenes Bett kaufen. So war er verhältnismäßig nicht schlecht untergebracht. Ich war fast jede Nacht bei ihm; er war durchaus kein leichter Patient... Bald traten dauernde Delirien ein, und[S. 127] bei seinem Auszug in das Garnisonlazarett — der Sterbende in einer gewöhnlichen Droschke — nahm ich Abschied von ihm; Lähmungen traten auf und alle Erscheinungen eitriger Meningitis. Etwa drei Wochen später starb Edgar Moritz.

Er hat ein glückliches Ende gehabt; seine Delirien führten ihn immer zu den Seinen. Er sprach nur von seiner Freilassung, diktierte an seine Frau, drängte immer wieder, daß ja das Automobil pünktlich zur Stelle wäre, daß ich seiner Frau drahte, sie solle ihn an der Grenze erwarten. Immer wieder mußte ich telegraphieren und bestellen. Der Arzt sagte ihm auf seine Frage, daß die französische Regierung seine Freilassung dekretiert habe, und so zog er glücklich von uns. Am 24. Juli 1915 fand der arme, zerstörte Geist, der einer zu schweren auf ihn gelegten Last nicht gewachsen war, die Ruhe.

Ein trauriges Nachspiel folgte: wir wollten unserem Freund das letzte Geleit geben, und das wurde nicht bewilligt. Der Kommandant meinte, er sei für unsere Sicherheit verantwortlich und fürchte die Bevölkerung von Uzès, welche uns feindlich gegenüberstände.

Die Bitte, wenigstens eine Abordnung zu gestatten, die aus dem mitgefangenen Pfarrer Hommel, mir und einigen anderen Freunden bestünde, wurde nach Anfrage in Marseille gleichfalls abgeschlagen, auch die letzte Bitte, man möchte den Sarg auf dem Wege zum Kirchhof in den Kasernenhof zur Einsegnung der Leiche und Feier tragen lassen. So mußten wir uns mit der letzten, kümmerlichen Erlaubnis abfinden, eine Feier auf dem Kasernenhofe zu veranstalten zur Zeit, wo der Tote auf dem Kirchhofe sang- und klanglos verscharrt wurde. Am 25., nachmittags vier Uhr, fand die Leichenfeier statt; es wurden Lieder gesungen, dann sprachen Pfarrer Hommel und zum Schluß ich. Ein Eichenkreuz hatten wir auf dem Grabe errichten lassen, das Mitgefangene geschnitzt haben, einen Kranz aus der allgemeinen Sammlung auf sein Grab gelegt. Heute, wo wiederum acht Monate nach seinem[S. 128] Tode vergangen sind, so schwerer Erlebnisse voll, freue mich fast, daß er die Ruhe gefunden hat.

Zwei Tage darauf begruben wir einen anderen Mitgefangenen, Pagel, der auch dem Typhus erlag. Der letzte schwere Ausläufer des Typhus betraf Bonitz, welcher wieder in Uzès neben Moritz gelegen hatte. Der Arzt nahm ihn gleich in das hiesige Lazarett; ich besuchte ihn täglich, und er überstand die Krankheit nach monatelangem, schwerem Lager und Rezidiv. Lange hat es gedauert, ehe er sich einigermaßen erholen konnte; aber vor dem Aergsten blieb seine Familie bewahrt.

Noch ein anderes Nachspiel von Casabianda hat schweren Eindruck auf mich gemacht, wenn es sich auch glücklicher löste, als wir fürchten mußten. Es betraf meinen jüngsten Freund und Kerkergenossen, Leutnant Balduin von Herff, der bisher so tapfer dem Schicksal, das schwer auf ihn einstürmte, widerstanden hatte. Wie bekannt, hatte er dasselbe Verbrechen begangen wie ich, er hatte die ganze Prügelaffäre seinem Vater, Professor der Gynäkologie in Basel, berichtet und den Bericht mit Urin unsichtbar geschrieben. Am Tage, als wir nach Uzès abmarschierten, soll er, wie wir später hörten, freigekommen sein. Aber schon zog sich neues Verderben über seinem Haupte zusammen. Der juristische Grundsatz, „ne bis in idem“ schien den Franzosen nicht geläufig. Am Tage, als zwei unserer mitgefangenen Zivilisten, Schielke und Rau, welche dasselbe Verbrechen wie von Herff begangen und es ebenso bereits abgebüßt hatten, in Uzès aufs neue eingekerkert wurden, um vor das Kriegsgericht nach Marseille zu kommen, konnten wir dasselbe wohl auch von Herff annehmen, der in Casabianda zurückgeblieben war. Es war wirklich so, wie ich aus späteren Nachrichten erfuhr. Ob au titre de repressalies oder aus welchem Grunde plötzlich ein so scharfes Vorgehen gerechtfertigt erscheinen sollte, weiß ich nicht; jedenfalls wurde den Dreien aus ihren Schriften ein Strick gedreht und dieser zu einem Prozeß wegen Spionage verdichtet.

[S. 129]

So standen die Sachen, als am 16. Juli im „Eclair“, der Zeitung, die wir täglich lasen, folgendes stand:

Eclair, 16. 7.

Wegen Spionage zum Tode verurteilt.

Marseille, den 15. Juli.

Früh am 15. Juli hat der vereinigte Kriegsrat im unteren Fort St. Nicolas unter dem Vorsitz des Oberstleutnants Kervall die Todesstrafe gegen von Herff, Rau, Otto, Schicht, angeklagt, mit Angehörigen einer feindlichen Macht einen Briefwechsel unterhalten zu haben, um ihnen Aufschlüsse über die französischen Armeen zukommen zu lassen, ausgesprochen. Die Verhandlung fand unter dem Ausschluß der Oeffentlichkeit statt.

Selten hat eine Nachricht so erschütternd auf mich gewirkt. Ich hatte zusammen mit ihm gefühlt und gelitten, und sollte nun dies das Ende dieses tapferen Menschen sein? Daß er auch an der französischen Wand ganz der alte bleiben würde, wußte ich freilich. Am nächsten Tage wurde uns beim Appell verkündigt: Laut „Eclair“ sind die Gefangenen Schielke und Rau des hiesigen Lagers zum Tode verurteilt. — Also auch Herff! Glücklicherweise hat sich die Nachricht nicht bestätigt, sie war einfach erlogen. Ich erfuhr das in einem weiteren Brief durch Herff selber.

Schielke und Rau kamen bald zurück. Der Prozeß der Drei war niedergeschlagen. Grimms Berufung wurde verworfen; er wurde aber, was wir kaum zu hoffen wagten, zu zehn Jahren Zwangsarbeit begnadigt. Unerhörte Strafen wurden gegen Ritter und Teichert ausgesprochen; beide wurden zu je zehn Jahren öffentlicher Arbeit verurteilt. Durch Herffs Vater erhielt ich Neujahr 1916 die Nachricht, daß er gut aufgehoben und gesund sei. Von Ritter und Teichert haben wir nichts mehr gehört!

Meine Anerkennung als Offizier.

Eines der Lieblingslieder meiner Frau, welches sie auch oft sang, weil ich es gern hörte, war ein Wiegenlied mit entzückenden[S. 130] Versprechungen für ein Kind, das schlafen soll, und der Schluß war immer wieder: „Bleibe nur fein geduldig.“ Wie oft, wenn uns die Ungeduld plagte, wenn dies oder das uns an den Rand der Verzweiflung brachte, trösteten wir uns: Es wird ja werden, „bleibe nur fein geduldig“. Nie hatte ich diesen Trost so nötig gehabt als in der Gefangenschaft. Weit hinter das Ziel, frei zu werden, trat das andere, als Offizier, wie es mir zukam, anerkannt zu werden. Ich habe schon geäußert, wie furchtbar mich die Gleichheit mitnahm. Wir kämpften weidlich und mutig gegen unseren Unstern und haben unsere Anerkennung als Offizier in neunzehn Monaten so etwa wöchentlich beantragt. Versprochen wurde sie uns noch häufiger. Zu uns gesellte sich in Casabianda Oberleutnant Spangenberg, und da bildeten wir zu dreien ein schönes Gespann derer, die nicht anerkannt werden sollen oder müssen. Und doch hatten wir unsere Papiere in tadelloser Ordnung; ein Zweifel an unserer Charge konnte gar nicht da sein und war nicht da. In Casabianda war das nicht so schlimm; da gab es keine Offiziere; aber in Uzès waren schon einige anerkannt und genossen Ausnahmestellungen. Da war also unsere Stellung weit peinlicher. Nach der Marcantoniaffäre, also im Dezember 1914, war es, wo der Kommandant mir zugesagt hatte, ich solle nach Corté in ein Offizierslager, um der schwierigen Stellung dort zu entgehen. Von da erwartete ich solche Beförderung etwa täglich, geradeso oft, wie meine Freilassung, bis schließlich der Humor obsiegte und ich mich, wie auch meine Leidensgenossen Spangenberg und Schmidt, mit dem Schicksal aussöhnte, nicht ohne die wöchentlich fälligen Anträge zu machen und mit stiller Erwartung, es könne doch einmal anders werden; „bleibe nur fein geduldig“. Und es kam wirklich anders, und seitdem haben wir drei Leidensgenossen uns den Kinderglauben des Wiegenliedes, den wir schon fast verloren hatten, wiedergewonnen. Zuerst wurde, ich glaube es war im Dezember 1915, also nach einer Gefangenschaft von 1½ Jahren, Schmidt ins Bureau gerufen und ihm mitgeteilt, seine Papiere,[S. 131] die unauffindbar erschienen, seien zwar noch nicht gefunden, aber seine Angaben seien durchaus glaubwürdig und es werde ihm Offiziersbehandlung zuteil werden. Er zog nun in das Chambre des Officiers. Aber der Ausgang dieser Sache war peinlich genug. Der Kommandant hatte wohl aus eigener Machtvollkommenheit gehandelt, und als ein neuer Kommandant kam, wanderte Schmidt in sein altes Mannschaftszimmer.

Einige Wochen darauf schlug für Spangenberg die hohe Stunde, und er trat aus unseren Reihen in die der Begnadeten. Schmidt und ich wiederholten unser Wochenrepertoire. Er hatte wenigstens vorübergehend das Glück genossen, ich noch nie, und da ich von Casabianda her den Brandstempel als „Aufwiegler, Aufrührer und durchaus unglaubwürdig“ trug, so schien es uns schon verständlich, und wir waren überzeugt, daß es sich nie ändern würde. Aber, wie gesagt: „Bleibe nur fein geduldig“. Da geschah etwas Seltsames: Am 29. Januar wurden mit mir vier Herren, Pasch, Doetsch, Holst und Stern, plötzlich heruntergerufen. Einige Korporale kamen hinzu, und wir wurden in ein abgelegenes Zimmer gebracht. Nun, an so kleine Extravaganzen hatten uns unsere Feinde gewöhnt; aber es kam doch mehr, als wir erwarteten: Wir mußten uns in der Kälte ganz nackend ausziehen, wurden durchsucht bis auf die Stiefelsohlen und jede Falte des Hemdes. Dann mußten wir unsere Kofferschlüssel ausliefern und blieben in Polizeigewahrsam, bis die Koffer untersucht waren. In unserem Zimmer hatten inzwischen Posten jede Annäherung an eines der uns gehörenden Gepäckstücke oder an unser Lager unmöglich gemacht. Das größte Gepäck stand im Gepäckraum; der wurde von nun an gleichfalls von Posten bewacht. Aufgepflanztes Bajonett wie immer. — Ja, was war denn los? Waren wir der Spionage verdächtig? Man kannte uns doch lange genug. Daß wir ganz gemeiner Denunziation zum Opfer gefallen waren, das leuchtete uns ein. Einer, Herr Holst, hatte am Tage zuvor Geld gewechselt, dem wurde sein Geld abgenommen; bei Herrn Doetsch und Pasch fand man nichts,[S. 132] desto mehr bei mir. Alle meine Schriftstücke, die ich als Tagebuch gesammelt hatte, Kopien der Briefe usw., hatte ich in ein Kopfkissen eingenäht. Ich wollte nicht, daß es irgendwer lese. In diesem Kopfkissen hatte ich unglücklicherweise noch die Abschrift der rein statistischen Angaben des Herrn Spangenberg, die mir des Datums wegen zur Aushilfe dienten. Als die Vormittagsuntersuchung beendet war und wir erstaunt fragten, was das alles bedeute, lächelte mich Herr H. an: „Nun, bei einem der Herren hat man alle verborgenen Schriften im Kopfkissen gefunden!“ Das konnte nur das meine sein, und man hat mir erzählt, daß dieser Herr bei Durchsuchung meines Lagers erst das eine, dann das andere Kopfkissen aufgetrennt habe. Eine halbe Flasche guten Rotwein, den ich im Koffer aufbewahrte, nahm man gleichfalls mit. Nun hing von neuem ein Damoklesschwert über mir. Daß sie sich meines Buches nicht freuen würden, wußte ich auch, und ich wußte geradeso aus früherer Erfahrung, wie leicht man einem Mißliebigen einen Strick dreht. Nachmittags kam die Untersuchung der großen Gepäckstücke, das war der Reisekorb meiner Frau; darin war nichts; ich hatte alles im Kissen, als dem sichersten Versteck, aufbewahrt. Bei Doetsch war auch nichts, nur bei Pasch fand man einen Teil des Tagebuchs aus Casabianda. Der wurde abgenommen. Nun verlebten wir einige erwartende Tage und Wochen. — Natürlich waren wir im Innersten empört über das Vorgehen. Durften wir denn nicht Tagebücher schreiben? Wer wehrt das Gefangenen? Und daß solche Bücher nicht strotzen werden von Lobeserhebungen über die Vögte, das wird man begreiflich finden. Aber in meinem Buche war alles authentisch mit Kopien der abgeschickten Briefe belegt. Mit den großen Bogen meiner Aufzeichnungen sah ich Herrn H. häufig ins Bureau und auf sein Zimmer gehen, und da wir im Nebenzimmer lagen, so hörten wir abends, wie er seinen Kollegen Teile aus demselben übersetzte. Daß er keine Freude an meiner Gesinnung hatte, glaube ich wohl; aber strafbar konnte nichts sein, und ich war eigentlich im Grunde neugierig, welcher[S. 133] Paragraph für mich herangezogen werden sollte. Daß wir darauf rechnen konnten, heute oder morgen, so oder so, gefesselt nach Marseille zum Kriegsgericht geführt zu werden, war uns klar, und wir bereiteten uns auf solchen Transport vor. Da fiel am Geburtstag meiner Frau, dem 3. Februar, das erste Opfer, das wir am wenigsten erwartet hatten. Am Abend traten die Korporale nach dem Appell in unser Zimmer, und Pasch wurde abgeführt. Dessen Tagebuch war doch offensichtlich im Koffer gewesen, meines verborgen; warum der zuerst? Freilich, daß ich mein Tagebuch verborgen hatte, war klar; ich wollte, daß niemand Einsicht nehmen sollte; es war berechnet, alle Erlebnisse, die ich später Frau und Kindern bringen wollte, festzuhalten. Der Schein konnte immerhin gegen mich sprechen, aber gegen Pasch? — Die Lösung ließ nicht lange auf sich warten. Pasch wurde, wie beim Appell am nächsten Tage bekanntgegeben wurde, wegen Beleidigung des Offizierkorps, der Korporale und der Bevölkerung von Casabianda zu 15 Tagen Einzelhaft verurteilt. Der Kommandant würde die Sache weitermelden und den Antrag stellen, daß der Täter vor ein Kriegsgericht nach Marseille zitiert würde. Das war immerhin seltsam; aber wir hatten zu schweigen. Pasch blieb in strengem Verschluß. Inzwischen war Spangenberg gerufen und verhört, weil auch in seinen Aufzeichnungen manches Tadelnswerte sich fand. Daß er durch mich hereingeritten war, das tat mir herzlich leid; aber schuld war ich nicht; wir hatten so oft unsere Beobachtungen ausgetauscht, und ich wollte gern seine Bemerkungen, die so rein statistisch und sachlich waren, verwerten und sie ihm nachher zurückerstatten. Zwei Tage darauf kam unversehens der langerwartete Abgesandte der amerikanischen Botschaft in Paris, Herr Haseltine, den wir seit fast einem Jahre nicht mehr gesehen hatten, ins Lager. Dem wurden nun unsere Klagen vorgebracht, und auch ich kam zu Wort und bat, wie Schmidt, wir beide, wie immer, wenn sich Gelegenheit bot, um Anerkennung als Offizier. H. bat uns, ihm die Sachen schriftlich zu geben, und so gingen diese Schriftstücke mit der Ge[S. 134]nehmigung des Kommandanten nach Paris, von neuem. Auch im Kerker war Herr H., und Pasch konnte ihm genauen Bericht über das Vorgefallene geben. Wenige Tage, nachdem er gegangen, kam ein höherer Offizier ins Lager, welcher Spangenberg und mich rief und sagte, er habe unsere Bestrafung beantragt, nicht weil in unseren Tagebüchern Beleidigungen enthalten seien (es stehe uns frei, in Privatnotizen zu schreiben, was wir wollten), sondern weil daraus hervorginge, daß wir die Zensur übergangen hätten. Für Sp. habe er die Entziehung der Vorrechte als Offizier, für mich Gefängnis beantragt. Wir protestierten beide lebhaft, weil wir uns bewußt waren, daß ein solcher Vorwurf uns nicht gemacht werden konnte; aber wir wurden, wenn auch nicht unhöflich, entlassen, und das Damoklesschwert blieb hängen. Vorläufig geschah nichts. Ein Gerücht, Sp. habe zwei Monate Festung und ich vielleicht auch, war unbegründet. — Am 18. Februar wurde ich ins Bureau gerufen und mir die Mitteilung gemacht, daß ich als Offizier anerkannt sei, daß aber infolge des gegen mich schwebenden Falles diese Anerkennung durch den Herrn Kommandanten vorläufig suspendiert sei. Die Verfügung des Kriegsministeriums wurde mir durch Leutnant Millet vorgelesen, von einer Suspendierung stand nichts darin. Ich hatte also endlich, nach etwa 19 Monaten, das Wunderbare erreicht und war nunmehr zwar anerkannter, aber suspendierter Offizier. Wie die Anerkennung des Kriegsministers suspendiert werden konnte, leuchtete mir nicht ein, und nach vierzehn Tagen des Wartens beschwerte ich mich, weil ich noch die alte Behandlung voll und ganz genoß. Zwei Tage darauf war ich anerkannt und genoß Herrenrechte; wir glaubten natürlich, daß damit die Angelegenheit erledigt sei; aber der Mensch denkt...! Ich zog zunächst in das Offizierzimmer; vor allem wurde ich feierlich in meinem alten Zimmer „degradiert“, d. h. die roten Biesen und Tressen, die Gefangenennummer wurden mir abgetrennt und die Mütze ins Lager zurückgegeben. Schmuck- und zeichenlos zog ich in das neue Gemach. Der Kommandant bewilligte schon am[S. 135] nächsten Tage, daß wir beiden Aeltesten, Hauptmann Engelhard und ich, ein eigenes Zimmer bezögen, und nun folgte eine immerhin bessere Zeit, die gut zu nennen gewesen wäre, wenn der Hauptmann nicht so gräßlich geschnarcht hätte. Aber auch das war zu erdulden. Die köstliche relative Ruhe wirkte versöhnend nach so viel Leiden. Ich konnte mich wenigstens isolieren, stand nicht mehr unter dem Befehle der Korporale und fühlte wohl den Unterschied zwischen früher und jetzt. Und, eigentümlich war es, 14 Tage darauf wurde mein intimer Leidensgenosse Schmidt nun endlich auch durch kriegsministerielle Verfügung als Offizier definitiv anerkannt und zog in das Zimmer der anderen Herren. Nun endlich schien es, als sei das Schwert von unsern Häuptern endgültig genommen. Aber... Spangenberg und ich wurden am 28. März morgens ins Bureau gerufen, und es ist nicht oft, daß derlei Gutes bedeutet. So wappneten wir uns mit dreifachem Harnisch und zogen herunter. Da verkündete uns der Kommandant, daß unsere schwebende Affäre nun zum Austrag gekommen sei: der Kriegsminister habe verfügt, daß Spangenberg als Offizier 30 Tage strengen Arrest erhalte, ich als Gefangener 25 Tage Gefängnis. Da inzwischen meine Anerkennung als Offizier erfolgt sei, so habe das Kriegsministerium meine Strafe ebenfalls in 30 Tage Offiziersarrest umgewandelt. Der Dolmetscher gab die in französischer Sprache gegebene Erklärung, die wir so verstanden, wieder, daß wir jeder zu 30 Tagen Festung verurteilt seien, die in Uzès abzubüßen sei. Als Grund unserer Bestrafung verlas der Kommandant, daß wir in unserem Tagebuch die Namen der Elsässer aufgeführt hätten, welche in französische Dienste getreten seien, um sie unserer Regierung bekanntzumachen. Wieder war jeder Protest unnötig. Wir baten beide, man möchte uns beweisen, daß das aus dem Tagebuch hervorginge, und fügten hinzu, daß es sich um Soldaten handelte, die im Feindeslager in deutscher Uniform fahnenflüchtig geworden seien. Wie gesagt, solche Antworten sind unnütz, und der Kommandant tat eben, was ihm befohlen war. So hatte ich zum zweiten[S. 136] Male 30 Tage, aber wie anders als damals! Der Offizier teilte uns jedem ein Zimmer zu, wir durften tun, was wir wollten; unsere Ordonnanzen durften uns bedienen; nur wir waren abgeschlossen von allen anderen. Unser Essen bekamen wir aus der Kantine. Es wurde mir ein großes Zimmer, freilich kahl und lieblos, angewiesen, ich durfte mein Bett, das mir als Offizier zustand, herübernehmen, Speisen und Getränke selber zubereiten oder aus der Kantine besorgen lassen, meine Ordonnanz kam täglich zweimal, das Zimmer zu reinigen und Aufträge entgegenzunehmen; ich durfte zwei Stunden am Tage auf dem Korridor allein und beaufsichtigt spazierengehen, nur das eine war verboten: jeglicher Verkehr mit den übrigen Gefangenen. Nun, wer meine Ausführungen gelesen, mag sich denken, daß mir solche Strafe damals nicht zu schwer schien.

Ich war wirklich von Herzen froh, und nun folgten Stunden köstlichster Sammlung. Zuerst freilich empfand ich, wie sehr das Tosen der bisherigen Tage verwirrt und eine künstliche Energie erzeugt hatte, die, wie ich von anderen gehört, auch nach der Freilassung schwere Reaktion forderte. Ich mußte mich förmlich an die Ruhe gewöhnen und tat das gern, wenn ich auch unter einem mehr körperlichen als seelischen Unbehagen litt, das bisher einer künstlichen täglichen Erregung unterlegen war. Trotzdem hätte ich mit keinem im Lager tauschen mögen, so eigenartig erlösend erschien mir solche Sammlung. Ich las, schrieb, arbeitete und war von Herzen froh, daß erst das Gerassel der Schlüssel Besuch ankündigte und nicht jeder der fünfhundert Mitgefangenen mit einer nichtigen Frage oder Mitteilung in das Zimmer kam. — Aber als ich fünfundzwanzig Tage hinter mir hatte, da war diese Freude verschwunden, und ich stellte fast beschämt vor mir selber fest, daß sich das Bedürfnis doch schon recht bemerkbar machte, mich einmal mit einem der Wenigen, die mir im Lager nähergetreten waren, auszusprechen, das, was ich täglich dachte — und Zeit zum Nachdenken hatte ich reichlich —, im Diskurs zu verwerten und anderer Mei[S. 137]nung zu hören. Es kam noch hinzu, und das spürte ich deutlich, daß das Abgeschlossensein von Luft und Sonne — sie schien nur morgens eine Stunde lang in mein Zimmer und auch das durchaus nicht immer, da an den meisten Apriltagen der Himmel bedeckt war — und der Mangel an Bewegung den Körper träge zur Arbeit macht. Das Nachdenken über sich selber, das Rekapitulieren des Gedachten fordert Absatz, und ich erfuhr, daß der Mensch doch mehr Herdentier ist, als er sich selbst gestehen mag. Da nun noch die Aussichten auf baldige Freiheit durch den bevorstehenden Austausch des gesamten Sanitätspersonals wiederum akut geworden waren, so kam das Denken in Gefahr, zu einem Schwelgen zu werden, und das stählt die Energie durchaus nicht. Je mehr sich meine Abgeschlossenheit ihrem Ende näherte, desto ungeduldiger erwartete ich es, wieder hinauszukommen, mich anderen mitzuteilen, selbst nichtige Gespräche zu führen und Gerüchte, seien sie wahr oder nicht, zu vernehmen. Ich versuchte es, mehr Bücher zu lesen, da ich zu Sprachübungen, die ich sonst trieb, nicht die strikte Lernsammlung aufbrachte. Beim türkischen Alphabet ertappte ich mich, wie ich lange schon über die Grammatik hinausgestarrt hatte und meine Gedanken auf Reisen waren, in die Schweiz, nach Deutschland, ins versprochene Kriegslazarett. Aber Bücher — ich nehme einige sehr wenige aus — nützen nichts; sie erzeugten eine größere Nichtachtung meiner selbst und konnten mich auch nicht fesseln. — Man mag mich nicht falsch verstehen. Wenige Tage fehlten, heute, wo ich dieses niederschreibe, zum Ende meiner Festungstid. Es ist selbstverständlich, daß ich diesen übrigen Tagen mit voller Ruhe entgegensehe, und daß sie keinen Einfluß auf mich ausüben können; ich habe andere Zeiten durchgemacht. Ich schreibe meine Empfindungen nur nieder, weil sie für mich eine Erfahrung bedeuten, die mich einigermaßen überrascht hat, und weil sie mich Gefühle verstehen lernten, die den Einsamen überkommen mögen, dessen Einzelhaft über Jahre hinaus, oder — es ist mir dies zur gräßlichsten Vorstellung geworden — für die Zeit des Lebens[S. 138] dauern. Gefühle, wie ich sie heute hege, mögen ein Anfangsstadium bedeuten, was aber für den, welchem lange oder unbeschränkte Einzelhaft bevorsteht, folgen muß, ist mir deutlich vor Augen getreten: Verstumpfung, wenn nicht vorher der Geist stumpf war... Wie lange es dauern mag, ehe ein so sicheres Ziel erreicht wird, das wird vom Individuum abhängen. Ich meine, daß ein geistig Denkender und ein Charakter schneller dazu gelangt, je kräftiger er sich wehren mag, als der Träge. — In Reuters „Festungstid“ las ich die köstlichen Worte: „Minschenverkihr und geiht hei einen ok nichs nich an, frischt dat Hart up; oewer hei is as de Musik, sei möten beid nich too drist warden. — Ne schöne, lise Melodi leggt sich weich an’t Hart, oewer wenn allens um einen rum fidelt und tut’t und trommelt, werden einem de Uhren weih dauhm un ein sehnt sik nah de Einsamkeit!“ —

So ging es mit unserer Anerkennung als Offizier; aber weil wir fein geduldig waren, so kam es eben eines schönen Tages doch so weit. Köstlich war eine kleine Episode, die wenige Wochen vor Schmidts Anerkennung spielte. Ein Kolonel besichtigte das Lager, und sowohl Spangenberg wie ich, die wir damals auf einem Zimmer lagen, traten auf Frage nach Gesuchen usw. vor und sprachen unser Befremden aus, daß wir immer noch nicht als Offiziere anerkannt seien. Er versprach, die Sache in Paris zu untersuchen, und kam auch auf Schmidts Zimmer, der natürlich, wenn es auch nicht gerade Sonnabend, der übliche Tag des Gesuches um Offiziersanerkennung an die amerikanische Botschaft war, sofort vortrat und dem Kolonel erklärte, daß er seit achtzehn Monaten gefangen sei, daß alle seine Papiere in Ordnung seien, und trotzdem habe ihm das Kriegsministerium noch immer nicht Offiziersbehandlung zugesprochen. Der Kolonel sah ihn erstaunt an, dann erwiderte er nach einigem Ueberlegen: „Ja, was meinen Sie denn? Das Kriegsministerium ist mit Arbeit überhäuft und kann sich nicht intensiv um jeden einzelnen Gefangenen kümmern. Wenn Ihnen daran gelegen war, so wäre der Weg doch leicht zu erreichen gewesen, wenn Sie einmal[S. 139] durch die amerikanische Botschaft ein Gesuch in diesem Sinne gemacht hätten.“ Noch stand der Gewaltige, Antwort erwartend; aber dieser ungeheuerliche Vorwurf ließ Schmidt doch bis zur Zunge erstarren. Er war noch starr, als er uns die Begebenheit erzählte. Wir haben selten so herzlich gelacht; wir wanden uns vor Lachen und stellten unter Lachen Schmidt das Zeugnis aus, daß er diesen schweren Vorwurf keinesfalls auf sich sitzen lassen dürfte. Das tat er denn auch nicht, sondern machte am nächsten Sonnabend das übliche Gesuch an die amerikanische Botschaft, diesmal aber im harten Reiterknechtston, ohne Anrede und ohne „vorzügliche Hochachtung“. Spangenberg griff zur selben Formel, und siehe da, es gelang! Wenn auch die Botschaft ihrerseits Anrede und jede Formel vergaß, die Sonne brach doch durch die Wolken, und heute sind wir „anerkannt“ dank der langen Dauer des Krieges, ohne die dies fabelhafte Ereignis natürlich nicht hätte zustande kommen können.

Vielleicht dauert nun die nächste Stufe nicht gar zu lange. Ausharren und immer wieder ausharren! Vielleicht darf ich noch einmal die Hand rühren im Dienste der gewaltigen Zeiten! Es klingt mir in den Ohren, als wenn Frau Armgard mir das Schlaflied sänge: „Bleibe nur fein geduldig“.

Hier endigen die authentischen Aufzeichnungen; was nachzutragen bleibt, ist wenig. Seit der letzten Haftstrafe, während welcher der Gefangene 30 Tage von der frischen Luft abgeschlossen blieb, fingen die Kräfte Dr. Br.s an, nachzulassen. Herr Oberleutnant Spangenberg notierte in seinem Taschenbuche: „Der Sanitätsrat fällt merklich zusammen.“ Trotzdem dachte niemand an einen tragischen Ausgang. Ein Brief aus Uzès, der zum erstenmal beunruhigende Nachrichten über Dr. Br.s Gesundheit enthalten haben soll, erreichte seine Angehörigen nicht. So kam der 8. Juli heran, ein Tag härtester Prüfung; von den Leidensgefährten Dr. Br.s wurden an diesem Tage fast alle, die ihm freundschaftlich nahestanden, von Uzès abtransportiert; einige kamen in andere Lager,[S. 140] die meisten nach der Schweiz. Für sich selbst hatte Dr. Br. den Gedanken, sich als erholungsbedürftig zu melden, stets abgelehnt.

Der Abschied von den Freunden bewegte ihn so tief, daß zum erstenmal in einem Briefe aus diesen Tagen eine bittere Stimmung und Verstimmung zu Worte kommt. Bald jedoch flammt die belebende Hoffnung, seine treue Begleiterin bis zur letzten Stunde, wieder auf: auch ihn trifft das Los, von Uzès zu scheiden; mit zwei Gefährten zusammen wird er für das Offizierslager von Le-Puy en Velay bestimmt, das, seiner Ueberzeugung nach, nur eine Uebergangsstation auf dem Wege nach Deutschland sein kann. In seinen Briefen fehlt jede Nachricht von der Ankündigung und Ausführung des Transports nach Le-Puy. Dagegen schreibt sein Leidensgefährte, Leutnant B.: „Nie habe ich Herrn Stabsarzt so vergnügt gesehen, als bei unserem Frühstück auf dem Bahnhof von Alais, wo wir in einem kleinen Extrastübchen speisen durften.“ Eine Zentnerlast fällt von seiner Seele, als er dem verhaßten Uzès den Rücken kehrt: Nun geht es vorwärts, zu gleichgesinnten Kameraden, zur Heimat, in die Freiheit! Noch einmal siegt der unbeugsame Geist dieses größten Optimisten, wie ihn einer seiner nächsten Jugendfreunde nannte, über alle körperlichen Leiden, über die ersten Anzeichen der Schwäche und der vernichtenden Krankheit.

Der erste Brief aus Roche Arnaud lautet:

„19. 7. 16.

Wir sind am Sonnabend, den 15., hier angelangt, und war der erste Anfang nicht gerade vielversprechend, so haben wir doch schon am nächsten Tage eingesehen, daß wir in ein gutes, geordnetes Lager gekommen sind, weit entfernt von allem, was wir bisher gehabt. Ich will hinzufügen, daß ich mich schon in den wenigen Tagen körperlich wohlfühle, und Euch weiter dahin beruhigen: 1. Wir sind hier auf einer Höhe von 700 m mit schönem Rundblick über Stadt, Wald und Berge; wir haben einen recht geräumigen Garten mit Sitzplätzen zur Verfügung, der von den bisherigen Gefangenen[S. 141] sehr hübsch bearbeitet ist und von Blumen strotzt. Die Luft ist — im Gegensatz zu Uzès — ganz rein, wenn auch kalt. 2. Die Verpflegung ist gut. — Wir sind etwa 100 Offiziere hier; keiner hat wohl Aehnliches durchgemacht, als ich. Der älteste ist Oberst B., der zweite im Range bin ich, wie offiziell bekanntgemacht wurde; — 3. (und das ist psychisch so besonders wertvoll): Ich lebe in sehr anständiger Gesellschaft. Was es heißt, wieder einmal in Kreisen zu leben, die einem zukommen, das könnt Ihr kaum begreifen. Der Ton, die gegenseitige Gefälligkeit, ist so tadellos, wie ich es nie, auch nicht annähernd, gekostet habe. Ich sitze am Tische neben dem Oberst, meist in netter Unterhaltung, und esse auch dabei, sogar mit Appetit. In Uzès hätte ich es auf die Dauer nicht durchgehalten. Als ich hier vom Bahnhofe zum Lager sollte, konnte ich einfach nicht mehr und Treppensteigen auch nicht. 4. Ich wohne in einem netten Zimmer mit einem Hauptmann; unser Fenster hat, wie alle, schöne Aussicht. — — Was wird aus allen Träumen, die als letzten Termin schließlich den 15. Juli festgesetzt haben? Darin bin ich ganz resigniert geworden und nur froh, daß ich hier für meine Gesundheit etwas tun kann.“ —

„Brief vom 30. 7. 16.

Wir haben heute einen herrlichen Morgen, und ich sitze hier im Garten und schreibe. Ich mache Fortschritte, wenn auch noch nicht, wie ich es möchte. Eben habe ich meinen Morgenspaziergang im Garten gemacht, der mir noch verdammt sauer wird. Ich komme mir vor wie ein schwerer Rekonvaleszent, konstatiere aber, daß die illusionistische Fähigkeit im Denken und Pläneschmieden und damit die Lust zum Leben wieder erwacht ist. Sitze ich im Freien, so fühle ich mich ganz wohl, nur zur weiteren Bewegung und Treppensteigen reicht es noch nicht.“

[S. 142]

„1. Aug. In den Zeitungen munkelt man soviel vom Aerzteaustausch; ich weiß gar nicht, was ich von alledem denken soll, kümmere mich aber auch zurzeit nicht darum. Es geht langsam und stetig besser; die Gesichtsfarbe wird auch schon besser; ich glaube, mein Gewicht, das sehr stark abgenommen hatte, fängt auch an, sich zu mehren. — Gestern und heute köstliche Tage. Seit etwa acht bis zehn Tagen habe ich die Zuversicht: Es wird wieder! Also gute Zuversicht; ich tue alles, gesund zu werden, und werde darin von meinem Zimmerkollegen energisch unterstützt.“

„5. Aug. Mir geht es immer langsam besser, leider noch langsam; aber nun wird alles wieder gut werden. Wenn wir uns erst wiedersehen.“

„11. Aug. Ich muß erst gesund sein, ehe ich mich auf ein Wiedersehen freuen kann.“

Von da an wird die Schrift unsicher und mühsam; ausgelassene Buchstaben und Worte zeigen an, daß der Geist anfängt, seine Spannkraft zu verlieren. „Schreib, wenn die neun Pakete da sind“, sind die letzten, mit sichtlicher Anstrengung auf einer Postkarte vom 30. 8. geschriebenen Worte. Die neun Pakete mit der Zivilkleidung, darin verborgen das Tagebuch, hatten die Heimat erreicht, die der Dulder selbst nie mehr betreten sollte. — — —

Jeder Lagerwechsel brachte eine vielwöchige Unterbrechung der Korrespondenz mit sich; auch in schweren Krankheitsfällen ging die französische Verwaltung von der Vorschrift, ankommende und abgehende Post der Gefangenen erst längere Zeit in Gewahrsam zu behalten, nicht ab. Die Klagen des Leidenden, daß er seit langer Zeit von seinen Angehörigen keine Briefe erhalten — die nach seinem Tode in großer Zahl nach Deutschland zurückgeschickt wurden — sind herzzerreißend.

Ebenso erlitt die Gefangenenpost durch die Zensur oft wochenlange Verzögerung, so daß bis Anfang September nur die ersten hoffnungsvollen Berichte aus Le-Puy bei Dr. Br.s Familie ein[S. 143]getroffen waren. Ein von der deutschen Regierung seit Monaten vorgeschlagenes Abkommen über den Austausch des Sanitätspersonals zwischen Deutschland und Frankreich war endlich zum Abschluß gelangt: die französische Regierung hatte sich verpflichtet, unmittelbar nach dessen Ausführung auch Dr. Br. freizugeben.

Mutter und Geschwister, Frau und Kinder bereiteten sich, den sehnlichst Erwarteten für alle Entbehrungen der harten Gefangenschaft tausendfach zu entschädigen, teilnehmende Freunde beglückwünschten die Familie: das Ziel jahrelangen, heißen Bemühens war erreicht! — Die Abreise der gefangenen aktiven Militärärzte nach Lyon und von da nach Konstanz, erfolgte wirklich, am Tage nach Dr. Br.s Beerdigung.

Kameradschaftliche Treue bereitete dem Heimgegangenen eine würdige Totenfeier; Beethovens und Mozarts weihevolle Klänge grüßten ihn zum letzten Abschied, und „Wenn ich einmal soll scheiden“ klang es von deutschen Soldatenstimmen, als der Trauerzug sich vom Hofe des Lagers Roche Arnaud nach dem hochgelegenen Friedhofe in Bewegung setzte. Der rangälteste Offizier, Oberst B., widmete dem Kameraden herzliche Abschiedsworte: „Es war ihm nicht vergönnt, wie Begeisterung und Tatendrang ihn trieben, seinen Brüdern gleich seine Kräfte persönlich einzusetzen; und doch starb auch er als Held, wenn wir seines Denkens und Fühlens, wenn wir seines Sterbens uns entsinnen.“

Der stolze Sinn eines deutschen Mannes von der Begabung und Empfindung Br.s ist auch eine wuchtige Waffe gegen den Feind gewesen.


Druck von Möller & Borel G. m. b. H., Berlin SW. 63.


 

 

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1918 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Ungewöhnliche und inkonsistente Schreibweisen wurden beibehalten; insbesondere wurden fremdsprachliche Begriffe und Zitate unverändert übernommen. Zeichensetzung und typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Einzelne unleserliche Buchstaben wurden sinngemäß ergänzt.

Das Inhaltsverzeichnis wurde vom Bearbeiter eingefügt, ebenso die darin enthaltene Überschrift des Kapitels „Château d’If“. Im Text ist dagegen keine Überschrift vorhanden.

 


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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

Dr. Gregory B. Newby
Chief Executive and Director
[email protected]

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit www.gutenberg.org/donate.

While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

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