The Project Gutenberg EBook of Chad Gadja, by Various This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Chad Gadja Das Peßachbuch Author: Various Editor: Hugo Herrmann Release Date: December 13, 2015 [EBook #50683] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK CHAD GADJA *** Produced by Norbert H. Langkau, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Herausgegeben von
HUGO HERRMANN
Berlin 1914
Jüdischer Verlag
Seite | |
Die Anordnung des Peßachfestes (aus der Bibel) | 7 |
Aus der Peßach-Hagadah | 13 |
Theodor Zlocisti, Die Peßach-Hagadah | 39 |
S. Ben-Zion, Mit dem Frühling | 57 |
Pharaos Traum | 72 |
Von Moses | 74 |
I. L. Lewinski, Mit reichem Gute | 79 |
Vom Auszuge | 89 |
Die Ordnung beim Schlachten | 90 |
Peßach in Jerusalem zur Römerzeit | 92 |
Mendele Mocher Sforim, Der Tausch | 97 |
Das Peßach der Samaritaner | 109 |
S. J. Agnon, Der Seder | 111 |
Von der Wallfahrt | 124 |
Z. Kasdai, Peßach im Kaukasus | 126 |
J. L. Perez, Der Zauberkünstler | 133 |
Ch. N. Bialik, Melameds Hoffnung | 141 |
Peßach im Jemen | 145 |
Martin Buber, Der Seder des Unwissenden | 152 |
Leopold Kompert, Das Mazzothbacken | 159 |
Heinrich Heine, Der Rabbi von Bacherach | 169 |
Pauline Wengeroff, Peßach in Rußland vor siebzig Jahren | 192 |
Julius Heilbrunn, Die Chagigah in Rechoboth | 209 |
Zweites Buch Moses, Kapitel 12.
Der Ewige sprach zu Moses und Aaron im Lande Mizrajim: „Dieser Monat sei euch der erste der Monate; an der Spitze der Monate des Jahres stehe er euch. Sprecht zu der ganzen Gemeinde Israel also: Am zehnten dieses Monates nehme jeder ein Lamm, für jedes Haus je ein Lamm. Sind aber in einem Hause zu wenige für ein Lamm, so nehme er es zusammen mit dem nächsten Nachbarn an seinem Hause, bis ihrer so viele sind, als ein Lamm verzehren können. Ein fehlerfreies, männliches, jähriges Lamm sei es; von den Schafen oder den Ziegen nehmet es. Bewahrt es bis auf den vierzehnten Tag dieses Monats; und schlachtet es, jedes Häuflein in der ganzen Gemeinde Israel, gegen Abend. Dann nehmet von dem Blute und bestreichet damit beide Türpfosten und die Oberschwelle der Häuser, worin ihr es esset. Esset das Fleisch in derselben Nacht, am Feuer gebraten; ungesäuerte Brote mit bitteren Kräutern esset dazu. Esset es weder roh noch in Wasser gesotten, sondern am Feuer gebraten, das Haupt mit den Schenkeln und Eingeweiden. Laßt nichts davon übrig bis zum[S. 8] Morgen; was davon bis zum Morgen übrig bleibt, das verbrennt. So aber sollt ihr es essen: die Gürtel um die Lenden, die Schuhe an den Füßen, Stäbe in den Händen; so verzehrt es in Eile: es ist ein Peßach für den Ewigen. Ich will das Land Mizrajim in dieser Nacht durchziehen und alle Erstgeburt im Lande Mizrajim schlagen, von Menschen wie von Vieh; alle Götter Mizrajims will ich strafen, ich, der Ewige! Das Blut sei euch als Zeichen an den Häusern, worin ihr seid; ich werde das Blut sehen und an euch vorübergehen, daß euch nicht Leid und Verderben treffe, wenn ich das Land Mizrajim schlage. Dieser Tag sei euch ein Gedenktag, feiert an ihm dem Ewigen ein Fest für all eure Nachkommen; als ewigen Brauch feiert es. Sieben Tage esset ungesäuertes Brot; am ersten Tage sollt ihr den Sauerteig aus euren Häusern entfernen, denn wer Gesäuertes ißt vom ersten Tage bis zum siebenten, soll weggetilgt werden aus Israel. Am ersten Tage haltet eine Festversammlung, am siebenten Tage haltet eine Festversammlung; an ihnen soll alle Arbeit ruhen; nur was jeder zur Nahrung braucht, dürft ihr zubereiten. Haltet das Gesetz des ungesäuerten Brotes; denn an diesem selben Tage habe ich eure Scharen aus dem Lande Mizrajim geführt. Haltet diesen Tag für all eure Nachkommen als ewigen Brauch. Im ersten Monat, am vierzehnten Tage, des Abends, esset ungesäuertes Brot, bis an[S. 9] den einundzwanzigsten Tag des Monats, des Abends. Sieben Tage soll kein Sauerteig in euren Häusern zu finden sein, denn wer Gesäuertes ißt, soll weggetilgt werden aus der Gemeinde Israel, er sei nun ein Fremdling oder heimisch im Lande. Esset kein gesäuertes Brot; wo immer ihr wohnet, eßt ungesäuertes Brot.“
Und Moses rief alle Alten in Israel und sprach zu ihnen: „Auf! Nehmet ein Schaf für eure Familien und schlachtet das Peßach! Nehmt ein Büschel Ysop, taucht es ins Blut in dem Becken und bestreichet die Oberschwelle und die beiden Türpfosten mit dem Blute im Becken; und keiner gehe aus seines Hauses Tür bis zum Morgen! Der Ewige wird einherziehen, die von Mizrajim zu treffen; wenn er das Blut sehen wird an der Oberschwelle und den beiden Türpfosten, wird er an der Tür vorübergehen und den Verderber nicht in eure Häuser kommen lassen, jemand zu treffen. Haltet dies als Brauch, für dich und deine Kinder ewiglich. Und wenn ihr in das Land kommt, das der Ewige euch geben wird, wie er zugesagt hat, so haltet diesen Dienst. Und wenn eure Kinder euch fragen: ‚Was habt ihr da für einen Dienst?‘ — so sprechet: ‚Es ist das Peßachopfer des Ewigen, der in Mizrajim an den Häusern der Kinder Israel vorüberging, als er Mizrajim traf, unsere[S. 10] Häuser aber verschonte.‘“ Da neigte sich das Volk und bückte sich. Und die Kinder Israel gingen hin und taten, wie der Ewige Moses und Aaron geboten hatte; also taten sie.
Um Mitternacht aber schlug der Ewige alle Erstgeborenen in Mizrajim, vom Erstgeborenen des Pharao an, der auf seinem Throne saß, bis zum Erstgeborenen des Gefangenen, der im Kerker saß, und auch alle Erstgeburt des Viehs. Da stand der Pharao auf in dieser Nacht samt seinen Höflingen und allen von Mizrajim, und es ward ein lautes Geschrei in Mizrajim, denn es war kein Haus, worin nicht ein Toter lag. Da rief er Moses und Aaron des Nachts und sprach: „Auf, zieht hinweg von meinem Volke, ihr mitsamt den Kindern Israel, geht und dienet dem Herrn, wie ihr gesagt habt. Auch eure Schafe und Rinder nehmet mit, wie ihr gesagt habt; geht und bittet auch für mich.“ Und die von Mizrajim drängten das Volk, eilends aus dem Lande zu ziehen, denn sie sprachen: „Wir alle sind des Todes!“ Da trug das Volk den Brotteig, ehe er gesäuert war, in ihre Kleider eingebunden, auf den Schultern. Und die Kinder Israel taten, wie Moses gesagt hatte, und verlangten von denen von Mizrajim silberne und goldene Geräte und Kleider. Und der Ewige gab dem Volke Ansehen bei denen von Mizrajim,[S. 11] so daß sie ihnen willfahrten; so plünderten sie die von Mizrajim.
So zogen die Kinder Israel von Raamses nach Sukoth, sechshunderttausend Mann zu Fuß ohne die Kinder. Und auch viel Gesindel zog mit ihnen, Schafe und Rinder, ein großer Haufe Vieh. Und sie buken den Teig, den sie aus Mizrajim gebracht hatten, zu ungesäuerten Kuchen; es war ja nicht gesäuert, denn sie wurden aus Mizrajim getrieben und durften nicht verweilen noch sich Reisezehrung bereiten. Die Zeit aber, die die Kinder Israel in Mizrajim wohnten, war vierhundertdreißig Jahre; nach Ablauf der vierhundertdreißig Jahre, an einem Tage, zog das ganze Heer des Ewigen aus dem Lande Mizrajim. Diese Nacht wird dem Ewigen gehalten, da er sie aus dem Lande Mizrajim führte; diese Nacht soll dem Ewigen gehalten werden von allen Kindern Israel und für all ihre Nachkommen.
Also an einem Tage führte der Ewige die Kinder Israel aus dem Lande Mizrajim, nach ihren Scharen.
SEHT DAS BROT der Armut, das unsere Väter im Lande Mizrajim aßen!
Wer hungrig ist, komme und esse. Wer bedürftig ist, komme und feire mit uns Peßach.
Dieses Jahr hier, nächstes Jahr in Erez-Israel; dieses Jahr Knechte, nächstes Jahr freie Männer.
WODURCH IST AUSGEZEICHNET diese Nacht vor allen Nächten?
KNECHTE WAREN WIR unter Pharao in Mizrajim; doch der Ewige, unser Gott, führte uns mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arme von dort heraus. Wenn der Heilige — gepriesen[S. 15] sei er! — unsere Väter nicht aus Mizrajim geführt hätte — wahrlich, wir und unsere Kinder und unserer Kinder Kinder wären Knechte geblieben in Mizrajim. Und wären wir auch alle Weise, wären wir klug, wären wir alt und erfahren, wären wir Kenner der Thorah: doch wären wir verpflichtet, von dem Auszug aus Mizrajim zu erzählen; und wer am meisten vom Auszug aus Mizrajim zu erzählen weiß, der sei gepriesen.
ES WIRD BERICHTET von Rabbi Elieser, Rabbi Jehoschua, Rabbi Elasar, dem Sohne Asarjahs, Rabbi Akiba und Rabbi Tarfon, daß sie in B’ne-B’rak speisten. Und sie erzählten die ganze Nacht hindurch vom Auszuge aus Mizrajim, bis ihre Schüler kamen und ihnen zuriefen: „Ihr Herren Lehrer! Die Zeit des Morgengebetes ist da!“
VON VIERERLEI SÖHNEN spricht die Thorah: einer ist klug, einer böse, einer einfältig und einer weiß nicht zu fragen.
WAS SAGT DER KLUGE? „Welche Zeugnisse, welche Vorschriften und welche Befugnisse hat der Ewige, unser Gott, euch gewährt?“ Und du vermelde ihm die Gebräuche des Peßach und daß man nach dem Genusse des Peßachopfers keinen Nachtisch herumreichen darf.
WAS SAGT DER BÖSE? „Was habt ihr da für einen Dienst?“ „Ihr“ und nicht „wir“. Damit aber, daß er sich aus der Gemeinschaft ausschloß, leugnete er die Hauptsache. Darum stumpfe ihm die Zähne ab und sprich zu ihm: „Eben dies tat der Ewige mir, als ich aus Mizrajim zog.“ „Mir“ und nicht „dir“; denn wenn er dort gewesen wäre, er wäre nicht erlöst worden.
WAS SAGT DER EINFÄLTIGE? „Was ist das?“ Ihm sage nur: „Mit starker Hand führte uns Gott aus Mizrajim, aus dem Hause der Knechte.“
DER ABER NICHT ZU FRAGEN WEISS, den mache aufmerksam; denn es heißt: „Erzähle deinem Sohne an diesem Tage: ‚Dies tat mir der Ewige, als ich aus Mizrajim zog.‘“
VON ANFANG AN waren unsere Väter Götzendiener; seither aber weihte Gott uns seinem Dienste; denn es heißt: „Es redete Jehoschua zu allem Volke: So sprach der Ewige, der Gott Israels: jenseits des Stromes saßen eure Väter von der Urzeit an: Terach, der Vater Abrahams und Vater Nachors, und sie dienten anderen Göttern. Da[S. 18] nahm ich euren Vater Abraham von jenseits des Stromes und führte ihn durch das ganze Land K’naan; ich vermehrte sein Geschlecht und gab ihm den Jizchak. Ich gab dem Jizchak Jakob und Esau, und dem Esau gab ich das Gebirge Seïr, es zu beherrschen; Jakob aber und seine Söhne zogen hinab nach Mizrajim.“
GEPRIESEN SEI, der Israel seine Verheißungen treulich hält, gepriesen sei er; denn der Heilige, gepriesen sei er, hat den Ausgang berechnet, um[S. 19] auszuführen, was er Abraham unserem Vater im Bunde versprochen. Denn es heißt: „Er redete zu Abraham: Wisse wohl, daß dein Geschlecht als fremdes in einem Lande leben wird, das nicht ihm gehört, und daß sie elende Knechte sein werden durch vierhundert Jahre. Aber auch das Volk, dem sie dienen, werde ich richten — und dann werden sie ausziehen mit reichem Gute.“
DARUM SO STAND ER bei unsern Vätern und uns; denn nicht nur ein einziger erhob sich gegen uns, um uns zugrunde zu richten, sondern in jedem neuen Geschlechte erheben sie sich gegen uns, uns zu verderben, und der Heilige — gepriesen sei er! — reißt uns aus ihren Händen.
GEH HIN und lerne, was Laban, der Aramite, unserem Vater Jakob zu tun gedachte. Der Pharao wütete nur gegen das männliche Geschlecht, Laban aber gedachte die Gesamtheit zu vernichten. Denn es heißt: „Der Aramite stellte dem Vater nach, da zog er hinab nach Mizrajim und machte sich dort mit einer kleinen Familie ansässig, dort aber wurde er zu einem großen, mächtigen und zahlreichen Volke.“
Die von Mizrajim aber verleumdeten uns, bedrückten uns und legten uns schwere Arbeit auf.
Die von Mizrajim verleumdeten uns, wie es heißt: „Wohlan, sprach der Pharao, wir wollen uns klugerweise vor ihnen wahren, sonst könnten sie allzu zahlreich werden. Und wenn sich ein Krieg erhöbe, würden sie sich auch noch zu unsern Feinden schlagen, uns bekämpfen und aus dem Lande ziehen.“
Sie bedrückten uns, wie es heißt: „Da setzten sie Frohnvögte über das Volk, um es mit ihren Frohndiensten zu drücken; und es baute dem Pharao Vorratsstädte, Pithom und Raamses.“
Sie legten uns schwere Arbeit auf, wie es heißt: „Sie trieben die Kinder Israel zur Arbeit mit Härte.“
Und wir schrien zu dem Ewigen, dem Gott unserer Väter, und der Ewige hörte unsere Stimme, er sah unser Elend, unsere Mühsal und unsere Bedrängnis.
Wir schrien zu dem Ewigen, dem Gott unserer Väter, wie es heißt: „Lange Zeit danach starb der König von Mizrajim. Die Kinder Israel seufzten unter der Arbeit[S. 21] und schrien; und ihr Ruf nach Befreiung von der Arbeit drang zu Gott empor.“
Der Ewige hörte unsere Stimme, wie es heißt: „Und Gott hörte ihr Wehklagen und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, mit Jizchak und mit Jakob.“
Er sah unser Elend, unsere Mühsal und unsere Bedrängnis, wie es heißt: „Und ich sah die Qual, womit die von Mizrajim sie quälen.“
Und der Ewige führte uns aus Mizrajim, mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit furchtbarer Macht und mit Zeichen und Wundern.
Der Ewige führte uns aus Mizrajim, nicht durch einen Engel, nicht durch einen Seraph, nicht durch einen Abgesandten, sondern der Heilige, gepriesen sei er, in seiner eigenen Herrlichkeit, wie es heißt: „Ich will das Land Mizrajim in dieser Nacht durchziehen und alle Erstgeburt im Lande Mizrajim schlagen, von Menschen wie von Vieh; alle Götter Mizrajims will ich strafen, ich, der Ewige.“
Mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit furchtbarer Macht und mit Zeichen und Wundern. Dies sind die zehn Plagen, die der Heilige, gepriesen sei er, über die von Mizrajim gebracht hat: Verwandlung des Wassers in Blut, Frösche, Stechmücken, wilde Tiere, Viehpest, Beulen,[S. 22] Hagelschlag, Heuschrecken, Finsternis und Tötung der Erstgeburt.
WELCHE FÜLLE VON WOHLTATEN erwies uns Gott!
Hätte er uns nur aus Mizrajim geführt, ohne die Ägypter zu richten — es hätte uns genügt.
Hätte er die Ägypter gerichtet, nicht aber auch ihre Götzen — es hätte uns genügt.
Hätte er ihre Götzen gerichtet, nicht aber ihre Erstgeborenen erschlagen — es hätte uns genügt.
Hätte er ihre Erstgeborenen erschlagen, nicht aber uns ihren Reichtum gegeben — es hätte uns genügt.
Hätte er uns ihren Reichtum gegeben, nicht aber uns das Meer geteilt — es hätte uns genügt.
Hätte er uns das Meer geteilt, nicht aber uns trockenen Fußes hindurchgeführt — es hätte uns genügt.
Hätte er uns trockenen Fußes hindurchgeführt, nicht aber unsere Feinde darin ersäuft — es hätte uns genügt.
Hätte er unsere Feinde darin ersäuft, nicht aber durch vierzig Jahre für unsern Unterhalt in der Wüste gesorgt — es hätte uns genügt.
Hätte er durch vierzig Jahre für unsern Unterhalt in der Wüste gesorgt, nicht aber uns mit Manna gespeist — es hätte uns genügt.
Hätte er uns mit Manna gespeist, nicht aber uns den Sabbath gegeben — es hätte uns genügt.
Hätte er uns den Sabbath gegeben, nicht aber uns an den Berg Sinai geführt — es hätte uns genügt.
Hätte er uns an den Berg Sinai geführt, nicht aber uns die Thorah gegeben — es hätte uns genügt.
Hätte er uns die Thorah gegeben, nicht aber uns nach Erez-Israel gelangen lassen — es hätte uns genügt.
Hätte er uns nach Erez-Israel gelangen lassen, nicht aber uns das Heiligtum erbaut — es hätte uns genügt.
NICHT EINE WOHLTAT, sondern unzählig viele verpflichten uns Gott. Denn er führte uns aus Mizrajim, er richtete die Ägypter, ebenso ihre Götzen, er erschlug ihre Erstgeborenen, er gab uns ihren Reichtum, er teilte uns das Meer, er führte uns trockenen Fußes hindurch, er ersäufte unsere Feinde darin, er sorgte durch vierzig Jahre für unsern Unterhalt in der Wüste, er speiste uns mit Manna, er gab uns den Sabbath, er führte uns an den Berg Sinai, er gab uns die Thorah, er ließ uns nach Erez-Israel gelangen, er erbaute uns das Heiligtum, um all unsere Sünden zu versöhnen.
RABBI GAMLIEL sagte: „Wer folgende drei Dinge am Peßach nicht nennt, hat seine Pflicht nicht erfüllt. Diese sind: Das Peßachopfer, die Mazzah, das bittere Kraut.“
DAS PESSACHOPFER, das unsere Väter zu der Zeit aßen, als das Heiligtum noch stand, was bedeutet es? Es bedeutet, daß der Heilige — gepriesen sei er! — die Häuser unserer Väter in Mizrajim überging. Denn es heißt: „Sprechet: ‚Es ist das Peßachopfer des Ewigen, der in Mizrajim an den Häusern der Kinder Israel vorüberging, als er Mizrajim traf, unsere Häuser aber verschonte.‘ Da neigte sich das Volk und bückte sich.“
DIESES UNGESÄUERTE BROT, das wir essen, was bedeutet es? Es bedeutet, daß der Brotteig unserer Väter nicht Zeit hatte zu gären, bis ihnen[S. 25] der König, der aller Könige König ist, der Heilige — gepriesen sei er! — erschien und sie erlöste. Denn es heißt: „Sie buken den Teig, den sie aus Mizrajim gebracht hatten, zu ungesäuerten Kuchen; es war ja nicht gesäuert; denn sie wurden aus Mizrajim getrieben und durften nicht verweilen noch sich Reisezehrung bereiten.“
DIESES BITTERE KRAUT, das wir Essen, was bedeutet es? Es bedeutet, daß die Ägypter das Leben unserer Väter in Mizrajim verbitterten. Denn es heißt: „Sie verbitterten ihnen das Leben durch schwere Arbeit mit Lehm und Ziegeln und durch allerlei Feldarbeit und sonstige Dienste, wozu sie sie mit Strenge zwangen.“
ZU JEGLICHER ZEIT ist ein jeder verpflichtet, sich so anzusehen, als ob er selbst aus Mizrajim gezogen wäre. Denn es heißt: „Erzähle deinem Sohne an diesem Tage: Dies tat der Ewige mir, als ich aus Mizrajim zog.“ Nicht allein unsere Väter erlöste der Heilige — gepriesen sei er! —, sondern auch uns erlöste er mit ihnen; denn es heißt: „Uns führte er von dort heraus, um uns das Land zu geben, das er unsern Vätern verheißen.“
DARUM sind wir verpflichtet, zu danken, zu loben, zu preisen, zu rühmen, zu verherrlichen, zu feiern, zu segnen, zu erheben, zu verehren, anzubeten ihn, der an unsern Vätern und an uns all diese Wunder getan hat. Er führte uns aus der Knechtschaft zur Freiheit, aus dem Kummer zur Freude, aus der Trauer zum Feste, aus dem Düster in helles Licht, aus Gebundenheit zur Erlösung. Laßt uns denn vor ihm singen: Hallelujah!
DA ISRAEL AUS MIZRAJIM ZOG, das Haus Jakob aus dem fremden Volke, da ward Juda sein Heiligtum, Israel sein Reich. Das Meer sah und floh, der Jordan wandte sich rückwärts, die Berge hüpften wie Widder, die Hügel wie junge Lämmer. Was ist dir, o Meer, daß du fliehst, du Jordan, daß du dich rückwärts wendest? Ihr Berge, daß ihr hüpft wie Widder, ihr Hügel, wie junge Lämmer? Vor dem Herrn erbebe, du Erde, vor dem Gotte Jakobs, der den Fels wandelt in Wassersee, den Kieselstein in einen Wasserquell!
SO TAT HILLEL zur Zeit, da das Heiligtum stand: „Er umwickelte Mazzah mit bitterem Kraute und aß es auf einmal, um zu erfüllen, wie es heißt: ‚Mit Mazzoth und bitteren Kräutern soll man es essen.‘“
ERGIESSE DEINEN ZORN über die Völker, die dich nicht kennen, und über die Reiche, die deinen Namen nicht anbeten; denn sie verdarben Jakob und zerstörten seine Flur.
Ergieße deinen Grimm über sie und die Flamme deiner Wut treffe sie.
Verfolge sie mit Wut und tilge sie unter dem Himmel des Ewigen hinweg.
NICHT UNS, o Ewiger, nicht uns, sondern deinem Namen gib die Ehre, um deiner Milde, um deiner Treue willen! Warum sollen die Heiden sprechen: „Wo ist nun ihr Gott?“ Ist doch unser Gott im Himmel; was immer er will, vollendet er. Ihre Götzen aber sind Silber und Gold, Werk von Menschenhand. Sie haben einen Mund und reden nicht, sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hören nicht, sie haben eine Nase und riechen nicht. Hände und tasten nicht, Füße und gehen nicht, und kein Laut dringt aus ihrer Kehle. Ihnen gleich sind, die sie schufen,[S. 30] alle, die auf sie bauen. Israel baut auf den Ewigen, er ist sein Schirm und Schild. Das Haus Aarons baue auf den Ewigen! Er ist sein Schirm und Schild. Die Anbeter des Ewigen bauen auf den Ewigen; er ist ihr Schirm und Schild.
LOBET DEN EWIGEN, alle Völker! Preiset ihn, alle Stämme! Denn gewaltig ist über uns seine Gnade und die Wahrheit des Ewigen in Ewigkeit. Hallelujah!
DANKET DEM EWIGEN, denn er ist gütig, ewig währt seine Gnade.
Es spreche Israel: Ewig währt seine Gnade.
Es spreche das Haus Aarons: Ewig währt seine Gnade.
Es sprechen die Anbeter des Ewigen: Ewig währt seine Gnade.
SO WAR ES UM MITTERNACHT.
SEIN IST DER RUHM, sein ist die Ehre.
NÄCHSTES JAHR IN JERUSALEM!
ALLMÄCHTIGER GOTT, bau Deinen Tempel schiere, also schier: in unsern Tagen, schiere, ja schiere. Barmherziger Gott, gerechter Gott, Demütiger Gott, hoher Gott, würdiger Gott, Sanfter Gott, huldvoller Gott, trauter Gott, Juden-Gott, kräftiger Gott, lebendiger Gott, Mächtiger Gott, namhaftiger Gott, ewiger Gott, Furchtbarer Gott, zarter Gott, königlicher Gott, Reicher Gott, starker Gott, Du bist Gott und niemand mehr. O bau Deinen Tempel schiere, also schier: in unsern Tagen, schiere, ja schiere!
EINS — WER WEISS ES? Eins — ich weiß es: Eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Zwei — wer weiß es? Zwei — ich weiß es: Zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Drei — wer weiß es? Drei — ich weiß es: Drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Vier — wer weiß es? Vier — ich weiß es: Vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Fünf — wer weiß es? Fünf — ich weiß es: Fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln[S. 33] des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Sechs — wer weiß es? Sechs — ich weiß es: Sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Sieben — wer weiß es? Sieben — ich weiß es: Sieben sind Tage der Woche, sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Acht — wer weiß es? Acht — ich weiß es: Acht sind Tage des Bundes, sieben sind Tage der Woche, sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Neun — wer weiß es? Neun — ich weiß es: Neun sind Monden der Reife, acht sind Tage des Bundes, sieben sind Tage der Woche, sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Zehn — wer weiß es? Zehn — ich weiß es: Zehn sind der Gebote, neun sind Monden der[S. 34] Reife, acht sind Tage des Bundes, sieben sind Tage der Woche, sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Elf — wer weiß es? Elf — ich weiß es: Elf sind der Gestirne, zehn sind der Gebote, neun sind Monden der Reife, acht sind Tage des Bundes, sieben sind Tage der Woche, sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
Zwölf — wer weiß es? Zwölf — ich weiß es: Zwölf sind der Stämme, elf sind der Gestirne, zehn sind der Gebote, neun sind Monden der Reife, acht sind Tage des Bundes, sieben sind Tage der Woche, sechs sind Bände der Mischnah, fünf sind Bücher der Thorah, vier sind der Mütter, drei sind der Väter, zwei sind der Tafeln des Bundes, eins ist unser Gott, der im Himmel und auf Erden ist.
EIN BÖCKLEIN, ein Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein! ein Böcklein!
Es kam ein Kätzlein und aß das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Hündlein und biß das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein! ein Böcklein!
Es kam ein Stöcklein und schlug das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein! ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Feuerlein und verbrannte das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Wässerlein und löschte das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Öchslein und soff das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein,[S. 36] das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Schlächterlein und schlachtete das Öchslein, das gesoffen das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam ein Todesenglein und schlachtete das Schlächterlein, das geschlachtet das Öchslein, das gesoffen das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Es kam der liebe Gott und schlachtete das Todesenglein, das geschlachtet das Schlächterlein, das geschlachtet das Öchslein, das gesoffen das Wässerlein, das gelöscht das Feuerlein, das verbrannt das Stöcklein, das geschlagen das Hündlein, das gebissen das Kätzlein, das gefressen das Böcklein, das gekauft Väterlein, er gab dafür zwei Suslein; ein Böcklein, ein Böcklein!
Von Theodor Zlocisti.
Israel das auserwählte Volk! Hat der Stolz dieses Bekenntnis geboren, der Stolz, der die Verpflichtung in sich trägt? Oder ist diese Überzeugung nur ein ethisches Erziehungsmittel unserer alten Meister, die unermüdlich Barrikaden türmten um die Zelte Jakobs, daß sie festblieben im brausenden Sturm der Zeiten und nicht ihr schützendes Dach verlören, wenn einmal die Sonne in mitleidigen Gnaden der Gemeinde lächelte? Formel und Stimmung der Segenssprüche und Gebete steigerten Israels Überzeugung von seiner Erwähltheit auch dann noch zu schöpferischem Leben, als das Verlangen nach der Erlösung von der Fessel jüdischer Verpflichtung jene — sonst ungeübte — Bescheidenheit aufkommen lassen mochte, nichts anderes und nicht mehr denn die Völker der Erde zu sein. Sein zu — wollen.
Die Geschichte sprach. Vor ihrer eindringlichen Rede mußte das Murren derer verstummen, die Israels Vergangenheit wie Sträflingsketten empfanden auf dem Wege des „Fortschritts“, der so viele Flüchtlinge sah.
Freiheitssehnsucht und das Ahnen einer höheren Berufung, das die Seelen in der Sklavennot festmachte im Entschluß und stark zur Tat, fügten die Stämme zum Volke. Aus mythischem Gewölk stieg es in den Lichtkreis der Geschichte. Völker, die am Morgen blühten, versanken in die Nacht. Der Trutz der Gewaltigen zerbrach. Die Kleinen verdorrten in der Schwüle. Die Herren der Welt und ihre Werke starben. Aber Israel, der Knecht Gottes, mußte leben. Und lebt.
Nur das Tote und was das Gesetz des Sterbens in sich trägt, hat eine Geschichte. Das jüdische Volk hat nur eine Vergangenheit. Es lebt, da es kämpfen muß: um sich, um Gott, um eine Zukunft. Es lebt harrend des Messias, der sich durch den Propheten Eliah ankündigt. Es lebt für das goldene Zeitalter der Menschen, das nur die Resignation sterbender Völker, die Verzweiflung der Geschichtsnationen in die Vorzeit, die war und nicht wiederkehrt, hat verlegen können.
Israel lebt; und dieses Lebendigsein läßt seine Vergangenheit nicht zur Geschichte erstarren. Was in den Zeiten war, muß den Geschlechtern wirklich sein. Und Gegenwart! War einstmals Erlebtes nicht unwertiges Beiwerk, sondern das Erlebnis, dann ist es heut wie einst: ewige Gegenwart, die kein Verblühen kennt.
Dieses ist des Peßachfestes letzter Sinn. Dieses ist das gestaltende Prinzip der Hagadah, das[S. 41] formende Element von Peßachbrauch und Sitte. „In jedem Geschlecht und Geschlecht ist der einzelne verpflichtet, sich selbst so zu sehen, als sei er persönlich aus Mizrajim gezogen. Denn es heißt: Und du sollst verkünden deinem Sohne an jenem Tage also: Wegen dessen, was der Ewige mir getan hat bei meinem Auszug aus Mizrajim... Nicht unsere Väter allein hat der Heilige, gelobt sei er, erlöst, sondern auch uns hat er mit ihnen erlöst, denn es heißt: Und uns hat Er von dort herausgeführt, um uns zu führen und um uns zu geben das Land, das er unsern Vätern zugeschworen.“
Peßach als Geschichtsfest, als ein Fest der Erinnerung zu feiern, mußte als Entehrung gelten. Wer den Auszug aus Mizrajim nicht als ein persönliches Erlebnis in sich trug, war ein Abtrünniger, frevelte an dem Lebensgesetz des jüdischen Volkes. Nur der Böse — der Feind Israels! — konnte fragen: „Was soll dieser Dienst — euch?! Euch! Nicht ihm! Er schließt sich aus der Gemeinschaft aus. So verleugnet er das Wesentliche. Mache ihm darum die Zähne stumpf und sage ihm: Wegen dessen, was der Ewige mir getan hat bei meinem Auszug aus Mizrajim... Mir, nicht ihm. Er wäre von dort nicht befreit worden.“
Sich selbst als den Erlösten zu fühlen und fröhlich die Verpflichtung aus dieser Gnade zu tragen: das war die Überwindung der Zeiten.[S. 42] Ägypten war nicht einst. Es lebt fort als das Land unserer Knechtschaft. Und in neuer Gestalt nur steht es auf, Israel zu vernichten. Die Feinde wechseln. Die Feindschaft bleibt. Das Werkzeug der Frohnherren erneuert sich, und der Haß findet keckere Künste der Versklavung —: aber im Peßach trägst du die Gewißheit der Erlösung. Die Befreiung der Nation nimmt dem einzelnen die Kette ab. Und der einzelne, der in sich das Werk der Befreiung fühlt, erlöst das Volk. So verknüpft Peßach dich mit dem Volke und bindet die Geschlechter durch die Ewigkeit gemeinsamen Schicksals! Neue Zeiten steigen empor mit neuen Geschehnissen. Es sind die alten, nur in neuem Mummenschanz. Neue Geschlechter kommen. Es sind die alten, wird das Erlebnis des Vaters nur das Erlebnis des Sohnes. Aber die Kette der Geschlechter ist zerrissen, wenn der Sohn stumm steht vor der tiefsten Erregung des Vaters. Und also strebt das Erziehungsproblem unserer Meister empor zur Versöhnung und Verschmelzung der Gewordenen und der Werdenden: „Erzähle ihnen nicht. Sondern lehre die Kinder — fragen.“ Mah nischtanah halajlah haseh mikol halejloth ... Das Fest der Vergangenheit wird das Fest derer, die in sich die Zukunft tragen.
Als der Tempel noch auf der Höhe Zions stand, gab es wohl noch kein besonderes Rituale. Aus allen Städten und Gauen kamen[S. 43] die Familien in die heilige Stadt, um dort mit Opfern und fröhlichem Gelage ihre eigene Befreiung zu feiern. An drei Millionen Menschen — Freiheitkünder — sah noch kurz vor dem „jüdischen Kriege“ Jeruschalajim. Peßach machte sie zu einem Volke, wie die ägyptische Befreiung sie zu einem Volke gemacht hatte. Wie es die Kraft immer aus sich gebar, in Raum und Zeit Getrenntes zu vereinen, aus den Umständen Geschiedenes zusammenzufügen, so löste es in alter Zeit die Spannung der sozialen Schichten und der religiösen Bünde. Der Arme war der Gast des Reichen. Ha lachma anja — dies ist das Brot des Elends. Es gehörte den Dürftigen. Die Genossenschaften, die in der levitischen Reinheit lebten — die Chawerim —, wollten sich jetzt nicht vom Am haarez unterscheiden, dessen Sein und dessen Werk im Erdhaften wurzelten: Zu Peßach hieß es: Kol Israel chawerim. Das Fest weihte auch die Ungeweihten. Erst in der Folge weitete sich der Sinn dieser Formel zur Notwendigkeit eines Lebensprinzips aus. Pharao lag noch nicht am Boden. Römische Kohorten durchzogen das Land. Der Tempel fiel. Das Imperium romanum schwoll um eine neue Kolonie an. Viele mußten ins Elend ziehen. Aber des Peßach konnten sie nicht vergessen. Die im Lande blieben auf heimischer Scholle — den Zöllnern frohnend wie einst den Zwingherren in Ägypten — zogen wie[S. 44] einst hinauf in die heilige Stadt, opferten das Lamm und sangen, wie uns des Nazareners Jünger melden, den Lobgesang. Frühe schon war also das Hallelgebet in die Festordnung eingefügt worden. An die Stelle der fließenden Bräuche eines fröhlichen Freiheitsfestes hatte die Sorge um die Erhaltung des Volkstums die Ordnung gesetzt. Die Meister sahen den Gang der äußeren Geschicke schmerzergriffen. Aber weit in die Zeiten hinausblickend griffen sie besonnen das Werk an: der Weiterführung und Umformung mosaischen Gesetzes und jüdischer Sitte. Den neuen Lebensbedingungen des Exils sich weise anpassend, wollten sie die Verbannung überwinden, überdauern. Sprache und Brauch und die Übungen des heiligen Dienstes durften, sollten sich wandeln, damit die Seele des Volkstums in unbefleckter, unberührter Reinheit blieb. Peßach mußte gerettet werden. Es war die Rettung selbst! Die enge Beziehung der Nation zum Erlebnis ihrer Volkswerde — leidenschaftlicher annoch, als das äußere Band der Staatseinheit zerriß — mußte den Erstarrungsprozeß des Peßachrituale hinauszögern. Noch kämpfte das „Haus Schammais“ mit der Schule Hillels, ob nur der erste Psalm des Hallelgebetes — „Lobet, ihr Knechte des Herrn, lobet den Namen des Herrn“ — vor dem Festmahl gesungen werden sollte oder auch der zweite, der sich dichter dem Sinn des Festes anschmiegte: „Als[S. 45] Israel aus Mizrajim zog, das Haus Jakob aus dem fremden Volke, da ward Juda sein Heiligtum, Israel sein Reich.“ Noch war die Formel des Weihespruches nicht festgeschmiedet. Rabbi Tarfon, der die Schergen der römischen Herrschaft fürchtete, fügte ihm nur den Satz bei:... „und uns diese Nacht erleben ließest, daß wir Mazzah und Maror darin essen dürfen“. Aber der jüngere Rabbi Akiba, der im barkochbäischen Aufstande das heilige Banner der Propheten trug, der gotterfüllte Märtyrer des letzten nationalen Verzweiflungskampfes, Akiba preßte die lodernde Flamme patriotischer Sehnsucht in die Worte: „Laß uns, Gott, noch andere Feste, die zu uns kommen, in Frieden erleben, jubelnd ob des Wiederaufbaues deiner Stadt, freudig in deinem Dienste, daß wir wieder essen dürfen von den Fest- und Peßachopfern, deren Blut — dir wohlgefällig — die Wand deines Altars berührt, und daß wir dir danken mit neuem Liede für unsere Befreiung und für die Befreiung unserer Seele. Gesegnet seist du Gott, der Israel erlöst.“ Mächtig brauste der Jubel dieses Festes persönlichen Erlebnisses auf. Und der Weihespruch, den die Weisen schufen, steigerte noch die Größe des Erlebnisses: ... „der uns erlöst hat und unsere Väter erlöst hat aus Ägypten.“ Die Väter traten zurück vor der Befreiung des lebenden Geschlechtes. Im Leid der Gegenwart sollte es die Wonne der Freiheit fühlen.
Allein da die letzte nationale Hoffnung verschüttet war, sollte sich der Ernst gleich einem schweren Tau in die sonnenfrohen Flügel der Festesfreude legen. Einst schwelgte der Jude nach dem Peßachmahle bei feurigem Weine. Lieder erklangen im Kreise; und die kichernde, schmeichlerische Flöte, das Lieblingsinstrument der Juden, zauberte im Kusse mit trunkenen Lippen hüpfende Weisen hervor. Da leuchteten die Augen und die Stirnen glühten. Die Glieder regten sich zum Tanze. Und freudetrunken zog die Jugend in die Häuser der Freunde. Sie scherzten und lärmten, bis die kühle Nacht sie hinausrief auf die Berge; sprangen sie nicht wie Widder, und die Hügel nicht wie junge Schafe? Das Echo der Felsen und Wände sang fröhlichen Refrain; und die Sterne lächelten...
Als zum Beginn des dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung Rabbi Jehuda Hanassi die mündlich überlieferten Gesetze und Bräuche in der Mischnah festlegte, war das hellenisch anmutende Epikomon untersagt. Selbst nach dem dritten und vierten Becher des Rituale durfte kein Wein mehr genossen werden. „Warum all die Zeugnisse, Vorschriften und Gesetze?“ fragt das kluge Kind. Und beziehungsvoll soll der Vater antworten: „Man lasse die Peßachfeier nicht mit einem Epikomon schließen.“ Die Freiheit soll im Geiste erlebt werden. Nicht im Rausch. Die Freude[S. 47] in Bande zu schlagen, ward sittliche Pflicht. Israel war wieder im Galuth. Des Spiritualismus dichtes Gewebe hüllte schützend das einst erdhafte Volk.
Das Leben auf eigener Scholle war verwehrt. Das Leben im eigenen Geiste konnten nicht Feuer und Schwert und nicht die Macht der Cäsaren vernichten. Wenn nur die Kette der Geschlechter sich nicht löste! Im Kinde das nationale Erlebnis der Befreiung aus Mizrajims Sklaverei zu einem persönlichen aufsteigen zu lassen, wurde, je weiter die Zeiten schritten, um so deutlichere Aufgabe der Peßachübung. Schon Rabban Gamliel hatte gefordert, daß am Peßachabend von den drei Dingen, dem Peßachlamm, dem ungesäuerten Brote und den bitteren Kräutern gesprochen werden sollte. Das Kind mußte sehen, fragen und hören. In den Sinnbildern der bitteren Leiden Israels sollte ihm der Auszug aus Ägypten gegenwärtig werden. Und also fortbauend fügten unsere Meister Stein um Stein zu unserer Hagadah. Nicht eine geschichtliche Überlieferung galt es weiterzugeben; nicht antiquarische Kenntnisse zu erhalten. Die Frage nach dem Sinn des Peßachopfers schwand, als der Opferkult in die Form national durchsetzter Gebete eingeschmolzen war. Die Frage, warum sitzen wir heut angelehnt, wurde eingefügt. Und die anderen Fragen wurden nach den aus verändertem Milieu[S. 48] gegebenen Vorstellungen des Kindes neu gewendet. Die Antwort des Vaters gab zunächst wohl nur den schlichten Bericht von den Leiden Israels in der ägyptischen Sklaverei und von ihrer Befreiung. Aber in den Jahrhunderten wurden aus alten Büchern Geschichtchen entlehnt, die dem Feste galten und zur Seele eines jüdischen Kindes sprechen konnten. Als letztes Zwischenstück kam die geistvolle, packende Erzählung von den vier verschieden gearteten Söhnen, die nach dem Sinn des Festes fragen.
So wuchs die Peßach-Hagadah. Wie der Peßachabend die große Stunde des Kindes wurde, wurde die Hagadah das Buch des Kindes. Es löste sich aus den großen Folianten, in deren gewundenen Wegen es wie ein verborgener Garten lag; und führte klein und zierlich sein eigen Leben. Gebetstücke schmiegten sich an. Fromme Lieder baten um Eingang. Aber als um das Jahr 1100 die Hagadah ganz als selbständiges Werk auftrat, war ihre Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Wie der Peßachabend die Geburtsstunde des Erlebnisses war, das sich immer wieder erneute, also verjüngten sich Brauch und Sitte, und neue Lieder schmeichelten sich ein, ernste und scherzende, wie das Lied von Böcklein, Chad Gadja, das Adirhu und die nachdenkliche Zahlenspielerei des Echad mi jodea.
Also wurde das Peßachbuch ein Lieblingsbuch[S. 49] der Juden. Ein Kinderbuch in unserem Sinne konnte es nicht werden. Zunächst schon, weil sich zum Seder die ganze Familie versammelte und der Eifer und die Nachdenklichkeit auch der Erwachsenen angeregt werden mußte. Aber weit darüber aus: hatte denn das jüdische Kind eine rechte Kindheit? Es sah die Sorge frühe um sich und die Angst, die in den Ecken hockte. Die Liebe, die es betreute, erbebte zu oft nur im Fürchten. Seine Spiele wagten sich nicht ins Freie. Sie suchten nicht das Leben zu erfassen, mit kindlichen Händen zu begreifen; sondern hatten geheime Beziehungen zu einem Sein, das über allem Irdischen ist. Frühe schon kehrte sein Geist ein zur Weisheit der Ahnen; ging er auch nur zagend und in kindlicher Befangenheit in diesen stillen Gärten, so wußte er doch, daß sie seine Welt sein — mußten.
So war die Peßach-Hagadah ein Buch auch für dieses jüdische Kind; wert und lieb noch den Gereiften, die ihrer kindheitarmen Kindheit gerne dachten, mit seiner niedergehaltenen Natürlichkeit und seinem gesteigerten Intellektualismus. Ein Buch, in dem die verängstete, freiheitsehnende Seele sich im Spiegelbilde fand. Ein Buch, das sich dem Alltag entzog und — alljährlich nur für zwei Abende der dunklen Truhe entführt — in den Monaten aufgestapelt die Freude am Lichte, an Freiheit und leuchtenden Augen trug. So[S. 50] war es, daß eine fast zärtliche Liebe dieses Buch wie nie ein anderes jüdisches Buch umgab. Es wurde häufig abgeschrieben, und sinnende Künstler wußten mit goldigen Farben, mit kecken Buchstaben und zierlichen Bildern den Ernst der schweren Buchstaben ins Heitere zu schmücken. Fünfundzwanzig dieser illuminierten Handschriften-Hagadahs haben in unsere Tage die Kunde liebevoller Sorgfalt getragen. Sie stammen aus dem dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert, aus Spanien, Frankreich und Deutschland. Allein als schon die Druckerkunst die Demokratisierung des Buches begonnen hatte, starb die Freude an dem persönlichsten Besitz einer bemalten Handschrift nicht. Bis ins achtzehnte Jahrhundert blühten jüdische Meister dieser heiteren Kunst, und Aaron Schreiber Sterrlingen aus Gewitsch in Mähren war weit berühmt als Hagadahschreiber in den Landen. Auf schwerem Pergamente lebte die Geschichte vom Auszug aus Mizrajim. In langen Tagen und in Nächten erstand die Schrift; und Sinnen und Sorge, Segen und Versagung in den Schöpferstunden gruben sich in die Buchstaben ein. Bald liegen sie kauernd am Boden; bald streben sie empor, als wollten sie wie eine Jakobleiter der Enge des Irdischen entstreben. Noch ist der Buchstabe nicht zum Blei erstarrt. Getreulich folgt er Willen und Laune des Schöpfers. In den krausen, verschnörkelten Initialen spiegelt[S. 51] sich noch das verworrene Gewoge der Absichten, der Hoffnungen und Zagnisse, die jeden Gestalter im Anbeginn seiner Arbeit durchziehen. In den Zwischenstücken, die so scheinen wollen, als seien sie eine Erholung für den Leser, ruht der Sturm des Schaffens; und besonnen, nachdenklich wird die Linie der Zeichnung. Und wenn ein Stück zu Ende gebracht, tollt sich die Freude am gelungenen Werk in den Kapriolen der Phantastik aus. Die Lust am grotesken Buchstaben, der sich in Schlangenschwänzen, Giraffenhälsen, Karikaturenköpfen, in Blüten und Gezweige verliert, das Behagen an bizarren Schlußstücken und der sittliche Ernst, der Zwischenstücke formt — große Worte etwa, die wie Könige des Gedankens in Schloß und Burgen stehen oder sich in dichter Dornenhecke ungeweihtem Auge zu verbergen scheinen —: sie haben sich in allen handschriftlichen Hagadahs erprobt. In den Bilderbeilagen weichen sie indessen ab. Die älteste — zugleich das köstlichste Erbe jüdischer Künstlerschaft — die Hagadah von Serajewo bringt in enger Folge Bilder zur Genesis und zur Erzählung des Auszugs aus Ägypten. Die Illustration des eigentlichen Peßachrituale tritt hier zurück. Andere wieder schließen sich enger den Begebenheiten an, die im Peßach ihre ewige Wiederkehr feiern. Moses, sein wundersames Schicksal und seine Berufung werden der Mittelpunkt dieses eingeengten[S. 52] Bildkreises. Die Erzählungen von den vier Weisen, die zu B’ne-B’rak vom Peßach sprachen, bis daß der Morgen sie zum Gebete rief, die Typen der vier Fragenden, Rabban Gamliel, der die Festordnung schuf, werden im Bilde deutlich. Und Eliah sehen wir nahen, den ewigen Wanderer, der wie ein gütiger Tröster aus dem düstern Wirrsal der Gegenwart in den Frieden des Messias weist.
Wie sich die Formensprache des Zeichners aus dem Primitiven, über die Technik der Renaissance zum Realismus aufhellt, so prägt sich in der Auswahl der Motive die Stimmung der Zeiten aus. Dunkle Tage kommen, da der Haß die stachliche Peitsche schwingt. In den frühen Hagadahhandschriften, die stolze Herren aus romanischen Landen sich zeichnen ließen, herrscht das Bild, dem die Bibel den Vorwurf gibt. In den deutschen des späten Mittelalters will sich die Legende verkünden. Die große aristokratische Linie verläuft ins Volkstümliche, in die Träumereien des Gedrückten, in die Enge des Hauses. Die Helden und Starken — Simson, David — kommen in die Hagadah und — das Genrebild des häuslichen Lebens!
Der Weg dieser Entwicklung mündet in den Drucken und verliert seine letzte Spur im — Kliché. Von den 895 Ausgaben, die in den vier Jahrhunderten von 1500–1900 erschienen sind, tragen 194 bildnerischen Schmuck.
In den ersten Drucken, von denen uns Stücke erhalten sind, ringt noch ein echter, gottergebener Kunsttrieb. Der Druck vervielfältigte, demokratisierte das Buch. Aber der Meister saß in einsamer Klause, schnitt krause Gedanken, heilige und frohe Stimmung in seine Buchstaben und Stöcke; und die Phantasie des rechten Werkmannes machte das dürre Holz lebendig. Die Prager Hagadah von 1526 und die von Mantua aus dem Jahre 1560 sind köstliche Schöpfungen. Technisch gebunden an die Formen des deutschen Holzschnittes, motivisch geleitet durch die letzten illustrierten Handschriften-Hagadahs, ästhetisch erzogen durch die Renaissance finden sie den Weg zu persönlicher Gestaltung. Jede Seite hat ihr eigenes Leben. Ein naiver Kunstsinn verteilt den Raum. Die Zeilen sind ungleichmäßig, oft wie Blöcke aufgebaut, oft wie Terrassen ansteigend. Fruchtgirlanden rahmen die Seiten ein. Aber nicht in langweiliger Wiederholung. Stücke fallen aus, um einem Bildchen Platz zu geben; oder wuchtig rückt der Textwert vor. Mit den einfachsten Mitteln wird ergötzliche Mannigfaltigkeit erreicht. Die Bilder begleiten den Text; oft nur ein einziges Wort verdeutlichend. Die Legende drängt sich vor und das liturgische Element. Die Peßachfeier im Hause wird in realistischen Triptychen dargestellt. Und die Hasenjagd fehlt nicht. Sie war aus einem Merkwort entstanden: J. K. N. H. S.[S. 54] (Jajim, Kiddusch, Ner, Hawdalah, S’man): Jagnehas sprachen es die deutschen Juden. Und also kam die in der alten Kunst beliebte und symbolisch vielgedeutete Hasenjagd in die — Hagadah. Das kraftvolle Sch’foch chamathcha al hagojim — der Fluch gegen die Völker, die Gott nicht erkennen — erhält ein eigenes Schmuckblatt: Adam und Eva, Judith mit dem Haupte des Holofernes, Simson, der das Tor vom Tempel des Gottes Dagon trägt, und — Eliahu auf seinem müden Eselein. Die vier Fragenden stehen noch jeder für sich. Aber der Bösewicht trägt schon den Harnisch des Landsknechtes.
Es war nicht mehr die hohe Kunst und die volle Farbenpracht der illuminierten Handschriften. Aber es blieb doch ein Reichtum künstlerischer Gesichte und die Vielgestaltigkeit des Typographen.
Indes: Je weiter die Zeiten vorschritten, um so kunstloser, eintöniger wurden die Zeichnungen, bis sie im Morast der Erbärmlichkeit rettungslos stecken blieben. Es ist, als wäre mit dem Judentum auch der jüdische Gestaltertrieb in nicht mehr verstandener Überlieferung erstarrt —: war Peßach nur noch alter, geheiligter, anbefohlener Brauch, und war es nicht mehr das immer sich erneuernde Erlebnis der Befreiung?
Ist die Peßach-Hagadah tot? Und hat sie deshalb eine Geschichte? Oder will sich der große [S. 56] Tag verkünden, da Israel wieder hinaufzieht gen Jeruschalajim, zur Stadt des Herren, um dorten in fröhlichem Feste die Erlösung aus Mizrajim zu feiern, weil es in junger Seele die eigene Erlösung erlebt?
Von Sch. Ben-Zion.
„Der Winter ist vorüber, der Regen vorbei, vergangen.“ Der Lehrer fuhr wieder heim in seine Stadt und die Schule ist aus und vorüber. Nur einige Erinnerungen an die Melodie zum Hohenliede sind geblieben, die wie weiße Wolken am Himmel schweben. Awremel ist jetzt ein freier Mann; sogar einen Fingerring besitzt er, einen Ring von reinem Silber, den er im Kehricht fand. Er weiß aber noch nicht recht, was er mit seiner Freiheit und seiner Herzensfreude und mit dem Fingerring anfangen soll.
Der Himmel ist hell, die Sonne klar und neuer Schein über der Welt. Wie schön, wie lieblich wäre es jetzt, hinauszugehen und unter der Wölbung des reinen Himmels hinzuwandeln und still in die Tiefen der Welt zu träumen! Oder mit allen Gespielen wie junge Füllen hinzusprengen, die dem Wind nachjagen, den Duft der feuchten Erde, des neusprießenden Grases zu atmen, Könige zu wählen, Heere anzuführen und Krieg zu erklären!... Aber ach, eins hindert an all dem, eins ist unheilvoll: der Schmutz. Alle Gassen sind voll Morast, so daß nicht einmal ein trockener Übergang möglich ist.
Und im Hause geht erst recht alles drunter und drüber. In allen Zimmern eine heillose Unordnung; mit jedem Schritt stolpert man über allerlei Möbelstücke und Gerätschaften, die von ihren gewohnten Plätzen fortgerissen und durcheinandergerüttelt sind. Eiserne und kupferne Töpfe werden mit Knirschen und Kreischen geputzt, so daß die Ohren zerreißen und alle Nerven im Körper erzittern. Den Kissen und Matratzen werden die Überzüge abgenommen, dann klopft man sie mit Stöcken, dichter Staub steigt auf, Federn fliegen; und der Staub erhebt sich und füllt einem die Augen, er fällt wieder und legt sich auf alles; alles sieht so schmutzig aus, dazu ist es mit Kalk und Lehm beschmiert. Und von all dem Schmutz hat man einen faden Geschmack im Munde, wie von gelöschtem Kalk oder geknetetem Lehm.
Das alles hätte Awremel schließlich nicht gestört; hier seine Kraft und seinen Heldenmut zu zeigen, wo es ein gottgefälliges Werk war, das Haus auf den Kopf zu stellen, hätte ihm nur gepaßt. Aber seine Mutter stört ihn und vertreibt ihn von überall. Hier steht die neue Kiste, die man für Mazzoth gekauft hat, und dort ein Fäßchen[S. 59] für Borschtsch zu Peßach. Diesem „Allerheiligsten“ darf man nicht nahekommen. Wenn er in die Küche kommt und den Herd nur anrührt, jammert die Mutter gleich: „Herr der Welt, wozu lebe ich noch?“ Auch der alten Dienerin, die sonst zu Awremel immer so sanft ist, weil er doch ein „Gelehrter“ ist, darf er jetzt ohne Lebensgefahr nicht in die Nähe. Sie tüncht und kalkt mit der Magd, hadert mit ihrem Schicksal und lamentiert: „Herr der Welt, wie soll ich bis zum Seder-Abend mit all der Arbeit fertig werden?“
Der Herr der Welt scheint aber an ihrem Schmerz wenig Anteil zu nehmen und macht sich im Himmel und auf Erden einen prächtigen Frühling. Der Tag leuchtet immer tiefer, die Sonne gleißt, die Luft weht lau, der Wind geht frisch und eine geheimnisvolle Freude verbreitet sich im ganzen Weltraum.
Was soll aber Awremel anfangen? Er klettert auf den Schrank, um die Peßach-Hagadah zu suchen. Dabei wirft er ein Gebetbuch in den Kübel, in dem die Magd den Kalk mischt. Der Kalk spritzt hoch auf, daß die Magd fast blind wird. Die Mutter will ihn fassen, er springt[S. 60] herab, balanziert zwischen den Gefäßen, die dastehen, zerbricht einen irdenen Topf und entwischt.
„Unglücksjunge,“ ruft ihm die Mutter nach, „was hast du hier zu suchen? Trink Tee und geh ins Beth-Hamidrasch beten, wie jeder Mensch.“ Das leuchtet Awremel ein; schnell verschwindet er und verzichtet sogar auf den Frühstückstee; denn im Beth-Hamidrasch kann er seinen Gespielen seinen Ring zeigen, seinen Fund, und sie können ihm vielleicht einen Rat geben, was er damit tun soll.
Aber er findet im Beth-Hamidrasch keinen von seinen Freunden. Sie haben nicht so nahe wie er, so sind sie nicht gekommen. Der Schmutz hat sie umschlossen wie eine Wüste. So steht er einsam und allein unter den Erwachsenen, die schnell beten, und hat gar keine Lust, mitzubeten. Ihn beschäftigt nur eine einzige Frage: was soll er mit dem Ring tun? Soll er ihn verkaufen? Woher dann einen Käufer nehmen? Er muß ihn zuvor putzen, und zwar mit der Pasta, womit der Diener die Leuchter im Beth-Hamidrasch für die Feiertage putzt. Jede Ware gilt, wonach sie aussieht. Wenn der Ring wie neu sein wird,[S. 61] wird sich vielleicht irgendwie ein Bräutigam finden, der ihn als Verlobungsring kauft. Aber der Diener ist bärbeißig, er ist ein Soldat noch aus der Zeit Nikolaus I., und er jagt Awremel fort und läßt ihn nicht einmal zusehen. So geht Awremel fort und blickt voll Neid auf die neue Borte an dem Gebetmantel des reichen Reb Jeschua Heschel. Auch sie ist aus Silber; aber weil das Silber schön poliert ist, blühen zwischen den Fäden Lichtfunken wie goldene Augen. Und Awremel schlendert weiter und putzt seinen Ring, damit er ebenso schön glänze. Er reibt ihn am Leder seiner Schuhe und an dem Futter seines Rockes; und dabei belauscht er das Gespräch zweier Schnorrer, die einander erzählen, durch wieviele Dörfer und Städte sie in ihrem Leben gekommen sind. Der Dajan Reb Selig legt jetzt T’fillin; es ist schon spät und der Ring glänzt schon, aber er glänzt noch bei weitem nicht so, wie die Borte. Er will weiterputzen, während er zusieht, wie der Dajan seine T’fillin abnimmt und die Riemen zusammenlegt wie die Flügel einer Taube. Und Awremel putzt und putzt. Der Dajan hat bereits dreimal die Decke der Bundeslade geküßt, dann ist er fortgegangen; das Beth-Hamidrasch[S. 62] leert sich, Awremel wird müde und weiß nicht, wieweit er in seinem Gebete gekommen ist. Sein Herz ist leer und er schluckt vor Hunger seinen Speichel. Aber doch ist es ihm angenehm, so einsam und allein auf der Fensterbank zu sitzen, die von der Sonne beschienen ist, und in die Gasse zu sehen.
„Die Zeit unserer Freiheit.“ Freiheit ist ein schönes Ding. Es gibt keinen Zwang der Schule, keinen Zwang des Hauses; es ist still, friedlich und licht. Er sitzt da, schaut hinaus und weiß, daß an seinem Finger ein dicker silberner Ring glänzt; er sieht Wasserlachen im Schmutz der Straße stehen, moorartige Pfützen, die aber glitzern wie helles Gold und Märchen von rieselnden Quellen erzählen. Eine Kuh mit hängendem Bauch und vollem Euter, deren Rippen sich wie Beulen aus der schmutzigen Haut heben, steht regungslos, wie eine Statue, nahe der Wand. Sie zuckt nicht, kaut nicht wieder, bewegt kein Ohr; sie ist nur damit beschäftigt, ihren ausgefrorenen Körper der Sonne hinzuhalten. Ein großer Hahn mit seinen Hühnern bricht mit großem Aufruhr aus einem Bodenfenster; sie haben sich gegen ihren Zwingherrn empört, die Steige zerbrochen und verbreiten sich nun mit Gekreisch und Gegacker über das Dach. Der Hahn schlägt mit den Flügeln und ruft seine Freiheit mit lautem Kikeriki vom Dachfirst aus in die[S. 63] Welt. Zwei Leute tragen an einer Stange einen großen Korb voll Mazzoth vorbei, die im Sonnenschein leuchten; Awremel spürt ihren warmen Duft durch das Fenster und sein Hunger zerrt in ihm.
Er springt von der Fensterbank und will sich einreden, daß er schon zu Ende gebetet hat. Ist es denn anzunehmen, daß er bis zur Essenszeit mit dem Gebete nicht fertig geworden sein sollte? Da erscheinen eben zwei junge Leute, die miteinander eifrig und leise sprechen; anscheinend disputieren sie über eine wichtige Sache. Awremel ist der Meinung, es lohne sich, ihnen zuzuhören; und als sie stehen bleiben, schleicht er sich in ihre Nähe. Die Zeit, die er lauschend verbringt, kann ja zugleich für ein Gebet gelten; auf eins mehr oder weniger kommt es wahrhaftig nicht mehr an. So hört er, wie der eine, der Rote, zu dem Blassen mit dem dicken wollenen Halstuch sagt:
„Und glaubst du denn, das Hohelied sei wirklich eine Allegorie auf das Volk Israel? Gar keine Spur, sage ich dir! Es sind einfach Liebesgespräche zwischen Salomo und Sulamith und ihrem Herzensfreunde, dem Hirten....“
Der Blasse staunt und zweifelt, sein Gesicht flammt auf und er fragt: „Wie?“
Da springt Awremel aus seinem Lauscherwinkel hervor, lacht den beiden ins Gesicht und läuft aus dem Beth-Hamidrasch. Hinter dem[S. 64] Hause, unter einer Leiter und auf einem umgekehrten Faß ißt er sein Mittagmahl, Butterbrot, das ihm die Mutter gegeben, und ein Stück Zucker, das er „genommen“ hat. Und da er satt und zufrieden ist, findet er keinen anderen Platz als diese Leiter. Er steigt hinauf und steht schon auf der letzten Sprosse; alles in ihm spricht: „Die Zeit unserer Freiheit.“ Die Freiheit pocht in seinem Herzen wie ein gefangener Vogel, der an die Wände seines Käfigs pickt und davonfliegen möchte. Alle Dächer leuchten im Lichte der Freiheit; er hätte Lust, sich mit einem Satz auf den First zu schwingen und von Dach zu Dach über die ganze Stadt hinzuhüpfen.
„Sieh, da kommt er, springt über die Berge, hüpft über die Hügel. Mein Geliebter gleicht einem Reh oder dem jungen Hirsche.“
Zwei Störche, Boten der Freiheit, fliegen über ihm dahin. Und was sind all die Geräusche von den Höfen her, all das Kreischen, Schlagen, Reiben, was ist es? Sind das nicht Rufe der neuen Freiheit? Freiheit in der Welt, Freiheit im Hohenliede. Über die Bibelverse ist ein neues, heiteres Licht ausgegossen.
„Die Blumen zeigen sich im Lande, der Lenz ist gekommen und der Turteltaube Ruf läßt sich in unserm Lande hören. Der Feigenbaum, schon reifen seine Früchte...“ Wenn man das alles wörtlich und einfach nimmt, ohne Deutung, ohne[S. 65] „Das heißt“ und „Er will sagen“ — kluge Worte hat der Rote gesprochen.
Von der Leiter zum Dachboden ist’s nur ein Sprung.
Unter dem Dache herrscht ein geheimnisvolles Halbdunkel. Alles ist still, nur eine Henne gackert von der Steige im Winkel her. Und vom Dache hört man ein freches Zwitschern: die Vögel plaudern dort und kratzen mit den Klauen ihrer dünnen Füßchen in einem bescheidenen Winkelchen: Sulamith verbirgt sich dort. „Meine Taube in den Felsspalten, in den Steinritzen...“
Die Welt draußen lebt, freut sich, arbeitet, ist geschäftig; hierher entflieht, um sich zu verbergen, nur alles Weiche, alles Süße, das in jedem Laute lebt. Hier tönt nur die Stille und Heimlichkeit, das Zittern des Alls. Und dies bildet hier einen köstlichen Schatz, einen Schatz verborgener Freuden.
Ein Windhauch kommt seines Wegs vorüber, flüstert und klappert im Kamin, zwängt sich herein, bläst in den goldenen Staub, der in der Sonne tanzt, bewegt die Spinnenfäden und verschwindet wieder... Awremel hockt in seinem Versteck, im schattigen Winkel, er kauert sich noch enger zusammen und schließt die Augen vor der Wonne seiner vielen Genüsse. Und ihm ist, als hätte der Wind ihn mitgenommen und an einem einsamen Ort in einen weichen Schoß gelegt, dort zu schlafen[S. 66] wie ein Kind. Aber die neue Wonne, die ihn erfüllt, läßt ihn nicht schlafen. Er weiß nicht, was er mit seiner Seele, was er mit dieser Wonne anfangen soll — so wie er mit dem Ringe nichts anzufangen weiß. Er ist reich über alle Maßen und hat für seine Schätze keine Verwendung. Er steht auf und geht langsam vor, als schleiche er listig, die helle Freude der Welt zu haschen; er klettert auf die Hühnersteige und legt seinen Kopf zum Dachfenster hinaus: welche Weite, welche Welt erschließt sich ihm da!
Er sieht alles und niemand sieht ihn: als hätte er eine Tarnkappe aufgesetzt. Er ist ein Herrscher, der niemand über sich hat. Und jenseits der Dächer, jenseits der Höfe, jenseits der weißen Wäsche, die an den Schnüren hängt und sich im Winde bewegt, sieht er einen grünen Berg, auf dessen Gipfel ein helles Wäldchen in einem dünnen blaugrauen Nebel fast verborgen ruht. Und der Berg dehnt sich in den Nebel hinein ins Unendliche und schmilzt wie ein Stück Zucker in heißem Wasser. Awremels Blick schwebt über den Wolkenhügeln, die vom fernen Horizonte aufsteigen, weiß wie Perlmutter. Er schwebt über den Schneestreifen, die zerschmelzen und wie flüssiges Gold gleißen. Eine Herde von Schafen und Ziegen zieht den Berg herab, der ganze Abhang ist bunt und gefleckt; und in Awremels Seele regt es sich mächtig, daß er in[S. 67] einem lauten Gesange seinen Jubel Luft machen muß. „Tu mir kund, o du, den meine Seele liebt: Wo weidest du? wo lagerst du am Mittag?... — Mit mir, vom Libanon, o Braut, komm mit mir vom Libanon! Meine Schwester Braut, von den Löwenwohnungen, von den Pantherbergen!“
Er und seine „Schwester Braut“ wandeln nebeneinander, beide schweben leicht dahin, ohne die Erde zu berühren, aneinander geschmiegt in zartem Kosen, sie zittern und schweben in der Luft wie zwei junge Pflänzlein, von einem würzigen Windhauch berührt. „Ich will zum Balsamberge gehen und zum Weihrauchhügel.“
Er ruft sein Lied von der Höhe hinaus und eine dünne, zarte, klare Stimme antwortet ihm mit melancholischer Weise aus der Tiefe:
Dieses Lied singt die schwarze Adel, die Tochter Evas, der Witwe, die am Nachbarhofe wohnt. Ihr Häuschen ist so klein wie Kinderspielzeug, die Fenster sind winzig und hart über dem Erdboden. Die kleine Adel steht auf einem Schemel und tüncht die Außenwand der Hütte. Eine lichte Strahlenkrone flimmert um ihre Locken, in die der Wind bläst, daß sie ihr[S. 68] über Stirn und Augen fallen. Sie hebt ihr Gesicht, das von der Wärme des Tages blüht, zu ihm auf, blinzelt mit den Augen, rümpft das Näschen vor der Lichtfülle, die ihn umfließt, und öffnet ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln. Sie bückt sich, taucht den Pinsel in den Kalkeimer vor ihren Füßen und kehrt zu ihrem traurigen Liedchen zurück.
Und zum dritten Male ertönt die sehnsüchtig klagende Weise:
Und mit einer Stimme, die vor Sehnen vergeht, wiederholt sie:
In Awremels Köpfchen geht alles drunter und drüber. Er ist wie trunken von dem Liede, er will etwas tun, um Adel in Erstaunen zu setzen. Er fühlt: er ist leicht wie ein Adler, schnell wie ein Hirsch, stark wie ein Löwe. Aber er kann doch nicht auf das Dach steigen und hinunterspringen —! So klettert er schleunigst die Leiter[S. 69] hinab, springt über den Zaun und in Adels Hof und nähert sich ihr, eben als sie den Pinsel wieder in den Kalkeimer taucht. Er faßt sie an der Hand und sagt: „Ich — ich — will dir den Pinsel eintauchen!“
Sie steht auf dem Schemel und tüncht die Wand mit dem Pinsel, den er eingetaucht hat. Ihr Kopf legt sich in den Nacken zurück, ihr leuchtendes Gesicht ist erhoben und ihre schwarzen Augen ruhen verborgen in dem Schatten ihrer langen Wimpern. Sie glänzen wie Punkte lauteren Goldes. Awremel sieht zu ihr auf und sein Herz ist voll Wonne; ohne es zu wissen, genießt er das Glück einer Blume, die in Tau und Licht badet.
Plötzlich stößt „seine“ Adel einen kleinen Schrei aus, preßt die Lippen aufeinander und zieht ihr Näschen vor Schmerz in Falten. Sie beugt sich zu ihm und zeigt ihm ihren Finger, in den der Kalk eine kleine Wunde gebrannt hat; dann reicht sie ihm einen Leinenstreifen, er solle ihr damit den Finger verbinden. Awremel ist eifrig und voller Freude, daß er Adel gehorchen und ihr helfen, daß er den Schmerz seiner „Schwester Braut“ stillen darf. Er wickelt den Streifen fest um ihren Finger. Doch hat er keinen Faden, den Verband festzubinden; und ohne nachzudenken, nimmt er mit freudiger Bewegung seinen Silberring und streift ihr ihn über den gestreckten Finger. Er steckt ihr den Ring fest an[S. 70] und sein Herz schlägt ihm laut bis in den Hals hinauf. Und er lächelt und spricht die Trauungsformel: „Du bist mir verlobt durch diesen Ring nach dem Gesetze Moses und Israels.“ Aber sogleich erschrickt er über das, was er getan hat...
„Wir wollen uns immer lieb haben, Awremel,“ spricht sie zu ihm: ein Scherz, der Wahrheit enthält.
„Gewiß, gewiß,“ versichert Awremel; dabei schämt er sich und zittert und erwägt, ob er jetzt nicht verpflichtet ist, ihr einen Scheidebrief zu schreiben?
Plötzlich wendet er sich von Adel ab und läuft schleunigst davon, vor dem Mädchen und vor dem Ring an ihrem Finger, klettert über den Zaun und auf die Leiter und verbirgt sich in der Dachkammer. Dort preßt er das Gesicht in die Hände; Tränen würgen ihn; hier will er vor Schande sterben an „seines Herzens Höllenbrand“, hier in dieser Bodenkammer „bleibt ihm nur der Tod.“
Und da ertönt Adels Stimme wieder in flehenden Tönen:
Sie schämt sich nicht und sorgt sich nicht; aber auf ihm lastet seine Tat wie ein schwerer Alb, wie ein Traum aus einer schlaflosen Nacht, in dem trübe Bilder und Irrlichter wechseln. Er sitzt in der Finsternis wie ein von Gott Geschlagener und wartet, bis Adels Stimme schweigt. Dann erhebt er sich, steigt vom Boden hinab, traurig, schuldbeladen und sündig, wie einer, der zum Richtplatz geht... Die untergehende Sonne wirft einen roten Schein auf sein verschämtes Gesicht und leuchtet in feurigem Glanze.
Es war 130 Jahre nach der Ankunft der Kinder Israel in Mizrajim und sechzig Jahre nach Josephs Tode, da hatte der Pharao einen seltsamen Traum. Er erblickte einen hohen Greis mit einer Wage in der Hand; in der einen Schale lagen alle Bewohner Mizrajims, Männer, Weiber und Kinder, in der andern Schale aber lag ein Lämmchen; und das Lämmchen wog alle die von Mizrajim auf. Der König erschrak über diesen Traum, den er nicht zu deuten wußte. Am Morgen aber versammelte er eilends alle Gelehrten und Sterndeuter von Mizrajim und erzählte, was er gesehen; und alle waren in Furcht und Grauen ob des Gesichtes.
Endlich trat einer der Großen des Hofes, Bileam, der Zauberer, vor den Pharao und sprach: „Dieser Traum bedeutet für ganz Mizrajim ein großes Unheil.“ Der König fragte ihn, was es denn sei. Da verkündete der Weise: „Den Kindern Israel wird ein Sohn geboren werden, der Mizrajim vernichten wird. Ich aber, mein Herr und König, will dir einen Rat geben: befiehl, daß man jeden neugeborenen Sohn unter den Kindern Israel töte; vielleicht, daß so der Traum nicht in Erfüllung geht.“
Das leuchtete dem Pharao und seinen Leuten ein, und er folgte dem Rate.
Im dritten Jahre nach Moses Geburt saß einst der Pharao zu Tische und speiste; zu seiner Rechten saß die Königin, zu seiner Linken seine Tochter Bithja und vor ihm alle Großen seines Hofes. Bei Bithja aber saß der Knabe Moses, in bunte Gewänder gekleidet. Und Moses gefiel dem Pharao, so daß dieser ihn auf den Schoß nahm. Da streckte der Knabe die Hand aus, nahm die goldene Krone vom Haupte des Pharao und setzte sich sie auf. Darüber erschrak der König und die Großen verwunderten sich. Bileam aber, der Zauberer, nahm das Wort und sprach: „Mein Herr und König, gedenke des Traumgesichtes, das du einst erblicktest und das dein Knecht dir deutete! Ist nicht dies eines von den hebräischen Kindern? Der Geist Gottes steckt in ihm und aus seiner Weisheit handelt er; er ist es, der Mizrajim vernichten wird! Gib schleunigst Befehl, ihm das Haupt abzuschlagen!“
Der Pharao fand den Rat gut. Da entsandte Gott den Engel Gabriel; der nahm die Gestalt des Jithro, eines der Großen und Freunde des Königs, an und sprach: „Mein Herr und König, hüte dich, unschuldiges Blut zu vergießen! Der Knabe hat ja noch keinen Verstand! Wenn du mir es gestattest, will ich dir einen Rat erteilen: lege einen funkelnden Rubin und eine glühende Kohle vor dieses Kind hin; streckt es die Hand aus und ergreift den Rubin, dann weißt du, daß[S. 74] es Verstand hat, dann hat es den Tod verdient und wir verfahren mit ihm nach der Gerechtigkeit. Greift es aber nach der Kohle, dann ist erwiesen, daß es keinen Verstand besitzt, und es ist frei.“
Dieses Wort gefiel dem Pharao und seinen Freunden; sie legten den Rubin und die Kohle in eine Schale und stellten sie vor Moses hin. Der Knabe streckte die Hand aus und griff schon nach dem Rubin, doch der Engel stieß seine Hand fort, daß er die Kohle faßte; er führte sie zum Munde und berührte mit ihr seine Lippen und die Zungenspitze. Darum war Moses von so schwerer Zunge. Damals aber ward er auf diese Weise gerettet.
„Jeden Sohn, der geboren wird, sollt ihr in den Strom werfen.“ — Rabbi Chanan erzählte: Israels fromme und keusche Töchter suchten ihre Kinder zu retten. So nahmen sie sie denn und verbargen sie in Höhlungen ihrer Wohnstätten. Da brachten die Ägypter ihre kleinen Kinder in die jüdischen Häuser und zwickten sie da, bis sie weinten. Da hörte das jüdische Kind die weinende Stimme seines Kameraden und weinte mit ihm. So fanden sie die Ägypter und warfen sie in den Fluß.
In dieser Stunde sprach der Heilige, gebenedeit sei er, zu den Dienstengeln: Steigt doch herab und seht die Kinder meiner Lieblinge Abraham, Jizchak und Jakob, wie man sie in den Strom wirft. Da stiegen die Engel erschreckt herunter und standen bis zu den Knien im Wasser und fingen die jüdischen Kinder auf und legten sie auf emporragende Sandbänke. Der Heilige aber, gebenedeit sei er, ließ ihnen Brüste aus den Steinen sprießen und gab ihnen so zu trinken.
Wenn die Ägypter kamen, die Kinder zu töten, geschah ein Wunder und die Kinder wurden von der Erde verschluckt. Da brachten die Ägypter Ochsen und pflügten die Erde, aber wenn sie weg waren, sprossen die Kinder wieder auf wie das Gras auf dem Felde. Und wenn sie groß gewachsen waren, kamen sie scharenweise nach Hause. So kam es denn auch, daß sie am Roten Meere, da Gott sich offenbarte, ihn gleich wiedererkannten und riefen: „Dies ist mein Gott!“
Rabbi Jehuda Hanassi hielt einmal eine Predigt und die Zuhörer schliefen ein. Da wollte er sie wieder wach machen und rief: „In Ägypten war einst eine Frau, die hat auf einmal sechshunderttausend Menschen geboren.“ Erstaunt fuhren die Zuhörer auf. Da sagte er: „Jochebed, Moses’ Mutter, ist gemeint. Denn Moses hat sechshunderttausend Israeliten aus Ägypten geführt, so ist er denn soviel Menschen gleich zu achten.“
Es erzählten unsere Lehrer: Als Moses die Herde Jithros in der Wüste weidete, entlief ihm ein Böcklein. Moses setzte ihm nach, bis er zu einem Felsen kam, da stand das Böcklein an einer Quelle und trank. Als Moses das sah, sagte er ihm: „Ich wußte gar nicht, daß du aus Durst weggelaufen bist. Nun bist du gewiß recht müde.“ So lud er es sich auf die Schulter und trug es. Das sah Gott und sprach: Du hast Mitleid mit deiner Herde, so wahr du lebst, so sollst du meine Herde weiden, Israel.
Warum zeigte sich Gott dem Mose im Dornbusche, der loderte und nicht verbrannt ward? Um Moses Zweifel zu besiegen. Denn Moses glaubte doch, daß vielleicht die Ägypter Israel vernichten würden. So zeigte ihm Gott den Dornbusch und sprach: Wie der Dornbusch vom Feuer[S. 77] umflackert wird und nicht verzehrt werden kann, so können auch Israels Feinde es nicht vernichten.
Mit Moses Stab hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Der Stab ward am sechsten Schöpfungstage in der Dämmerung erschaffen und dem ersten Menschen im Paradies übergeben. Adam gab ihn dem Henoch und Henoch dem Sem und dann erhielten ihn nacheinander Abraham, Isaak und Jakob. Jakob brachte ihn nach Ägypten und gab ihn dem Josef. Nach Josefs Tode fiel er mit seiner ganzen Habe dem Pharao zu. In Pharaos Palaste sah ihn Jithro, der einer von Pharaos Wahrsagern war, entwendete ihn und pflanzte ihn in seinen Garten. Aber da konnte ihn niemand nahe kommen — bis Moses nach Midjan kam und in den Garten eintrat. Er konnte die Zeichen lesen, die auf dem Stabe standen und hatte die Macht, ihn an sich zu nehmen. Als Jithro dies sah, sprach er: Fürwahr, das ist Israels[S. 78] Erlöser. Deshalb gab er ihm seine Tochter, die Zipporah, zur Frau.
Ein Heide fragte den Rabbi Josua ben Karcha: „Weshalb redete Gott zu Moses aus einem Dornbusche?“ Der Rabbi erwiderte: „Hätte er aus einem Johannisbrotbaume zu ihm geredet oder aus einer Sykomore, so hättest du mir dieselbe Frage gestellt. Allein ich will es dir sagen: es soll dir so gezeigt werden, daß es nichts gibt, worin nicht Gottes Herrlichkeit lebte; sogar im Dornbusche ist sie.“
Von A. L. Lewinski.
Gewidmet den Peßachfahrern in Erez-Israel.
„Und dann werden sie ausziehen mit reichem Gute...“
Allmählich lerne ich verstehen, weshalb Moses auf dieses „reiche Gut“ soviel Wert legte, daß er es immer wieder erwähnt.
Auf den ersten Blick erscheint es ja etwas sonderbar. Das Volk war in einem so entsetzlichen, in einem so erniedrigenden Zustand, dort in Mizrajim — in einer Art von grenzenloser Knechtung; man arbeitete mit den Juden, wie mit Lasttieren, in Lehm und Ziegeln, in aller schweren, gliederbrechenden Arbeit; Aufseher standen über ihnen und schlugen sie mit Geißeln und Stöcken, ähnlich wie es den Leibeigenen einst in Rußland ging oder den Negersklaven in Amerika — es scheint doch, als wäre es genug für ein solches Volk, bloß aus der Knechtschaft in die Freiheit zu gehen, aus Gebundenheit zur Erlösung, hinauszugehen und zu fliehen, und müßte man selbst die Haut zurücklassen: wenn nur die Seele gerettet wird; und kein Gedanke bleibt für Geld und Gut. Nachher, wenn es erst aus Mizrajim gezogen sein und[S. 80] begonnen haben würde, für sich selbst statt für seine Herren und Peiniger zu arbeiten, würde es ja von selbst zu reichem Gute kommen. Denn sechshunderttausend Menschen, eine Million und zweihunderttausend arbeitende Arme sind schon für sich ein reiches Gut. Sie würden arbeiten und Reichtum schaffen. Die Hauptsache war, diese Arme zu befreien, damit sie für sich selbst arbeiten könnten und nicht für Nutzen und Vorteil der Ägypter.
Und da steht Moses und ruft und mahnt eindringlich an das reiche Gut, das, wie es scheint, einen wichtigen Hauptpunkt seines Programms bildete.
Raschi, das heißt unsere naiven Alten, gab folgende Erklärung: All diese Mahnungen sollten ihn, den Gerechten, unsern Vater Abraham, befriedigen, damit er nicht sage: „‚Man wird mit ihnen arbeiten und wird sie plagen,‘ und so traf es ein, ‚und dann werden sie ausziehen mit reichem Gute,‘ und das traf nicht ein.“ Diese Erklärung, muß ich sagen, leuchtet mir nicht ganz ein. Wenn er, der Gerechte, soviel bei Gott vermochte, warum hat er dann die Knechtschaft in Mizrajim überhaupt zugelassen? Er hätte sofort protestieren sollen. Denn zu welchem Zweck und zu welchem Ende war die ganze Verbannung[S. 81] da? Das alte System der „läuternden Leiden“, der „versöhnenden Verbannung“ hatte schon damals keinen Sinn. Ein Volk, das eben erst begonnen hat, zu leben, hat noch gar nicht Zeit gehabt, so viel zu sündigen, daß das Elend der Knechtschaft kommen müßte, es zu läutern und zu bessern. Die Juden wären wahrscheinlich sogar ohne die Knechtschaft in Mizrajim auch Juden geworden und, wer weiß, vielleicht bessere als sie nach all dem Bessern und Läutern durch die Ägypter geworden sind...
Gewiß, das Elend läutert, — aber es läutert zu sehr; mit dem Schmutz läutert es auch das Fleisch weg und mit dem Fleische reißt es auch Stücke aus der Seele. Einem Schwerkranken sprach man von dem Lohn der Leiden; sie würden ihm ewige Seligkeit einbringen, er solle nur alle Schmerzen geduldig ertragen. Er aber sagte: „Nicht sie und nicht ihren Lohn!“ Ich bin sicher, daß das Elend in Mizrajim unsern Nationalcharakter sehr geschädigt und uns einen ewigen Jammer hinterlassen hat. Jetzt, nach Tausenden von Jahren, ist es uns schwer, uns unsern Volkscharakter und seine Eigenschaften ohne all diese Widerwärtigkeiten vorzustellen. Nicht die Verbannung in Babel und nicht die in Edom ist es, sondern dieses[S. 82] erste Verbannungselend, das uns plötzlich traf, als das Volk noch jung und zart war, ein Stoff, bereit, in der Hand des Bildners jede Form anzunehmen; dieses ägyptische Elend ist es, das furchtbar stark auf uns wirkte, und uns mit ewigem Schmutz bedeckte. Und es gibt noch heute keine schlechte Eigenschaft in unserem Volke, von der nicht wenigstens ein kleiner Teil von Mizrajim herstammt.
Alles in allem: diese Knechtschaft war durchaus nicht notwendig, ja sogar höchst überflüssig! Und jener Gerechte, der selbst eine Art von Freiherrn und Kavalier war (siehe sein Verhalten gegenüber Lot und dem König von Sodom), ein Ritter ohne Furcht und Tadel, der kein Unrecht ansehen konnte und es wagte, mit wenigen Leuten, seinen Knechten und Hausgenossen, insgesamt 318 Mann, vier siegreiche Könige anzugreifen — ein „gerechter Ritter“ wie dieser wäre gewiß mit der ägyptischen Verbannung nicht einverstanden gewesen und hätte auch auf die Zusicherung verzichtet: „Auch das Volk, unter dem sie arbeiten werden, werde ich richten.“ Denn was für ein Vorteil ist hierbei? Was haben wir davon, daß es gerichtet worden ist? Ganz abgesehen davon, daß es gar nicht zum Charakter des Hebräers Abraham, d. h. zum wahren jüdischen Charakter, paßte, der durch und durch barmherzig und nicht rachsüchtig ist, der auch gegen seine ärgsten Feinde[S. 83] keinen Haß trägt, vielmehr in jedem Augenblicke bereit ist, zu verzeihen und mehr als das, alles zu vergessen, was man ihm angetan hat. Was für ein Nutzen ist in dem Strafgericht? Werden denn die Quäler umkehren auf ihrem Wege, werden sie denn Reue empfinden, daß sie die Juden ohne Ursache gepeinigt? Werden sie denn in Zukunft andere Wege wandeln? Wir wissen doch, daß die Leiden nicht die Sünden der Juden abwaschen; sondern jene erbittern sich nur noch mehr und gießen die ganze Schale des Zornes über die Juden aus.
Wahrscheinlich hätte Abraham gern auf das Strafgericht verzichtet, und natürlich erst recht auf das „reiche Gut“, er, der seinen wahren Wert kannte und der mit Stolz zu dem Könige von Sodom sagte: „Ich hebe meine Hand auf zu dem Herrn, daß ich keinen Faden und nicht einmal einen Schuhriemen von der Beute nehme.“ Nein, er jagte nicht dem Reichtum nach, nicht für sich und nicht für seine Nachkommen. Also nicht, um ihn zu versöhnen, spricht Moses von dem reichen Gute, das unsere Väter aus Mizrajim führen sollten; sondern es scheint ein wichtiger Hauptpunkt seines persönlichen Programms gewesen zu sein.
Und ich beginne ihn und sein System zu verstehen.
Es ist nicht anzunehmen, daß unsere Väter[S. 84] in Mizrajim ein großes Volksvermögen besessen haben. Wir kennen ja die ökonomische und finanzielle Lage jenes Landes nicht genau, aber wenn wir nach ihrer Staatsordnung urteilen sollen, die auf Sklaverei und auf eine eigentümliche Bürokratie gegründet war, war sie nicht besonders glänzend. Ein auf so faulen Grundlagen beruhender Staat konnte nicht reich werden. Ein freies Volk wird reich, es arbeitet für sich und fürchtet weder die Konkurrenz von außen noch Schwierigkeiten im Innern; aber ein faules und dem Trunk ergebenes Volk, das sich auf seine Knechte verläßt, kann nicht reich werden. Und wenn die Ägypter selbst so waren, konnten die Juden, ihre Sklaven, nicht wohlhabend sein. Wir wissen auch, daß das Volk hart und der König starrsinnig war; und in einem solchen Lande, wo der Judenhaß von allen Seiten drängt, von oben nach unten und von unten nach oben, von rechts nach links und von links nach rechts, wo sich die Führer des Volkes bemühen, die Juden vom Handel, ja überhaupt von jeder Arbeit und Beschäftigung fernzuhalten — gab es da irgendeine Möglichkeit, zu Wohlstand zu kommen? Für mich ist es unzweifelhaft, daß das Volk im ganzen, in seinen breiten Schichten, ein ganz armes Volk war, jedoch, wie immer im Exil, mit einem kleinen Häuflein von sehr reichen Leuten, denen es aus verschiedenen Ursachen, durch ein Zusammentreffen[S. 85] verschiedener günstiger Umstände, geglückt war, ein großes Vermögen zu erwerben, „reiches Gut“ in ihren Händen zu sammeln.
Und dieses reiche Gut war für unser Volk höchst notwendig. Nicht nur, um es aus Mizrajim hinauszuführen; noch mehr, um es nach Erez-Israel hineinzubringen und es dort festzusetzen. Denn aus Mizrajim zu ziehen, war ja noch nicht der schwerste Teil der Aufgabe. Und Moses befürchtete, und mit Recht, daß die Reichen in Israel, die wenigen Glücklichen und vom Schicksal Begünstigten, die trotz aller beschränkenden Gesetze Zeit genug gefunden hatten, um reich zu werden und ein schönes Vermögen zu sammeln, daß diese nicht einverstanden sein würden, auszuwandern, und erklären würden, sie wollten in Mizrajim bleiben. Und die Ersparnisse der Arbeit von 410 Jahren, die Früchte der schweren Mühen eines ganzen Volkes durch viele Geschlechter würden im Lande des Elends geblieben sein, das Volk aber hätte mit leeren Händen in sein neues Land kommen können. Mit leeren Händen gehen, mit leeren Händen kommen; mit leeren Händen aber ist es schwer, es vorwärts zu bringen.
Und darum begann er vom ersten Tage an, wo er kam, um dem Volke im Namen der zukünftigen Erlösung, im Namen des Vaterlandes zu sprechen, darum begann er von der ersten Sekunde an auf das „reiche Gut“ zu dringen, mit[S. 86] dem sie aus Mizrajim ziehen sollten. Und ich stelle mir vor, daß das auf das große Publikum, auf das Volk, sogleich Eindruck machte. Das Volk hörte mit Begeisterung seine neuen Worte, die Verkündigung der Erlösung, und „das Volk glaubte und hörte, daß Gott der Kinder Israels gedachte und ihr Elend ansah“. Das Volk glaubte, das Volk hoffte. Aber auf die großen Kapitalisten wirkte die Sache nicht so schnell. Sie standen abseits; und es dauerte noch lange, Tage und Jahre, ehe man einsehen lernte, daß die reiche Bourgeoisie nicht so einfach beiseite geschoben werden könne, daß auch sie zum Volke gehöre und der Erlösung wert sei wie das ganze Volk. Noch länger aber währte es, bis die alten Reichen begriffen, daß auch sie eine Erlösung nötig hatten, so wie das ganze Volk, und daß ihnen ihr reiches Gut am Tage des Gerichtes nichts helfen würde. Wenn sie sich nicht beeilen würden, aus dem Lande zu ziehen, wenn sie sich nicht rechtzeitig vor dem Tage des Gerichts eine Ruhestätte inmitten ihres Volkes bereiten würden — da müßte langsam, langsam auch ihr Gut zergehen und ihr Reichtum ein Ende nehmen.
Es brauchte lange, ehe man all das verstand. Und in dieser Zwischenzeit scheint es, daß unser Volk in gänzliche Armut geriet. Die Reichen, die am Beginn von Moses Propaganda sehr reich gewesen waren, hatten vermutlich Verluste gehabt...[S. 87] Und nun sahen sie ein, daß sie entrinnen müßten, der mit einem bißchen Gut und jener mit einem bißchen. Und das Volk zog aus Mizrajim mit großer Hoffnung auf den Gewinn von Erez-Israel. Vielleicht war so mancher Reiche unter ihnen, der nicht aus ganz freiem Willen ging, nur als ob ihn ein böser Geist triebe. Und diese waren gewiß der Erlösung nicht so ganz würdig. Und trotzdem reut es mich auch ihrer nicht; sie waren im Volk aufgelöst und ihr Vermögen blieb in Israel. Wäre es denn besser, sie wären mit ihrem Besitz in Mizrajim geblieben und die Ägypter wären auf jüdische Kosten reich geworden? Mit ihrem Gelde hätten sie Pferde und Wagen gerüstet, ihren Brüdern nachzujagen.
Und wir müssen zur Ehre unseres Volkes sagen, daß wie damals auch jetzt nur ganz wenige Leute von diesem Schlage unter uns sind. Viele unserer Reichen sind vielleicht zu sehr zugeknöpft; aber sie sind doch umgängliche Leute, intelligent und in ihrer Art auch dem Volke getreu. Nach meiner Meinung sind sie alle der Erlösung würdig — daß sie aber eine Erlösung brauchen, das ist über jeden Zweifel erhaben.
Und ich billige das System Moses. Ich billige seine Erinnerungen und Mahnungen betreffs des „reichen Gutes“: „Und dann werden sie ausziehen mit reichem Gute!“
Aber, wahrhaftig, Moses Programm beginnt[S. 88] sich zu verwirklichen. Unsere Jugend, die noch vor kurzer Zeit unsere Bourgeoisie so tief verachtet hat, ist schon klüger geworden und hat eingesehen, daß das Kapital für uns sehr wichtig ist. Und ich wage zu glauben, daß auch der jüngste Arbeiter, der erst heute zu arbeiten begonnen hat, die bürgerlichen Gäste, die nach Erez-Israel kommen, mit Liebe empfängt. Und was noch wichtiger ist, die Reichen selbst, und gerade die Besten unter ihnen, sind zu der Einsicht gekommen, daß ihnen eine Erlösung nottut. Daß es sich lohne, „mit reichem Gute“ nach Erez-Israel zu gehen; daß es richtig sei, dort für sich selbst und für das Volk etwas zu unternehmen.
Und sie kommen wirklich. Wenn nicht mit reichem Gute — das Vermögen ist einstweilen noch im Ausland —, die Kapitalisten selber kommen schon. Wir wollen hoffen, daß das Programm Moses, wie es sich zu verwirklichen beginnt, auch gänzlich durchgeführt wird. Die Kapitalisten werden sich nicht damit begnügen, daß sie selbst das Land bereisen; im nächsten Jahre werden sie samt dem „reichen Gute“ kommen.
Wer anfängt mit der Erlösung, dem sagt man: Vollende!
Um vielerlei guter Werke willen ward Israel aus Ägypten erlöst: weil sie ihre Namen nicht verändert hatten und ihre Sprache nicht aufgaben und ihre Geheimnisse nicht verrieten und an der Beschneidung festhielten.
Die Geschichte Pharaos gleicht der Geschichte jenes Sklaven, dem sein Herr auftrug, auf dem Markte einen Fisch zu kaufen und der einen stinkenden Fisch nach Hause brachte. Sprach der Herr: Entweder wirst du selbst den Fisch essen oder du bekommst hundert Peitschenhiebe oder du zahlst den Fisch. Sprach der Sklave: Ich will ihn essen. Aber kaum begann er zu essen, da ward ihm übel davon und er sprach: Ich will geschlagen sein. Noch hatte er nicht fünfzig von den hundert Peitschenhieben, da rief er: Ich zahle lieber den Preis. So hatte er den stinkenden Fisch gegessen und war geschlagen worden und mußte obendrein zahlen. So auch Pharao. Erst wollte er die Kinder Israel nicht entlassen, wie Gott verlangte, nachher erlitt er die zehn Plagen und mußte den Juden Kostbarkeiten mitgeben und sie doch wegschicken.
Als die Ägypter im Meer versanken, wollten Gottes Engel Triumphgesänge anstimmen. Da sprach Gott: Die Geschöpfe meiner Hände versinken im Meer und ihr wollt Lieder singen vor mir?
Das Opfer wurde in drei Abteilungen geschlachtet. Denn es heißt: Und schlachten soll es die ganze Gemeinde der Versammlung Israels zwischen den Abenden. „Gemeinde“ ist eins und „Versammlung“ eins und „Israel“ eins. Trat die erste Abteilung ein und hatte sich der Tempelvorhof gefüllt, so schloß man die Türen des Vorhofs. Sie stießen in die Posaune und erhoben ein Freudenjauchzen und stießen dann abermals in die Posaune.
Die Priester aber standen reihenweise und hielten in den Händen silberne Schalen und goldene Schalen; eine Reihe hatte lauter silberne Schalen und eine Reihe hatte lauter goldene, und nicht waren sie gemischt. Und die Schalen hatten keine flachen Böden, damit sie sie nicht hinstellen könnten und das Blut so gerinne.
Hatte ein Israelit geschlachtet und der Priester das Blut in der Schale aufgefangen, so gab er sie seinem Nachbarn und sein Nachbar wieder[S. 91] seinem Nachbarn; der nahm die volle Schale in Empfang und gab die leere zurück; der Priester, der dem Altar am nächsten stand, sprengte sie mit einer Sprengung gegen den Grund des Altars.
Ging die erste Abteilung hinaus, so trat die zweite ein; ging die hinaus, dann trat die dritte ein. Und nach der Weise der ersten Abteilung traten die zweite und dritte.
Sie lasen das Hallelgebet. Wenn sie zu Ende waren, so wiederholten sie es; wenn sie es wiederholt hatten, lasen sie es zum drittenmal; doch kam es hierzu niemals. Rabbi Juda sagt: Niemals kam die dritte Abteilung bis zu den Worten: „Ich liebe es, denn der Herr erhört“, weil bei dieser Abteilung nur mehr wenig Opfernde waren.
Wie hängten sie die Peßachopfer auf und häuteten sie ab? Haken aus Eisen waren in die Wände eingeschlagen und in die Säulen, an denen sie aufhängten und abhäuteten. Für die, welche keinen Platz mehr fanden, waren dünne, glatte Stäbe und man legte einen auf seine Schulter und auf die Schulter seines Nachbarn und hängte daran auf und häutete ab.
Man riß das Peßachlamm dann auf und nahm seine Opferteile heraus, legte sie in eine Schüssel und ließ sie in Rauch aufgehen auf dem Altar.
So wie Marcus, römischer Konsul, Richter der Juden, der zur Zeit des zweiten Tempels in Jerusalem weilte, es selbst gesehen und beschrieben hat.
Folgendes ist die Ordnung des Peßachopfers, wie ich es zum Teil selbst gesehen, im übrigen aber genau gehört habe:
Zu Beginn des Monates, der bei ihnen Nissan heißt, gehen Boten und Gesandte im Auftrage des Königs und der Richter nach allen Gegenden um Jerusalem an alle Besitzer von Schafen oder Rindern mit dem Befehl, ihr Vieh schleunigst nach der Stadt zu bringen, damit die Peßachpilger ausreichend Opfertiere und auch Speise finden; denn des Volkes ist sehr viel. Wer aber nicht zur rechten Zeit kommt, dessen gesamter Besitz wird zugunsten des Tempels eingezogen. So ziehen denn alle Besitzer von Herden eiligst heran und lassen ihr Vieh durch den Bach nahe der Stadt gehen, um es zu baden und von allem Schmutz zu säubern. Denn sie wenden hierauf ein Wort Salomos an: „Von der Schwemme kamen sie.“ Wenn sie an die Berge rings um Jerusalem kommen, sind ihrer so viele, daß man[S. 93] das Gras nicht mehr sieht: alles ist weiß von dem Schimmer der Vließe. Und wenn der zehnte Tag kommt — am vierzehnten bringt man das Opfer dar —, gehen alle hinaus, um das Opfertier einzuhandeln (sie nennen es Peßach).
Wenn sie aber zur Vollbringung des Dienstes hinausgehen, sagt nie einer zum andern: „Trolle dich fort!“ oder „Mach Platz, daß ich vor dir an die Reihe komme!“ Und wäre selbst einer ihrer Könige, Salomo oder David, der letzte daran. Als ich ihre Priester darauf hinwies, daß das doch ungehörig sei, sagten sie mir: „Das soll andeuten, daß vor Gott kein Stolz und Rang gilt, weder während der Vorbereitung zum Dienst noch — erst recht — beim Dienste selbst. Da sind alle vor ihm gleich zum Guten.“
Wenn nun der vierzehnte Tag des Monats anbricht, steigen sie auf einen hohen Turm im Tempel (die Hebräer nennen ihn Lul), der erbaut ist wie bei uns die Glockentürme. In den Händen tragen sie drei silberne Trompeten, auf denen sie blasen; dann verkünden sie laut rufend: „Volk Gottes, höre, die Zeit ist gekommen, das Peßachopfer zu schlachten zu Ehren dessen, der seinen Namen im Heiligtume ruhen ließ!“ Und wenn das Volk diese Ankündigung hört, zieht es Festgewänder an; denn von Mittag an ist für alle Juden Feiertag.
An einem Eingang der großen Halle im[S. 94] Tempel stehen von außen zwölf Leviten mit silbernen Stäben und zwölf von innen mit goldenen Stäben. Die von außen haben die Kommenden zu beruhigen und zu dirigieren, damit niemand durch zu große Hast zu Schaden komme und nicht alle auf einmal herzudrängen und in Streit geraten. Es ist nämlich einmal vorgekommen, daß am Peßach ein alter Mann mitsamt seinem Opfer in dem großen Gedränge erdrückt wurde. Die Leviten aber, die innen stehen, haben die Hinausgehenden zu beaufsichtigen, damit sie nicht stoßen. Auch schließen sie die Tore der Halle, wenn sie sehen, daß mehr Leute hineinkommen als zugleich Platz haben.
An der Schlachtstelle aber stehen viele Reihen von Priestern mit silbernen und goldenen Schalen in Händen. Wenn eine Reihe mit Silber beginnt, ist sie durchaus mit Silber, wenn mit Gold, ist sie durchaus mit Gold: so ist es um der Pracht und der Schönheit willen. Jeder einzelne von den Priestern schöpft eine Schale Blut vom Schlachttier und reicht sie dem nächsten, dieser reicht sie weiter und so fort bis an den Altar. Der letzte aber am Altar reicht die Schale leer zurück, der nächste reicht sie weiter und so fort, bis jeder Priester eine volle Schale bekommen und eine leere Schale zurückgegeben hat. Das geht ohne jede Unterbrechung und Aufenthalt,[S. 95] denn sie sind in dieser Verrichtung flink und gewandt, so daß die Schalen hin- und herlaufen wie Pfeile vom Bogen eines Kriegers. Sie haben sich ja schon dreißig Tage vorher in dieser Arbeit eingeübt und genau darauf geachtet, wo etwa eine schwache Stelle wäre.
Dort stehen auch zwei hohe Säulen, auf denen zwei Priester mit silbernen Trompeten postiert sind. Sie blasen zu Beginn der Opferhandlung, um den Priestern auf der Kanzel ein Zeichen zu geben, daß sie den Lobgesang anstimmen mit klangvollen und dankerfüllten Tönen, mit allen Musikinstrumenten; an diesem Tage werden alle Instrumente verwendet. Auch der Opferer fällt in den Lobgesang ein. Ist das Opfer aber noch nicht beendigt, so wird der Lobgesang nochmals angestimmt.
Nach dem Schlachten geht man hinaus in die Hallen; dort sind die Wände ringsum mit eisernen Haken und Zinken versehen, an denen man das Opfertier aufhängt, um es abzuhäuten. Auch viele Stäbe gibt es dort; denn falls kein Haken frei ist, nimmt man zum Abhäuten einen Stab. Sodann gibt man ab, was für den Altar gebührt, und geht leichten und fröhlichen Mutes fort, wie ein Sieger im Kampf. Denn das Peßachopfer nicht zur rechten Zeit dargebracht zu haben, gilt als ewige Schande.
Die Priester tragen während dieser Diensthandlung[S. 96] rote Gewänder, damit man das Blut nicht sieht, das auf sie spritzt. Das Kleid ist kurz und reicht nur bis zu den Knien, sie sind auch barfuß und ihre Ärmel reichen nur bis zum Oberarm, alles, damit sie während der Verrichtung nicht behindert sind. Auf dem Haupte tragen sie eine hutartige Mütze, um die drei Ellen Tuch wie ein Turban gewunden sind. Der Hohepriester aber hat, wie man mir gesagt hat, einen vierzigfach gewundenen weißen Turban. Die Öfen, in denen das Opfer gebraten wird, sind nahe dem Eingang; man erklärte mir, dies diene dazu, den Glauben und die Freude an dem Feste recht öffentlich und allgemein zu machen. Wenn es gebraten ist, essen sie es mit Singen und Jubeln; noch aus der Ferne hört man ihre jauchzenden Stimmen. Und in den Peßachnächten werden wegen der vielen Fremden an keinem Tore von Jerusalem die Türen geschlossen; die Juden sagen, zu Peßach seien doppelt so viel Menschen da, als aus Ägypten zogen.
Von Mendele Mocher Sforim.
Im Monat Adar, sagt der Talmud, freut man sich. Der Schnee schmilzt, auf allen Wegen liegt tiefer Schmutz und ehrliche Juden, abgerissen und schmierig, beginnen nachzudenken, woher sie Geld für die Peßachfeier nehmen sollen — die Zeit unsrer Freude ist da!
Um diese Zeit erhielt ich einen Brief von einem Glupsker Bekannten, ich solle doch ja so bald als möglich zu ihm kommen, mit Sack und Pack, mit dem Planwagen und den Bücherbündeln, um einen Tausch zu machen: er wolle mir für meine alte Ware neue geben, Sammelbücher, Unterrichtswerke, Gedichte, Bilder und Skizzen, hochinteressante Romane, psychologische, ökonomische und soziale Erzählungen, dazu feine und kunstvolle Gegenstände von mancherlei Art, Chanukahlampen und dergleichen mehr. Mein Bekannter in Glupsk betreibt vielerlei Geschäfte mit wenig Segen. Er ist Buchhändler und Makler und auch ein Stückchen von einem Schriftsteller und Verleger, und dazu ein armer Teufel, das aber in reichem Maße. Um ehrlich zu sein: ich habe sein Anerbieten nicht ganz ernst genommen,[S. 98] denn ich wußte ja, daß er im Notfall — er nehme es mir nicht übel — ein Lügner sei, wie das ja oft bei Kaufleuten so geht, die in Kauf und Verkauf das Maß „verbessern“: ihre Ware ist pures Gold, die des andern schlechtes Blech.
So habe ich also von seinem Briefe, der die alte Ware in Grund und Boden verdammte und die neue über den grünen Klee lobte, nicht viel Aufhebens gemacht. Dann aber überlegte ich, daß es am Ende doch so übel nicht wäre, nach Glupsk zu fahren. Wozu sollte ich meine Ware so lange festhalten? Wohl möglich, daß die andere schlechter, daß sie ganz wertlos war; aber besser oder schlechter — man muß handeln. Mag der Besen schlechter sein — wenn er nur neu ist!
Ich beschloß also, schleunigst abzureisen, um noch zu Purim nach Glupsk zu kommen und die berühmten Glupsker Purimspieler zu sehen. Alle Tage des ganzen Jahres sind sie arme einfältige Gesellen, zu Purim aber sie sind klug und geistreich, und Wortspiele fallen da wie die Tropfen wenn es regnet. Es war mir aber nicht beschieden, da ich noch einige Zeit daheim verweilen mußte. Als ich dann so weit war, gedachte ich zu Peßach wieder daheim einzutreffen. So sorgte ich noch vor der Abfahrt dafür, mein Haus mit all den guten Dingen zu versehen, die man zu diesem Feste braucht. Ich empfahl meiner Frau, um Gottes willen an nichts zu sparen, nicht an Rosinen[S. 99] und nicht an Wasser, und einen Rosinenwein zu bereiten, den ein König nicht verschmähen müßte. „Und kaufe auch einen Sack Kartoffeln und Gänseschmalz und einen recht wohlgenährten Truthahn. — Wie? Das Geld wird nicht reichen? Darum mache dir nur ja keine Sorgen. Versetze deinen Schmuck, das oder jenes Einrichtungsstück; Gott wird hoffentlich mit mir sein, und wir werden, wenn ich in Frieden heimkehre, ein fröhliches Peßachfest feiern, Rosinenwein mit Lakritzen trinken und lustig sein.“
So wurde alles besorgt. Allein Gott sandte Regen und Schnee über die Welt, ein Gemisch von Wasser und nassen Eiskörnern, und der Weg wurde unwegsam für Wagen und Schlitten, zu Pferd wie zu Fuß. Ich schleppte mich mit Mühe und Not eine Viertelmeile täglich vorwärts. Jeder Schritt kostete mein armes Pferdchen blutigen Schweiß. Es schleppte sich ein paar Schritte, fiel, stand auf, ging wieder ein paar Schritte und fiel abermals. Und ich Unseliger stapfe nebenher durch den Morast, beschmutzt vom Kopf bis zum Fuß wie ein Teufel, gleite aus und falle, falle und ächze.
Ich ächzte nicht nur für mich, sondern auch für mein Pferd. Wie kam mein armes Pferdchen dazu, sich so quälen zu müssen? Und wem zuliebe mußte es sich quälen? Mir zuliebe, der ich mit einem Schlage alle alten Ladenhüter los werden[S. 100] wollte. Einen ganzen Wagen hatte ich damit angestopft, mehr als das arme Tier erzog, ohne Mitleid, ohne einen Gedanken an seine Qual.
Solange es seine Leiden noch ertrug, ging und fiel, fiel und aufstand, sich fast aus seiner eigenen Haut zog und doch ging, stellte ich mich gefühllos, zeigte ihm die Peitsche, rief und schalt. Als aber das Pferdchen endlich ganz und gar in einen Sumpf geriet, irgendwo unter einem Berge, sich im Schmutz ausstreckte, so lang es war, die Füße von sich spreizte und liegen blieb, ohne auch nur ein Glied noch zu rühren, da meldete sich mein jüdisches Herz mit einer Moralpredigt: Du törichter, dummer Kerl, du nimmst eine ehrliche Kreatur und verkümmerst ihr das Leben mit schwerer Arbeit, mit unendlichen vielen schweren Bündeln von Büchern, von Makulatur! Alles hat doch Maß und Ziel! Ziegel und Steine kann man nur bis zu einem bestimmten Maße einem Pferd aufladen, sonst erträgt es sie nicht; und du hast deinem Pferdchen, einem elenden Geschöpfe, die ganze Masse der Jüdischkeit, das ganze Joch aller jüdischen Bündel aufgelegt! Was ist das Ende? Das gute Wesen plagt sich, keucht, reibt sich auf, kann sich nicht mehr vom Fleck rühren und ringt mit seiner Seele. Schau es an, wie es daliegt, ohne ein Lebenszeichen zu geben. Wie ein toter Körper!
Doch was hilft das alles, was nützt Leid und[S. 101] Reue? War es zuerst wie ein toter Körper, so war es nachher wirklich und wahrhaftig einer. Mein Pferdchen war verendet!
Dort und damals war ich wie ein Kapitän, dem sein Schiff mitten im Meer untergeht. Allein und verlassen stand ich mitten auf der Straße und ein Meer von Schmutz dehnte sich um mich herum. Das Pferdchen lag tot im Sumpf, der Wagen steckte bis über die Achsen im Morast; und morgen ist Erew Peßach, und in meiner Seele ist’s bitter und trüb. Was sollte ich tun? Aber ein Jude hat doch einen Gott; wenn es schon ganz schlimm wird, erinnert man sich seines lieben Namens. So tat auch ich. Es war die Zeit des Minchah-Gebetes. So wandte ich denn mein Angesicht gen Osten, sagte „Pithum Haktoreth“ und betete langsam und mit Inbrunst, so lange, bis die ersten Sterne aufschimmerten. Der Heilige, gepriesen sei er, hörte mein Gebet, zeigte mir etwas wie ein fernes Feuer und gab mir den Gedanken ein, dorthin zu gehen, wo es leuchtete. So kroch ich auf Händen und Füßen lange zwei Stunden, bis ich auf eine Hütte stieß, wo einer am Waldesrand wohnte. Der Mann blickte mich zuerst wild an, als er aber sah, daß ich in Furcht und Zagen vor ihm stand und den Kopf hängen ließ, wurde er weicher und gewährte mir Gastfreundschaft. Er bewirtete mich mit gebratenen Kartoffeln und einem Glas Tee und wies mir zur[S. 102] Nacht einen Platz im Schuppen an. Am andern Morgen bat ich ihn dringend, ein Paar Ochsen an meinen Wagen zu spannen und mich nach Bojberik zu fahren, was die nächste Stadt war. Dafür erlaubte ich ihm, außer seinem Lohn, das Fell meines toten Pferdchens abzuziehen und noch als Andenken die Hufeisen zu behalten. Ich tat das des Friedens wegen. Er sollte nicht sagen, daß man einem Juden nichts Gutes erweisen dürfe, weil er nicht zu danken verstehe.
So kam ich in der Abenddämmerung nach Bojberik, als keine lebende Seele mehr auf der Straße war; groß und klein war bereits in den Bethäusern versammelt. Aufrichtig gesagt, war mir das sehr angenehm; ein Jude steckt doch gern in alles seine Nase, will alles mit der Hand anfühlen, ein Jude will doch alles wissen. Und nun kam ich, ein bekannter Jude, Mendel der Buchhändler, mit einem Paar Ochsen dahergefahren! Natürlich würde man mit Kind und Kegel zusammengelaufen sein und mir einen festlichen Empfang mit Hoch und Hurra gemacht haben. Ich bin aber doch ein einfacher Jude, ein gewöhnlicher Mensch, und scheue soviel Ehre.
Ich habe in Bojberik einen Bekannten und guten Freund aus alten Tagen her; er ist Buchhändler wie ich und in allen Orten, wo Juden wohnen, wohlbekannt unter dem Namen Hendel Bojberiker aus Bojberik. Vor Hendels Haus ließ[S. 103] ich mich führen. Während des Fahrens hatte ich Zeit, mich in Gedanken zu versenken. Ochsen sind bekanntlich keine Schnelläufer, sie gehen Schritt vor Schritt, bedächtig, langsam, ohne Eile, wiederkäuend. Ich saß im Wagen und kaute auch nochmals alle die Begebenheiten durch, die mich unterwegs getroffen hatten. Ich sinnierte und sehnte mich nach meinem Haus, nach Weib und Kindern. Das Herz tat mir weh, da mir das Fest zerstört war, da ich nicht wie ein König neben meiner Königin obenan sitzen würde. Ich gedachte auch des Truthahns: wahrscheinlich war es ein fetter, feiner Truthahn, ein wahres Labsal! Und ich sehnte mich inniglich... Die Ochsen tappten, krochen durch Gassen und Gäßchen, bis sie endlich vor Hendels Haus stehen blieben.
Eine Weile stand ich mit beklommenem Herzen vor der Tür. Ich stand wie ein Armer an der Tür des Reichen: „Werde ich ihn nicht bei schlechter Laune antreffen? Wird er mich nicht scheel ansehen?“ Aber was tut nicht ein Jude vor Not? Vor Not bemüht er sich um fremde Menschen, vor Not wird er ein Gast. Ich fasse mir Mut, strecke die Hand aus und öffne die Tür, öffne sie leise und langsam, und sie knarrt. Ich drücke leise und sie knarrt, als ob sie etwas zu fordern hätte. So kam ich in den finstern Hausflur; und alsbald regten sich die Leute und machten mir einen Empfang: sie empfingen mich mit[S. 104] lautem Freudengeschrei und wie berauscht vor Wonne. Ich konnte gar nicht verstehen, was mit ihnen los war. Eins läuft in die Stube hinein und ruft: „Gekommen!... Er ist da, er ist da!“ Ein zweites schreit ganz außer Atem: „Ein Licht, ein Licht, steckt ein Licht an!“ Ich höre eine Frauenstimme, zuckersüß, voll Anmut und Liebenswürdigkeit, und eine Frau kommt herausgeeilt, umarmt, küßt und halst mich — beinahe. Sie schwatzt, spricht liebe- und vorwurfsvolle Worte durcheinander, freut und erbost sich zugleich:
„Welcher Gast, welch seltener Gast!... Weshalb kommst du so spät? Bin ich nicht auch so gut wie andere Leute?“
Ich stand verdonnert da, wie ein Nachtwandler, aber als ich endlich den Mund auftat und antworten und erzählen wollte, was mir passiert war, entzündete man eine Kerze — und wir standen alle erstarrt und mit offenem Munde da wie Golems. Wahrhaftig, eine schöne Szene!
Die Sache verhielt sich so: Hendel war auf Geschäftsreisen gegangen. Er sollte zu Sabbath Hagadol, dem Sabbath vor Peßach, heimkommen und war nicht eingetroffen. Da war seine Familie sehr traurig gewesen. Als ich nun in der Dunkelheit eintrat, dachten die Kinder, es sei der Vater, und die Frau glaubte, ihr Mann sei zu Peßach gekommen; da gab es Freude und Aufruhr, als[S. 105] sie aber den Irrtum merkten, blieben sie mit aufgerissenen Augen und Mündern stehen.
Auch der Frau Hendels war das Fest zerstört, da ihr Mann zu Peßach nicht da war und sie keinen König hatte. Andererseits aber dankte sie Gott und pries seinen Namen, daß er ihr doch einen bekannten Menschen beschert hatte, den Seder zu halten. Sie geleitete mich zu dem Hessebett und „machte mich zum Könige an Hendels Statt“.
Auch ich dankte dem Höchsten und lobte ihn, der an mir Wunder getan hatte. Er hatte mich aus der ruhelosen Verbannung nach Bojberik gebracht, daß ich wie ein König dasaß, Bitterkraut und Eier und Fisch und Knödel aß und für Hendel und Hendels Weib die Hagadah las, mit lautem Preis und Lobgesang: Hallelujah!
Jedoch nicht an mir allein geschah solch ein Wunder, daß ich, ungeahnt, wie ein König dasaß.[S. 106] Wie ich einige Tage später erfuhr, war auch Hendel dasselbe Wunder, derselbe Peßach zuteil geworden.
Hendel Bojberiker hatte seinen Wagen mit Büchern vollgepackt und war von Bojberik abgefahren, wie er alljährlich vor Peßach zu tun pflegt. Und so geschah Hendel dasselbe, was Mendel geschah: Schnee und Regen, Sumpf und Morast, Pfützen und Gräben, Kummer und Leiden den ganzen Weg entlang. Auch sein Pferd ging und fiel, stürzte und wälzte sich im Schlamm. Und wenn es mit dem Leben davonkam und nicht umkam, so verdankte es das wahrhaftig nicht seiner Heldenkraft, denn es war dürr und ausgemergelt, hinkte und hatte eine Beule auf dem Auge — mein Pferdchen war nach aller Meinung im Vergleich zu jenem gesund und schön. Nur ist der Morast in den Gegenden, durch die Hendel kam, dünner und verursacht nicht so unglückliche Folgen wie der dichte Sumpf um Bojberik und Glupsk. So zog Hendel langsam mit seinem Pferdchen dahin, kroch mit Mühe und Not vorwärts und gelangte genau am Erew Peßach nach Kabzainsk. So fuhr er noch am Abend vor mein Haus, hielt ganz fein bei meiner Frau den Seder, saß auf meinem Hessebett und war König an meiner Statt, glücklich und zufrieden, daß Gott ihm einen Ruheort gegönnt hatte.
Das erzählte mir Hendel selbst, als wir einander[S. 107] nach dem Feste in der Hälfte des Wegs begegneten; und wir krümmten uns vor Lachen, als wir von dem Tausch erfuhren. Aber als ich begann, ihm von meiner Reise nach Glupsk zu erzählen, um dort alte Bücher für neue zu tauschen, zog er ein saures Gesicht, schüttelte bedenklich den Kopf und sagte dann: „Du magst Gott danken, daß du mit dem Pferdchen davongekommen bist. Ein ganz schöner Sündenbock!“
Ich sah ihn groß an. „Was siehst du mich an, Mendel?“ rief er. „Ich sage dir: wohl dir, daß dein Pferdchen umgekommen ist! Denn so bist du vor der Reise nach Glupsk und vor einem übeln Geschäft behütet worden. Du kannst zufrieden sein, daß es dir nicht gelungen ist, jene Ware zu kaufen. Ich beneide dich: du darfst jetzt hoffen, den Buchhandel ganz los zu werden. Zum Teufel mit den Scharteken, alten und neuen! Wie gut wäre es, hätte auch mein Pferdchen ein böses Ende genommen, ja, womöglich schon vor einem Jahre! So hätte ich von der neuen Ware nichts gewußt und hätte mein Geld nicht verloren. Nein, Mendel, ich wiederhole dir: es ist ein Glück für dich, daß dein Pferdchen verreckt ist.“
Wenn ihr aber glaubt, Hendels Zorn sei echt gewesen, so seid ihr im Irrtum. Hendel handelt noch immer mit Büchern wie seit jeher, und auch ich bin ein Buchhändler geblieben wie zuvor. Ja, damals, mitten auf dem Weg, als Hendels Zorn[S. 108] ein wenig verflogen war, haben wir stehenden Fußes einen Tausch gemacht: ich gab ihm philosophische Bücher, Artikel und Predigten, und er gab mir Klagelieder und Trauergesänge. Denn für Klagelieder und Trauergesänge war die Zeit gerade recht: es ging gegen den Frühling, überall fing es an zu grünen und zu sprießen, und unsere jüdischen Brüder bereiteten sich zu Klagen, Weinen und Fasten.
Aus einem Gespräch mit ihrem Hohepriester.
Wir feiern das Peßachfest sieben Tage lang. Der erste und der siebente Tag sind Feiertage, wo wir wie am Sabbath von jeder Arbeit ruhen, die Tage dazwischen sind Halbfeiertage. Unsere Mazzoth backen wir für jeden Tag neu, und zwar auf einer Bratpfanne; wir lassen sie nicht säuern, Salz aber tun wir hinein, denn Salz ist einer der sieben Bünde, die Gott mit Israel schloß. Es heißt ja: „Laß Salz nicht fehlen, den Bund deines Gottes.“
Die sieben Tage lang wohnen wir alle in Zelten auf dem Berge Garisim, jede Familie in einem besonderen Zelt, und da ist noch ein großes Zelt für die ganze Gemeinde. Bei Sonnenuntergang am Erew Peßach bringen wir das Peßachopfer auf dem Altare, der jedes Jahr für diesen Zweck errichtet wird. Zuerst erklären wir Priester der Gemeinde in hebräischer und arabischer Sprache den Sinn und die Entstehung des Festes, dann beten wir ein besonderes Gebet in arabischer Sprache für unsern König und Herrn, den Sultan. Dann schlachten die Schlächter die Schafe, von jeder Familie eins. Wenn die Tiere abgehäutet,[S. 110] die Gedärme und die Spannader herausgenommen und Salz daran getan ist, wird ein hölzerner Spieß durch das Maul durchgestoßen. So wird das Opfer in eine große Grube gelegt, die im Berge ausgegraben ist und worin Feuer angezündet wird. Die Öffnung der Grube wird dann mit Lehm verschlossen und das Peßachopfer darin drei Stunden lang gebraten, das Haupt mit den Schenkeln und Eingeweiden. Um Mitternacht aber essen wir es mit Lied und Gesang. Und du magst mir glauben, mein Freund, daß es herrlich schmeckt wie Manna, besser als alles Gebratene und jede köstliche Speise, die man an jedem beliebigen Tage bereiten kann. Und doch ist unser Peßachopfer nur wie eine Ahnung von dem wahren Peßachopfer, das wir darbrachten und das wir wieder darbringen werden, wenn das Heiligtum an seinem Platze errichtet sein wird.
Am Morgen des Festtags herrscht eitel Freude bei uns; einer bittet den andern um Vergebung alles Unrechts, damit Liebe und Freundschaft unter uns sei. Und im Gemeindezelt trinken wir Wein und essen süße Speisen, um den Tag recht zu feiern. Am Morgen nach dem Feste aber kehren wir nach Sichem heim, wie es in der Thorah heißt: „Frühmorgens sollst du dich wenden und in dein Zelt kehren.“
Von S. J. Agnon.
Als Jechiel-Michal, der Schuldiener, mit seiner heiligen Arbeit fertig war und aus dem alten Beth-Hamidrasch trat, um nach Hause zu gehen, war er besonders froh: Gott sei Dank, nun war die Zeit der vielen Vorbereitungen zum Feste vorbei, die mannigfachen Lasten, die Gott ihm auferlegt hatte, waren von ihm genommen; nun konnte auch er etwas von der Festfreude spüren und, nach Gottes Gebot, einen Seder machen, wie jeder Mann in Israel.
Aber als er so stand und die Tür des Beth-Hamidrasch verschloß — über ihm leuchtete das Licht dieses Abends —, da erfaßte ihn eine leichte Kühle und fast begann er, an allen Gliedern zu zittern. Und Jechiel-Michal versuchte das Schloß, sperrte auf und zu, zu und auf, um zu sehen, ob er richtig geschlossen hatte. Er nahm die Schlüssel in die Hand und ging in gedrückter Stimmung heim. Denn er hatte sich erinnert, wohin er ging, und ihm war schwer zumute. Einsam würde er in seinen vier Wänden sitzen, auf seinem zerrissenen Kissen, das schon so viele Jahre keine Frauenhand berührt hatte, um es[S. 112] zurechtzulegen; und so wie vorm Jahre würde er in der Hagadah lesen, deren Blätter von Wein befleckt sind — der Wein aber war an jenem Peßachabend aus seinem Becher getropft, als er das Fest bei seinem Schwiegervater, an der Seite seiner frommen seligen Frau gefeiert hatte. Er würde halbgare Gerichte verzehren, die er selbst erst mühsam anwärmen mußte; ach, wie schlimm ist es, wenn der Mensch allein ist!
Zwar hatten ihn viele wohlhabende und angesehene Leute eingeladen, an den Peßachabenden zum Seder bei ihnen zu bleiben. Seit Schuschan-Purim, dem Tag nach dem Purimfest, hatten sie ihm gesagt: „Wie kann nur ein Jude am Festtag einsam sitzen? Es ist ja ein Glück, Reb Jechiel-Michal, daß in dieser Nacht böse Geister keine Macht haben; trotzdem aber solltet Ihr die Freude unseres Befreiungsfestes nicht verschmähen, nicht verschmähen, Euch in den Frieden eines jüdischen Hauses zu begeben. Erscheint denn Euch dieses Fest als eine geringe und unwichtige Angelegenheit? Und wenn ein Jude einsam sitzt, ohne Familie, ohne Verwandte und Freunde, dann hüllt ihn Trauer ein, Gott bewahre uns vor ihr! Trauer ist die Hefe im Teig, sie ist der wahre Chamez. Und Chamez am Peßach: davor beschütze uns Gott!“
Nicht so aber war es mit Jechiel-Michal. Er ist ja nur ein Schuldiener, ein einfacher Schuldiener,[S. 113] macht Botengänge für Fremde: aber doch ist er ein Mann in Israel. Er würde seinen Feiertag nicht durch Trauer entweihen, er würde seine Welt nicht dadurch finster machen, daß er an einem fremden Tische säße. Er ist ein Jude, und auch er war unter denen, die aus Mizrajim zogen. Und seine Seele, das weiß Gott, stammt sicherlich und wahrhaftig nicht vom Erew-Raw, von dem ägyptischen Gesindel, das sich an die ausziehenden Israeliten hängte. Nur aber — die Hausfrau fehlte ihm.
Den ganzen Tag ist er im Dienste der Gemeinde beschäftigt, heizt den Ofen im Beth-Hamidrasch, zündet die Kerzen an und ordnet die Bücher; so geht der Tag vorüber und die Nacht kommt. Und am Abend, wenn er heimgeht, hungert ihn, ehe er sich etwas zum Abendbrot gekocht hat; denn er hat den ganzen Tag nichts gegessen, außer trockenen Dingen — höchstens einen Apfel. Und ein Jude soll ja jeden Tag etwas Gekochtes essen! Aber ehe er sich ein Gericht bereitet hat, vergeht ihm die Eßlust, und er ißt niemals mit Behagen.
So grübelte er im Gehen und litt darunter. Denn es ist ja ein gottgefälliges Werk, am Peßach, dem Feste der Befreiung, froh zu sein. Und er wußte, daß der Böse all diese Bitternisse über ihn gebracht hatte, nur um ihn in Traurigkeit zu verletzen. Und Jechiel-Michal spie aus, als ob —[S. 114] Gott bewahre! — ein Stäubchen Chamez in seinen Mund gekommen wäre und er es ausspucken wollte, noch während er es im Munde hatte.
Es war so. Die Hausfrau fehlte ihm, die Hausfrau. Und als er zu diesem Schluß gekommen war, nahm er die Schlüssel fest in die Hand und schritt rasch dahin, wie der Königssohn, der auf den Palast zueilt, wo seine Braut, die allerschönste Prinzessin, ihn erwartet.
Auf einmal aber öffnete sich vor ihm ein Fenster, und er hörte die Stimme einer Frau: „Guten Abend, Reb Jechiel-Michal!“ Und er erwiderte: „Guten Abend, Sara-Lea!“
Er dachte, sie wolle ihn nach dem Jahrzeittage ihres Mannes fragen. So blieb er ihr gegenüber stehen. Unmerklich aber gerieten sie ins Plaudern. Sie erzählte ihm, wie schwer das Peßachfest für sie sei. Sie habe ja zwar alle Vorbereitungen getroffen, es fehle nichts; aber schließlich sei sie ja doch bloß eine Frau. Sie besitze ja alles, was zur richtigen Feier des Seder gehöre; jetzt aber sei sie doch genötigt, sich an Fremde zu wenden. Und doch sei es genug, wenn sie das ganze Jahr ihre Nachbarn bemühe, wenn sie zu ihnen komme,[S. 115] um von ihnen, in ihren Häusern, Kiddusch und Hawdalah zu hören.
„Ich bitte Euch,“ begann Jechiel-Michal, „es ist doch eine Mizwah, eine gottgefällige Handlung, es ist eine verdienstliche Tat um Lebende und Tote.“
„Ach,“ sagte Sara-Lea, „Mizwah! Glaubt Ihr, solche fromme Handlungen seien so leicht? Ein Jude steckt den ganzen Winter über in seiner Arbeit, sieht Frau und Kinder keinen Augenblick; da kommt Peßach, da kommt ein bißchen Ruhe und Muße, da will er beisammensitzen mit Frau und Kind; niemand stört ihn — und plötzlich, am Seder, überfällt ihn eine elende Witwe. Gott bewahre mich davor, mit den Lippen zu sündigen — aber was soll ich sagen? Die Zeiten sind schlecht geworden, eine Schwäche ist über die Welt gekommen. Früher, in der alten Zeit... O, in der alten Zeit brachte ein Jude viele Gäste mit heim, gab ihnen zu essen und zu trinken und niemandem wäre es eingefallen zu sagen: ‚Es wird uns zu eng hier.‘ Bei meinem seligen Vater war immer eine ganze Gemeinde zum Sederabend. Und hat denn in meinem Hause je ein Gast zum Sederabend gefehlt? Mein seliger Mann ist nie ohne einen Gast aus dem Beth-Hamidrasch[S. 116] heimgekommen. Und was fehlt mir jetzt? Wein ist, Gott sei Dank, da, sogar ein Becher mehr als nötig, Mazzoth und sogar Mazzah-Sch’murah, Fleisch und Charoßeth genug für alle Gottesfürchtigen. Was fehlt mir aber? Einen Truthahn habe ich für Peßach geschlachtet, die Flügel hingen ihm vor Fett zu Boden. Seit Purim schon sagten die Leute: ‚Sara-Lea, bindet ihn um Gott nicht an einen Fuß Eures Bettes; wer weiß sonst, wohin Euch dieser Hahn verschleppt?‘ Aber was fehlt mir? Ein Mann in Israel. Ja, wenn die Frau im Hause ihres Mannes ist...! Aber mein seliger Mann sitzt in der himmlischen Wonne und genießt die Herrlichkeit Gottes; ich dagegen muß mich von Sabbath zu Sabbath, von Ort zu Ort drücken, nur um ein jüdisches Wort zu hören. Ich dachte daran, den Schulleiter zu ersuchen, er möchte mir einen guten Schüler besorgen, der bei mir zu Hause den Seder gäbe — aber ich bin doch nur eine Frau, eine elende Witwe: wie könnte ich so etwas verlangen?“
Bei diesen Worten Sara-Leas seufzte Jechiel-Michal und zitierte aus dem Talmud: „Besser ist’s, es sitzen zwei beisammen als eine Witwe sitzt allein.“
Und obgleich diese Worte aramäisch gesprochen wurden, in einer Sprache, die Sara-Lea nicht verstand, fühlte sie sich doch erleichtert; denn sie[S. 117] wußte, daß Jechiel-Michal in seinem Herzen nicht böse von ihr dachte. Sie las ihm ja die gute Gesinnung aus den Augen. Und auch sie seufzte, sah ihn mit freundlichem Gesichte an und sagte in beistimmendem Tone: „Alles ist da; aber wenn der Hausherr fehlt, was hilft dann alles übrige?“
Und nach einem zweiten Seufzer fuhr sie fort: „Ich weiß wahrhaftig nicht, weshalb ich hier bin. Meine Kinder habe ich aufgezogen, sie sind groß geworden und haben mich verlassen. Einer ist in Amerika, einer in Argentinien, und ich bin allein geblieben. Einsam und allein. Ich wollte nach Erez-Israel gehen, dort ist man nicht so verlassen und verloren. Aber immer wieder: wie kann eine alleinstehende Frau an einen Ort ziehen, wo man sie nicht kennt, wie kann sie in ein fremdes Haus treten?“
Jechiel-Michal war voll Mitleid; er drehte seine rechte Schläfenlocke und sprach ihr begütigend zu. „Ist denn mein Schicksal besser als das Eure, Sara-Lea? Ihr seid, Gott sei Dank, geschmückt wie eine Braut und eßt gute Speisen; ich aber bin verbannt und traurig, wie ein Witwer eben ist. Ja, so ist es auf dieser Welt! Ein Jude — ach, wir haben auf dieser Welt nichts als Gottes Gunst. Aber man soll am Feiertag nicht traurig sein!“
Während er sich aber trösten wollte, kam ihn ein Erbarmen über sich selber an, und er[S. 118] sprach: „Was ist denn ein Mann Großes? Ich danke alle Tage Gott, daß er mich nicht als Frau geschaffen hat; ich weiß genau, wie der Seder zu machen ist; aber geht nun in eine ungetünchte Wohnung ohne Festtagsstimmung, in ein Zimmer, erfüllt mit Alltag! Wärmt Euch halbgargekochte Gerichte an und setzt Euch wie ein König auf das zerbrochene Bett! O Sara-Lea, nicht umsonst sagt der Jalkut: ‚Alle Leiden sind schwer, aber Armut ist schwerer als alles andere. Alle Leiden kommen und gehen; gehen sie aber, so wird alles wieder, wie es zuvor gewesen. Nur die Leiden der Armut verdunkeln die Augen des Menschen.‘ Glaubt nicht etwa, daß ich mich kränke, weil ich am Stolze keinen Teil habe. Gott bewahre mich! Ich sage dies nur, um Euch zu erwidern, die Ihr klagt, daß Ihr eine Frau seid. Ja, noch mehr: in diesem Winter habe ich mich erkältet und mein Hals schmerzt mich. Was soll ich da noch sagen?“
Als Sara-Lea dies hörte, sagte sie: „Ihr solltet doch lieber ins Zimmer treten. Zwar ist der Winter vorbei und die Kälte zu Ende, aber man kann sich noch immer leicht eine Krankheit zuziehen.“
Ihre Worte leuchteten ihm ein, er verkroch sich tief in sein dickes Halstuch und folgte ihr dann in ihre Stube.
Da sah er: die Wände waren nach Vorschrift getüncht, der Lehmboden war rein und braun,[S. 119] aus jedem Winkel blinkte der Feiertag. Über allem lag die heilige Ruhe, die am Peßach geboten ist. Da kam das Wort über ihn und er pries ihr Haus: „Ach, wie schön ist die Stelle, wo die Hände einer Frau geruht haben!“ Sogleich nahm sie eilends die Tischdecke ab und ließ alles sehen, was dort stand. Lauterer Wein, Mazah, Eiermazah, Petersilie, Eier, ein Flügel, eine Schüssel voll Fleisch und viele köstliche Leckerbissen. Und sie sprach: „Solch ein Seder — und wozu? Ich nehme doch alles fort und bringe die Sachen einem Nachbarn ins Haus. Ich bin doch nur eine Frau. Man vergißt schwer, daß man einmal eine Hausfrau war. So sagte ich mir: Ich will mir für ein Weilchen einen Seder machen, als ob ein Hausherr da wäre und man den Seder zu Hause hielte, wie bei jedem Manne in Israel.“
Jechiel-Michal wurde ganz warm und er wollte etwas sagen. Aber da befiel ihn ein schweres Husten und Räuspern, so daß Sara-Lea ihn ganz erschrocken ansah und ihn mahnte: „Reb Jechiel-Michal, eßt nur heute um Gottes willen nicht zuviel bittere Kräuter! Ihr hustet ja, Ihr hustet! Ein bißchen Tee mit viel Zucker würde Euch guttun. Wer wird Euch denn zu Hause etwas Warmes vorbereiten?“
Sara-Lea schwieg und seufzte. Auch Jechiel-Michal seufzte und dann seufzten noch einmal beide zugleich.
Dann fragte sie: „Vielleicht bleibt Ihr ein Weilchen hier, Reb Jechiel-Michal, und ich bereite Euch einen warmen Schluck, ein Glas? — Ach, ich vergesse ja, daß heute Feiertag ist, daß man zuerst Kiddusch machen muß, Seder machen muß... Wollt Ihr vielleicht hier den Seder machen?“
Und wie der höhere Wille aus der inneren Stimme zum Worte ward, wiederholte sie: „Wahrhaftig, wollt Ihr den Seder hier machen?“
Jechiel-Michal schaute hin und her und sah doch überall die Herzensgüte der Frau; er konnte sich nicht losreißen. Ihm war, als wären alle seine Glieder an dem Orte festgewurzelt, wo er saß. Er verlor die Empfindung seiner Hände und seiner Füße und seine Lippen verschluckten die Antwort.
Während er aber noch nach Worten rang, nahm Sara-Lea eine Unmenge von Kissen, Polstern und schönen weißen Decken, die sie zu Ehren des Peßachfestes gewaschen und geplättet hatte. Damit bereitete sie ein Hessebett, wie in der alten Zeit. Und Jechiel-Michal nahm, ohne Absicht und ohne sich zu besinnen, die Schlüssel und legte sie hin; dann blickte er die weißen Kissen an, als ob die Gottesherrlichkeit selbst darüber ruhte. Dann stand er auf und wechselte den Platz, von einem Stuhl zum andern, bis er an das Hessebett kam; er setzte sich oben an den Tisch, zögerte aber[S. 121] in Gedanken noch immer, so daß die Frau noch einmal zu ihm kam und ihren Wunsch wiederholte. Sie stand auf und füllte einen Becher mit Wein, damit er darüber Kiddusch mache. Er aber sah mit dem einen Auge auf den süßen lauteren Wein, mit dem andern nach den sauber blinkenden Winkeln der Stube, und er dachte: „Wie schön ist doch die Stelle, an der die Hände einer Frau ruhten!“ Und er machte Kiddusch, würzte seine Stimme mit den schönsten Trillern und sein Mund schwebte wie ein Lied über dem Becher; Sara-Lea lauschte und ward voller Wonne und ihr Angesicht leuchtete. Ach, wie schön ist die Stimme des Mannes, wenn er heilige Worte ertönen läßt!
Also saß Jechiel-Michal, der Schuldiener, wie ein König, wie jeder Mann in Israel, und vor ihm stand Sara-Lea mit dem Becken voll reinen Wassers. Jechiel-Michal wusch seine Hände und betrachtete das Becken, ein köstliches Gefäß. Wenn Gott ihr die Gnade gewähren würde, daß sie nach Jerusalem käme, würde sie es für einen heiligen Ort stiften, damit die Kohanim, die Priester, darin ihre Hände waschen, wenn sie zum Segen gehen. Schon hier hatte man es ja an jedem Feiertag vom Hause ihres Mannes in das alte Beth-Hamidrasch gebracht, Jechiel-Michal hatte es mit Wasser gefüllt und die Kohanim[S. 122] hatten ihre Hände darin gewaschen. Und jetzt stand die Hausfrau selbst vor ihm und bediente ihn mit diesem Becken!
Jechiel-Michal tauchte die Petersilie ein, brach die Mazzoth und sagte die Hagadah. Sara-Lea hört zu und schickt ein stilles Dankgebet zu dem heiligen Gottesnamen empor, daß er ihr beschieden hat, in ihrem Hause einen richtigen Peßach mit allem, was dazu gehört, zu erleben. Vor Jechiel-Michal weicht die schwere Last und das Leid, er sitzt zurückgelehnt, sein schweres Haupt sinkt in die Kissen, der Schweiß ringelt seine Schläfenlocken und es scheint ihm, als versinke er in einen tiefen Abgrund. Er weiß nicht, wie ihm geschieht; er weiß nur, daß unendliche Gnade die Welt umfängt. Sein Blut pocht und stürmt, fast empfindet er Schmerz; allein er fühlt das Verlangen, der Schmerz möchte tiefer werden, siebenmal tiefer, und er möchte in den Abgrund hinabfallen.
Das Städtchen ruht stille und lautlos unter dem fahlblauen Himmel, welcher von dem vielen Staub, der vor Peßach aus Häusern und Höfen aufgestiegen, wie verschleiert ist. Der Mond bahnt sich einen Weg und der Himmel wird klar. Und die Nachtstrahlen weben einen Baldachin über dem kleinen Häuschen, das in die Heiligkeit des[S. 123] Festes versinkt. Ein kühles Frühlingslüftchen kommt, stiehlt sich durch eine Fensteröffnung, bläst einen Augenblick herein und kämpft einen kleinen Krieg mit der warmen Luft im Zimmer; und in der Stube summt es wie ein Plätschern von Wellen und es dünkt ihnen, als führen sie: sie sitzen auf dem Schiffe, mitten im großen Meer, auf dem Wege nach Erez-Israel, wohin ihre Seele sich sehnt; und allbereits schmiegen sie sich an die heilige Erde und sehen die heiligen Stätten mit Augen. Die herabgebrannten Kerzen flimmern in den Leuchtern, da das Lüftchen sie trifft, erheben ihre Augen und blicken Jechiel-Michal und Sara-Lea still ins Gesicht.
Jechiel-Michal liest die Hagadah und trillert mit seiner Stimme und sagt: „Er baue sein Haus balde!“ Aus den Häusern der Gasse trägt der Frühlingswind das Echo über die ganze Stadt: El benej, el benej; baue, o Gott, baue!
Jechiel-Michal singt und sagt: „Leschanah habaah bijruschalajim!“ Und die Phantasie, die dem Menschen so tief eingepflanzt ist, läßt ihn denken, schon hier sei ein Stück Erez-Israel; er fühlt schon die Luft des Landes; aus den Zweigen klingt das süße Zwitschern eines Vogels und im Hause Sara-Leas, der Witwe, singt eine Stimme Schir haschirim.
„Wie schön ist dein Gang in den Schuhen“ — so heißt es im Hohen Liede; gemeint aber ist: wie schön sind Israels Füße, wenn sie zum Feste wallfahren.
„Und niemand soll nach deinem Lande trachten, wenn du hinaufsteigst“ — dies lehrt uns, daß des Wallfahrenden Kuh ruhig auf ihrer Wiese grasen konnte; kein wildes Tier tat ihr etwas zuleide. Das Huhn konnte auf dem Miste scharren, kein Wiesel tat ihm wehe.
Einst geschah es, daß einer vergaß, die Türe seines Hauses abzusperren, als er zum Feste nach Jerusalem pilgerte. Als er heimkehrte, da fand er eine Schlange, die sich um den Ring der Tür gewunden hatte.
Auch vergaß einer die Hühner in sein Haus einzulassen. Als er kam, da lagen die Katzen zerrissen vor den Hühnern. Auch vergaß einmal ein Wallfahrer einen Getreidehaufen in den Speicher zu schaffen. Da er von der Wallfahrt heimkehrte, da hatten sich Löwen schützend um den Haufen gelagert.
Zwei reiche Brüder wohnten einst in Askalon. Die hatten böse Nachbarn — von den Völkern der Welt waren die. Immer dachten sie nur:[S. 125] Wann werden diese Juden schon nach Jerusalem ziehen, dort zu beten, daß wir in ihr Haus einbrechen und dort alles plündern, was da ist. Es kam die Zeit des Festes und die zwei Brüder zogen nach Jerusalem. Da bestellte Gott an ihrer Statt zwei Engel, die nahmen ihre Gestalt an und gingen in ihrem Hause ein und aus. Als die Brüder aus Jerusalem heimkamen, sandten sie all ihren Nachbarn Geschenke von allen guten Dingen, die in Jerusalem zu kaufen gewesen waren. Da fragten die Nachbarn: Wo wart ihr denn? Antworteten sie: in Jerusalem. — Wann habt ihr euch auf den Weg gemacht? — Damals und damals. — Und gekommen? — Dann und dann. — Und wen habt ihr zurückgelassen? — Keinen Menschen. — Da sprachen die Heiden: Gepriesen sei der Gott der Juden, der sie nicht verlassen hat und sie nicht verlassen wird in alle Ewigkeit...
Rabbi Jizchak sagte: Warum gibt es in Jerusalem nicht die süßen Früchte von Ginossar? Damit die Wallfahrer sich nicht sagen: Schon um der Ginossarfrüchte willen lohnt es sich, nach Jerusalem zu pilgern. Darum — sagte Rabbi Dostai — gibt es in Jerusalem auch nicht warme Quellen wie in Tiberias. Auf daß wir nach Jerusalem nicht wallfahren um anderer Dinge willen: nur wegen des Festes und wegen der Freude des Festes.
Von Z’wi Kasdai.
Mit dem Neumond des Nissan beginnt man den Weizen für das Peßachmehl zu mahlen, und während des Mahlens steckt man in der Mühle Wachskerzen an. Den Weizen aber bewahrt man im Haus von den Monaten Thammus und Ab her auf, wo in jenen Gegenden die Weizenernte beendigt wird. Denn bei ihnen besteht bis heute der Gebrauch, daß die armen Frauen hinter den Schnittern her auf die Felder sammeln gehen, sogar zu den Nichtjuden; was sie aufgelesen haben, dreschen sie jeden Abend aus und verkaufen es zu Mazzothmehl.
Sie backen die Mazzoth in einem geräumigen Backofen, der unten breit und oben schmal ist, wie ein umgekehrter Topf. Wenn er mit Stroh oder Mist ausgeheizt ist, legen die Frauen, die den Teig kneten, die Mazzoth an seine Wände an. Jeden Abend stellt man Wasser für den folgenden Tag zurecht. Dann versammeln sich die jungen Frauen und die Mädchen im Backhause, wo sie in der Arbeit abwechseln. Sie sitzen voll Erregung und Spannung auf dem Boden, kneten den Teig in einem kupfernen Gefäß, walzen ihn aus und[S. 127] lassen ihn „rädeln“. Dann bringen sie ihn schleunigst in den Backofen.
Während der letzten Woche vor dem Fest herrscht große Bewegung. Die Frauen machen sich an ihre große Arbeit, säubern, reiben, putzen, waschen. Das wichtigste ist ihnen, daß sie die Kupfergeräte recht schön und glänzend machen; darauf wird bei den Völkern des Kaukasus, die viel kupfernes Geschirr verwenden, großer Wert gelegt. Aber auch den Sattel und das Zaumzeug putzen sie gründlich und hängen es in den Winkeln ihrer Wohnung auf. Die Männer aber beschäftigen sich eifrig damit, das Chamez zu verbrennen; von der Sitte, das Chamez zu verkaufen, wissen sie dort nichts. Denn sie nehmen alles ernst und streng. Am Erew Peßach fasten alle erstgeborenen Söhne, es gibt für sie keine Befreiung durch Loskaufen oder durch Beendigung eines Studienabschnittes. Vom Mittag an sind sie mit der Vorbereitung des Karpas und des Charoßeth beschäftigt, das sie alle acht Tage als einen richtigen Gang aus einer großen Schüssel essen.
Wenn sich der Tag neigt, ziehen die Männer „Freiheitsgewänder“ mit weiten bauschigen Ärmeln an, stecken einen kurzen Speer in ihren Gürtel — manche nehmen auch ihre Pistolen — und gehen in das Beth-Hamidrasch zu Gesang und Gebet. An diesem Abend singen sie nämlich alle das große Loblied Wort für Wort zusammen mit[S. 128] dem Vorsänger. Kehren sie aber heim, so finden sie ihre Hütte bereits zu Ehren des Festes mit vielen Kerzen beleuchtet. Die alten Frauen hüllen sich in ihre Tücher, die jungen Frauen aber und die Mädchen in Linnen- und Webestoffe und flechten Rosen und andere Blumen in ihre Locken und Zöpfe. Sie holen eilig, was sie vorbereitet haben, gebratene Gänse, gestopfte Truthähne, Mazzoth, Maror, eine Schüssel Charoßeth, und bringen es ihren Männern nach dem Hause des Rabbiners. Denn es ist bei ihnen Sitte, daß sich viele Familien im Hause eines der „Gelehrten“ versammeln; es kann aber auch bei einem einfachen Familienvater sein, wofern er gut hebräisch kann und die Hagadah in ihre (tatarische) Sprache zu übersetzen versteht. So sitzen sie denn nach ihrer Art auf dem Boden und der Gelehrte übersetzt ihnen mit vieler Innigkeit die Hagadah. So wie früher der Brauch war, daß sich mehrere Familien zu einem Lämmlein ansagten und in einem Hause zum Seder versammelt waren, so ist es bei ihnen noch heute, daß immer einige Familien zusammenkommen. Das fördert ihr Zusammengehörigkeitsgefühl und ihre innige Brüderlichkeit sehr.
Es ist ein schönes Bild, wie sie dasitzen, gekleidet in ihre Freiheitsgewänder, so breit und bauschig, den Gürtel um ihre Lenden und den kurzen Spieß an der Seite. Sie sitzen in einer[S. 129] Reihe, geordnet wie Soldaten, die nach dem Kampfe ruhen. Zwischen den Reihen sind kostbare persische Teppiche ausgebreitet, für die das Wort der Megillah gilt: „Weißes Zeug und purpurblaues Tuch, eingefaßt mit Schnüren von Byssus und Purpur.“ Und auf ihnen stehen prächtige Leuchter mit brennenden Kerzen.
Die Frauen, die das ganze Jahr in ihre Zimmer zurückgezogen sind, kommen zum Seder mit unverschleiertem Gesicht und geschmückt mit goldenen Ohrgehängen und köstlichen Ringen von Saphirstein und Diamanten; um den Hals tragen sie goldene und silberne Münzen auf einen blauen Faden gereiht, um die Lenden silberne Kettengürtel; die jungen Frauen aber und die Mädchen tragen Rosen und sonstige Blüten ins Haar geflochten, die den schönsten Duft verbreiten. In dieser Nacht fürchten sie keinen bösen Blick und keine argen Geister, denn es ist eine Nacht, da Er wacht...
Wenn der Vorleser an die Stelle kommt, die von der zukünftigen Erlösung spricht, heben alle ihre Hände auf, spreizen die Finger und rufen, tief bewegt und voller Trauer: „Wollte Gott, daß Meschiach, Davids Sohn, käme und alle Verbannten sammelte, so wie der Ewige, unser Gott, einst unseren Vätern tat.“ Und die Frauen fallen ein und rufen: „Amen, dies sei sein Wille!“ Und an der Stelle: „Zu jeglicher Zeit ist ein jeder verpflichtet...“ erhebt sich der Vorleser, nimmt[S. 130] ein Stückchen Mazzah, eingewickelt in ein altes Tuch, legt es sich auf den Nacken, geht vier Schritte, zeigt es allen und erklärt ihnen in ihrer Sprache, daß so unsere Väter aus Mizrajim zogen, den Teig auf den Schultern; auch macht er hastige Bewegungen, um ihnen das Wort: „In Eile“ recht zu Gemüte zu führen.
Indessen gehen die Jünglinge in ein besonderes Zimmer, wählen dort einen unter sich, kleiden ihn in zerfetztes Gewand, legen ihm einen Sack auf die Schultern, geben ihm einen dicken Hakenstock in die Hände und schicken ihn hinaus. Nach einer Weile hört man lautes Pochen an der Tür. Der ausgesandte Jüngling steht draußen und bittet flehentlich um Einlaß. Die Sitzenden fragen ihn insgesamt: „Wer bist du und was willst du hier.“
„Ich bin ein Jude und will mit euch Peßach feiern, das Fest unserer Freiheit.“
„Wie sollen wir dir glauben, daß du ein Jude bist?“
„Ich trage doch einen Talliskatan und Schaufäden.“
„Das ist noch kein Beweis; gib ein anderes Zeichen!“
„So mögen es euch meine Schläfenlocken beweisen!“
„Auch das genügt uns nicht, es ist noch nicht das Richtige.“
„Laßt mich nur ein und ihr werdet sehen,[S. 131] daß ich die Wahrheit spreche.“ Und dabei beginnt er zu zürnen und zu toben und poltert mit dem Stock an der Tür. Da fragen sie weiter:
„Wenn du denn ein Jude bist: weshalb kommst du so spät? Weißt du denn nicht, daß heute ein Festtag in Israel ist, an dem man daheim ruht?“
„Sehet, ich komme jetzt von Jerusalem, der heiligen Stadt; der Weg ist sehr weit und voller Gefahr auf Schritt und Tritt. Unsere Feinde lauern uns auf und stellen sich uns in den Weg. Wie eine eiserne Mauer traten sie zwischen mich und euch, daß ich nicht vor dem Feiertag zu euch kommen konnte.“ Dabei bricht er in Tränen aus und klagt bitterlich, die Versammelten aber sitzen, wie versunken in ihre Gedanken; tiefe Stille herrscht im ganzen Hause, nur selten von einem schweren Seufzer unterbrochen.
Alle sehen nach der Tür; der Vorleser aber gibt ein Zeichen, man öffnet und sogleich tritt der Jüngling ein und geht bis in die Mitte des Zimmers, das Schwert an der Seite, mit Leder gegürtet, den Stock in der Hand und den Sack über den Schultern. An den Füßen trägt er genagelte Sandalen mit aufgebogenen Spitzen und sein Kleid ist über und über bestaubt. Und plötzlich bricht im ganzen Raume ein lauter Jubel los, alle bestürmen ihn mit Fragen.
„Wie geht es Jerusalem, der heiligen Stadt?“
„Wie geht es unsern Brüdern, die dort vor Gott sitzen, im Lande der Herrlichkeit?“
„Wann wird der Erlöser kommen, uns zu erlösen?“
„Bringst du uns eine Botschaft von unserer Befreiung und Erlösung?“
Und er sagt ihnen einen herzlichen Gruß von Jerusalem, von den Weisen daselbst, von den Städten und Dörfern, den Feldern und Hügeln, von den heiligen Gräbern. Und im Namen der Weisen in der heiligen Stadt meldet er ihnen, es seien Zeichen geschehen, daß der Erlöser bald kommen und die eiserne Mauer zerschmettern werde, die sie von der heiligen Stadt scheidet. Und alle lauschen andächtig seinen Worten; dann heben sie die Hände auf und wiederholen viele Male mit langen Seufzern und innigem Schmerz und mit herzlicher Inbrunst: „Ja, so sei sein Wille, so sei sein Wille!“
Von J. L. Perez.
In ein Städtchen Wolhyniens kam einmal ein Zauberkünstler. Wiewohl es vor Peßach war — zu einer Zeit also, da man mehr Sorgen als Haare auf dem Kopfe hat — machte sein Kommen doch größeres Aufsehen. War das ein Rätsel von einem Menschen! Die Kleider zerrissen und einen eingedrückten Zylinderhut auf dem Kopfe. Das Gesicht durchaus jüdisch, doch der Bart wegrasiert. Von Schläfenlocken keine Rede. Und nie sah man ihn essen, weder erlaubte, noch unerlaubte Speisen. Da soll einer klug daraus werden. Woher? Aus Paris. Wohin? Nach London. Hat sich hierher verirrt. Ging offenbar zu Fuß. Ins Bethaus kam er auch nicht, selbst nicht am großen Sabbath. Und stand man um ihn herum, so verschwand er plötzlich, als ob ihn die Erde verschlungen hätte, und tauchte auf der anderen Seite des Marktplatzes wieder auf.
Bald hatte er einen Saal gemietet und fing an, seine Kunststücke zu zeigen. Ganz großartige Sachen: verschluckte vor aller Leute Augen glühende Kohlen, als ob es Suppenfleckchen wären. Zog aus dem Munde allerlei Bänder[S. 134] heraus — rote, grüne und von welcher Farbe man nur wollte, und lange, wie der Galuth (das Exil). Förderte aus einem Stiefelschaft sechzehn Paar Truthähne heraus, wie Bären so groß, die wirklich lebten und lustig über die Szene flatterten. Hob einen Fuß in die Höhe und scharrte von den Schuhsohlen goldene Dukaten ab — eine ganze Schüssel voll. Natürlich klatschte man Bravo. Da pfiff er, und eine Menge feiner Sabbathbrote schwirrte plötzlich durch den Raum, tanzte unter der Decke. Ein zweiter Pfiff — und alles war wieder verschwunden, als ob es gar nicht dagewesen wäre. Alles: Bänder, Truthähne und so weiter. Nichts war zurückgeblieben.
Nun ja, man weiß es doch, daß sich der Teufel auch etwas leisten kann. Die ägyptischen Schwarzkünstler haben wahrscheinlich noch größere Kunststücke zustandegebracht. Doch eins: Wie konnte er dabei nur so arm sein? Ein Mensch, der von seinen Schuhsohlen Dukaten abscharrt und sein Quartier nicht bezahlen kann! Der mit einem Pfiff mehr Sabbathbrote bäckt als der größte Bäcker im Backofen, der Truthähne aus dem Stiefelschaft zieht und dennoch — ein langgezogenes Gesicht hat, wie ein Sterbender und flackernden Hunger in den Augen... Wahrlich eine fünfte Frage für den Sederabend, sagten die Leute.
Nun wollen wir aber den Zauberkünstler bis[S. 135] zum Sederabend verlassen und inzwischen Chajim Jojne und sein Weib Riwke Beile aufsuchen. Chajim Jojne hatte einmal ein großes Holzgeschäft betrieben und schließlich dabei sein ganzes Vermögen eingebüßt. Dann war er „Waldschreiber“ geworden, aber auch die Stelle war bald verloren. Nun lebte er schon eine Reihe von Monaten im Elend. Der Winter war in schrecklichen Nöten vorübergegangen, und jetzt kam das Peßachfest immer näher. Zum Verpfänden war nichts mehr da, denn alles, vom Hängeleuchter bis zum letzten Kissen, war schon im Leihamt. Riwke Beile dachte an Gemeindeunterstützung. Doch Chajim Jojne wollte davon nichts wissen. Er mochte sich nicht bloßstellen und vertraute auf Gott, der schon helfen werde. Riwke Beile suchte mehrmals in allen Winkeln nach und fand, welches Wunder, einen alten, ausgeriebenen silbernen Löffel, den sie schon seit Jahren verloren glaubte. Aber Chajim Jojne nahm den Löffel, verkaufte ihn und trug den geringen Erlös in die Kasse, aus der man die Armen für das Peßachfest unterstützt. Die Armen gehen vor, sagte er. Inzwischen rückt die Zeit immer näher, es blieben nur noch wenige Wochen bis Peßach. Chajim Jojne wartete voll Vertrauen auf Gottes Hilfe. Und Riwke Beile schwieg. Die Frau muß dem Manne gehorchen. Und Tag auf Tag verrann. Riwke Beile fand keinen Schlaf, weinte die Nächte durch, still, daß[S. 136] ihr Mann sie nicht höre. Und die Tage waren noch schlimmer. Da mußte sie sich auch noch vor den Nachbarn hüten, mußte sorgen, daß sie ihr das Elend nicht ansahen. O, diese Blicke der Neugier und des Mitleids, die sie wie mit Nadeln stachen! Und diese Fragen: Wann backt ihr Mazzoth? Habt ihr schon die roten Rüben eingelegt? Oder wenn es nähere Bekannte waren: Aber, was geht denn bei euch vor, Riwke Beile? Habt ihr’s vielleicht knapp? Wir wollen euch borgen... Und was solcher Reden mehr sind.
Und sie mußte ablehnen, über und über errötend, die unglaublichsten Vorwände erfinden. Denn Chajim Jojne wollte keine Menschengabe annehmen und gegen seinen Willen konnte sie doch nicht handeln.
Die Nachbarn wollten es dabei nicht bewenden lassen und gingen zum Rabbi, er solle sich doch ins Mittel legen. Der Rabbi hörte sie an, seufzte, sann eine Weile nach, und antwortete schließlich, daß Chajim Jojne ein gelehrter und gottesfürchtiger Mann sei, der wohl wisse, was er tue. Wenn sein Gottvertrauen so fest sei, dann sei es eben fest...
Und nun ist der Peßach da!
Riwke Beile hat nicht einmal Lichter, um den Segen darüber zu sprechen.
Chajim Jojne kehrte aus dem Bethaus heim. Aus allen Fenstern strahlt das Fest. Nur sein[S. 137] Haus steht finster da, wie ein Trauernder unter Hochzeitsgästen, wie ein Blinder unter Sehenden. Aber er verzweifelt nicht. Wenn Gott nur wollen wird, denkt er, wird auch für mich noch Peßach sein, und tritt mit fröhlichem „Guten Abend“ ein. Und wiederholt: „Guten Abend, Riwke Beile.“ Und Riwke Beile antwortet aus einer finsteren Ecke mit tränengesättigter Stimme: „Guten Abend, Chajim.“ Dabei leuchten ihre Augen wie zwei glühende Kohlen aus der Ecke hervor. Er geht auf sie zu und spricht auf sie ein:
„Riwke Beile,“ sagt er, „es ist heute Feiertag. Wir feiern den Auszug aus Ägypten. Verstehe doch! Da darf man nicht traurig sein. Und es ist doch auch gar kein Grund dazu da. Wenn es dem lieben Gott nicht gefiel, daß wir unsern eigenen Seder haben, dann müssen wir eben mit einem fremden vorlieb nehmen. Dann wollen wir anderswohin gehen. Man wird uns überall hineinlassen. Alle Türen stehen uns offen. Sagt man doch am Sederabend: ‚Kol dichfin jejthej wejechul,‘ das heißt: ‚Wer hungrig ist, komme und esse!‘... Komm, nimm den Schal um und laß uns beim Erstbesten einkehren.“
Und Riwke Beile tut wie immer nach dem Willen ihres Mannes. Alle Kraft aufwendend um nicht aufzuschluchzen, hüllt sie sich in den zerrissenen Schal. Schon will sie gehen, als im selben Augenblick die Tür von außen geöffnet wird.
„Guten Abend!“ grüßt es.
„Gut Jahr!“ antworten die Eheleute. Sie sehen nicht, wer es ist.
„Ich möchte euer Gast beim Seder sein,“ sagt der Fremde.
„Wir haben selbst keinen Seder,“ erwidert Chajim Jojne.
„Tut nichts, ich hab’ ihn mitgebracht.“
„Seder im Finstern,“ schluchzt Riwke Beile, die sich nun nicht mehr zurückhalten kann.
„Ei bewahre,“ meint der Gast, „es wird schon Licht werden.“
Er winkt und mitten im Zimmer, in der Luft erscheinen zwei silberne Leuchter, in denen schon die angezündeten Stearinkerzen stecken. Es wird hell. Chajim Jojne und Riwke Beile erkennen den Zauberkünstler, starren ihn an und bringen vor Schreck und Verwunderung kein Wort hervor. Sie fassen sich an den Händen, und so stehen sie da, mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern. Er aber wendet sich nun an den Tisch, der ganz verschämt in einem Winkel des Zimmers steht: „Na, Kleiner,“ sagt er zu ihm, „deck dich und komm her!“ Und sofort fällt von oben ein schneeweißes Tischtuch herab und deckt den Tisch und dieser selbst setzt sich in Bewegung und rückt mitten ins Zimmer, just unter die Leuchter. Und diese wieder schweben hernieder und stellen sich auf ihn. „Jetzt fehlen noch die Sederbetten,“[S. 139] sagt der Zauberkünstler, „die Sederbetten sollen kommen!“ Und sofort rücken aus drei Ecken des Zimmers drei Stühle an den Tisch heran und stellen sich an drei Seiten auf. „Breiter werden!“ befiehlt er. Und sofort gehen sie in die Breite und verwandeln sich in Großvaterstühle. „Weicher!“ ruft er. Und sie sind mit rotem Samt überzogen. Und gleichzeitig fallen von der Decke schneeweiße Kissen auf sie nieder. Die Sederbetten sind fertig... Eine Sederschüssel mit allem, was darauf gehört, stellt sich auf den Tisch. Ebenso Flaschen mit rotem Wein und Becher dazu. Plötzlich liegen auch Mazzoth da und alles andere, was man zu einem richtigen und fröhlichen Seder braucht, selbst Hagadoth mit Goldschnitt.
„Und Wasser zum Händewaschen habt ihr?“ fragt nun der Zauberer. „Ich kann auch Wasser bringen.“
Da erst kamen die beiden zu sich. Und Riwke Beile fragte leise ihren Mann, was er von der Sache halte. Chajim Jojne aber wußte keine Antwort. Sie riet, er solle zum Rabbi gehen und ihn fragen. Aber sie könne doch nicht mit dem Zauberer allein bleiben, meinte er. Darum solle lieber sie gehen. Ihr, einer Frau, werde[S. 140] der Rabbi nicht trauen, antwortete sie. Er werde glauben, daß sie verrückt geworden sei. Schließlich kamen sie überein, zusammen zu gehen und inzwischen den Zauberer mit seinem Seder allein zu lassen.
Der Rabbi gab klugen Rat. Das, was mit unreinem Zauber gemacht werde, erklärte er ihm, sei gar nicht wirklich, weil alle Zauberei nur Blendwerk sei. Sie sollten also nach Hause gehen, und wenn die Mazzah sich brechen, der Wein sich einschenken ließe, die Sederbetten sich anfühlen ließen usw., dann wäre alles gut, dann wären es Geschenke des Himmels und sie dürften alles genießen.
Mit diesem Bescheide gingen sie nun klopfenden Herzens nach Hause. Als sie eintraten, war der Zauberkünstler schon fort. Aber der „Seder“ stand da wie früher. Und die Kissen ließen sich berühren, der Wein ließ sich gießen, die Mazzah brechen... Und jetzt verstanden sie erst, daß der Prophet Eliah bei ihnen eingekehrt war und hatten ein fröhliches Fest.
Von Ch. N. Bialik.
Dem Osterfest sieht man mit der größten Andacht entgegen. Schon am Tage nach Purim beginnen die Vorbereitungen. Da man hier nicht wie anderwärts neue Kleider zu nähen und die Wohnungseinrichtung instand zu setzen braucht, verbringt man Tage damit, die Wände frisch zu weißen, die Steine des Fußbodens besonders gründlich zu waschen und die Handmühlen zu putzen. Die wichtigste Angelegenheit ist die Herrichtung des Mehls für die „Asymas“ (Mazzoth). Das Korn, ob es nun Sch’murah (das seit der Ernte besonders für das Osterbrot aufgehobene) ist oder anderes, wird einzeln Korn für Korn gemahlen. Alte Frauen übernehmen die Arbeit des Mahlens.
Am Sabbath vor Ostern gehen Oberrabbiner und Richter in alle Synagogen der Stadt und ermahnen alle Gemeindemitglieder, ihre jungen Frauen recht sorgfältig beim Fortschaffen des Chamez zu beaufsichtigen. In anderen Städten der Türkei halten die Rabbiner an diesem Tage lange Predigten. Hier verstehen sie sich nicht gut auf öffentliche Reden, und wenn sie ihren Gemeindemitgliedern etwas zu sagen haben, setzen sie einen kleinen Artikel auf und lesen ihn[S. 146] mit eintöniger Stimme vor. In diesem Jahr beginnt das Peßachfest an einem Samstagabend; wir müssen das Gebet im Dunklen verrichten, denn im ganzen Judenviertel gibt es keinen einzigen Mohammedaner, der die Lichter anzünden könnte; eine einzige Lampe brennt seit dem vorigen Abend und gibt nur ein ganz blasses Licht. In dem kleinen Tempel von Gaveh sind 70 Personen eng aneinander gepreßt; alle Hausierer sind heute aus den Dörfern in die Stadt zurückgekommen.
Alle sitzen in ihre schwarzen Schemlas gehüllt auf dem Fußboden. Man beginnt mit dem Gebet: „Huldiget dem Ewigen“. Der heute funktionierende Vorbeter hat ein angenehmes Organ; er liest eine Strophe, der Chor antwortet mit der zweiten, und so wird der ganze Psalm abwechselnd vom Vorbeter und dem aus wenigen Personen bestehenden Chor vorgetragen. Plötzlich stimmt die Gemeinde das Hallelujah an, das ist ein Triumphgeschrei, ein Begeisterungsgesang, der in vollen Tönen durch den Raum schallt. Ich fühle mich nicht mehr einsam, und ich kann begreifen, wie sehr die zum lieben Gott emporgerichteten Bitten den Mut der Unglücklichen in den Tagen großen Leids aufgerichtet haben. Es ist dunkle Nacht geworden, der Sabbath ist vorüber; nun werden die Lampen angezündet, und der Gottesdienst wird in dem üblichen Lärm zu Ende geführt.
Ich bin beim Oberrabbiner zum Seder eingeladen[S. 147] und habe die Einladung unter der Bedingung angenommen, daß ich mir das Essen aus meiner Wohnung schicken lassen darf. Wir kommen in das vollständig finstere Haus. Mein Wirt zieht seinen Talar aus, um die Lampen zurecht zu machen, und ich gehe inzwischen in die Küche, weil ich gern das Vorbereiten der Mazzoth beobachten möchte. In einem kleinen Raum ist an der Längsseite eine Art breiten Sofas aus Ton angebracht, auf dem man große Löcher bemerkt, das sind die hiesigen Backöfen.
Auf der Erde sitzt eine Frau und rührt mechanisch das in einer Terrine befindliche Wasser um; in das Wasser schüttet sie ein Maß Mehl, und während sie mit der linken Hand die Terrine festhält, knetet sie mit der rechten das Mehl und macht daraus einen Teig. Das Wasser genügt nicht; sie nimmt mit der linken Hand Wasser, knetet mit der rechten weiter und balanciert dabei die Terrine mit großem Geschick. Fast eine Stunde lang wird der Teig so bearbeitet, bis er schließlich ganz weiß und sehr elastisch wird. Während dieser Zeit wird der Backofen geheizt und verräuchert das ganze Haus. Nachdem der Teig fertig ist, wird er in einzelne Teile geschnitten, die man auf eine Platte legt; die Mutter des Rabbi nimmt ein mit einem Tuch bedecktes Kissen — in der Art der von Putzmacherinnen benutzten Haubenköpfe —, breitet den Teig aus, dann versenkt[S. 148] sie die Hand in den Backofen, drückt den Teig gegen die erhitzte Wand und zieht eine Minute später einen weißen knusperigen, sehr appetitlichen Kuchen daraus hervor. Welcher Unterschied zwischen diesem Gebäck und den dicken, schweren und unverdaulichen Osterbroten der Türkei! Hier werden sie täglich zweimal frisch gebacken und dabei die größte Vorsicht zur Vermeidung des Chamez angewendet; es ist sehr mühsam für die Hausfrau, aber ihr Leben setzt sich nur aus Arbeit und Trübsal zusammen.
Ich kehre in das Zimmer zurück. Der Oberrabbiner hat inzwischen die Lampen angezündet und seine Funktion als Schochet ausgeübt, indem er vor der Haustür einen Hammel und ein Kalb schlachtete. Jetzt ist er wieder hier; sein Bruder mit seiner Familie und einige Nachbarn sind erschienen, um dem Seder beizuwohnen. Die Tafel wird hergerichtet; sie besteht aus einer niedrigen Fußbank, um deren Rand man kreisförmig Rüben, Petersilie und Kresse legt. Das bildet einen etwa 50 cm hohen Kreis, dessen Innenraum von den Töpfen mit verschiedenen Eßwaren ausgefüllt ist. Während man auf die Fertigstellung der Mazzoth wartet, wird, wie gewöhnlich, ein religiöses Thema diskutiert. Zum Beispiel: Warum wird der Wein der Arba Kossoth nicht in ein einziges Glas gegossen; warum trinkt man nicht alles auf einmal aus — hieße das ein Gesetz oder einen Brauch[S. 149] verletzen? Jeder spricht seine Meinung aus, und der Diener, ein alter neben dem Oberrabbiner sitzender Junggeselle, erklärt, man brauche die Arba Kossoth, um viermal statt eines einzigen Mals den Segensspruch sprechen zu können.
Auch die Frauen sind ins Zimmer gekommen. Der älteste Sohn füllt die Gläser, man macht Kiddusch, wäscht sich die Hände und liest mit großer Geschwindigkeit die Hagadah. Da keine Kinder bei Tisch sind, brauchen nicht viele Erläuterungen gegeben zu werden. Bei der Stelle, wo von den zehn Plagen die Rede ist, wird ein Scherben herbeigeholt, in den der Oberrabbiner zehn Tropfen Wein aus seinem Glase träufelt. Man liest weiter. Wenn man an dem Absatz angelangt ist, der mit den Worten: „Bezeth Jisrael Mimizrajim“ beginnt, rufen alle Anwesenden beim Schluß jeder Strophe: „Hallelujah, hallelujah!“ Der letzte Abschnitt der Hagadah ist ein schöner Gesang zum Preise des Schöpfers, der in unseren türkischen Buchausgaben nicht abgedruckt ist.
Beim „Karpas“ pflegt man im Orient und Okzident ein Sellerie- oder Petersilienblättchen in Essig zu tunken; hier nimmt man zu einer kleinen Kugel zusammengerollte Petersilie — ungefähr in der Größe einer Olive — und tunkt sie in das Charoßeth. Diese Mischung, die an den Mörtel erinnern soll, den unsere Vorfahren in Ägypten herstellen mußten, wird hier aus dreizehn[S. 150] verschiedenen Zutaten zusammengesetzt: aus Datteln, Äpfeln, Mandeln, Sesam, Nelken usw. Nachdem die Vorlesung der Hagadah beendet ist, wird nach Landessitte gespeist, indem alle ihre Hände in denselben Napf stecken. Danach kommt das Tischgebet und das „Sch’foch“ und der Seder ist vorüber.
Am zweiten Peßachabend bin ich beim More Aron Cohen, Richter beim Beth Din; er ist ein prächtiger stattlicher Greis mit schönem, langem, weißem Bart und immer freundlichem, sympathischem Gesicht. Der Imam hatte ihn zum Oberrabbiner ernennen lassen, er legte diese Würde aber bald ab und nahm dafür den Posten eines einfachen Richters an; er wollte sich nützlich machen, ohne dafür Ehrungen oder Vorteil zu gewinnen. Von Beruf Schneider, näht und stickt er den ganzen Tag an den Galamänteln für die Araber, die ihn sehr lieben und ihn gern bei sich empfangen. Er ist das Oberhaupt einer Patriarchenfamilie, die er mit Milde regiert. Von seinen fünf verheirateten Söhnen, die mit ihren Familien in seinem Haus wohnen, sind drei bereits Großväter. Es ist eine Freude, in dieses gottgesegnete Haus zu kommen.
More Aron liebt die Poesie der alten Bräuche und hängt an der Vergangenheit. Der Wohlklang[S. 151] seiner Stimme hat sich trotz seines hohen Alters noch voll erhalten, darum hat der von ihm abgehaltene Seder einen großen Reiz. Vor Beginn der Vorlesung bricht er eine Mazzah in zwei Teile, hüllt sie in ein Tuch, legt sie auf die Schulter und spaziert damit durch das ganze Haus: das bedeutet den Auszug aus Ägypten. Die Mah nischtanah wird von zwei seiner Enkel ins Arabische übersetzt, „damit die Frauen auch etwas davon verstehen“, erklärt mir der milde Greis. Wenn man das „Kamah Maaloth Toboth“ beginnt, setzen Männer und Frauen sich um die Tische und heben diese in die Höhe, sobald das Dajenu gesagt wird, lassen sie die Tische mit einem Ruck wieder herunterfallen. Die letzten Strophen werden mit großem Nachdruck vorgetragen. Nach der Mahlzeit wird in sehr vergnügter Stimmung das „Sch’foch“, das Hohelied, das „Echad mi jodea“ und das „Chad Gadja“ gelesen. Erst um Mitternacht war das Fest beendet.
Eine chassidische Legende von Martin Buber.
Rabbi Levi Jizchak von Berditschew hütete mit sorglicher Seele die Weihe aller Bräuche und gab jedem seinen Sinn aus der Tiefe. Einmal hatte er den Seder der ersten Peßachnacht mit aller Inbrunst und Andacht gehalten, also daß jedes Gebot und jede Sitte lebendig und des Geheimnisses voll an des Zaddiks Tische erschien, und jedes Tun der Menschenhände und des Menschenmundes war wie ein gläserner Schrein, der wunderwirkende Kleinodien birgt. Mit einer Stimme, die wie Saitenspiel war, erzählte der Rabbi die alte Erzählung, und aus seiner Rede stieg das Sinnbild auf und leuchtete wie verschleierte Sterne im Raume. Mizrajim war die Verbannung der Seele und das Rote Meer ihre Befreiung. Sie hatte dem Pharao Städte bauen müssen, und die Frohnvögte hatten sie wund geschlagen. Aber die Lösung wurde gesandt, und das Wunder kam, und die Dinge der Welt wandelten ihre Art, und der Tag der Seele brach an, und die Seele ging trockenen Fußes durch das Meer. So stieg das Sinnbild aus des Rabbis Seele auf und leuchtete über der Nacht. Und so ging[S. 153] die Nacht dahin, und die Versammelten wurden nimmer müde. Und als das Morgenrot kam, da schien es ihnen selbst wie ein Zeichen des Geheimnisses, und es war ihnen, als ob zwei Sinnbilder einander grüßten, das Wort des Zaddiks und das Morgenrot.
Aber als der Seder zu Ende war und Rabbi Levi Jizchak allein in seiner Kammer saß, mußte er an diese Nacht denken, die er gefeiert hatte, und an den Seder, der gewachsen war aus dem Willen seines Herzens. Und es dünkte ihn schön und vollkommen, was geschehen war. Und er sprach zu Gott: „Du Grund und Heimat meines Lebens, meiner Seele Herr und Herrlichkeit, wahrlich, ich habe dir recht gedient in dieser Nacht und deine Ehre verkündet in Flammengesängen.“ Und er hielt inne und horchte auf den Grund seines Lebens. Aber da war nichts als Schweigen. Da erschrak der Rabbi, denn nie noch war ihm dies widerfahren, und sammelte sein Herz und sprach mit hastigen Worten: „Habe ich nicht mit meinem Tun getaucht in die Mysterien deiner Gnade? Habe ich nicht die ungesäuerten Brote erhoben als das Siegel des Streites, den die Seele um dich streitet, und das Bitterkraut gegessen als die Pflanze des Leides, das die Seele für dich trägt, und des Peßachlammes gedacht als des Zeichens des Opfers, in dem die Seele sich dir entgegenbringt?“ Doch das Schweigen lagerte wie[S. 154] zuvor. Und stammelnd sprach der Rabbi weiter: „Habe ich nicht die Hungrigen gerufen, daß sie kommen und essen, und auch die noch, die dahingingen im Hunger ihrer Sehnsucht und nicht genährt worden sind? Habe ich nicht die Durstigen gerufen, daß sie kommen und trinken, und auch die noch, die dahingingen im Durste ihres Erkennens und nicht gestillt worden sind? Und sind nicht die Geister gekommen und haben gegessen und getrunken an meinem Tische?“ Aber das Schweigen lag starr und ungestört da. Da kroch das Unheil wie ein Wurm in das Herz des Rabbi, und er warf sich nieder und schrie mit der letzten und zerbrechenden Stimme: „Habe ich nicht deine Tat verkündet, o Befreier?“ Da wurde das Wort wach auf dem Grunde seines Lebens, wie die Kraft in der Erde wach wird an einem Spätwintermorgen, und das Wort redete: „Warum rühmst du dich und nennst schön und vollkommen, was durch dich geschehen ist? Fürwahr, lieblicher ist mir der Seder Chajims, des Wasserträgers, als der deine.“ Da erhob sich Rabbi Levi Jizchak zitternd und verstört und rief seine Hausleute und seine Schüler zusammen und fragte sie: „Ist in dieser Stadt einer, der Chajim der Wasserträger genannt wird? Und kennt ihr ihn?“ Da flüsterten sie miteinander und unterredeten sich, und ein Schüler sprach: „Wir glauben wohl, daß es hier einen Mann dieses Namens gibt, aber wir kennen[S. 155] nichts von ihm und nicht, wo er wohnt.“ Und ein anderer fügte dazu: „Sicherlich ist es der Unwissenden einer. Und wohnen mag er wohl an der Grenze der Stadt, wo die Häuser der Armen sind.“ Da rief der Zaddik: „Gehet hin und suchet ihn und bringet ihn eilig zu mir.“ Und sie gingen, ihn zu suchen.
Indessen schritt der Rabbi Levi Jizchak in seiner Kammer hin und her und mühte sich, seiner Seele die Ruhe wiederzubringen. „Gewiß ist es einer von den Verborgenen,“ so redete er ihr zu, „von den heimlichen Gottessöhnen einer, die in Knechtesgestalt unter uns leben und ihr heiliges Wesen hinter rohem und bäurischem Getriebe verhüllt halten, also daß sie nur ihrem Herrn sich öffnen und gewähren. Einer von den Sechsunddreißig ist es, von den Zaddikim der unsichtbaren Welt, die sich ewig erneuern und durch die die Welt erneuert wird.“ Aber seine Seele gab sich nicht zufrieden und wehrte ihn ab und sprach: „Mag es auch einer von diesen sein, was hat er geschaut, was ich nicht geschaut hätte, und welchen Dienst kennt er, den ich nicht kennte? Und in welchem Abgrund wohnt er, in dem nicht auch ich wohnte?“ Also redete die Seele zu ihm und verachtete die Ruhe und haderte mit dem Nichts.
Die Schüler aber liefen in der Stadt umher und fragten nach Chajim, dem Wasserträger. Endlich wurde ihnen sein Haus gewiesen, und sie[S. 156] gingen hin und klopften an die Tür. Eine Frau kam heraus und fragte nach ihrem Begehr. Als sie erfuhr, wen sie suchten, verwunderte sie sich und sagte: „Wohl ist Chajim, der Wasserträger, mein Mann. Aber er kann nicht mit euch kommen, denn er hat gestern viel getrunken, und nun schläft er noch, und wenn ihr ihn auch wecket, wird seine Müdigkeit ihn gefesselt halten, und er wird seine Füße nicht zu heben vermögen.“ Jene aber antworteten nur: „Der Rabbi hat es befohlen!“ und gingen hin und rüttelten ihn auf. Da sah er sie aus blinzelnden Augen an und verstand nicht, wozu sie seiner bedurften, und wollte sich wieder hinlegen. Sie jedoch hoben ihn vom Lager und nahmen ihn in ihre Mitte und trugen ihn fast auf ihren Schultern zum Zaddik. Der ließ ihm einen Sitz in seiner Nähe geben, und als er stumm und verwirrt dasaß, neigte er sich zu ihm und sprach: „Rabbi Chajim, mein Herz, worauf ging Euer Gedanke, als Ihr das Gesäuerte zusammensuchtet?“ Da sah ihn jener mit stumpfen Augen an und schüttelte den Kopf und antwortete: „Herr, ich habe mich umgesehen in allen Winkeln und habe es zusammengesucht.“ Und der Zaddik fragte weiter: „Und was hattet Ihr im Sinne, als Ihr das Gesäuerte verbranntet?“ Da dachte jener nach und betrübte sich und sagte endlich zögernd: „Herr, ich habe völlig vergessen, es zu verbrennen. Und nun entsinne ich mich, es liegt[S. 157] noch auf dem Balken. Und dies mögt Ihr mir vergeben, Herr, daß ich es vergessen habe.“ Als Rabbi Levi Jizchak dies hörte, ward auch das Letzte in ihm unsicher; aber er fragte weiter: „Und das saget mir noch, Rabbi Chajim: Wie habt Ihr den Seder gehalten?“ Da war es, als erwache jenem etwas in Aug’ und Gliedern, und er sprach mit weicher und demütiger Stimme: „Rabbi, ich will Euch die Wahrheit sagen. Seht, ich habe von je gehört, daß es verboten ist, Branntwein zu trinken die acht Tage des Festes, und da trank ich gestern am Morgen, daß ich genug habe für acht Tage. Und da wurde ich müde und schlief ein. Und dann weckte mich meine Frau, und es war Abend, und sie sagte zu mir: ‚Warum hältst du nicht den Seder wie alle Juden?‘ Sagte ich: ‚Was willst du von mir? Bin ich doch ein Unwissender und mein Vater war ein Unwissender, und ich weiß nicht recht, was tun und was lassen. Aber sieh, das weiß ich: Unsere Väter und unsere Mütter waren gefangen bei den Zigeunern, und wir haben einen Gott, der hat sie hinausgeführt in die Freiheit. Und sieh, nun sind wir wieder gefangen, und ich weiß es und sage dir, Gott wird auch uns in die Freiheit führen.‘ Und da sah ich den Tisch stehen, und das Tuch leuchtete wie die Sonne, und standen drauf Schüsseln mit Mazzoth und Eiern und anderen Speisen, und standen Flaschen mit rotem[S. 158] Wein, und da aß ich die Mazzoth mit den Eiern und trank den Wein und gab meiner Frau zu essen und zu trinken. Und dann kam die Freude über mich, und ich hob den Becher zu Gott und sagte: ‚Sieh, Gott, ich trinke diesen Becher zu dir. Und du neige dich zu uns und mache uns frei!‘ Und so saßen wir da und tranken und freuten uns vor Gott, und dann kam die Müdigkeit über mich, und ich legte mich hin und schlief ein.“
Also erzählte Chajim der Wasserträger dem Zaddik von Berditschew und seinen Schülern.
Von Leopold Kompert.
Vierzehn Tage vor dem Osterfeste, in größeren Gemeinden auch vier Wochen früher, werden die Gemeindeglieder durch den Schuldiener aufgefordert, sich zu der am nächsten Sonntag stattfindenden Verpachtung des Ostermehles auf dem Gemeindehaus einzustellen.
Auffallend genug erscheinen an diesem Tage nur sehr wenige, die Lust bezeigen, den Pacht zu übernehmen. Aus Gründen nämlich, die man sehr wohl billigen wird. Zuerst ist der Pachtschilling nach dem Stande der jeweiligen Fruchtpreise schon so hoch gestellt, daß sich nach aller Berechnung nur ein ganz kleiner Gewinn herausfindet. Dann ist das Geschäft von einer Masse Strapazen, Entbehrungen und Mühen begleitet, und drittens, wenn sich der Pächter über alle diese Berge hinwegsetzt, gerät er wieder in Gefahr, seine Popularität in der Gemeinde zu verlieren. Er kauft schlechtes Getreide ein, das Mehl ist schwarz, und nun hat er ein Publikum gegen sich, das ihn durch volle acht Ostertage tausendmal in einem Atem in den Ostrazismus verurteilt, denn bei jedem solchen Brote, das man genießt, wird des Pächters[S. 160] in Ausdrücken erwähnt, für die das große Wörterbuch von Adelung nicht besteht. Es ist ein langsames Gerädertwerden von unten nach oben — durch volle acht Tage.
Doch findet sich immerhin jemand, der den Mehlpacht übernimmt. Barmherzige Seelen gibt es genug. Solche strecken dem Pächter, der gewöhnlich über ein äußerst geringes Vermögen zu gebieten hat, die Bürgschaft vor, sowie auch die Einkaufssumme. Damit geht er auf den Getreidemarkt, kauft ein, wie und wo er es kann, natürlich immer in der Absicht, so billig als möglich zu kaufen. Bis dahin hat das Geschäft noch wenig Nationales, wenig Eigentümliches. Dies beginnt erst draußen in der Mühle. Hier fängt eine lange Reihe von Mühen und Strapazen an, die zu beschreiben[S. 161] einen erklecklichen Aufwand von Tinte kosten würde. Die Mühle, wo das Ostermehl gemahlen wird, muß vor allem von oben nach unten gesäubert und ausgefegt werden, damit ja nicht ein Stäubchen früheren unreinen Mehles dazwischen käme. Dann muß man ein äußerst aufmerksames Auge auf die Müllerburschen haben, die absichtlich oder unabsichtlich das Mehl entheiligen und dem religiösen Gewissen des Pächters manchen empfindsamen Hieb versetzen können. Noch aufmerksamer muß der Pächter auf die Finger seiner Müllerburschen sehen, damit diese nichts auf den Boden fallen lassen. Solche Überflüsse kommen dem Pächter selbst zugut, auch will er nicht, daß der reiche Müller so heiliges Mehl genieße oder gar verkaufe.
Wenn das Mahlgeschäft vorüber, das Mehl in Säcke gegeben und heimgeführt worden ist, verkündet der Schuldiener aufs neue, in der Synagoge oder in der Gasse, man könne kaufen kommen; der Verkaufsort sei da und da. Nun beeilt sich ein jeder, seinen Bedarf an Ostermehl sobald als möglich zu decken, damit er nicht zu spät komme. Bevor man das Mehl kaufen geht, werden sehr ernsthafte Debatten zwischen den Eheleuten gepflogen. Während eines Jahres sind bedeutende Veränderungen in der Familie vorgegangen, sie hat sich vergrößert, auch sind die Kinder größer geworden und damit im steigenden[S. 162] Verhältnis auch das Zentrum ihres Lebens, nämlich der Magen. Die Mutter möchte gern sparen, ein Achtel oder gar ein Viertel weniger nehmen, der Vater aber zeigt lächelnd auf die Anzahl ihrer Familienmitglieder. Nach langem Her- und Hinreden vereinigen sich endlich beide und treffen ein juste milieu, das allen Anforderungen der Familie entsprechen wird.
In größeren Gemeinden besteht der Gebrauch, von den Gemeindemitgliedern bei der Abnahme des Ostermehles eine Steuer zu erheben, deren Ertrag der Gemeinde zufällt. Je nach dem Quantum des Mehles wird diese Steuer festgesetzt. Nun trifft es sich zuweilen, daß der arme, unbemittelte Mann, der für ein ganzes Rudel hungriger Mägen zu sorgen hat, höher besteuert wird als der reiche, dem trotz seines Mammons kein Kindeslächeln beschert ward — ein Mißverhältnis, das aber überhaupt dem ganzen Steuerkomplex noch immer anklebt und ohne Verletzung einmal gegebener Zustände nicht gehoben werden kann.
Nun werden die Backhäuser eröffnet. Größere Gemeinden zählen deren mehrere, kleinere oft nur eines. Solche Backhäuser sind entweder Eigentum von Individuen oder der Gemeinde selbst. Wo es mehrere gibt, entsteht zwischen den Besitzern derselben eine Rivalität ganz eigener Art. Der eine stellt seinen Tarif etwas niedriger und erzielt dadurch eine größere Masse von Kunden,[S. 163] der andere ist prompter in seinen Bestellungen, der dritte zeichnet sich wieder durch vortreffliches Gebäck aus. So hat ein jeder seine Vorzüge und sucht sie geltend zu machen. So viel trägt jedoch jedes Backhaus seinem Besitzer ein, daß er, wie man zu sagen pflegt, „die Ostern herausbringt“.
Treten wir in ein solches Backhaus ein!
Heftig durch- und ineinander tönende Stimmen empfangen den Eintretenden. Wir stehen in einer langen, von bedeutend azotischen Dünsten angefüllten Stube, wo nahe an hundert Menschen mit dem Bereiten der ungesäuerten Brote beschäftigt sind. Sie stehen um lange viereckige, mit blanken Kupferplatten bedeckte Tische herum. Wie nach einem Takte bewegen sich aller Hände. Der eine hat ein Stück Teig vor sich und dehnt es schnell und flink mit dem Wellholze aus. Der andere hat das Brot bereits fertig, das in einer kreisrunden, ganz flachen Platte besteht; er nimmt nun noch das Ruppelholz, d. i. kleine zugespitzte Stäbchen, womit er das Brot auf allen Punkten durchlöchert, damit die Hitze von allen Seiten eindringe und der Säuerung vorgebeugt werde. Zwischendurch laufen kleine Buben, nehmen die Brote ab, und tragen sie zum Ofen hinaus. „Matzes, Matzes!“ schreit einer, der bereits sein Brot auf dem Tische beendet liegen hat und fürchtet, es könnte durch die Länge der Zeit säuern. Und dabei ergrimmt er und stößt Flüche[S. 164] aus, weil die Hinausträger der Brote ihm zu saumselig und faul sind.
Drei Personen sind es jedoch, auf deren Schultern eine ganze Welt von Plagen und Mühen liegt. Der eine ist der „Mehriner“, der andere der Kneter, der dritte der Schießer. Diese Trias ist wahrhaft bewundernswürdig und zugleich bedauernswert, denn ihre Beschäftigung ist die mühseligste von allen.
Der „Mehriner“ mißt das Mehl und teilt es dem Kneter zu. Der Teig wird in kupfernen Kesseln bereitet und bedarf nur einer sehr einfachen Manipulation, Mehl und Wasser. Die Hauptsorge des Kneters besteht darin, daß der Teig sobald als möglich durchknetet sei, wozu ihm wenige Minuten gegeben sind. Denn durch ein längeres Verzögern könnte er in Fermentation geraten, und tausend Argusaugen sind[S. 165] da auf der Lauer, die ein jedes Versehen mit bitterem Spotte, ja wohl auch mit Dispensierung des Kneters bestrafen können.
Der Schießer endlich ist niemand anderes als der Bäcker selbst. Man denke sich einen Menschen, der mit wenigen Unterbrechungen vierzehn Tage, ja sogar drei Wochen in einem fort der Hitze des Ofens ausgesetzt ist, und man hat eine linde Vorstellung von langsamem Verbranntwerden. Der Schießer gehört gewöhnlich der christlichen Religion an, wie überhaupt in manchen Gemeinden auch Christenmädchen zur Bereitung der Osterbrote verwendet werden.
Sobald ein solches ungesäuertes Brot aus der Backstube hinausgetragen, wird es ohne Weile auf die Schaufel gelegt und mit ungemeiner Flinkheit vom Schießer in den Ofen getan. Nach wenigen Minuten kehrt es bereits gebacken zurück. Hier wird es gewöhnlich von der Hausfrau, die die Brote backen läßt, empfangen und längs eines langen Tisches, der mit weißen Linnen bedeckt ist, aufgestellt. Oder ein ganzes Rudel Kinder ist es, das sich diesem Geschäfte mit aller Freudigkeit hingibt, gewöhnlich die Kinder der Hausfrau, oder, wenn die nicht, fremde. Diesen läßt man als Entgelt ihrer Mühe kleine Fischlein aus ungesäuertem Teige backen, mit denen sie dann am Abend in der Gasse herumrennen, sie triumphierend ihren Gespielen hinweisend,[S. 166] die mit solchen Trophäen noch nicht zu glänzen haben.
Durch all dies Gedränge und Schreien und Rufen wandelt aber noch eine Figur, deren wir bis jetzt noch nicht erwähnt haben. Es ist der „More Zedek“, ein Gelehrter, der darüber zu wachen hat, daß alles in größter Ordnung und ohne Verletzung der geringsten religiösen Zeremonie vor sich gehe. Er beaufsichtigt den Mehriner und den Kneter, damit dieser den Teig nicht über die Zeit in dem kupfernen Kessel herumknete, dann wirft er aufmerksame Blicke denen zu, die die ungesäuerten Brote verfertigen, damit auch sie nicht dem Gesetze zuwiderlaufen, das da ungesäuerte Brote will. Zuweilen trifft es sich auch, daß man ihm religiöse Bedenken vorträgt, die er zu schlichten hat. Ein ungesäuertes Brot war nicht nach rechter Art durchlöchert, in der Ofenhitze stiegen Blasen auf, oder sonst ein Gebrechen ist daran zu erblicken. Nun kommt die Hausfrau mit dem fraglichen Corpus delicti und fragt den Rabbi, ob er dieses Brot für gültig erkläre oder nicht. Der Rabbi schaut es lange mit prüfendem Blicke an und sagt entweder ja oder nein. Im verneinenden Falle wird das ungesäuerte Brot eine Beute der Kinder, und sie teilen sich so fröhlich darein, daß man es ihnen ansieht, sie würden gar nichts dagegen haben, wenn der Rabbi das ganze Gebäck für ungültig erklären wollte.
Die größte Sorge und Virtuosität wird aber auf die sogenannten „Mizwahbrote“ verwendet. Das sind diejenigen ungesäuerten Brote, die man an den beiden ersten Abenden des Osterfestes braucht, wo der Hausvater im Kreise der Seinigen den Auszug der Israeliten aus Ägypten feiert. Diese Brote sind von einer größeren Beschaffenheit als die anderen, und die Mädchen, die sie verfertigen, legen eine besondere Vorsorge an den Tag, sie so fein und groß und rund als möglich auszudehnen. Auch rivalisieren sie während des Wellens miteinander, wer von ihnen das größte Monstrum hervorzubringen imstande sei.
Ist endlich das Backgeschäft vorüber, so erhalten die Leute ihren Lohn, wobei es gewöhnlich zu nicht unbedeutenden Zänkereien kommt. Es findet sich da manche sparsame Hausfrau oder manch knickeriger Hausherr, die über den bedungenen Lohn nichts „von sich lassen wollen“, wie man sagt. Denn man begehrte noch ein kleines Trinkgeld von ihnen, indem man auf das vortreffliche Gebäcke hinweist, das man bereitet. Läßt sich die Hausfrau bewegen und tut noch etwas hinzu, so erhält sie tausend Segnungen und Beglückwünschungen, tut sie es nicht, so spricht und grollt man sehr viel, und sie kann gewiß sein, daß im nächsten Jahre die ungesäuerten Brote viel schlechter ausfallen werden als heuer.[S. 168] So ein Bäcker hat für solche Seelenkränkungen ein treffliches Gedächtnis.
Wir haben schließlich noch einer Ehrenbezeugung zu erwähnen, die bei Gelegenheit des Backens der ungesäuerten Brote ausgeübt wird. Dem Rabbiner werden am letzten Tage die ungesäuerten Brote gebacken. Wo es eine Jeschibah (Hochschule) gibt, übernehmen die Jünger derselben selbst die Verpflichtung, für ihren Lehrer die Brote zu kneten, zu bereiten und backen. Auf diese Art genießt der Rabbiner drei Privilegien: 1. daß er ganz frische, 2. ganz makellose und 3. ganz reine Brote bekommt. Um dieser Vorteile willen hat sich schon mancher gewünscht, Rabbiner zu sein — anderer zu geschweigen.
Von Heinrich Heine.
Unterhalb des Rheingaus, wo die Ufer des Stromes ihre lachende Miene verlieren, Berg und Felsen mit ihren abenteuerlichen Burgruinen sich trotziger gebärden, und eine wildere, ernstere Herrlichkeit emporsteigt, dort liegt, wie eine schaurige Sage der Vorzeit, die finstere, uralte Stadt Bacherach. Nicht immer waren so morsch und verfallen diese Mauern mit ihren zahnlosen Zinnen und blinden Warttürmen, in deren Luken der Wind pfeift und die Spatzen nisten; in diesen armselig häßlichen Lehmgassen, die man durch das zerrissene Tor erblickt, herrschte nicht immer jene öde Stille, die nur dann und wann unterbrochen wird von schreienden Kindern, keifenden Weibern und brüllenden Kühen. Diese Mauern waren einst stolz und stark, und in diesen Gassen bewegte sich frisches, freies Leben, Macht und Pracht, Lust und Leid, viel Liebe und viel Haß. Bacherach gehörte einst zu jenen Munizipien, welche von den Römern während ihrer Herrschaft am Rhein gegründet worden, und die Einwohner, obgleich die folgenden Zeiten sehr stürmisch und obgleich sie späterhin unter Hohenstaufische und zuletzt unter Wittelsbacher Oberherrschaft gerieten, wußten dennoch,[S. 170] nach dem Beispiel andrer rheinischen Städte, ein ziemlich freies Gemeinwesen zu erhalten. Dieses bestand aus einer Verbindung einzelner Körperschaften, wovon die der patrizischen Altbürger und die der Zünfte, welche sich wieder nach ihren verschiedenen Gewerken unterabteilten, beiderseitig nach der Alleinmacht rangen, so daß sie sämtlich nach außen zu Schutz und Trutz gegen den nachbarlichen Raubadel fest verbunden standen, nach innen aber wegen streitender Interessen in beständiger Spaltung verharrten; und daher unter ihnen wenig Zusammenleben, viel Mißtrauen, oft sogar tätliche Ausbrüche der Leidenschaft. Der herrschaftliche Vogt saß auf der hohen Burg Sareck, und wie sein Falke schoß er herab, wenn man ihn rief, und auch manchmal ungerufen. Die Geistlichkeit herrschte im Dunkeln durch die Verdunkelung des Geistes. Eine am meisten vereinzelte, ohnmächtige und vom Bürgerrechte allmählich verdrängte Körperschaft war die kleine Judengemeinde, die schon zur Römerzeit in Bacherach sich niedergelassen und späterhin während der großen Judenverfolgung ganze Scharen flüchtiger Glaubensbrüder in sich aufgenommen hatte.
Die große Judenverfolgung begann mit den Kreuzzügen und wütete am grimmigsten um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, am Ende der großen Pest, die, wie jedes andre öffentliche Unglück, durch die Juden entstanden sein sollte, indem[S. 171] man behauptete, sie hätten den Zorn Gottes herabgeflucht und mit Hilfe der Aussätzigen die Brunnen vergiftet. Der gereizte Pöbel, besonders die Horden der Flagellanten, halbnackte Männer und Weiber, die, zur Buße sich selbst geißelnd und ein tolles Marienlied singend, die Rheingegend und das übrige Süddeutschland durchzogen, ermordeten damals viele tausend Juden, oder marterten sie, oder tauften sie gewaltsam. Eine andere Beschuldigung, die ihnen schon in früherer Zeit, das ganze Mittelalter hindurch bis Anfang des vorigen Jahrhunderts, viel Blut und Angst kostete, das war das läppische, in Chroniken und Legenden bis zum Ekel oft wiederholte Märchen, daß die Juden geweihte Hostien stählen, die sie mit Messern durchstächen, bis das Blut herausfließe, und daß sie an ihrem Peßachfeste Christenkinder schlachteten, um das Blut derselben bei ihrem nächtlichen Gottesdienste zu gebrauchen. Die Juden, hinlänglich verhaßt wegen ihres Glaubens, ihres Reichtums und ihrer Schuldbücher, waren an jenem Festtage ganz in den Händen ihrer Feinde, die ihr Verderben nur gar zu leicht bewirken konnten, wenn sie das Gerücht eines solchen Kindermordes verbreiteten, vielleicht gar einen blutigen Kinderleichnam in das verfehmte Haus eines Juden heimlich hineinschwärzten und dort nächtlich die betende Judenfamilie überfielen, wo alsdann gemordet, geplündert und getauft wurde, und große[S. 172] Wunder geschahen durch das vorgefundene tote Kind, welches die Kirche am Ende gar kanonisierte. Sankt Werner ist ein solcher Heiliger, und ihm zu Ehren ward zu Oberwesel jene prächtige Abtei gestiftet, die jetzt am Rhein eine der schönsten Ruinen bildet, und mit der gotischen Herrlichkeit ihrer langen spitzbögigen Fenster, stolz emporschießenden Pfeiler und Steinschnitzeleien uns so sehr entzückt, wenn wir an einem heitergrünen Sommertage vorbeifahren und ihren Ursprung nicht kennen. Zu Ehren dieses Heiligen wurden am Rhein noch drei andere große Kirchen errichtet, und unzählige Juden getötet oder mißhandelt. Dies geschah im Jahre 1287, und auch zu Bacherach, wo eine von diesen Sankt-Wernerskirchen gebaut wurde, erging damals über die Juden viel Drangsal und Elend. Doch zwei Jahrhunderte seitdem blieben sie verschont von solchen Anfällen der Volkswut, obgleich sie noch immer hinlänglich angefeindet und bedroht wurden.
Je mehr aber der Haß sie von außen bedrängte, desto inniger und traulicher wurde das häusliche Zusammenleben, desto tiefer wurzelte die Frömmigkeit und Gottesfurcht der Juden von Bacherach. Ein Muster gottgefälligen Wandels war der dortige Rabbiner, genannt Rabbi Abraham, ein noch jugendlicher Mann, der aber weit und breit wegen seiner Gelahrtheit berühmt war. Er war geboren in dieser Stadt, und sein Vater,[S. 173] der dort ebenfalls Rabbiner gewesen, hatte ihm in seinem letzten Willen befohlen, sich demselben Amt zu widmen und Bacherach nie zu verlassen, es sei denn wegen Lebensgefahr. Dieser Befehl und ein Schrank mit seltenen Büchern war alles, was sein Vater, der bloß in Armut und Schriftgelahrtheit lebte, ihm hinterließ. Dennoch war Rabbi Abraham ein sehr reicher Mann; verheiratet mit der einzigen Tochter seines verstorbenen Vaterbruders, welcher den Juwelenhandel getrieben, erbte er dessen große Reichtümer. Einige Fuchsbärte in der Gemeinde deuteten darauf hin, als wenn der Rabbi eben des Geldes wegen seine Frau geheirat habe. Aber sämtliche Weiber widersprachen und wußten alte Geschichten zu erzählen, wie der Rabbi schon vor seiner Reise nach Spanien verliebt gewesen in Sara — man hieß sie eigentlich die schöne Sara — und wie Sara sieben Jahre warten mußte, bis der Rabbi aus Spanien zurückkehrte, indem er sie gegen den Willen ihres Vaters und selbst gegen ihre eigne Zustimmung durch den Trauring geheiratet hatte. Jedweder Jude nämlich kann ein jüdisches Mädchen zu seinem rechtmäßigen Eheweibe machen, wenn es ihm gelang, ihr einen Ring an den Finger zu stecken und dabei die Worte zu sprechen: „Ich nehme dich zu meinem Weibe nach den Sitten von Moses und Israel!“ Bei der Erwähnung Spaniens pflegten die Fuchsbärte auf eine ganz eigne Weise zu[S. 174] lächeln; und das geschah wohl wegen eines dunkeln Gerüchts, daß Rabbi Abraham auf der hohen Schule zu Toledo zwar emsig genug das Studium des göttlichen Gesetzes getrieben, aber auch christliche Gebräuche nachgeahmt und freigeistige Denkungsart eingesogen habe, gleich jenen spanischen Juden, die damals auf einer außerordentlichen Höhe der Bildung standen. Im Innern ihrer Seele aber glaubten jene Fuchsbärte sehr wenig an die Wahrheit des angedeuteten Gerüchts. Denn überaus rein, fromm und ernst war seit seiner Rückkehr aus Spanien die Lebensweise des Rabbi, die kleinlichsten Glaubensgebräuche übte er mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit, alle Montag und Donnerstag pflegte er zu fasten, nur am Sabbath oder anderen Feiertagen genoß er Fleisch und Wein, sein Tag verfloß in Gebet und Studium, des Tages erklärte er das göttliche Gesetz im Kreise der Schüler, die der Ruhm seines Namens nach Bacherach gezogen, und des Nachts betrachtete er die Sterne des Himmels oder die Augen der schönen Sara. Kinderlos war die Ehe des Rabbi; dennoch fehlte es nicht um ihn her an Leben und Bewegung. Der große Saal seines Hauses, welches neben der Synagoge lag, stand offen zum Gebrauche der ganzen Gemeinde; hier ging man aus und ein ohne Umstände, verrichtete schleunige Gebete, oder holte Neuigkeiten, oder hielt Beratung in allgemeiner Not; hier spielten[S. 175] die Kinder am Sabbathmorgen, während in der Synagoge der wöchentliche Abschnitt verlesen wurde; hier versammelte man sich bei Hochzeit- und Leichenzügen, und zankte sich und versöhnte sich; hier fand der Frierende einen warmen Ofen und der Hungrige einen gedeckten Tisch. Außerdem bewegten sich um den Rabbi noch eine Menge Verwandte, Brüder und Schwestern mit ihren Weibern und Kindern, sowie auch seine und seiner Frau gemeinschaftliche Öhme und Muhmen, eine weitläufige Sippschaft, die alle den Rabbi als Familienhaupt betrachteten, im Hause desselben früh und spät verkehrten, und an hohen Festtagen sämtlich dort zu speisen pflegten. Solche gemeinschaftliche Familienmahle im Rabbinerhause fanden ganz besonders statt bei der jährlichen Feier des Peßach, eines uralten, wunderbaren Festes, das noch jetzt die Juden in der ganzen Welt am Vorabend des vierzehnten Tages im Monat Nissan, zum ewigen Gedächtnisse ihrer Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft, folgendermaßen begehen.
Sobald es Nacht ist, zündet die Hausfrau die Lichter an, spreitet das Tafeltuch über den Tisch, legt in die Mitte desselben drei von den platten ungesäuerten Broten, verdeckt sie mit einer Serviette, und stellt auf diesen erhöhten Platz sechs kleine Schüsseln, worin symbolische Speisen enthalten, nämlich ein Ei, Lattich, Mairettichwurzel,[S. 176] ein Lammknochen und eine braune Mischung von Rosinen, Zimmet und Nüssen. An diesen Tisch setzt sich der Hausvater mit allen Verwandten und Genossen und liest ihnen vor aus einem abenteuerlichen Buche, das die Hagadah heißt, und dessen Inhalt eine seltsame Mischung ist von Sagen der Vorfahren, Wundergeschichten aus Ägypten, kuriosen Erzählungen, Streitfragen, Gebeten und Festliedern. Eine große Abendmahlzeit wird in die Mitte dieser Feier eingeschoben, und sogar während des Vorlesens wird zu bestimmten Zeiten etwas von den symbolischen Gerichten gekostet, sowie alsdann auch Stückchen von dem ungesäuerten Brote gegessen und vier Becher roten Weins getrunken werden. Wehmütig heiter, ernsthaft spielend und märchenhaft geheimnisvoll ist der Charakter dieser Abendfeier, und der herkömmlich singende Ton, womit die Hagadah von dem Hausvater vorgelesen und zuweilen chorartig von den Zuhörern nachgesprochen wird, klingt so schauervoll innig, so mütterlich einlullend und zugleich so hastig aufweckend, daß selbst diejenigen Juden, die längst von dem Glauben ihrer Väter abgefallen und fremden Freuden und Ehren nachgejagt sind, im tiefsten Herzen erschüttert werden, wenn ihnen die alten wohlbekannten Peßachklänge zufällig ins Ohr dringen.
Im großen Saale seines Hauses saß einst Rabbi Abraham, und mit seinen Anverwandten, Schülern[S. 177] und übrigen Gästen beging er die Abendfeier des Peßachfestes. Im Saale war alles mehr als gewöhnlich blank; über den Tisch zog sich die buntgestickte Seidendecke, deren Goldfranzen bis auf die Erde hingen; traulich schimmerten die Tellerchen mit den symbolischen Speisen, sowie auch die hohen weingefüllten Becher, woran als Zierat lauter heilige Geschichten von getriebener Arbeit; die Männer saßen in ihren Schwarzmänteln und schwarzen Platthüten und weißen Halsbergen; die Frauen, in ihren wunderlich glitzernden Kleidern von lombardischen Stoffen, trugen um Haupt und Hals ihr Gold- und Perlengeschmeide; und die silberne Sabbathlampe goß ihr festliches Licht über die andächtig vergnügten Gesichter der Alten und Jungen. Auf den purpurnen Sammetkissen eines mehr als die übrigen erhabenen Sessels und angelehnt, wie es der Gebrauch heischt, saß Rabbi Abraham und las und sang die Hagadah, und der bunte Chor stimmte ein oder antwortete bei den vorgeschriebenen Stellen. Der Rabbi trug ebenfalls sein schwarzes Festkleid, seine edelgeformten, etwas strengen Züge waren milder denn gewöhnlich, die Lippen lächelten hervor aus dem braunen Barte, als wenn sie viel Holdes erzählen wollten, und in seinen Augen schwamm es wie selige Erinnerung und Ahnung. Die schöne Sara, die auf einem ebenfalls erhabenen Sammetsessel an seiner Seite saß, trug als Wirtin nichts von ihrem Geschmeide,[S. 178] nur weißes Linnen umschloß ihren schlanken Leib und ihr frommes Antlitz. Dieses Antlitz war rührend schön, wie denn überhaupt die Schönheit der Jüdinnen von eigentümlich rührender Art ist; das Bewußtsein des tiefen Elends, der bittern Schmach und der schlimmen Fahrnisse, worinnen ihre Verwandte und Freunde leben, verbreitet über ihre holden Gesichtszüge eine gewisse leidende Innigkeit und beobachtende Liebesangst, die unsere Herzen sonderbar bezaubern. So saß heute die schöne Sara und sah beständig nach den Augen ihres Mannes; dann und wann schaute sie auch nach der vor ihr liegenden Hagadah, dem hübschen, in Gold und Sammet gebundenen Pergamentbuche, einem alten Erbstück mit verjährten Weinflecken aus den Zeiten ihres Großvaters, und worin so viele keck und bunt gemalte Bilder, die sie schon als kleines Mädchen am Peßachabend so gerne betrachtete, und die allerlei biblische Geschichten darstellten, als da sind: wie Abraham die steinernen Götzen seines Vaters mit dem Hammer entzwei klopft, wie die Engel zu ihm kommen, wie Moses den Mizri totschlägt, wie Pharao prächtig auf dem Throne sitzt, wie ihm die Frösche sogar bei Tische keine Ruhe lassen, wie er, Gott sei Dank! versäuft, wie die Kinder Israel vorsichtig durch das Rote Meer gehen, wie sie offnen Maules mit ihren Schafen, Kühen und Ochsen vor dem Berge Sinai[S. 179] stehen, dann auch wie der fromme König David die Harfe spielt, und endlich wie Jerusalem mit den Türmen und Zinnen seines Tempels bestrahlt wird vom Glanze der Sonne!
Der zweite Becher war schon eingeschenkt, die Gesichter und Stimmen wurden immer heller, und der Rabbi, indem er eins der ungesäuerten Osterbrote ergriff und heiter grüßend emporhielt, las er folgende Worte aus der Hagadah: „Siehe! das ist die Kost, die unsere Väter in Ägypten genossen! Jeglicher, den es hungert, er komme und genieße! Jeglicher, der da traurig, er komme und teile unsere Peßachfreude! Gegenwärtigen Jahres feiern wir hier das Fest, aber zum kommenden Jahre im Lande Israels! Gegenwärtigen Jahres feiern wir es noch als Knechte, aber zum kommenden Jahre als Söhne der Freiheit!“
Da öffnete sich die Saaltüre, und herein traten zwei große blasse Männer, in sehr weite Mäntel gehüllt, und der eine sprach: „Friede sei mit euch, wir sind reisende Glaubensgenossen und wünschen das Peßachfest mit euch zu feiern.“ Und der Rabbi antwortete rasch und freundlich: „Mit euch sei Frieden, setzt euch nieder in meiner Nähe!“ Die beiden Fremdlinge setzten sich alsbald zu Tische, und der Rabbi fuhr fort im Vorlesen. Manchmal, während die übrigen noch im Zuge des Nachsprechens waren, warf er kosende Worte nach seinem Weibe, und anspielend auf den alten[S. 180] Scherz, daß ein jüdischer Hausvater sich an diesem Abend für einen König hält, sagte er zu ihr: „Freue dich, meine Königin!“ Sie aber antwortete, wehmütig lächelnd: „Es fehlt uns ja der Prinz!“ und damit meinte sie den Sohn des Hauses, der, wie eine Stelle in der Hagadah es verlangt, mit vorgeschriebenen Worten seinen Vater um die Bedeutung des Festes befragen soll. Der Rabbi erwiderte nichts und zeigte bloß mit dem Finger nach einem eben aufgeschlagenen Bilde in der Hagadah, wo überaus anmutig zu schauen war, wie die drei Engel zu Abraham kommen, um ihm zu verkünden, daß ihm ein Sohn geboren werde von seiner Gattin Sara, welche unterdessen weiblich-pfiffig hinter der Zelttüre steht, um die Unterredung zu belauschen. Dieser leise Wink goß dreifaches Rot über die Wangen der schönen Frau, sie schlug die Augen nieder, und sah dann wieder freundlich empor nach ihrem Manne, der singend fortfuhr im Vorlesen der wunderbaren Geschichte, wie Rabbi Jehoschua, Rabbi Elieser, Rabbi Asarjah, Rabbi Akiba und Rabbi Tarfon in B’ne-B’rak angelehnt saßen und sich die ganze Nacht vom Auszuge der Kinder Israel aus Ägypten unterhielten, bis ihre Schüler kamen und ihnen zuriefen, es sei Tag und in der Synagoge verlese man schon das große Morgengebet.
Derweilen nun die schöne Sara andächtig zuhörte und ihren Mann beständig ansah, bemerkte[S. 181] sie, wie plötzlich sein Antlitz in grausiger Verzerrung erstarrte, das Blut aus seinen Wangen und Lippen verschwand, und seine Augen wie Eiszapfen hervorglotzten; — aber fast im selben Augenblick sah sie, wie seine Züge wieder die vorige Ruhe und Heiterkeit annahmen, wie seine Lippen und Wangen sich wieder röteten, seine Augen munter umherkreisten, ja, wie sogar eine ihm sonst gar fremde tolle Laune sein ganzes Wesen ergriff. Die schöne Sara erschrak, wie sie noch nie in ihrem Leben erschrocken war, und ein inneres Grauen stieg kältend in ihr auf, weniger wegen der Zeichen von starrem Entsetzen, die sie einen Moment lang im Gesichte ihres Mannes erblickt hatte, als wegen seiner jetzigen Fröhlichkeit, die allmählich in jauchzende Ausgelassenheit überging. Der Rabbi schob sein Barett spielend von einem Ohre nach dem andern, zupfte und kräuselte possierlich seine Bartlocken, sang den Hagadahtext nach der Weise eines Gassenhauers, und bei der Aufzählung der ägyptischen Plagen, wo man mehrmals den Zeigefinger in den vollen Becher eintunkt und den anhängenden Weintropfen zur Erde wirft, bespritzte der Rabbi die jüngern Mädchen mit Rotwein, und es gab großes Klagen über verdorbene Halskrausen und schallendes Gelächter. Immer unheimlicher ward es der schönen Sara bei dieser krampfhaft sprudelnden Lustigkeit ihres Mannes, und beklommen von[S. 182] namenloser Bangigkeit schaute sie in das summende Gewimmel der buntbeleuchteten Menschen, die sich behaglich breit hin und her schaukelten, an den dünnen Peßachbröten knoperten, oder Wein schlürften, oder miteinander schwatzten, oder laut sangen, überaus vergnügt.
Da kam die Zeit, wo die Abendmahlzeit gehalten wird; alle standen auf, um sich zu waschen, und die schöne Sara holte das große silberne, mit getriebenen Goldfiguren reichverzierte Waschbecken, das sie jedem der Gäste vorhielt, während ihm Wasser über die Hände gegossen wurde. Als sie auch dem Rabbi diesen Dienst erwies, blinzelte ihr dieser bedeutsam mit den Augen, und schlich sich zur Türe hinaus. Die schöne Sara folgte ihm auf dem Fuße; hastig ergriff der Rabbi die Hand seines Weibes, eilig zog er sie fort durch die dunkeln Gassen Bacherachs, eilig zum Tor hinaus auf die Landstraße, die den Rhein entlang nach Bingen führt.
Es war eine jener Frühlingsnächte, die zwar lau genug und hellgestirnt sind, aber doch die Seele mit seltsamen Schauern erfüllen. Leichenhaft dufteten die Blumen; schadenfroh und zugleich selbstbeängstigt zwitscherten die Vögel; der Mond warf heimtückisch gelbe Streiflichter über den dunkel hinmurmelnden Strom; die hohen Felsenmassen des Ufers schienen bedrohlich wackelnde Riesenhäupter, der Turmwächter auf Burg-Strahleck[S. 183] blies eine melancholische Weise, und dazwischen läutete eifrig gellend das Sterbeglöckchen der Sankt Wernerskirche. Die schöne Sara trug in der rechten Hand das silberne Waschbecken, ihre linke hielt der Rabbi noch immer gefaßt, und sie fühlte, wie seine Finger eiskalt waren und wie sein Arm zitterte; aber sie folgte schweigend, vielleicht, weil sie von jeher gewohnt, ihrem Manne blindlings und fragenlos zu gehorchen, vielleicht auch, weil ihre Lippen vor innerer Angst verschlossen waren.
Unterhalb der Burg Sonneck, Lorch gegenüber, ungefähr wo jetzt das Dörfchen Niederrheinbach liegt, erhebt sich eine Felsenplatte, die bogenartig über das Rheinufer hinaushängt. Diese erstieg Rabbi Abraham mit seinem Weibe, schaute sich um nach allen Seiten und starrte hinauf nach den Sternen. Zitternd und von Todesängsten durchfröstelt stand neben ihm die schöne Sara und betrachtete sein blasses Gesicht, das der Mond gespenstisch beleuchtete, und worauf es hin- und herzuckte wie Schmerz, Furcht, Andacht und Wut. Als aber der Rabbi plötzlich das silberne Waschbecken ihr aus der Hand riß und es schollernd hinabwarf in den Rhein: da konnte sie das grausenhafte Angstgefühl nicht länger ertragen, und mit dem Ausrufe „Schadai voller Genade!“ stürzte sie zu den Füßen des Mannes und beschwor ihn, das dunkle Rätsel endlich zu enthüllen.
Der Rabbi, des Sprechens ohnmächtig, bewegte mehrmals lautlos die Lippen, und endlich rief er: „Siehst du den Engel des Todes? Dort unten schwebt er über Bacherach! Wir aber sind seinem Schwerte entronnen. Gelobt sei der Herr!“ Und mit einer Stimme, die noch vor innerem Entsetzen bebte, erzählte er: wie er wohlgemut die Hagadah hinsingend und angelehnt saß und zufällig unter den Tisch schaute, habe er dort zu seinen Füßen den blutigen Leichnam eines Kindes erblickt. „Da merkte ich“ — setzte der Rabbi hinzu — „daß unsre zwei späte Gäste nicht von der Gemeinde Israels waren, sondern von der Versammlung der Gottlosen, die sich beraten hatten, jenen Leichnam heimlich in unser Haus zu schaffen, um uns des Kindermordes zu beschuldigen und das Volk aufzureizen, uns zu plündern und zu ermorden. Ich durfte nicht merken lassen, daß ich das Werk der Finsternis durchschaut; ich hätte dadurch nur mein Verderben beschleunigt, und nur die List hat uns beide gerettet. Gelobt sei der Herr! ängstige dich nicht, schöne Sara; auch unsre Freunde und Verwandte werden gerettet sein. Nur nach meinem Blute lechzten die Ruchlosen; ich bin ihnen entronnen, und sie begnügen sich mit meinem Silber und Golde. Komm mit mir, schöne Sara, nach einem anderen Lande, wir wollen das Unglück hinter uns lassen, und damit uns das Unglück nicht verfolge, habe ich ihm das letzte meiner[S. 185] Habe, das silberne Becken, zur Versöhnung hingeworfen. Der Gott unserer Väter wird uns nicht verlassen. — Komm herab, du bist müde; dort unten steht bei seinem Kahne der stille Wilhelm; er fährt uns den Rhein hinauf.“
Lautlos und mit gebrochenen Gliedern war die schöne Sara in die Arme des Rabbi hingesunken, und langsam trug er sie hinab nach dem Ufer. Hier stand der stille Wilhelm, ein taubstummer, aber bildschöner Knabe, der zum Unterhalt seiner alten Pflegemutter, einer Nachbarin des Rabbi, den Fischfang trieb und hier seinen Kahn angelegt hatte. Es war, als erriete er schon gleich die Absicht des Rabbi, ja es schien, als habe er eben auf ihn gewartet; um seine geschlossenen Lippen zog sich das lieblichste Mitleid, bedeutungstief ruhten seine großen blauen Augen auf der schönen Sara, und sorgsam trug er sie in den Kahn.
Der Blick des stummen Knaben weckte die schöne Sara aus ihrer Betäubung, sie fühlte auf einmal, daß alles, was ihr Mann ihr erzählt, kein bloßer Traum sei, und Ströme bitterer Tränen ergossen sich über ihre Wangen, die jetzt so weiß wie ihr Gewand. Da saß sie nun in der Mitte des Kahns, ein weinendes Marmorbild; neben ihr saßen ihr Mann und der stille Wilhelm, welche emsig ruderten.
Sei es nun durch den einförmigen Ruderschlag,[S. 186] oder durch das Schaukeln des Fahrzeugs, oder durch den Duft jener Bergesufer, worauf die Freude wächst, immer geschieht es, daß auch der Betrübteste seltsam beruhigt wird, wenn er in der Frühlingsnacht in einem leichten Kahne leicht dahinfährt auf dem lieben, klaren Rheinstrom. Wahrlich, der alte, gutherzige Vater Rhein kann’s nicht leiden, wenn seine Kinder weinen; tränenstillend wiegt er sie auf seinen treuen Armen und erzählt ihnen seine schönsten Märchen und verspricht ihnen seine goldigsten Schätze, vielleicht gar den uralt versunkenen Niblungshort. Auch die Tränen der schönen Sara flossen immer milder und milder, ihre gewaltigsten Schmerzen wurden fortgespült von den flüsternden Wellen, die Nacht verlor ihr finstres Grauen, und die heimatlichen Berge grüßten wie zum zärtlichsten Lebewohl. Vor allen aber grüßte traulich ihr Lieblingsberg, der Kedrich, und in seiner seltsamen Mondbeleuchtung schien es, als stände wieder oben ein Fräulein mit ängstlich ausgestreckten Armen, als kröchen die flinken Zwerglein wimmelnd aus ihren Felsenspalten, und als käme ein Reiter den Berg hinaufgesprengt in vollem Galopp; und der schönen Sara war zumute, als sei sie wieder ein kleines Mädchen und säße wieder auf dem Schoße ihrer Muhme aus Lorch, und diese erzähle ihr die hübsche Geschichte von dem kecken Reuter, der das arme, von den Zwergen geraubte Fräulein befreite, und[S. 187] noch andre wahre Geschichten, vom wunderlichen Wispertale drüben, wo die Vögel ganz vernünftig sprechen, und vom Pfefferkuchenland, wohin die folgsamen Kinder kommen, und von verwünschten Prinzessinnen, singenden Bäumen, gläsernen Schlössern, goldenen Brücken, lachenden Nixen... Aber zwischen all diesen hübschen Märchen, die klingend und leuchtend zu leben begannen, hörte die schöne Sara die Stimme ihres Vaters, der ärgerlich die arme Muhme ausschalt, daß sie dem Kinde soviel Torheiten in den Kopf schwatze! Alsbald kam’s ihr vor, als setzte man sie auf das kleine Bänkchen vor dem Sammetsessel ihres Vaters, der mit weicher Hand ihr langes Haar streichelte, gar vergnügt mit den Augen lachte und sich behaglich hin und her wiegte in seinem weiten, blauseidenen Sabbathschlafrock... Es mußte wohl Sabbath sein, denn die geblümte Decke war über den Tisch gebreitet, alle Geräte im Zimmer leuchteten, spiegelblank gescheuert, der weißbärtige Gemeindediener saß an der Seite des Vaters und kaute Rosinen und sprach hebräisch, auch der kleine Abraham kam herein mit einem allmächtig großen Buche, und bat bescheidentlich seinen Oheim um die Erlaubnis, einen Abschnitt der Heiligen Schrift erklären zu dürfen, damit der Oheim sich selber überzeuge, daß er in der verflossenen Woche viel gelernt habe und viel Lob und Kuchen verdiene... Nun legte der[S. 188] kleine Bursche das Buch auf die breite Armlehne des Sessels und erklärte die Geschichte von Jakob und Rahel, wie Jakob seine Stimme erhoben und laut geweint, als er sein Mühmchen Rahel zuerst erblickte, wie er so traulich am Brunnen mit ihr gesprochen, wie er sieben Jahre um Rahel dienen mußte, und wie sie ihm so schnell verflossen, und wie er die Rahel geheiratet und immer und immer geliebt hat... Auf einmal erinnerte sich auch die schöne Sara, daß ihr Vater damals mit lustigem Tone ausrief: „Willst du nicht ebenso dein Mühmchen Sara heiraten?“ worauf der kleine Abraham ernsthaft antwortete: „Das will ich, und sie soll sieben Jahr warten.“ Dämmernd zogen diese Bilder durch die Seele der schönen Frau, sie sah, wie sie und ihr kleiner Vetter, der jetzt so groß und ihr Mann geworden, kindisch miteinander in der Lauberhütte spielten, wie sie sich dort ergötzten an den bunten Tapeten, Blumen, Spiegeln und vergoldeten Äpfeln, wie der kleine Abraham immer zärtlicher mit ihr koste, bis er allmählich größer und mürrischer wurde, und endlich ganz groß und ganz mürrisch... Und endlich sitzt sie zu Hause allein in ihrer Kammer eines Samstags Abend, der Mond scheint hell durchs Fenster, und die Tür fliegt auf, und hastig stürmt herein ihr Vetter Abraham in Reisekleidern und blaß wie der Tod, und er greift ihre Hand, steckt einen goldenen Ring an ihren Finger und spricht feierlich:[S. 189] „Ich nehme dich hiermit zu meinem Weibe, nach den Gesetzen von Moses und Israel! Jetzt aber“ — setzt er bebend hinzu — „jetzt muß ich fort nach Spanien. Lebewohl, sieben Jahre sollst du auf mich warten!“ Und er stürzt fort, und weinend erzählt die schöne Sara das alles ihrem Vater... Der tobt und wütet: „Schneid ab dein Haar, denn du bist ein verheiratetes Weib!“ — und er will dem Abraham nachreiten, um einen Scheidebrief von ihm zu erzwingen; — aber er ist schon über alle Berge, der Vater kehrt schweigend nach Haus zurück, und wie die schöne Sara ihm die Reitstiefel ausziehen hilft und besänftigend äußert, daß der Abraham nach sieben Jahren zurückkehre, da flucht der Vater: „Sieben Jahr sollt ihr betteln gehn!“ und bald stirbt er.
So zogen der schönen Sara die alten Geschichten durch den Sinn wie ein hastiges Schattenspiel: die Bilder vermischten sich auch wunderlich, und zwischendurch schauten halb bekannte, halb fremde bärtige Gesichter und große Blumen mit fabelhaft breitem Blattwerk. Es war auch, als murmelte der Rhein die Melodien der Hagadah, und die Bilder derselben stiegen daraus hervor, lebensgroß und verzerrt, tolle Bilder: der Erzvater Abraham zerschlägt ängstlich die Götzengestalten, die sich immer hastig wieder von selbst zusammensetzen; der Mizri wehrt sich furchtbar gegen den ergrimmten Moses; der Berg Sinai[S. 190] blitzt und flammt; der König Pharao schwimmt im Roten Meere, mit den Zähnen im Maule die zackige Goldkrone festhaltend; Frösche mit Menschenantlitz schwimmen hintendrein, und die Wellen schäumen und brausen, und eine dunkle Riesenhand taucht drohend daraus hervor.
Das war Hattos Mäuseturm, und der Kahn schoß eben durch den Binger Strudel. Die schöne Sara war dadurch etwas aus ihren Träumereien gerüttelt und schaute nach den Bergen des Ufers, auf deren Spitzen die Schloßlichter flimmerten, und an deren Fuß die mondbeleuchteten Nachtnebel sich hinzogen. Plötzlich aber glaubte sie dort ihre Freunde und Verwandte zu sehen, wie sie mit Leichengesichtern und in weißwallenden Totenhemden schreckenhaftig vorüberliefen, den Rhein entlang... es ward ihr schwarz vor den Augen, ein Eisstrom ergoß sich in ihre Seele, und wie im Schlafe hörte sie nur noch, daß ihr der Rabbi das Nachtgebet vorbetete, langsam ängstlich, wie es bei todkranken Leuten geschieht, und träumerisch stammelte sie noch die Worte: „Zehntausend zur Rechten und zehntausend zur Linken; den König zu schützen vor nächtlichem Grauen...“
Da verzog sich plötzlich all das eindringende Dunkel und Grausen, der düstre Vorhang ward vom Himmel fortgerissen, es zeigte sich oben die heilige Stadt Jerusalem mit ihren Türmen und Toren; in goldner Pracht leuchtete der Tempel;[S. 191] auf dem Vorhofe desselben erblickte die schöne Sara ihren Vater in seinem gelben Sabbathschlafrock und vergnügt mit den Augen lachend; aus den runden Tempelfenstern grüßten fröhlich alle ihre Freunde und Verwandte; im Allerheiligsten kniete der fromme König David mit Purpurmantel und funkelnder Krone, und lieblich ertönte sein Gesang und Saitenspiel — und selig lächelnd entschlief die schöne Sara.
Von Pauline Wengeroff.
Die Zeit vor Peßach verging in endlosen Vorbereitungen für die Wirtschaft, für Kleider und Putzsachen. Endlich nahte der wichtige Tag des Erew-Peßach heran. Da erreichte die Arbeit ihren Höhepunkt! Am Abend vorher wird auch eine rituelle Handlung vollzogen: das B’dikath Chamez, d. h. das Fortschaffen des gesäuerten Brotteiges aus dem Hause. Da begab sich meine Mutter in die Küche, ließ sich von der Köchin einen hölzernen Löffel und einige Gänsefedern geben, wickelte um beides einen weißen Lappen, nahm ein Wachskerzchen dazu, band das ganze mit einem Bindfaden fest und brachte es in das Zimmer des Vaters, wo sie es auf das Fensterbrett legte. Diese scheinbar bedeutungslosen Gegenstände sollten abends bei einer religiösen Handlung verwendet werden. Mein Vater nahm, nachdem er zu Abend gebetet hatte, das Bündel, steckte das Wachskerzchen an und übergab es meinem Bruder, dessen Hand ihm als Leuchter dienen sollte, und nun ging der Feldzug gegen den Chamez durch das ganze Haus. Jedes Fensterbrett,[S. 193] jeder Winkel, in dem man Speisen vermutete, wurde von meinem Vater untersucht und von meinem Bruder mit dem Wachskerzchen erleuchtet. Die aufgefundenen Krümel wurden mit den Federn in den Löffel gescharrt, nachdem mein Vater das dazu bestimmte Gebet gesprochen hatte. Wir Kinder machten uns manchmal den Spaß, vorher überall Krümel anzuhäufen, worüber sich der Vater wunderte, da doch an diesem Tage die Fensterbrettchen gewöhnlich mit besonderer Aufmerksamkeit gesäubert wurden. So untersuchte er nun gründlich die Fenster, und die Mutter mußte sich beeilen, das noch vorhandene Brot aus dem Hause zu räumen, denn das Gesetz gebot, daß alles Brot, das auf der Suche durchs Haus vorgefunden wurde, gesammelt und verbrannt werde. Nachdem diese Handlung vollbracht[S. 194] war, speiste man etwas früher zu Abend als sonst. Das inzwischen verborgene Brot durfte nun zwar auf den Tisch kommen, die gesammelten Brotkrümel im Löffel aber wurden mit dem Wachskerzchen und den Federn in einen Lappen gebunden und auf dem Hängeleuchter im Speisezimmer recht hoch befestigt, damit es keine Maus erreiche, welche die Krümel sonst wieder zerstreuen könnte. Man ging zeitig schlafen, um am nächsten Morgen recht früh aufzustehen, denn um 9 Uhr morgens darf sich kein Bissen Brot oder sonstiger Chamez im Hause eines religiösen Juden vorfinden. Wir Kinder wurden sehr früh geweckt und mußten Frühstück und Mittagessen auf einmal verzehren. Das Nationalgericht für diesen Morgen ist heiß gesottene Milch mit Weißbrot. Doch war meist zu dieser Stunde schon ein Braten fertig, an dem[S. 195] sich mancher Hausgenosse gütlich tat. „Und nun rasch, rasch!“, trieb meine Mutter alle im Hause an, auch die Dienerschaft aß doppelt soviel als sonst, denn es durfte doch nichts vom Chamez zurückbleiben. Wir Kinder machten allerhand Späße und verabschiedeten uns dann für volle acht Tage vom Brote. Das Geschirr wurde rasch gewaschen, und die Mutter befahl dem Diener, alles ins Speisezimmer zu bringen. Von dem teuren Porzellanservice bis zur letzten Kupferkasserole wurden alle Stücke bunt durcheinander auf die Diele, den Tisch, die Fenster gestellt und dann mußte alles in große Kisten gepackt und auf den Boden gebracht werden, woher sodann die gefüllten Kisten mit dem Peßachgeschirr herunter getragen wurden. Das Speisezimmer wurde wieder gründlich gereinigt, die Fensterbrettchen mit weißem Papier bedeckt. Der große Speisetisch wurde auseinander gezogen, mit einem weißen Tuch oder mit Papier bedeckt und dann der zu seiner ganzen Länge ausgezogene Tisch mit dickem Filz, einer Schicht Heu und vieler grauen Leinwand bedeckt, die mit kleinen Nägeln befestigt werden, das wir Kinder mit so großer Neugierde erwarteten, weil jedes von uns darunter seinen bestimmten Kos (kleiner Becher von hübscher Form) hatte. Aber damit nicht genug! Es gab um diese Zeit auch an allen Orten und in allen Zimmern viel Interessantes für uns zu[S. 196] sehen, besonders im Hof, wo alle Holztische und -bänke zum Kaschern aufgestellt waren. Man goß die Bank oder den Tisch mit siedendem Wasser, strich mit einem zum Glühen gebrachten Eisen darüber hin und her und schüttete dann gleich kaltes Wasser auf die Gegenstände.
Außer diesem Schauspiel gab es aber noch etwas Großartigeres: der Vater erschien nämlich in der Küchentür mit dem Chamez von gestern in der Rechten und ließ Feiwele, den alten Wächter, Ziegelsteine und trockene Holzstücke bringen. Der Alte besorgte das blitzschnell, errichtete aus den Ziegeln einen kleinen Herd und legte die Holzstücke darauf. Mein Vater legte den Löffel mit den darin befindlichen Krümeln auf den Scheiterhaufen und ließ das Holz in Brand setzen. Wir Kinder liefen hin und her, um uns, wenn irgend möglich, dabei nützlich zu machen. Das trockene Holz fing sofort Feuer, und ein Flämmchen nach dem andern züngelte aus dem Scheiterhaufen hervor. Und wir Kinder schrien: „Seht, seht, die Federn sind schon versengt! Der Lappen brennt schon...“ Endlich verschlangen die vereinten Flammen auch den Löffel, und es dauerte nicht länger als zehn Minuten, so war das Autodafé des Chamez vollzogen. Mein Vater verließ nicht eher den Schauplatz, als bis alle Überbleibsel des Scheiterhaufens weggeräumt waren, denn nach der Vorschrift darf man selbst nicht auf die Asche[S. 197] treten, auch wenn es „Nutzen oder Vergnügen“ brächte.
Wir Kinder sprangen von da in das Eßzimmer, wo Schimen, der „Meschores“ (der Diener), mit dem Auspacken des Peßachgeschirrs beschäftigt war. Wir wollten auch hier helfen und von unseren Kossoth (Weinbecherchen) Besitz ergreifen, da schmunzelte der Diener schalkhaft und meinte, daß wir dazu noch nicht gehörig vorbereitet seien. Wir waren verblüfft und sahen ihn fragend und bestürzt an. Mit gleichgültiger Miene erklärte er, daß wir noch nicht gescheuert und gekaschert seien. „Wieso gekaschert?“ fragten wir. „Ja, ja,“ versetzte unser Peiniger, „Ihr müßt heiße glühende Steindelach (Steinchen) in den Mund nehmen, sie dort herumkollern, hernach mit kaltem Wasser ausspülen, ausspucken, dann erst dürft ihr dieses Geschirr anrühren.“ Wir fanden keine Antwort und stürzten weinend in die Küche, wo meine Mutter in voller Arbeit war. Sie beriet eben mit der Köchin die Bereitung des Indianvogels, eines riesigen Truthahns, der bereits geschlachtet, gerupft, gesengt, gesalzen und dreimal mit Wasser abgespült war. Jetzt lag er auf dem Brett, und die Köchin hielt ihn mit beiden Händen fest, als wenn er davonfliegen wollte, während die Mutter, mit einem großen Küchenmesser bewaffnet, den Hauptschnitt ausführte. Unweit von diesem Schauplatz, rechts von der[S. 198] Bank, lag auf einem abgehobelten Brett in seiner ganzen Länge ein silberschuppiger Hecht aus dem Flusse Bug, noch der kunstgerechten Behandlung harrend. Auf der linken Seite stand der sauber gescheuerte Küchentisch, auf dem sich verschiedene Schüsseln, Teller, Gabeln, Löffel befanden, ferner ein großer Korb Eier, ein Topf Mazzothmehl, das meine Schwester eben siebte und aus dem später die schmackhaften Torten, Mandelkuchen usw. bereitet wurden. Wir wollten nun die Mutter fragen, ob Simon recht hätte. Aber wir blieben, von der Mutter reger Arbeit gefesselt, stehen. Die schreckliche Vorstellung von den glühenden Steindelach im Mund erpreßte uns ein leises Schluchzen und meine jüngere Schwester überredete mich, die Mutter doch zu interpellieren. Allein die Mutter kam uns zuvor. Ihr war unser Flüstern schon längst aufgefallen und, halb verwundert, halb ärgerlich, fragte sie uns, weshalb wir so ungestüm in die Küche gestürzt wären. Da erzählten wir mit kläglicher Stimme, in halben Sätzen, was der böse Schimen uns gesagt hätte. Sie verstand nicht recht und ward ungeduldig. Dann schrie sie plötzlich auf: „Was für glühende Steindelach? Wer hat sie in den Mund genommen? Wer hat sich mit heißem Wasser begossen?“ Nach einer langen Auseinandersetzung erfuhr sie endlich die eigentliche Ursache unserer Besorgnis. Sie ließ Schimen sofort kommen und verbot ihm energisch,[S. 199] uns so dummes Zeug vorzuschwätzen. Uns sagte sie, wir sollten uns waschen und reine Kattunkleidchen anlegen, dann wären wir würdig, unsere Kossoth in Empfang zu nehmen. Im Nu waren wir angekleidet. Mit triumphierenden Mienen sprangen wir ins Eßzimmer und halfen nun das Geschirr abwischen.
Während meine Mutter mit dem Tischdecken und dem Vorbereiten der verschiedenen kleinen Symbole für die Abendfeier beschäftigt war, kam der Vater oft und erkundigte sich, ob nichts vergessen worden sei. Zur Krönung des Werkes ließ die Mutter noch einige Daunenkissen und eine weiße Pikeedecke holen und bereitete für den Vater zur linken einen Ruhesitz, das Hessebett, ein ähnliches wurde auf zwei Stühlen für die jungen Männer neben ihren Sitzplätzen hergerichtet. Jeder Winkel atmete Sauberkeit und Behaglichkeit, und die festliche Stimmung, die im Hause herrschte, teilte sich jedem mit.
Die Abenddämmer stiegen langsam hernieder. Die Teestunde nahte. Wir tranken und schlürften das duftige Getränk mit besonderem Behagen, denn er schmeckte in der trefflichen Umgebung ganz besonders gut. Alles blitzte und funkelte. Selbst für das Trinkwasser waren neue Gefäße in Verwendung.
Nun ging es an die Toilette! Es dauerte nicht lange, so erschien meine Mutter festlich gekleidet,[S. 200] um die Kerzen anzuzünden. Sie war zur Zeit, die ich schildere, jung und hübsch. Ihre Haltung war bescheiden und doch selbstbewußt. Ihr ganzes Wesen, ihre Augen drückten wahre, tiefe Ruhe und Seelenfrieden aus. Sie dankte dem Schöpfer für die Gnade, daß er sie und ihre Lieben diesen Festtag in Gesundheit hatte erleben lassen. — Ihre Kleidung war reich wie die einer Patrizierin jener Tage. Aus ihrer ganzen Art leuchtete die vornehme, adlige Abkunft. Mancher von der jungen Generation wird bei dem Wort „adliger Abkunft“ spöttisch lächeln, als gäbe es keinen jüdischen Adel! Freilich hat der Jude sein Adelsdiplom weder auf dem Schlachtfeld noch aus Königspalästen für Heldentaten auf der großen Landstraße erworben. Den jüdischen Adel gab das geistige Leben: lebendiges Talmudstudium, Liebe zu Gott und den Menschen. Und es traf sich oft, daß zu diesen Tugenden auch äußerer Reichtum und Würden kamen.
Nachdem meine Mutter die Kerzen angezündet hatte, verrichtete sie ein kurzes Gebet, bedeckte sich, wie es der Brauch will, die Augen mit beiden Händen. Bei dieser Gelegenheit konnten wir die kostbaren Ringe an ihren Fingern bewundern, in denen das Kerzenlicht in allen Regenbogenfarben glitzerte und flimmerte. Besonders der eine blieb mir in Erinnerung, der einen großen, gelben Brillanten in der Mitte hatte, den in länglicher[S. 201] Form drei Reihen weißer Brillanten umschlossen.
Nun erschienen meine älteren, verheirateten Schwestern in reichem Putz; man trug in den vierziger Jahren statt des goldgestickten, schmalen Rockes einen faltenreichen, breiten Rock, der aber weder Reifrock noch Turnüre besaß, die den jugendlichen Körper verunstalteten. Auch meine vier unverheirateten Schwestern bis zur allerkleinsten trugen Schmuck.
Die Sedertafel glänzte und strahlte, der Meschores (Diener) hatte einen neuen Kaftan an, sein ganzes Auftreten atmete feierliches Selbstbewußtsein, als bediente er an diesem Abend aus Liebenswürdigkeit, Gefälligkeit, nicht aus Pflicht, als fühlte er sich den Herrschaften gleich. Er brachte das silberne Becken und viele Handtücher. Man erwartete die Herren aus dem Bethause, die auch bald erschienen. Schon beim Hereintreten meines Vaters fühlten wir an dem Ton, mit dem er laut „Gut Jom Tow“ (Guten Feiertag) sagte, eine gewisse Feierlichkeit, eine wohltuende Vergnügtheit. Er ließ meinen Bruder sämtliche Hagadahs bringen und erteilte den Kindern den Segen. Hierauf nahmen wir an dem Tische Platz, und zwar nach der Reihe des Alters. Heute durfte auch Schimen, der Meschores, an einer Ecke des Tisches sitzen, nach patriarchalischer Art, womit bekundet wird, daß an diesem Abend alle[S. 202] gleich sind — Herr und Diener. Das Aussehen meines Vaters war würdevoll; seine großen, klugen Augen, die edlen Gesichtszüge drückten eine innere Zufriedenheit und Seelenruhe aus. Die mächtige, rastlose Stirn zeugte von rastloser Gedankenarbeit. Der lange, gut gepflegte Bart vervollständigte das ehrwürdige, patriarchalische Aussehen, und sein Verhalten den Kindern sowie allen anderen gegenüber flößte, obwohl er erst vierzig Jahre zählte, Ehrfurcht ein, als wäre er ein Greis von achtzig Jahren. Mein Vater war auf äußeres sehr bedacht, ohne eitel zu sein. Der Ernst der jüdischen Erziehung schützte gegen solchen Leichtsinn. Seine Festtagskleidung bestand aus einem langen, schwarzen Atlaskaftan. Er war der Länge nach von beiden Seiten mit zwei Samtstreifen besetzt, neben denen eine Reihe kleiner schwarzer Knöpfe angebracht waren. Die Kleidung vervollständigte eine teure pelzverbrämte Mütze (Streimel genannt) und ein breiter Atlasmantel um die Lenden. Von dem weißen Leinenhemd war bloß der Kragen sichtbar, der vorteilhaft den schwarzen luxuriösen Anzug hervorhob. Auch das rote Foulardtaschentuch fehlte nicht.
Mein Vater ließ sich gemütlich auf seinen Sitz nieder, legte eine prächtige Schnupftabaksdose mit dem roten Foulardtaschentuch auf den Tisch zu seiner Rechten und begann in der Hagadah zu lesen. Er bat die Mutter, ihm die einzelnen[S. 203] Gerichte von den Tellern zu reichen, auch die jüngeren Herren folgten seinem Beispiel. Dann füllte die Mutter auf eine besondere Bitte des Vaters hin den Becher mit Rotwein. Die verheirateten Schwestern füllten hierauf auch ihren Männern die Becher, während unsere ältere, unverheiratete Schwester das Amt des Einschenkens bei uns Kindern und den anderen Tischgenossen, selbstverständlich auch beim Meschores, versah. Jeder der Herren bekam auf seinen Teller drei Sch’murah-Mazzoth, zwischen denen sich bereits die Seroa, ein wenig von dem vorbereiteten Meerrettich, ein wenig Salat, Charoßeth, ein gebratenes Ei, ein Radieschen befanden. Das alles war mit einer weißen Serviette bedeckt. Der Vater nahm den Becher Wein in seine rechte Hand, sagte das Kidduschgebet und leerte das Glas. Alle Tischgenossen folgten seinem Beispiel, nachdem sie Amen gesagt hatten. Meine Mutter füllte von neuem die Becher, die anderen Frauen taten es wieder für ihre Männer, während die Becher der anderen Tischgenossen mit süßem Rosinenwein gefüllt wurden. Dann nahm der Vater das Gedeck mit allen darauf befindlichen Dingen in die rechte Hand, hob es in die Höhe und sprach dabei laut das Kapitel Ha lachma anja. Die männlichen Tischgenossen wiederholten den Satz bis zum zweiten Kapitel Mah nischtanah, den sogenannten vier Fragen, welche das[S. 204] jüngste Kind bei Tische zu fragen hat. Der Vater antwortete mit bewegter Stimme aus der Hagadah lesend: „Awadim hajinu.“... „Knechte waren wir bei Pharao in Mizrajim, und hätte uns damals Gott der Allgütige in seiner Allmacht nicht erlöst, und wären wir nicht von dort ausgezogen, wären wir, unsere Kinder und Kindeskinder, bis jetzt noch Sklaven gewesen. Und wenn wir auch alle kluge Schriftgelehrte wären, so ist es dennoch unsere Pflicht, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen.“
Bei diesen Worten brach der Vater immer in Tränen aus, — er konnte und durfte seinem Schöpfer gewiß aus vollem Herzen danken, wenn er seinen Blick über die schöne Tafelrunde schweifen ließ und die junge, hübsche Frau mit den blühenden Kindern, die kostbar geschmückt dasaßen, sah! Er durfte sich wirklich im Vergleich zu jener Zeit der Sklaverei als einen Fürsten betrachten.
Nun folgten die Psalmen, die als Hallelgebet zusammengefaßt sind, dann nach oftmaligem Händewaschen die Erklärung, warum wir an diesem Abend die vielen bitteren Kräuter essen. Es ist zur Erinnerung daran, daß unsere Vorfahren reich an Bitternissen waren, und daß sie, durch die Wüste ziehend, keine andere Erquickung hatten als bittere Kräuter. Hierauf brachen die Herren die mittlere der drei Mazzoth entzwei,[S. 205] legten die eine Hälfte unter das Polster zum „Aphikomon“ (Nachspeise) und die andere Hälfte verteilten sie in kleinen Stücken unter die Tischgenossen als „Mozi“ (der Jude betet vor dem ersten Bissen Brot, vor jeder Mahlzeit). Dann aß man vom Meerrettich: erstens zu Maror, der in Charoßeth getunkt, so rasch als möglich verschluckt wird, da dies ohne Mazzoth geschehen muß. Dann der Korech, wieder eine Portion Meerrettich zwischen zwei Mazzothstückchen gelegt. Für jeden Brauch wird zuvor ein bestimmtes Gebet gesprochen. Mit einem Wort, man bekam an diesem Abend den Meerrettich gehörig zu spüren; und wir mußten mit Tränen in den Augen zugeben, daß das Leben unserer Vorfahren in Ägypten bitter war. Später wurden Radieschen und Eier in Salzwasser getaucht; das mundete schon besser, und endlich kam das Abendbrot an die Reihe, das mit Pfefferfischen begann, dem eine fette Brühe mit Mazzahmehlklößchen folgte und das mit einem feinen frischen Gemüse endete. Dann bekam jeder Tischgenosse von dem aufbewahrten Aphikomon. Nun wurden die Becher aufs neue mit Wein gefüllt. Man goß sich Wasser über die Hände, was man „Majim Acheronim“ nennt (letztes Wasser), wobei ein kleines Gebet verrichtet wurde, und nun schickte man sich an, das Tischgebet zu sagen, womit gewöhnlich einer der Herren bei Tische beehrt wurde. Am Schluß des Gebetes[S. 206] fiel die ganze Tischgesellschaft mit einem lauten „Amen“ ein; und nachdem jeder für sich leise das Nachtischgebet mitgebetet hatte, wurden erst die Becher geleert. Und jetzt begann der zweite Teil der Hagadah. Zum vierten Male füllte man die Becher. Diesmal wurde auch die große silberne Kanne gefüllt, die in der Mitte aufgestellt und für den Propheten Eliahu bestimmt war. Dieser Brauch findet in den kabbalistischen Schriften eine Erklärung. Nach der kabbalistischen Lehre ist alles, was man in paarweiser Zahl ißt oder trinkt schädlich oder es kann zum mindesten schädlich wirken. Daher muß bei der Sedermahlzeit zu den vier Bechern, die getrunken werden, noch ein fünfter gefüllt werden.
Wir Kinder glaubten fest an die Volkssage, daß der Prophet Eliahu ungesehen hereinkomme und an dem Becher nippe. Wir blickten daher unverwandt nach der Kanne und wenn sich die äußerste Schicht an der Oberfläche leise bewegte, waren wir überzeugt, daß der Prophet anwesend war und uns überrieselte es kalt und heiß. Sämtliche Becher wurden gefüllt und der Vater befahl dem Diener, die Tür zu öffnen. Nun begann man das Kapitel „Sch’foch chamathcha“ zu rezitieren; hierauf folgten die Schlußkapitel des Hallel. Und zum Schluß das allegorische Liedchen „Chad Gadja, Chad Gadja“, „Ein Zicklein, ein Zicklein“. Mit diesen und ähnlichen Versen fand der Sederabend[S. 207] seinen Abschluß. Jeder hatte seinen vierten Becher Wein ausgetrunken. Auf den Gesichtern aller Tischgenossen sah man die Abspannung und Erregtheit infolge des ungewohnten Weingenusses. Meine älteren und jüngeren Geschwister verließen eine nach der anderen die Tafel, ehe noch die Verse zu Ende gesungen waren, was nicht als Verletzung der Religion oder der Hausdisziplin galt. Mich aber hielt etwas zurück, das ich mir um nichts entgehen lassen wollte. Es war Schir haschirim, das Hohe Lied, das Lied der Lieder Salomos, von dem ich jedes Wort, jeden Ton mit meiner ganzen Seele aufnahm. Die herrliche Verschmelzung von Tönen und Worten wirkte auf das Kindesgemüt berauschend; ich lauschte entzückt. Das ganze Lied wurde im Rezitativ in sieben Tönen gesungen, wobei sich mein älterer Schwager David Ginsburg besonders auszeichnete, und hat sich so lebhaft, so unvergeßlich meiner Seele eingeprägt, daß ich den Anfang noch heute, an meinem späten Lebensabend, auswendig kann. Was gäbe ich darum, noch einmal in meinem Leben das Lied so schön singen hören zu können. Auch meine Mutter pflegte gewöhnlich noch bei Tische zu bleiben.
Meine Mutter ermahnte mich dann mehr als einmal, zu Bett zu gehen. Ich aber bat, noch bleiben zu dürfen, was sie mir für ein Weilchen auch gestattete. Als sie aber merkte, wie müd[S. 208] und abgespannt ich war, erfolgte eine zweite Ermahnung, und ich wiederholte meine frühere Bitte noch inständiger. Meine Stimme war wahrscheinlich dabei so innig, daß ich die Erlaubnis erhielt. Ich gab mir Mühe, nicht müde zu erscheinen und kroch auf einem im Winkel stehenden großen Armstuhl und hörte mit wahrem Seelengenuß dem Gesange zu. Bis zum Schluß hielt ich es aber nicht aus, und ich erwachte erst auf meinem Lager, als meine Njanja mich entkleidete und zurecht legte. Ich wurde dabei munter, schlief aber bald wieder in der seligsten Stimmung ein und erwachte am Morgen mit der gleichen frohen und vergnügten Laune. Alles im Hause war festlich geschmückt; überall feierliche, herrliche Osterstimmung! Draußen strahlte der Frühlingssonnenschein vom heiteren Himmel herab. Die Luft war mild und warm. Die ganze Natur schien ein festliches Kleid angelegt zu haben, wie wir alle im Hause. O goldene Kinderzeit im Elternhause, wie schön bist du!
Von Julius Heilbrunn.
Ich hatte meinen Aufenthalt in Erez Israel (anläßlich der Turnfahrt 1913) um eine Woche über die geplante Zeit hinaus verlängert, um den Seder in Jeruschalajim und die Chagigah in Rechoboth mitzuerleben. Ich habe den Entschluß nicht bereut. Ein freundlicher Zufall ließ mich auf dem Rückwege von Haifa nach Jerusalem das seltsame Peßachopfer der Samaritaner auf dem Berge Garisim sehen, das wie eine tolle unwahrhaftige Phantasie in meiner Erinnerung steht. Welch bizarre Mischung von Urtradition und modernstem Geschäftsgeist! Die Samaritaner bringen seit zweitausend Jahren die Peßachwoche auf der Opferstätte in Zelten zu. Die Zelte vermieten ihnen Thom. Cook Sons, wie riesige schwarze Lettern auf den weißen und bunten Zelttüchern verkünden.
Der Seder in Jerusalem wich von keinem Seder irgend eines jüdischen Hauses in der ganzen[S. 210] Welt ab. Deutschland und England, Rußland und Südafrika, Kanada und Australien hatten ihre Vertreter entsandt. Sie alle einte am Schluß das eine „Gam leschanah habaah bijruschalajim!“
Der Weg nach Rechoboth führte mich über Ekron, das ich vordem nicht gesehen hatte. Als wir kamen, traten gerade die Makkabim (Turner) an, um in frischem Marsch und mit frohem Lied nach Rechoboth zu ziehen. Es war eine Freude, die prächtigen Gestalten in guter Haltung, netter Tracht und in bester Stimmung auf diesem Boden und bei diesem Marsch zu treffen. So ist an jenem Tage im ganzen Land aus den meisten jüdischen Kolonien die Jungmannschaft aufgebrochen, um auf dem Festplatz im männlichen Kampfspiel die Kräfte zu messen. Manche kamen auch durch Kolonien, die keine Makkabim zu entsenden hatten. Dieser Durchmarsch verfehlte seine Wirkung nicht. Beschämt stand in solchen Plätzen die Jugend dabei; man ist sofort daran gegangen, neue Vereine zu gründen oder schwach gewordene neu zu beleben.
Am Tage vor der Feier trafen wir in Rechoboth ein, das uns schon vordem lieb geworden war, weil es am stärksten den gesunden Geist des neuen freien jüdischen Jischub und wirtschaftliche Selbständigkeit erkennen ließ.
Mit Mühe fanden wir ein bescheidenes Unterkommen.[S. 211] In beiden Hotels war alles überfüllt, und es bedurfte eifrigen Zuredens, bis wir einen Wirt bewegen konnten, uns noch aufzunehmen. Dann gingen wir, so schnell es der tiefe Sand der Straßen erlaubte, zum Festplatz. Der Weg führt über die „Birkah“, das große Wasserreservoir auf der Höhe des den Ort beherrschenden Berges, der auch die schöne Synagoge und das Beth-Am (Volkshaus) trägt. Da oben sehen wir die ganze Ansiedlung vor uns ausgebreitet, die sich teils in geschlossenen Straßenzügen, teils in einzelnen Gehöften über die weit ausladenden Hügel erstreckt. Am Horizont verliert sich der Blick im Kranz der ringsumher liegenden reichen Orangenbojaren.
Unmittelbar zu unseren Füßen dehnte sich der Festplatz.
Schon heute am Vortage zeigte sich ein lebhaftes Gewimmel. Die Makkabim übten noch einmal ihre Gerät- und Freiübungen in den einzelnen Vereinen und wurden dann von Orloff zu einer Generalprobe zusammengenommen. Die Fußballgruppen fochten die ersten Vorkämpfe aus, die Reiter führten ihre Pferde vor, waren stolz, wenn sie bewundert wurden und liefen einige Privatrennen untereinander. Es ist eine Lust, die feurigen, gutgebauten Tiere und die schneidigen Reiter zu sehen, frische Jungen, Schomrim (Wächter) und Kolonistensöhne, ein wildes, ungebärdiges[S. 212] Volk, denen die Freude am Reiten und Schießen aus den blanken Augen blitzt, wunderhübsch in ihrem schmucken weißen, weit über den Nacken fallenden Kopftuch, das sie von den Beduinen übernommen haben, weil es ebenso schön wie praktisch ist.
Zum erstenmal hatte man auf Anregung des Koloniearztes Dr. Moskowitz, der die Organisation des ganzen Festes mit geschickter und energischer Hand leitet, eine Ausstellung von landwirtschaftlichen und industriellen Erzeugnissen versucht. Es war ein kleiner, aber wohlgelungener Anfang. Das Syndikat der Weinbauern hatte sein Zelt mit freiem Weinausschank, einzelne Kolonisten hatten besonders große, gut geratene Früchte ausgestellt, ein Holzwarenfabrikant zeigte sehr interessante Produkte der Verwendung des Eukalyptusholzes, ein Aussteller landwirtschaftliche Maschinen mit eigenen Erfindungen und Verbesserungen, die den Bedürfnissen des Landes angepaßt waren.
Wir trafen noch alles in voller Vorbereitung an; die Frauen der leitenden Männer waren bemüht, die Ausstellungszelte mit dem Schmuck des Landes, mit Blüten und mit über mannsgroßen Palmblättern zu verschönern. Nicht ungern stellten wir beschäftigungslosen Ausstellungsbummler uns ihnen bei dieser Arbeit zur Verfügung. Es wurde auch nicht vergessen, für die leiblichen Bedürfnisse[S. 213] des kommenden Tages zu sorgen. Große Zelte wurden aufgeschlagen, in denen es später Tee, den man dort trotz des guten Weines viel und leidenschaftlich gern trinkt, sowie Obst und mancherlei Speisen gab.
Es lag eine Stimmung erwartungsvoller Vorfreude über dem Platz. Dann kam ein Abend, ein stiller, friedvoller, mondlos dunkler Dorfabend.
Der nächste Tag enttäuschte die Erwartungen nicht. Schon früh strömten von allen Seiten große Massen Volkes zu Pferd, zu Esel und zu Wagen herbei. Bald sammelte sich eine zahlreiche Wagenburg auf der einen Seite des Festplatzes. Am stärksten wurde der Zufluß, als der Extrazug, den die Eisenbahn von Tel Awiw, dem jüdischen Viertel von Jaffa, aus eingelegt hatte, in Ramleh angekommen war und seine Insassen sich in langer Kolonne heranwälzten. Viertausend Menschen bedeckten in unendlichem Gewimmel den Festplatz. Sehr viele Araber waren darunter, die mit unverhohlenem, schweigsamem Staunen das fremde Bild betrachteten. Ganz ungezwungen, wenn auch meist in geschlossenen Gruppen, bewegten sich zahlreiche Jemeniten unter der fröhlichen Menge. Eine fleißige Kapelle ließ ihre lustigen Weisen über das Feld hin ertönen. Wir trafen Bekannte aus dem ganzen Lande wieder, begrüßten uns mit ihnen voll herzlicher gegenseitiger Freude: es war, als ziehe die sechswöchige Fußwanderung[S. 214] noch einmal in wenigen Stunden an uns vorüber.
Schon am frühen Morgen waren die Turner auf dem Platze. Der Makkabiverband von Palästina umfaßte damals 980 Turner (die Zahl ist inzwischen ständig gewachsen). Ein sehr großer Teil von ihnen war zugegen und gab dem Fest den Charakter. Es wurden Gerät- und Freiübungen vorgeführt, es gab spannende Fußballwettkämpfe, Wettläufe, Tauziehen. Die einzelnen Kolonien wetteiferten, einander den Rang abzulaufen, aus Tel Awiw hatte das hebräische Gymnasium seine Schüler in den Kampf gesandt.
Gleich nach der Mittagspause vereinigte ein gewaltiger Festzug die gesamte mitwirkende Mannschaft. Mit fliegenden Fahnen zogen die einzelnen Gruppen des Zuges wohlgeordnet durch das Dorf. Vor dem Hause des Waad (Gemeinderat der Kolonie) hielt man an. Der Rosch hawaad (Vorsteher), Herr Eisenberg, trat auf den Balkon und hielt eine lange, mit großer Begeisterung, vielfach mit Tränen der Rührung aufgenommene Rede. So wenig Hebräisch ich verstand, so merkte ich doch, daß er das heutige Peßach mit dem Peßach von Mizrajim verglich und auf ein Peßach der Zukunft hindeutete. Das oft wiederholte Wort Cheruth (Freiheit) war der Grundton seiner Ansprache. In diesem Augenblick war in uns allen die Wahrheit des oft gesungenen „Am[S. 215] Jisrael chaj — Das Volk Israel lebt“ tiefstes Erlebnis.
Der Zug marschierte zum Festplatz zurück, die Wettkämpfe wurden wieder aufgenommen, die Reiter absolvierten ihre interessanten Wettrennen. Dabei beteiligte sich auch Zipporah, die Tochter eines Ansiedlers aus einer der südlichsten Kolonien, Frau eines Schomer.
Beim Wettrennen gab es einen peinlichen Zwischenfall, einen heftigen Streit, weil ein Teilnehmer wegen Behinderung disqualifiziert werden sollte und dennoch mitreiten wollte. Der Streit wurde geschlichtet, aber es war doch eine Dissonanz in dem sonst so harmonisch verlaufenen Tag. Das Bild wäre aber gefälscht, wenn ich dies nicht auch erwähnen wollte.
Der Tag ging zur Neige. Die Siegespreise wurden auf dem Platze verteilt, manch gute Rede noch gehalten, die letzten Gläser Wein getrunken — wobei ich hervorheben muß, daß trotz des freien Ausschanks von gutem schweren Wein kein Betrunkener bei diesem Volksfest zu finden war.
Wir verließen den Festplatz. Der Weg führte uns an der Synagoge vorbei; da sie erleuchtet war, traten wir ein und fanden die Mitglieder des Talmudvereins beim Lernen, meist alte Männer, aber lauter kräftige bäurische Gestalten. So reicht sich hier altes und neues jüdisches Leben die Hand.
Abends fand im Beth-Am, das die Masse der Zuhörer nicht fassen konnte, ein Neschef, eine musikalisch-literarische Abendunterhaltung statt. In die Töne einer Sonate von Beethoven hinein klangen von draußen ab und zu die Freudenschüsse der abfahrenden Gäste.
Zuvörderst schulde ich Herrn S. J. Agnon vielen Dank, der mir bei der Auswahl und Übersetzung seine sehr wertvolle Hilfe geliehen hat und ohne dessen Unterstützung ich damit nicht hätte zurechtkommen können.
Von den im Buche enthaltenen Stücken sind folgende sieben ursprünglich deutsch geschrieben: Zlocisti, Die Peßach-Hagadah; Peßach im Jemen, Buber, Der Seder des Unwissenden; Kompert, Das Mazzothbacken; Heine, Der Rabbi von Bacherach; Wengeroff, Peßach in Rußland vor siebzig Jahren; Heilbrunn, Die Chagigah. Hiervon hat Herr Dr. Zlocisti das erste Stück für dieses Peßach-Buch geschrieben, ebenso Herr Dr. Heilbrunn das letzte. „Peßach im Jemen“ ist einem der Alliance Israélite Universelle erstatteten und in der Zeitschrift „Ost und West“ 1906 abgedruckten Reisebericht entnommen. Das Stück von Kompert ist aus dessen „Skizzen aus dem Ghetto“ (geschrieben 1846) im zehnten Bande seiner sämtlichen Werke (Leipzig); das von Heine bildet das erste Kapitel seines Erzählungsbruchstückes „Der Rabbi von Bacherach“ (geschrieben 1824–25), das von Pauline Wengeroff ist mit freundlicher Erlaubnis der Verfasserin dem ersten Bande ihrer „Memoiren einer Urgroßmutter“ (Berlin 1910) entnommen.
Zwei Stücke sind aus dem Jiddischen übersetzt: „Der Tausch“ von Mendele Mocher Sforim und „Der Zauberkünstler“ von J. L. Perez. Das erstere entstammt den Gesammelten Schriften von Mendele „dem Buchhändler“, dem ausgezeichneten, gemütvollen und volkstümlichen Humoristen, und ist von mir übersetzt; das zweite ist von Mathias Acher übertragen und in den „Volkstümlichen[S. 218] Erzählungen“ von Perez (Berlin, Jüdischer Verlag) enthalten. Es behandelt wie so viele Erzählungen des Dichters einen Stoff aus der legendenhaften Volkspoesie der chassidischen Volkskreise.
Alle übrigen (14) Beiträge sind aus dem Hebräischen übersetzt. Die das Buch einleitenden beiden Stücke sind aus dem zweiten Buch Moses und aus der Peßach-Hagadah genommen. Die schöne Skizze von S. Ben-Zion aus „Bilder aus der Jugend“ (Verlag Moriah, Odessa). Das Stück „Von Moses“, sowie die weiteren Stücke „Pharaos Traum“, „Vom Auszuge“, „Die Ordnung beim Schlachten“ und „Von der Wallfahrt“ stammen aus der großen Literatur der Midraschim (der an das Fünfbuch anknüpfenden Erzählungen, Legenden, Märchen, Betrachtungen). „Pharaos Traum“ ist nach dem Midrasch „Leben Moses“ und dem Midrasch „Wajoscha“, der letzte Absatz „Von Moses“ nach dem Midrasch „Schemoth Rabba“; die übrigen aber nach der Ausgabe „Sefer haagadah“ von Bialik und Rawnitzki (Odessa, Verlag Moriah) und übertragen von meinem lieben Freunde Dr. Hugo Bergmann.
„Mit reichem Gute“ ist aus dem dritten Band der Schriften von A. L. Lewinski (Odessa, Verlag Jabneh); „Peßach in Jerusalem zur Römerzeit“ aus dem Buche „Schewet Jehudah“ von Salomo Ben Virga, herausgegeben von Dr. M. Wiener (Hannover 1855); „Das Peßach der Samaritaner“ erschien im „Luach Erez-Israel“ (Palästina-Kalender) für 5663 (1902–03), redigiert von A. M. Luncz in Jerusalem. Es schildert das Peßachfest, wie es die Bewohner von Sichem (Samaritaner), eine merkwürdige jüdische Gruppe, die leider am Aussterben ist, noch heutigen Tags feiert (jetzt gibt es ihrer nur mehr etwa 70 Familien). „Der Seder“ von Agnon ist noch nicht in Buchform erschienen. Den Bericht von Z. Kasdai über Peßach in Kaukasien fanden wir in N. 75 der Zeitung „Hameliz“ von 1903. „Melameds Hoffnung“ von Bialik, übersetzt von[S. 219] Dr. Moritz Zobel, ist bisher deutsch nur in der „Welt“ (1903, N. 16) erschienen.
Die Stücke, wo ein Übersetzer nicht genannt ist, sind von mir übertragen, doch ist die Übersetzung des Liedchens „Chad gadja“ in der Hagadah dem zweiten Kapitel von Heines „Rabbi von Bacherach“ entnommen (mit Ausnahme des letzten Verses, der dort fehlt).
Wenn ich zur Besprechung der Bilder übergehe, habe ich auch hier die angenehme Pflicht, mit einem Dank zu beginnen. Er gilt Herrn J. H. Wagner in Berlin, der aus seinen reichen Bücherschätzen alle Vorlagen für die Reproduktion, insbesondere die kostbare Hagadah von Mantua, zur Verfügung gestellt und wertvolle Ratschläge erteilt hat. Nur die Zeichnung des „Baruch“ (Seite 18) und die Abbildungen aus der Prager Hagadah von 1526 (Randleiste des Titels) und Seite 55 und 132 stammen nicht von ihm. Die Umschlagzeichnung habe ich nach einer Reproduktion der Gruppe „Sulamith“ von unserm Meister Henryk Glicenstein angefertigt.
Der Rahmen um den Titel ist aus einer 1526 zu Prag gedruckten Hagadah (unten das Prager Wappen). Ebendaher das schöne Schmuckblatt zum Sch’foch auf Seite 55, aus dem auf Seite 132 ein Detail wiederholt ist.
Auf Seite 5 ist das Titelblatt eines römischen Machsor abgebildet, das im Jahre 5482 (1722) von Jizchak Jare und Jakob Chawer-tob in Mantua gedruckt wurde. Aus diesem Buche stammen noch die Abbildungen auf Seite 114 und 115. Sie illustrieren die Worte „Mazzah“ und „Maror“.
Seite 12 stellt das Titelblatt einer von Moses May zu Metz im Jahre 5527 (1767) gedruckten Hagadah dar. Die Zeichnung zeigt oben Moses, der das verirrte Lamm sucht und an den brennenden Dornbusch gerät; er hat eben auf Gottes Geheiß die Schuhe abgelegt.
Die beiden unteren Bildchen auf Seite 16 und 17 (der[S. 220] Böse und Der nicht zu fragen weiß) sind aus der in dem Werke Seder Birkath Hamason enthaltenen Hagadah, gedruckt im Jahre 5513 (1753) zu Frankfurt a. O. von Doktor Professor Grilo. Aus demselben Buche sind noch die Abbildungen auf Seite 18 (die Fahrt Abrahams mit dem kleinen Lot über den Strom), Seite 20 (die schwere Arbeit in Mizrajim), Seite 29 (Einzug des Meschiach in Jerusalem, vor ihm der Prophet Eliahu) und Seite 105 (Hasenjagd).
Die Schrift Baruch auf Seite 18 entstammt einer Machsorhandschrift aus dem 13. Jahrhundert, die auf der Hamburger Stadtbibliothek aufbewahrt wird.
Die Abbildung auf Seite 24 (Lehrer beim Vortrag) lieferte ein jüdisch-deutsches Minhagim-Buch, gedruckt von Herz Levy Rofe (Arzt) in Amsterdam 5483 (1723). Ebendaher die Abbildungen auf Seite 160 (Mazzahmehl-Mahlen), 164 (Mazzothbacken), 193 (Kaschern der Gefäße) und 194 (B’dikath Chamez, Wegräumung des Gesäuerten; das Kind unterm Tische hält das Licht).
Seite 37 zeigt die Nachbildung des Titelblattes einer von Jakob Proops im Jahre 5570 (1810) zu Amsterdam gedruckten Hagadah.
Die Abbildungen auf Seite 58 bis 61 stellen Szenen aus den Vorbereitungen für das Peßachfest dar. Das „Kaschern“, das Scheuern des Geschirrs, das Durchsuchen der Truhen nach Chamez, das Mehlbeuteln. Sie sind in dem Vorbild, einer von Leo von Modena (Jehuda Arje Memodena) mit einer Erläuterung herausgegebenen und von Bragadin in Venedig 5476 (1716) gedruckten Peßach-Hagadah „Z’li esch“ von Sprüchen in jüdisch-deutscher Sprache des 17. Jahrhunderts begleitet, wie: „Die besucht ihre Kisten mit großen Sorgen“, oder: „Und die scheuert ihr Geschirr gar fein.“ Dieselbe Vorlage gab auch die Bildchen auf Seite 75 (Moses und Aaron), Seite 139 (Mazzah und Maror) und Seite 209 (Der Prophet Jesaia).
Die kleinen Bildchen auf Seite 80, 81, 150, 151 stammen aus einer von Hirsch Edelmann in Königsberg herausgegebenen kleinen Hagadah in Quer-Sedez-Format vom Jahre 5605 (1845). Sie stellen dar: einen von den ägyptischen Frohnvögten geschlagenen Juden, die vier Söhne aus der Hagadah (der Böse hält die Hände vor die Augen und will von nichts wissen), das Sedermahl, die eilige Flucht aus Mizrajim.
Alle übrigen Abbildungen sind den schönen Hagadah von Mantua entnommen, die Jizchak Bassan 5321 (1561) gedruckt und die der Zensor Camill Jaghel 1603 mit seiner eigenhändigen Unterschrift versehen hat. Die Bilder erklären sich selbst oder aus dem Text; das auf Seite 27 stellt den Hausvater dar, der „wie ein König“ zu Tische sitzt und den Segensspruch über den Becher Weines spricht.
Druck von C. Schulze & Co., G. m. b. H., Gräfenhainichen.
Anmerkungen zur Transkription:
Der vorliegende Text wurde anhand der 1914 erschienenen Buchausgabe erstellt. Satzzeichen wurden stillschweigend korrigiert bzw. ergänzt. Da dieses Buch Beiträge verschiedener Autoren beinhaltet, bestehen individuelle Abweichungen von den üblichen Schreibweisen, beispielsweise bei der Verwendung von grammatischen Fällen oder den Bindestrichen bei zusammengesetzten Substantiven. Diese persönlichen Ausprägungen wurden stets beibehalten.
Das Inhaltsverzeichnis wurde der Übersichtlichkeit halber an den Anfang des Textes verschoben. Die folgenden Fehler wurden korrigiert:
Gesperrt gedruckte Passagen im Original wurden hier kursiv dargestellt.
End of the Project Gutenberg EBook of Chad Gadja, by Various *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK CHAD GADJA *** ***** This file should be named 50683-h.htm or 50683-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/0/6/8/50683/ Produced by Norbert H. Langkau, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director [email protected] Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. 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