Project Gutenberg's Deutsche Lebensbilder, by Heinrich von Treitschke This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Deutsche Lebensbilder Author: Heinrich von Treitschke Release Date: October 3, 2014 [EBook #47033] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DEUTSCHE LEBENSBILDER ***
Hafis-Lesebücherei
Die Hafis-Lesebücherei will Millionen von Lesern die Möglichkeit geben, eine Auswahl des Besten aus dem Schrifttum aller Zeiten und Völker zu genießen und ihr Eigen zu nennen. Sie bietet eine große Zahl von schönen, dauerhaften Bänden auf gutem Papier, in Leinwand gebunden und im stattlichen Umfang von etwa 320 Seiten zu dem Preise von 1 Mark 30 Pfennig für den Leinenband und 2 Mark 50 Pfennig für den Halblederband.
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Die Herausgeber sind überzeugt, daß diese Hoffnung sich erfülle. Unzähligen, die bisher des Preises wegen solche Schätze nicht erwerben konnten, müssen diese Bücher bald zum kostbaren Besitztum werden.
Sie werden von angesehenen Literaturkennern ausgewählt und jedes Werk ist von einem erläuternden Nachwort begleitet.
Der Wortlaut wird von kundigen Gelehrten geprüft und, wo die früheren Drucke dies erforderlich machen, verbessert. Ebenso sollen die aus fremden Sprachen übersetzten Werke in der denkbar besten deutschen Gestalt erscheinen.
So dürfte alles geschehen sein, um hier der Volksbildung und dem unterhaltenden Lesen ein neues, gediegenes und ansprechendes Hilfsmittel darzubieten, wie es in dieser Art noch nicht vorhanden war.
Das erläuternde Nachwort steht am Schlusse des Bandes
Heinrich von Treitschke
H. Fikentscher Verlag / Leipzig C 1
Textrevision:
Dr. Lotte Blaschke
Druck von Ackermann & Glaser, Leipzig.
Seite | |
Luther und die deutsche Nation | 9 |
Fichte und die nationale Idee | 33 |
Königin Luise | 71 |
Stein | 89 |
Lessing | 113 |
Ludwig Uhland | 137 |
Heinrich von Kleist | 181 |
Friedrich Hebbel | 229 |
Otto Ludwig | 261 |
Gottfried Keller | 289 |
Nachwort | 312 |
Vortrag,
gehalten in Darmstadt am 7. November 1883
zur Feier des vierhundertsten Geburtstags
Martin Luthers.
Hochansehnliche Versammlung!
Mancher unter Ihnen hat vor einigen Wochen auf der Höhe des Niederwaldes gestanden, als unser greiser Kaiser das Bild der schwertumgürteten Germania enthüllen ließ, und dort das Glück genossen, mit allen Landsleuten von nah und fern das eine Gefühl dankbarer Freude zu teilen. Jahrhundertelang ist uns Deutschen dieser Einmut froher, neidloser Erinnerung, der zum Leben gesunder Völker gehört, versagt geblieben; denn jene Siege, die uns die neue Einheit unseres Reiches schufen, waren selber seit unvordenklicher Zeit die erste gemeinsame große Tat, zu der sich die ganze Nation in schönem Wetteifer zusammenfand. Wohl ist sie ruhmvoll, die Geschichte dieses Volkes, das so oft schon dem Weltteil den ersten Mann des Jahrhunderts geschenkt, so oft in den Kämpfen Europas das erweckende oder das versöhnende Wort gesprochen hat; doch fast alle ihre großen Namen waren in das Gewirr der Gegensätze, die unser inneres Leben zerrütteten, so tief verflochten, daß sie noch heute breiten Schichten des Volkes unverständlich bleiben und ihnen nur als die Vorkämpfer eines Stammes, einer Partei, eines Glaubensbekenntnisses, nicht schlechtweg als deutsche Helden erscheinen. Wir haben im achtzehnten Jahrhundert den letzten und größten Vertreter des alten unbeschränkten Königtums unter uns walten sehen, und seit seine Saat in Halme schoß, beginnen die Einsichtigen zu fühlen, daß er für Deutschland focht, als er gegen Österreich und das heilige Reich seine Schlachten schlug; dennoch wird König[S. 10] Friedrich, gleich seinem Ahnen, dem großen Kurfürsten, immer zunächst der Liebling seiner Preußen bleiben und der Masse der Oberdeutschen niemals ganz vertraut werden. Wir haben ein Jahrhundert zuvor durch einen greuelvollen Krieg der europäischen Welt die kirchliche Duldung gesichert, aber der Sieg ward um einen furchtbaren Preis, durch die Verwüstung unserer alten Kultur, erkauft, und der Held, der sich von jener finsteren Zeit als die beinahe einzige lichte Gestalt abhebt, Gustav Adolf, war ein Fremder; selbst seine Bewunderer können nicht leugnen, daß seine Siegeslaufbahn zu unserem Heile frühzeitig endete, eben in dem Augenblicke, da seine Macht unserem Vaterlande verderblich zu werden begann.
So ist denn auch die Gedächtnisfeier, zu der sich in dieser Woche unser protestantisches Volk überall gehobenen Herzens versammelt, leider nicht ein Fest aller Deutschen. Millionen unserer Landsleute stehen teilnahmslos oder grollend abseits; sie wollen, sie können nicht begreifen, daß der Reformator unserer Kirche der gesamten deutschen Nation die Bahnen einer freieren Gesittung gebrochen hat, daß wir in Staat und Gesellschaft, in Haus und Wissenschaft, überall noch den Atem seines Geistes spüren. Wer über ihn redet, der muß bekennen, wie er sich selber zu den großen sittlichen Aufgaben der Gegenwart stellt. Leidenschaftlich, als stünde der Reformator noch mitten unter uns, erklingen die Anklagen derer, die seine Größe nicht zu fassen vermögen.
Schon bei seinen Lebzeiten ist Martin Luther dem tragischen Geschick der Verkennung, das keinem großen Manne und am wenigsten dem Kämpfer erspart bleibt, nicht entgangen. In den hoffnungsreichen ersten Jahren seines öffentlichen Wirkens begrüßte ihn die Nation mit einer stürmischen Freude, wie sie der deutsche Boden erst in unseren Tagen wieder erlebt hat. Damals, als er zuerst der Katze die Schelle anband und dann kühn und kühner, fortgerissen von der zwingenden Macht des freien Gedankens und des wachen Gewissens, aus einem treuen Sohne der alten Kirche zum erklärten Ketzer ward, als er die Bannbulle des Papstes in das Feuer warf und in[S. 11] dem flammenden Aufruf „An den christlichen Adel deutscher Nation” seine Deutschen aufforderte zur Reform der Kirche und des Reiches an Haupt und Gliedern: da stand er vor Kaiser und Reich als der Führer der Nation, heldenhaft wie ihr Volksheiliger, der streitbare Michael; da jubelte das Volkslied: „Zu Worms er sich erzeiget, er stand wohl auf dem Plan, seine Feind’ hat er geschweiget, keiner durft’ ihn wenden an”; da schien es wirklich, als sollten alle die elementarischen Kräfte, die in der tief erregten Nation arbeiteten, der Glaubensernst der frommen Gemüter, der Forschermut der jungen Wissenschaft, der Nationalhaß des ritterlichen Adels wider die welschen Prälaten, der Groll der mißhandelten Bauern, sich zu einem mächtigen Strome vereinigen und gewaltig aufwallend alles römische Wesen aus unserem Staate, unserer Kirche hinwegschwemmen. Aber noch war unsere deutsche Königskrone fest verkettet mit der weltumspannenden Politik des römischen Kaisertums. Einen Zufall dürfen wir es nicht nennen, daß in jenem verhängnisvollen Augenblick ein Fremdling unsere Krone trug, der unseres Herzens Schlag nicht hören konnte und, während die Deutschen dem lauten Freimut ihres Landsmannes zujauchzten, verächtlich lächelnd sprach: der soll mich nicht zum Ketzer machen.
Sobald der Kaiser dem Rufe der Nation sich versagte, stand nicht bloß die politische Macht des spanischen Weltreichs wider den Reformator, sondern auch eine gewaltige sittliche Macht, die feste Kaisertreue unseres Volkes. Und nun trat auch die alte Todsünde unserer Geschichte, der Haß der Stände, wieder hervor. Die Ritterschaft vergeudete ihren ungestümen Tatendrang in einer ziellosen, unglücklichen Fehde. Die Bauern nahmen die Lehre der evangelischen Freiheit fleischlich auf und erhoben sich zu einem wütenden sozialen Kampfe. Luther aber meinte seine heilige Sache geschändet und ließ die Gecken, die das Evangelium mit Hammern und mit Zangen in den Kisten suchten, die ganze Wucht seines Zornes empfinden. Als der gräßliche Aufruhr durch die unbarmherzigen Herren gräßlicher bestraft war, da sah sich der Mann, den sein[S. 12] Volk soeben auf den Schild gehoben, mit den Verwünschungen der kleinen Leute beladen. Mittlerweile hatte sich auch der erste Gelehrte des Jahrhunderts, Erasmus, von den Wittenbergern abgewendet; auch Luthers Lehrer, Staupitz, der sinnige Mystiker, auch die geistreichen Humanisten Crotus Rubianus und Eobanus Hessus traten erschrocken zurück. Mit ihrem Abfall war entschieden, daß die neue Lehre selbst unter den Höchstgebildeten der Nation vorerst noch nicht überall Anklang finden konnte, und da sie mit der Selbständigkeit des Denkens auch den trotzigen Eigensinn des deutschen Charakters entfesselte, so verfielen ihre Anhänger bald einer gefährlichen Zersplitterung: zuchtlose Schwarmgeisterei und dogmatischer Streit schwächten ihre Einheit.
Also von allen Seiten bedrängt und verlassen suchte Luther seine Zuflucht bei dem deutschen Fürstenstande. Noch immer reich an Erfolgen, waren seine letzten Jahre noch reicher an schmerzlichen Enttäuschungen. Er hatte einst gehofft, in der gesamten Christenheit oder mindestens in seiner deutschen Nation das kirchliche Leben zu verjüngen. Nun mußte es ihm genügen, daß nach und nach in den größeren weltlichen Fürstentümern Deutschlands kleine evangelische Landeskirchen entstanden; und wer in der Geschichte nur die Erscheinungen des Tages obenhin betrachtet, mag es leicht eine glückliche Fügung nennen, daß der durch übermenschliche Arbeit früh Gealterte aus diesem Leben hinweggerufen wurde, unmittelbar bevor die deutschen Protestanten im Schmalkaldischen Kriege durch Hader und planlose Schwäche den Waffen der Fremdherrschaft schimpflich erlagen. Ja während sonst das Bild der geschiedenen Helden sich im Gedächtnis der Völker zu verklären pflegt, erschien Luther den Nachlebenden kleiner, als er gewesen. In jenen müden Jahrzehnten der politischen Tatenscheu und des theologischen Gezänks, welche den lichten Tagen der deutschen Reformation folgten, formte sich ein kleines Geschlecht die Gestalt des Reformators nach seinem eigenen Bilde, als wäre er auch nur ein bibelfester Prediger und ehrsamer Hausvater gewesen, als hätte er wirklich nur[S. 13] eine Sonderkirche, die sich nach dem Namen eines sündhaften Menschen nannte, stiften wollen. Erst die historische Wissenschaft unseres Jahrhunderts hat sich wieder das Herz gefaßt, den ganzen Luther zu verstehen, den zentralen Menschen, in dessen Seele fast alle die neuen Gedanken eines reichen Jahrhunderts mächtig widertönten; sie steht ihm fern genug, um auch die mittelbaren Folgen seines zerstörenden und aufbauenden Wirkens zu würdigen, um alle die Keime einer neuen Kultur, die er ahnungslos, nach der Weise des Genius, in den deutschen Boden senkte, wahrzunehmen und dankbar zu erkennen, wie treu er sein Wort erfüllt hat: „Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen”. —
Im deutschen Gemüte lag von jeher dicht neben der hellen Weltlust ein beschaulicher Ernst, der die Vergänglichkeit aller irdischen Dinge schmerzlich empfand, neben der wagenden Tapferkeit eine tiefe Sehnsucht nach Erlösung von dem Fluche der Sünde. Die Germanen allein unter allen Völkern Westeuropas haben schon in den Tagen ihres Heidentums etwas geahnt von dem dereinstigen Untergange dieses frevelnden Geschlechts, von einer neuen Welt der Reinheit und der Klarheit, die da kommen solle. In einem solchen Volke mußte die frohe Botschaft aus Jerusalem bereite Herzen finden, und wie andächtig, wie innig die Deutschen den neuen Glauben aufnahmen, das erzählen die Wunderbauten unserer alten Dome. Gleichwohl hatte die christliche Lehre, als sie bei uns eindrang, bereits in Rom eine Gestalt angenommen, welche dem deutschen Volke niemals ganz vertraut werden konnte. Diesseits und Jenseits, alle Zeiten und alle Völker erschienen eingeschlossen in der einen großen Gemeinschaft der Heiligen, welche die streitende Kirche hienieden mit der leidenden Kirche der armen Seelen im Fegefeuer und der triumphierenden Kirche der Seligen droben im Himmel verband. Aus dem Gnadenschatze der guten Werke der Heiligen spendete die Kirche ihren Gläubigen die Vergebung der Sünden durch den Mund eines herrschenden Priesterstandes, der durch die geistige Zeugung der Weihe befähigt war, Brot und Wein in den[S. 14] Leib und das Blut des Erlösers zu verwandeln. Außer ihr war kein Heil; von der Wiege bis zur Bahre, von der Taufe bis zur letzten Ölung umfing und heiligte sie das Leben jedes Christen. Es war ein wunderbarer großer Gedankenbau; lange Jahrhunderte hindurch hatten die Weisheit und die Andacht so vieler heiliger Männer und eine seltene Kunst der Menschenbeherrschung daran gebaut; festgefügt stand Stein auf Stein, die unerbittliche Folgerichtigkeit dieser Lehre ließ dem Christen nur die Wahl zwischen der Unterwerfung und der Ketzerei. Doch die scharfe Logik der Romanen hat dem deutschen Geiste niemals ganz genügt; nicht so von außen her, nicht allein durch die Gnadenmittel der Kirche und durch vorgeschriebene gute Werke konnte das rege Gewissen unseres Volkes seinen Frieden finden. Schon im vierzehnten Jahrhundert erdröhnte das deutsche Land von den Kyrieleis-Rufen der Geißler, und immer lauter, immer verzweifelter, fast so herzzerreißend wie in den Anfängen der christlichen Geschichte, erklang seitdem der Aufschrei der sündigen Kreatur nach Versöhnung mit ihrem Schöpfer.
Zugleich ward auch der kampfmutige Weltsinn der Deutschen an den Lehren der alten Kirche irr. So viele Kränze des Ruhmes, so viele edle Freuden bot diese schöne Erde dem tatkräftigen Manne; und das alles sollte nichts gelten neben der höheren Heiligkeit der begebenen Menschen, der Priester und der Mönche, die auf alles verzichteten, was Menschen menschlich aneinander bindet, die mit dem holden Glück auch die heiligen Pflichten des ehelichen Lebens verschmähten! Kummervoll sann der größte Dichter unseres Mittelalters, Walther von der Vogelweide, diesem dunklen Rätsel nach und klagte:
Und dieser Priesterstand, der sich so unnahbar hoch über die gehorchende Gemeinde erhob, der alle weltliche Arbeit[S. 15] so tief verachtete, war selber längst einer schamlosen Weltlust verfallen, die ihn den Weltlichen als ein Heuchlergezücht erscheinen ließ. Er besaß das reichste Drittel Deutschlands, gab auf den Reichstagen durch seine Überzahl den Ausschlag, und seine politische Macht ward von den Deutschen als Fremdherrschaft empfunden; denn in der Kirche regierte der Papst mit seinen italienischen Prälaten, und alle die Fülle von Geist, Witz und Bildung, die sich in dem Lügenstübchen des Vatikans gesellig zusammenfand, alle die Meisterwerke des Meißels und des Pinsels, die in der Sonne päpstlicher Gnade reiften, konnten unser Volk doch nicht darüber trösten, daß die Herrscherin der Christenheit die ruchloseste Stadt der Erde war. Vergeblich hatten die Deutschen, allen anderen Nationen voran, auf den Konzilien des fünfzehnten Jahrhunderts die Schäden der Kirche zu bessern versucht. Als Luther auftrat, war die Nation in unheimlicher Gärung, von widersprechenden Gefühlen stürmisch bewegt: hier die Gewissensangst der Frommen, die über ihre Sünden und guten Werke peinlich Buch führten und mit heiligem Schauer die volkstümlichen Bilder des Totentanzes betrachteten; dort der kecke Übermut eines sinnenkräftigen, lebenslustigen Geschlechts, das der derben Schwänke nicht satt ward und sich dreist spottend an dem Zerrbild der verkehrten Welt erfreute; dazu allen Deutschen gemein der Haß gegen das welsche Wesen.
Die Tat der Befreiung ging aus den Kämpfen des ehrlichen deutschen Gewissens hervor; aus seiner Demut schöpfte Luther die Kraft der höchsten Verwegenheit. Getrieben von einer leidenschaftlichen Angst um seine und seiner Brüder Seligkeit hatte er einst Vater und Mutter verlassen und in seiner Klosterzelle durch alle Qualen mönchischer Buße den Himmel stürmen wollen, doch immer wieder klang es in seiner Seele: „O meine Sünde, Sünde, Sünde!” — bis dann endlich das Wort des Apostels von der Rechtfertigung durch den Glauben zündend in sein Herz schlug. Und nun kam sie über ihn, die Wandelung des inneren Menschen, die μετάνοια des Paulus; in demütiger Erkenntnis der Unzulänglichkeit alles menschlichen [S. 16] Verdienstes ergab er sich gläubig der Gnade des lebendigen Gottes und er wagte, dieses seines Glaubens zu leben. Der ganze Gegensatz romanischer und germanischer Empfindung tritt uns vor die Augen, wenn wir diese Seelenkämpfe Luthers vergleichen mit den inneren Anfechtungen, welche späterhin der Rittersmann der wiederhergestellten alten Kirche, Ignatius von Loyola, zu überwinden hatte. Der Spanier entledigt sich seiner Pein durch den Entschluß, diese Wunden seiner Seele nie mehr zu berühren; der Deutsche beruhigt sich erst, sobald sein Gemüt überzeugt ist und alle Zweifel vor der Gewißheit einer innerlich erlebten Wahrheit schwinden.
Ohne jede Ahnung von der unermeßlichen Wirkung seiner Tat beginnt er nun den Kampf gegen den häßlichsten Mißbrauch der verweltlichten Kirche, und dann führt ihn Gott weiter wie einen Gaul, dem die Augen geblendet sind. Aus jenem entscheidenden Gedanken ergibt sich ihm die Erkenntnis, daß Gott keinen erzwungenen Dienst will und über die Gewissen niemand richten kann denn Gott allein. Kaum drei Jahre nach dem Beginne des Ablaßstreites sagt er sich schon los von der gebundenen Sittlichkeit des Mittelalters durch jenen mächtigen Hymnus der evangelischen Freiheit, das Buch von der Freiheit des Christenmenschen: der Christ ist niemand untertan in seinem Glauben und eben darum jedermanns Knecht, dem geringsten seiner Brüder zum Dienst der Liebe verpflichtet; gute Werke machen nimmermehr einen guten Mann, sondern ein guter Mann machet gute Werke. Eine zugleich freiere und strengere Auffassung des sittlichen Lebens, die wieder anknüpft an die Kämpfe Jesu wider die starre Gesetzlichkeit der Pharisäer und den Schwerpunkt der sittlichen Welt im Gewissen des Menschen findet. An diese Erkenntnis wieder schließt sich die Forderung des Priestertums der Laien und der Gedanke der freien Gemeindekirche, die sich bescheidet, die äußeren Formen der Kirchengemeinschaft wie alles Menschliche in den Fluß der Zeiten zu stellen, und dem mißdeuteten Worte „Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen” das lebendig verstandene Wort entgegenhält: „Wo zwei[S. 17] oder drei von euch versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.”
Gewiß war Luthers Tat eine Revolution, und da der religiöse Glaube im innersten Kerne des Volksgemüts wurzelt, so griff sie in alles Bestehende tiefer ein als irgendeine politische Umwälzung der neuen Geschichte. Es ist wahrlich kein Zeichen evangelischen Mutes, wenn manche wohlmeinende Protestanten dies zu leugnen oder zu verhüllen suchen. Nur ein Mann, in dessen Adern die ungebändigte Naturgewalt deutschen Trotzes kocht, konnte so Vermessenes wagen. Die ganze alte Ordnung der sittlichen Welt, die einem Jahrtausend heilig gewesen, die lange Kette der ehrwürdigen Traditionen, welche das Leben der Christenheit gebunden hielten, brach mit einem Schlage zusammen, und lebhaft können wir heute dem Gegner des Reformators, dem Elsässer Murner, nachempfinden, wenn er heim Anblick der ungeheuren Zerstörung jammernd ausrief:
Die Größe der historischen Helden besteht in der Verbindung von Seelenkräften, die nach der Meinung des platten Verstandes einander ausschließen. So gewaltig die Kühnheit des schlichten Mannes, der sich selber nur eine Gans unter den Schwänen nannte und dennoch sich vermaß, gegen die stärksten politischen und sittlichen Mächte der Zeit in die Schranken zu treten, ebenso erstaunlich erscheint von Haus aus seine Mäßigung. Nie war er kühner, als da er den Bilderstürmern von Wittenberg die Mahnung der Liebe zurief: Macht mir nicht aus dem Frei sein ein Muß sein! Mit kindlichem Vertrauen baute er auf die Macht des göttlichen Wortes allein. Und sein Glaube trog ihn nicht; denn nachdem erst die wilden Zuckungen des Bauernkrieges und der Wiedertäuferei überwunden waren, vollzog sich der Sieg der Reformation in Deutschland fast überall friedlich, frei aus dem[S. 18] Volke heraus. Bei allem Häßlichen, das sich mit ansetzte, trug die große Bewegung doch jenen Charakter schlichter Treuherzigkeit und Kraft, der alle große Epochen der deutschen Geschichte auszeichnet; sie schenkte unserem Volke die Form des Christentums, welche dem Wahrheitsdrange und der unzähmbaren Selbständigkeit der deutschen Natur zusagt, gleichwie die römische Kirche der Logik und dem Schönheitssinne der Romanen, die orthodoxe Kirche der halborientalischen Gebundenheit der gräko-slawischen Welt entspricht. Und weit hinaus über den Kreis seiner Glaubensgenossen wirkte Luthers Wort; er war im Rechte, wenn er den deutschen Bischöfen zurief: „Ihr habt mein Evangelium verdammen lassen, habt es aber heimlich und in vielen Stücken angenommen.” Mit gutem Grunde nennen wir ihn heute einen Wohltäter auch der alten Kirche. Denn auch sie ward durch ihn gezwungen, ihre sittlichen Kräfte zusammenzuraffen, auch sie blieb nicht unberührt von der innigen, seelenvollen Auffassung des Glaubens, welche Luther der Christenheit wiedergab. Eine so sinnliche Ablaßlehre, wie sie Tetzel einst predigte, wäre auf deutschem Boden jetzt unmöglich; und sicherlich steht heutzutage der denkende deutsche Katholik dem deutschen Protestanten in seiner ganzen Weltanschauung näher als seinem spanischen Glaubensgenossen.
In allen den mächtigen Wandlungen unseres geistigen Lebens seitdem ist der Grundgedanke der Reformation, die freie Hingebung der Seele an Gott, unwandelbar das sittliche Ideal der Deutschen geblieben. Er kehrt, ins Weltliche gewendet, wieder in dem strengen Ausspruch Kants, daß überall auf der Welt nichts für gut gehalten werden dürfe, als allein ein guter Wille; er tönt uns entgegen aus dem milden Gesange der Engel, die Fausts Unsterbliches gen Himmel tragen: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.” Wir danken der Reformation das lebendige Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse, worauf die heutige deutsche Gesittung beruht, jene freie Duldsamkeit, die weder der Furcht noch dem Kaltsinn entspringt, sondern der Erkenntnis, daß das Licht der göttlichen Offenbarung, wie heute die Welt noch[S. 19] steht, nur gebrochen in vielen Strahlen dem Auge der Menschheit erkennbar ist; denn so gewiß kein Sohn des sechzehnten Jahrhunderts, auch Luther nicht, verstanden hätte, was wir heute Toleranz nennen, ebenso gewiß ist diese Duldung nur möglich geworden auf dem Boden des Protestantismus, der den hochmütigen Wahn einer alleinseligmachenden Kirche grundsätzlich verwirft. Wir danken ihr, daß der Deutsche zugleich fromm und frei empfinden kann, daß keiner unserer großen Denker, wie kühn sich auch die Flüge ihres Geistes erhoben, jemals in den lästernden Spott eines Voltaire verfiel, und die Todsünde der Heuchelei unter uns eine seltene Ausnahme ist.
Denn das ist die Größe des Protestantismus, daß er einen Widerspruch zwischen dem Denken und dem Wollen, zwischen dem religiösen und dem sittlichen Leben nicht dulden will, sondern gebieterisch fordert: Was du erkannt hast, das bekenne und darnach handle! Zu Luthers Zeiten standen die Italiener unserem Volke in Kunst und Wissenschaft weit voran. Bereits im vierzehnten Jahrhundert war unter ihnen Petrarca aufgetreten, der erste moderne Mensch, der ganz auf eigenen Füßen stand und die Binde sich von den Augen gestreift hatte; und nun gerade in den Tagen des deutschen Ablaßstreites schrieb Machiavelli jene zwei Bücher vom Staate, die mit den überlieferten Vorstellungen des Mittelalters weit rücksichtsloser brachen als Luther. Jedoch den Romanen fehlte die Kraft, ihre eigenen Gedanken in vollem Ernst zu nehmen, sie brachten es über sich, ihr Gewissen zu teilen und einer Kirche, die sie verspotteten, zu gehorchen. Die Deutschen wagten, das Leben nach der erkannten Wahrheit zu gestalten, und weil die historische Welt die Welt des Willens ist, weil nicht der Gedanke, sondern die Tat das Schicksal der Völker bestimmt, darum beginnt die Geschichte der modernen Menschheit nicht mit Petrarca, nicht mit den Künstlern des Quattrocento, sondern mit Martin Luther. Merkwürdig früh hat die europäische Welt dies erkannt. Nur hundertundvierzig Jahre nach Luthers Tode stellte der deutsche Historiker Cellarius die Behauptung auf, gegen den Ausgang des fünfzehnten[S. 20] Jahrhunderts sei eine alte, für uns abgeschlossene Zeit zum Ende gelangt, das Mittelalter. Bei allen Völkern hat sich seitdem Begriff und Name des Mittelalters eingebürgert, und dabei wird es bleiben, obwohl die Selbstverliebtheit unserer Tage zuweilen, ganz vergeblich, versucht, die Geschichte der neuen Zeit erst mit der französischen Revolution zu beginnen. —
Gleich allen echten Germanen hegte Luther ein tiefes Gefühl historischer Pietät, und er liebte, die große Neuerung, die er in der Kirche vollzog, sich nur als die Wiederherstellung der ursprünglichen Zustände des Christentums zu denken. Dagegen wußte er wohl, daß er das politische Leben der Völker mit einem schlechthin neuen Gedanken befruchtet hatte. „So stund’s aber dazumal,” — sagt er über die Zeiten der Jugend — „es hatte niemand gelehret noch gehöret, wußte auch niemand von der weltlichen Obrigkeit, woher sie käme, was ihr Amt oder Werk wäre oder wie sie Gott dienen solle.” In der Tat war der Staat noch niemals zu seinem vollen Rechte gelangt, seit die schwere, der heidnischen Welt unbekannte Frage nach den Grenzen geistlicher und weltlicher Gewalt zuerst in der Christenheit aufgeworfen wurde. In ihren ersten Jahrhunderten hielt sich die Kirche scheu vor dem Staate zurück, weil er heidnisch war, und als sie dann im Römerreiche die Oberhand gewann, entstand nach und nach, eng verbunden mit der Verfassung und dem Dogma der Kirche, das politische System der kirchlichen Weltherrschaft. Das ganze Leben der Christenheit erscheint als eine fest geordnete Einheit; Staat und Volkswirtschaft, Wissenschaft und Kunst, alle Berufe der Menschen empfangen ihre sittlichen Gesetze aus den Händen der Kirche; die Kirche ist der Staat Gottes, der weltliche Staat das Reich des Fleisches, ohne eigenen sittlichen Zweck und nur dann vor Gott gerechtfertigt, wenn er dem Schiedsrichter der Staatenwelt, dem Papste, seinen starken Arm zum Dienste leiht. Kein kräftiger Staat des Mittelalters hatte diese herrischen Ansprüche des Papsttums jemals vollständig anerkannt. Seit Dante, seit Marsilius von Padua und den tapferen ghibellinischen Schriftstellern, die sich um[S. 21] Kaiser Ludwig den Bayern scharten, war das Ansehen der kirchlichen Weltstaatslehre auch in der Wissenschaft bereits tief erschüttert. Sie ganz zu überwinden, konnte doch nur dann gelingen, wenn der Stier bei den Hörnern gepackt und die Herrschaft des Priesterstandes in der Kirche selbst verworfen wurde.
Erst Luther warf den Satz „Geistliche Gewalt ist über der weltlichen”, diese starke Mauer der Romanisten, in Trümmer und lehrte, daß der Staat selber eine Ordnung Gottes ist, berechtigt und verpflichtet, seinen eigenen sittlichen Lebenszwecken, unabhängig von der Kirche, nachzugehen. Damit ward der Staat für mündig erklärt, und da er wirklich schon zu seinen Jahren gekommen war, da die weltliche Gewalt überall an dem erstarkten Selbstgefühl der Nationen eine sichere Stütze fand, so wirkte diese Tat der politischen Befreiung fast noch gewaltiger, noch weiter in die Welt hinaus, als die Reformation der Kirche. Alle Kronen, ohne Ausnahme, katholische wie evangelische, sagten sich los von der politischen Herrschaft des gekrönten Priesters. Von einer Obedienzleistung, wie sie der Papst vordem den weltlichen Gewalten zugemutet, war fortan keine Rede mehr, und noch ehe Luthers Jahrhundert zu Ende ging, begründete Bodinus den Gedanken der Souveränität des Staates zuerst mit wissenschaftlicher Schärfe — eine neue Erkenntnis, die, einmal gefunden, das gemeinsame Besitztum der gesitteten Menschheit geblieben ist. Mochte die Gesellschaft Jesu noch von der Weltherrschaft des Gottesstaates träumen, unaufhaltsam verwuchsen die Staaten Europas zu einer neuen freien Völkergesellschaft und bildeten sich ein weltliches Völkerrecht, das, gerechter als weiland die Urteilssprüche der Päpste, in der Interessengemeinschaft und dem Rechtsbewußtsein der Nationen seine Wurzeln hat. Schritt für Schritt drängte der moderne Staat die Kirche auf ihr geistliches Gebiet zurück; er nahm ihr die Rechtspflege, die Schulverwaltung, das Armenwesen und bewies durch die Tat, daß er diesen politischen Pflichten besser als sie zu genügen vermag. Nichts zeugt so laut für die Gesundheit der politischen Gedanken der Reformation, wie[S. 22] die unleugbare Tatsache, daß die politische Entwicklung in den protestantischen Staaten fast durchweg friedlicher, minder gewaltsam verlaufen ist, als in der katholischen Welt.
Keinem Volke brachte die Befreiung des Staates von kirchlicher Herrschaft so reichen, so lang nachwirkenden Segen wie uns Deutschen, denn nirgends war die alte Kirche fester mit dem Staate verflochten, als in diesem römischen Reiche und allen den geistlichen Fürstentümern, welche seine Krone stützten. Unleugbar hat die Reformation den längst schon beginnenden Zerfall des alten Reichs gefördert, die längst schon vorhandenen politischen Gegensätze noch durch kirchlichen Haß verschärft. Doch wer Wunden zu heilen vermag, darf sie auch schlagen. Nur aus dem Borne des Protestantismus konnte dies sieche Reich den verjüngenden Trank schöpfen. Nur wenn unser Staat wieder wahr wurde wie seine Kirche, wenn er die zur Lüge gewordenen Ansprüche seines heiligen römischen Kaisertums aufgab und seine Krummstabslande einer weltlichen Obrigkeit unterwarf, nur dann vermochte er wieder zu wachsen mit der wachsenden Zeit.
Luther selbst hatte diese letzten Schlüsse aus seinen Gedanken nie gezogen. Ihm graute vor den Schrecken eines Bürgerkrieges: „Ehe man in Deutschland eine neue Weise des Reichs anrichtete, so wäre es dreimal verheeret.” Er wußte, daß er kein Staatsmann war, und teilte mit seinem Volke die ehrfürchtige Scheu vor der kaiserlichen Majestät, vor dem jung edlen Blut von Österreich; wie viele Zweifel mußte er überwinden, bis er sich nur entschloß, den Widerstand gegen kaiserliche Übergriffe, der doch im alten Reiche Rechtens war, gutzuheißen. Die Natur der Dinge, die Vernunft der Geschichte, hat schließlich dennoch vollendet, was in dem Heimatlande der Reformation nicht ausbleiben konnte: unrettbar brachen die geistlichen Staaten Deutschlands nach und nach zusammen, bis endlich im Anfang unseres Jahrhunderts die letzten verfaulten Trümmer der römischen Theokratie verweltlicht und mit ihnen auch die römische Kaiserkrone vernichtet wurde. Nun erst, seit unser Staat sich ehrlich zu seinem[S. 23] weltlichen Wesen bekannte, ward die Stätte geebnet für einen Neubau; und auch an dieser letzten heilvollen Wendung unserer Geschicke hat der Reformator seinen Anteil durch eine Tat, deren ferne Folgen ihm verhüllt blieben. Auf Luthers Rat entschloß sich der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Brandenburg, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuze abzulegen, die falsche Keuschheit des Mönches zu meiden und „eine rechte ordentliche Herrschaft zu gründen, die ohne Gleißen und falschen Namen vor Gott und der Welt angenehm wäre”. So ward das Ordensland Preußen, die Pflanzung des gesamten Deutschlands, in ein weltliches Herzogtum verwandelt und vor der Begehrlichkeit des polnischen Nachbarn gerettet. Luther aber schrieb dankbar: „Siehe dies Wunder! In vollem Laufe, mit vollen Segeln, eilt jetzt das Evangelium durch Preußen!” Er ahnte nicht, welche größeren Wunder unser Volk noch an seiner entlegenen Ostmark erleben sollte. Aus diesem, der alten Kirche geraubten Lande, das mit dem Protestantismus stand und fiel, ist in unvergeßlichen Kämpfen die streitbare Großmacht unserer neuen Geschichte hervorgegangen und endlich, als die Zeiten sich erfüllten, der neue Staat der Deutschen, der nicht heilig sein will und nicht römisch, sondern, nach den Worten des Reformators, ohne Gleißen und falschen Namen ein weltliches, ein deutsches Reich. —
Wie die Einheit des deutschen Staates erst möglich ward, seit die letzten Staatsgebilde der römischen Kirche von unserem Boden verschwanden, so verdanken wir auch den Kämpfen der Reformation das köstliche geistige Band, das uns in den Tagen deutscher Zerrissenheit lange fast allein zusammenhielt, unsere neue Sprache. Was selbst dem Zauber unserer ritterlichen Dichtung nicht gelungen war, den deutschen Norden unter die Herrschaft der hochdeutschen Sprache zu beugen, das gelang erst, als die schöne Lieblingsstätte des Minnesanges, die Wartburg, zum zweiten Male unserem Volke teuer ward und von dort die ersten Bücher der deutschen Bibel ausgingen — die Heilige Schrift, übertragen mit strenger Treue durch einen wahlverwandten religiösen Genius und doch so[S. 24] ganz verdeutscht, so ganz beseelt von dem Hauche deutschen Gemütes, daß wir uns heute das Bibelwort in anderer Fassung kaum noch denken können. Gleich den Italienern empfingen wir unsere Schriftsprache mit einem Male durch die Tat eines Mannes. Es liegt aber im Wesen des Genius, das Notwendige, das einfach Natürliche zu wollen. Wie Dante nicht willkürlich neuerte, sondern nur die Volkssprache seiner toskanischen Heimat adelte und durchgeistigte, so hegte auch Luther nur schlicht und recht die Absicht, von seinem ganzen Volke verstanden zu werden, damit Gott deutsch zu den Deutschen rede. Er benutzte daher das gemeinverständliche Mitteldeutsch, das schon überall, wo Ober- und Niederdeutsche unter einem Herrscher zusammensaßen, in dem Staate des deutschen Ordens, in den Kanzleien der lützelburgischen Kaiser und der sächsischen Kurfürsten von der Obrigkeit geredet wurde.
Also wirkten gebend und empfangend alle Stämme der Nation zu den Taten der Reformation zusammen. Im Norden fand der Protestantismus seinen festen politischen Rückhalt; die mächtige Sprache aber, welche fortan das evangelische Deutschland geistig beherrschte, kam aus dem Oberlande, aus jenen Gauen Süd- und Mitteldeutschlands, die zu allen Zeiten das warme Nest unserer Dichtung und also auch der Sprachbildung geblieben sind. Und dies Hochdeutsch war die Sprache von Luthers Heimat; seine Laute klangen ihm vertraut von Kindesbeinen an; so hatte er schon das Volk in den Mansfelder Bergwerken, seines lieben Vaters Schlegelgesellen, reden hören. Sprachgewaltig, wie seitdem nur einer noch, Goethe, ward er der volkstümlichste aller unserer Schriftsteller. In seinen Schriften vereinigt sich, was sonst unvereinbar scheint, der Tiefsinn, die gedrängte Gedankenfülle des Buchs und die fortreißende Macht, der sprudelnde Wörterreichtum der Rede, so daß der Leser immer die herzbewegende Stimme des Predigers zu hören meint; dem Einfältigen geben sie genug, und der Denkende findet des Nachsinnens kein Ende. In Kämpfen geboren, kann diese Sprache des Freimuts und der Wahrhaftigkeit bis zum heutigen Tage die Zeichen ihres Ursprungs nicht verleugnen. Gewaltig vermag [S. 25] sie zu zürnen, übermütig zu spielen in toller Laune, zu den Höhen des Gedankens steigt sie kühn empor, für jedes holde Geheimnis des Herzens findet sie ein liebliches Wort; doch wer sie zwingen will, ihre Meinung zu bemänteln oder tückisch unterm Zaum hervor zu beißen oder gar den überbildeten Geschmack durch das Pikante und Scharmante zu reizen, dem schenkt sie wenig, den läßt sie betteln gehen an den Tischen der Fremden.
Mehr denn hundert Jahre hat es noch gewährt, bis dies neue Deutsch, das in der Predigt und dem Gemeindegesange der evangelischen Kirche kräftig erklang, zum Gemeingut unseres Volkes wurde, bis auch die Wissenschaft volkstümlich und weltlich ward und das Wort sich ganz erfüllte, das Ulrich von Hutten schon in den ersten Tagen überschwenglicher Hoffnung zuversichtlich in die Welt hinausgerufen hatte: „Sonst waren nur die Pfaffen gelehrt, jetzt hat uns Gott auch Kunst beschert, daß wir die Bücher auch verstahn”. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kam über den lutherischen Zweig des deutschen Protestantismus eine lange Zeit unheilvoller Erstarrung, da fast allein die weihevollen Klänge des evangelischen Kirchenliedes noch Kunde gaben von dem ursprünglichen Geiste der Reformation und in der neuen wie in der alten Kirche herrschsüchtige Theologen der weltlichen Wissenschaft Richtung und Grenze vorschrieben. Nur der Heldenmut seiner tatkräftigeren Schwesterkirche, nur der Kampf der Calvinisten Niederlands wider die spanische Krone, bewahrte damals das verkommene Luthertum vor dem sicheren Untergange. Erst der Jammer des Dreißigjährigen Krieges brachte auch uns die Selbstbesinnung. Die Pietisten von Halle erweckten unserem Volke wieder den lebendigen evangelischen Geist, den Geist der brüderlichen Liebe, der das Evangelium leben wollte und über dem öden Buchstabengezänk der letzten Jahrzehnte ganz vergessen schien; Pufendorf vertrieb die Theologen aus den politischen Wissenschaften, Thomasius wagte zuerst auf deutschem Lehrstuhl deutsch zu reden; und auf dem also bereiteten Boden erhob sich sodann unsere neue Wissenschaft und Dichtung, ganz frei von konfessioneller Härte,[S. 26] weltlich von Grund aus, weit kühner in ihren Gedanken, als Luther selbst jeweils gebilligt hätte, und dennoch protestantisch. Alle ihre Führer gehörten dem Protestantismus an. Nur aus der Autonomie des Gewissens, die uns Luther errungen, konnte das neue Ideal der Humanität hervorgehen. Mit Entsetzen vernahmen die bayerischen Jesuiten das „lutherische Deutsch” dieser neuen Bildung; doch unhemmbar hielt sie ihren friedlichen Siegeszug auch durch das katholische Deutschland, bis sie schließlich alles, was deutsch war, in den frischen Strom ihrer Gedanken hineingezogen hatte; und heute sehen wir mit Freude, wie selbst die Vorkämpfer Roms unter unseren Landsleuten längst lutherisch deutsch gelernt haben, wie sie wider uns streiten mit Waffen, die in unserer Schmiede gehämmert sind.
Seit die Kirche sich auf ihren geistlichen Beruf beschränkt sah, erhielt alles redliche weltliche Schaffen erst seine sittliche Rechtfertigung. Das Rätsel war gelöst, das jenem Dichter des Mittelalters so ganz unlösbar schien: wie Reichtum und Ehre sich mit der Gnade Gottes vertragen sollten. Die Ewigkeit trat dem Gläubigen mitten in sein Leben hinein, und er fühlte, daß er auch mit seiner Hände Arbeit dienen könne und solle. Selbst den Kriegsleuten gab Luther die tröstliche Gewißheit, daß sie auch in seligen Stand kommen würden, wenn sie ihres harten Handwerks in Treue warteten. Seit eine Kirche ohne Klerisei bestand, konnte auch in den rein katholischen Ländern der Klerus sich nicht mehr auf die Dauer als der erste Stand behaupten. In Deutschland aber wurden jene mittleren Schichten der Gesellschaft, zu denen Luther vornehmlich geredet hatte, mehr und mehr zum Kerne der Nation. Auch die soziale Macht, welche die gelehrte Bildung und mit ihr leider der Doktrinarismus im deutschen Leben behauptet, hat ihren ersten Ursprung in der Wirksamkeit des größten aller deutschen Professoren.
Der Protestantismus entstammt einem derben männischen Jahrhundert, das nach den Frauen wenig fragte, und die nüchternen Formen seines Kultus vermögen der frommen Sehnsucht des weiblichen Herzens nicht immer[S. 27] zu genügen. Und doch hat Luther die deutschen Frauen höher erhoben, als sie je vordem gestanden hatten in den Zeiten, da noch die gnadenreiche Mutter Gottes angerufen ward; er hat den Wirkungskreis des Weibes, das Haus wieder zu Ehren gebracht vor Gott und Menschen. Schwer mußte er kämpfen, ehe er sich das Herz faßte, um die Hand seiner Käthe zu werben; was zuletzt den Ausschlag gab, war doch nicht bloß die Sehnsucht nach häuslichem Glück, sondern das Gefühl einer heiligen Pflicht. Wie oft hat er den Klosterleuten zugerufen: „Wer hat dich etwas geloben und schwören heißen, was wider Gott und seine Ordnung ist, nämlich daß du schwörest, du seiest kein Mann und kein Weib?” War er berechtigt also zu fragen, war die Ehe wirklich ein heiliger Stand, Gott wohlgefälliger als die Gelübde der Beschorenen, dann mußte er selber mit seinem Leib und Leben Zeugnis ablegen für seine Lehre. Er wußte, welch eine Schlammflut ekler Verdächtigungen sich nun heranwälzen mußte gegen ihn, dessen makelloser Name bisher einer großen Sache zum Schilde gedient und allen Pfeilen der Verleumder widerstanden hatte. Freiwillig nahm er dies Kreuz auf sich; denn überzeugender, siegreicher konnte sich die sittliche Macht der evangelischen Freiheit nicht erweisen, als wenn die Ehe des entlaufenen Mönches und der entlaufenen Nonne zum Vorbild wurde für Tausende frommer Menschen.
Und sie ward es. Dies mit allen Flüchen der römischen Kirche beladene Haus lebt in unser aller Herzen. Wir denken seiner, wenn am Weihnachtsabend vor dem Tannenbaume die hellen Stimmen unserer Kinder die frohe Botschaft singen: „Vom Himmel hoch da komm ich her”; wir sehen ihn vor Augen, den alten Doktor, wie er, ein Gewissensrat seiner lieben Deutschen, allen den Zweifelnden und Beladenen, die von nah und fern zu ihm eilen, Lehre, Trost und Hilfe spendet und immer mit seinem freien Gemüt Partei nimmt für das Recht des Herzens, für die Stimme der Natur, für die Billigkeit und die Liebe; wir hören sein herzliches Lachen, wenn er den zagenden Melanchthon mit kräftigem Zuspruch aufrichtet[S. 28] oder in neidloser Freundschaft die Größe seines kleinen Griechen preist; wir freuen uns seiner goldenen Laune, wenn er abends um seinen gastlichen Tisch den Becher kreisen läßt und die deutscheste der Künste, Frau Musika, zu den fröhlichen Zechern ladet: „Hie kann nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut”; wir klagen mit ihm, wenn er, überwältigt vom menschlichsten Schmerze, an der Bahre seines Lenchens weint. So war das erste evangelische Pfarrhaus; und wie viele Tränen sind seitdem von den Frauen unserer Landpfarrer getrocknet, wie viele gute und hochbegabte Männer in diesen friedlichen Heimstätten einer gelehrten und doch der Natur nicht entfremdeten Bildung erzogen worden.
All unser Tun ist Stückwerk, und in der Geschichte dauert der Name keines Mannes, der nicht größer war als seine Werke. Das köstlichste Vermächtnis, das Luther unserem Volke hinterlassen hat, bleibt doch er selber und die lebendige Macht seines gottbegeisterten Gemüts. Keine andere der neueren Nationen hat je einen Mann gesehen, der so seinen Landsleuten jedes Wort von den Lippen genommen, der so in Art und Unart das innerste Wesen seines Volkes verkörpert hätte. Ein Ausländer mag wohl ratlos fragen: wie nur so wunderbare Gegensätze in einer Seele zusammenliegen mochten: diese Gewalt zermalmenden Zornes und diese Innigkeit frommen Glaubens, so hohe Weisheit und so kindliche Einfalt, so viel tiefsinnige Mystik und so viel Lebenslust, so ungeschlachte Grobheit und so zarte Herzensgüte, und wie derselbe ungeheure Mensch, der einen Brief an Seine Fürstliche Ungnaden Herzog Georg von Sachsen kurzab unterzeichnete „Von Gottes Gnaden Martin Luther, Evangelist zu Wittenberg”, dann wieder zerknirscht vor Gott in den Staub sinken konnte. Wir Deutschen finden in alledem kein Rätsel, wir sagen einfach: das ist Blut von unserem Blute. Aus den tiefen Augen dieses urwüchsigen deutschen Bauernsohnes blitzte der alte Heldenmut der Germanen, der die Welt nicht flieht, sondern sie zu beherrschen sucht durch die Macht des sittlichen Willens; und weil er heraussagte, was im Gemüte seines Volkes schon lebte, nur[S. 29] halb konnte der arme Mönch, der soeben noch aus dem stillen Augustinerkloster am Monte Pincio demütig hinübergepilgert war nach den Hallen von St. Peter, in wenigen Jahren wachsen und wachsen und schließlich der neuen römischen Weltmacht ebenso furchtbar werden, wie einst die deutschen Kohortenstürmer dem Reiche der Cäsaren. Ein Menschenalter nach Luthers Tode bekannten sich schon vier Fünftel unserer Nation zum evangelischen Glauben. In den meisten der deutschen Landschaften, welche die römische Kirche heute beherrscht, verdankt sie ihre Herstellung der Macht des Schwertes, und fast überall, wo das Evangelium gewaltsam ausgerottet wird, kränkelt der deutsche Geist noch heute, als wäre ihm eine seiner Schwingen gelähmt. Wo immer deutsches und fremdes Volkstum feindselig aufeinander stößt, da war der Protestantismus allezeit unser sicherster Grenzhüter. In unseren Nordostmarken gilt deutsch und evangelisch, polnisch und römisch-katholisch längst als gleichbedeutend, und unter den deutschen Stämmen Österreichs bewahrt sich keiner sein Volkstum so treu wie das evangelische Sachsenvolk Siebenbürgens. —
Wohl ziemt es uns, in diesen Tagen der Feier, da die Gestalt des Reformators lebendig in unsere Gegenwart hineintritt, auch der Warnung zu gedenken, die er einst seinen Deutschen zurief: „Gottes Wort und Gnade ist ein fahrender Platzregen, der nicht wiederkommt, wo er einmal gewesen ist. Er ist bei den Juden gewesen, aber hin ist hin, sie haben nu nichts. Paulus bracht’ ihn in Griechenland. Hin ist hin, nu haben sie den Türken. Rom und latinisch Land hat ihn auch gehabt: hin ist auch hin, sie haben nu den Papst. Und ihr Deutschen dürft nicht denken, daß ihr ihn ewig haben werdet, denn der Undank und Verachtung wird ihn nicht lassen bleiben. Darum greif zu und halt zu, wer greifen und halten kann, faule Hände müssen ein böses Jahr haben”. Dieselben Mächte des Verderbens, welche einst die Reformation in ihrem natürlichen Fortgang hemmten, treiben in verwandelter Gestalt noch heute unter uns ihr Wesen: der lieblose Bruderzwist der Gläubigen, das fleischliche Evangelium der[S. 30] Rottengeister und die dreiste Selbstgerechtigkeit der Epikureer, wie Luther sie nannte.
Mächtiger als diese dunklen, erscheinen doch die lichten, die trostvollen Zeichen der Zeit. Das Gefühl einer tiefen inneren Verwandtschaft verbindet die Gegenwart mit den Zeiten Luthers, zwingt den Künstler unwillkürlich, die Bauformen des sechzehnten Jahrhunderts wieder aufzunehmen, den Gelehrten sich forschend in jene Zeit des Sturmes zu versenken. Vieles, was Luthers Tage nur ahnen konnten, hat unser Jahrhundert erst gestaltet und vollendet. Die neue Welt, die damals entdeckte, tritt jetzt erst in die Weltgeschichte ein, und ihre zukunftreichsten Lande gehören dem evangelischen Glauben, fern am Stillen Ozean denken in diesen Tagen fromme Herzen des Landes, wo die Wiege Martin Luthers stand; die Buchdruckerkunst bewährt sich jetzt erst als eine völkerverbindende Macht; die Einheit Deutschlands und Italiens steht aufrecht, und nach unseren deutschen Krummstabslanden ist auch der letzte und schlechteste der geistlichen Staaten, der Kirchenstaat des Papstes, ins Grab gesunken; die Freiheit des Denkens und des Glaubens ist allen Völkern der gesitteten Welt gesichert, und in der evangelischen Kirche arbeitet noch immer die ungebrochene Kraft eines starken Lebens. Der Unfriede, der sie erfüllt, beweist doch nur, daß die Religion in unseren Tagen die Herzen wieder tiefer und stärker ergreift, als einst im Zeitalter der Aufklärung. Und mitten im Hader sind ihr doch zwei Taten des Friedens gelungen: sie hat die getrennten Schwesterkirchen des Protestantismus zur evangelischen Union verbunden, und eben jetzt ist sie überall am Werke, den so lange verkümmerten Gedanken der Gemeindekirche in den Formen ihrer Verfassung auszugestalten.
In so reicher Zeit soll kein guter Protestant die Hoffnung aufgeben, daß dereinst noch schönere Tage kommen werden, da unser gesamtes Volk in Martin Luther seinen Helden und Lehrer verehrt. Wir wissen alle, vor Zeiten gereichte es unserem Vaterlande zum Heile, daß die Reformation nur einen halben Erfolg errang; vollkommen siegreich, allein herrschend, hätte die evangelische Kirche[S. 31] jenen Geist menschlicher weitherziger Duldung, der heute im deutschen Leben überwiegt, schwerlich aufkommen lassen. Doch die Tage, da die Kirchenspaltung Segen brachte, gehen zu Ende. Seit die römische Kirche mit der Unfehlbarkeit des Papstes ihr letztes Wort gesprochen hat, empfinden wir schmerzlicher denn je, welche Kluft die Glieder unseres Volkes trennt. Diese Kluft zu schließen, das evangelische Christentum wieder also zu beleben, daß es fähig wird, unsere ganze Nation zu beherrschen — das ist die Aufgabe, welche wir erkennen und spätere Geschlechter dereinst lösen sollen. Nie kann dies Werk gelingen, wenn wir feig den Berg wieder hinabsteigen, den unsere tapferen Väter im Schweiße ihres Angesichts erklommen haben. Denn nimmermehr wird eine Priesterkirche das Volk Martin Luthers um ihre Altäre versammeln. Solches vermag nur eine Kirche, welche die evangelische Freiheit des Christenmenschen, die Selbständigkeit des gläubigen, bußfertigen Gewissens anerkennt und den sittlichen Mächten dieser Welt, vor allem dem Staate, ihr gutes Recht gewährt. Schwerere Zeiten als die unseren hat der Protestantismus schon siegreich überstanden: wie viele sind unter uns, deren Ahnen am Weißen Berge oder bei Lützen sich für das Evangelium schlugen oder das Brot der Verbannung aßen um ihres Glaubens willen. Getrost und dankbar dürfen wir am Geburtstage des Reformators sein hochgemutes Lied anstimmen:
Fichte und die nationale Idee
In rascher Folge haben sich in den jüngsten Jahren die Feste gedrängt, welche das Andenken der großen Männer unseres Volkes feierten. Aber laut und schneidend klingen in den Jubel der Menge die fragenden Stimmen der Mahnung und des Spottes: ob wir denn gar nicht müde werden, uns behaglich die Hände zu wärmen an dem Feuer vergangener Größe? ob uns denn gar zu wohl sei in dem Bewußtsein einer epigonenhaften Zeit? ob wir denn ganz vergessen, daß alle Straßen und Plätze von Athen prunkvoll geschmückt waren mit den Standbildern seiner großen Männer, zur Zeit da Griechenland des Eroberers Beute ward? — Nicht ein Wort mag ich erwidern auf den Vorwurf, daß wir in einem Zeitalter der Epigonen lebten. Denn mit solchem Willen soll eine jede Zeit sich rüsten, als ob sie die erste sei, als ob das Höchste und Herrlichste gerade ihr zu erreichen bestimmt sei; und ruhig mögen wir einem späteren Jahrhundert überlassen zu entscheiden, ob unser Streben ein ursprüngliches gewesen — wie ich denn sicher hoffe, es werde unsern Tagen dies Lob dereinst nicht fehlen. Aber wohl gebührt sich eine Antwort auf den anderen Vorwurf der Selbstbespiegelung. Nein, nicht die Eitelkeit, nicht einmal jene ehrenwerte Pietät, die andere Völker treibt, ihre großen Toten zu ehren — ein tieferes Bedürfnis der Seelen ist es, was gerade jetzt unser Volk bewegt, seiner Helden zu gedenken mit einer Innigkeit, die von den Fremden vielleicht nur der Italiener versteht.
Auf uns lastet das Verhängnis, daß wir staatlosen Deutschen die Idee des Vaterlandes nicht mit Händen greifen an den Farben des Heeres, an der Flagge jedes Schiffes im Hafen, an den tausend sichtbaren Zeichen, womit der Staat den Bürger überzeugt, daß er ein[S. 35] Vaterland hat. Nur im Gedanken lebt dies Land; erarbeiten, erleben muß der Deutsche die Idee des Vaterlandes. Jeder edlere Deutsche hat entscheidungsvolle Jahre durchlebt, da ihm im Verkehre mit Deutschen aus aller Herren Ländern die Erkenntnis anbrach, was deutsches Wesen sei, bis endlich der Gedanke, daß es ein Deutschland gebe, vor seiner Seele stand mit einer unmittelbaren Gewißheit, die jedes Beweises und jedes Streites spottet. Wachsen wir so erst im Verkehre mit den Lebendigen zu Deutschen heran, so begreift sich das Volk als ein Ganzes in seiner Geschichte. Und das ist der Sinn jener Feste, deren die politisch tiefbewegte Gegenwart nicht müde wird, daß wir, rückschauend auf die starken Männer, die unseres Geistes Züge tragen, erfrischen das Bewußtsein unseres Volkstums und stärken den Entschluß, daß aus dieser idealen Gemeinschaft die Gemeinschaft der Wirklichkeit, der deutsche Staat erwachse. Darum fällt die Feier solcher Tage vornehmlich jenen als ein unbestrittenes schönes Vorrecht zu, die sich nicht genügen lassen an dem leeren Worte von der Einigkeit der Deutschen, sondern Kopf und Hände regen zum Aufbau des deutschen Staates. — Und das auch ist ein rühmliches Zeichen für das lebende Geschlecht, daß aus der langen Reihe von Jahrhunderten, welche dies alte Volk hinter sich liegen sieht und in der Gegenwart gleichsam neu durchlebt, keine Epoche uns so traulich zum Herzen redet, uns so das Innerste bewegt, wie jene siebenzig Jahre seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, da unser Volk sich losrang zuerst von der Geistesherrschaft, dann von dem politischen Joche unheimischer Gewalten. Erst heute werden die Helden jener Zeit von ihrem Volke verstanden, besser oft verstanden als von den Zeitgenossen; und wenn es ein Herrliches war, eine Zeit zu schauen, die einen Stein und Goethe gebar, so mögen wir auch als ein Glück preisen, in Tagen zu leben, die diesen Männern zuerst ganz gerecht geworden.
Ein gesegneter Winkel des obersächsischen Landes fürwahr, der in kaum hundert Jahren den Deutschen Lessing, Fichte, Rietschel schenkte — drei Geister im Innersten [S. 36] verwandt, wie fremd sie sich scheinen, der kühne Zertrümmerer der französischen Regeln unserer Dichtung, der tapfere Redner und der weiche sinnige Bildhauer — jeder in seiner Weise ein Träger der besten deutschen Tugend, der Wahrhaftigkeit. Ein Dorfwebersohn, wuchs Fichte auf in dürftiger Umgebung, in der altfränkischen Sitte der Lausitzer Bauern. Frühzeitig und stark arbeitet er im Innern mit dem Verstande und mehr noch mit dem Gewissen. Der so begierig lernt, daß er eine Predigt nach dem Hören wiederholen kann, wie rüstig kämpft er doch gegen die Dinge, die so lebendig auf ihn eindringen! Das schöne Volksbuch vom hörnernen Siegfried wirft er in den Bach als einen Versucher, der ihm den Geist ablenkt von der Arbeit. Als ihm dann durch die Gunst eines Edelmannes eine gelehrte Erziehung auf der Fürstenschule zu Pforta zuteil wird, stemmt sich der eigenwillige Knabe wider jene Verkümmerung des Gemüts, welche der familienlosen Erziehung anhaftet, sein waches Gewissen empört sich gegen die erzwungene Unwahrhaftigkeit der Gedrückten. Er gesteht seinen herrischen Oberen den Entschluß der Flucht; er flieht wirklich; auf dem Wege, im Gebete und im Andenken an die Heimat, kommt das Gefühl der Sünde über ihn; er kehrt zurück zu offenem Bekenntnis. So früh sind die Grundzüge seines Wesens gereift, wie zumeist bei jenen Menschen, deren Größe im Charakter liegt. Der Knabe schon bezeichnet seine Bücher mit dem Sinnspruch, den der Mann bewährte: Si fractus illabatur orbis, impavidum ferient ruinae.
Schwerer, langsamer entscheidet sich die Richtung seiner Bildung. Kümmerlich schlägt er sich durch die freudlose Jugend eines armen Theologen, und sein Stolz — „die verwahrlosteste Seite meines Herzens” — schämt sich bitterlich der Armut. Erst in seinem siebenundzwanzigsten Jahre wird ihm das Schicksal gütiger. Er sammelt auf der weiten Fußwanderung nach einer Hauslehrerstelle in Zürich eine für jene Zeit ziemlich ausgedehnte Erfahrung von dem Elend des armen leidenden Volkes, er wird in der Schweiz mit der großen Arbeit der deutschen Literatur vertraut, er lernt in Zürich das schmucklose Wesen[S. 37] eines ehrenhaften Freistaates verstehen, das seinem schlichten Stolze zusagt, und findet dort endlich in Johanna Rahn, einer Nichte Klopstocks, das herrliche Weib seiner Liebe. Eine verwandte Natur, sehr ernsthaft, wirtschaftlich nach Schweizer Weise, nicht gar jung mehr und längst schon gewohnt, ihr warmes Blut in strenger Selbstprüfung zu beherrschen, tritt sie ihm fertig und ruhig entgegen, und oftmals mochten ihre Augen strenge unter dem Schweizerhäubchen hervorblicken: „Höre, Fichte, stolz bist du. Ich muß dir’s sagen, da dir’s kein anderer sagen kann.” Auch in der abhängigen Stellung des Hauslehrers weiß er sich seine feste Selbstbestimmung zu wahren; er zwingt die Eltern, die Erziehung bei sich selber anzufangen, führt ein gewissenhaftes Tagebuch über ihre wichtigsten Erziehungsfehler. Nach zwei Jahren sieht er sich wieder in die Welt getrieben; eine Fülle schriftstellerischer Pläne wird entworfen und geht zugrunde.
Da endlich erschien seines inneren Lebens entscheidende Wendung, als er, bereits achtundzwanzigjährig, in Leipzig durch einen Zufall Kants „Kritik der reinen Vernunft” kennen lernte. „Der Hauptendzweck meines Lebens ist der,” hatte er früher seiner Braut geschrieben, „mir jede Art von (nicht wissenschaftlicher, ich merke darin viel Eitles, sondern) Charakterbildung zu geben. Ich habe zu einem Gelehrten von Metier so wenig Geschick als möglich. Ich will nicht bloß denken, ich will handeln, ich mag am wenigsten denken über des Kaisers Bart.” Und mit der gleichen Verachtung wie auf die Gelehrten von Metier schaute er hinab auf die „Denkerei und Wisserei” der Zeit, auf jene Nützlichkeitslehre, welche nur darum nach Erkenntnis strebte, um durch einzelne hastig und zusammenhanglos aufgegriffene Erfahrungssätze die Mühsal des Lebens bequemer, behaglicher zu gestalten. Der rechte Gelehrte sollte gar nicht ahnen, daß das Wissen im Leben zu etwas helfen könne. Sein Trachten stand nach einer Erkenntnis, die ihn befähige, „ein rechtlicher Mann zu sein, nach einem festen Gesetze und unwandelbaren Grundsätzen einherzugehen.” Aber woher diese Sicherheit des Charakters, solange sein Gemüt verzweifelte[S. 38] über der Frage, die vor allen Problemen der Philosophie ihn von früh auf quälend beschäftigte, über der Frage von der Freiheit des Willens? Sein logischer Kopf hatte sich endlich beruhigt bei der folgerichtigen Lehre Spinozas, wie Goethes Künstlersinn von der grandiosen Geschlossenheit dieses Systems gefesselt ward. Sein Gewissen aber verweilt zwar gern bei dem Gedanken, daß das Einzelne selbstlos untergehe in dem Allgemeinen, doch immer wieder verwirft es die Idee einer unbedingten Notwendigkeit, denn „ohne Freiheit keine Sittlichkeit”. Welch ein Jubel daher, als er endlich durch Kant die Autonomie des Willens bewiesen fand, als er jenes große Wort las, das nur ein Deutscher schreiben konnte: „Es ist überall nichts in der Welt, überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.” Über Kants Werken verlebt er jetzt seine seligsten Tage; all sein vergangenes Leben erscheint ihm ein gedankenloses Treiben in den Tag hinein, der Weisheit Kants verdankt er „seinen Charakter bis auf das Streben, einen haben zu wollen”. Der Verkündigung dieser Lehre soll nun sein Leben geweiht sein; „ihre Folgen sind äußerst wichtig für ein Zeitalter, dessen Moral bis in seine Quellen verderbt ist.” Und zum sicheren Zeichen, daß er hier einen Schatz von Gedanken gefunden, der seinem eigensten Wesen entsprach, entfaltete sich jetzt seine Bildung ebenso rasch und sicher, als sie schwer und tastend begonnen hatte. Eine Reise nach Polen und Preußen führt ihn zu dem Weisen von Königsberg, dem er ehrfürchtig naht, „wie der reinen Vernunft selbst in einem Menschenkörper”. Bei ihm führt er sich ein durch die rasch entworfene Schrift „Kritik aller Offenbarung, 1791.”
Damit beginnt sein philosophisches Wirken, das näher zu betrachten nicht dieses Orts noch meines Amtes ist, so reizvoll auch die Aufgabe, zu verfolgen, wie die Denker nach dem Worte des alten Dichters, die Leuchte des Lebens gleich den Tänzern im Fackelreigen von Hand zu Hand geben. Es genüge zu sagen, daß Fichte die Lehre von der Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Willens[S. 39] mit verwegenster Kühnheit bis in ihre äußersten Folgesätze hindurchführte. Weil die Bestimmung unseres Geistes sich nur verwirklichen läßt im praktischen Handeln, das praktische Handeln aber eine Bühne fordert, deshalb und nur deshalb ist der Geist gezwungen, eine Außenwelt aus sich herauszuschauen und als eine wirkliche Welt anzunehmen. „Ich bin ja wohl transzendentaler Idealist,” gesteht Fichte, „härter als Kant, denn bei ihm ist noch ein Mannigfaltiges der Erfahrung; ich aber behaupte mit dürren Worten, daß selbst dieses von uns durch ein schöpferisches Vermögen reproduziert wird.” Hatte Kant die große Wahrheit gefunden, daß die Dinge sich richten nach der Beschaffenheit unseres Erkenntnisvermögens: sein Nachfolger schreitet weiter und behauptet getrost: „die Dinge werden erst durch unser Ich geschaffen; es gibt kein Sein, sondern nur Handeln; der sittliche Wille ist die einzige Realität.” Allein an der Kühnheit dieser Abstraktionen, der verwegensten, die deutscher Denkermut zu fassen wagte, können wir den aufrechten Trotz des Mannes ermessen. Zuversichtlich glauben wir ihm, daß „seine wissenschaftliche Ansicht nur die zur Anschauung gewordene innere Wurzel seines Lebens” selber war; denn „was für eine Philosophie man wählt, richtet sich danach, was für ein Mensch man ist”. In sicherem Selbstgefühle faßt der Mann sich jetzt zusammen, als die namenlose Schrift des Anfängers für ein Werk des Meisters Kant gehalten wird, und der triviale Lärm seichter Lobreden ihn rasch die Nichtigkeit der literarischen Handwerker durchschauen läßt.
So steht sein Charakter vollendet, mannhaft, fast männisch, des Willens, die ganze Welt unter die Herrschaft des Sittengesetzes zu beugen, gänzlich frei von Schwächen, jenen kleinen Widersprüchen wider die bessere Erkenntnis — und eben darum zu einem tragischen Geschicke bestimmt, zu einer Schuld, die mit seinem Wesen zusammenfiel, die er selber unwissend bekannte, indem er sich also verteidigte: „Man paßt bei einer solchen Denkart schlecht in die Welt, macht sich allenthalben Verdruß. Ihr Verächtlichen! Warum sorgt ihr mehr dafür, daß ihr euch den andern anpaßt, als diese euch und sie für euch zurecht[S. 40] legt?” — Andere für sich zurecht legen — das ist die herrische Sünde der idealistischen Kühnheit. Als in der Not des Krieges von 1806 sein Weib, einsam zurückgeblieben in dem vom Feinde besetzten Berlin, voll schwerer Sorge um den fernen Gatten, in Krankheit fällt, da schreibt ihr der gewaltige Mann: „Ich hoffte, daß du unsere kurze Trennung, gerade um der bedeutenden Geschäfte willen, die dir auf das Herz gelegt waren, ertragen würdest. Ich habe diesen Gedanken bei meiner Abreise dir empfohlen und habe ihn in Briefen wieder eingeschärft. Starke Seelen, und du bist keine schwache, macht so etwas stärker — und doch!” So hart kann er reden zu ihr, die ihm die Liebste ist; denn er glaubt an die Allmacht der Wahrheit. Ihm ist kein Zweifel, wo die rechte Erkenntnis sei, da könne das rechte Handeln, ja das rechte Schicksal nicht fehlen, und jeden Einwand menschlicher Gebrechlichkeit weist er schroff zurück. Darum keine Spur von Humor, von liebenswürdigem Leichtsinn, nichts von Anmut und Nachgiebigkeit in ihm, der das derbe Wort gesprochen: „Eine Liebenswürdigkeitslehre ist vom Teufel.” Nichts von jener Sehnsucht nach der schönheitssatten Welt des Südens, die Deutschlands reiche Geister in jenen Tagen beherrschte. Unfähig, ungeeignet sich liebevoll zu versenken in eine fremde Seele, verkündet er kurzab, er lehre alle Dinge nur von einer Seite zu betrachten, „nämlich von der rechten”.
Entfremdet der Natur, die ihm nur besteht, um unterjocht zu werden von dem Geiste, mahnt er zur Hingebung, zur Selbstvergessenheit eine sinnliche, selbstsüchtige Zeit: auch essen und trinken sollen wir nur um Gottes willen. Nicht die leiseste sinnliche Vorstellung soll uns den erhabenen Gottesgedanken trüben: „Ein Gott, der der Begierde dient, ist ein Abgott. Gott will nicht, Gott kann nicht das Gute, das wir gern möchten, uns geben außer durch unsere Freiheit; Gott ist überhaupt nicht eine Naturgewalt, wie die blinde Einfalt wähnt, sondern ein Gott der Freiheit.” Die Freuden des Himmels, die bequeme Tröstung schwacher Gemüter, müssen schwinden vor einer geistigeren Auffassung: „Die Ewigkeit kommt[S. 41] der neuen Zeit mitten in ihre Gegenwart hinein”; die vollendete Freiheit, die Einheit mit Gott ist schon im Diesseits möglich.
Beseelt von solchen Gedanken der Ertötung alles Fleisches, der asketischen Sittenstrenge, ist Fichte ein unästhetischer Held geblieben, wie groß er auch dachte von der Kunst, die der Natur den majestätischen Stempel der Idee aufdrücke. Auch in ihm, wie in allen edleren Söhnen jener an den Helden Plutarchs gebildeten Tage, wogte und drängte ein großer Ehrgeiz; er gedachte, an seine Existenz für die Ewigkeit hinaus für die Menschheit und die ganze Geisterwelt Folgen zu knüpfen; aber, fährt er fort, „ob ich’s tat, braucht keiner zu wissen, wenn es nur geschieht!” Jene hohe Leidenschaft, die dem strengsten aller Dichter, Milton, nur als die letzte Schwäche edlerer Naturen erscheint, der Durst nach Ruhm, wird scharf und schonungslos als eine verächtliche Eitelkeit verworfen von dieser selbstgewissen Tugend, welche leben will aus dem erkannten rein Geistigen heraus. In Augenblicken des Zweifels — als gälte es Schillers witziges Epigramm zu bewähren — prüft der gestrenge Mann, auf welcher Seite seine Neigung stehe, um dann mit freudiger Sicherheit des anderen Weges zu gehen. Selber folgerichtig im Kleinsten wie im Größten, sagt er den Zeitgenossen erbarmungslos auf den Kopf zu, welches die notwendigen Folgen ihrer weichlichen Grundsätze seien. Trocken spricht er: „Dies weiß man gewöhnlich nicht, gibt es nicht zu, ärgert sich daran, glaubt es nicht; aber es kann alles dieses nichts helfen, so ist’s.” Er findet unter den Menschen nur wenige bösartig und gewalttätig — „denn hierzu gebricht es bei der Mehrzahl an Kraft: — sondern sie sind in der Regel bloß dumm und unwissend, feige, faul und niederträchtig.” In diese Welt tritt er ein mit dem stolzen Bewußtsein eines apostolischen Berufs: „So bin ich drum wahrhaft Stifter einer neuen Zeit — der Zeit der Klarheit — bestimmt angebend den Zweck alles menschlichen Handelns, mit Klarheit Klarheit wollend. Alles andere will mechanisieren, ich will befreien.” — Wenn Goethe fürchtete, der eigenrichtige Mann sei für sich und[S. 42] die Welt verloren: für den Philosophen war das Widerstreben der Welt gar nicht vorhanden. „Wenn ich im Dienste der Wahrheit stürbe,” sagt er einfach, „was täte ich dann weiter als das, was ich schlechthin tun müßte?”
Ein Eloge zu halten ist nicht deutsche Weise, und in Fichtes Geiste am wenigsten würde ich handeln, wenn ich nicht trotzig sagte, wie gar fremd unserer Zeit, die an sich selber glaubt und glauben soll, dieser Idealismus geworden ist, der so nur einmal möglich war und keinen Schüler fand. Seit jenen Tagen ist das Leben unseres Volkes ein großer Werkeltag gewesen. Wir haben begonnen in harter Arbeit den Gedanken der Welt einzubilden und sind darüber der Natur freundlich näher getreten. Sehr vieles nehmen wir bescheiden hin als Ergebnis der Natur und Geschichte, was Fichte dem Sittengesetze zu unterwerfen sich vermaß. Mit dem steigenden Wohlstande ist ein hellerer Weltsinn in die Geister eingezogen; ein schönes Gleichmaß von Genuß und Tat soll uns das Leben sein. Wer unter uns bezweifelt, daß die Sittlichkeit der Athener eine reinere war als die Tugend der Spartaner und dem Genius unseres Volkes vertrauter ist? Seitdem ist auch die gute Laune wieder zu ihrem Rechte gelangt, wir heißen sie willkommen selbst mitten in der Spannung des Pathos; die kecke Vermischung von Scherz und Ernst in Shakespeares Gedichten ist erst dem realistischen Sinne der Gegenwart wieder erträglich geworden. Doch eben weil jener Idealismus Fichtes unserem Sinne so fern liegt, weil längst der Zeit verfiel, was daran vergänglich war, weil Lust und Not des rastlosen modernen Lebens uns von selber ablenken von jeder Überspannung des Gedankens — eben deshalb gereicht es unseren fröhlicheren Tagen zum Segen, sich in diese weltverachtenden Ideen weltverachtender Sittlichkeit zu versenken wie in ein stählendes Bad der Seele, Selbstbeherrschung daran zu lernen und zu gedenken, daß ein tatloses Wesen dem Humor anhaftet und der Dichter sicher wußte, warum er seinem Hamlet die Fülle sprudelnden Witzes lieh. Wie beschämt muß all unsere heitere Klugheit verstummen vor dem einen Worte: „Nur über den Tod hinweg, [S. 43] mit einem Willen, den nichts, auch nicht der Tod, beugt und abschreckt, taugt der Mensch etwas.”
Noch immer, leider, werden übergeistreiche Beurteiler nicht müde, das Bild des Denkers in eine falsche Beleuchtung zu rücken. Man nennt ihn einen Gesinnungsgenossen der Romantiker — ihn, dessen spartanische Strenge so recht den Gegensatz bildet zu der vornehm spielenden Ironie der Romantiker — ihn, der, obwohl nicht frei von mystischen Stimmungen, dennoch als ein herber Protestant, für alle katholisierenden Richtungen nur Worte schärfster Verachtung hatte. Auch Fichte genoß ein wenig von dem Segen jener schönen, reizvollen Geselligkeit, welche die Gegenwart nicht mehr kennt; geistreiche Frauen saßen zu seinen Füßen und stritten sich um die Ehre, ihm Famulusdienste zu leisten, wenn er über die höchsten Gegenstände der Erkenntnis sprach. Und doch ist nie ein Mann freier gewesen von jeder romantischen Vergötterung der Frauen. Abhängigkeit, Bedürftigkeit war ihm das Wesen des Weibes. Leidenschaftslos, voll warmer, treuer Zuneigung steht er ehrenfest neben seinem Weibe, gleich einem jener derben Bürger auf alten deutschen Holzschnitten; kein schöneres Lob weiß er ihr zu sagen als „männlichere Seele, Johanna!” — Das Ärgste aber in der Umkehrung der Wissenschaft hat Stahl geleistet; er nennt Napoleon das verkörperte weltschaffende Ich Fichtes. Also, in dem Helden der souveränen Selbstsucht wäre Fleisch geworden das System des deutschen Denkers, der unermüdlich eifert, es sei die Seligkeit des Ich, sich der Gattung zu opfern?! — Auch das ist vielen ein Rätsel gewesen, wie dieser schroffe, schneidige Charakter gerade aus dem obersächsischen Stamme hervorgehen konnte. Er selber sagt von seiner Heimat, sie berge „einen Grad von Aufklärung und vernünftiger Religionskenntnis, wie ihn in dieser Ausdehnung gegenwärtig kein Land in Europa besitzt”. Doch das alles sei „durch eine mehr als spanische Inquisition eingezwängt. Daraus entsteht denn eine knechtische, lichtscheue, heuchlerische Denkungsart.” In der Tat, alle Voraussetzungen echter Geistesfreiheit, eine Fülle von Bildungsmitteln, eine weit verbreitete Volkskultur waren vorhanden in dem Mutterlande [S. 44] der Reformation. Aber Druck von oben und das Übermaß geistigen Schaffens, dem kein großes politisches Wirken das Gegengewicht hielt, hatten in dem ohnedies mehr elastischen als massiven Stamme endlich jene Schmiegsamkeit und Höflichkeit erzeugt, welche schroffe, reformatorische Naturen nur schwer erträgt. Nächst dem schwäbischen hat das obersächsische Land die größte Zahl von Helden des deutschen Geistes geboren; aber Obersachsen verstieß die Mehrzahl seiner freieren Söhne. In allen diesen Heimatlosen, in Pufendorf und Thomasius, in Lessing und Fichte, erhebt sich der freie Geist, der solange mit der zahmen Sitte seiner Umgebung gerungen, zu schroffem Stolze; rücksichtsloser Freimut wird ihnen allen zur Leidenschaft. —
Dem Vielgewanderten kamen endlich frohere Tage, als eine Änderung seiner äußeren Lage ihm erlaubte, seine treue Johanna heimzuführen, und der Ruf ihn traf zu der Stelle, die ihm gebührte, zum akademischen Lehramte in Jena. Schon der erste Plan des jungen Mannes war der kecke Gedanke gewesen, eine Rednerschule zu gründen in einem Volke ohne Rednerbühne. Nach seiner Auffassung der Geschichte wurden alle großen Weltangelegenheiten dadurch entschieden, daß ein freiwilliger Redner sie dem Volke darlegte, und er selber war zum Redner geboren. Zur Tat berufen sind jene feurigen Naturen, denen Charakter und Bildung zusammenfallen, jede Erkenntnis als ein lebendiger Entschluß in der Seele glüht; doch nicht das unmittelbare Eingreifen in die Welt konnte den weltverachtenden Denker reizen. Von ihm vor allen gilt das Stichwort des philosophischen Idealismus jener Tage, daß es für den wahrhaft sittlichen Willen keine Zeit gibt, daß es genügt, der Welt den Anstoß zum Guten zu geben. Auf den Willen der Menschen zu wirken, des Glaubens, daß daraus irgendwo und irgendwann die rechte Tat entstehen werde, das war der Beruf dieses eifernden geselligen Geistes. Daher jener Brustton tiefster Überzeugung, der, wie alles Köstlichste des Menschen, sich nicht erklären noch erkünsteln läßt. Daher auch der Erfolg — in diesem seltenen Falle ein sehr gerechter Richter — denn was der[S. 45] große Haufe sagt: „ihm ist es Ernst”, das bezeichnet mit plumpem Wort und feinem Sinn den geheimsten Zauber menschlicher Rede. Vergeblich suchen wir bei Fichte jene Vermischung von Poesie und Prosa, womit romanische Redner die Phantasie der Hörer zu blenden lieben. Sogar die Neigung fehlt ihm, freie Worte als ein Kunstwerk abzuschließen; der Adel der Form soll sich ihm gleich der guten Sitte ungesucht ergeben aus der vollendeten Bildung. Nur aus der vollkommenen Klarheit erwächst ihm jede Bewegung des Herzens; die Macht seiner Rede liegt allein begründet in dem Ernste tiefen gewissenhaften Denkens, eines Denkens freilich, das sichtbar vor unseren Augen entsteht.
Er strebt nach der innigsten Gemeinschaft mit seinen Hörern; an der Energie seines eigenen Denkens soll ihre Selbsttätigkeit sich entzünden; er liebt es, „eine Anschauung im Diskurs aus den Menschen zu entwickeln”. „Ich würde”, sagt er schon in einer Jugendschrift, „die Handschrift ins Feuer werfen, auch wenn ich sicher wüßte, daß sie die reinste Wahrheit, auf das bestimmteste dargestellt, enthielte, und zugleich wüßte, daß kein einziger Leser sich durch eigenes Nachdenken davon überzeugen würde.” Diese Selbstbesinnung des Hörers zu erwecken, ihn hindurchzupeitschen durch alle Mühsal des Zweifels, angestrengter geistiger Arbeit — dies ist der höchste Triumph seiner Beredsamkeit, und es ist da kein Unterschied zwischen den „Reden” und den Druckschriften; alle seine Werke sind Reden, das Denken selber wird ihm alsbald zur erregten Mitteilung. Ein Meister ist er darum in der schweren Kunst des Wiederholens; denn wessen Geist fortwährend und mit schrankenloser Offenheit arbeitet, der darf das hundertmal Gesagte noch einmal sagen, weil es ein Neues ist in jedem Augenblicke, wie jeder Augenblick ein neuer ist. Doch vor allem, er denkt groß von seinen Hörern, edel und klug zugleich hebt er sie zu sich empor, statt sich zu ihnen herabzulassen. Die Jugend vornehmlich hat dies dankend empfunden; denn der die Menschheit so hoch, das gegenwärtige Zeitalter so niedrig achtete, wie sollte er nicht das werdende Geschlecht lieben, das noch rein geblieben [S. 46] war von der Seuche der Zeit? Der stets nur den ganzen Menschen zu ergreifen trachtete, er war der geborene Lehrer jenes Alters, das der allseitigen Ausbildung der Persönlichkeit lebt, bevor noch die Schranken des Berufs den Reichtum der Entwicklung beengen. Endlich — fassen wir die Größe des Redners in dem einen von tausend Hörern wiederholten Lobe zusammen —, was er sprach, das war er. Wenn er die Hörenden beschwor, eine Entschließung zu fassen, nicht ein schwächliches Wollen irgend einmal zu wollen, wenn er die Macht des Willens mit Worten verherrlichte, die selbst einem Niebuhr wie Raserei erschienen: da stand er selber, die gedrungene überkräftige Gestalt mit dem aufgeworfenen Nacken, den streng geschlossenen Lippen, strafenden Auges, nicht gar so mild und ruhig, wie Wichmanns Büste ihn zeigt, welche die Verklärung des Toten verkörpert, voll trotzigen Selbstgefühles und doch hoch erhaben über der Schwäche beliebter Redner, der persönlichen Eitelkeit — in jedem Zuge der Mann der durchdachten Entschließung, die des Gedankens Blässe nicht berührte. Darum hat sich von allen Lehrern, die neuerdings an deutschen Hochschulen wirkten, sein Bild den jungen Gemütern am tiefsten eingegraben; sein Schatten ist geschritten durch die Reihen jener streitbaren Jugend, die für uns blutete und in seinem Sinne ein Leben ohne Wissenschaft höher achtete denn eine Wissenschaft ohne Leben.
Jene „mehr als spanische Inquisition” seiner Heimat sollte endlich auch ihn ereilen. Eine pöbelhafte Anklage bezichtigte Fichte bei dem kursächsischen Konsistorium des Atheismus und vertrieb ihn aus Jena, weil er nicht imstande war, den Schein des Unrechts auf sich zu nehmen, wo sein Gewissen ihm recht gab. Da wollte eine glückliche Fügung, daß der Rat des Ministers Dohm ihn nach Preußen führte, in den Staat, der gerade diesem Manne eine Heimat werden mußte. Der Staat Preußen hat den Lehrer und Philosophen zum Patrioten gebildet.
Ein strenger Geist harter Pflichterfüllung war diesem Volke eingeprägt durch das Wirken willensstarker Fürsten, fast unmenschlich schwer die Lasten, die auf Gut und Blut[S. 47] der Bürger drückten. Was andere schreckte, Fichte zog es an. Nur das eine mochte ihn abstoßen, daß jener Sinn der Strenge schon zu weichen begann, daß zu Berlin bereits ein Schwelgen in weichlichen unpoetischen Empfindungen, eine seichte, selbstzufriedene Aufklärung sich brüstete, deren Haupt Nicolai unser Held bereits in einer seiner totschlagenden humorlosen Streitschriften gezüchtigt hatte. Ein rührender Anblick, wie nun der Kühnste der deutschen Idealisten den schweren Weg sich bahnt, den alle Deutschen jener Tage zu durchschreiten hatten, den Weg von der Erkenntnis der menschlichen Freiheit zu der Idee des Staates: wie ihn, dem die Außenwelt gar nicht bestand, die Erfahrung belehrt und verwandelt. Noch zur Zeit der Austerlitzer Schlacht konnte er schreiben: „Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Kultur steht. Mögen doch die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Flusse, dem Berge ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie behalten, was sie wollten und was sie beglückt. Der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht. Und in diesem Weltbürgersinne können wir über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns beruhigen, für uns selbst und für unsere Nachkommen bis an das Ende der Tage.” Dann ward durch den Wandel der Weltgeschicke auch der Sinn des weltverachtenden Philosophen nicht verwandelt, aber vertieft und zu hellerem Verständnis seiner selbst geführt. Kein Widerspruch allerdings, aber eine höchst verwegene Weiterentwicklung, wenn Fichte jetzt erkennt, daß der Deutsche Licht und Recht nur in Deutschland finden könne. Er begreift endlich, daß der Kosmopolitismus in Wirklichkeit als Patriotismus erscheine, und verweist den einzelnen auf sein Volk, das „unter einem besonderen Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm” stehe. —
Längst schon war der Philosoph der freien Tat durch das Wesen seines Denkens auf jene Wissenschaft geführt[S. 48] worden, welche den nach außen gerichteten Willen in seiner großartigsten Entfaltung betrachtet. Aber sehr langsam nur lernte er die Würde, den sittlichen Beruf des Staates verstehen. Auch er sah — gleich der gesamten deutschen Staatswissenschaft, die ihre Heimat noch allein auf dem Katheder fand — im Staate zuerst nur ein notwendiges Übel, eine Anstalt des Zwanges, gegründet durch freiwilligen Vertrag, um das Eigentum der Bürger zu schützen. Unversöhnlichen Krieg kündete er dem Gedanken an, daß der Fürst für unsere Glückseligkeit sorge: „Nein, Fürst, du bist nicht unser Gott; gütig sollst du nicht gegen uns sein, du sollst gerecht sein.” Diese Rechtsanstalt des Staates aber soll sich entwickeln zur Freiheit, also daß jeder das Recht habe, „kein Gesetz anzuerkennen, als welches er sich selbst gab”; der Staat muß das Prinzip der Veränderung in sich selber tragen. — Der also dachte, war längst gewohnt, von dem vornehmen und geringen Pöbel sich einen Demokraten schelten zu lassen. Und radikal genug, mit dem harten rhetorischen Pathos eines Jakobiners, hatte er einst die Revolution begrüßt als den Anbruch einer neuen Zeit, und die staatsmännische Kälte, womit Rehberg die große Umwälzung betrachtete, gröblich angegriffen. Mit grimmiger Bitterkeit hatte er dann die Denkfreiheit zurückgefordert von den Fürsten; denn die einzigen Majestätsverbrecher sind jene, „die euch anraten, eure Völker in der Blindheit und Unwissenheit zu lassen und freie Untersuchungen allerart zu hindern und zu verbieten”.
Doch im Grunde ward sein Geist nur von einer Erscheinung der Revolution mächtig angezogen: von dem Grundsatze der Gleichheit des Rechts für alle Stände. Privilegien fanden keine Gnade vor diesem konsequenten Kopfe: aus seinen heftigen Ausfällen wider den Adel redet der Zorn des sächsischen Bauernsohns, der eben jetzt seine mißhandelten Standesgenossen sich erheben sah gegen ihre adligen Bedrücker. Sehr fern dagegen stand er den Ideen der modernen Demokratie, welche die freieste Bewegung des Einzelnen im Staate verlangen; eine harte Rechtsordnung sollte jede Willkür des Bürgers bändigen. Dieser[S. 49] despotische Radikalismus trat in seiner ganzen Starrheit hervor, als er jetzt das Gebiet des „Naturrechts” verließ und das wirtschaftliche Leben der Völker betrachtete. In sozialistischen Ideen ist jederzeit der verwegenste Idealismus mit dem begehrlichsten Materialismus zusammengetroffen. Durch die Mißachtung des banausischen Getriebes der Volkswirtschaft wurde Platon auf das Idealbild seiner kommunistischen Republik und die Alten alle zu dem Glaubenssatze geführt, daß der gute Staat des Notwendigen die Fülle besitzen müsse; durch die Überschätzung der materiellen Güter gelangten die modernen Kommunisten zu ihren luftigen Lehren. Und wieder die Verachtung alles weltlichen Genusses verleitete den deutschen Philosophen zu dem vermessenen Gedanken: der Staat, als eine lediglich für die niederen Bedürfnisse des Menschen bestimmte Zwangsanstalt, müsse sorgen für die gleichmäßige Verteilung des Eigentums. Solchem Sinne entsprang die despotische Lehre von dem „geschlossenen Handelsstaate”, der in spartanischer Strenge sich absperren sollte von den Schätzen des Auslandes und das Schaffen der Bürger also regeln sollte, daß ein jeder leben könne von seiner Arbeit.
Auf dem Gebiete des Rechtes und der Wirtschaft gelang es dem Idealisten wenig, die Welt für sich zurecht zu legen. Indessen sank der Staat der Deutschen tief und tiefer. „Deutsche Fürsten”, ruft Fichte zornig, „würden vor dem Dei von Algier gekrochen sein und den Staub seiner Füße geküßt haben, wenn sie nur dadurch zum Königstitel hätten kommen können.” In diesen Tagen der Schmach brach ihm endlich die Erkenntnis an von dem Tiefsinn und der Größe des Staatslebens. Er sah vor Augen, wie mit dem Staate auch die Sittlichkeit der Deutschen verkümmerte, er begriff jetzt, daß dem Staate eine hohe sittliche Pflicht auferlegt sei, die Volkserziehung. Auf diesem idealsten Gebiete der Staatswissenschaft hat Fichte seine tiefsten politischen Gedanken gedacht. Wir fragen erstaunt: wie nur war es möglich? Ist doch dem Politiker die Erfahrung nicht eine Schranke, sondern der Inhalt seines Denkens. Hier gilt es nach Aristoteles Vorbild, mit zur Erde[S. 50] gewandtem Blicke eine ungeheuere Fülle von Tatsachen zu beherrschen, Ort und Zeit abwägend zu schätzen, die Gewalten der Gewohnheit, der Trägheit, der Dummheit zu berechnen, den Begriff der Macht zu erkennen, jenes geheimnisvolle allmähliche Wachsen der geschichtlichen Dinge zu verstehen, das die moderne Wissenschaft mit dem viel mißbrauchten Worte „organische Entwicklung” bezeichnet. Wie sollte er dies alles erkennen? Er, dessen Bildung in die Tiefe mehr als in die Breite ging, der die Menschheit zur Pflanze herabgewürdigt sah, wenn man redete von dem langsamen natürlichen Reifen des Staates? Er hat es auch nicht erkannt; nicht einen Schritt weit kam sein Idealismus der Wirklichkeit entgegen. Aber er lebte in Zeiten, da allein der Idealismus uns retten konnte, in einem Volke, das, gleich ihm selber, von den Ideen der Humanität erst herabstieg zur Arbeit des Bürgertums, in einer Zeit, die nichts dringender bedurfte als jenen „starken und gewissen Geist”, den er ihr zu erwecken dachte. Mit der Schlacht von Jena schien unsere letzte Hoffnung gebrochen; „der Kampf” — so schildert Fichte das Unheil und den Weg des Heils — „der Kampf mit den Waffen ist beschlossen; es erhebt sich, so wir es wollen, der neue Kampf der Grundsätze, der Sitten, des Charakters.” Wohl mögen wir erstaunen, wie klar der Sinn des nahenden Kampfes in diesen Tagen der Ermannung von allen verstanden ward, wie diese Worte Fichtes überall ein Echo fanden. Die Regierung selber erkannte, daß allein ein Volkskrieg retten könne, allein die Entfesselung aller Kräfte der Nation, der sittlichen Mächte mehr noch als der physischen — „einer der seltenen, nicht oft erlebten Fälle,” sagt Fichte rühmend, „wo Regierung und Wissenschaft übereinkommen.” So, gerade so, auf dieser steilen Spitze mußten die Geschicke unseres Volkes stehen, einen Krieg der Verzweiflung mußte es gelten um alle höchsten Güter des Lebens, eine Zeit mußte kommen von jenen, die wir die großen Epochen der Geschichte nennen, da alle schlummernden Gegensätze des Völkerlebens zum offenen Durchbruch gelangen, die Stunde mußte schlagen für eine Staatskunst der Ideen, wenn gerade dieser[S. 51] Denker unmittelbar eingreifen sollte in das staatliche Leben.
Nicht leicht ward ihm, seine Stelle zu finden unter den Männern, die dieser Staatskunst der Ideen dienten. Denn was den Nachlebenden als das einfache Werk einer allgemeinen fraglosen Volksstimmung erscheint, das ist in Wahrheit erwachsen aus harten Kämpfen starker eigenwilliger Köpfe. Wie fremd stehen sie doch nebeneinander: unter den Staatsmännern Stein, der Gläubige, der schroffe Aristokrat, und Hardenberg, der Jünger französischer Aufklärung, und Humboldt, der moderne Hellene, und Schön, der trotzige Kantianer; unter den Soldaten die denkenden Militärs, die Scharnhorst und Clausewitz, denen die Kriegskunst als ein Teil der Staatswissenschaft erschien, und Blücher, dem der Schreibtisch Gift war, der eines nur verstand — den Feind zu schlagen, und York, der Mann der alten militärischen Schule, der Eiferer wider das Nattergezücht der Reformer; unter den Denkern und Künstlern neben Fichte Schleiermacher, dessen Milde jener als leichtsinnig und unsittlich verwarf, und Heinrich v. Kleist, der als ein Dichter mit unmittelbarer Leidenschaft empfand, was Fichte als Denker erkannte. Ihm zitterte die Feder in der Hand, wenn er in stürmischen Versen die Enkel der Kohortenstürmer, die Römerüberwinderbrut zum Kampfe rief. Einen Schüler Fichtes meinen wir zu hören, wenn Kleist seinem Könige die Türme der Hauptstadt mit den stolzen Worten zeigt: „Sie sind gebaut, o Herr, wie hell sie blinken, für beßre Güter in den Staub zu sinken.” Und er selber war es, der Fichte die höhnenden Verse ins Gesicht warf:
Setzet, ihr träft’s mit euerer Kunst und zögt uns die Jugend nun zu Männern wie ihr; liebe Freunde, was wär’s?
Wenn er seine Adler geschändet sah von den Fremden, wie mochte der stolze Offizier ertragen, daß dieser Schulmeister herantrat, die Nöte des Augenblicks durch die Erziehung des werdenden Geschlechts zu heilen? Und dennoch haben sie zusammengewirkt, die Männer, die sich befehdeten und schalten, einträchtig in dem Kampfe der Idee[S. 52] gegen das Interesse, der Idee des Volkstums wider das Interesse der nackten Gewalt.
Schon vor der Schlacht von Jena hatte sich Fichte erboten, mit dem ausrückenden Heere als weltlicher Prediger und Redner, „als Gesandter der Wissenschaft und des Talents”, zu marschieren, „denn was” — ruft er in seiner kecken, die Weihe des Gedankens mitten in die matte Wirklichkeit hineintragenden Weise — „was ist der Charakter des Kriegers? Opfern muß er sich können; bei ihm kann die wahre Gesinnung, die rechte Ehrliebe gar nicht ausgehen, die Erhebung zu etwas, das über dies Leben hinaus liegt.” Doch das letzte Heer des alten Regimes hätte solchen Geist nicht ertragen. Die Stunden der Schande waren gekommen. Fichte floh aus Berlin und sprach: „Ich freue mich, daß ich frei geatmet, geredet, gedacht habe und meinen Nacken nie unter das Joch des Treibers gebogen.” Auch ihn überwältigte jetzt auf Augenblicke die Verzweiflung, da er zufrieden sein wollte ein ruhiges Plätzchen zu finden, und es den Enkeln überlassen wollte zu reden — „wenn bis dahin Ohren wachsen zu hören!” Nicht die Zuversicht fand er wieder, aber die Stärke des Pflichtgefühls, als er nach dem Frieden dennoch redete zu den Lebendigen ohne Hoffnung für sie, „damit vielleicht unsere Nachkommen tun, was wir einsehen, weil wir leiden, weil unsere Väter träumten.” In Stunden einsamer Sammlung war nun sein ganzes Wesen „geweiht, geheiligt”; der alte Grundgedanke seines Lebens, in eigener Person das Absolute zu sein und zu leben, findet in dieser weihevollen Stimmung eine neue religiöse Form, erscheint ihm als die Pflicht „des Lebens in Gott”. Rettung um jeden Preis — dieser ungeheueren Notwendigkeit, die leuchtend vor seiner Seele stand, hatte er manches geopfert von der Starrheit des Theoretikers. Er pries jetzt sogar Machiavellis Weisheit der Verzweiflung; denn von der entgegengesetzten, der niedrigsten Schätzung des Menschenwertes gelangte dieser Verächter aller hergebrachten Sittlichkeit doch zu dem gleichen Endziele, der Rettung des großen Ganzen auf Kosten jeder Neigung des Einzelnen. Gereift und gefestigt ward dieser Ideengang, als[S. 53] Fichte jetzt sich schulte an den großartig einfachen Mitteln uralter Menschenbildung, an Luthers Bibel und an der knappen Form, der herben Sittenstrenge des Tacitus.
Also vorbereitet hielt er im Winter 1807/08, belauscht von fremden Horchern, oft unterbrochen von den Trommeln der französischen Besatzung, zu Berlin die „Reden an die deutsche Nation”. Sie sind das edelste seiner Werke, denn hier war ihm vergönnt, unmittelbar zu wirken auf das eigentlichste Objekt des Redners, den Willen der Hörer; ihnen eigen ist im vollen Maße jener Vorzug, den Schiller mit Recht als das Unterpfand der Unsterblichkeit menschlicher Geisteswerke pries, doch mit Unrecht den Schriften Fichtes absprach, daß in ihnen ein Mensch, ein einziger und unschätzbarer, sein innerstes Wesen abgebildet habe. Doch auch der Stadt sollen wir gedenken, die, wie eine Sandbank in dem Meere der Fremdherrschaft, dem kühnen Redner eine letzte Freistatt bot; die hocherregte Zeit und die hingebend andächtigen Männer und Frauen sollen wir preisen, welche des Redners schwerem Tiefsinn folgten, den selbst der Leser heute nur mit Anstrengung versteht. Riesenschritte — hebt Fichte an — ist die Zeit mit uns gegangen; durch ihr Übermaß hat die Selbstsucht sich selbst vernichtet. Doch aus der Vernichtung selber erwächst uns die Pflicht und die Sicherheit der Erhebung. Damit die Bildung der Menschheit erhalten werde, muß diese Nation sich retten, die das Urvolk unter den Menschen ist durch die Ursprünglichkeit ihres Charakters, ihrer Sprache. — Unterdrücken wir strenge das wohlweise Lächeln des Besserwissens. Denn fürwahr ohne solche Überhebung hätte unser Volk den Mut der Erhebung nie gefunden wider die ungeheuere Übermacht. Freuen wir uns vielmehr an der feinen Menschenkenntnis des Mannes, der sich gerechtfertigt hat mit dem guten Worte: „Ein Volk kann den Hochmut gar nicht lassen, außerdem bleibt die Einheit des Begriffs in ihm gar nicht rege.” — Diesem Urvolke hält der Redner den Spiegel seiner Taten vor. Er weist unter den Werken des Geistes auf die Größe von Luther und Kant, unter den Werken[S. 54] des Staates — er, der in Preußen wirkte und Preußen liebte — auf die alte Macht der Hansa und preist also die streitbaren, die modernen Kräfte unseres Volkstums — im scharfen und bezeichnenden Gegensatze zu Fr. Schlegel, der in Wien zu ähnlichem Zwecke an die romantische Herrlichkeit der Kaiserzeit erinnerte.
In diesem hochbegnadeten Volke soll erweckt werden „der Geist der höheren Vaterlandsliebe, der die Nation als die Hülle des Ewigen umfaßt, für welche der Edle mit Freuden sich opfert, und der Unedle, der nur um des ersteren willen da ist, sich eben opfern soll”. Und weiter — nach einem wundervollen Rückblick auf die Fürsten der Reformation, die das Banner des Aufstandes erhoben nicht um ihrer Seligkeit willen, deren sie versichert waren, sondern um ihrer ungeborenen Enkel willen — „die Verheißung eines Lebens auch hienieden, über die Dauer des Lebens hinaus, allein diese ist es, die bis zum Tode fürs Vaterland begeistern kann”. Nicht Siegen oder Sterben soll unsere Losung sein, da der Tod uns allen gemein und der Krieger ihn nicht wollen darf, sondern Siegen schlechtweg. Solchen Geist zu erwecken, verweist Fichte auf das letzte Rettungsmittel, die Bildung der Nation „zu einem durchaus neuen Selbst” — und fordert damit, was in anderer Weise E. M. Arndt verlangte, als er der übergeistigen Zeit eine Kräftigung des Charakters gebot. Noch war die Nation in zwei Lager gespalten. Die einen lebten dahin in mattherziger Trägheit, in der lauwarmen Gemütlichkeit der alten Zeit; ihnen galt es eine große Leidenschaft in die Seele zu hauchen: „Wer nicht sich als ewig erklärt, der hat überhaupt nicht die Liebe und kann nicht lieben sein Volk.” Das sind dieselben Töne, die später Arndt anschlug, wenn er dem Wehrmann zurief: „Der Mensch soll lieben bis in den Tod und von seiner Liebe nimmer lassen noch scheiden; das kann kein Tier, weil es leicht vergisset.” Den anderen schwoll das Herz von heißem Zorne; schon war unter der gebildeten Jugend die Frage, wie man Napoleon ermorden könne, ein gewöhnlicher Gegenstand des Gesprächs. Diese wilde Leidenschaft galt es zu läutern und zu adeln: „Nicht die Gewalt der[S. 55] Arme, noch die Tüchtigkeit der Waffen, sondern die Kraft des Gemütes ist es, welche Siege erkämpft.” Ein neues Geschlecht soll erzogen werden fern von der Gemeinheit der Epoche, entrissen dem verderbten Familienleben, erstarkend zu völliger Verleugnung der Selbstsucht durch eine Bildung, die nicht ein Besitztum, sondern ein Bestandteil der Personen selber sei. In Pestalozzis Erziehungsplänen meint Fichte das Geheimnis dieser Wiedergeburt gefunden. War doch in ihnen der Lieblingsgedanke des Philosophen verkörpert, daß der Wille, „die eigentliche Grundwurzel des Menschen,” die geistige Bildung nur ein Mittel für die sittliche sei; gingen sie doch darauf aus, die Selbsttätigkeit des Schülers fort und fort zu erwecken. Wenn die Stein und Humboldt unbefangen den gesunden Kern dieser Pläne würdigten: dem Philosophen war kein Zweifel, der Charakter der Pestalozzischen Erziehungsweise sei — „ihre Unfehlbarkeit”; fortan sei nicht mehr möglich, daß der schwache Kopf zurückbleibe hinter dem starken.
Zu solchem Zwecke redet er „für Deutsche schlechtweg, von Deutschen schlechtweg, nicht anerkennend, sondern durchaus beiseite setzend und wegwerfend alle die trennenden Unterscheidungen, welche unselige Ereignisse seit Jahrhunderten in der einen Nation gemacht haben”. „Bedenket — beschwört er die Hörer —, daß ihr die letzten seid, in deren Gewalt diese große Veränderung steht. Ihr habt doch noch die Deutschen als Eines nennen hören, ihr habt ein sichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich und einen Reichsverband, gesehen oder davon vernommen, unter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören lassen, die von dieser höheren Vaterlandsliebe begeistert waren. Was nach euch kommt, wird sich an andere Vorstellungen gewöhnen, es wird fremde Formen und einen anderen Geschäfts- und Lebensgang annehmen, und wie lange wird es noch dauern, daß keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen oder von ihnen gehört habe?” — Auch den letzten kümmerlichen Trost raubt er den Verzagten, die Hoffnung, daß unser Volk in seiner Sprache und Kunst fortdauern werde. Da spricht er das furchtbare Wort:[S. 56] „Ein Volk, das sich nicht selbst mehr regieren kann, ist schuldig, seine Sprache aufzugeben.” So geschieht ihm selber, was er seinem Luther nachrühmte, daß deutsche Denker, ernstlich suchend, mehr finden als sie suchen, weil der Strom des Lebens sie mit fortreißt. In diesem radikalen Satze schlummert der Keim der Wahrheit, welche erst die Gegenwart verstanden hat, daß ein Volk ohne Staat nicht existiert. — „Es ist daher kein Ausweg,” schließen die Reden — „wenn ihr versinkt, so versinkt die ganze Menschheit mit, ohne Hoffnung einer einstigen Wiederherstellung.”
Wir Nachgeborenen haben den bewegenden Klang jener Stimme nicht gehört, welche die andachtsvollen Zuhörer zu Berlin ergriff, — und jeder rechte Redner wirkt sein Größtes durch einen höchstpersönlichen Zauber, den die Nachwelt nicht mehr begreift — aber noch vor den toten Lettern zittert uns das Herz, wenn der strenge Züchtiger unseres Volkes „Freude verkündigt in die tiefe Trauer” und an die mißhandelten Deutschen den stolzen Ruf ertönen läßt: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend.” — Und welchen Widerhall erweckten diese Reden in der Welt? Achselzuckend ließ der Franzose den törichten Ideologen gewähren, gleichgültig erzählte der Moniteur von einigen Vorlesungen über Erziehung, die in Berlin einigen Beifall gefunden. Die Fremden wußten nicht, aus wie tiefem Borne dem deutschen Volke der Quell der Verjüngung strömte, und kein Verräter erstand, ihnen den politischen Sinn der Reden zu deuten. Mit wieviel schärferem politischen Blicke hatte einst Machiavelli seinem Volke den allerbestimmtesten Plan der Rettung mit den bestdurchdachten Mitteln vorgezeichnet! Aber sein Principe blieb ein verwegenes Traumbild; die Reden des deutschen Philosophen wurden einer der Funken, daran sich die Glut der Befreiungskriege entzündete. Fichte freilich meinte, sein Wort sei verhallt in den „tiefverderbten” Tagen, sein ganzes System sei nur ein Vorgriff der Zeit. Denn es ist das tragische Geschick großer Männer, daß sie ihren eigenen Geist nicht wiedererkennen, wenn er von den Zeitgenossen empfangen und[S. 57] umgeformt wird zu anderen Gestalten, als sie meinten. Und dennoch war der Redner an die deutsche Nation nur der Mund des Volkes gewesen, er hatte nur dem, was jedes Herz bewegte, einen kühnen, hochgebildeten Ausdruck geliehen. Denn was war es anders, als jene höhere Vaterlandsliebe, die der noch ungeborenen Enkel denkt — was anders war es, das den Landwehrmann von Haus und Hof und Weib und Kindern trieb, das unsere Mütter bewog, alles köstliche Gut der Erde bis zu dem Ringe des Geliebten für ihr Land dahinzugeben? Was anderes war es, als daß sie unser gedachten? In diesem Sinne — denn wer ermißt die tausend geheimnisvollen Kanäle, welche das durchdachte Wort des Philosophen fortleiteten in die Hütte des Bauern — in diesem Sinne hat Fichtes Wort gezündet, und die Kundigen stimmten ein, wenn Friedrich Gentz, diesmal wahrhaft ergriffen, sagte: „So groß, tief und stolz hat fast noch niemand von der deutschen Nation gesprochen.”
Wieder kamen Jahre stiller Arbeit. Unter den ersten wirkte Fichte bei der Gründung der Berliner Hochschule, die dem erwachenden neuen Geiste ein Herd sein sollte. Ein Glück, daß Wilhelm v. Humboldt, als ein besonnener Staatsmann, an die altbewährten Überlieferungen deutscher Hochschulen anknüpfte und die verwegenen Gedanken des Philosophen verwarf; denn mit der ganzen Strenge seiner herrischen Natur hatte Fichte einen Plan mönchischer Erziehung entworfen, der die Jugend absperren sollte von jeder Berührung mit den Ideenlosen, doch in Wahrheit jede echte akademische Freiheit vernichtet hätte. Um so unerschütterlicher bekämpfte er auf der neuen Hochschule die falsche akademische Freiheit; er fand es verwerflich, grundverderblich, Nachsicht zu üben mit alten unseligen Unsitten der Jugend. Das wüste Burschenleben war ihm eine bewußte, mit Freiheit und nach Gesetzen hergebrachte Verwilderung. In diesen Jahren weihte er seine ganze Kraft dem Lehramte. Die gewohnte Macht über die jugendlichen Gemüter blieb ihm nach wie vor. Er nutzte sie, den Keim zu legen zu der deutschen Burschenschaft. Er förderte, wie schon früher in Jena, unter[S. 58] den Studierenden den Widerstand gegen den Unfug der alten Landsmannschaften und warnte die Gesellschaft der „Deutsch-Jünger” vor jenen beiden Irrtümern, welche später die Burschenschaften lähmten: sie sollten sich hüten, mittelalterlich und deutsch zu verwechseln, und sorgen, daß das Mittel — die Verbindung — ihnen nicht wichtiger werde als der Zweck — die Belebung deutschen Sinnes. —
Endlich erfüllten sich die Zeiten; dies Geschlecht, das er verloren gab, fand sich wieder; denn so tief war es nie gesunken, als der Idealist meinte. Die Trümmer der großen Armee kehrten aus Rußland heim, die Provinz Preußen stand in Waffen, der ostpreußische Landtag harrte auf das Wort des Königs. Der König erließ von Breslau den Aufruf zur Bildung von Freiwilligen-Korps; aber noch war der Krieg an Frankreich nicht erklärt. Auf der Straße begegneten den französischen Gendarmen dichte Haufen still drohender Bauern, die zu den Fahnen zogen; und Fichtes Schüler zitterten vor Ungeduld, dem Rufe des Königs zu folgen, doch sie warteten des Lehrers. Wer meinte nicht, daß in diesen schwülen Tagen der Erwartung ein glühender Aufruf aus Fichtes Munde wie ein Blitzstrahl hätte einschlagen sollen? — Schlicht und ernst, wie nach einem großen Entschlusse, tritt er endlich am 19. Februar 1813 vor seine Studenten. Nur selten berichten die lauten Annalen der Geschichte von dem Edelsten und Eigentümlichsten der großen historischen Wandlungen. So ist auch das Herrlichste der reinsten politischen Bewegung, die je unser Volk erhob, noch nicht nach Gebühr gewürdigt — jener Geist schlichter, gefaßter Manneszucht, der das Ungeheuere vollzog so ruhig, so frei von jedem falschen Pathos, wie die Erfüllung alltäglicher Bürgerpflichten. Nichts staunenswürdiger an diesen einzigen Tagen, als jener ernste, unverbrüchliche Gehorsam, der unser Volk selbst dann noch beherrschte, da die hochgehenden Wogen volkstümlicher Entrüstung die Decke sprengten, die sie lange gehemmt. Ein Heldenmut ist es, natürlich, selbstverständlich in den Tagen tiefer Bewegung, dem Rohre der feindlichen Kanone freudig ins Gesicht zu[S. 59] blicken, aber jedes Wort des Preises verstummt vor der mannhaften Selbstbeherrschung, die unsere Väter beseelte. Als ein Heißsporn des ostpreußischen Landtags die Genossen fragte: „wie nun, meine Herren, wenn der König den Krieg nicht erklärt?” — da erwiderte ihm Heinrich Theodor von Schön: „Dann gehen wir ruhig nach Hause.” Durchaus getränkt von diesem Geiste ernster Bürgerpflicht war auch die Rede, die Fichte jetzt an seine Hörer richtete. Er habe, gesteht er, lange geschwankt, ehe er mit solchem Worte vor seine Schüler getreten sei. Die Wissenschaft allerdings sei die stärkste Waffe gegen das Böse, und in diesem Kampfe würden Siege erfochten, dauernd für alle Zeit. Aber zu dem geistigen Streite bedürfe es des äußern und des innern Friedens: und nur darum, weil diese Ruhe des Gemütes ihn selber, trotz vielfacher Übung in der Selbstbesinnung, zu verlassen beginne, schließe er jetzt seine Vorlesungen. — Das einfache Wort genügte, die Jünglinge in die Reihen der Freiwilligen zu führen. Noch einmal ist ihm dann der Gedanke gekommen, als ein Redner in das Lager zu gehen — noch einmal vergeblich. Dann ist Fichte krank und halb gelähmt mit den gelehrten Genossen und dem kaum mannbaren Sohne in den Landsturm getreten; Lanze und Säbel lehnten nun an der Tür des Philosophen.
Als die Kunde erscholl von den herrlichsten deutschen Siegen, von den Tagen von Hagelberg und Dennewitz, selbst dann hat er nicht gelassen von der alten tüchtigen Weise, den Dingen nachzudenken bis zum Ende. Im Sommer 1813 hielt er vor den wenigen Studierenden, die dem Kampfe fern blieben, Vorlesungen über die Staatslehre. Auch jetzt noch bewegt er sich ausschließlich im Gebiete der Ideen; seinen kühnsten Sätzen fügt er stolz abweisend hinzu: „Es gilt vom Reiche (der Vernunft), nicht von ihren Lumpenstaaten.” Noch immer geht er dem Staate der Wirklichkeit mit radikaler Härte zu Leibe; Erblichkeit der Repräsentation ist ihm ein absolut vernunftwidriges Prinzip, „die erste Pflicht der Fürsten wäre, in dieser Form nicht da zu sein”, der Wahn der Ungleichheit ist bereits durch das Christentum praktisch vernichtet. Aber[S. 60] wie viel reicher und tiefsinniger erscheint ihm jetzt der Staat! Mit scharfen Worten sagt er sich los von der naturrechtlichen Lehre, die er bereits in den Reden an die deutsche Nation verlassen hatte. Er verwirft die „schlechte Ansicht”, welche im Staate nur den Schützer des Eigentums erblickt und darum Kirche, Schule, Handel und Gewerbe allein den Privatleuten zuweist und im Falle des Krieges die Ruhe für die erste Bürgerpflicht erklärt. Der Staat ist berufen, die sittliche Aufgabe auf Erden zu verwirklichen. In den beiden schönen Vorlesungen, die „von dem Begriffe des wahrhaften Krieges” handeln, stellt er scharf und schroff die sinnliche und die sittliche Ansicht vom Staate einander gegenüber. Nach jener gilt „zuerst das Leben, sodann das Gut, endlich der Staat, der es schützt”. Nach dieser steht obenan „die sittliche Aufgabe, das göttliche Bild; sodann das Leben in seiner Ewigkeit, das Mittel dazu, ohne allen Wert, außer inwiefern es ist dieses Mittel; endlich die Freiheit, als die einzige und ausschließende Bedingung, daß das Leben sei solches Mittel, drum — als das einzige, was dem Leben selbst Wert gibt”. — Der einst mit dem Mißtrauen des deutschen Gelehrten die Zwangsanstalt des Staates betrachtet, er sieht jetzt mit der Begeisterung eines antiken Bürgers in dem Staate den Erzieher des Volkes zur Freiheit, alle Zweige des Volkslebens weist er der Leitung des Staates zu. Nur in einem solchen Staate ist „ein eigentlicher Krieg” möglich, denn hier wird durch feindlichen Einfall die allgemeine Freiheit und eines jeden besondere bedroht; es ist darum jedem für die Person und ohne Stellvertretung aufgegeben der Kampf auf Leben und Tod.
Schon längst waren seine radikalen Theorien dann und wann erhellt worden durch ein Aufblitzen historischer Erkenntnis; bereits in seiner Jugendschrift über die französische Revolution hatte er Friedrich den Großen gepriesen als einen Erzieher zur Freiheit. Doch jetzt erst beginnt er die historische Welt recht zu verstehen. Er erkennt, daß ein Volk gebildet werde durch gemeinsame Geschichte, und berufen sei, „in dem angehobenen Gange aus[S. 61] sich selber sich fortzuentwickeln zu einem Reiche der Vernunft”. Alle Staaten der Geschichte erscheinen ihm jetzt als Glieder in der großen Kette dieser Erziehung des Menschengeschlechts zur Freiheit. Ist diese Erziehung dereinst vollendet, dann wird „irgendeinmal irgendwo die hergebrachte Zwangsregierung einschlafen, weil sie durchaus nichts mehr zu tun findet”, dann wird das Christentum nicht bloß Lehre, nein, die Verfassung des Reiches selber sein. In diesem Reiche werden die „Wissenschaftlichen” regieren über dem Volke, denn „alle Wissenschaft ist tatbegründend”. So gelangt auch Fichte zu dem platonischen Idealbilde eines Staates, welchen die Philosophen beherrschen. Und wenn der nüchterne Politiker betroffen zurückweicht vor diesem letzten Fluge des Fichteschen Geistes, so bleibt doch erstaunlich, wie rasch die große Zeit sich ihren Mann erzogen hat: der Held des reinen Denkens wird durch den Zusammenbruch seines Vaterlandes zu der Erkenntnis geführt, daß der Staat die vornehmste Anstalt im Menschenleben, die Verkörperung des Volkstums selber ist. Näher eingehend auf die Bewegung des Augenblicks schildert er das Wesen des gewaltigen Feindes, der unter den Ideenlosen der Klügste, der Kühnste, der Unermüdlichste, begeistert für sich selber, nur zu besiegen ist durch die Begeisterung für die Freiheit. So stimmt auch Fichte mit ein in die Meinung unserer großen Staatsmänner, welche erkannten, daß die Revolution in ihrem furchtbarsten Vertreter bekämpft werden müsse mit ihren eigenen Waffen. Fast gewaltsam unterdrückt er den unabweislichen Argwohn, daß nach dem Frieden alles beim alten bleibe. Nicht ungerügt freilich läßt er es hingehen, daß man in solchem Kampfe noch gotteslästerlich von Untertanen rede, daß die Formel „Mit Gott für König und Vaterland” den Fürsten gleichsam des Vaterlandes beraube. Aber alle solche Makel der großen Erhebung gilt es als schlimme alte Gewohnheiten zu übersehen; „dem Gebildeten soll sich das Herz erheben beim Anbruche seines Vaterlandes”. Beim Anbruche seines Vaterlandes — die aus der Ferne leidenschaftslos zurückblickende Gegenwart mag diese schöne Bezeichnung[S. 62] der Freiheitskriege bestätigen, welche die hart enttäuschten Zeitgenossen kummervoll zurücknahmen.
Auch zu einer rein publizistischen Arbeit ward der Denker durch die Sorge um den Neubau des Vaterlandes veranlaßt. Alsbald nach dem Aufrufe des Königs an sein Volk schreibt er den vielgenannten „Entwurf einer politischen Schrift”. Die wenigen Blätter sind unschätzbar nicht bloß als ein getreues Bild seiner Weise zu arbeiten — denn hier, in der Tat, sehen wir ihn pochen und graben nach der Wahrheit, den Verlauf des angestrengten Schaffens unterbrechen mit einem nachdenklichen „Halt, dies schärfer!” und die Schlacken der ergründeten Wahrheit emporwerfen aus der Grube — sondern mehr noch, weil uns hier Fichte entgegentritt als der erste namhafte Verkündiger jener Ideen, welche heute Deutschlands nationale Partei bewegen. Schon oft war, bis hinauf in die Kreise der Mächtigsten, der Gedanke eines preußischen Kaisertums über Norddeutschland angeregt worden. Hier zuerst verkündet ein bedeutender Mann mit einiger Bestimmtheit den Plan, den König von Preußen als einen „Zwingherrn zur Deutschheit” an die Spitze des gesamten Vaterlandes zu stellen. Parteien freilich im heutigen Sinne kannte jene Zeit noch nicht, und Fichte am wenigsten hätte sich der Mannszucht einer Partei gefügt; er schreibt seine Blätter nur nieder, damit „diese Gedanken nicht untergehen in der Welt”. Aber kein Parteimann unserer Tage mag das tödliche Leiden unseres Volkes, daß es mediatisiert ist, klarer bezeichnen als er mit den Worten, das deutsche Volk habe bisher an Deutschland Anteil genommen allein durch seine Fürsten. Noch immer schwebt ihm als höchstes Ziel vor Augen eine „Republik der Deutschen ohne Fürsten und Erbadel”, doch er begreift, daß dieses Ziel in weiter Ferne liege. Für jetzt gilt es, daß „die Deutschen sich selbst mit Bewußtsein machen”. — „Alle großen deutschen Literatoren sind gewandert,” ruft er stolz; und jenes freie Nationalgefühl, das diese glänzenden Geister trieb, die Enge ihres Heimatlandes zu verlassen, muß ein Gemeingut des Volkes werden, damit zuletzt der Einzelstaat als überflüssig hinwegfalle. Ein haltbarer [S. 63] Nationalcharakter wird gebildet zunächst durch die Freiheit, denn „ein Volk ist nicht mehr umzubilden, wenn es in einen regelmäßigen Fortschritt der freien Verfassung hineingekommen”. Aber auch im Kriege wird ein Volk zum Volke, und hier spricht er ein Wort, dessen tiefster Sinn sich namentlich in Fichtes Heimatlande als prophetisch bewährt hat: „Wer den gegenwärtigen Krieg nicht mitführen wird, wird durch kein Dekret dem deutschen Volke einverleibt werden können.” Als einen Erzieher zur Freiheit, zur Deutschheit brauchen wir einen Kaiser. Österreich kann die Hand nie erheben zu dieser Würde, weil es unfrei und in fremde undeutsche Händel verwickelt ist; sein Kaiser ist durch sein Hausinteresse gezwungen, „deutsche Kraft zu brauchen für seine persönlichen Zwecke”. Preußen aber „ist ein eigentlich deutscher Staat, hat als Kaiser durchaus kein Interesse zu unterjochen, ungerecht zu sein. Der Geist seiner bisherigen Geschichte zwingt es fortzuschreiten in der Freiheit, in den Schritten zum Reich (das will sagen: zum Vernunftreiche); nur so kann es fortexistieren, sonst geht es zugrunde”.
So — nicht eingewiegt, nach der gemeinen Weise der Idealisten, in leere Illusionen, aber auch nicht ohne frohe Hoffnung ist Fichte in den Tod gegangen für sein Land. Welch ein Wandel seit den Tagen der Revolutionskriege, da er der Geliebten noch vorhielt, daß sie gleichgültig sei gegen die Welthändel! Der Schwung der großen Zeit, die opferbereite Empfindung weiblichen Mitgefühls führt jetzt Johanna Fichte unter die wunden Krieger der Berliner Hospitäler. Alle guten und großen Worte des Gatten von der Macht der göttlichen Gnade werden ihr lebendig und strömen von ihrem Munde, da sie die unbärtigen Jünglinge der Landwehr mit dem hitzigen Fieber ringen, in letzter Schwäche, in unbezwinglichem Heimweh die Heilung von sich weisen sieht. In den ersten Tagen des Jahres 1814 bringt sie das Fieber in ihr Haus. Einen Tag lang verweilt der Gatte an ihrem Lager, eröffnet dann gefaßt seine Vorlesungen und findet, zurückgekehrt, die Totgeglaubte gerettet. In diesen Stunden des Wiedersehens, meint der Sohn, mag den starken Mann der Tod[S. 64] beschlichen haben. In seine letzten Fieberträume fiel noch die Kunde von der Neujahrsnacht 1814, da Blücher bei der Pfalz im Rheine den Grenzstrom überschritt und das feindliche Ufer widerhallte von den Hurrarufen der preußischen Landwehr. Unter solchen Träumen von kriegerischer Größe ist der streitbare Denker verschieden am 27. Januar 1814. Sein Lob mag er selber sagen: „Unser Maßstab der Größe bleibe der alte: daß groß sei nur dasjenige, was der Ideen, die immer nur Heil über die Völker bringen, fähig sei und von ihnen begeistert.”
Seitdem ist eine lange Zeit vergangen, Fichtes Name ist im Wechsel gepriesen worden und geschmäht, ist aufgetaucht und wieder verschwunden. Als die kriegerische Jugend, heimkehrend von den Schlachtfeldern, in die Hörsäle der Hochschulen zurückströmte, da erst ward offenbar, wie tief das Vorbild des „Vaters Fichte” in den jungen Seelen haftete. „Die Jugend soll nicht lachen und scherzen, sie soll ernsthaft und erhaben sein”, war seine Mahnung, und wirklich, wie Fichtes Söhne erschienen diese spartanischen Jünglinge, wie sie einherschritten in trutziger Haltung, abgehärteten Leibes, in altdeutscher Tracht, hochpathetische Worte voll sittlichen Zornes und vaterländischer Begeisterung redend. Die Ideen, welche diese jungen Köpfe entzückten, lagen zwar tief begründet in der ganzen Richtung der Zeit, aber unzweifelhaft gebührt den Lehren Fichtes daran ein starker Anteil. Vor seinem Bilde, dessen lautere Hoheit uns kein Schopenhauer hinwegschmähen wird, erfüllte sich das junge Geschlecht mit jenen Grundsätzen herber Sittenstrenge, die unseren Hochschulen eine heilsame Verjüngung brachten. Und welch ein Vorbild der „Deutschheit” besaß die Jugend in ihm, der aus der dumpfen Gemütlichkeit des kursächsischen Lebens sich emporrang zu jenem vornehmen Patriotismus, welcher nur noch „Deutsche schlechtweg” kennen wollte und den Kern unserer Nation in der norddeutsch-protestantischen Welt erblickte. Mochte er immerhin seinen politischen Ideen die abwehrende Weisung hinzufügen: „Auf Geheiß der Wissenschaft soll die Regierung jene bändigen und strafen, welche diese Lehren auf die Gegenwart anwenden”: [S. 65] — die Jugend wußte nichts von solcher Unterscheidung. Die Hoheit seiner Ideen und der Radikalismus seiner Methode wirkten berauschend auf die deutschen Burschen. „Der deutsche Staat ist in der Tat einer; ob er nun als einer oder mehrere erscheine, tut nichts zur Sache” — solcher Worte diktatorischer Klang drang tief in die jungen Seelen. Die Vorstellung, daß das Bestehende schlechthin unberechtigt sei und einem deutschen Reiche weichen müsse, ward durch Fichtes Lehren mächtig gefördert.
Als eine edle Barbarei hat man treffend die Stimmung der Burschenschaft bezeichnet, und auch an den Sünden dieser edlen Barbaren ist Fichte nicht schuldlos. Seine mönchische Strenge spiegelt sich wider in dem altklugen, unjugendlichen Wesen, das uns so oft zurückstößt von der wackeren teutonischen Jugend. Wenn er immer wieder die Bildung des Charakters betonte, war es da zu verwundern, daß schließlich die Jugend, die den Wert eines gereiften Charakters noch nicht zu beurteilen vermag, mit Vorliebe den polternden Moralpredigern folgte und an alle glänzenden Geister unseres Volkes den Maßstab der „Gesinnungstüchtigkeit” legte? Wenn er unermüdlich die Jugend darstellte als den noch reinen Teil der Nation und die „Wissenschaftlichen” als die natürlichen Lenker des Volkes: — mußte da nicht endlich die Anmaßung aufwuchern in der wissenschaftlichen Jugend? — „Unser Urteil hat das Gewicht der Geschichte selbst, es ist vernichtend!” — in solchen Reden, die im Burschenhause zu Jena, als Arnold Ruge jung war, widerhallten, offenbart sich die Kehrseite des Fichteschen Geistes. Fichte starb zu früh; bei längerem Leben wäre all seine wache Sorge dahin gegangen, die edle Barbarei der Jugend maßvoll und bescheiden zu erhalten. Weder Luden noch Oken oder Fries, und am allerwenigsten der alte Jahn stand hoch genug, um die spartanische Rauheit des jungen Geschlechts zu mäßigen. — Vornehmlich in dieser sittlichen Einwirkung auf die Gesinnung des werdenden Geschlechts liegt Fichtes Bedeutung für die Geschichte unserer nationalen Politik — und wer darf leugnen, daß der Fluch[S. 66] dieses Wirkens tausendmal überboten ward von dem Segen? Nimmermehr wird diesem Denker gerecht, wer ihn lediglich beurteilt als einen politischen Schriftsteller. Der Publizist mag lächeln über Fichtes ungeübten politischen Scharfblick, der „Gelehrte von Metier” mag erschrecken vor seiner mangelhaften Kenntnis der politischen Tatsachen; aber hoch über die Fachgelehrten und die Publizisten hinaus erhebt sich der Redner an die deutsche Nation, wenn er mit der Kühnheit des Propheten das Ethos unserer nationalen Politik verkündet, wenn er den zersplitterten Deutschen den Geist der echten Vaterlandsliebe predigt, der über den Tod hinaus zu hassen und zu lieben vermag.
Das war mithin kein Zufall, daß der Name dieses Denkers durch den deutschen Bundestag in den Kot getreten ward. Viel zu milde, leider, lautet das landläufige Urteil, daß unser Volk mit Undank belohnt worden für die Errettung der Throne, die sein Blut erkauft. Als ein Verbrechen vielmehr galt zu Wien und Frankfurt der Geist des Freiheitskrieges. Und wer hatte den „militärischen Jakobinismus” des preußischen Heeres schroffer, schonungsloser ausgesprochen als Fichte in den Worten: „Kein Friede, kein Vergleich! Auch nicht falls der zeitige Herrscher sich unterwürfe und den Frieden schlösse! Ich wenigstens habe den Krieg erklärt und bei mir beschlossen, nicht für seine Angelegenheit, sondern für die meinige, meine Freiheit.” Wie sehr mußte die Woge demokratischen Zornes und Stolzes, welche in diesen Worten brandet, jene Schmalz und Kamptz erschrecken, die den Freiheitskrieg für eine Tat gewöhnlichen Gehorsams erklärten, vergleichbar dem Wirken der Spritzenmannschaft, die zum Löschen befehligt wird! Darum, als die Zentral-Untersuchungskommission zu Mainz den unbeschämten Augen des Bundestages die demagogischen Umtriebe darlegte, standen obenan unter den verbrecherischen Geheimbünden — die Vereine, welche in den Jahren 1807–13 sich gebildet zum Zwecke der Vertreibung der Franzosen, und die Liste der Verdächtigen ward eröffnet mit den erlauchten Namen von — Fichte und Schleiermacher. Nur mit Erröten denken wir der[S. 67] Tage, da man in Berlin verbot, die Reden an die deutsche Nation aufs neue zu drucken.
Mag es sein, daß Fichtes nervige Faust den Bogen zu heftig spannte und über das Ziel hinausschoß; in der Richtung nach dem Ziel ist sicherlich sein Pfeil geflogen. Die Zeit wird kommen, die Sehergabe des Denkers zu preisen, der Preußen die Wahl stellte, unterzugehen oder fortzuschreiten zum Reiche. Mag es sein, daß der verwegene Idealist oftmals abirrte in der nüchternen Welt der Erfahrung: — ein Vorbild des Bürgermutes ist er uns geworden, der lieber gar nicht sein wollte, als der Laune unterworfen und nicht dem Gesetz. Und auch das praktisch Mögliche hat der Theoretiker dann immer getroffen, wenn er handelte von den sittlichen Grundlagen des staatlichen Lebens. Alle Vorwände der Zagheit, all das träge Harren auf ein unvorhergesehenes glückliches Ereignis — wie schneidend weist er sie zurück, wenn er versichert, keiner der bestehenden Landesherren „könne Deutsche machen”, nur aus der Bildung des deutschen Volksgeistes werde das Reich erwachsen. Wenn wir willig diesem Worte glauben, so hoffen wir dagegen — oder vielmehr wir müssen es wollen, daß ein anderer Zukunftsspruch des Denkers nicht in Erfüllung gehe. Schon einmal sahen wir ihn, nach der Weise der Propheten, sich täuschen in der Zeit: sechs Jahre schon nach den Reden an die deutsche Nation erhebt sich das Geschlecht, das er gänzlich aufgegeben. Sorgen wir, daß dies Volk nochmals rascher lebe, als Fichte meinte, daß wir mit eigenen Augen das einige Deutsche Reich erblicken, welches er im Jahre 1807 bescheiden bis in das 22. Jahrhundert verschob. — Wieder ist den Deutschen die Zeit des Kampfes erschienen; wieder steht nicht der Gedanke gerüstet gegen den Gedanken, nicht die Begeisterung wider die Begeisterung. Die Idee streitet gegen das Interesse, die Idee, daß dieses Volk zum Volke werde, wider das Sonderinteresse von wenigen, die an das nicht glauben, was sie verteidigen. Wenn die Langsamkeit dieses Streites, der uns aus sittlichen noch mehr denn aus politischen Beweggründen zu den Fahnen ruft, uns oft lähmend auf die[S. 68] Seele fällt, dann mögen wir uns aufrichten an dem Fichteschen Worte der Verheißung, daß in Deutschland das Reich ausgehen werde von der ausgebildeten persönlichen Freiheit und in ihm erstehen werde ein wahrhaftes Reich des Rechts, gegründet auf die Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt. Damit, fürwahr, sind bezeichnet die bescheidensten, die gerechtesten Erwartungen der Deutschen. Was die Deutschen, wenn sie den Einmut finden, ihren Staat zu gründen, bei mäßiger Macht dennoch hoch stellen wird in der Reihe der Nationen, ist allein dieses: kein Volk hat je größer gedacht als das unsere von der Würde des Menschen, keines die demokratische Tugend der Menschenliebe werktätiger geübt.
Mit schönen Worten pries Fichte das Schicksal des großen Schriftstellers: „Unabhängig von der Wandelbarkeit spricht sein Buchstabe in allen Zeitaltern an alle Menschen, welche diesen Buchstaben zu beleben vermögen, und begeistert, erhebt und veredelt bis an das Ende der Tage.” Nicht ganz so glücklich ist das Los, das den Werken Fichtes selber fiel; denn nur wenige scheuen nicht die Mühe, den echten Kern seiner Gedanken loszuschälen aus der Hülle philosophischer Formeln, welchen die Gegenwart mehr und mehr entwächst. Doch daß der Geist des Redners an die deutsche Nation nicht gänzlich verflogen ist in seinem Volke, davon gab die Feier seines hundertjährigen Geburtstages ein Zeugnis. Wohl mancher Nicolai verherrlichte an jenem Tage den lauteren Namen des Denkers und ahnte nicht, daß er seinen Todfeind pries. Aber nimmermehr konnte ein ganzes, ehrliches Volk einen Helden des Gedankens als einen Helden der Nation feiern, wenn nicht in diesem Volke noch der Glaube lebte an die weltbewegende Macht der Idee. Und er wird dauern, dieser vielgeschmähte Idealismus der Deutschen. Und dereinst wird diesem Volke des Idealismus eine schönere Zukunft tagen, da eine reifere Philosophie die Ergebnisse unseres politischen Schaffens, unseres reichen empirischen Wissens in einem großen Gedankensysteme zusammenfaßt. Wir Lebenden werden Fichtes Geist dann am[S. 69] treuesten bewahren, wenn alle edleren Köpfe unter uns wirken, daß in unsern Bürgern wachse und reife der „Charakter des Kriegers”, der sich zu opfern weiß für den Staat. Die Gegenwart denkt, wenn Fichtes Name genannt wird, mit Recht zuerst an den Redner, welcher diesem unterjochten Volke die heldenhaften Worte zurief: „Charakter haben und deutsch sein ist ohne Zweifel gleichbedeutend.” —
Königin Luise
Vortrag, gehalten am 10. März 1876 im Kaisersaale des Berliner Rathauses.
In Wort und Schrift, in Bild und Reim ist die hochherzige Königin, zu deren Gedächtnis ich Sie hier versammelt sehe, oft gefeiert worden; in der Erinnerung ihres dankbaren Volkes lebt sie fort wie eine Lichtgestalt, die den Kämpfern unseres Befreiungskrieges, den Pfad weisend, hoch in den Lüften voranschwebte. Wollte ich dieser volkstümlichen Überlieferung folgen oder gar jener Licht ins Lichte malenden Schmeichelei, die nach den Worten Friedrichs des Großen wie ein Fluch an die Fersen der Mächtigen dieser Erde sich klammert, so müßte ich fast verzweifeln bei dem Versuche, Ihnen ein Bild von diesem reinen Leben zu geben, wie der Künstler sich scheut, das unvermischte Weiß auf die Leinwand zu tragen. Das ist aber der Segen der historischen Wissenschaft, daß sie uns die Schranken der Begabung, die endlichen Bedingungen des Wirkens edler Menschen kennen lehrt und sie so erst unserem menschlichen Verständnis, unserer Liebe näher führt. Auch diese hohe Gestalt stieg nicht wie Pallas gepanzert, fertig aus dem Haupte Gottes empor, auch sie ist gewachsen in schweren Tagen. Sie hat, nach Frauenart, in schamhafter Stille, doch in nicht minder ernsten Seelenkämpfen wie jene starken Männer, die in Scham und Reue den Gedanken des Vaterlands sich eroberten, einen neuen reicheren Lebensinhalt gefunden. Dieselben Tage der Not und Schmach, welche den treuen schwedischen Untertan Ernst Moritz Arndt zum deutschen Dichter bildeten und dem Weltbürger Fichte die Reden an die deutsche Nation auf die Lippen legten, haben die schöne anmutvolle Frau, die beglückende und beglückte Gattin[S. 73] und Mutter mit jenem Heldengeiste gesegnet, dessen Hauch wir noch spürten in unserem jüngsten Kriege.
Wie die Reformation unserer Kirche das Werk von Männern war, so hat auch dieser preußische Staat, der mit seinen sittlichen Grundgedanken fest in dem Boden des Protestantismus wurzelt, allezeit einen bis zur Herbheit männlichen Charakter behauptet. Er dankt dem liebevollen frommen Sinne seiner Frauen Unvergeßliches. Am Ausgange des Dreißigjährigen Krieges blieb uns von der alten Großheit der Väter nichts mehr übrig als das deutsche Haus; aus diesem Born, den Frauenhände hüteten, trank unser Volk die Kraft zu neuen Taten. Dem öffentlichen Leben aber sind die Frauen Preußens immer fern geblieben, im scharfen Gegensatze zu der Geschichte des katholischen Frankreichs. Ganz deutsch, ganz preußisch gedacht ist das alte Sprichwort, das jene Frau die beste nennt, von der die Welt am wenigsten redet. Keine aus der langen Reihe begabter Fürstinnen, welche den Thron der Hohenzollern schmückten, hat unseren Staat regiert. Auch Königin Luise bestätigte nur die Regel. Ihr Bild, dem Herzen ihres Volkes eingegraben, ward eine Macht in der Geschichte Preußens, doch nie mit einem Schritte übertrat sie die Schranken, welche der alte deutsche Brauch ihrem Geschlechte setzt. Es ist der Prüfstein ihrer Frauenhoheit, daß sich so wenig sagen läßt von ihren Taten. Wir wissen wohl, wie sie mit dem menschenkundigen Blicke des Weibes immer eintrat für den tapfersten Mann und den kühnsten Entschluß; auch einige, nur allzuwenige, schöne Briefe erzählen uns von dem Ernst ihrer Gedanken, von der Tiefe ihres Gefühles. Das alles gibt doch nur ein mattes Bild ihres Wesens. Das Geheimnis ihrer Macht lag, wie bei jeder rechten Frau, in der Persönlichkeit, in dem Adel natürlicher Hoheit, in jenem Zauber einfacher Herzensgüte, der in Ton und Blick unwillkürlich und unwiderstehlich sich bekundete. Nur aus dem Widerscheine, den dies Bild in die Herzen der Zeitgenossen warf, kann die Nachwelt ihren Wert erraten. Nach dem Tage von Jena mußte auch Preußen den alten Fluch besiegter Völker ertragen: eine Flut von Anklagen[S. 74] und Vorwürfen wälzte sich heran wider jeden Mächtigen im Staate. Noch schroffer und schärfer hat in den leidenschaftlichen Parteikämpfen der folgenden Jahre die schonungslose Härte des norddeutschen Urteils sich gezeigt; kein namhafter Mann in Preußen, der nicht schwere Verkennung, grausamen Tadel von den Besten der Zeit erfuhr. Allein vor der Gestalt der Königin blieben Verleumdung und Parteihaß ehrfürchtig stehen; nur eine Stimme von Hoch und Niedrig bezeugt, wie sie in den Tagen des Glückes das Vorrecht der Frauen übte, mit ihrem strahlenden, glückseligen Lächeln das Kleine und Kleinste zu verklären, in den Zeiten der Not durch die Kraft ihres Glaubens die Starken stählte und die Schwachen hob. —
Das gute Land Mecklenburg hat unserem Volke die beiden Feldherren geschenkt, welche die Schlachten des neuen Deutschlands schlugen; wir wollen ihm auch die Ehre gönnen, diese Tochter seines alten Fürstenhauses sein Landeskind zu nennen, obgleich sie fern dem Lande ihrer Väter geboren und erzogen wurde. An dem stillen Darmstädter Hofe genoß die kleine Prinzessin mit ihren munteren Schwestern das Glück einer schlicht natürlichen, keineswegs sehr sorgfältigen Erziehung. Da sie heranwuchs, erzählte alle Welt von den wunderschönen mecklenburgischen Schwestern. Jean Paul widmete ihnen seine überschwengliche Huldigung. Goethe lugte im Kriegslager vor Mainz verstohlen zwischen den Falten seines Zeltes hervor und musterte die lieblichen Gestalten mit gelassenem Kennerblicke; seiner Mutter, der alten Frau Rat, lachte die Kinderlust aus den braunen Augen, wenn die jungen Damen nach Frankfurt kamen und im Dichterhause am Hirschgraben Specksalat aßen oder an dem Brunnen im Hofe sich selber einen frischen Trunk holten.
So menschlich einfach wie die Kindheit der Prinzessin verlief, ist auch der Schicksalstag der Frau in ihr Leben eingetreten; dort in Frankfurt, am Tische des Königs von Preußen, fand sie den Gatten, der ihr fortan „der beste aller Männer” blieb. An lauten Huldigungen hat es wohl noch niemals einer deutschen Fürstenbraut gefehlt; das[S. 75] war doch mehr als der frohe Zuruf angestammter Treue, was die beiden mecklenburgischen Schwestern bei ihrem Einzug in Berlin begrüßte. In einem Augenblicke gewann die Kronprinzessin alle Herzen, da sie das kleine Mädchen, das ihr die üblichen Hochzeitsverse hersagte, in der Einfalt ihrer Freude, zum Entsetzen der gestrengen Oberhofmeisterin umarmte und küßte. Die unerfahrene siebzehnjährige Frau, aufgewachsen im einfachsten Leben, sollte sich nun zurecht finden auf dem schlüpfrigen Boden dieses mächtigen Hofes, wo um den früh gealterten König ein Gewölk zweideutiger Menschen sich scharte, wo der geistvolle Prinz Ludwig Ferdinand sein unbändig leidenschaftliches Wesen trieb und der Kronprinz mit seiner frommen Sittenstrenge ganz vereinsamt stand; da fand sie eine treue und kundige Freundin an der alten Gräfin Voß. Wer kennt sie nicht, die strenge Wächterin aller Formen der Etikette, die in siebzig Jahren höfischen Lebens das gute Herz, das gerade Wort und den tapferen Mut sich zu bewahren wußte? Sie gab ihrer Herrin den besten Rat, der einer jungen Frau erteilt werden kann: keinen anderen Freund und Vertrauten sich zu wählen als ihren Gemahl; und dabei blieb es bis zum Tode der Fürstin.
Für den edlen, doch früh verschüchterten und zum Trübsinn geneigten Geist Friedrich Wilhelms ward es ein unschätzbares Glück, daß er einmal doch herzhaft mit vollen Zügen aus dem Becher der Freude trinken, die schönste und liebevollste Frau in seinen Armen halten, an ihrer wolkenlosen Heiterkeit sich sonnen durfte. Aber auch die Prinzessin fand bei dem Gatten, was die rechte Ehe dem Weibe bieten soll: sie rankt sich empor an dem Ernst, dem festen sittlichen Urteile des reifen Mannes, lernt manche wirre Träumerei des Mädchenkopfes aufzugeben. Unablässig strebt sie „sich zur inneren Harmonie zu bilden”; ihre wahrhaftige Natur duldet keine Phrase, keinen halbverstandenen Begriff. Etwas Liebenswürdigeres hat sie kaum geschrieben als die naiven Briefe an ihren alten freimütigen Freund, den Kriegsrat Scheffner. Da fragt sie kindlich treuherzig, damals schon eine reife Frau und viel bewunderte Königin: was man eigentlich unter Hierarchie[S. 76] verstehe, und wann die Gracchischen Unruhen, die Punischen Kriege gewesen; „frägt man aber nicht und schämt sich seiner Einfalt gegen jeden, so bleibt man immer dumm, und ich hasse entsetzlich die Dummheit”. Sie lebt sich ein in die Geschichte des königlichen Hauses, teilt mit ihrem Gemahl die Begeisterung für Friedrich den Großen und wählt sich unter den Fürstinnen des Hohenzollernstammes ihren Liebling: jene sanfte Oranierin, die schon einmal den Namen Luise den Preußen wert gemacht, die erste Gemahlin des Großen Kurfürsten, die unserem evangelischen Volke das Lied „Jesus meine Zuversicht” sang. A. W. Schlegel hatte einst der einziehenden Braut zugerufen: „Du bist der goldnen Zeit Verkünderin.” Fast schien es, als sollte der Dichtergruß sich erfüllen. Leicht und heiter flossen die Tage; wir Nachlebenden, die wir auch davon zu reden wissen, schenken der guten Gräfin Voß willig Glauben, wenn sie in ihrem Tagebuche am 22. März 1797 vergnüglich von der Geburt eines Prinzen erzählt und weise hinzufügt: „es ist ein prächtiger kleiner Prinz”. Wenn der Blick der glücklichen Mutter auf der dichten Schar ihrer schönen Kinder ruhte, dann rief sie wohl: „Die Kinderwelt ist meine Welt!”
Nach der Thronbesteigung ihres Gemahls lernte die junge Königin auch die entlegenen Provinzen des Staates kennen; überall, selbst bei den Polen in Warschau, derselbe jubelnde Empfang wie einst in der Hauptstadt. Sie war stets bereit, für den schweigsamen König das Wort zu nehmen zu einer freundlichen Ansprache, doch jeden Eingriff in die Staatsgeschäfte des Mannes wies sie bescheiden von sich. Jeder von uns hat wohl einmal aus dem Munde des alten Geschlechts, das heute zu Grabe geht, vernommen, wie das Volk mit seiner schönen Königin lebte. Als ich vor Jahren auf die Kösseine im Fichtelgebirge wanderte, da erzählte der Führer, ein steinalter Mann, wie er einst als junger Bursch mit dem König und der Königin desselben Wegs gezogen; er fand des Schwatzens kein Ende, dann zerschnitt er ein Farnkraut, zeigte uns die dunklen Punkte auf dem Querschnitt des weißen Stengels und meinte stolz: das sei der brandenburgische [S. 77] Adler, und dies Adlerfarnkraut wachse nur hier auf den alten preußischen Fichtelbergen.
Überall in Preußen war die junge Fürstin behaglicher Ruhe, warmer Anhänglichkeit begegnet, überall schien das Volk von der alten Ordnung befriedigt; die getreuen Breslauer versicherten beim Einzuge: „von Freiheit schwatze wer da mag”, der Preuße finde in dem geliebten Königspaare sein höchstes Glück. Und doch schwankte der Staat, der so sicher schien, längst haltlos einer entsetzlichen Niederlage entgegen. Kein Zeitraum der preußischen Geschichte liegt so tief im Dunkel, wie das erste Jahrzehnt Friedrich Wilhelms III. Das furchtbare Unglück und die glorreiche Erhebung der folgenden Jahre haben ihren breiten Schatten über diese stille Zeit geworfen; niemand bemüht sich, sie zu durchforschen. Man schließt aus den schweren Gebrechen, welche der Tag von Jena bloßlegte, kurzerhand zurück und verdammt den Anfang des Jahrhunderts als eine Epoche geistloser Erstarrung. Dies Urteil kann schon deshalb nur halb richtig sein, weil die Helden der Wiedererhebung, Stein und Hardenberg, Scharnhorst und Blücher, allesamt schon vor dem Jahre 1806 dem Staate dienten, manche bereits in hohen Ämtern. Fast alle die reformatorischen Taten, welche nachher dem niedergeworfenen Staate neue Stärke brachten, die Befreiung des Landvolks, die Neugestaltung des Heeres, die Stiftung der Universität Berlin, sind schon vor der Jenaer Schlacht erwogen und vorbereitet worden. Der König betrachtete die Bluttaten der Revolution mit dem Abscheu des ehrlichen Mannes, doch über den berechtigten Kern der furchtbaren Bewegung urteilte er unbefangener als die Legitimisten seines Hofadels. Schlicht und bescheiden, arbeitsam und pflichtgetreu, ganz unberührt von adeligen Vorurteilen, wollte er ein König der Bettler sein nach der Überlieferung seines Hauses. „Er ist Demokrat auf seine Weise — sagte einer seiner Minister zu dem französischen Gesandten Otto: — er wird die Revolution, die ihr von unten nach oben vollzogen, bei uns langsam von oben nach unten durchführen; er arbeitet ohne Unterlaß, die Vorrechte des Adels zu beschränken, aber durch[S. 78] langsame Mittel; in wenigen Jahren wird es keine feudalen Rechte mehr in Preußen geben.” Aber keiner dieser wohlgemeinten Entwürfe kam zur Reife; es lag wie ein Bann auf den Gemütern. Die Keime frischen jungen Lebens, die in dem Staate sich regen, vermögen die Decke nicht zu sprengen; die ganze Zeit, so reich an verborgenen geistigen Kräften, trägt jenen schwunglos philisterhaften Charakter, den wir alle aus der kahlen Nüchternheit ihrer Bauten, aus der Alten Münze und ähnlichen einst vielbewunderten Kunstwerken genugsam kennen. Man blieb bei bedachtsam schüchternen Vorbereitungen, die kaum für Tage tiefen Friedens genügten. Und währenddem wankte die alte Welt in ihren Fugen, auf rollenden Rädern stürmte die neue Zeit daher, ein kurzes Jahrzehnt warf die Grenzen aller Länder durcheinander, erhob auf den Trümmern der alten Staatengesellschaft das napoleonische Weltreich. Der preußische Staat verlor den Boden unter seinen Füßen; das Deutsche Reich kam ins Wanken, und die waffenlosen Kleinstaaten des Südwestens, Preußens altes Werbegebiet, wurden durch die gewaltige Faust des Eroberers zu größeren Massen zusammengeballt, bildeten sich selber ihre Heere, verschlossen ihr Land den preußischen Werbern.
Wie war es möglich, daß in diesem scharf urteilenden, bis zur Tadelsucht freimütigen norddeutschen Volke so lange die Frage gar nicht aufkam: ob denn unser Norden immerdar wie eine friedliche Insel in dem tosenden Meere des Weltkrieges ruhen, ob Preußen allein unwandelbar bleiben könne in diesem großen Wandel der Zeiten? Die Königin, die so oft das rechte Wort zu finden wußte, hat auch hier die zutreffende Antwort gegeben: „Wir waren eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen.” Die Größe der fridericianischen Tage lastete lähmend auf diesem Geschlechte. Dieser Staat, kaum erst durch wunderbare Siege emporgehoben in die Reihe der großen Mächte, war noch vor wenigen Jahren der bestregierte des Festlandes gewesen; noch im letzten Kriege hatten seine wohlgeschulten Soldaten den verachteten französischen „Katzenköpfen” ihre Überlegenheit gezeigt. Nun ruhte er[S. 79] so wohlgeborgen hinter der Demarkationslinie des Baseler Friedens, den ganz Norddeutschland als eine Wohltat pries; unter dem Schutze der preußischen Waffen blühten Handel und Wandel, die deutsche Dichtung sah ihre schönsten Tage. Dem Könige schien es ein Frevel, so vielen Segen leichtfertig auf das Spiel zu setzen. Wenn sein klarer Verstand zuweilen sich fragte: wie es doch zuging, daß die vielen kleinen Siege der rheinischen Feldzüge am Ende nur zu einer politischen Niederlage geführt hatten? und ob die neue Zeit nicht neue Formen fordere? — dann traten ihm die alten Generale, die noch die Kränze der fridericianischen Siege um die Stirn trugen, mit überlegener Sicherheit entgegen, und scheu verbarg er seine guten Gedanken wieder im Busen.
An einem großen Mißgeschicke des Gemeinwesens ist niemand ganz schuldlos, und auch die Königin war es nicht. Sie wußte wohl, warum sie in den Tagen des Unglücks die rührende Klage: „Wer nie sein Brot mit Tränen aß” in ihr Tagebuch schrieb und selbst den letzten herben Vorwurf sich nicht ersparte: „Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.” Die unbewußte Selbstsucht des Glückes hatte auch ihr den Gesichtskreis verengert, so daß sie von den sittlichen Schäden des sinkenden Staates lange nichts ahnte. In der reinen Luft ihres befriedeten Hauses blieb ihr verborgen, welche wüste, überfeinerte Unzucht ihr Wesen trieb in diesem Berlin, das wenige Jahre später allen anderen deutschen Städten mit opferfreudiger Vaterlandsliebe voranging; sie selbst wie ihr Gemahl verkehrte leutselig und schlicht mit jedermann, doch im Heere und in den höheren Ständen herrschte ein Ton geringschätzigen Übermutes gegen die kleinen Leute, der alle Grundlagen des bürgerlichen Friedens zu erschüttern drohte. Die Glückliche ahnte nicht, wie alles morsch ward in dem Staate, wie das Auge des großen Königs zürnend auf die Erben niederblickte.
Die Gräfin Voß hatte schon vor Jahren, da ihre Herrin um die Geburt eines toten Kindes trauerte, feinfühlend erkannt, wie dieser Charakter durch das Unglück gehoben wurde. Erst als das Verderben dem Staate näher[S. 80] rückte, begann die Königin mit gespannten Blicken dem Gange der Ereignisse zu folgen, und Friedrich Gentz erstaunte, sie so genau und sicher unterrichtet zu finden. Seit der Besetzung Hannovers durch die Franzosen lag die Schwäche der Monarchie vor aller Augen; nicht einmal ihren Stolz, die Sicherheit des deutschen Nordens, hatte sie zu hüten verstanden; seitdem ahnte die Königin, daß die Friedensliebe des Hofes zur Feigheit wurde. Ihr ganzes Wesen wird freier und größer in diesen sorgenvollen Jahren, auch ihr Geschmack edler und reiner: wenn sie vordem an den tränenseligen Romanen des Modedichters Lafontaine sich gern erbaute, so läßt sie jetzt nur noch das Echte und Tiefe gelten und erhebt sich das Herz an Herder und Goethe, wie an Schillers mächtigem Pathos.
Das heilige Reich brach zusammen, die Fürsten des Südens und Westens traten als Vasallen unter Frankreichs Schutz. Da endlich wagte König Friedrich Wilhelm allzuspät die Überlieferungen seines Oheims wieder aufzunehmen und „die letzten Deutschen unter seinen Fahnen zu sammeln”. Er versuchte, dem Rheinbunde einen norddeutschen Bund entgegenzustellen; diese Rückkehr Preußens zu seiner alten deutschen Politik führte den verhängnisvollen Krieg herbei. An einem Tage stürzte der Waffenruhm des fridericianischen Heeres in Trümmer, und es folgte jene Zeit der Schmach und Schande, die uns noch heute, so oft und so glorreich gesühnt, in der Erinnerung empört. Die Königin hat noch später die Vorstellungen eines französischen Unterhändlers zurückgewiesen mit den Worten: „Die Frauen haben über Krieg und Frieden nicht mitzusprechen.” Sie weilte fern im Bade zu Pyrmont, als in Berlin der Krieg beschlossen wurde; aber „ich würde — so gestand sie beim Ausbruch des Kampfes an Gentz — für den Krieg gestimmt haben, wenn man mich gefragt hätte, weil die Ehre gebot, aus unserer zweideutigen Haltung herauszutreten.” Mit sicherem Instinkt ahnte Napoleon die Kraft des Widerstandes, die in diesem schwachen Weibe schlummerte; wie er allezeit in den sittlichen Mächten des Völkerlebens die gefährlichsten[S. 81] Feinde seines Weltreichs sah und die „Ideologen” mit seinem wildesten Hasse verfolgte, so überhäufte er auch die fromme Frau auf dem preußischen Throne mit den pöbelhaften Schimpfreden der Wachtstube; er schildert sie in seinen Bulletins als die Kriegsfurie Preußens, als die Armida, die im Wahnsinn ihr eigenes Schloß anzündet: elle voulait du sang!
Die Königin bemerkte wohl die ratlose Verwirrung im Hauptquartiere, und zu dem zaudernden Feldherrn, dem alten Herzog von Braunschweig, wollte sie kein Vertrauen fassen. Einen so jähen Fall, wie er nun ihrer Krone bereitet wurde, hatte sie doch nicht erwartet. Das glänzende Bild von dem Staate Friedrichs des Großen, daran sie seit dreizehn Jahren bewundernd geglaubt, lag plötzlich in Scherben vor ihren Füßen; weinend erzählte sie ihren Söhnen auf der Flucht: „Der König hat sich getäuscht in der Tüchtigkeit seiner Generale, seines Heeres.” Aber mitten im Unglück erhebt sie sich zu jener Ansicht des Völkerlebens, welche der mutigste Mann immer mit dem frömmsten Weibe teilen wird. „Die Zeiten machen sich nicht selbst, die Menschen machen die Zeit” — und wieder: „Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten.” Das ist die königliche Auffassung der Geschichte; der gesamte Staatsbau der Monarchie ruht auf dem Gedanken, daß Personen die Geschichte machen. In solchen Zeiten der höchsten Not darf die Stimme des natürlichen Gefühles mitreden im Rate der Staatskunst; die Königin übte Frauenrecht und Fürstenpflicht, wenn sie jetzt dem tiefgebeugten Gemahl tröstend zur Seite stand und ihn bestärkte in dem Entschlusse, den ungleichen Kampf fortzuführen bis zum Schwinden der letzten Hoffnung. Alle Schrecken des Krieges brachen über die Unglückliche herein. Krank und fiebernd flieht sie aus Königsberg vor dem Feinde, denn „lieber in die Hände Gottes fallen, als in die Hände dieser Menschen”; da sie in einem elenden Bauernhause auf der Kurischen Nehrung übernachtet, jagt der Sturm die eisigen Flocken durch das zerbrochene Fenster über das Bett der kranken Königin. In Memel, auf der letzten Scholle deutscher Erde, die noch frei und[S. 82] preußisch war, fand sie ein bescheidenes Obdach. Damals lernte sie unter strömenden Tränen das Wort verstehen: „Leid und Elend sind Gottes Segen.”
Den Haß der Römerin hat das sanfte Herz der deutschen Frau nie gekannt; nur ihre stolze Verachtung traf den großen Feind, der ihr der Held der rohen Selbstsucht war, und niemals wollte sie glauben, daß Gottes Weisheit diese Herrschaft der frechen Gewalt auf die Dauer zulassen könne. Sie sah, wie der alte deutsche Heldenmut wieder lebendig ward unter den tapferen Verteidigern von Kolberg, Graudenz und Danzig; ihre tiefe Frömmigkeit und das gute Zutrauen zu ihrem Volke begegneten sich in der Überzeugung, daß dieser Staat nicht untergehen könne: „Der politische Glaube ist wie der religiöse, eine feste Zuversicht dessen, was man hoffet, aber nicht siehet.” Vor diesen Briefen der schmerzbeladenen, hoffnungsstarken Königin wird uns ein uraltes Gefühl des Germanenherzens wieder lebendig: die fromme Scheu vor dem Weibe: und wir verstehen, warum unsere Ahnen einst im Dickicht der cheruskischen Wälder eine heilige und weissagende Macht, sanctum aliquid providumque, an ihren Frauen ehrten. Der Mann geht auf in den Kämpfen und Sorgen des Augenblicks; das sichere gesammelte Gefühl des Weibes vermag in schweren Tagen klarer als er die Zeichen der Zeit zu deuten, hinter dem Glanze des Siegers die hohle Nichtigkeit, unter der Schmach des Besiegten die ungebrochene Kraft zu ahnen. Als der König nach der Schlacht von Eylau, der ersten, die der Unbesiegte nicht gewonnen, die lockenden Friedensvorschläge Napoleons zurückweist und sich weigert, den russischen Bundesgenossen zu verlassen, da schreibt seine Gemahlin einfältig wie ein gläubiges Kind: „Das wird Preußen einst Segen bringen!” So einfach, wie sie wähnte, sind Lohn und Strafe im Leben der Völker nicht verteilt; gleichwohl bleibt dem frommen Worte seine Wahrheit: ohne den Sinn altpreußischer Ehre, den der König bei jener schweren Versuchung bewahrte, hätte der Staat sich nie wieder erhoben. Was die Preußen empfanden, da sie also den heldenhaften Sinn ihrer schönen[S. 83] Königin kennen lernten, das wissen wir aus den Versen Heinrich von Kleists:
Noch eine letzte, schmähliche Demütigung stand der mißhandelten Frau bevor. Zar Alexander gab seinen treuen Bundesgenossen preis und schloß den Tilsiter Frieden; aus Rücksicht auf den neugewonnenen russischen Freund verstand sich Napoleon dazu, die Vernichtung Preußens, die längst beschlossene Sache war, aufzuschieben und dem Könige die Hälfte der Monarchie zurückzugeben. Da ersann die frevelhafte Torheit feigherziger Ratgeber den Vorschlag: die unvergeßlich beleidigte Königin solle selber den Sieger um mildere Bedingungen bitten. Auch dies Äußerste nahm sie auf sich, in der frauenhaften Hoffnung, es könne ihr vielleicht doch gelingen, das Herz des Eroberers zu rühren und ihrem Volke einige Erleichterung zu bringen. Die Hoffnung trog. Mit rohem Spotte schrieb Napoleon an seine Josephine: „Es hätte mir zu viel gekostet, den Galanten zu spielen”; und an Clarke: „Sie begreifen, daß der König von Preußen sehr unzufrieden ist, da er sein Bollwerk, Magdeburg, in meinen Händen lassen muß.”
In der entlegensten Provinz des verstümmelten und ausgesogenen Staates verbrachte nun der Hof zwei schwere Jahre. Man zeigt noch in dem alten Ordensschlosse zu Königsberg das bescheidene Eckzimmer mit dem dunklen Alkoven daneben, wo die Königin wohnte: ein kleiner Schreibtisch, ein mehr als einfaches Klavier; von der Wand blickt das Bildnis Scharnhorsts mit großen, tiefen Augen hernieder. Welche Zeiten! Ringsum auf Schritt und Tritt die Erinnerungen an Preußens Macht und Glück: von jenem Fenster da hatte Luise vor zehn Jahren den Jubel des Huldigungsfestes mit angehört; hier vor diesem Tore steht das Schlütersche Standbild des ersten[S. 84] Königs, von ihrem Gemahl einst „dem edlen Volke der Preußen gewidmet”; dort im Vorzimmer der Ofenschirm stammt noch aus den Hohenfriedberger Tagen, da der große König wie ein junger Gott von Sieg zu Sieg stürmte, irgendeine übermütige kleine Prinzessin hat zierlich die Inschrift darauf gestickt: pour nous point d’Alexandre, le mien l’emporte! Und daneben diese jammervolle Gegenwart! Der Staat, ausgestoßen aus dem Kreise der großen Mächte, mitten im Frieden von feindlichen Truppen überschwemmt, verspottet und geschmäht von seinen Landsleuten. Die deutsche Nation fand kein Wort des Mitleids, nur Hohn und Schadenfreude für die Besiegten. In Preußen aber lebte noch die alte Treue. Fürst und Volk traten einander näher, wie im verwaisten Hause die Überlebenden sich inniger zusammenschließen; der ärmliche Hofhalt zu Königsberg und Memel empfing von allen Seiten rührende Beweise der Teilnahme, der König lud seine getreuen Stände als Paten zur Taufe der jüngsten Prinzessin. Dies stolze und trotzige Ostpreußen, das Stiefkind Friedrichs des Großen, schloß in Not und Trübsal, ohne viele Worte, den Herzensbund mit seinem Herrschergeschlechte, der im Frühjahr 1813 seine Kraft bewähren sollte.
Die schwere Natur Friedrich Wilhelms verwand nur langsam die Schläge des Unglücks; er glaubte oft, daß ihm nichts gelinge, daß er für jedes Unheil geboren sei. Da er nun einmal mit der Königin die Gräber der preußischen Herzöge im Chore des Doms zu Königsberg besuchte, fiel sein Blick auf die Grabschrift: „Meine Zeit in Unruhe, meine Hoffnung zu Gott.” „Wie entsprechend meinem Zustande!” rief er erschüttert und wählte sich das ernste Wort zum Wahlspruch für sein eigenes Leben. Nur das Pflichtgefühl hielt ihn aufrecht unter der Bürde seines schweren Amtes. Er begann mit Scharnhorst die Herstellung des zerrütteten Heeres und berief den Freiherrn vom Stein für den Neubau der Verwaltung. Mit herzlichem Vertrauen begrüßte die Königin den Mann „großen Herzens, umfassenden Geistes: Stein kommt, und mit ihm geht mir wieder etwas Licht auf”. Sie war mit[S. 85] ihm und ihrem Gemahl einig in dem Gedanken, daß es gelte, alle sittlichen Kräfte des erschlafften Staates zu beleben; fast wörtlich übereinstimmend mit den allbekannten Worten, die der König seiner Berliner Hochschule in die Wiege band, schrieb sie einmal: „Wir hoffen den Verlust an Macht durch Gewinn an Tugend reichlich zu ersetzen.”
Die Acht Napoleons trieb den stolzen Reichsfreiherrn aus dem Lande, gerade in dem Augenblicke, da ein neuer Krieg des Imperators gegen Österreich sich vorbereitete und die Königin auf eine Erhebung des gesamten Deutschlands hoffte. Sie besaß nach Frauenart wenig Verständnis für die mächtigen Interessen, welche trennend zwischen den beiden Großmächten des alten Reiches standen, und sah in Österreich schlechtweg den stammverwandten Genossen. Mit der Mahnung, unsere leidenden österreichischen Brüder dereinst zu rächen, hatte sie vor Jahren ihren ältesten Sohn begrüßt, da er zum ersten Male den Offiziersrock trug. Vor wie nach dem Kriege bekannte sie: „Meine Hoffnung ruht auf der Verbindung alles dessen, was den deutschen Namen trägt” — während der König, die militärische Lage richtiger schätzend, nicht ohne Rußlands Beistand den neuen Kampf wagen wollte. Jetzt aber fochten die Russen auf Frankreichs Seite; die Absichten des Wiener Hofes, der die Schlacht von Jena mit kaum verhohlener Schadenfreude begrüßt hatte, blieben in verdächtigem Dunkel. Das unfähige Kabinett, das die Erbschaft Steins angetreten, fand in der schwierigen Lage keinen festen Entschluß; Österreich unterlag, und die kriegerische Begeisterung des deutschen Nordens verrauchte in einigen kecken Parteigängerzügen. Die Königin aber schrieb verzweifelnd: „Österreich singt sein Schwanenlied, und dann ade, Germania!”
Zwei Tage der Hoffnung waren ihr noch beschieden am Abend ihres kurzen Lebens. Sie kehrt zurück in ihr geliebtes Berlin, und als sie durch das Königstor einzog in dem neuen Wagen, den ihr die verarmte Stadt verehrt, nahebei der König zu Roß und die beiden ältesten Söhne im Zuge ihres Regiments, da begrüßten die dichtgedrängten [S. 86] Massen den Hof wie die Truppen mit herzlichem Willkommruf; Preußens Volk und Heer, die einander so bitter gescholten und angeklagt, feierten ihre Versöhnung, um fortan einig zu bleiben für alle Zukunft. Bald nachher, wenige Tage bevor die Königin ihre letzte Reise antrat, entließ Friedrich Wilhelm das Ministerium Altenstein; er verwarf die Abtretung von Schlesien, die ihm seine kleinmütigen Räte zumuteten, und berief Hardenberg an die Spitze der Geschäfte. Mit dem neuen Staatskanzler kam frisches Leben in die Verwaltung; er führte das Werk der Reformen des Freiherrn vom Stein kühn und besonnen weiter und bereitete durch ein viel verkanntes kluges diplomatisches Spiel die große Erhebung vor, während Scharnhorst die Waffen schärfte für den Tag der Befreiung. Diesen Tag zu erleben hatte Luise nie gehofft. Ihr zarter Körper erlag dem verzehrenden Kummer. In ihrer Heimat, in den Armen des Gatten ist sie den Tod der Christin gestorben. Die letzten Zeilen ihrer Feder lauteten: „Ich bin heute so glücklich, liebster Vater, als Ihre Tochter und als die Frau des Besten der Männer.” Das gesamte Volk trauerte mit dem Witwer; doch auf dem Leben des schwergeprüften Fürsten blieb ein dunkler Schatten; niemals, auch nicht in den Tagen der leuchtenden Siege, hat er das starke, schwellende Gefühl des Glückes wiedergefunden.
Ohne jede Ahnung des eigenen Wertes, wie sie immer war, hat die Königin einst selber ausgesprochen, was sie von dem Urteil der Geschichte erwartete: „Die Nachwelt wird mich nicht zu den berühmten Frauen zählen; aber möge sie von mir sagen: sie duldete viel, sie harrte aus im Dulden und sie gab Kindern das Dasein, welche besserer Zeiten würdig waren, sie herbeizuführen gestrebt und endlich sie errungen haben.” Wie über alles menschliche Hoffen hinaus ist diese demütig-stolze Erwartung in Erfüllung gegangen! Die historische Wissenschaft führt ihre denkenden Jünger zurück zu dem schlichten Glauben, daß der Eltern Segen den Kindern Häuser baut; denn sie lehrt, wie die Vergangenheit fortwirkt mitten in der lärmenden Gegenwart, und das Leben des Menschen nicht[S. 87] abschließt mit dem letzten Atemzuge. Nur wenigen Glücklichen ist ein so reiches Leben nach dem Tode beschieden gewesen, wie dieser deutschen Königin. Die Hoffnung besserer Zeiten war in der Tat, wie Schleiermachers Trauerpredigt sagte, ihr köstlichstes Vermächtnis. Wer noch deutschen Stolz im Herzen trug, gedachte ihres Ausspruchs: „Wir gehen unter mit Ehren, geachtet von Nationen, und werden ewig Freunde haben, weil wir sie verdienen.” Der alte Blücher meinte grimmig, da er die Nachricht ihres Todes empfing: „Wenn die Welt in die Luft flöge, mir wär’ es recht.” Als endlich die Stunde der Erhebung schlug, da stiftete der König an Luisens Geburtstage den Orden des Eisernen Kreuzes, als ob er ihren Schutz anrufen wollte für den heiligen Krieg. Wer weiß es nicht aus den Liedern Theodor Körners, wie das Verlangen, die zu Tode gequälte Königin an dem ungroßmütigen Sieger zu rächen, die tapfere Jugend des Befreiungskrieges entflammte? Wer spürte nicht in dem gottesfürchtigen, menschenfreundlichen Sinne jener Heldenscharen einen Hauch von dem Geiste der Verklärten? Da der Friede kam, zogen jahraus jahrein Tausende zu dem stillen Tempel in Charlottenburg, und wahrlich nicht bloß um das Werk des Künstlers zu bewundern, dem die Tote einst selber den Weg zu großem Schaffen ebnete, sondern um sich das Herz zu erquicken an dem Anblick eines geliebten Menschenbildes. Die beiden gewaltigen Könige unseres achtzehnten Jahrhunderts wurden geehrt und gefürchtet, wenig geliebt. Mit dem Hause der Königin Luise lebte und litt das Land; seitdem erst entstand zwischen den Hohenzollern und ihrem Volke jenes einfach menschliche Verständnis, das die Leidenschaften der Parteien nie zerstören konnten.
Wenn ich die Stimmung recht verstehe, welche an dem Gedenktage der Königin über unserer Stadt und über diesem Saale liegt, so ist uns allen zumute, als ob wir heute die ruhevolle Hoheit der lieblichen Gestalt mit eigenen Augen erblickt hätten. Zeiten des Glückes sind stark im Vergessen; diese Tote aber ward ihrem Volke nach jedem neuen Siege lieber und vertrauter. Die Mutter[S. 88] schrieb ihr klagendes: Ade Germania! Ihrem Sohne beschied ein wundervolles Geschick, den Morgen eines langersehnten neuen Tages über sein Volk heraufzuführen, mit seinem guten Schwerte die Herrlichkeit des Deutschen Reiches wieder aufzurichten. An dem Grabe seiner Eltern — wir alle erlebten es ja mit tief erschüttertem Herzen — hat der Sohn sich Mut und Kraft gesucht für die Schlachten des großen Krieges, für den steilen Weg zur kaiserlichen Krone.
Fern sei es von uns, heute einen verjährten Haß gewaltsam zu beleben, der seinen Sinn verloren hat, seit Frankreich längst die Buße seiner Schuld gezahlt, oder dies und jenes Wort der Königin leichtfertig auszubeuten für die Parteizwecke der Gegenwart. Wir werden das Andenken der Mutter unseres Kaisers dann am würdigsten ehren, wenn wir auch in den Tagen der Siege die Demut des Herzens und die stolze Geringschätzung der endlichen Güter des Lebens uns erhalten, wenn wir in diesem männischen Jahrhundert, unter den Hammerschlägen hastiger Arbeit und dem Lärmen der politischen Kämpfe die alte deutsche ritterliche Ehrfurcht vor Frauensitte und Frauenanmut uns bewahren, vor jenen menschlichen Tugenden, welche dem Ruhm und der Macht der Völker allein die Gewähr der Dauer geben.
Stein
Heinrich Friedrich Karl Freiherr vom und zum Stein wurde den 26. Oktober 1757 zu Nassau an der Lahn „von sehr achtungswerten Eltern geboren und — so erzählt er selbst — unter dem Einflusse ihres religiösen, echt deutschritterlichen Beispiels auf dem Lande erzogen; die Ideen von Frömmigkeit, Vaterlandsliebe, Standes- und Familienehre, Pflicht das Leben zu gemeinnützigen Zwecken zu verwenden und die hierzu erforderliche Tüchtigkeit durch Fleiß und Anstrengung zu erwerben, wurden durch ihr Beispiel und Lehre tief meinem jungen Gemüte eingeprägt”. Er lernte, nach aristokratischer Weise, sich der Gewalt des Hauses zu beugen; ein Beschluß der Eltern bestimmte ihn, den jüngsten Sohn, zum alleinigen Erben und Stammhalter des uralten, reichsfreien Geschlechts. Die Welt des Schönen ergriff ihn weniger mächtig als die meisten Söhne seines Jahrhunderts. Sein kräftiger, auf das Wirkliche gerichteter Geist versenkte sich früh in die historischen Dinge. Er sah in der Geschichte nicht bloß eine Fundgrube politischer Erkenntnis, sondern vornehmlich eine Schule des sittlichen Ernstes und jener strengen, tief religiösen Frömmigkeit, die er sich in den Tagen der Aufklärung unwandelbar bewahrte. Als die sittlichen Vorbilder seines Lebens nennt er selbst seine Mutter (eine Langwerth von Simmern) und den Minister v. Heynitz. Er besuchte Göttingen, Wetzlar, Regensburg, Wien, um sich, nach dem Wunsche der Eltern, auf eine Laufbahn an den Reichsgerichten vorzubereiten. Mit Vorliebe trieb er während diesen akademischen Jahren das Studium der englischen Geschichte und Politik; Adam Smiths Werke wurden bestimmend für seine politische Bildung. In Brandes und Rehberg fand er gleichgesinnte[S. 91] Freunde, Männer, ergriffen von den Ideen des philosophischen Jahrhunderts, doch zugleich auf das historisch Gewordene mit einer andächtigen Ehrfurcht schauend, welche den meisten Zeitgenossen abging. Der sittliche Ernst, der kräftige realistische Sinn des jungen Mannes fand keine Freude an dem unwahren, verrotteten Treiben des Reichsgerichts. Ein Bewunderer Friedrichs des Großen und eifriger Protestant, entschloß er sich im Jahre 1780, weit abweichend von den Gewohnheiten des Reichsadels und seines eigenen Hauses, in preußische Dienste zu treten.
Er fand zunächst Anstellung im Bergdepartement unter dem Minister v. Heynitz, dem Schöpfer des preußischen Staatsbergwesens. „Verließ ich es gleich im Jahre 1793, berichtet er, so hatte doch das Leben in einem auf die Natur und den Menschen sich beziehenden, die körperlichen Kräfte zugleich entwickelnden Geschäfte den Nutzen, den Körper zu stählen, den praktischen Geschäftssinn zu beleben und das Nichtige des toten Buchstabens und der Papiertätigkeit kennen zu lehren.” Er ehrte die harte Zucht, die angestrengte Arbeitsamkeit des altpreußischen Beamtentums, aber er erkannte schon jetzt die unseligen Folgen bureaukratischer Bevormundung. In solcher Ansicht begegnete er sich mit den Ideen einer aufkommenden jüngeren Schule innerhalb des preußischen Beamtentums, mit Männern wie Kraus und v. Schrötter, welche nach Englands Vorbild von dem freien Spiele der sozialen Kräfte die Stärke des Staates erwarteten. Wider Willen ward er einmal aus der Verwaltungstätigkeit herausgerissen, als er (1785) den Auftrag erhielt, den Kurfürsten von Mainz für den Fürstenbund Friedrichs des Großen zu gewinnen. Er vollzog die Sendung mit Glück und erbat rasch seine Zurückberufung; das Gewirr kaiserlicher und preußischer, französischer und russischer Intrigen an dem geistlichen Hofe hatte ihm jenen tiefen Widerwillen gegen die Diplomatie eingeflößt, den er zeitlebens nicht überwinden konnte. Zurückgekehrt von einer längeren technologischen Reise durch England, begann er im Jahre 1787 sein siebzehnjähriges großartiges Wirken in der westfälisch-niederrheinischen Verwaltung, zuerst als[S. 92] Kammerdirektor und Kammerpräsident in Kleve und Hamm, seit 1796 als Oberpräsident in Hamm, später in dem neuerworbenen Münster. Das Land dankte ihm die Anfänge moderner Verkehrsmittel; er ließ die Ruhr schiffbar machen und die Straßenverbindung zwischen Rhein und Weser vollenden. Trotz seiner herrisch durchgreifenden, rastlos anfeuernden Weise verstand er die Selbsttätigkeit des Volkes zu fördern in diesem Lande, das von allen Provinzen Preußens sich allein eine freie Gemeindeverfassung bewahrt hatte. Mit Zuziehung der Stände führte er ein verbessertes Steuerwesen und vollständige Gewerbefreiheit auf dem flachen Lande ein und bereitete die Aufhebung der Feudallasten vor. Die Bewohner lohnten ihm durch Verehrung und Anhänglichkeit, sie grüßten ihn als den Wohltäter des Landes, einen andern Adolf von Böhmen. Er selbst lernte Westfalen als seine zweite Heimat lieben und erfüllte sich mit dem Stolze eines preußischen Patrioten, daher er auch eine Ministerstelle in Hannover von der Hand wies.
Die aufstrebenden Köpfe in den einflußreichen Kreisen Preußens schauten längst auf den stolzen Reichsfreiherrn als auf eine Säule des Staates. Im nichtpreußischen Deutschland ward sein Name zum ersten Male im Jahre 1804 genannt. Er hatte die Revolutionskriege am Rhein in der Nähe beobachtet, der Einnahme Frankfurts durch die Hessen und Preußen selber beigewohnt und die Überzeugung gewonnen, die er später der Kaiserin von Rußland vor versammeltem Hofe aussprach, daß nicht die Nation, sondern die Nichtigkeit ihrer Fürsten das ungeheure Unglück verschuldete. Nun sollten die Folgen des Reichsdeputationshauptschlusses sein eigenes Haus treffen. Der Herzog von Nassau unterwarf die Güter des Steinschen Hauses eigenmächtig seiner Landeshoheit. Stein verwahrte sein Recht in einem Briefe vom 10. Januar 1804 und verkündete darin die Ideen einer hochsinnigen Vaterlandsliebe, die von den Zeitgenossen kaum begriffen ward. „Deutschlands Unabhängigkeit und Selbständigkeit wird durch die Konsolidation der wenigen reichsritterschaftlichen Besitzungen mit denen sie umgebenden kleinen[S. 93] Territorien wenig gewinnen; sollen diese für die Nation so wohltätigen großen Zwecke erreicht werden, so müssen diese kleinen Staaten mit den beiden großen Monarchien, von deren Existenz die Fortdauer des deutschen Namens abhängt, vereinigt werden, und die Vorsehung gebe, daß ich dieses glückliche Ereignis erlebe.... Es ist noch härter, alle diese Opfer nicht irgendeinem großen, edlen, das Wohl des Ganzen fördernden Zweck zu bringen, sondern um der gesetzlosen Übermacht zu entgehen, um — doch es gibt ein richtendes Gewissen und eine strafende Gottheit.”
In demselben Jahre ernannte ihn der König zum Minister für das Departement der indirekten Abgaben. Ein Fachminister, ohne Einfluß auf die große Politik, konnte Stein den unseligen Gang der Haugwitzschen Staatskunst nicht hindern. In seinem Ressort bewirkte er die Aufhebung der Binnen- und Provinzialzölle, er vereinfachte den Geschäftsgang, ließ zum ersten Male statistische Tabellen für den ganzen Staat zusammenstellen, berief Niebuhr zur Reorganisation der preußischen Bank. Er beschaffte die Geldmittel, womit der Krieg von 1806 geführt wurde, stellte dringend vor, daß der Kredit des Staates sich nur durch eine kraftvolle auswärtige Politik aufrechterhalten lasse, und beschwor den König, im Verein mit mehreren Prinzen und Generälen, das geheime Kabinett und den Minister Haugwitz zu entlassen. Die Anmaßung ward hart gerügt, die Katastrophe von Jena folgte. Stein rettete die Staatsgelder nach Königsberg und bewog den Hof zur Fortsetzung des Kriegs. Jetzt endlich entschloß sich der König, einige seiner Räte zu entlassen. Stein aber verlangte auch die Entfernung des Kabinettsrates Beyme, bevor er sich entschließen könne, die Leitung der Geschäfte zu übernehmen. Darauf empfing er den berufenen „unbegreiflichen Brief”; der König nannte ihn „einen exzentrischen und genialischen Mann, der nur durch Kapricen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt”. Sofort nahm Stein seinen Abschied (März 1807) und kehrte nach Nassau zurück. Inzwischen wurde der Friede von Tilsit geschlossen, Napoleon bestand auf Hardenbergs Entfernung [S. 94] und dieser schlug Stein als einen homme d’esprit dem Könige vor, um mit seiner Hilfe den Neubau des zertrümmerten Staates zu beginnen.
Stein erhielt die Aufforderung zur Rückkehr auf dem Krankenlager. Er nahm an, das Fieber verließ ihn, nach wenigen Tagen reiste er nach Memel ab (September 1807). Der König empfing ihn tiefgebeugt und legte vertrauensvoll die Leitung des gesamten Staatswesens in die Hände des Ministers, dessen Wirken nicht mehr durch die Ränke eines geheimen Kabinetts durchkreuzt wurde. „Man ging”, sagte Stein, „von der Hauptidee aus, einen sittlichen, religiösen, vaterländischen Geist in der Nation zu heben, ihr wieder Mut, Selbstvertrauen, Bereitwilligkeit zu jedem Opfer für Unabhängigkeit von Fremden und für Nationalehre einzuflößen und die erste günstige Gelegenheit zu ergreifen, den blutigen, wagnisvollen Kampf für beides zu beginnen.” Die Ursachen des tiefen Falles und die Mittel der Wiedererhebung schildert eine Denkschrift Steins vom Oktober 1807, die man als das Programm des neuen Regimentes betrachten kann, also: „Das zudringliche Eingreifen der Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten muß aufhören, und dessen Stelle nimmt die Tätigkeit des Bürgers ein, der nicht in Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil ihn seine Verhältnisse in das wirkliche Leben hineinrufen und zur Teilnahme an dem Gewirre der menschlichen Angelegenheiten nötigen... Hat eine Nation sich über den Zustand der Sinnlichkeit erhoben, hat sie sich eine bedeutende Masse von Kenntnissen erworben, genießt sie einen mäßigen Grad von Denkfreiheit, so richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen National- und Kommunalangelegenheiten. Räumt man ihr nun eine Teilnahme daran ein, so zeigen sich die wohltätigsten Äußerungen der Vaterlandsliebe und des Gemeingeistes; verweigert man ihr alles Mitwirken, so entsteht Mißmut und Unwille, der entweder auf mannigfaltige schädliche Art ausbricht oder durch gewaltsame den Geist lähmende Maßregeln unterdrückt werden muß. Die arbeitenden und die mittleren Stände der bürgerlichen Gesellschaft werden alsdann verunedelt, indem [S. 95] ihre Tätigkeit ausschließlich auf Erwerb und Genuß geleitet wird, die oberen Stände sinken in der öffentlichen Achtung durch Genußliebe und Müßiggang oder wirken nachteilig durch wilden, unverständigen Tadel der Regierung. Die spekulativen Wissenschaften erhalten einen usurpierten Wert, das Gemeinnützige wird vernachlässigt und das Sonderbare, Unverständliche zieht die Aufmerksamkeit des menschlichen Geistes an sich, der sich einem müßigen Hinbrüten überläßt, statt zu einem kräftigen Handeln zu schreiten.”
Diese Gedanken stehen in einem schneidenden Widerspruche zu dem Geiste allfürsorgender Staatsgewalt, der in dem Staate Friedrichs des Großen vorherrschte, sie wollen allerdings die Revolution mit ihren eigenen Waffen bekämpfen, doch sie enthalten in sich nur den kleinsten, den probehaltigen Teil der sogenannten Ideen von 89. Niemand hat den radikalen Bruch mit der Geschichte, den die Revolution vollzogen hatte, leidenschaftlicher bekämpft als Stein. „Eine Verfassung bilden”, schrieb er später an den Großherzog von Baden, „heißt in einem alten Volke, wie das deutsche, nicht sie aus nichts erschaffen, sondern den vorhandenen Zustand untersuchen, um eine Regel aufzufinden, die ihn ordnet; und allein dadurch, daß man das Gegenwärtige aus dem Vergangenen entwickelt, kann man ihm eine Dauer für die Zukunft sichern.” Niemand durchschaute schärfer die Leerheit jener politischen Formen, worin das neue Frankreich das Wesen der Freiheit suchte: „In Frankreich ist die Nation nur zum Schein zur Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten zugelassen, ihr gesetzgebender Körper ist nur eine der registrierenden Verwaltungsbehörden, das Maschinenwesen ihrer Bureaukratie ist zusammengesetzt, kostbar, in alles eingreifend und wird von dem ungebundenen rücksichtslosen Willen eines einzelnen geleitet.” Er wollte den Neubau des Staates von unten beginnen, der freie Staat sollte getragen werden von der freien Tätigkeit des Bürgers. Mit Stolz dürfen wir diese konservativ-liberale Politik als eine nationale der nivellierenden Staatskunst der Romanen gegenüberstellen. Zur Durchführung dieser Reformen [S. 96] fand Stein treffliche Gehilfen in Schön, Schrötter, Niebuhr, Vincke, Stägemann, während er gleichzeitig alle Mittel aufbot, die Kontributionen an Frankreich abzuzahlen.
Zunächst vollzog der Minister in den anspruchslosesten Formen eine tiefgreifende soziale Revolution. Ein uraltes Leiden unseres Nordens, die Unfreiheit des Landmanns, ward beseitigt, die Emanzipation des vierten Standes bewirkt durch das Edikt vom 9. Oktober 1807 über „den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbevölkerung”, welches die Gebundenheit der bäuerlichen Grundstücke größtenteils beseitigte und vor allem jedem, ohne Unterschied des Standes, den Erwerb aller Art von Grundeigentum freistellte. Die persönliche Leibeigenschaft und der Gesindezwang ward aufgehoben. Der Edelmann sollte fortan das Recht haben, ein Bauer zu werden und bürgerliche Gewerbe zu treiben — ein Recht, das zugleich als Ersatz galt für die bisherige Bevorzugung des Adels im Heere. Dergestalt war die scharfe Scheidung der Stände, welche eine der Grundlagen des friderizianischen Staates bildete, mit einem Schlage zerstört; denn, Aristokrat von Grund aus und ernstlich gewillt, dem lebensfähigen Teile der Aristokratie eine einflußreiche Stellung im Staate nach englischem Muster zu sichern, verachtete Stein die Begehrlichkeit und die kastenmäßige Absperrung des niederen Adels. „Der Adel in Preußen”, schrieb er damals, „ist der Nation lästig, weil er zahlreich, größtenteils arm und anspruchsvoll auf Gehälter, Ämter, Privilegien und Vorzüge jeder Art ist.” Die Kühnheit des Edikts vom 9. Oktober erhellt am klarsten aus dem Widerspruche Gneisenaus, der von dem Gesetze die schwerste Beeinträchtigung des großen Grundbesitzes erwartete. Es folgten die Edikte vom 28. Oktober 1807 und vom 27. Juli 1808, welche die Erbuntertänigkeit auf den Domänen aufhoben und den Domänenbauern in Altpreußen das freie Eigentum ihrer Höfe gaben. Die großen Grundbesitzer wurden erleichtert durch ein Generalindult — eine höchst gewagte Maßregel, die, mit Schonung und[S. 97] Umsicht gehandhabt, in der Bedrängnis jener Zeit sich vortrefflich bewährte. Ein Edikt vom 24. Oktober 1808 gab den Verkehr mit den Lebensmitteln frei, hob den Zunftzwang für Bäcker, Schlächter und Höker auf. Diese Gesetze bildeten den Ausgangspunkt für die neue Agrargesetzgebung in Preußen, obwohl Stein selbst sich sehr hart und mißbilligend äußerte über die verwegene Fortbildung, welche seine Werke durch Hardenberg erlitten. Sie beruhten auf der selbständigen, eigentümlichen Anwendung von Grundsätzen, welche in Frankreich und dessen Vasallenstaaten sich bereits verwirklicht hatten.
Eine durchaus schöpferische Tat, ohne jedes Vorbild in Europa, war dagegen die Städteordnung vom 19. November 1808, die ihrem Urheber den schönen Nachruf verdiente, er sei mit besserem Rechte als König Heinrich der Städtegründer der Deutschen zu nennen. In den Städten von Kleve und Mark hatte Stein die Überreste alter Kommunalfreiheit achten gelernt. Das neue Gesetz gab den Städten die Verwaltung der Finanzen und der Polizei, den Bürgern die Wahl der Magistrate und Stadtverordneten. Es wurde die Grundlage alles dessen, was seitdem in Deutschland für eine Selbstverwaltung im deutschen Sinne geschehen; selbst in England ist es, mit wenig Glück, nachgebildet worden. Ja, wenn wir den unreifen, zweifelhaften Zustand unserer parlamentarischen Institutionen betrachten, so erscheint leider die Behauptung gerechtfertigt, daß die an Steins Ideen anknüpfenden Gemeindegesetze bis zur Stunde den bewährtesten, bestgesicherten Teil deutscher Volksfreiheit bilden. Dies Gesetz war ein erster entscheidender Schlag gegen die Bureaukratie, deren Alleinherrschaft Stein bis an sein Ende mit unversöhnlichem Hasse bekämpfte. „Unser Unglück ist,” schreibt er im Alter, „daß wir von besoldeten, buchgelehrten, interesselosen, eigentumslosen Buralisten regiert werden. Das geht so lange es geht. Diese vier Worte: besoldet, buchgelehrt, interesselos, eigentumslos — enthalten den Geist unserer geistlosen Regierungsmaschine. Es regne oder scheine die Sonne, die Abgaben steigen oder fallen, man zerstöre alte hergebrachte Rechte oder lasse[S. 98] sie bestehen, man theoretisiere alle Bauern zu Tagelöhnern und substituiere an die Stelle der Hörigkeit an den Gutsherrn die Hörigkeit an den Juden und Wucherer — alles das kümmert sie nicht. Sie erheben ihren Gehalt aus der Staatskasse und schreiben, schreiben, schreiben im stillen, mit wohlverschlossenen Türen versehenen Bureau und ziehen ihre Kinder wieder zu gleich brauchbaren Schreibmaschinen an.”
Des Ministers Absicht ging auf eine umfassende Neugestaltung des Staates, und das von Schön verfaßte Rundschreiben vom 24. November 1808, bekannt unter dem Namen „Steins politisches Testament”, sowie die niemals vollzogene, von demselben Tage datierte Verordnung „über die veränderte Verfassung der obersten Verwaltungsbehörden” zeigen deutlich, in welchem großen Sinne die Reform gemeint war. Das Nebeneinander von Fachministerien und Provinzialdepartements war erträglich gewesen, solange Fürsten von so riesiger Arbeitskraft wie Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. den lebendigen Mittelpunkt des Staates bildeten. An der Verwaltungsorganisation des ersten Konsuls lernte Stein die Notwendigkeit einer übersichtlichen Einteilung der Staatsgeschäfte, wie er aus den Debatten der Nationalversammlung lernte, daß der moderne Staat eine Hauptstaatskasse als den Mittelpunkt des Kassenwesens erheische. Ein Kabinett von fünf Fachministern sollte fortan an der Spitze der Verwaltung stehen, in Sachen der Gesetzgebung aber nur eine Abteilung der höchsten monarchischen Behörde, des Staatsrats, bilden, der alle hervorragenden Kräfte des Staatsdienstes in sich zu vereinigen hätte. Der Plan war nichts anderes als eine Rückkehr zu den alten Traditionen der preußischen und jeder anderen großen Monarchie des Weltteils. Die alte Dienstordnung, welche dem Verwaltungsbeamten das Recht der Unabsetzbarkeit, den Regierungskollegien die Stellung von Gerichtshöfen für das öffentliche Recht gab, war unhaltbar, seit die Städte Selbständigkeit erlangt hatten; Stein verlangte Absetzbarkeit der Verwaltungsbeamten. Eine allgemeine Einkommens- und Vermögenssteuer, ohne Ansehen des[S. 99] Standes, sollte dieser kraftvollen Regierung reiche Mittel zur Verfügung stellen. Alle Regierung und Gerichtsbarkeit sollte von der höchsten Gewalt ausgehen, daher Abschaffung der Gutspolizei und der Patrimonialgerichte, das will sagen: eine neue Gemeindeordnung für das flache Land. Das Edikt vom 9. Oktober, von seinem Urheber die Habeas-corpus-Akte Preußens genannt, muß gesichert werden durch die Abschaffung der Fronden und eine neue Gesindeordnung. Reform des Adels, dergestalt, daß er sich nach englischer Weise durch die tüchtigsten Elemente aus dem Volke immer neu ergänze. Kräftigung des religiösen Lebens und des Volksunterrichts (eben jetzt geschehen die ersten Einleitungen für die Gründung der Berliner Hochschule), Reform des Heerwesens in dem Geiste, der die neue Militärreorganisations-Kommission (Scharnhorst, Gneisenau, Grolman) beseelte und aus Blüchers militärischem Glaubensbekenntnisse sprach: „Es ist vor einer Nationalarmee zu sorgen, niemand in der Welt muß eximiert sein”. Neben den Provinzialbehörden Landstände. Zuletzt nach Vollendung dieses Unterbaues Reichsstände, zwar wesentlich auf dem Grundbesitze ruhend, aber mit dem Rechte der Steuerbewilligung und der Mitwirkung bei der Gesetzgebung, „denn auf diesem Wege allein kann der Nationalgeist positiv erweckt und belebt werden”.
Ein Gewaltstreich Napoleons machte diesen Plänen ein Ende, welche, vollständig verwirklicht, unserem Vaterlande ein Menschenalter tastender politischer Versuche ersparen konnten. Mitten in der Arbeit der inneren Reform ging alles Dichten und Trachten des Ministers auf die Abschüttelung des fremden Jochs, und wenn die neuen Agrargesetze die Anhänger v. d. Marwitz’ unter dem brandenburgischen Landadel erbitterten und einen York zu Flüchen wider das Nattergezücht der preußischen Jakobiner hinriß, so erregte Steins Entschluß, den Kampf mit dem Eroberer zu wagen, Entsetzen unter der französischen Partei am Hofe, den Kalkreuth und Voß, und bei der Masse der Schwachen und Trägen. Stein galt in diesen Kreisen, wie Gneisenau berichtet, „als ein Verzweifelter, der sich mit dem König auf eine Pulvertonne setzen wollte,[S. 100] um sich in die Luft zu sprengen”. Bereits rüstete Österreich. Stein hoffte auf eine gleichzeitige Erhebung Preußens, er gedachte die französischen Satrapenländer im Norden zum Aufstande zu reizen und zählte auf die Kraft der Bauern und des Mittelstandes, während er nichts hoffte von der „Weichlichkeit der oberen Stände, und dem Mietlingsgeiste der öffentlichen Beamten”. Allerdings mochte Stein damals die hohe Leidenschaft, die seinen Feuergeist verzehrte, allzu kühn in die Herzen der müden Masse übertragen. Schwerlich war der Haß gegen die Fremden bereits tief genug in das Volk gedrungen, um jetzt schon einen Verzweiflungskampf zu wagen. Noch weniger ließ sich erwarten, daß Kaiser Franz den Krieg in jenem großen deutschen Sinne, den Stein verlangte, beginnen und seine Truppen unter schwarz-weiß-gelbem Bundesbanner — mit den Namen „der Befreier der Nation”, Hermann und Wilhelm von Oranien, auf den Fahnen — in das Feld schicken werde. Ein Brief Steins, der den Fürsten Wittgenstein ermahnte, die Unzufriedenheit im Königreich Westfalen zu schüren, fiel den Spähern Napoleons in die Hände und erschien am 8. September 1808 im Moniteur. Der Kongreß von Erfurt beseitigte jede Hoffnung auf Rußlands Beistand, und Stein sah sich gezwungen, seinen Abschied zu fordern. Er nahm mit sich das Lob seines Königs, durch die Wirksamkeit eines Jahres „den ersten Grund, die ersten Impulse zu einer erneuerten, besseren und kräftigeren Organisation des in Trümmer liegenden Staatsgebäudes gelegt zu haben”. Am 16. Dezember unterzeichnete Napoleon das Dekret, welches le nommé Stein als einen Feind Frankreichs und des Rheinbunds ächtete und seine Güter einzog. „Sie gehören nun der Geschichte an,” rief Gneisenau dem Geächteten zu. Die Nation wußte jetzt, wen unter den Deutschen der Kaiser am bittersten haßte. In tausend Herzen prägte sich jetzt das Bild des Reichsfreiherrn ein — die gedrungene Gestalt mit dem breiten Nacken, jäh und eckig in jeder Bewegung, die funkelnden braunen Augen und die Eulennase über den fest geschlossenen Lippen — ein Geist von deutscher Tiefe und Gründlichkeit, hochgebildet und dennoch [S. 101] schlicht und kernhaft, der seine schwerwiegenden Gedanken oft in ungelenken Formen, doch mit überzeugender Kraft und volkstümlicher Derbheit aussprach — ein Mann ohne Menschenfurcht, vornehm und herrisch und doch milden Sinnes um die Leiden der kleinen Leute besorgt — voll Feuers und heiligen Zornes, aber ein demütiger Christ und klug besonnen inmitten der Aufregung, unerschütterlich im Glauben an die Zukunft seines Volkes und an das Walten der Vorsehung — der ganze Mann eine wunderbare Verbindung von Naturkraft und Bildung, Tatkraft und Billigkeit, von glühender Leidenschaft und nüchterner Erwägung.
Steins Nachfolger ward nicht Schön, den er vorgeschlagen, sondern Altenstein, unter dessen Verwaltung der Staat, in tiefe Schwäche versunken, den Geächteten nicht zu beschützen wagte. In Brünn, Troppau, Prag verlebte Stein die nächsten Jahre, doch selbst unter dem Ministerium Stadion konnte man zu Wien sich nicht entschließen, diese gewaltige Kraft zum Kampfe gegen Napoleon zu verwerten. Stein durfte dann und wann den österreichischen Staatsmännern einen Rat erteilen, er versuchte auch, als im Jahre 1810 Hardenberg sein Ministerium bildete, wieder auf Preußens Geschicke einzuwirken, auf die innere Verwaltung wie auf die Vorbereitung eines Volkskrieges nach dem Muster Spaniens und der Vendée. Im ganzen blieb er ohne Einfluß. Es war die Zeit, da Gneisenau die entsetzlichen Worte schrieb: „Wir dürfen es uns nicht verhehlen, die Nation ist so schlecht als ihr Regiment.”
Auch Stein, der soeben die Erhebung Österreichs vom Jahr 1809 mit Bewunderung betrachtet, verlebte jetzt Augenblicke, da er an dem preußischen Staate und an dem unverbesserlichen „Phlegma der nördlichen Deutschen” verzweifelte. Endlich bei dem Herannahen des russischen Feldzugs schien ihm die Stunde gekommen für einen großen Befreiungsversuch. Er hatte schon im Jahre 1808 den Zaren Alexander zu einer selbständigen Politik ermahnt und bot ihm jetzt seine Dienste an. Fast gleichzeitig (Mai 1812) ereilte ihn die Einladung des Zaren. Er blieb ohne amtliche Stellung, als ein selbständiger Rat, eine Macht durch[S. 102] sich selber, an Alexanders Seite, und soweit die nun folgenden Ereignisse von dem Willen einzelner Sterblicher abhingen, hat Stein an der Befreiung Europas ein größeres Verdienst als irgendein Mensch. Er war es, der den Kaiser zu dem Entschlusse bewog, den Krieg bis nach Sibirien hinein fortzusetzen, er erfüllte den schwachen, edelsinnigen Monarchen mit einem Hauche seiner eigenen Leidenschaft, er bestimmte ihn, nach dem Siege, den Wünschen des Heeres zum Trotz, den Niemen zu überschreiten. Je näher die Gefahr sich heranwälzte, um so freudiger und zuversichtlicher hob sich alles Schneidige und Heldenhafte seines Wesens. Er verachtete die Oberflächlichkeit der meisten gebildeten Russen, doch er freute sich an der religiösen Begeisterung, dem Opfermute des Volkes, und auch unter den höheren Ständen fand er treffliche Helfer, so die Grafen Kotschubey und Lieven. Er sah in dem russischen Kriege nur ein Mittel für seinen teuersten Zweck, die Befreiung Deutschlands. Stein stand an der Spitze des deutschen Komitees in Petersburg, ließ Aufrufe unter den Rheinbundstruppen verbreiten, um sie zur Fahnenflucht zu verleiten, und durch die Schriften seines treuen E. M. Arndt auf die Herzen der Deutschen wirken, er bildete — mit geringem Erfolg — die deutsche Legion als den Kern des künftigen deutschen Heeres, er drang auf Verbindung mit England und zeigte der Regierung die Mittel, welche ihr nachher ermöglichten, 40 Millionen Rubel russischen Papiergeldes in Deutschland umzusetzen und also den Krieg fortzuführen. Während er also jeden Hebel in Bewegung setzte zur Bekämpfung Napoleons, fand er doch Worte der Billigkeit für jene preußischen Offiziere, welche, dem Fahneneide treu, im Heere des Imperators fochten.
Die Pläne, welche er in jenem Petersburger Winter für Deutschlands Umgestaltung entwarf, sind das Idealste und Verwegenste, was jemals über deutsche Politik gedacht worden. Und dies bildet, nächst seiner Teilnahme an der Umgestaltung Preußens und der Befreiung Europas, das dritte welthistorische Verdienst des Mannes: er hat früher und schärfer als irgendein Staatsmann die[S. 103] Einheit Deutschlands, ohne Phrasen und Vorbehalte, als das höchste Ziel deutscher Politik aufgestellt, er war der erste unter unseren Staatsmännern, der in jedem Wechselfalle unwandelbar und mit hellem Bewußtsein nur das Wohl des ganzen Vaterlandes ins Auge faßte. „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland — schrieb er an Münster, der ihn des einseitigen Preußentums beschuldigte — und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinem besonderen Teile desselben angehörte, so bin ich auch nur ihm und nicht einem Teile desselben von ganzem Herzen ergeben.” Wer ihm von Schonung der althergebrachten Zersplitterung redete, dem erwiderte er: „einen solchen Zustand wiederherstellen ist gerade so, als wolle man darauf bestehen, daß ein toter Mann auf seinen Beinen stehen solle, weil er es tun konnte, solange er noch lebte.” Jede Rücksicht auf die Dynastien verwarf er: „Als ob es in Deutschland darauf ankäme, ob ein Mecklenburg usw. existiert, und nicht, ob ein starkes, festes, kampffähiges deutsches Volk ruhmvoll im Krieg und Frieden dastehe!” Sein Ziel war die „Einheit, und ist sie nicht möglich, ein Auskunftsmittel, ein Übergang”. In jenem Augenblicke, da der gesamte Länderbestand Europas im Wanken war, schien ihm selbst das Höchste erreichbar: eine große Monarchie von der Weichsel bis zur Maas und den Vogesen, ebenso Italien zu einer geschlossenen Masse verbunden — ganz Mitteleuropa in jenem Zustande „der Kraft und Widerstandsfähigkeit”, den er in seiner Lieblingszeit „unter den großen Kaisern” vom zehnten bis zum dreizehnten Jahrhundert zu finden glaubte. Sei dies nicht möglich, so solle man Deutschland nach dem Laufe des Mains zwischen Österreich und Preußen teilen, die Rheinbundsfürsten als „betitelte Sklaven und Untervögte” des Eroberers behandeln und auch die von Napoleon verjagten Fürsten nicht als Bundesgenossen gelten lassen. Könne man auch dies nicht erreichen, so bleibe als letzter Ausweg, daß man jedem der beiden „verfassungsmäßigen Königreiche” Österreich und Preußen einige Kleinstaaten als Vasallen unterordne, etwa Bayern, Württemberg, Baden mit geschmälertem Gebiete der südlichen, Hannover,[S. 104] Hessen, Oldenburg, Braunschweig der nördlichen Macht. Man wird in diesen Plänen den hochherzigen Patriotismus ebensowenig verkennen, wie die leidenschaftlich unklare Erregung der Zeit und den Stolz des Mediatisierten, der nicht begriff, warum „man mit diesen Zaunkönigen so viel Umstände mache”.
Als das Heer die deutsche Grenze überschritten hatte, nahm er die Leitung der ostpreußischen Angelegenheiten in die Hände, zog sich jedoch besonnen zurück, da er York und Schön und die Männer des preußischen Landtags voll Eifers für die große Sache, aber auch voll Sorge wegen der russischen Eroberungslust sah. Am 25. Februar 1813 erschien er mit Anstett in Breslau und beredete den zaudernden König, Scharnhorst in das russische Hauptquartier zu schicken — eine Sendung, welche den Abschluß des preußisch-russischen Bündnisses zur Folge hatte. Er folgte nunmehr dem Hauptquartiere der Monarchen, rastlos anspornend und ermutigend, ein Todfeind aller halben Maßregeln und „verderblichen Waffenstillstände”, der feste Bundesgenosse des Blücherschen Hauptquartieres. Zugleich leitete er den Verwaltungsrat, der die eroberten Länder, zunächst Sachsen, zu verwalten hatte, und seine kühne, schroffe Weise stieß hart zusammen mit der Unentschlossenheit „dieser weichen sächsischen Wortkrämerei”. Er betrieb eifrig den Abschluß der Allianz mit England. Nach dem Waffenstillstand trat der lähmende Einfluß Österreichs auf die große Allianz hervor. Die kühnen Gedanken jenes Petersburger Winters erwiesen sich als unausführbar. Steins Zweifel an der Lebenskraft Preußens waren längst verstummt angesichts der großen Erhebung, er fühlte sich unter dem begeisterten Volke Norddeutschlands „wie in einem unbekannten Lande”. Andererseits sah er mit Trauer, daß in dem Österreich Metternichs der Geist von 1809 gänzlich verschwunden war, daß die Bevölkerung der Kleinstaaten den Dynastien noch eine sehr starke Anhänglichkeit entgegenbrachte und England in den Reichenbacher Verträgen sich für Hannover bedeutende Gebietserweiterungen ausbedang. Sonach war selbst der bescheidenste jener drei[S. 105] Petersburger Pläne unmöglich, und Stein hielt jetzt die Herstellung der Kaiserwürde, des Reichstages und der Reichsgerichte für notwendig, damit eine monarchische Gewalt die kleinen Dynastien in Zucht halte und das halbdeutsche Österreich durch die Pflichten des Kaisertums an Deutschland gekettet werde. Vergeblich versuchte er, in Böhmen während des Stillstandes der Kriegsoperationen nach der Schlacht von Kulm, diesen Plan bei den Monarchen durchzusetzen. Metternich erklärte seine Absicht, die deutschen Staaten nur durch ein System von Verträgen zu verbinden, bald darauf schloß Österreich die Verträge von Ried und Fulda und erkannte die Souveränität der rheinbündischen Könige an. Seitdem war jede Aussicht auf eine gesicherte Verfassung Deutschlands versperrt, und wenn fortan die Ansichten Steins über die Zukunft des Vaterlandes in jähen Sprüngen wechselten, so war dies nur die Folge der Unmöglichkeit, auf Grund der gegebenen Sachlage einen dauernden Rechtszustand zu schaffen.
Nach der Schlacht von Leipzig ward sehr fühlbar, daß Stein, beschäftigt mit der Organisation Sachsens und der definitiven Einrichtung der Zentralverwaltung, dem Hauptquartier nicht gefolgt war. Erst nach seiner Rückkehr faßte man den Entschluß, den Krieg über den Rhein zu tragen. Stein entfaltete eine ungeheure Tätigkeit bei der Leitung des Lazarettwesens und der provisorischen Einrichtung der eroberten Länder. Die Zentralverwaltung war bedeutsam für die öffentliche Meinung, weil sie der Welt wieder das Schauspiel einer Behörde für gesamtdeutsche Angelegenheiten gab. Im Feldzuge von 1814 wiederholte sich das alte Spiel: Stein und die Helden des schlesischen Heeres drängten vorwärts, während das österreichische Hauptquartier zauderte. Der Aufenthalt in Paris erfüllte Stein mit tiefem Mißmut, man sah ihn stachliger und heftiger denn je. Sein Einfluß auf den Zaren begann zu sinken, umsonst forderte er bei den Friedensverhandlungen gesicherte Grenzen für Deutschland, umsonst verlangte er, daß Preußen die gute Stunde zur Befriedigung seiner gerechten Ansprüche benutze. Die[S. 106] Wiedereinsetzung der Bourbonen war ihm willkommen, als ein „Ruhepunkt” für die ermüdete Nation, obwohl er den Doktrinen der Legitimisten nicht huldigte.
Von dem Wiener Kongresse sah er früh voraus, daß „das Ganze auf eine flache und übertünchte Weise endigen werde”, er sah „die Zeit der Kleinheiten, der mittelmäßigen Menschen” gekommen. In den Händeln über die Territorialfragen ragte er hervor als Verteidiger der Einverleibung Sachsens, er warf Talleyrand und dessen Genossen die treffende Beschuldigung zu, daß sie es seien, welche die Zerteilung der Völker verlangten. Sein Vorschlag, das eroberte Land durch einen trefflichen Statthalter, den Prinzen Wilhelm, zu gewinnen, fand keine Erfüllung. Wie ihn einst Napoleons Bulletins als einen Demagogen geschildert hatten, so ward er jetzt in der Presse als ein Borussomane und ein Spießgeselle der brutalen Gewalt angefeindet. Er aber hielt noch im hohen Alter mit voller Überzeugung seine wohlbegründete Meinung fest. Dagegen erkannte er die Unmöglichkeit, ein unabhängiges konstitutionelles Polen mit Rußland auf die Dauer friedlich zu verbinden. Für die deutsche Verfassung hatte er während des französischen Feldzugs in Chaumont einen neuen Plan entworfen, wonach die beiden Großmächte mit Bayern und Hannover als Direktoren die exekutive Gewalt besitzen und den Bundestag leiten sollten. Im Sommer darauf schlug er wiederum ein Direktorium der vier mächtigsten Staaten und eine Kreisverfassung vor, welche so tief in die inneren Landesangelegenheiten eingreifen sollte, daß die Großmächte sich ihr nicht völlig unterwerfen konnten; daher verfiel er auf den Ausweg, daß Preußen nur mit den Ländern links der Elbe, Österreich gleichfalls nur mit seinen westlichsten Provinzen beitreten solle. Wenn Steins Meinungen über die Leitung Deutschlands nicht minder unsicher wechselten, wie die Ansichten der übrigen Zeitgenossen, so bieten seine Pläne doch sämtlich eine glänzende Seite, die den großen Staatsmann bekundet; sie enthalten alle sehr bestimmte Garantien für die Volksfreiheit: — Grundrechte für alle Deutschen und ausgedehnte, [S. 107] von Bundes wegen garantierte, durch ein Bundesgericht gesicherte Befugnisse für die Landstände. Desgleichen verlangte er in allen seinen Entwürfen unbedingte Einheit der Gesetzgebung für den Verkehr im weitesten Sinne. Er wünschte, daß die beiden Großmächte und Hannover die Vorberatung der deutschen Verfassung auf dem Kongresse allein in die Hand nähmen. Als statt dessen das Fünferkomitee gebildet ward und das Werk schon im Beginn an dem Widerstande Bayerns und Württembergs zu scheitern drohte, rief er den Zaren und den Verein der kleinen Fürsten zu Hilfe. Im Laufe des Winters kehrte er nochmals zu seinem Kaiserplane zurück. Als auch dieser verworfen ward, versuchte er nur noch, abermals umsonst, dem Artikel 13 der Bundesakte einen Inhalt zu geben, den Landständen der Einzelstaaten bestimmte Rechte von Bundes wegen zu gewährleisten. Das vollendete Werk erschien ihm gänzlich hoffnungslos. Er stand allein auf dem Kongresse, ohne Vollmacht, ohne Stimmrecht, und sein persönlicher Einfluß war im Sinken, je mehr die Erinnerung an die großen Tage des Krieges verblaßte.
Nach Napoleons Rückkehr brauste Steins alter Haß wieder auf, ein Haß, dessen Glut sich doch sehr wohl vertrug mit scharfsichtiger Würdigung des Feindes — wie denn Stein unter den ersten den Zug der Gemeinheit in dem Wesen des Imperators durchschaute. Stein zuerst ersann den Gedanken, Napoleon zu ächten. Bei den Verhandlungen über den Zweiten Pariser Frieden betrieb er rüstig die Rückführung der geraubten Kunstschätze, doch umsonst verlangte er, diesmal im Bunde mit den Staatsmännern Preußens und der kleinen deutschen Staaten, Elsaß und Lothringen für Deutschland zurück. Nachdem also fast alle Pläne, welche er an die Befreiung der Welt angeknüpft, gescheitert waren, zog er sich in das Privatleben zurück. Den Posten eines österreichischen und eines preußischen Bundestagsgesandten lehnte er ab, den einen, weil er sein Preußen nicht verlassen, den andern, weil er nicht unter Hardenberg dienen mochte und von der Frankfurter Versammlung kein Heil erwartete.
Er verlebte ein reiches Alter auf seinen Gütern Cappenberg und Nassau, in lebhaftem brieflichen und persönlichen Verkehr mit bedeutenden Männern. Die persönlichen Erfahrungen dieser letzten Jahre verstärkten noch seine Liebe zu Preußen, da er in Nassau den kleinen Krieg der Bureaukratie wider die Mediatisierten ertragen mußte, während er in Cappenberg als Landtagsmarschall der Provinz Westfalen eine hochangesehene Stellung einnahm. Der Tod seiner Gattin, die erst in späterer Zeit seinem Herzen nahegetreten war, gab seinem Geiste eine streng religiöse Richtung. Im Eifer seiner Rechtgläubigkeit wünschte er wohl, der Staat möge „ein Dutzend Rationalisten extra statum nocendi versetzen”. Sein Glaube war echt und ohne Prunk, und obwohl er, nach der Weise dieser romantischen Tage, dem Katholizismus nähertrat, so blieb er doch allen ultramontanen Bestrebungen feind: Stein wünschte, wie sein Freund Erzbischof Spiegel, nationale Selbständigkeit unserer katholischen Kirche.
Die neuen politischen Zustände boten ihm wenig Anlaß zur Freude. Er sah auf der einen Seite die Bureaukratie mit ihrer „Wut zu generalisieren” und überhäufte diese Klasse mit schweren Vorwürfen, deren Härte sein alter Freund Kunth dem Aristokraten oftmals verwies. Der Adel andererseits schien ihm „in Selbstsucht, Einseitigkeit, Leerheit, Unbeholfenheit, Egoismus versunken”. Stein suchte mit Montesquieu das Urbild freier Verfassung in England und „den deutschen Wäldern” und verwarf die durch neufranzösische Ideen befruchtete Richtung des süddeutschen Liberalismus als „seichten, rechtlosen Neologism”. Die neue demokratische Strömung schien ihm darauf hinauszulaufen, „das Ganze in ein Aggregat von Gesindel, Juden, neuen Reichen, phantastischen Gelehrten zu verwandeln”. Die rheinische Gesetzgebung bekämpfte er mit dem ganzen Hasse des Franzosenfeindes. Während er so alle vorherrschenden Richtungen im Staatsleben der Einzelstaaten bekämpfte, fand er die gesamtdeutsche Politik noch unglücklicher bestellt. Den Bundestag verachtete er als eine „vom Philistergeist durchdrungene politische Maschine”, und sein Zorn wallte auf, als die Mainzer[S. 109] Zentraluntersuchungskommission ihn selber als einen Haupturheber der demagogischen Umtriebe beschuldigte. Ebensowenig wollte er teilhaben an dem neuen Teutonentum „dieser unbärtigen fratzenhaften Studenten”. Die Opposition am Bundestage galt ihm als eine neue Form der alten Rheinbundsbestrebungen; er verdammte schonungslos jeden Bund im Bunde und das gesamte Treiben der „Afterbündler”.
Dem Kundigen fällt nicht schwer, in dieser Fülle des Tadels, die der Alternde nach allen Seiten hin ausspendete, einige große positive Gedanken zu erkennen, welche zeigen, daß Stein noch immer auf der Höhe der Zeit stand, während er zu Wien als ein Haupt der militärischen Jakobiner, unter den Alltagsliberalen als ein Junker verrufen war. Zunächst verlangte er immer aufs neue Erfüllung der dem Volke gegebenen Verheißungen; denn „den durch die lautere Milch des Jesuitismus noch nicht getrübten Menschenverstand” werde man nicht überzeugen, daß es von dem Willen der Fürsten abhänge, ob und wie sie ihr Wort halten wollten. Die unheilvollen Folgen der Ausschließung der Nation von der Leitung ihrer eigenen Angelegenheiten, die er schon in jenem Programme vom Jahre 1807 vorausgesagt, gingen Wort für Wort in Erfüllung. Jetzt wie damals wollte er den Grundbesitz in den Reichsständen überwiegend vertreten sehen, aber der Reichstag sollte wirksame Rechte haben: „Beratende Stände sind eine inerte Masse oder ein turbulenter Haufe, der ins Blaue hineinschwätzt, ohne Würde, ohne Achtung.” Wie schroff und herrisch der Marschall oftmals die liberalen Redner des westfälischen Landtags anließ — auf dem Verlangen nach Reichsständen bestand der gewissenhafte Mann unverbrüchlich, auch nachdem die Julirevolution alle konservativen Neigungen seiner Natur mächtig aufgeregt hatte. Über alle Verstimmungen und Beschwerden des Tages rettete er sich seine Anhänglichkeit an das Haus Hohenzollern und seinen Glauben an Preußen als den Hort unserer Zukunft. Er nannte Berlin selbst in jenen stillen Jahren, da das öffentliche Leben fast erstorben war, „den interessantesten [S. 110] Ort Deutschlands” und sah mit Stolz auf das preußische Heer; kriegserfahrene Offiziere waren dem streitbaren Manne die willkommensten Gäste. Unberührt von den Modekrankheiten des neuen Liberalismus, hielt er den Blick fest auf die Größe des ganzen Vaterlandes gerichtet. Auch da die kleinen Staaten des Südens als die beneidenswerten Stätten der Freiheit gepriesen wurden, schaute er mit unwandelbarer, grenzenloser Verachtung auf die unheilbaren Mängel des kleinstaatlichen Lebens. Er wußte, die Zeit sei noch nicht gekommen, die Staatsbildungen Napoleons vom deutschen Boden hinwegzufegen, und begrüßte mit Freuden jeden Anfang praktischer Einigung der Nation, so den werdenden preußisch-deutschen Zollverein. Auf die unverwüstliche Gesundheit unseres Volkes baute er felsenfest; nur „das Land der Phäaken”, Österreich, schloß er in der Regel von seinem Lobe aus. Mit unvergeßlichen Worten rief er den Demagogenverfolgern zu, ein treues, sittliches, gebildetes Volk, das soeben einen glorreichen Krieg bestanden, verdiene Vertrauen und wieder Vertrauen. In solchem hohen patriotischen Sinne hat er auch das wissenschaftliche Unternehmen der Monumenta Germaniae begründet und ihm einen guten Teil seines Alters gewidmet. Radikale Blätter des Rheinlandes witterten in dieser Sammlung der Geschichtsquellen unserer Vorzeit feudale Bestrebungen. Der instinktive Widerwille aller Menschen ohne Vaterland, vornehmlich der liberalen Partikularisten, bildet den sichersten Maßstab für Steins Größe. Wer einzelne Ausbrüche der hypochondrischen Laune und der Tadelsucht des Staatsmanns außer Dienst auszuscheiden weiß, findet in den Briefen seines Alters eine unvergleichliche Quelle der Belehrung über die Zeitgeschichte und über die wichtigsten Probleme der Politik, dazu in der ausdrucksvollen Gewalt der eckigen, wuchtigen Sprache mit ihrer Fülle sich drängender Beiwörter ein getreues Charakterbild.
Stein starb, und mit ihm sein Geschlecht, am 29. Juni 1831. Sein Testament schließt mit der Mahnung an seine Erben, sich des göttlichen Segens würdig zu erhalten ... „vornehmlich durch treue und zu jeder Aufopferung bereite [S. 111] Liebe zum Vaterland”. Auf der Inschrift seines Grabes wird er genannt: „Demütig vor Gott, hochherzig gegen Menschen, der Lüge und des Unrechts Feind, hochbegabt in Pflicht und Treue, unerschütterlich in Acht und Bann, des gebeugten Vaterlandes ungebeugter Sohn, in Kampf und Sieg Deutschlands Mitbefreier.” — Die arge Verbildung unserer Zustände spiegelte sich wider in der Teilnahmlosigkeit, womit die Nation die Kunde von Steins Abscheiden aufnahm. Erst zwanzig Jahre nach seinem Tode ist Steins Bild dem Volke wieder nähergetreten. Der größte Staatsmann der Deutschen dieses Jahrhunderts war ein stolzer Preuße und ein Unitarier.
Lessing
Allein die Zeitgenossen winden dem Dichter den schönsten der Kränze. Gerechter vielleicht mag die Nachwelt richten, als einen Seherblick des Genius mag sie einzelnes preisen, was den Mitlebenden unverstanden vorüberschwebte; doch jene fraglose unwillkürliche Rührung der Seelen, die der Künstler als edelsten Lohn erstrebt, wird er am gewaltigsten in seiner Zeit erregen. Wie könnte heute ein Jüngling von den Leiden des jungen Werther so schmerzlich ergriffen werden wie damals, da die Werther noch auf unseren Straßen verkehrten? Und hat je eine moderne Hörerschaft den Scherzen der Narren Shakespeares ein so herzliches baucherschütterndes Gelächter entgegengebracht, wie es dem Dichter zuscholl aus den Reihen der Gründlinge seines Parterres? Immer wird heute inmitten der jubelnden Menge ein Nüchterner stehen und meinen: so, ganz so empfinden wir nicht mehr. Alle Welt weiß, wie wenigen Dichtern beschieden ward, noch in der Zukunft vom Volke geliebt, nicht bloß durchgrübelt zu werden von den Fachgelehrten. Warum aber ist bei den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering, welche den Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch, was über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter hinausliegt? Es ist wahr, weit später als anderen Völkern ist den Deutschen der Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert, seit jener Morgen graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist mit solcher Antwort das Rätsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite noch an seinem Spenser, während Klopstock und Wieland unserem Volke nur Namen sind? Hat doch auch über den Glanz von Spensers Dichtung sein großer Nachfahr[S. 115] Shakespeare seinen breiten Schatten geworfen, und ungeteilte Freude kann der derbe Realismus der Gegenwart an jenen zierlichen Allegorien so wenig empfinden, wie unser aufgeregtes Wesen an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar, wir müssen eine andere Antwort suchen.
Ein Märchen ist es, erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner Fahnen schaut ein Volk aus, wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn die Glorie einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Nie genug werden wir die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit und harmonischen Kraft beneiden, daß ihnen die Kunst auf dem festen Boden staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von der Feenkönigin, so steigt vor seinen Augen auf das Bild der großen Elisabeth, er sieht sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere, dem die unüberwindliche Armada wich, und hinter den kriegerischen Scharen der Engel in Miltons Verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend Cromwells gottselige Dragoner. So tritt auch dem Spanier aus den Dichtungen seiner Lope und Cervantes das Weltreich entgegen, darin die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die Wucht erhabener politischer Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charakter. Wo aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch ein Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mediceers Güte lächelte, so auch im Tode sind sie, was sie sind, durch sich selbst allein. Als Lessing sein letztes Drama schrieb, fragte er zweifelnd, ob die Tage reiner Menschensitte so bald erscheinen würden, die dies Werk auf der Bühne ertrügen; Heil und Glück rief er dem Orte zu, der zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde. Und — vor zwanzig Jahren ging in Konstantinopel der Nathan in neugriechischer Bearbeitung über die Bretter. Als dann vor den verwunderten[S. 116] Türken die edlen Worte erklangen: „Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen”, und die rechtgläubigen Moslemin in lauten Beifall ausbrachen, da mochte wohl ein Deutscher stolzer den Nacken heben. Denn hier, weit über die Grenzen christlicher Gesittung hinaus, wo keiner des Dichters Namen kannte, keine volkstümliche Erinnerung des Gedichtes Zauber erhöhte — hier strahlte siegreich die Macht des deutschen Genius allein, das weltbezwingende Lächeln der Menschenliebe.
Durch sich selbst allein wirken jene Künstler auf die Nachgeborenen. Noch mehr, sie selbst erst sind die Schöpfer eines freieren öffentlichen Lebens in unserem Volke, sie standen unbewußt im Bunde mit jenen Staatsmännern, die dem deutschen Staatswesen ein menschlicheres Dasein bereitet haben. Wie sich von selbst versteht in einer Zeit, wo das häusliche Leben die beste Kraft der Deutschen erschöpfte, geschah dies Hinüberwirken Lessings auf unser öffentliches Leben vornehmlich durch seine Person, durch die souveräne Selbständigkeit seines Charakters. Erst vor wenigen Jahren ist ein gutes Bild des Knaben Lessing bekannt geworden, und mit schalkhaftem Behagen sehen wir den Mann vorgebildet in den Zügen des Kindes. Da sitzt Theophilus Lessing, sittsam, ernst, in priesterlich langem Gewande, ehrbarlich ein Lämmchen fütternd, daneben der aufgeweckte Bruder, „mit einem großen, großen Haufen Bücher”, in der eleganten roten Tracht der Zeit; auch der Unkundige kann erraten, daß jenem bestimmt sei, zu leben als dunkler Ehrenmann und Konrektor, diesem — als Gotthold Lessing. Kraft und Wahrhaftigkeit spricht aus den derben Zügen des Knaben, und wahrlich, hart gebettet hat die Zeit den starken und wahren Mann. Sein Puls schlug bei voller Gesundheit so schnell wie der Puls anderer im Fieber, er besaß im höchsten Maße jene Lebhaftigkeit des Redens, welche die Obersachsen vor anderen Deutschen auszeichnet. Wie rasch jagen sich da Fragen, Ausrufe, schnell wiederholte abgebrochene Worte, und er fand den Mut also zu schreiben, wie seine Landsleute dachten und sprachen. Nie hat[S. 117] ein Schriftsteller getreuer jenes Wort erfüllt, das seltsam genug zuerst ausgesprochen ward in einer Nation, die es nicht versteht — das Wort: le style c’est l’homme. Dramatisch bewegt wie das Leben selber strömt sie dahin, diese schmucklose, wasserklare Prosa — dem Unkundigen ein Kind der Laune, des Augenblicks, dem Tieferblickenden ein Werk vollendeter Kunst, die schwierigste aller Schreibweisen, denn unerträglich verletzend muß jeder triviale Gedanke, jede falsche Empfindung sich verraten unter dieser leichten, nichts verbergenden Hülle.
Und dieser Natürlichste der Menschen wuchs empor in einer Umgebung, wo jedes einfache menschliche Gefühl in feste, herzlose, beengende Formen gebannt war, in einem Vaterhause, wo hart abweisend der Befehl der Eltern, unterwürfig und in schnörkelhaftem Ausdruck die Antwort der Kinder erklang. Der ganze Schmerz um eine verbildete Jugend spricht aus dem Ausruf des Mannes: „Der Name Mutter ist süß, aber Frau Mutter ist wie Honig mit Zitronensaft.” Als er dann in Leipzig sich herausriß aus der dürftigen Buchgelehrsamkeit der Schule und jenes Doppelwesen seiner Natur, das schon das Bild des Kindes ahnen läßt, sich entfaltete — der Gelehrte, der in jedem Buche der Wittenberger Bibliothek geblättert, der an schlechten Büchern mit Vorliebe seinen Scharfsinn übte, und der Weltmann von feinen Formen, der sich gern im Lärm des Tages tummelte, um die rasche Wallung seines Blutes zu übertäuben: — da brach jener schwere Kampf aus mit seinen Eltern, der längst schon gedroht. Man kennt jenes bittere Wort, das Lessing am Abend seines Lebens schrieb: „Ich wünsche was ich wünsche mit so viel vorher empfindender Freude, daß meistenteils das Glück der Mühe überhoben zu sein glaubt, den Wunsch zu erfüllen.” Seiner Jugend vornehmlich gilt diese Klage wider das karge Glück. Auch der Geduldigste unter uns ertrüge nicht mehr die Öde des Daseins jener Tage: ein Volk ohne Vaterland, darum gezwungen, im Hause jede Freude zu suchen, und dennoch unfrei sogar im häuslichen Leben.
Sie werden freilich immer wiederkehren, am heftigsten[S. 118] in fruchtbaren, aufstrebenden Zeiten, jene traurigen Zerwürfnisse von Vater und Sohn, herzergreifend traurig, weil jeder Teil im Rechte ist und das alte Geschlecht die junge Welt nicht mehr verstehen darf. Aber in Lessings Leben — wie herzlich er auch von seinem Vater sprach, wie groß immer die innere Verwandtschaft der beiden Streitenden war — in Lessings Leben erscheint dieser Kampf unmäßig hart, das alte Geschlecht ungewöhnlich klein und gehässig. Denn der Hader bewegte sich nicht um politische und religiöse Fragen, die doch nur mittelbar den Frieden des Hauses berühren; eine große gesellschaftliche Umwälzung vielmehr begann sich zu vollziehen, die Ehre des väterlichen Hauses ward bloßgestellt durch die soziale Stellung des Sohnes. Bis dahin war, wer hinausstrebte aus der Erwerbstätigkeit des Bürgertums, in den Dienst des Staates oder der Kirche gegangen. Die regsamsten Kräfte des Adels und der Mittelklassen hatte das Beamtentum und jene Zunftgelehrsamkeit des Katheders verschlungen, die kaum noch den Namen der akademischen Freiheit kannte. Höchstens dem bildenden Künstler ward gestattet seiner Kunst zu leben, im Gefolge eines Hofes ein Unterkommen zu suchen. Da wagte der Sohn des ehrenfesten Pastorenhauses, was vordem nur verdorbene Talente zu ihrem Unsegen versucht hatten, er wurde der freie Schriftsteller, der erste deutsche Literat — nicht in klarer Absicht, nein, wie die Menschen werden, wozu der Geist sie treibt, weil er nicht anders konnte, weil dieser freie Kopf den Zwang des Amtes nicht ertrug. Wie er also unserem Volke eine neue ungebundene Berufsklasse erschuf, so wandte er auch zuerst mit Bewußtsein sich an ein neues Publikum. Nimmermehr mochte er der unfreien Weise der Mehrzahl seiner Vorgänger folgen, die nur geziert für die Höfe, plump für das Volk zu schreiben wußten. Wohl dachte er groß und menschlich von den niederen Ständen, von „dem mit seinem Körper tätigen Teile des Volks, dem es nicht sowohl an Verstand als an Gelegenheit ihn zu zeigen fehlt”, er wünschte ihnen als Tröstung Gedichte zum Preise der „fröhlichen Armut”. Er selber indes suchte sich andere Leser. Wie er sich hinausgerettet [S. 119] aus dem Bannkreise der alten Stände, so sprach er auch zu einem gebildeten Publikum, das keine Stände kennt, und half also diesen Kern unseres Volkes erziehen, der in der Literatur zuerst, dann im Staate zur entscheidenden Macht emporwachsen sollte.
Zum ersten Male sahen die Deutschen das ruhelose und doch nie würdelose Leben eines abenteuernden Schriftstellers. „Lessing,” sagt Goethe, „warf die persönliche Würde gern weg, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können.” Wie geistvoll hier der Herzenskündiger geurteilt, das bezeugt ein erst vor kurzem wieder aufgefundenes Epigramm aus Lessings Studienzeit; Goethe hat es nie gekannt, und doch stimmt es wörtlich mit seinem Urteile überein. Achtlos, übermütig wirft der Dichter in den ersten Zeilen seine Würde hin, um sie am Ende gefaßt wieder aufzunehmen — in den Versen:
Worte, überaus bezeichnend für Lessings rasche, ungestüme Weise des Lebens — denn er vor allen besaß jenen gemeinsamen Charakterzug aller vorwärtsstrebenden Geister, die Gleichgültigkeit gegen seine eigenen Werke, sobald sie vollendet waren — aber bezeichnender noch für die Meinung, welche unseres Volkes beste Männer von dem Werte des Nachruhms hegten. Ist den hellen Köpfen der Romanen der Nachruhm das eingestandene höchste Ziel des Schaffens, so leben die Deutschen des Glaubens: der Ruhm sei, wie die Liebe, wie jedes echteste und höchste Glück des Lebens, eine Gnade des Geschicks, die wir in Demut hinnehmen, doch nimmermehr erstreben sollen. Und noch immer hat unser Volk sich jener Männer mit der wärmsten Liebe erinnert, die am wenigsten davon redeten, daß sie ein solches Gedächtnis erhofften. Einen leisen Schatten freilich hat diese harte, kampferfüllte Jugend in Lessings Wesen zurückgelassen. Jener prosaische,[S. 120] nüchterne Zug, der Lessing von späteren glücklicheren Dichtern in ähnlicher Weise unterscheidet, wie Friedrich der Große einem Cäsar, einem Alexander gegenübersteht, läßt sich nicht allein aus der Naturanlage des Dichters erklären. In den Tagen, wo das Gemüt jede Härte am schmerzlichsten empfindet, hat kein Frauenauge gütig über ihm gewaltet, allein die streng abweisende Mutter, die lieblos meisternde Schwester trat ihm entgegen. Die innige Zartheit der Empfindung aber, die ein hartes Geschick dem Jüngling verkümmerte — wie vermöchte der Mann sie je aus sich heraus zu entfalten?
Also hinausgetreten aus den altgewohnten Kreisen des bürgerlichen Lebens hat er mit unverwüstlichem Mut seinen Kampf geführt wider die falschen Götzen der literarischen Welt. Die Freude am Kampfe, am Widerspruch — vergeblich hat man es leugnen wollen — blieb die herrschende Leidenschaft in ihm, der von früh auf liebte, „Rettungen” verkannter Charaktere zu schreiben, der das Bekenntnis streitlustigen Stolzes niederlegte in dem Worte: „Auf wen alle losschlagen, der hat vor mir Frieden.” Wie die Schwäche und zugleich die Größe der modernen Kulturvölker gutenteils darin gelegen ist, daß sie nicht vermögen, wieder ganz jung zu werden, so offenbarte auch die unreife deutsche Dichtung jener Tage alle Mängel der Kindheit und des Greisenalters zugleich. Eine Weltliteratur mag man sie nennen, wenn das widerstandlose Aufnehmen fremdländischer Ideale und Formen zu solchem Namen berechtigt. Und doch war die in festen überlieferten Formen erstarrte Dichtung nicht einmal der korrekten Redeweise mächtig. Von beiden Schwächen hat Lessing unsere Dichtung geheilt. Man erfaßt nur eine Seite seines kritischen Wirkens, wenn man in ihm lediglich den trotzigen Streiter wider die règles du bon goût erblickt, wenn man ihm nicht folgt in jene ersten Jahre, da er mit der peinlichen Strenge des Pädagogen die kläglichen Übersetzungsfehler armseliger Gesellen rügte.
Kein Wunder aber, daß jener Kampf mit den Regeln der französischen Ästhetik allein noch haftet in dem Gedächtnis der Nachwelt. Denn das erste dauernde seiner[S. 121] Werke schuf er erst, da er in den Literaturbriefen auf die zuversichtliche Behauptung: „Niemand wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe” — seinen kecken Schlachtruf erschallen ließ: „Ich bin dieser Niemand.” Allerdings der Zorn des tiefempörten nationalen Stolzes redet aus dieser Polemik. Wider den Dünkel der Kritik lehnt der Kritiker sich auf und hält ihr das Recht des Künstlers entgegen, der sich selber seine Bahnen bricht. Doch schärfer noch befehdet der Deutsche die Anmaßung des fremden Volkes, das jeden anderen Volksgeist in die Enge seiner konventionellen Empfindungen zu bannen gedachte. Wer hört nicht das schadenfrohe Gelächter des nationalen Selbstgefühles aus jenen erbarmungslosen Zeilen, die der untrüglichen französischen Ästhetik beweisen, daß sie die Regeln des Aristoteles nicht verstanden, die Voltaires Dramatik enthüllen, wie sie ist — gesucht, gemacht, der Natur entfremdet, „so steif, als wäre jedes Glied an einen besonderen Klotz geschmiedet?” Mochten die einen im derben Liede den alten Fritz preisen, der sich auf die Hosen klopft und die Franzosen laufen läßt, die andern Beifall rufen, wenn der deutsche Kritiker Voltaires Blöße zeigt: Beide feierten Siege eines wieder erwachenden Volkstums.
Wucht und Nachdruck erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings Dichtertaten. Auch er hatte sich geübt in den überlieferten Formen und Empfindungen anakreontischer Dichtung, und lange Zeit lockte seinen Scharfsinn, der zu spielen liebte, das Grenzgebiet zwischen Dichtung und Prosa: Fabel und Sinnspruch. Doch zur rechten Geltung gelangte das ihm eigene schöne Gleichgewicht ordnenden Verstandes und schöpferischer Phantasie in dem Drama. Das Gleichgewicht, sage ich. Denn jene noch heute oft nachgesprochene romantische Torheit, die dem Dichter der Minna von Barnhelm die echte poetische Kraft absprechen will, ist längst im voraus widerlegt durch den Denker, den Lessing selber als den größten der Ästhetiker verehrte. Aristoteles sagt: zum Dichten gehört ein Genius, ein kräftig und ebenmäßig geschaffener Geist (εὐφυής), der[S. 122] von Natur schon das Schöne und Wahre findet — oder auch ein Geist von erregbarer, enthusiastischer Phantasie (μανικός). Wenn in Lessings Seele der lichte Verstand unleugbar vorherrschte, dieser ekstatische Rausch seinem nüchternen Wesen fremd blieb, so besaß er dafür jenes Höhere: die harmonische Kraft des Genius, die nichts unternimmt, was sie nicht ganz vollbringen kann. Wie er schon als Student an der wirklichen Bühne sich geschult, ja seine Rollen gedichtet hatte für bestimmte Schauspieler aus der Truppe der Neuberin, die uns als die Vorläuferin der modernen Schauspielkunst gilt: so kamen seine dramatischen Anschauungen zur Reife im Verkehr mit jener Hamburger Bühne, die heute als die erste Erscheinung des neuen deutschen Schauspiels bezeichnet wird. Und wie er damals schon unter den Franzosen sich die natürlichere Schule Marivaux’ zum Muster wählte, so führte er die germanische Dichtung auf den geraden Weg zurück, brachte ihr die Naturwahrheit, die freie Bewegung des Shakespearischen Dramas. Aber ein Reformer — wie der maßlosen Natur des Künstlers ziemt — nicht ein Revolutionär — wie sollte er sich vermessen, auf unsere verwandelte Bühne den ungebundenen Szenenwechsel des altenglischen Schauspiels einzuführen? Der so viele falsche Götzen gestürzt, wie sollte er sich selber Shakespeare als neuen Götzen setzen — was ihm die Gedankenlosen noch heute nachsagen? In der Charakterzeichnung allerdings folgte er Shakespeares Spuren; doch der Bau seiner Dramen wich nur wenig ab von der Weise der Franzosen, die mit ihrer klaren Verstandesschärfe dem Gegner doch sehr nahe standen und in ihm einen billigen Richter fanden. Sogar die Rollen, welche das französische Schauspiel uns überliefert, hat er sorglich beibehalten, nur, daß jetzt statt des Liebhabers, des edlen Vaters, der Buhlerin — die Tellheim, Odoardo, Orsina erschienen, lebendige Menschen mit dem unendlichen Recht der Persönlichkeit. Auch die dramatischen Probleme, die er sich stellt, sind die höchsten nicht; gewaltigere Kämpfe von reicherem tragischen Gehalt sind seitdem über unsere Bretter gegangen. Doch in seinem engen Kreise schaltet er mit einer dialektischen [S. 123] Kunst und einem Reichtum der Erfindung, die allen Zeiten bewundernswert bleiben werden. Er reißt seine Charaktere in eine leidenschaftliche dramatische Bewegung hinein, die keiner seiner Nachfolger übertroffen hat.
Wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen Lessings die Bühne umgestalteten, wie hat doch jedes einzelne davon noch seinen besonderen Einfluß geübt auf unser öffentliches Leben! Schon Sara Sampson, dies erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen, konnte nur gedichtet werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte belebend zurück auf das Selbstgefühl dieser Klasse. Welch ein Griff aber mitten hinein in das nationale Leben der Gegenwart, als Lessing sich des Stiefkindes unserer Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm — mit Goethe zu reden — ein Werk schuf von spezifisch nationalem Gehalt! Hier klingt etwas wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon vor den Fenstern von St. Afra gehört. Wie lange hatten unsere Dichter, wenn sie die Form suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangenheit, die so nie gewesen ist, „auf des Sittenspruchs geborgte Stelzen steigen” lassen! Jetzt endlich wagte ein Dichter das Gemüt der Gegenwart dramatisch zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in der Breite der komischen Szenen, und eben darum ein Werk für alle Zeiten. Denn wie das Erzbild in freier Luft im Lauf der Jahre sich verschönt, so haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Als ein Gott aus der Maschine tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort die erregten Gemüter versöhnend.
Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti! Nicht allein das Kunstwerk erquickt uns, das, nach Goethe, „gleich der heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gellertschen [S. 124] Wasserflut emporstieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen”. Keiner unter uns, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbnis aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unseres Volkes seitdem herzhafter und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen tot? — und ich fürchte nicht, daß man dies Wort belächeln werde. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute, „wenn sie von niemandem geteilt würde”, fassen wir den Mut, unbekümmert um literarhistorische Pedanten, zu bekennen, was wir fühlen, und sagen wir gerade heraus: wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache die mißhandelte, freilich in ihrem Herzen nicht mehr schuldlose Tochter opfert, statt den frechen Dränger zu töten. Angeekelt von dem falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor allem die Leidenschaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensatze zu Corneille wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg, und wenn es ihm unfehlbar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr zu würdigen weiß. Welchen Schrecken mußte es in ängstliche Gemüter werfen, daß ein Dichter die sittliche Fäulnis der Mächtigen auf der Bühne erscheinen ließ — wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimat ein prunkendes Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Maitresse des Landesherrn erhoben war! Wenn er absichtlich vermied, seine Fabel mit dem staatlichen Leben zu verknüpfen, wenn er nur durch das persönliche Schicksal seiner Heldin die Hörer erschüttern, [S. 125] nur „eine bürgerliche Virginia” schaffen wollte, so hat seitdem die Geschichte seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das Schlußwort des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und denkt dabei nicht an das gräßliche après nous le déluge? Wer sieht nicht hinter den Gestalten Marinellis und der Orsina die Schreckensmänner der Revolution emporsteigen?
Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und dichterischen Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde Weisheit, den Deutschen der Mut zurückgegeben, in der Kunst sich eigene Pfade zu suchen. Selbständige Werke der Dichtung waren unserem Volke geschenkt, welche aller Glorie der französischen Dramatik vollauf die Wage hielten. Das Kunstverständnis endlich unseres Volkes ward geläutert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt, der Vermischung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden Poesie, der Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein Ziel gesetzt. Und noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens schauen; denn nie wieder wagte unter uns ein Mann von Geist ein Lehrgedicht zu schreiben, und sah Lessing auf die jungen Stürmer und Dränger, so hörte er die Deutschen mit Stolz, ja mit Übermut wegwerfend reden von den einst vergötterten Franzosen.
Auch durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist Lessing ein Bahnbrecher der gegenwärtigen Gesittung geworden. Der den theologischen Beruf entschieden von sich gewiesen, sollte der Theologie seit Luther die erste nachhaltige Umbildung bringen. Die Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des Glaubens auf die Heilige Schrift, war selber eine neue Knechtschaft geworden. Lessing aber erkannte in den Schriften des neuen Bundes den Beleg, nicht die Quelle des christlichen Glaubens, und leitete also auf den Weg, den die wissenschaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter verfolgt hat. Nicht völlig neu war diese Richtung; freute sich doch selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter Brockes, derselbe, der neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besungen, im stillen an den geheimgehaltenen [S. 126] Streitschriften des Reimarus wider den Offenbarungsglauben. Neu aber war der Mut, herauszusprechen, was Tausende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den „kleinen Päpsten”, denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochene Wort entgegenwarf: lieber einen großen Papst als diese vielen kleinen — jener Mut, der am schneidigsten aus der „ritterlichen Absage” an Goeze spricht: „Schreiben Sie, Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, soviel das Zeug halten will; ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen in dem geringsten Dinge, was mich und meinen Ungenannten angeht, Recht gebe, wo Sie nicht recht haben, dann kann ich die Feder nicht mehr rühren!” Aber vergleichen wir selbst die heftigsten dieser Streitschriften mit den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche, so nehmen wir mit Erstaunen wahr, daß der deutsche Denker in der Sache die Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form hingegen jenes edle Maß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsere freien Geister davor bewahrt, Freigeister zu werden in dem von Lessing gebrandmarkten Sinne.
Und läßt sich nicht aus diesem maßvollen Wesen des Denkers das Rätsel erklären: warum doch er, der hinwegschaute über alle geoffenbarten Religionen, für den alten Gedanken einer Union der christlichen Kirchen sich erwärmen konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung des Genius; nicht heute, nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie der am Buchstaben haftende Deuter sie auslegt. Jene Union, belächelt als ein Unding von denen, die an der Oberfläche der Dinge verweilen — alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts, seit die Bildung des Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigentum unseres ganzen Volkes zu werden. Auf eine solche Union, die alle kirchlichen Schranken überwunden hat, auf ein solches „neues Evangelium” deutet das reifste Werk dieser theologischen Kämpfe Lessings, die Erziehung des Menschengeschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits der Grenze dessen, was modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser tritt er bereits mitten hinein in[S. 127] die neue Wissenschaft. Denn lösen wir ab, was uns befremdet, die parabolische Hülle, und wir schauen als Kern: eine Philosophie der Geschichte; wir hören die Lehre von dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der die ganze Welt beseelt, wir finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der in den positiven Religionen „den Gang des menschlichen Verstandes” erkennt und seinen stolz-demütigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: „Gott hätte seine Hand bei allem im Spiele, nur bei unsern Irrtümern nicht?” Wohl mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die Zeitgenossen nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und staunen, wo ich stehe und staune.
Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über das Verständnis seiner, und soll ich nicht auch sagen: — unserer Zeit. Denn wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Nathans des Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir, daß die besten Männer unseres Volkes Helden des Geistes waren; hier gerade tut sich vor uns auf eine unselige Kluft zwischen den Gedanken unseres Volkes und seinem politischen Zustand. Erst wenn die Ideen des Nathan in unserer Gesetzgebung sich vollständig verkörpert haben, dann erst dürfen wir uns rühmen, in einer gesitteten Zeit zu leben. Wie man auch denken möge über den Inhalt von Lessings theologischem Systeme — in einem mindestens ist er schon jetzt der anerkannte Lehrer unseres ganzen Volkes: er hat die sittliche Gesinnung vorgezeichnet, daraus alle wissenschaftliche Forschung entspringen soll. Er sagte: „Ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern. Aber das weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar nicht zu lehren.” Zum Gemeinplatze geworden sind seine Aussprüche über das Recht der freien Forschung und noch hat keiner die Kühnheit jenes Wortes überboten: „Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über Gott und göttliche Dinge der bürgerlichen Gesellschaft je nachteilig geworden; nicht die Spekulationen — der Unsinn, die Tyrannei ihnen zu steuern.”
Und alle diese Werke in einer durchsichtigen Form, daraus überall das leuchtende Auge des Denkers hervorblickt. Komisch beinahe, wie in seinen ersten Werken das leidenschaftlich bewegte Herz ankämpft gegen die Steifheit des überlieferten Verses. Wie anders der der ungebundenen Rede aufs nächste verwandte Jambus des Nathan und jene Prosa, die gar nicht anders kann als die augenblickliche Stimmung des Schreibers getreulich widerspiegeln! Die augenblickliche Stimmung, sage ich, denn wenn so häufig geklagt wird über die Widersprüche in Lessings Schriften, über die Schwierigkeit, aus seinen Briefen seine Herzensmeinung herauszulesen, so kann ich in dieser Klage nur den sichersten Beweis für die Wahrhaftigkeit, die Unmittelbarkeit seiner Schreibart finden. Wie ihm zumute war, hat er geschrieben, jede Regung der Neckerei, des Widerspruchsgeistes, jeden Einfall eines halbfertigen Gedankenganges rücksichtslos herausgesprochen, jeder Übertreibung übermütig eine andere entgegengestellt. Und eben weil ihn beim Schreiben nie der Gedanke störte, als könne je die Nachwelt über seinen Schriften grübeln, eben darum ist es so leicht, den einen ganzen Menschen aus allen seinen Widersprüchen herauszufinden.
Fragen wir endlich, wie Lessing sich stellte zu dem größten Gegenstande männlicher Arbeit, zum Staate, so ließe sich wohl dawider fragen: ist es nicht genug an den politischen Taten, die ich soeben geschildert? Waren es nicht politische Taten, als er die Schranken der bestehenden Stände durchbrach, als er ein Erzieher wurde des modernen Bürgertums, als er unserem Volke ein starkes Selbstgefühl zurückgab gegenüber der Kunst der Fremden und einer Nation gedrückter Kleinbürger den unendlichen Gesichtskreis der Humanität erschloß? Gewiß, nur jene sich liberal dünkenden Pedanten, welche alles staatliche Leben allein in bestimmten Verfassungsformen enthalten glauben, werden hierauf mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja werden sich nur wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh des Gemeinwesens als seine Lust und sein[S. 129] Leid empfinde? Hier aber erscheint modernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm nicht zu, wenn er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren preußischen Kriegsliedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer entschuldigt es nicht, daß dem Mitlebenden der welthistorische Sinn des Siebenjährigen Krieges verschlossen blieb, und er darin allein den großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und doch, stellet eine Ode Ramlers oder das Lied des preußischen Grenadiers: „Auf einer Trommel saß der Held” neben jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in solchem Patriotismus nur „eine heroische Schwachheit” sah — und ihr werdet gestehen, daß auf diesem Gebiete Lessing jene ärmeren Geister um ihren Reichtum beneiden konnte: sie waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe.
Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht sich keiner gänzlich der Einwirkung des Staates. So läßt sich auch von Lessing manches Wort und manche Tat aufweisen zum Belege, daß er die Unfreiheit, die Kleinheit des deutschen Staatslebens empfand: wie er gleich seinem Geistesverwandten Thomasius hinausstürmte aus der Zahmheit und Enge des kursächsischen Wesens, wie er mit überlegenem Lächeln auf den Gegensatz des Sachsentums und Preußentums hinabsah, wie er das engherzige Mäcenatentum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig zurückwies, wie auch ihm die Klage sich entrang: wann werde Deutschland je einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken wir von solchen vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von blinden Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen wir sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den Kämpfen des Staatslebens stellten. Welche Armut der Motive hier bei ihm, der uns überall sonst durch den Reichtum poetischen Details entzückt! Wie künstlich wird doch die lebendige Fülle des Parteiwesens zugespitzt zu dem kahlen abstrakten Gegensatze von Tyrannei und Freiheit! Nicht bloß die Jugend des Dichters ist schuld an solcher Armut, die Gesinnung eines Bürgertums[S. 130] vielmehr spiegelt sich darin wider, das die werktätige Teilnahme am Staate noch nicht kannte und darum von dem Inhalt politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß. Offenbar hat Lessings Denken die politischen Fragen nur berührt, an wenigen Stellen berührt. Den Publizisten von Gewerbe rief er sogar, seinem praktischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu überlassen „dem Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur zum Weltweisen machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige machte”.
Trotzdem sind jene hingeworfenen politischen Gedanken Lessings keineswegs überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der Humanität der Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie sei herabgestiegen vom Himmel auf die Erde, so hat auch Lessing, der die alltäglichen Pflichten des Staates übersah, einige der höchsten Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine ferne Zukunft lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über und unter den Ideen der Humanität unserer Väter. Sie blickt hernieder auf ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte, aber demütig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen Sinnes voll, nach der Grenze fragten, „wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört”. Mit der traurigen Wirklichkeit, die Lessing umgab, mit dem Elend der Notstaaten, darin er lebte, entschuldigen wir es, daß auch ihm, wie allen deutschen Denkern seiner Zeit, sehr schwer ward, die Notwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch ihn jene Frage beschäftigt hat, die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger nie lange betrachten mag, die Frage: ist die Abschaffung des Staates möglich oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche vorherrschenden Privatlebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat, obwohl er erst „den Anbau der Vernunft möglich mache”, doch nur ein Mittel sei für die Bildung des einzelnen Menschen. Aber weit hinaus über den Gesichtskreis der Nachwelt selber schweift er wieder, wenn er in den Freimaurergesprächen das tiefsinnige Problem durchdenkt: wie lassen sich die Übel der Beschränktheit und[S. 131] der Härte heben, die das Bestehen mehrerer Staaten notwendig hervorruft? Wie ist eine Verbindung möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des Landes und des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen Worten, fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr der Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber? Steht nicht dies Weltbürgertum ein Todfeind gegenüber dem ersten und berechtigtsten Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler Staatenbildung? Ich denke, nein. So tiefsinnig, so überschwenglich reich ist das Leben der Staaten, daß niemals eine Geistesrichtung allein darin herrschen kann. Noch heute leben sie, jene Gedanken von dem Weltbürgertume, und eben jene dürfen sich heute Lessings getreueste Diener nennen, die — seinem Geist, nicht dem Klange seiner Rede folgend — am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken. Wenn erst von den großen Kulturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes geknechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet hat, wenn damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten Anlässe des Haders, die bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst wird jener gesicherte Verkehr der Menschen, jenes Weltbürgertum sich vollenden in einem tieferen, reicheren Sinne, als Lessing meinte, und allüberall wird man reden von seinem Sehergeiste. Dann auch wird die Welt den Kern der Wahrheit herausfinden aus einem Worte, das in dem schwer ringenden Menschengeschlechte niemals ganz sich verwirklichen darf — aus dem himmlisch milden: Was Blut kostet, ist gewiß kein Blut wert.
Und Lessing ahnte, daß Zeiten harten, aufreibenden staatlichen Kampfes unserem Volke kommen würden. Das bezeugt sein gehaltvolles Urteil über die Geschichte. Wie sicher begreift er das der Kunst verwandte Wesen der Geschichtschreibung, wenn er die Bildung des „Gelehrten und des schönen Geistes zugleich” von dem Historiker fordert. Und sollte wirklich nur eine skeptische Laune, und nicht vielmehr eine Ahnung der politischen Bedeutung historischer Wissenschaft sich aussprechen in seinem vielgescholtenen [S. 132] Paradoxon: im Grunde könne ein jeder nur der Geschichtschreiber seiner eigenen Zeit sein —? So scheinen ihm alle Vorteile umfassender archivalischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge des zeitgenössischen Geschichtschreibers, daß er seinen Menschen bis in Herz und Nieren blicken, daß er seine Leser durch die Erzählung von ihrer eigenen Schuld und Strafe im Innersten ergreifen und — vor allem — daß er eine Macht werden kann unter den Lebenden.
Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten, wie schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige Sprichwort, das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Mund ging, das Wort: „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz” hatte der Jüngling schon mit der stolzen Gegenrede abgewiesen:
Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit des Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker Sittlichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des Sittengesetzes ausschloß. Dann hat ihm der klare und heitere Geist seiner Eva König jene treue und tiefe Neigung erweckt, die mit ihrem verständigen, derb bürgerlichen Wesen in den Herzensgeschichten der Dichter ihresgleichen nicht findet. Ein Jahr einer glücklichen Ehe lehrte ihn größer von den Frauen zu denken; dann am Abend seines Lebens entrang sich ihm jene schreckliche Klage: „Meine Frau ist tot, und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß mir viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich bin ganz leicht.” Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte in sein Haus und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden, daß seine Saat aufging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren in dem Tone schlichter offener Herzlichkeit, er sah eine segensreiche Verwandlung des häuslichen Lebens und durfte sich sagen, daß er selber ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst, deren Fesseln er gebrochen? Da stürmte[S. 133] Götz von Berlichingen über die Bretter, und die Jünglinge klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des jungen Werther. Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Geschlechts zürnen und spotten über die weichen Gefühle, die seinen hellenischen Sinn nie berührt, und die Rechte der Kultur verteidigen wider Rousseaus Naturschwärmerei: — mit freudigem Verständnis hat er doch den Genius begrüßt, als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen Liedern den Sinn der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem Lichtbringer Prometheus.
Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die denkwürdige Schrift aus „Über den Zustand der deutschen Literatur”. Zu ihr möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen wiederholen, dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk. Ist es nicht genug an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute gewaltig fortwirkt in allen Zweigen unseres Volkslebens bis hinab in die Sprache und die traulichen Umgangsformen des Hauses — daß Luther der einen Hälfte der Nation der gepriesene Erretter, der anderen ein Greuel ist? Noch fern ist die Zeit — doch auch sie wird erscheinen —, wo alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen Helden in Luther begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen, den anderen Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deutschen gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwut ihn bedeckt hat. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus hat unserem großen König den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet; kein anderer als Goethe sprach das gute Wort: Friedrich der Große erst habe durch seine Taten unserem Volksleben jenen großen heroischen und nationalen Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn, der also den Stoff geboten für die neuerstandene Dichtung — hören wir ihn reden über die Kunst der Deutschen! Klagen, bittere Klagen über die form- und zuchtlose Sprache, Klagen, daß unsere Sprache noch nicht in die Schnürbrust eines Wörterbuchs der Akademie eingezwängt [S. 134] sei, daß die Dramen Shakespeares, „würdig der Wilden von Kanada”, und die „abscheulichen Plattheiten” des Götz von Berlichingen das rohe Volk erfreuen! Wir erstaunen über diesen unerhörten Beweis der französischen Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntnis der deutschen Dichtung; doch lesen wir weiter in derselben Schrift, so redet uns mächtig zum Herzen die deutsche Empfindung desselben Mannes, der bewegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armut der Kunst seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen Hoffnung. Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der Ehrgeiz der Nation erwacht, „und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle Vorhergehenden übertreffen. Ich bin wie Moses”, ruft der König am Ende, „ich sehe das gelobte Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um es je zu betreten”.
Nun halte man neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage: der Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen — in wie seltsamem Irrtum verfingen sich doch die beiden! Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Regeln, und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der Ferne das gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten darin. Desgleichen der Dichter, der so schmerzlich fragte nach dem Nationalcharakter der Deutschen — hätte er lesen können in der Seele jener preußischen Soldaten, die bei Roßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen in der Winternacht das „Herr Gott Dich loben wir” sangen, gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staatsgesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden. So standen die beiden im Nebel der Nacht: der König, der einen Lessing suchte für unsere Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unseren Staat. Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir sehen die beiden dicht nebeneinander auf demselben Wege: den Künstler, der unserer Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das moderne Staatsleben der Deutschen beginnt.
Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach[S. 135] Lessings Tode gerade sein Bildnis den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge unserer Bildnerkunst? Versuchen wir uns zu versenken in die Seele des Künstlers, dem jene Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der Toga — ihn, der das gespreizte Römertum der Franzosen erbarmungslos verspottete? Oder in dem beliebten Theatermantel — ihn, der im Leben jeden falschen Schein verschmähte? Da blieb kein Ausweg: kraftvoll, schlicht und wahrhaft wie er selber — oder gar nicht mußte Lessings Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal gefaßt, hat unserm Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Not ward ihm eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die vollendeten Linien des wallenden Haares zu zeichnen, und die Enge des kurzen Beinkleides erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. So sehen wir Lessings Bildnis vor uns — die erste Bildsäule der Deutschen, darin der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart sich in höchster Ehrlichkeit offenbart — schmucklos und stark, gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen zu reden:
Ludwig Uhland
Ist es vorteilhaft, den Genius bewirten, — wie neidenswert ist dann das Haus, das eines edlen Sängers Lied preisend gegrüßt hat! Noch leben manche, denen Ludwig Uhlands Muse ein herzliches Wort in ihr Heimwesen gesendet, aber kein Haus in Deutschland hat sie so reich beschenkt wie das königliche Haus von Württemberg. Als die schweren Hungerjahre kaum vorübergegangen, lag eine tiefe und gerechte Trauer auf dem schwäbischen Stamme um den Tod der Königin Katharina. Ihr Volk hatte von ihr das gute Wort gehört: „Helfen ist der hohe Beruf der Frau in der menschlichen Gesellschaft,” und hatte sie von Hütte zu Hütte ziehen sehen in der harten Zeit, Arbeit bringend den feiernden Händen. Vor solcher menschlichen Größe beugte sich die Muse des bürgerlichen Sängers, die sich rühmte: „Sie hat nicht Anteil an des Hofes Festen.” Fast zaghaft, unwillig, auch nur den Schein der Schmeichelei auf sich zu nehmen, trat sie unter die Trauernden und legte auf den Sarg der Königin den „Kranz von Ähren” mit einem der schönsten Gedichte deutscher Sprache:
Ein Menschenalter ging darüber hin, und im November 1862 eilten von nah und fern Leidtragende zu der Bahre des Sängers. Wer aber im Lande Württemberg seine Empfindung nach dem Winke des Hofes zu stimmen wußte, hütete sich sorglich, dem Toten, der nicht hörte, ein letztes Zeichen menschlichen Mitgefühls zu erweisen.
Gern begönne ich diese Schilderung mit einem minder bitteren Worte — wäre nur diese häßliche Tatsache eine[S. 139] vereinzelte Erscheinung! Doch leider, wenn wir der zahlreichen nationalen Erinnerungsfeste der jüngsten Jahre gedenken: wie gehässig hob sich da die Gleichgültigkeit, das schlecht verhehlte Mißtrauen der Höfe ab von der warmen Teilnahme der Menge! Der politische Parteikampf wirkt bereits verwirrend und verfälschend auf jene Gefühle, die unser Volk als einen gemeinsamen Schatz hegen sollte, er läßt den einen als fremde, unheimliche Gestalten jene Männer erscheinen, zu denen die große Mehrheit des Volkes mit herzlicher Liebe emporblickt. Nicht selten zwar haben solche Feste der Erinnerung den Ränken der Parteien, der eitlen Selbstbespiegelung als willkommener Vorwand gedient, und sehr verletzend tritt bei solchem Anlaß dem ernsten Beobachter eine traurige Schwäche unserer Gesittung entgegen: Wir modernen Menschen sind allzu bereit, auf gegebenen Anstoß gleich einer Herde alle das gleiche zu tun, das gleiche zu empfinden. Dennoch ist die Gesinnung, welche heute eine Rede, eine Schrift über Uhland nach der andern hervortreibt, in ihrem Grunde echt und tüchtig. Denn eben weil die Höfe mit anderen Augen als das Bürgertum auf unsere Geschichte blicken, eben darum sollen wir laut bezeugen: nicht wir haben es vergessen, wie rein und schön der Dichter von unserem Hause, von deutschem Land und Volk gesungen und wie wacker er für uns gefochten hat.
Wieviel heiterer und menschlicher war doch die Sitte des deutschen Hauses in den Tagen der Kindheit unseres Dichters, als vordem, da Schiller sich aufbäumte wider die Unfreiheit des schwäbischen Wesens! Ein Stilleben freilich war es, schlicht und schmucklos, das in der Enge des ehrenfesten wohlhäbigen Bürgerhauses zu Tübingen sich abspann: doch keinen gesunden Trieb des Kindes verkümmerte die verständige Zucht, und diesem Knaben am wenigsten wäre es ein Segen gewesen, hätte er ankämpfen müssen gegen erdrückenden Zwang. Denn wohl die erste Empfindung, die jedem sich aufdrängt beim Rückschauen auf dies schöne Dasein, ist das Erstaunen, wie leidenschaftslos dieser reizbaren empfänglichen Künstlerseele das Leben verlief. Selbst jene tiefe männliche Liebe, die[S. 140] Uhlands Herz erfüllte, der er so oft im Liede Worte geliehen, die Liebe zu seiner Kunst, wie gehalten und ruhig tritt sie zutage! Jahrelang konnte er harren, schmerzlos harren, bis der Gott ihn rief, und seine Dichterkraft, die man erstorben wähnte, uns mit neuen edlen Gaben beschenkte. Noch ist es nicht unnütz, diese Tatsache laut zu betonen. Denn wenigstens den Nachwehen jener Zeit der falschen Geniesucht, die auch einen Uhland unter die prosaischen Menschen verwies, begegnen wir noch heute. Immer wieder hören wir die Unterscheidung von poetischen Naturen und poetischen Talenten, und allzuoft vergißt man die triviale Wahrheit, daß schon der Name einer poetischen Natur die schöpferische Kraft bezeichnet. Wir Deutschen vornehmlich sind es uns schuldig, solche Vorurteile einer schwächlichen Epoche entschlossen abzuschütteln. Wir müßten ja, wären sie begründet, das Ungeheuerliche tun und uns selber unseren polnischen Nachbarn, die Engländer den Iren als prosaische Naturen unterordnen! Die Erscheinung freilich ist auch unter deutschen und englischen Künstlern selten, daß zu großer Kraft und Wärme der Phantasie ein gehaltenes Gleichmaß der Stimmung, nüchterner Ernst und trockene Schroffheit des Auftretens sich gesellen. Diese Verbindung des Widerstrebenden in Uhlands Bilde hat oftmals auch jene befremdet, welche bescheiden verstehen, daß in den feinsten Naturen die Charakterzüge sich am seltsamsten mischen.
Und doch verdankt der schwäbische Dichter seinem nüchternen altbürgerlichen Sinne einen guten Teil seines Ruhmes. Keine glücklichere Mitgift konnte der Sänger sich wünschen in jenen verworrenen Tagen der Romantik, die Uhlands Bildung bestimmten. Nach volkstümlichen Stoffen verlangte die junge Dichterschule; sie empfand, daß das Ideal der klassischen Dichtung unserem Volke ein fremdes sei, und das Bild der Göttin mit den Rosenwangen heute nur das Herz weniger Hochgebildeter ergreifen könne. Sehr lebhaft fühlte auch Uhland den Gegensatz der antiken und der germanischen Gesittung. Ein Aufsatz aus seiner Jugend „Über das Romantische” sagt darüber: „Die Griechen, in einem schönen genußreichen Erdstriche[S. 141] wohnend, von Natur heiter, umdrängt von einem glänzenden, tatenvollen Leben, mehr äußerlich als innerlich lebend, überall nach Begrenzung und Befriedigung trachtend, kannten und nährten nicht jene dämmernde Sehnsucht nach dem Unendlichen. Der Sohn des Nordens, den seine minder glänzenden Umgebungen nicht so ganz hinreißen mochten, stieg in sich hinab. Wenn er tiefer in sein Inneres schaute als der Grieche, so sah er eben darum nicht so klar. Er verehrte seine Götter in unscheinbaren Steinen, in wilden Eichenhainen: aber um diese Steine bewegte sich der Kreis des Unsichtbaren, durch diese Eichen wehte der Odem des Himmlischen.” — Glückliche Tage, da eine hochbegeisterte Dichterjugend auszog nach dem Wunderlande der germanischen Vorwelt und aus den lange verschütteten Schächten der mittelalterlichen Gesittung ungeahnte Schätze zutage förderte! Während heute Politik, Volkswirtschaft, Wissenschaft im Vordergrunde unseres nationalen Wirkens stehen, gab damals die Dichtung dem gesamten geistigen Leben Anstoß und Richtung.
Das vielgerühmte Weltbürgertum der Deutschen ward damals erst zur Wahrheit, seit uns das Verständnis aufging für das Gemütsleben unserer eigenen Vorzeit, seit der historische Sinn unter den Deutschen reifte. Wir lernten den Volksgeist in seinem Werden belauschen, den Glauben, die Kunst, die Sitte verschollener Tage in ihrer Notwendigkeit verstehen. Die religiöse Innigkeit der Romantik machte mit einem Schlage dem selbstgefälligen Rationalismus ein Ende, der so lange über „die Nacht des Mittelalters” vornehm gelächelt hatte. Die Hellenen der modernen Welt erbauten sich wieder an dem überschwenglichen Reichtume des Gemüts, der in den Bildwerken des Mittelalters so rührend hervorbricht aus der Gebundenheit unfertiger Formen. Das Auge der Menschen erschloß sich wieder für die feierliche Großheit der gotischen Kunst, die vordem nur von einer stillen Gemeinde hellblickender Verehrer verstanden ward. Lange hatte sich der politische Idealismus der Deutschen — wo er bestand — an den Bildern der Reformationszeit und des großen Friedrich begeistert; nur dann und wann war ein Lied von Arminius [S. 142] erklungen; jetzt umfaßte die Sehnsucht der Patrioten mit leidenschaftlicher Bewunderung die Heldengestalten der Stauferkaiser. Wir wurden wieder Herren im eigenen Hause und begriffen eben darum jetzt erst die innige Verwandtschaft der Völkerfamilie des Abendlandes. Eine neue Welt voll gemütlicher Innigkeit und Sehnsucht, voll phantastischen Zaubers und malerischer Schönheit ging den Romantikern auf: „Das Dunkelklare”, gesteht Uhland, „ist mir überall die bedeutendste Färbung, im menschlichen Auge, im Gemälde, in der Poesie, wie bei Novalis.” Auch das landschaftliche Auge des Volkes ward ein anderes. Solange Menschen leben, wird der Streit nicht enden, ob die heitere Pracht eines ionischen Tempels herrlicher sei als das ahnungsvolle Dunkel eines gotischen Domes, der zürnende Achilleus erhabener als die rächende Kriemhild. Nur in einem, in dem Verständnis der Seele der Landschaft, war die Romantik der klassischen Kunst ebenso gewiß überlegen, als ein schwellender duftiger Kranz deutscher Waldblumen tausendmal schöner ist denn jene straff gewundenen Lorbeergirlanden, welche die Bildwerke der Alten schmücken. Herzlicher, sinniger denn je ward nun von den Dichtern besungen der feierliche Ernst der Waldeinsamkeit, da die Geister des Waldes über den schweigenden Blättern weben, und der wollüstige Zauber jener Sommernächte, da der berauschende Duft der Lindenblüten dem Träumenden den Sinn verwirrt und das Mondlicht auf den bemoosten Schalen klarer Brunnen spielt, und die erhabene Pracht des Hochgebirges, wo weltbauende Mächte in den gewaltigen Formen jäh abstürzender Felsen sich offenbaren. Niemals, sicherlich auch nicht in den prosaischen ersten Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts, waren unter den Germanen gänzlich ausgestorben jene träumerischen Gemüter, die vor solchen Szenen ursprünglicher Naturschönheit von den Schauern des Weltgeheimnisses sich durchzittern ließen; aber jetzt erst ward weithin im Volke die Freude lebendig an diesen „romantischen” Reizen der Natur. Kaum ein Städtchen heute in Deutschland, das nicht irgendwo einen lauschigen Platz dem Freunde der Natur wohlumfriedigt zu stillem[S. 143] Genusse böte; die romantische Dichtung hat an dieser weiten Verbreitung des Natursinnes im Volke ein reiches Verdienst.
Vergebliche Mühe, in wenigen Worten die vielseitigen Anregungen zu schildern, die von dieser geistvollen Dichterschule ausgingen. Sie begnügte sich nicht, unserem Volke für seine Vorzeit, seine wunderreiche Sagenwelt und die Schönheit seines Landes den Sinn zu eröffnen; bald schweifte sie hinweg zu den Schätzen der Kunst aller Zeiten und aller Völker. Das Volkstümliche in der Gesittung aller Nationen begann sie zu verstehen und zu übertragen. Ihr danken wir eine unermeßliche Erweiterung unseres Gesichtskreises. Unsere harte männliche Sprache erwies sich zum Staunen der Welt zugleich als die empfänglichste, schmiegsamste, spiegelte getreulich die Schönheit jeder fremden Dichtung wider, sie nahm in ihrem Tempel gastlich die Götter aller Völker auf. Doch nach so weiten Entdeckungsfahrten war die romantische Schule unversehens zur gelehrten, dem Volke entfremdeten Dichtung geworden in einem anderen, ärgeren Sinne, als die klassische Poesie es je gewesen. Den weiblichen Naturen der Tieck und Schlegel war es eine Freude, sich zu versenken in die Träume einer untergegangenen Welt, und bald erschien ihnen nur das Fremdartige poetisch, und aus der Lust an den glücklich bewältigten künstlichen Formen der romanischen und orientalischen Dichter erwuchs unserer Dichtung, was der Sprache und dem Gemüte der Germanen am meisten zuwider ist: das virtuose Spielen mit der Form. Mehr feine, empfängliche Kunstkenner als schöpferische Künstler, wandten sich die Häupter der Schule hinweg von der sprödesten und geistigsten Gattung der Poesie, dem Drama, das vor allem einen reichen Inhalt verlangt. Als hätte nie ein Lessing gelebt, wurden die Grenzen von Poesie und Prosa wiederum verwischt, und die Überfülle der aus der Dichtung aller Völker aufgesammelten poetischen Bilder hinübergetragen in die neue Wissenschaft, die nicht mehr nach Beweisen, nur nach „Anschauungen” suchte, und in die neue Religion, die nicht mehr das Gemüt erbauen, nur den Schönheitssinn erfreuen wollte.
Vor solchen Verirrungen der Verfeinerung und Überbildung ist Uhland bewahrt worden durch seine köstliche schlichte Einfalt. Er war aufgewachsen in einer Umgebung, wie sie dem Reifen des Künstlersinnes nicht günstiger sein konnte, in einem schönen, reichen, sagenberühmten Lande, wo doch nirgends eine übermächtige Pracht der Natur den freien Sinn des Menschen erdrückt. Er ist immerdar ein Schwabe geblieben und hat der kindlichen Liebe zu seiner Heimat oftmals Worte geliehen, am rührendsten wohl in jenen Versen, die ein Tal seiner Heimat also anreden:
Wer je südwärts geschaut hat von Hohentübingen, wo der Blick die ganze Kette der Alb vom Hohenzollern bis zum Hohenstaufen beherrscht, dem wird dies edle Landschaftsbild aus Uhlands schönsten Liedern immer wieder entgegentreten. Weil seine Dichtung also natürlich emporwuchs aus dem mütterlichen Boden des schwäbischen Landes und Volkes, so bewahrte sie sich jene derbe Naturwahrheit, die den meisten Kunstwerken der Romantik sehr fern liegt: auch wo sie zarte, sanfte Stimmungen ausspricht, wird sie nur selten verschwommen. Vor langen Jahren schon ging unter den Schwaben die Rede: jedes Wort, das der Uhland gesprochen, ist uns gerecht gewesen. Die Stammgenossen erhoben den Dichter auf den Schild, über die Schultern gewöhnlicher Menschen empor; wer ihn verkleinert, kränkt den gesamten Stamm. Eben diese volkstümliche Tüchtigkeit gibt seinem Wesen eine harmonische Ruhe, eine geschlossene Festigkeit, die nur wenigen Sängern der Romantik eignet. Nicht leicht konnten die Dichter einer Schule, die so ganz in der Sehnsucht nach längst entschwundenen Tagen lebte, jene olympische Ruhe, jene selige Heiterkeit der Seele erwerben, welche dem Klassiker Goethe das Recht gab, Tadlern und Lobrednern lächelnd zu sagen: „Ich habe mich nicht selbst gemacht.” [S. 145] Wahrhaft harmonische Charaktere sind unter den Heroen der Romantik fast allein die Männer der Wissenschaft, so Savigny, die Grimms und der liebenswürdigste der Menschen, Sulpiz Boisserée; unter den Dichtern der Romantik stehen neben Uhland nur sehr wenige, deren Seele nicht getrübt ward durch einen unklaren, unfreien, friedlosen Zug.
Auch er schaute mit der inbrünstigen Sehnsucht der Menschen des Mittelalters zu dem Überirdischen empor; so recht den Herzschlag des Dichters hören wir in dem frommen Gedichte „Die verlorene Kirche”:
Aber suchte Friedrich Schlegel in jener Vorzeit den phantastischen Reiz des Alten und Fremden, einer unfreien Gesittung, so liebte Uhland das Mittelalter, weil er in ihm die ungebändigte Kraft eines ursprünglichen, farbenreichen Volkslebens und vor allem die Herrlichkeit des vaterländischen Wesens bewunderte. So wurde jener durch seine ästhetische Neigung dem freien Leben der Gegenwart entfremdet und, obwohl er am lautesten den Ruf nach volkstümlicher Dichtung erhoben, in eine undeutsche, katholische Richtung getrieben. Uhland aber ward der vornehmste Dichter jener jüngeren, kräftigeren Richtung der Romantik, welche der ursprünglichen Absicht der Meister getreuer blieb als diese selber, und in unserer Vorzeit nur das noch heute Lebendige, die deutsche Weise, bewunderte. Darum schöpfte er, gleich den Brüdern Grimm, aus der liebevollen Erforschung des deutschen Altertums Mut und Kraft zum Kampfe der deutschen Gegenwart; darum verwarf er jeden Versuch, die Formen mittelalterlicher Gesittung in unseren Tagen wieder zu erwecken, und sprach herbe Worte wider die „erzwungene Begeisterung”, als es wieder lebendig ward um den alten Krahn in Köln und der schönste aller Dome aus Schutt und Trümmern zu neuer Pracht emporstieg. — Nicht unsere klassischen Dichter, deren Werke ihn nur teilweise tiefer berührten: die Dichtungen des Mittelalters, die[S. 146] Volkslieder vornehmlich sind seine Lehrer gewesen, und mit diesen Worten ist auch sein Platz in der Geschichte unserer Dichtung bezeichnet. Es ist wahr, schon Goethes lyrische Muse hatte viele ihrer herrlichsten Klänge dem deutschen Volksliede abgelauscht. Aber für Goethes geniale Vielseitigkeit war diese Anregung nur eine unter vielen anderen, ja im Alter stellte er sich zornig dem romantischen Nachwuchs als einen „Plastiker” gegenüber; Uhland dagegen hat das Eigenste seiner Kraft an den Gedichten des Mittelalters gebildet. Sie wirkten auf den Mann kaum minder mächtig als auf den Knaben an jenem Tage, da er zuerst das Nibelungenlied vortragen hörte und, so sagt man, in tiefer Bewegung aus dem Zimmer eilte. An dem Liede von Walther und Hildegunde fand er als Student zuerst eine Poesie, die sein innerstes Wesen ergriff. „Das hat in mich eingeschlagen,” bekennt er. „Was die klassischen Dichtwerke trotz meines eifrigen Lesens mir nicht geben konnten, weil sie mir zu klar, zu fertig dastunden, was ich an der neueren Poesie mit all ihrem rhetorischen Schmucke vermißte, das fand ich hier: frische Bilder und Gestalten mit einem tiefen Hintergrunde, der die Phantasie beschäftigte und ansprach!”
So ward ihm das hohe Glück, inmitten einer überbildeten, nach den fremdesten und fernsten Reizen jagenden Kunst einen festen Kreis edler Stoffe zu beherrschen, welche darum unfehlbar wirken mußten, weil ein ganzes Volk sie durch Jahrhunderte gehegt und gebildet hatte. Und noch schärfer sogar schied er sich ab von den älteren Romantikern durch seine Weise, die Form der Kunst zu handhaben. Sein feines Ohr empfand, daß eine Sprache voll Härten des musikalischen Wohlklangs der romanischen Rede nur bis zu einem gewissen Grade fähig sei. Auch er hat Sonette und Glossen gedichtet und die Assonanz statt des Reimes gewagt; aber ungleich maßvoller als die Tieck und Schlegel brauchte er diese fremden Formen, und nach uralter, deutscher Weise war ihm in der Kunst der Inhalt das Bestimmende. Wäre ihm in seinem „Sängerstreite” mit Rückert statt der guten Sache: „Falschheit [S. 147] kränket mehr denn Tod”, die schlechte Meinung: „Eh’r falsch als tot”, zur Verteidigung zugeteilt worden: er hätte sicherlich nicht jene kunstvollen, feinen Wendungen gefunden, wodurch sein Gegner sich zu decken wußte; ein Scherz vielmehr hätte ihm aus der Not helfen müssen. Schon im Jahre 1812 lobte er sich die „ursprünglich deutsche Art”, die Innigkeit der Empfindung, im Gegensatz zu der formen- und bilderreichen Dichtung des Südens. Der alte Spruch: „Schlicht Wort und gut Gemüt ist das echte deutsche Lied”, war ihm fortan der Wahlspruch seiner Kunst. Die einfacheren Formen aber, die er dem Genius unserer Sprache gemäß fand, hat er mit vollendeter Kunst beherrscht, während Tieck mitten in der gesuchten Formkünstelei oftmals sogar die Korrektheit vermissen läßt. Und gelang es der älteren Romantik, weil nur ein ästhetisches Wohlgefallen sie zu dem deutschen Altertume führte, sehr selten die naive Weise des Mittelalters zu treffen, so wußte Uhland, weil er mit ganzer Seele in jene Vorzeit sich versenkte, seine Mären so glücklich in treuherzig altertümlichem Tone vorzutragen, daß wir heute kaum noch begreifen, wie solche Stoffe jemals anders dargestellt werden konnten. Sein natürliches, wissenschaftlich geschultes Sprachtalent hat unserer modernen Dichtung eine Fülle schöner altertümlicher Wendungen und Wörter neu geschenkt, davon die junge Welt kaum weiß, daß sie uns einst verloren waren. Seinem strengen Formensinne war ein Greuel jenes phantastische Verzerren der Natur, jenes Spielen mit „duftenden Farben” und „tönenden Blumen”, das die Romantik liebte. Feste, starke Umrisse gab er, wo es not tat, seinen Gestalten, also daß wir aus manchen seiner Gedichte den tüchtigen Zeichner erkennen, der in der Ausübung der bildenden Kunst sein Formgefühl schulte. Mit Recht hat man ihn darum einen Klassiker unter den Romantikern geheißen.
Dieser ernste Künstlersinn offenbarte sich vornehmlich in Uhlands weiser Selbstbeschränkung, einer antiken Tugend, die uns Modernen nicht leicht fällt. Ein Künstler von Grund aus und ein denkender Künstler, wie jede[S. 148] Zeile seiner Gedichte zeigt, hat er vielleicht weniger als irgendeiner unserer namhaften Dichter die Neigung zur Kritik und literarischen Fehde verspürt. Auf das Können, das ganze und rechte Können ging er aus; er am wenigsten wollte das Schlagwort der romantischen Dilettanten gelten lassen, daß man ein Dichter sein könne, ohne je einen Vers geschrieben zu haben. „Größeren Gedichts Entfaltungen” hatte er einst in jugendlicher Zuversicht seinen Lesern versprochen; doch als ihn die ersten Versuche belehrten, daß ihm die dramatische Kraft versagt sei, zog er sich zurück auf die Lyrik und das lyrische Epos. Er begnügte sich, auf diesem engen Gebiete Mustergültiges zu leisten, derweil die Chorführer der Romantik nach allen höchsten Kränzen der Kunst zugleich die Hand ausstreckten, ja in Plänen ganz neuer Kunstformen sich verloren und, im Grenzenlosen schweifend, nur wenig in sich Vollendetes schufen.
Den letzten Grund aber dieses tiefgreifenden Unterschieds zwischen Uhland und der Schlegel-Tieckschen Richtung verstehen wir erst, wenn wir erkennen: in Uhland lebte ein tief sittlicher, tatkräftiger Ernst, der die tatlose, ironische Weltanschauung der Romantik schlechthin verwarf. Solchem sittlichen Pathos hatte einst Schiller die Liebe des Volkes verdankt, obwohl er sehr selten volkstümliche Stoffe besang. Denn mit unfehlbarer Sicherheit empfindet das Volk — unter den Germanen mindestens —, ob ein Künstler mit seinen Bildern bloß geistreich spielt oder ob er sein Herzblut ausströmen läßt in seine Gedichte, und noch hat niemand durch ein feines Spiel sich des Volkes Herz erobert. In der Form allerdings hat Schillers hochpathetische Weise nicht das mindeste gemein mit dem naiven, einfachen Wesen der Uhlandschen Dichtung, das der Weise Bürgers und Goethes weit näher steht. Schillers Geist aber, sein sittlicher Ernst, seine kühne Richtung auf die Gegenwart und ihr öffentliches Leben, ward in Uhland und den Sängern der Freiheitskriege aufs neue lebendig. Darum ward Uhland durch seine romantischen Neigungen nicht gehindert, in der Wissenschaft ein nüchterner methodischer Forscher, im Leben ein[S. 149] Verfechter des modernen Staatsgedankens zu sein. Mit sicherem Takte wußte er Leben und Dichtung auseinanderzuhalten, und jeder mystischen Liebhaberei der romantischen Genossen stellte er seinen derben protestantischen Unglauben gegenüber. Wenn Justinus Kerner von dem „Geiste der Mitternacht” erzählte, dann lachte Uhland, dann war er selber „der Zechgesell, der keinem glaubt”. Und wurde er ja einmal durch eine Erzählung von geheimnisvollen Naturwundern zum Liede begeistert, wie schön wußte er dann seinen Stoff aus dem trüben dumpfen Traumleben in eine freiere durchgeistigte Luft zu erheben! Als ihm berichtet ward von dem Mädchen, das im Mohnfelde schlief und, erwacht, mitten im lauten Leben weiter träumte, so ward ihm dies ein Anlaß, das Schlafwandeln des Dichters zu schildern, dem das Leben zum Bilde, das Wirkliche zum Traume wird:
In unseren nüchternen Tagen vermag auch ein flacher Kopf die Schwächen der Romantik leicht zu durchschauen, und oft vergessen wir, wie tief wir in ihrer Schuld stehen. Jene geistig hoch erregten Tage durften sich, nach Immermanns wahrem Geständnis, einer Dichtigkeit des Daseins rühmen, die unserem schnell lebenden, unruhig nach außen wirkenden Geschlechte verloren ist. Noch war die Welt von Schönheit trunken, noch galt ein edles Gedicht als ein Ereignis, das tausend Herzen froh bewegte, und auch die Häupter der romantischen Schule umstrahlt noch etwas von dem Glanze der glückseligen Zeit von Weimar, „wo der bekränzte Liebling der Kamönen der innern Welt geweihte Glut ergoß”. Aber eine Dichterschule kann durch eine Fülle neuer Gedanken und Anschauungen, die sie in das Volk warf, die Nation zum bleibenden Danke verpflichten und dennoch an echten Kunstwerken sehr arm sein. Stellte nun einer die Frage: Welche Kunstwerke der romantischen Epoche sind nicht bloß historisch wichtig durch die Anregung, die sie unserem Volksgeiste gaben, sondern in sich vollendet und unsterblich? [S. 150] — so würde ein ganz schonungsloses Urteil doch nur die Antwort finden: einige meisterhafte Übertragungen und Nachbildungen fremdländischer Dichtung und — die lyrischen Gedichte Uhlands und einiger ihm verwandter Sänger.
Als Chamisso in Paris im Jahre 1810 den dreiundzwanzigjährigen Uhland kennen lernte, schrieb er mit seiner liebenswürdigen Laune einem Freunde: „Es gibt vortreffliche Gedichte, die jeder schreibt und keiner liest; doch hier ist einer, der macht Gedichte, die keiner schreibt und jeder liest.” Und langsam, aber einmütiger von Jahr zu Jahr, begann die Nation in das Lob einzustimmen, als fünf Jahre später die „Gedichte” erschienen waren. Den Weg zum Herzen seines Volkes hat der Dichter zuerst gefunden durch jene Lieder, welche der Weise des alten Volksliedes so treu, so naiv nachgebildet waren, wie es vordem nur Goethe verstanden. Er hat zuerst in weiteren Kreisen das Verständnis wieder erweckt für diese volkstümlichen Klänge, und wenn Eichendorff und Wilhelm Müller selbständig, unabhängig von Uhland ihr lyrisches Talent bildeten, so danken sie ihm doch, daß das Volk ihren Liedern froh bewegt lauschte. Schien es doch, als wäre die unselige Kluft wieder überbrückt, die heute die Gebildeten und die Ungebildeten unseres Volkes scheidet, als tönte der Gesang, von namenlosen fahrenden Schülern erfunden, unmittelbar aus der Seele des Volkes heraus. Unwillkürlich fragte der Hörer, ob nicht am Schlusse des Sanges ein Vers hinweggefallen sei, das alte treuherzige:
Der Gesang ist heute, wie zur Zeit der italienischen Renaissance die Redekunst, die geselligste der Künste. Das arme Volk liest wenig, am wenigsten Gedichte; fast allein durch den Gesang wird ihm das Tor geöffnet zu der Schatzkammer deutscher Poesie. An Kunstwert stehen Uhlands [S. 151] erzählende Gedichte seinen Liedern ohne Zweifel gleich; aber die Bedeutung des Mannes für die Gesittung unseres Volkes beruht vornehmlich auf den Liedern. Sie haben dem Sänger den schönsten Nachruhm gebracht, der dem lyrischen Dichter beschieden ist. Sie leben in ihrer leichten sangbaren Form im Munde von Tausenden, die seinen Namen nie gehört, sie klingen wider, wo immer Deutsche fröhlich in die Weite ziehen oder zum heiteren Gelage sich scharen. Es war eine Stunde seliger Genugtuung, als er einmal auf der Wanderung durch die Hardt in den Klostertrümmern von Limburg unerkannt rastete und seine eignen Lieder, von jugendlichen Stimmen gesungen, durch das Gewölbe schallten. Alle die hoffnungsvollen Anfänge freier, volkstümlicher Geselligkeit, welche heute das Nahen einer menschlicheren Gesittung verkünden, alle die fröhlichen Fahrten und Feste unserer Sänger und Turner und Schützen danken einen guten Teil ihres poetischen Reizes dem schwäbischen Sänger; kein Wunder, daß er selber sich an solcher Volksfreude nicht satt sehen konnte. Fast deucht uns ein Märchen, daß es einst eine Zeit gegeben, wo am Beiwachtfeuer deutscher Soldaten das Lied noch nicht erklang: „Ich hatt’ einen Kameraden”, daß einst deutsche Handwerksburschen über den Rhein gezogen sind, die noch nicht sangen von den „drei Burschen”.
Doch sehen wir näher zu, so finden wir auch in dem einfachsten dieser Lieder einen entscheidenden Zug — eine kunstvolle Steigerung, einen schlagenden Abschluß —, der das Gedicht alsbald auf die Höhe der Kunstpoesie erhebt und mit so großer Innigkeit und Frische den durchgebildeten Verstand des Künstlers gepaart zeigt. Demselben Lehrer, dem deutschen Volksliede, hat Uhland auch die Kunst der gemütlich bewegten Erzählung abgesehen. Er vermag es, einen kleinen anekdotenhaften Zug mit so viel schalkhafter Anmut zu einer Ballade zu erweitern, wie vor ihm wieder nur Goethe. Sein Eigenstes und Schönstes schuf er in der erzählenden Dichtung dann, wenn er sich ein Herz faßte und die trotzige, reckenhafte Kraft der deutschen Heldenzeit derb und mit Laune darstellte,[S. 152] wie in den Rolandsliedern, wohl seinen besten Balladen. Und wie das Volkslied nicht in die Grenzen eines Landes gebannt bleibt, sondern der Sang von Liebeslust und -leid, von Heldenzorn und Heldentod durch alle Völker wandert und in der Fremde sich umbildet, so hat auch Uhland sein deutsches Wesen nicht verleugnet, wenn er fremdländische Sagenstoffe besang. Sein Gesichtskreis umfaßte das gesamte Altertum der christlich-germanischen Völker; nur sehr selten hat ihn ein Bild der antiken Gesittung zum Liede begeistert, und gänzlich fern lag seinem deutschen Gemüte die Sagenwelt des Orientes, wie sehr sie auch den Meister der Form verlocken mochte. Sehr tief hatte er sich eingelebt in den Geist der südländischen Sänger des Mittelalters: durch das liebliche Gedicht „Ritter Paris” weht ein Hauch schalkhafter Grazie, darum ihn jeder Troubadour beneiden könnte. Fast scheint es, wenn Uhland die Mären der liederfreudigen Provence nachdichtet, als singe hier wirklich ein alter Südfranzose, als erfülle sich die wehmütige Verheißung des modernen provençalischen Dichters: O moun pais, bello Prouvenço, toun dous parla pou pas mouri. Und doch ist dies nur ein Schein: aus Uhlands südländischen Gedichten so gut wie aus seinen angelsächsischen und nordfranzösischen Balladen weht uns heimatliche Luft entgegen, er behandelt diese fremden Stoffe mit der gemütlichen Innigkeit und in der tief bewegten Weise der Germanen, nicht mit der feierlichen Grandezza und dem rhetorischen Pathos südlicher Romanzen.
Nicht immer freilich ist ihm dies gelungen. Oft nahm er aus den romanischen Stoffen auch legendenhafte Wundergeschichten mit herüber, die den modernen Hörer kalt lassen, oder häßlich phantastische Züge: — so steht in dem schönen Zyklus „Sängerliebe” fremd und verletzend die Romanze von dem Kastellan von Couci, dessen Herz von seiner Geliebten verspeist wird. Manchmal — was uns noch mehr abstößt — schleichen sich mit den fremden Bildern auch fremde Empfindungen in seine Seele. Vor dem Bilde des „Wallers” oder der trauernden Nonne, die entsagt und betet „bis ihre Augenlider im[S. 153] Tode fielen zu”, steht der gesunde Sinn der modernen Deutschen befremdet still: was gilt sie uns, diese zugleich schwächliche und überschwengliche Empfindung der Vorzeit der Romanen? Ja sogar unter den Balladen, die auf deutschem Boden spielen, finden sich neben vielen ursprünglichen Schilderungen deutscher Kraft und deutscher Laune doch auch einige sentimentale Gedichte von sehnsüchtigen Mädchen und trauernden Königen, die uns kein festes Bild hinterlassen. Desgleichen, wenn wir an seinen Liedern das innige Naturgefühl und die tief bewegte Stimmung bewundern, so scheinen uns doch einzelne inhaltslos, wir wünschten, der Dichter hätte nicht bloß sein bewegtes Herz, sondern sein reiches Herz gezeigt. Solche Mängel mochte Goethe im Auge haben, wenn er in Augenblicken übler Laune sehr hart und bitter von der Uhlandschen Dichtung sprach. Doch all diesen Schwächen hat der Dichter selber die beste Verteidigung geschrieben:
Uns freilich, unserem derben historischen Realismus fällt es leicht zu erkennen, wann Uhland die harten, barocken Züge unserer Vorzeit verwischt hat. Wir lächeln, wenn uns in Erzählungen aus dem Mittelalter, dieser treulosesten aller Zeiten, von deutscher Treue überschwenglich geredet wird, und seit die fortschreitende Kultur das Haar unserer Mädchen gebräunt hat, fällt uns die ausschließliche Begeisterung für blondes Haar und blaue Augen so schwer, wie die übermäßige Freude an den Rosen und Gelbveigelein. Aber frage sich jeder, ob auch das Unsterbliche in Uhlands Gedichten geschaffen werden konnte von einem Dichter, der minder treuherzig für das biderbe Mittelalter schwärmte, der weniger unbefangen sich begeisterte für „Jugend, Frühling, Festpokal, Mädchen in der holden Blüte”? In unseren rauheren Tagen geht auch der Jugend diese naive Schwärmerei sehr rasch verloren, doch darum mangelt auch unseren [S. 154] neuen Lyrikern die Jugendfrische, die herzbewegende Innigkeit des alten Sängers. Und wie verschwindend gering ist doch die Zahl jener Gedichte, welche auch Uhland angekränkelt zeigen von der unklaren Gefühlsseligkeit seiner Zeit! Nur Heinrich Heines Gehässigkeit konnte aus dem Liede: „Ade, du Schäfer mein” den Grundton der Uhlandschen Dichtung heraushören. Neben dies eine Lied — beiläufig eines seiner allerfrühesten Jugendgedichte — stellen sich hundert andere voll mannhafter Kraft und unverwüstlicher Lebenslust.
Gern verstummt die Kritik vor diesen Gedichten; über ihnen liegt der Zauber einer völlig abgeschlossenen Bildung. Sie sind das getreue Spiegelbild der edelsten Empfindungen einer reichen Zeit, die wir mit allen ihren Verirrungen aus unserer Geschichte nicht missen können, nicht streichen wollen: die alte Burschenschaft vornehmlich lebt nur noch in den Liedern Uhlands und seiner Genossen. Ist auch jene Gesittung in unserem Volke längst einer anderen, härteren gewichen: tot ist sie darum nicht. In allen neueren Völkern sehen wir eine seltsame Erscheinung, welche dem modernen Menschen gar sehr erschwert, sich auf seine eigenen Füße zu stellen. Gedanken und Anschauungen, die das Volk längst überwunden, kehren in dem Leben des einzelnen wieder als Momente seiner persönlichen Entwicklung. Längst vorüber sind unserer Nation die Tage der Romantik und des jungdeutschen Weltschmerzes; aber noch heute kommt kein geistreicher Deutscher zu seinen Jahren, der nicht einmal, wehmütig wie ein Uhlandscher Bursch, dem scheidenden Freunde das Geleite gegeben und später mit Byronschem Übermute sich aufgelehnt hätte wider die Unnatur der „alternden Welt”. Dem Manne ziemt, die Gedanken seiner Jugend zu überwinden, nicht, wie man heute liebt, sie zu schelten; denn ihnen dankt er, daß er ein Mann geworden. Wir wären die Deutschen nicht mehr, die wir sind, wenn je an der lauten Tafelrunde unserer Burschen die stürmische Weise nicht mehr erklänge: „Wir sind nicht mehr beim ersten Glas.” Und mir graut, wenn ich mir vorstelle, es könnte je die Zeit kommen, da der deutsche[S. 155] Jüngling zu verständig wäre, um in der heißen Sehnsucht herzlicher Liebe zu singen:
Was die klugen Leute die unbestimmte nebelhafte Weise von Uhlands Lyrik nennen, ist oftmals nichts anderes als das Wesen aller lyrischen Dichtung selber: jene hocherregte Stimmung die den Leser geheimnisvoll ergreift und ihm einen Ausblick gewährt in das Unendliche. Oder wäre es nötig, auch nur ein Wort zu verlieren gegen jene Barbarei, die Uhland darum getadelt hat, daß seine Lieder sich der Musik so willig fügen? In dem Gedichte „Traum”, das man auch oft allzu weichlich gescholten hat, liegt doch nichts anderes als der überaus glückliche Ausdruck einer Stimmung, die unserem Volke von Anbeginn im Blute liegt. Die Klage um die Vergänglichkeit irdischer Lust wird von unserer gesamten Dichtung, dem Volksliede insbesondere, in tausend Formen wiederholt und ist selten rührender ausgesprochen worden als in dieser Vision von der Abfahrt der „Wonnen und Freuden”:
Und wieder, wie köstlich heben sich ab von diesen weichen Tönen der Sehnsucht die Klänge neckischer Lebenslust! Nicht nur die Weise des derben Spottes weiß der Dichter anzuschlagen, auch das harmlose, sozusagen gegenstandslose Spielen der Laune hat er den „Lügenliedern” unseres Volkes abgelauscht, und aus manchen seiner Gesänge klingt uns die alte lustige Weise entgegen: „Ich will anheben und will nicht lügen: ich sah drei gebratene Tauben fliegen.” —
„Niemand taugt ohne Freude!” Wie sollte Uhland nicht zu dem guten Worte sich bekennen! Kein Geringerer hat es ja gesprochen als Walther von der Vogelweide, den er[S. 156] als seinen liebsten Lehrer verehrte. Daß Uhland mit anderem, moderneren Sinn als die Tieck und Schlegel auf das geliebte Mittelalter zurücksah, das erkennen wir am leichtesten an dieser Vorliebe für Walther, den vielleicht freiesten Geist des deutschen Mittelalters, der mit seiner hellen bewußten Empfindung uns Neueren näher steht als irgendeiner seiner Zeitgenossen. Und mannigfach, offenbar, war die Verwandtschaft der beiden. Ein Meister der Form in der Dichtkunst, aber „mehr gestaltend als bilderreich”, hat Walther gleich seinem späteren Schüler seine Herrschaft über die Form nie mißbraucht zu leerem Spiele mit dem Wohllaut der Sprache. Die Form ward ihm geschaffen durch den Inhalt, seine prächtigen volltönenden Weisen versparte er, bis es galt Könige zu preisen oder die auserwählten schönsten der Frauen. Uhland, der so warm und traulich die behagliche Enge des häuslichen Lebens besang, spottete doch bitterlich des Dichters, der in einer Welt des Kampfes nur „sein groß, zerrissen Herz” zu betrachten wußte. Auch hierin war ihm der alte Sänger ein Lehrer gewesen: — der politische Dichter, der „in seinem besonderen Leben das öffentliche spiegelte” und aus voller Kehle seines Landes Ruhm sang: „Deutsche Mann sind wohlerzogen, gleich den Engeln sind die Weib getan.” Sehr ungleich freilich waren den beiden die Gaben des Glücks zugeteilt, und wir freuen uns der freieren Gesittung der Gegenwart, wenn wir den stolzen, seßhaften, mit seinem Könige kämpfenden Bürger unserer Tage mit dem fahrenden Ritter vergleichen, der Herberg und Gaben heischend von Burg zu Burg zieht und, als ihm endlich eines Fürsten Gnade eine kleine Hofstatt geschenkt, jubelnd in die Weite ruft: „Ich hab’ ein Lehen, all’ die Welt, ich hab’ ein Lehen.” Auch darin waren die beiden verschieden geartet, daß Walthers höchste Kraft in dem Spruche, dem Sinngedichte sich bewährte. Dem modernen Dichter dagegen ist zwar auch manches glückliche Sinngedicht gelungen, so jenes liebliche „Verspätete Hochzeitslied”, das wirklich aus der Not eine Tugend zu machen weiß und die Säumnis des Sängers also entschuldigt:
doch niemand wird in Uhlands Sinngedichten, denen oftmals die rechte lakonische Kraft fehlt, das Eigenste seines Talentes suchen.
Es war ein Liederfrühling kurz und reich. Ein edles Bild der Jugend war Uhlands Dichtung gewesen, und als mit den Jahren diese jugendlichen Gefühle ihm seltener das Herz schwellten, hörte er auf zu singen. Nach seinem dreißigsten Jahre sind nur wenige seiner Gedichte entstanden. Darunter allerdings einige seiner schönsten Romanzen, und auch die rührenden Naturlaute zarter inniger Empfindung entflossen noch dann und wann dem Munde des gereiften Mannes, so damals, da ihm in einem Sommer beide Eltern starben und er beim Anblick eines fallenden Blattes die wie im Winde verwehende Klage schrieb:
Es ist müßig, ihn darum zu preisen, daß seine Formgewandtheit ihn nicht verführt hat zu Schöpfungen, die das Gepräge der Notwendigkeit nicht mehr getragen hätten. Wir müssen sagen, er konnte nicht anders als schweigen, wenn der Gott ihn nicht rief. Schon der junge Mann gesteht: „Zu jeder ästhetischen, wenn auch nicht produktiven Arbeit ist eine Stimmung erforderlich, welche die launische Stunde nach Willkür gibt oder versagt.” Einmal erregt pflegte seine dichterische Kraft lange anzuhalten, es war, als ob ein Lied das andere weckte. Sein Wesen läßt sich nur mit dem französischen entier bezeichnen. Jeder Gedanke, jede Beschäftigung nahm ihn ganz und auf die Dauer dahin, selbst die politischen Arbeiten raubten ihm, einmal begonnen, die Lust zu anderem Tun.
Doch wenn seine Dichtung allmählich verstummte, umso lauter erhob der Chor seiner Nachfolger die Stimme, und da ein literarhistorisches Zeitalter jeden Künstler säuberlich in einer Schublade unterbringen muß, so mußte auch er, der dem Unwesen der literarischen Kameradschaft immer gram war, als das Haupt der „schwäbischen Dichterschule” gelten und — manche Sünden seiner Nachfahren entgelten. Wohl waren diese Sänger alle getränkt von dem warmen Naturgefühle ihrer Heimat, und mit gerechtem Stolze konnte Justinus Kerner rufen:
Wie sie einst mit gesundem schwäbischen Sinne gegenüber der Phantasterei der Schlegelschen Richtung ihre protestantische Nüchternheit bewahrt, so haben sie später die reinen Formen der lyrischen Dichtung gerettet, als der Feuilletonstil des jungen Deutschlands alle Kunstformen zu verwischen drohte; sie haben deutsches Wesen und züchtige Sitte getreu behauptet, während der weltbürgerliche Radikalismus und die französischen Emanzipationslehren über uns hereinbrachen. Aber mit der unermüdlichen Fertigkeit der Meistersänger wurde jetzt der so leicht nachzuahmende, so schwer zu erreichende Balladenstil Uhlands nachgebildet. Die poetische Stimmung, jenes „Dunkelklare”, geht manchen gereimten Geschichtserzählungen der Schüler verloren. Die geringe Empfänglichkeit für die Schönheit der Antike war Uhlands natürlicher plastischer Kraft ungefährlich gewesen, bei den Nachfolgern bestraft sie sich durch die unklare verschwommene Zeichnung. Schon dem Meister war das hinreißende Pathos großer Leidenschaft versagt, ihm fehlte der Trieb, das Geheimnis der Weltenleitung in schweren Seelenkämpfen zu ergründen; bei vielen der Späteren erscheinen diese Schwächen geradezu als platte Gemütlichkeit und Gedankenarmut, wofür Frische und Natürlichkeit der Darstellung keinen Ersatz gewähren. Wie überhaupt die[S. 159] Kunst, mit Halbwahrheiten virtuos zu spielen, den boshaften Satiren Heinrich Heines ihren gefährlichen Reiz verleiht, so ist auch eine halbe Wahrheit sicherlich enthalten in jener Schmähschrift, welche den Spott des Übermütigen über die Geistesarmut der schwäbischen Schule ergoß. Als endlich in Schwaben jeder Fels, wo ein Ritter den andern erschlug, seinen Sänger gefunden hatte, und die Düsseldorfer Maler unsere Galerien immer wieder mit sehnsüchtigen blonden Mädchen und trauernden letzten Rittern ihres Stammes bevölkerten, da entstand — wesentlich gefördert durch die Überproduktion der schwäbischen Schule — in unseren tüchtigsten Männern der weit verbreitete, beklagenswerte Widerwille gegen alle lyrische Dichtung. Bei solchem Sinne der Männer ist Uhland heute allerdings vornehmlich ein Liebling unserer Jugend, während Béranger, der oft mit ihm Verglichene, auch dem älteren Geschlechte unter seinen Landsleuten noch jetzt aus der Seele redet. Aber, ein leichtsinniges Pariser Kind, huldigt dieser gleich willig den edlen wie den unwürdigen Leidenschaften seines Volkes: des deutschen Dichters lauterer Sinn hat nur der reinen Begeisterung der Jugend Worte geliehen. —
„Augen wie ein Kind hat der Alte” hören wir oft die Jüngeren erstaunt sagen, wenn sie die verwitterten Züge eines Soldaten der Freiheitskriege erblicken. In der Tat, eine seltene Frische und jugendliche Reinheit der Empfindung, die so nicht wiedergekehrt ist, bildet den entscheidenden Charakterzug jenes Geschlechtes, und sie ist auch der schönste Reiz von Uhlands Dramen. Fremd zugleich und liebenswürdig klingt unserem kurz angebundenen Wesen der zärtliche Erguß der Freundschaft Ernsts von Schwaben an der Leiche seines Werners:
oder die edle Resignation Friedrichs von Österreich, der sich freut:
An ähnlichen Zügen hoher lyrischer Schönheit sind die beiden Dramen reich. Sogar die Landschaft spielt mit, nach der Weise der lyrischen Dichtung; sie spiegelt wider oder hebt durch den Kontrast die Leidenschaften der dramatischen Helden. Nicht minder kommt des Dichters episches Talent zur Entfaltung in den zahlreich eingestreuten Erzählungen — kleinen Romanzen, die überall eine große Anmut und Sicherheit der Zeichnung verraten; ja die gesamte Weltanschauung des Dichters ist episch; seinen Kaiser schildert er nach homerischer Weise und mit den Worten des mittelalterlichen Erzählers:
Das eigentlich dramatische Talent dagegen hat sich Uhland in edler Bescheidenheit selbst abgesprochen. Nimmermehr wird es blinden Bewunderern gelingen, diesem Bekenntnisse des Dichters sein Gewicht zu nehmen. Uhland deshalb zu den ersten Dramatikern der Deutschen zählen, weil seine Dramen „nationale” Stoffe behandeln, das heißt prosaisch am Stoffe kleben und das Wesen aller Kunst verkennen. Wie im Wettstreit der Rede der ärmere Geist, der die Hörer durch rednerischen Schwung bezaubert, unfehlbar und mit vollem Rechte den helleren Kopf besiegt, welchem die hinreißende Gewalt der Rede fehlt: ebenso und mit gleichem Rechte triumphiert auf den Brettern der bühnenkundige dramatische Handwerker über den echten Dichter, der die Kunst der dramatischen Aufregung nicht versteht. So recht das Gegenteil jenes durchgreifenden, revolutionären Eifers, der den dramatischen Helden macht, ist die zähe Kraft des treuen Beharrens, welche das Pathos der Helden Uhlands bildet. Und wieder so recht das Gegenteil jener ganz bestimmten endlichen Zwecke, welche der dramatische Held verfolgen soll, ist jene gegenstandslose sittliche Begeisterung, die einen guten Plan verwirft, weil nichts darin zu finden sei, „nichts, was begeistern könnt’ ein edles Herz”. Nur selten zeigt Uhlands Dialog das dramatische Platzen der Geister aufeinander; mit vorgefaßten Entschlüssen treten zumeist seine Menschen auf die Bühne,[S. 161] erzählen, sprechen ihre Empfindungen aus und die Szene schließt oft ohne jedes dramatische Ergebnis. Auch widerstrebt es dem warmen Herzen des Dichters, das Böse mit dem unbefangenen Behagen des Dramatikers zu schildern. Die politischen Pläne, die er seinen Helden in die Seele legt, erscheinen als Beiwerk, nicht als ein Pathos, das den ganzen Menschen erfüllt. Auf der Bühne tritt den modernen Hörern das fremdartige Wesen der Kulturformen und der Empfindungen des Mittelalters sehr auffällig entgegen, um so auffälliger, da der Dichter manche Szenen — den Kirchenbann, den Ritterschlag — sichtlich nur deshalb mit Vorliebe behandelt hat, weil der romantische Reiz des fremden Kostüms ihn lockte, nicht weil sie dramatisch notwendig waren.
Dergestalt sind diese Dramen rasch von der Bühne verschwunden. Dem Leser wird ihre lyrische Schönheit immer teuer bleiben, und eben darum wird er mit reinerer Freude vor dem älteren der beiden Werke verweilen. Willig vergißt er den verfehlten Bau des „Ernst von Schwaben”, dessen Handlung mit dem Höhepunkte beginnt, denn gar zu liebenswürdig tritt uns aus dem Bilde der beiden treuen Freunde das warme reine Herz des Dichters entgegen. Das Schauspiel „Ludwig der Bayer” ist, obwohl es Schritt für Schritt den Berichten der alten Chronisten folgt, doch weit kunstgerechter gebaut als das Erstlingsdrama, und ohne Zweifel hat keiner der späteren Bearbeiter dieser undramatischen Fabel den schwäbischen Dichter erreicht. Aber der spröde Stoff gewährte hier Uhlands lyrischem Talente weniger Spielraum. Am reichsten entfaltet sich diese Begabung in dem Fragmente „Konradin”. Keine andere Fabel unserer Geschichte kam allen Idealen dieses Dichters und dieser Zeit so willig entgegen. Noch ein anderes schönes Bruchstück hat er uns hinterlassen, das kleine Epos „Fortunat”. Es ist lehrreich, zu beobachten, wie auch ein so schlichter, aller Paradoxie abgeneigter Dichtergeist durch den Reiz des Kontrastes zum Gesange begeistert werden kann. Diese übermütigen, mutwilligen Verse entstanden dem ernsten, strengen Manne in Tagen schwerer Sorge um Haus und Staat. Aber[S. 162] seltsam, wie er, der in seinen kleinen Gedichten uns durch die gedrungene Kürze der Darstellung in Erstaunen setzt, bei größeren Entwürfen ins Weite zu gehen liebte. Schon der zweite Gesang des Fortunat ist eine Abschweifung nach Ariostischer Weise, und eben deshalb mag auch die Vollendung des anmutigen Gedichts unterblieben sein.
Der Dichtung Uhlands schaut keiner auf den Grund, der nicht Kunde hat von seinem wissenschaftlichen Wirken. Er selber sagte scharf: „wer sich nicht mit meinen Studien befaßt hat, kann auch nicht über mich schreiben.” Die lebensvolle poetische Schilderung unserer Vorwelt erwuchs ihm aus gründlicher gelehrter Kenntnis. Wohl durfte er von seinen alten Büchern rühmen: „Durch ihre Zeilen windet ein grüner Pfad sich weit.” Dank den Romantikern: nicht mehr eine ermüdende Masse gleichgültiger Namen brachten die Gelehrten heim aus der Erforschung unserer Vorzeit. Die Seele unseres Volkes in der Vorwelt erschloß sich den Nachlebenden, und Uhland hat ein Großes mitgeschafft an diesem Werke deutscher Wissenschaft. Ein gutes Wort aus seinen letzten Jahren bezeichnet schlagend, wie er Sinn und Ziel seines wissenschaftlichen Schaffens verstand. „Eine Arbeit dieser stillen Art,” schreibt er einem Freunde, „setzt sich freilich dem Vorwurf aus, daß sie in der jetzigen Lage des Vaterlandes nicht an der Zeit sei. Ich betrachte sie aber nicht lediglich als eine Auswanderung in die Vergangenheit; eher als ein rechtes Einwandern in die tiefere Natur des deutschen Volkslebens, an dessen Gesundheit man irre werden muß, wenn man einzig die Erscheinungen des Tages vor Augen hat, und dessen edlern, reinern Geist geschichtlich darzustellen um so weniger unnütz sein mag, je trüber und verworrener die Gegenwart sich anläßt”. Der Gedanke einer Geschichte der deutschen Dichtung im Zeitalter der Staufer, einer schwäbischen Sagenkunde beschäftigte ihn lange, und wenn von diesen weitaussehenden Plänen nur einiges — dies wenige allerdings meisterhaft — ausgeführt ward, so erraten wir leicht den Grund: für den Lyriker liegt der Reiz des Schaffens im Anlegen und Erfinden. Streng methodisch wie nur sein[S. 163] Freund Immanuel Bekker betrieb er diese germanistischen Studien, aber auch den Dichter erkennen wir wieder in dem Verfasser des schönen Buches „Walther von der Vogelweide”, woraus oben einige bezeichnende Urteile mitgeteilt wurden. Seine einfach edle Prosa ist nicht weniger künstlerisch als der Wohllaut seiner Verse. Wie dem Künstler ziemt, suchte er hier aus der Person des Dichters die Dichtung zu erklären und brachte also in die Literaturgeschichte des deutschen Mittelalters einen neuen notwendigen Gesichtspunkt. Nur die geschichtliche Bedeutung und den ästhetischen Wert der Gedichte unserer Vorzeit hatte man bisher gewürdigt, noch nicht sie betrachtet als Offenbarungen reicher dichterischer Persönlichkeiten.
Nicht minder den Dichter erkennen wir, wenn er in der für die germanische Mythologie Epoche machenden Abhandlung über den Mythus vom Tor nicht nur den allegorischen Sinn der alten Naturmythen enträtselt, sondern auch den Heidengott uns menschlich nahe führt und in dem Bändiger aller tobenden Elemente uns den demokratischen Gott zeigt, den gewaltigen Arbeitsmann, den geliebten Freund des Volkes, den der Bauer neckend am roten Barte zupft. Froh und heimisch fühlt sich der rüstige Mann unter dem starken Volke, das „im Donnerhalle die Nähe seines Freundes erkennt”. Und fröhlich zog er auf weite Wanderfahrten, um aus Fels und See, aus dem Geiste des Ortes selber die Gestalten unserer Sagen greifbar und lebendig hervorsteigen zu sehen. An der Hand der Natur führten dann seine Beiträge zur schwäbischen Sagenkunde den Leser in die fremde Welt halbverschollener Überlieferungen ein. Wir steigen mit ihm auf die Trümmer des alten Schlosses Bodman am Bodensee, wir hören den Schall entfernter Glocken leise über den rauschenden See her klingen und wir verstehen, wie einst hier in karolingischer Zeit den schlafenden Hirten Pipin das wonnevolle Geläute zum fernen Kloster lockte. Wir sehen den Nebel über den Wassern sich ballen, der den Schiffer beirrt und die Reben mit kaltem Reife schädigt, und wir begreifen, wie die Launen des Nebelmännleins[S. 164] seltsam hineinspielen in das Geschick des alten Geschlechtes der Bodman.
Uhlands erstes gelehrtes Werk war eine Abhandlung über das altfranzösische Epos gewesen, und das feine Verständnis der Volksdichtung, das die Kenner in diesem Aufsatze erfreut, bewährte sich auch in den jahrelangen Forschungen für sein letztes größeres gelehrtes Werk über das deutsche Volkslied. Der Tod hat den bedachtsamen Arbeiter in diesem Unternehmen unterbrochen. Vollendet ist nur der Vorläufer der verheißenen Abhandlung, die köstliche Sammlung deutscher Volkslieder, die in jedem guten deutschen Hause eine Stätte finden sollte, denn sie ist, was der Sammler wollte, „weder eine moralische, noch eine ästhetische Mustersammlung, sondern ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Volkslebens”. Wie „Des Knaben Wunderhorn”, dem Uhlands Jugend so Großes verdankte, verrät auch diese Sammlung, daß schönheitskundige Dichterhände die Auswahl geleitet; aber an der Vergleichung beider Werke ermessen wir zugleich den ungeheuren Fortschritt der germanistischen Wissenschaft von dilettantischer Unfertigkeit zu kritischer Strenge. Schwerlich ist es ein Zufall, daß der Sammler den bedeutenden wirksamen Platz am Schlusse seines Buches den Liedern des streitbaren Protestantismus angewiesen hat. Des Kranzes letzte Blätter sind: „Eine feste Burg ist unser Gott” und jenes herrliche Lied eines sächsischen Mädchens aus den Tagen des Schmalkaldischen Krieges:
der kräftige Ausdruck einer großen politischen Leidenschaft, die seitdem die Seele der mitteldeutschen Stämme leider nie wieder so gewaltig erschüttert hat.
In mannigfachen Formen (schon vielen ist dies aufgefallen) kehrt in Uhlands Gedichten ein Idealbild wieder — der streitbare Sänger: mag der Dichter den Normannen singend und die schweren Schwerter schleudernd vor dem Eroberer reiten lassen, mag er Äschylos und Dante preisen, weil sie für Freiheit und Vaterland gesungen [S. 165] und gestritten, oder Körners Schatten heraufbeschwören zu zorniger Mahnung an die Überlebenden. In friedlichem, aber nicht minder ernstem und aufregendem Kampfe hat er selber sich zu diesen Sängern und Helden gesellt. Die Zeit ist hoffentlich nahe, da wir Deutschen aufhören werden, etwas Auffälliges zu sehen in dieser Verkettung bürgerlichen und künstlerischen Ruhmes. Wie wir neuerdings in Italien der ruhmvollen Erscheinung begegnen, daß unter den namhaften Denkern und Künstlern kaum einer sich findet, der nicht sein Herzblut hingäbe für das freie und einige Italien: so beginnt unter den Deutschen eine ähnliche Wandlung sich zu vollziehen. Das Herz der Nation kehrt sich ab von jenen Künstlern, die neben dem großen politischen Kampfe der Gegenwart kalt zur Seite stehen. Seltener, schüchterner immer tönt das vordem in diesen Kreisen oft gehörte Wort, dem Künstler zieme nicht sich zu kümmern um die Abstraktionen der politischen Debatte, „weil er sich kein Bild davon machen könne”. Der politische Kampf der deutschen Gegenwart ist nicht ein Streit um diese oder jene Staatseinrichtung, wie eine Doktrin, ein Klasseninteresse sie fordert. Es gilt, der Nation das Unterpfand jedes schönen Erfolges, das stolze Selbstgefühl zu retten. Was irgend krankt in unserem Volksleben, in Kunst und Wirtschaft, Glauben und Wissen, nicht eher wird es völlig gesunden, als bis die Deutschen ihren Staat gegründet. Das Geschlecht von Dichtern aber, dem die Kleist, Arndt, Uhland angehören, war das erste in Deutschland, welches diese unmittelbare sittliche Bedeutung der Staatsfragen begriff und solche Erkenntnis in Taten bewährte. Als König Ludwig von Bayern um das Jahr 1841, in der unheilvollsten Zeit seiner Regierung, mit dem Plane umging, einen deutschen Dichterverein zu gründen, und den schwäbischen Dichter zum Beitritt auffordern ließ, da erklärte Uhland dem Minister v. Schenk in einem tapferen Briefe, was er denke über die Pflicht des Dichters gegen das Vaterland. „Bei Deutschlands politischer Zersplitterung,” heißt es da, „kann auch der bestgemeinte Vorschlag zur idealen Einigung eher verletzen als ermutigen; immer[S. 166] nur der Stein statt des Brotes! — Wenn die deutsche Dichtkunst wahrhaft national erstarken soll, so können ihre Vertreter nicht auf ein historisches oder idyllisches Deutschland beschränkt sein; jede Frage der Gegenwart, wenn sie das Herz bewegt, muß einer würdigen Behandlung offen stehen.”
Sehr laut, fast überschwenglich ist neuerdings Uhlands politisches Wirken gepriesen worden. Der Kaltsinn gegen die Kunst, diese Krankheit der Gegenwart, offenbarte sich auch darin, daß in vielen Nekrologen der Dichter wie ein patriotischer Landtagsabgeordneter erschien, der nebenbei auch Verse geschrieben. Wohl ist es nicht leicht, diesen verschlossenen Charakter zu durchschauen, der selten in Gesprächen oder Briefen die Beweggründe seines Handelns angab. Nur diese Behauptung dürfen wir zuversichtlich aufrechterhalten: Uhlands dichterisches und gelehrtes Schaffen war nicht bloß fruchtbarer als seine politische Wirksamkeit, es wurzelte auch ungleich tiefer in seinem Gemüte. Uhland war weit weniger als Kleist oder Arndt eine politische Natur; das Unglück des Vaterlandes erfüllte den ruhigen Mann nicht mit jener heißen Leidenschaft, die jeden andern Gedanken übertäubt; gleich den ausschließlich ästhetischen Geistern des älteren Dichtergeschlechts war ihm noch möglich, während der krampfhaften Aufregung des Freiheitskrieges sich die selige Ruhe künstlerischen Wirkens zu bewahren. Nicht in die Wiege gebunden war ihm die Lust am Streite, wie einem Lessing; ihn erfüllte nur das unabweisliche Verlangen, rein und unsträflich vor seinen Augen dazustehen. Wie konnte er also zurückstehen, wenn um die höchsten sittlichen Güter unseres Volkes gestritten ward? Zudem hatte er seinen natürlichen Rechtssinn geschult in den juristischen Studien, die er ohne Freude, aber mit Ernst und Nachdruck trieb, und war früh mit den Ideen des modernen Liberalismus vertraut geworden. Seine schmucklos bürgerliche Art, „dickrindig und schier klotzig”, wie Chamisso sie einmal übermütig nannte, diese keusche Wahrhaftigkeit sah mit bitterem Ekel auf die Leichtfertigkeit der Höfe, auf das vornehme Spielen mit dem Ernste des Lebens. So ward[S. 167] er, der seine gelehrte Arbeit und den besten Teil seiner Dichterkraft unserer Vorzeit widmete, im Leben ein Streiter für die modernen Volksrechte. Bestechend, aber verkehrt ist Heinrich Heines Versuch, aus diesem scheinbaren Widerspruche von Leben und Dichtung das frühe Verstummen von Uhlands Gesang zu erklären. Wir wissen längst, daß nicht „das katholisch-feudalistische”, sondern das volkstümliche Element der mittelalterlichen Gesittung seine dichterische Neigung vorwiegend anzog; also haben seine poetischen Arbeiten seinen vaterländischen Sinn vielmehr gekräftigt. Nur einzelne kleine Schwächen seiner Poesie lassen sich allerdings auf dies zwiegeteilte Streben zurückführen. Wenn dann und wann ein Ritter, ein Mönch seiner Balladen uns mit allzu blassen Farben gemalt scheint, so erinnern wir uns: ein durchaus moderner Mensch hat dies Bild geschaffen, der bereits mit hellem Bewußtsein auf das Mittelalter als auf eine versunkene Welt zurückschaut.
Es ist nicht ganz richtig, wenn Uhland kurzweg den Dichtern der Freiheitskriege zugezählt wird. Der Heldenzorn jenes Kampfes tönt uns mit voller Gewalt nur aus den Liedern der Arndt, Körner, Schenkendorf entgegen, die mitteninne standen in dem Schlachtgetümmel. Dem Schwaben war dies schöne Los versagt; darum hören wir aus den Liedern Uhlands in dieser Zeit nur die Stimme des erregten Beobachters, nicht des Kämpfers. Besonders schön hat er die Angst der Guten geschildert, da die letzte Entscheidung sich verzögerte, bis ihm endlich sein heißer Wunsch erfüllt ward:
Demutsvoll stand er zur Seite und fragte sein Land:
Erst nach dem Frieden, als Süddeutschland der Brennpunkt unserer staatlichen Kämpfe war, begannen die großen Tage seiner politischen Dichtung, welche nun, da[S. 168] der Norden ermattet schwieg, den Geist jener nordischen streitbaren Sänger getreulich bewahrte.
Der württembergische Verfassungsstreit brach aus. Schon als Arbeiter im Justizministerium hatte der junge Jurist erfahren, was die Willkürherrschaft des geistvollsten und ruchlosesten der Napoleonischen Satrapen bedeute. Jetzt, ein unabhängiger Rechtsanwalt in Stuttgart, ward er der beredte Mund des empörten Rechtsgefühls seines Stammes. Er forderte das alte Recht zurück, verwarf sowohl die neue vom König Friedrich eigenmächtig geschaffene Verfassung als die wohlmeinende Vermittlung des Nachfolgers König Wilhelm und seines alten Gönners, des Ministers Wangenheim, schrieb unermüdlich Adressen, Flugschriften und die „Vaterländischen Gedichte”. Zu ihnen möchte ich alle Verächter der politischen Dichtung führen, damit sie erkennen: ein echter Dichter ist, derweil er singt, immer im Rechte. Auch wer das starre Festhalten der Altwürttemberger an dem alten Rechte politisch verwirft, muß ergriffen werden von dem so männlich-stolzen und so christlich-demütigen Gebete:
Und wenn irgendwo, so ist hier Uhland der deutschen Dichterweise treu geblieben und hat die Form seiner Lieder sich schaffen lassen durch den Inhalt. Dichter und Staatsmann hatten schier die Rollen ausgetauscht: der phantastischen, dreist experimentierenden Staatskunst Wangenheims stand der Sänger mit der nüchternen bedachtsamen Mahnung gegenüber, das Altbewährte treu zu hüten. Wirken sollten die Lieder, haften im Gedächtnisse des Volkes. Darum die einfachste Form für den einfachen Inhalt, unermüdliche Wiederholung, schmucklose, allen verständliche, dann und wann fast prosaische Worte:
Die verschiedensten Beweggründe zugleich trieben den Dichter in die buntscheckigen Reihen der Opposition: die gemütliche Anhänglichkeit an das altheimische Recht so gut wie der noch ungeschulte Liberalismus, der die alte Verfassung pries, weil sie die Macht des Monarchen beschränkte, doch nicht begriff, daß sie den modernen Staat aufhob. Mächtiger als all dies wirkte in ihm der edle sittliche Zorn, der freie Männerstolz, der auch der wohlmeinenden Macht nicht gestatten wollte, das Recht zu beugen. In solchem sittlichen Zorn liegt die Idee, die Berechtigung dieser Opposition. Ihm dankte der Dichter auch seine poetische Überlegenheit, als er jetzt einen neuen heftigeren, politischen Sängerstreit mit Rückert durchfechten mußte. So hatte einst sein Lehrer Walther für den Staufer Philipp kampflustige Lieder gesungen, derweil Wolfram von Eschenbach für den Welfenkaiser Otto in die Schranken trat. Diesmal sprach Uhland zum Herzen der Hörer, während der Gegner, indem er Wangenheims Reformpläne verteidigte, nur an den Verstand des Volkes sich wenden konnte. Und nicht an der Scholle haftete der Blick des Sängers, er sah in dem Ringen seiner Heimat nur eine Schlacht des langen Krieges, der das weite Vaterland erfüllen sollte, und verwundete die Elenden, die nach geheimen Bünden spürten, mitten ins Herz mit den Versen:
Oftmals in diesen Händeln traf seine noch unfertige politische Bildung mit sicherem Takte das Rechte; so, wenn er wider den Plan einer württembergischen Adelskammer das gute, durch schwere Erfahrungen bestätigte Wort sprach: „Das heißt den Todeskeim in die Verfassung legen.” Auch an den Fehlern der Opposition hatte er seinen Teil, an jener eigensinnigen Hartnäckigkeit, welche die gute Stunde, die freieste Verfassung in Deutschland zu gründen, verscherzte. In späteren Jahren hat er selbst eingesehen, wie sehr ihm die Freiheit des Urteils[S. 170] fehlte, als er die wohldurchdachten Entwürfe der Regierung kurzab als Machwerke verdammte. Doch von allen Irrtümern dieses Mannes gilt sein eigenes Wort:
Jawohl, das Feuer einer reinen Begeisterung flammt in diesen württembergischen Liedern; darum werden sie auch dann noch in unserem Volke leben, wenn das Königreich Württemberg längst aufgehört haben wird zu bestehen. Die Lieder zogen als Flugblätter durch das Land. Einzelne nichtschwäbische Zeitungen wagten sie in ihren Spalten aufzunehmen. So brachte ein norddeutsches Blatt das an den wackeren Stuttgarter Bürgermeister Klüpfel gerichtete Gedicht „Die Schlacht der Völker war geschlagen” unter der für den Geist der Presse jener Tage bezeichnenden Überschrift: „An den Repräsentanten einer angesehenen Stadt bei einer bekannten Ständeversammlung, gesungen bei einem festlichen Mahle, das dem würdigen Manne am 18. Oktober 1815 von seinen Kommittenten gegeben wurde.” Diese Gedichte gründeten dem Sänger zuerst einen geehrten Namen in der Literatur, und das schwäbische Volk sah mit begreiflichem Stolze auf den Mann, der also mit Ehren die Stammesart vertrat. Alsbald nachdem er das gesetzliche Alter erreicht, 1817, ward er in die Kammer gewählt, und mit Unwillen mußte er jetzt den Umschlag der Volksmeinung wahrnehmen. Dem zähen Eigensinne folgte übereilte Nachgiebigkeit, nur das eine ward erreicht:
Nicht durch königlichen Befehl, durch Vertrag zwischen Land und Krone kam die neue Verfassung zustande, doch fehlte viel, daß ihr Buchstabe zur Wahrheit ward. Bald befestigte sich unter König Wilhelm die gefährlichste Form des scheinkonstitutionellen Regiments, welche Deutschland vor der Revolution gesehen hat: ein aufgeklärter Despotismus, [S. 171] den Großmächten gegenüber liberal, nach innen tätig für das materielle Wohl, eifersüchtig gegen jede selbständige Haltung des Landtags, von gewandten klugen Männern geleitet, eifrig bestrebt, alle Talente des Landes in den Dienst der Minister zu ziehen. Ohne Freude hielt Uhland unter den Landständen aus. „Nur als Freiwilliger,” sagt er selbst, „als Bürger, als einer aus dem Volke trat ich mit an.” Persönliche Würde, Pflichttreue und die Gewalt seiner Feder verschafften ihm trotzdem eine Stelle unter den Führern der Opposition. Während des Kampfes um die Verfassung hatte er Staatsämter, die man ihm anbot, ausgeschlagen. Jetzt mußte er für seine Festigkeit büßen; erst im Jahre 1829 berief ihn die Regierung zu der Stelle, die ihm gebührte und seinen liebsten Wünschen entsprach: auf den Lehrstuhl der deutschen Literatur in Tübingen.
Dort ist fortan sein Wohnsitz geblieben, und es war ein echtdeutscher Zug, daß er an einem Stilleben sich genügen lassen konnte, welches einen Franzosen von seiner Bedeutung zur Verzweiflung gebracht hätte. Nahe an der Neckarbrücke stand sein freundliches Haus mitten im Rebgarten am Abhange des Österberges, dessen schöngeschwungene Formen der aus Italien heimkehrende Tübinger Philolog mit dem Vesuv zu vergleichen liebt. Dort sah er Jahr für Jahr jene denkwürdigen Ereignisse an sich vorübergehen, welche die Ruhe dieses akademischen Flachsenfingen unterbrechen. Immer wieder zogen der Pauperpräfekt und die Armenschüler in ihren hohen Hüten singend durch die winkligen rinnsalreichen Gassen, das Vieh ward in den Neckar zur Schwemme getrieben, die Stadtzinkenisten bliesen ihren Choral vom Turme, und — das wichtigste von allem — die berufenen Flößer, die Jockeles, führten das Holz des Schwarzwaldes talwärts und wechselten mit den alten Erbfeinden, den Studenten, homerische Schimpfreden. Es liegt ein eigener stiller Reiz über dieser kleinstädtischen Welt, wo an jedem Hause ein uralter derber Burschenwitz oder eine gute Erinnerung an einen tüchtigen Mann haftet. Im Verkehr mit vortrefflichen Männern fühlte Uhland sich bald wieder heimisch in der Vaterstadt, [S. 172] und durch seine kurze akademische Wirksamkeit erweckte er in den Schwaben zuerst den Sinn für die germanistische Wissenschaft. Noch ein anderes rühmen seine Landsleute ihm nach: der angesehene Professor vernichtete durch persönliche Würde und gediegene Gelehrsamkeit jene kleinlichen Vorurteile gegen den Beruf des Dichters, die seit Schubarts und Hölderlins Tagen von dem schwäbischen Bürger gehegt wurden.
Nach wenigen Jahren rief ihn eine abermalige Wahl in die Kammer von seinem gelehrten Wirken ab. In den zwanziger Jahren hatte sich die Opposition in Württemberg vorwiegend auf örtliche Zwecke beschränkt. Ein fleißiger Arbeiter in den Kommissionen, ein karger, ungewandter Redner, aber wenn er sprach, schlagend, gedankenreich, entschieden, war damals Uhland für den von der Regierung mißhandelten Friedrich List in die Schranken getreten, hatte gewirkt für die Neuordnung der Rechtspflege, namentlich die Unabhängigkeit des Richterstandes, und für die Minderung der Militärlast. Höhere Ziele steckte sich die Opposition nach der Juli-Revolution. Noch immer freilich blieb unter den deutschen Liberalen die alte weltbürgerliche Neigung lebendig; diese Gesinnung hatte Uhland vordem zum Eintritt in die Philhellenenvereine bewogen, ihr verdanken wir auch eines seiner besten Gedichte, die Ballade „Die Bidassoabrücke” zum Preise des Verwegensten der Spanier, Mina. Jedoch unter den Besseren wenigstens „prägte sich jetzt — nach Uhlands Worten — ein deutscher Liberalismus aus, der die freisinnige Idee mit der Vaterlands-Ehre zu verbinden trachtete”. Als Süddeutschland fürchten mußte, durch die absolutistische Tendenzpolitik Österreichs in einen Krieg gegen das liberale Frankreich hineingerissen zu werden, und die nicht minder verblendete Parteiwut vieler Liberalen freudig den Augenblick ersehnte, der den Südwesten zum Verrat an Deutschland, unter die „liberale” Trikolore der Fremden führen würde — in diesen angstvollen Tagen wandte sich das Auge der Besseren über die roten Grenzpfähle hinaus den deutschen Bruderstämmen zu. Man empfand bitter den Mangel einer Volksvertretung [S. 173] in Österreich und Preußen und „die Unnatur der deutschen Zustände, daß die schwächeren Schultern die Träger der größeren Volksrechte sein sollen”. Aber unverzagt mahnte Uhland die Freunde, „unsere ehrenvolle Bürde, das zukünftige Eigentum des gesamten Deutschlands, einer helleren Zukunft entgegenzutragen”.
Mit dem stolzen Bewußtsein eines ernsten nationalen Berufs betrat die Opposition den Ständesaal. Der Landtag des Jahres 1833 ward einer der wichtigsten in Deutschland vor der deutschen Revolution. Nicht nur eine große Zahl von Talenten füllte das Haus: hier ward auch zum ersten Male grundsätzlich eine Lebensfrage der Politik des deutschen Bundes erörtert. Die sittliche ebenso sehr als die politische Pflicht gebot, daß einem großen politischen Lügensysteme ein Ende gemacht werde, daß die konstitutionellen Regierungen nicht mehr durch Bundesbeschlüsse im Geiste des Absolutismus sich ihres Verfassungseides entheben ließen. Darum stellte Paul Pfizer seine berühmte Motion, daß der Verfassung widersprechende Bundesbeschlüsse in Württemberg keine Geltung haben sollten. Umsonst zeigten befreundete Landsleute in der Ferne, wie Wurm, die Unausführbarkeit des Antrags. Es war und ist ein Widersinn, daß ein Bund konstitutioneller Staaten von einer absolutistischen Körperschaft geleitet wird; der Unwille darob ward unter den Liberalen so übermächtig, daß sie, die Verfechter des Einheitsgedankens, den Teil grundsätzlich über das Ganze stellten — ein denkwürdiges Symptom der Verwirrung und Verbildung deutscher Politik. Das Verlangen der Minister, die Kammer solle die Motion mit verdientem Unwillen zurückweisen, ward mit einer scharfen Adresse aus Uhlands Feder beantwortet. Hierauf erfolgte die Auflösung und eine Reihe von Ereignissen, welche in jener Zeit der politischen Unschuld ungeheures Aufsehen erregten, während die Gegenwart bereits an einen weit roheren Mißbrauch der Regierungsgewalt gewöhnt ist. Schon von dem aufgelösten „vergeblichen Landtage” hatten die Minister ihre Gegner durch gesuchte Gesetzesauslegungen auszuschließen getrachtet; Uhland war damals für die[S. 174] Gültigkeit der Wahl seines alten Gegners Wangenheim aufgetreten in einer Rede, die seinem Herzen Ehre macht. Jetzt wurden diese alten Künste der Regierung weiter ausgebildet. Uhland, abermals gewählt, erhielt den Urlaub nicht und legte rasch entschlossen seine Professur nieder.
Von neuem entspann sich der Streit wider die verfassungswidrigen Bundesbeschlüsse. In diesen Debatten verkündete Uhland in schwungvoller Rede den nationalen Beruf der süddeutschen Opposition und sprach das kühne Wort: „Diese Rechte und Freiheiten werden einst von einer deutschen Nationalvertretung zur vollen und segensreichen Entfaltung gebracht werden.” Was er schon während des alten Verfassungsstreites dunkel geahnt, sah er jetzt klar vor Augen: daß alle Sünden der Einzelstaaten ihre Wurzel haben in dem Mangel einer volkstümlichen einheitlichen Verfassung Deutschlands. Darum deckte er bei der Beratung des Militärbudgets schonungslos das große Übel auf, das alle Militärdebatten in den Kleinstaaten noch heute verbittert und vergiftet. Er fragte: „Hat sich die Einigung im Bunde selbst schon als eine in der Nation begründete erwiesen? Kann bei solchem Stande der Dinge Württemberg wissen, unter welcher größeren Fahne und zu welchen Zwecken seine Truppen zunächst ausziehen werden?” Nicht zufrieden mit der unfruchtbaren abwehrenden Haltung dem Bunde gegenüber, sprach er jetzt ein altes wohlberechtigtes Verlangen der Liberalen aus: er forderte, daß die Minister wegen der Instruktionen an die Bundestagsgesandten den Kammern Rede stehen sollten.
Heftiger von Jahr zu Jahr wurde die Erbitterung. In ihrem allerdings wohlbegründeten Mißtrauen gegen die Minister stimmte die Opposition einmal sogar für die Verwerfung des gesamten Budgets, ja, befangen in kleinstädtischen volkswirtschaftlichen Begriffen und voll Widerwillens gegen Preußen, erklärte sich Uhland sogar gegen den Beitritt Württembergs zum deutschen Zollvereine. Auch er litt an jener Verblendung, womit die meisten Liberalen des Südwestens in jenen Tagen behaftet waren: stolz auf sein schwäbisches „konstitutionelles Leben”, das[S. 175] doch in Wahrheit die Willkür der Krone nicht wesentlich beschränkte, handelte er unwillkürlich als Partikularist. Aus Liebe zu Deutschland ward er mitschuldig an der unseligsten politischen Sünde des alten Liberalismus: er widerstrebte dem großartigsten und wirksamsten Versuche einer praktischen Einigung des Vaterlandes, der seit Jahrhunderten gewagt worden! Dies Verfahren ist um so befremdlicher, da Uhland selbst bald nachher die Unfruchtbarkeit der kleinen Landtage für das große Vaterland scharf erkannte: „Wir stehen an der Grenze einer lebendigen Wirksamkeit auf diesem Wege,” schrieb er 1840, „der Bündel ist nicht zustande gekommen, das Beil hat kein Heft und die Stäbe liegen zerknickt umher.” Endlich, im Jahre 1839, beging die Opposition einen letzten verhängnisvollen Fehler. Wie oftmals in reichen, warmen Gemütern, liegt auch in dem tüchtigen Charakter der Schwaben ein Zug von unberechenbarem Eigensinn, von pessimistischem Trotz. Häufig in ihrer Geschichte, und immer zum Unheile des Landes, war er zutage gekommen; so während des Verfassungsstreites, so jetzt wieder in anderer Weise, als die Uhland, Schott, Pfizer, Römer, vereinsamt unter dem gleichgültigen Volke, auf die Wiederwahl verzichteten. Dergestalt war der Landtag seiner besten Kräfte beraubt, und dem schwäbischen Staatsleben, das in seinem abgeschlossenen Sonderdasein dringender als die meisten anderen Staaten der fortwährenden Mahnung an die nationalen Pflichten bedarf — ihm fehlten fortan gerade jene liberalen Talente, welche freieren Blicks über die Landesgrenze hinausschauten.
Das zurückgezogene Leben, das der Dichter nun in Tübingen begann, fiel gerade in die Tage, da von seiner Heimat jene kühne theologische Bewegung ausging, welche durch das Auftreten von David Strauß veranlaßt war. Abermals bewährte sich der alte Romantiker als ein moderner Mensch. Den vorurteilsfreien Forscher erschreckte es nicht, daß die Grundsätze der wissenschaftlichen Kritik, die ihm selber das Verständnis der heidnischen Götterlehre erschlossen hatten, jetzt auf die christliche Mythologie angewendet wurden. Der theologische Streit lag seinem [S. 176] Sinne fern, doch verteidigte er die Verketzerten und ihr Recht der freien Forschung. Einen anderen modernen Gedanken dagegen, der gleichfalls in seiner Umgebung gehegt ward, hat er nie verstanden. Jenen zukunftreichen politischen Plan, der einst als unbestimmte ferne Hoffnung vor Fichtes Seele geschwebt und dann in Friedrich Gagerns lichtem Haupte sich zu greifbarer Gestalt verdichtet hatte — den Plan des deutschen Bundesstaates unter Preußens Führung verkündete Paul Pfizer, fast noch ein Jüngling, zuerst als ein politisches Programm dem Volke und eroberte sich damit einen Ehrenplatz in der Geschichte der deutschen nationalen Bewegung. Dem Dichter, der den alten Ruhm der Hohenzollern oftmals freudig besungen hatte und den Widerwillen der Schwaben gegen Norddeutschland nicht teilte, blieb dieser Gedanke immer ein Greuel. Sein Herz war erfüllt von der gemütlichen Vorliebe seines Stammes für die österreichischen Nachbarn; ihm blieb unvergessen, wie oft er einst im Knabenspiele Partei genommen hatte für die Kaiserlichen und in das nahe Rottenburg hinübergewandert war, um das wildfremde Kriegsvolk der Magyaren und Kroaten zu schauen. Wie einst in dem württembergischen Verfassungsstreite, so wirkten auch jetzt zwei grundverschiedene politische Beweggründe in seiner Seele nach einem Ziele zusammen. Die Freude an der althistorischen Herrlichkeit des Wahlkaisertums und das Bekenntnis der Volkssouveränität — romantische und demokratische Neigungen zugleich führten ihn zu dem Ideale des Wahlreichs. Auch eine köstliche, dem deutschen Staatsmanne leider sehr notwendige Tugend brachte Uhland in die Kämpfe der Revolution hinüber — das wachsame Mißtrauen gegen den guten Willen der Höfe. Er hatte unter König Friedrich das frevelhafte Mißachten jedes Rechtes, unter seinem Nachfolger — was seinem schlichten Sinne noch tieferen Ekel erregen mußte — das unwahre Buhlen mit dem Liberalismus gesehen, und nur so schmerzliche Erfahrungen konnten seinem warmen wohlwollenden Herzen diesen harten Zug einprägen.
Die Revolution brach aus, und dem greisen Dichter[S. 177] vor allen galt der Jubel des aus langer Gleichgültigkeit erwachenden schwäbischen Stammes. Der beispiellosen Mißregierung folgte eine beispiellose Demütigung: der Bundestag gestand, daß ihm das Vertrauen des Volkes fehle, und umgab sich mit „Männern des Vertrauens”. Auch Uhland ward unter die Siebzehner gesendet, doch das Vertrauen seines Königs folgte ihm nicht nach Frankfurt; ihm ward keine Antwort, als er sich die persönliche Ansicht des Fürsten über die Aufgabe der Vertrauensmänner erbat. Als nun in dem Ausschusse Dahlmann mit dem Programme des Bundesstaates hervortrat, da schraken anfangs — ich folge hier der mündlichen Erzählung eines der Siebzehn — die meisten zurück vor der Verwegenheit des Gedankens, und Uhland stimmte eifrig gegen das preußische Erbkaisertum, „als es noch in den Windeln lag”. Diese großdeutsche Gesinnung trennte ihn auch im Parlamente von Dahlmann, Grimm, Arndt und vielen anderen, die ihm durch Bildung und Begabung nahestanden. Er hielt sich zu der Linken, und wie sehr auch die demagogischen Ausschweifungen seinen maßvollen Künstlersinn anwiderten: die demokratische Richtung konnte sich einiger Tugenden rühmen, die Uhlands Herz an die Partei fesseln mußten, obwohl sie in der Demokratie der Paulskirche sich oftmals verzerrt und entstellt offenbarten. Ihn erfreute die menschliche Teilnahme der besseren Demokratie für die Armen und Leidenden und der willige Opfermut, welcher sie vor den Mittelparteien auszeichnete. Freilich, der schlichte demokratische Bürgerstolz des ehrwürdigen Mannes hatte im Grunde sehr wenig gemein mit jenen gellenden Lobpreisungen des Konvents, welche von den Bänken seiner Parteigenossen erklangen. Ich glaube nicht als ein Parteimann zu reden, wenn ich sage, Uhlands Verhalten in der Paulskirche hinterlasse den Eindruck, als sei er dort nicht an seiner Stelle gewesen. Er stand als ein „Wilder” zwischen den Parteien und blieb doch in einer moralischen Verbindung mit der Linken; schon diese seltsame Mittelstellung läßt ihn wie einen Halbfremden in der Versammlung erscheinen.
Von allen Plänen der Mittelparteien forderte der Gedanke [S. 178] des preußischen Kaisertums Uhlands heftigsten Widerspruch heraus. Dieser Widerspruch bewog ihn zu den beiden einzigen größeren Reden, welche von dem Schweigsamen in der Paulskirche gehalten wurden und nach meinem Ermessen das Allerbeste sind, was je für die „großdeutsche” Richtung gesprochen worden. Nicht in Verstandesgründen, sondern in gemütlichen Sympathien liegt die Stärke dieser Partei, und wie mächtig wußte Uhland diese Saite in der Brust seiner Hörer anzuschlagen, als er am 26. Oktober 1848 tiefbewegt in schwungvollen Worten das Parlament ermahnte zu sorgen, „daß die blanke, unverstümmelte, hochwüchsige Germania aus der Grube steige!” Noch kräftiger wirkte seine Rede vom 22. Januar 1849. Die Kapuzinerspäße Beda Webers waren kaum verklungen, da hob Uhland die Debatte wieder auf die Höhe ihres Gegenstandes. Die alte Herrlichkeit des deutschen Wahlkaisertums führte er gegen die preußische Partei ins Feld: „Es waren in langer Reihe Männer von Fleisch und Bein, kernhafte Gestalten mit leuchtenden Augen, tatkräftig im Guten und Schlimmen.” Als dann die berühmten Worte folgten, bei jeder Rede eines Österreichers in der Paulskirche sei ihm zumute gewesen, „als ob ich eine Stimme von den Tyroler Bergen vernähme oder das Adriatische Meer rauschen hörte”, da freilich war der nüchterne Verstand schnell bei der Hand, über die „Phrase” selbstgefällig zu lächeln. Wer aber den Worten in die Tiefe sah, erkannte ihren ernsten Sinn. Allerdings war es ein schrecklicher Widerspruch, in Wahrheit eine Unmöglichkeit, die in unserer Geschichte nicht wiederkehren darf, daß ein Parlament, worin Österreichs Abgeordnete stimmberechtigt tagten, über die Trennung Deutschlands von Österreich beraten konnte. Ein schönes Seherwort des Dichters beschloß die Rede, das allbekannte: „Es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem reichlichen Tropfen demokratischen Öles gesalbt ist.” Damit hatte er der deutschen Bewegung sein „in diesem Zeichen wirst du siegen” zugerufen, und uns, den Gegnern, vornehmlich geziemt es, das gute Wort in treuem Herzen zu tragen. Die Welt ist heute liberal, und[S. 179] nur im Bunde mit dieser unhemmbaren liberalen Bewegung des Jahrhunderts wird es uns gelingen, die Einheit Deutschlands zu gründen. Das bewährte sich damals schrecklich, als das Herrscherhaus der Hohenzollern den rückhaltlosen Bund mit dem Liberalismus verschmähte und dem Rufe der Nation sich schwach versagte. Furchtlos und treu, ein echter Schwabe, hielt Uhland auch jetzt noch aus bei seiner Partei,
und sogar die Worte dieses vaterländischen Gedichts aus seiner Jugend kehrten wieder in dem Manifeste vom 25. Mai, das er im Namen des Rumpfparlaments an die Nation richtete: „Wir gedenken, wenn auch in kleiner Zahl und großer Mühsal, die Vollmacht, die wir von dem Volke empfangen, die zerfetzte Fahne, treu gewahrt in die Hände des Reichstags niederzulegen, der am 15. August zusammentreten soll.”
Freilich, unklar, romantisch verschwommen wie der Wortlaut war auch der Gedankengehalt dieses Aufrufes. Dem Idealisten galt es nur, die Idee des Parlamentes zu retten: er folgte der Linken nach Stuttgart, „darum daß nicht das letzte Band der deutschen Volkseinheit reiße”. Unhaltbarer immer ward die Stellung des maßvollen Mannes unter der wüsten Leidenschaft des Rumpfparlaments. Schon wurde der Klang seiner Rede von dem zornigen Lärm des Pöbels übertäubt, als er vor der Einsetzung der Reichsregentschaft, vor dem Bürgerkriege warnte und den Verblendeten zurief: „Württemberg ist nicht beschaffen wie jetzt diese Versammlung; es stellt nicht wie diese nur eine der Parteiungen dar, in welche das deutsche Volk zerklüftet ist.” Nur sehr wenige Gesinnungsgenossen zählte er noch in der Versammlung. Der Austritt aber aus einer unterliegenden Partei war seinem Stolze, seiner Treue unmöglich. So ist er geblieben bis zu dem jammervollen Ende des deutschen Parlaments, dem Straßenkampfe in Stuttgart.
Seine Briefe aus diesen Jahren verkünden männlichen[S. 180] Schmerz über den Zusammenbruch der Hoffnungen des Vaterlandes. Weniger tief mag er, der mit all seinem Sinnen in der schwäbischen Heimat wurzelte, das eine empfunden haben, was den meisten heimkehrenden Reichstagsmännern nach den großen Kämpfen des Parlaments überwältigend, demütigend auf die Seele fiel: die bettelhafte Armseligkeit der Kleinstaaterei. Seine demokratische Gesinnung blieb in alter Schroffheit aufrecht: sogar den Orden Pour le mérite wollte er nicht annehmen, den einzigen noch unentweihten in Deutschland, den selbst der strenge Republikaner Arago getragen hatte. Die letzten Jahre sind ihm in der Stille wissenschaftlicher Arbeit vergangen. Daß er aber noch lebte in dem Herzen seines Volkes, davon haben ihm alljährlich tausend Zeichen der Teilnahme von fern und nah Kunde gebracht. Sie wurden dem schlichten Manne oft lästig, dem Schwab einst sagte: „Du liebtest nicht das laute Lieben.”
An dem Grabe des Dichters hat das gesamte Volk empfunden, was einst sein Walther dem süßen Liedermunde Reinmars von Hagenau in die Gruft nachrief:
Und wie sein Lied nur mit unserer Sprache selber sterben wird, so wird auch fortleben in unserem Volke das Bild des Mannes Uhland, der, menschlich irrend, doch in hohen Ehren, manchen wuchtigen Stein hinzugetragen hat zu dem Neubau des deutschen Staates. Auch im Tode — er selber hat es uns verkündet — wollte er nicht lassen von seinem Volke:
Uns aber, die ihn betrauern, bleibt die schöne Pflicht, mit streitbarem Worte und fester Tat zu sorgen, daß die Sehnsucht des Dichters sich erfülle, daß er die Stätte bereitet finde, wenn er kommt — als Schatten zu durchschweben sein freies Vaterland.
Heinrich von Kleist
Wer unter den Hellenen nicht verstand, eine feste Stelle zu gewinnen in der gegebenen Ordnung des Staates und der Sitte, der ging zugrunde, verachtet und vergessen. Der strenge Bürgergeist der Alten verdammte den Einzelwillen, der sich erdreistete etwas zu gelten neben dem Willen des Ganzen; ihr auf das Große gerichteter Sinn blickte gelassen hinweg über die geheimsten Schmerzen der ringenden Menschenseele; ihre Schamhaftigkeit scheute sich den Schleier zu heben, der diese Abgründe des Herzens verhüllt. Erst die moderne Welt zeigt ein liebevoll mitleidiges Verständnis für die Fülle des Elends, die in dem Worte liegt: ein verfehltes Leben! Und sie hat guten Grund zu solchem Mitleid. Sie läßt den einzelnen aufwachsen in fast schrankenloser Ungebundenheit: mag er nachher selber zusehen, wie dies junge trotzige Ich nach hartem Kampfe sich einfüge in die handelnde Gemeinschaft der Menschen. Nicht in den brausenden Jünglingsjahren, deren glückselige Torheit allein den philisterhaften Sittenprediger erschreckt — erst später, um die Mitte der zwanziger Jahre, wenn die Zeit des Schaffens anhebt, pflegen dem modernen Menschen die schwersten, die gefährlichsten Stunden zu kommen. Welcher Mann von halbwegs reicher Erfahrung hätte nicht an dieser Markscheide des Lebens einen geliebten Genossen seiner Jugend zugrunde gehen sehen und schmerzvoll mit Heinrich von Kleist gerufen:
Die fette Mittelmäßigkeit schwimmt behaglich obenauf, doch manche der Besten sinken unter, weil ihr reicher Geist[S. 183] sich nicht fügen will dem Gebote des Lebens: du sollst einen Teil deiner Gaben ruhen, verkümmern lassen — einem Gebote, dessen Härte der Gedankenlose gar nicht fühlt. Wie viele flattern dahin ihr Leben lang wie mit gelähmter Schwinge, weil ein Mißgriff, ein Körpergebrechen, ein alberner Zufall sie ausschließt von dem Wirkungskreise, in dem sie ihr Höchstes, ihr Eigenstes leisten konnten. Unter allen, die nicht wurden, was sie wollten, leidet niemand so furchtbar, wie der hochstrebende Geist, der sich durch sein ganzes Sein, durch eine unwiderstehliche innere Stimme in einen bestimmten Beruf — und nur in diesen — getrieben fühlt und schließlich doch entdeckt, daß seine Kraft nicht ausreicht. Solche Grausamkeit der Natur trifft am härtesten die reizbare Seele des Künstlers; denn er vermag weniger als irgendein anderer Arbeiter die Mängel der Begabung durch die Kraft des Willens zu ersetzen, und die Kunst kennt keine Mittelstraße, sie kennt nur vollendete und verfehlte Werke. — In Vischers Ästhetik, einem der besten und bestbestohlenen Werke unserer Literatur, wird sehr richtig neben dem Genius, der sich selber die Regel ist, und dem Talente, das auf geebneter Bahn frisch und kräftig vorwärts schreitet; noch eine dritte Form der künstlerischen Anlage unterschieden: das partielle Genie — die Begabung jener tief unglücklichen Geister, welche dann und wann in seligen Augenblicken mit der Kraft des Genius das Klassische, das Ewige schaffen, um alsbald ermattet zurückzusinken und sich zu verzehren in heißer Sehnsucht nach dem Ideale. Solche Naturen gleichen einem herrlichen, großgedachten Gemälde, das irgendwo an auffälliger Stelle durch eine Lücke, eine widrige Verzeichnung verunstaltet wird, sie besitzen alles, was den unsterblichen Meister bildet, bis auf jenen kleinen Punkt über dem i, der den Buchstaben fertig macht. Die deutsche Dichtung, die nicht emporwuchs aus einer reifen Volksgesittung, sondern ihr voranging, zählt eben deshalb solcher unfertiger, unglücklicher Genies nur allzu viele, und unter ihnen ragt Heinrich von Kleist als der Gewaltigste, der Wahrhaftigste hoch empor. „Die Hölle gab mir meine halben Talente, der[S. 184] Himmel schenkt dem Menschen ein ganzes oder gar keines” — so bezeichnet er den Fluch seines Lebens, und nur er selber darf also reden, denn die Halbheit, die Armut seiner Gaben genügt vollauf, um eine Handvoll tüchtiger Künstler mit überschwenglichem Reichtum zu segnen.
Wir Deutschen rühmen uns, daß von den Helden unseres Geistes nicht so unbedingt wie von den meisten Dichtern anderer Völker gesagt werden darf: Des Künstlers Leben sind seine Werke. Es ist ein echt deutscher Spruch, den Schiller einmal hinwirft: „Den Schriftsteller überhüpfe die Nachwelt, der nicht größer war als seine Werke.” Selbst vor Goethes Faust überkommt uns die stolze Ahnung, daß der Dichter noch immer eine Fülle überschüssiger Kraft zurückbehalten hat in seiner reichen Seele. Darum lassen wir uns die Freude nicht nehmen, den größeren Mann zu suchen hinter den großen Werken, und auch wer die Vorliebe der Gegenwart für die Briefe und Papierschnitzel unserer Dichter nicht teilt, darf das berechtigte Gefühl nicht verkennen, das diesem Übermaß zugrunde liegt. Die düstere Gestalt Heinrich Kleists verbietet uns solchen Genuß. Während seine Werke oft den Tadel, immer das Lob entwaffnen, einige darunter bis zu den Höhen menschlichen Schaffens hinaufreichen, ist sein Leben doch nur eine entsetzliche Krankheitsgeschichte. Zweifel und Kämpfe, wie sie niemals grausamer ein Menschenherz gepeinigt, Siechtum des Leibes und der Seele, der ungerechte Kaltsinn der Zeitgenossen, der Zusammenbruch des Vaterlandes und die gemeine Not um das liebe Brot — das alles vereinigt sich zu einem erschütternden Bilde; dem Betrachter bleibt zuletzt nur ein Gefühl grenzenlosen Mitleids und der wehmütige Hinblick auf die von dem Unglücklichen so oft angerufene „Gebrechlichkeit der Welt”. — Die Biographie steht darum dem reinen Kunstwerke so nahe, weil in dem Dasein jedes bedeutenden und gesunden Mannes die Geschichte seiner Zeit wie in einem Mikrokosmos erscheint. Kleists Leben aber, wie mächtig auch die Stürme des Jahrhunderts diesen tiefen Geist erschütterten, ist die Geschichte höchstpersönlicher Leiden, ein psychologisches Problem.
Wir kennen nicht die Züge seines Gesichts; denn das einzige erhaltene Porträt — ein greisenhafter Knabenkopf, den ein Gottverlassener, dicht auf der Grenze zwischen dem Maler und dem Weißbinder stehend, zusammengepinselt hat — erweckt keinen Glauben. Von den geheimen Kämpfen seiner Seele hat er selbst ein treues Bild gegeben in den Briefen an seine Schwester, die mit ihrer dämonischen Leidenschaft, ihrem verzehrenden Schmerze in unserer Literatur einzig dastehen; wohl nur Mirabeaus Jugendbriefe schildern mit gleich schreckhafter Wahrheit den Aufruhr in einem großen Menschengeiste. Aber selbst wer diese rückhaltlosen Geständnisse kennt, steht zuletzt doch traurig vor einem Unbegreiflichen, vor einer krankhaften Naturanlage, die dem Dichter selbst ein Rätsel blieb. In allen seinen Irrgängen begegnet uns kein Zug, der nicht ehrlich, hochherzig, bedeutend wäre. Er ringt nach der Erkenntnis des Wahren und des Schönen, nach den Kränzen höchsten Dichterruhms; an den platten Freuden des Lebens geht er vorüber mit einer stolzen Verachtung, die unserem genußsüchtigen Zeitalter fast unfaßbar erscheint, kaum daß dann und wann die Sehnsucht, nicht nach dem Behagen, sondern nach dem Frieden des Hauses sich in seine Klagen mischt. Für ihn wie für wenige Menschen gilt das Wort: ihn ganz verstehen heißt ihm ganz verzeihen.
Geboren am 10. Oktober 1776 zu Frankfurt an der Oder, tritt der feurige junge Mensch nach dem Brauche seines Soldatenhauses frühzeitig in die Armee. Während er teilnimmt an den rheinischen Feldzügen, erschüttern die Ideen des philosophischen Jahrhunderts sein Herz. Er sehnt sich hinaus in die Freiheit, in das unendliche Reich des Wissens, er will „die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, durch menschenfreundliche Taten bezahlen”. In seinem zweiundzwanzigsten Jahre fordert er seinen Abschied und kehrt als überreifer Student in seine Vaterstadt zurück. Er wird der Lehrer, der geistige Mittelpunkt für einen heiteren Kreis junger Verwandten, er verschlingt Bücher in rastloser Arbeit und meint mit seinem Forschen bis in den Kern der Nuß einzudringen. Aber schon nach[S. 186] Jahresfrist treibt ihn eine verzehrende innere Unruhe hinweg von den Studien, von seiner kaum gefundenen Braut. In Berlin sodann trifft ihn wie ein Wetterstrahl die Lehre Kants, daß der Mensch nicht die Dinge kennt, nur seine Anschauung von den Dingen. In maßlosem Schmerz bricht der junge Himmelsstürmer zusammen vor dieser Erkenntnis. Die Verzweiflung an aller Wahrheit, an allen Gesetzen des sittlichen Lebens klagt fortan schauerlich in seinen Briefen: „Daß wir ein Leben bedürften, um zu lernen, wie wir leben müßten! — Und so mögen wir am Ende tun was wir wollen, wir tun recht!” Und dazwischen immer von neuem die glühende Sehnsucht nach dem Ewigen. „Zwischen je zwei Lindenblättern, wenn wir abends auf dem Rücken liegen, eine Aussicht an Ahndungen reicher als Gedanken fassen und Worte sagen können!”
Schon in früher Jugend quält ihn die überfeine Zartheit des Gewissens, welche wir so gern als ein Zeichen innerer Reinheit begrüßen möchten, während sie doch in den meisten Fällen nur der Vorbote ist eines verdüsterten, selbstquälerischen Alters. Mit unbarmherzigem Auge verfolgt er selbst jeden seiner Schritte, wie ein Geisteskranker belauscht er sich; selbst über seine tollsten Streiche, seine finstersten Seelenkämpfe gibt er sich und andern Rechenschaft — das alles ganz unbefangen, ganz wahrhaftig, ganz frei von jedem Streben sich interessant zu machen. Darüber gehen ihm natürlich viele jener Augenblicke verloren, wo der Mensch, ganz mit sich einig, ohne Wahl und Frage sein Bestes schafft. Das Doppelleben, das so viele Künstler führen, wird ihm zur verzehrenden Krankheit. Nicht genug, daß seine Stimmung in jähen Sprüngen von kindlich harmloser Fröhlichkeit zu finsterem Unmut, von rasch aufloderndem Stolze in kleinmütige Verzagtheit umschlägt, daß seine Unbeständigkeit ihm den bitteren Ausruf entringt, Gleichmut sei die Tugend nur des Athleten; nicht genug, daß seine schneidende Verstandesschärfe ungesellig steht neben einer glühenden Einbildungskraft und einem weichen Gemüte: auch seine Phantasie bringt ihm keinen Trost. Der so viele mit dem[S. 187] reichen Spiele seiner Erfindung entzückt, ihm bleibt selbst das harmloseste Vorrecht des Künstlers versagt. Nicht einmal Luftschlösser kann er bauen, nicht einmal im Geiste sich zu seinen Lieben versetzen; es ist, als sei seine Phantasie für das tägliche Leben nicht vorhanden. Er haßt die Menschen; denn sein Herz und Nieren prüfender Scharfblick zeigt ihm ihre Kleinheit, und sein düsterer Sinn vermag nicht, mit überlegenem, freundlichen Lächeln das Recht solcher Kleinheit zu würdigen. „Vielleicht” — so schreibt er einmal seiner Braut — „hat die Natur dir jene Klarheit zu deinem Glück versagt, jene traurige Klarheit, die mir zu jeder Miene den Gedanken, zu jedem Worte den Sinn, zu jeder Handlung den Grund nennt.” Fremd, beklommen steht er in den höheren Kreisen der Gesellschaft, wo das Verbergen jedes starken Gefühls für gute Sitte gilt; und doch kann er des Beifalls der Mißachteten nicht entbehren. Die Welt beginnt die Achsel zu zucken über sein zielloses Träumen, er fühlt die spöttischen Blicke seiner Umgebung auf seinen Wangen brennen. Der Drang nach Taten erwacht und lastet auf ihm „wie eine Ehrenschuld, die jeden, der Ehrgefühl hat, unablässig mahnt”; er will schaffen, rastlos, unermüdlich: „Der Mensch soll mit der Mühe Pflugschar sich des Schicksals harten Boden öffnen.” Auch seine Freunde, seine Braut, seine geliebte Schwester Ulrike drängen und fragen ihn, was er denn werden, was er leisten wolle. O ihr Erinnyen mit eurer Liebe! ruft er außer sich.
Wer hätte nicht einmal in schweren Stunden erfahren, wie qualvoll solche zudringliche Einmischung der Welt uns bedrückt, wenn eine ernste Entscheidung vor unsere Seele tritt? Und eben jetzt, da jedermann ihm von seinen wissenschaftlichen Plänen spricht, ist Heinrich Kleist schon verekelt an aller Wissenschaft, er ahnt, daß Gelehrte und Künstler Antipoden sind und — daß er selber ein Dichter sei. Auch dies müssen wir schweigend hinnehmen als ein psychologisches Rätsel, daß in einem solchen Dichtergeiste die Ahnung seines Berufes so unbegreiflich spät erwachte. Kein Liebeslied, kein rhetorischer Dithyrambus hat ihm, wie anderen glücklicheren Künstlern, die holde Schwärmerzeit [S. 188] des Lebens verschönt; die Erstlinge seiner Muse sind — seine schmerzbewegten Briefe an Ulrike. Wir fühlen nach, wie das Ohr des Künstlers sich erfreut an diesen verhaltenen Gedichten, an dem vollen Klange dieser leidenschaftlichen Klagen. Zuweilen tritt schon die Sehnsucht nach dem Schönen klarer hervor; er schildert die Reize der Natur in prächtigen Farben, er ruft: „Wir sollten täglich wenigstens ein gutes Gedicht lesen, ein schönes Gemälde sehen, ein sanftes Lied hören oder ein herzliches Wort mit einem Freunde wechseln.” — Dann stürmt er hinaus in die Ferne; jahrelang, auf unsteten Wanderfahrten durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz jagt er dem Traumbilde des Dichterruhmes nach, das flammend vor seiner Seele steht. Er will der größte der Kleiste werden — denn ein naiver Familienstolz liegt in seinem Geiste dicht neben der Schwärmerei für die Gleichheit der Menschen. Das Sprichwort der märkischen Vettern „jeder Kleist ein Dichter” soll sich glorreich erfüllen, der Lorbeer des alten Ewald Kleist soll verwelken neben dem seinen. Er berauscht sich an Goethes Werken, Schillers ideales Pathos ergreift diesen durch und durch realistischen Kopf nur wenig. Zugleich sagt ihm eine geheimnisvolle Ahnung, daß in ihm selber eine Gewalt dramatischer Leidenschaft schlummere, die Goethes harmonischer Genius so nicht kannte: „Ich will ihm den Kranz von der Stirne reißen”, ruft er frevelnd. Was hat er nicht ausgestanden bei dem wohlweisen Lächeln der Philister um ihn her, die ihm seine „Versche” nicht verzeihen können; wie soll das armselige Volk erstaunen, wenn er einst heimkehrt als der erste der deutschen Dichter!
Und schon ist der Plan gefunden, der alle Wunder von Weimar mit einem Schlage überbieten soll: das Drama Robert Guiscard. Auf diesen einen Wurf setzt er sein alles: gelingt ihm dies Gedicht, „das der Welt deine Liebe zu mir erklären soll” — dann will er sterben, so schreibt er der Schwester. In dem geheimnisvollen Ringen um dieses Werk verzehrt sich die edelste Kraft seiner Jugend. Bald schwelgt er in „der Erfindung, diesem Spiele der Seligen”, bald umflattern die werdenden Gestalten des[S. 189] Gedichts sein Haupt wie ein verfolgendes Dämonengeschlecht, also daß er mitten in froher Gesellschaft mit halblauter Stimme zu dichten beginnt. Wieder und wieder vernichtet er das Werk, das seinen glühenden Wünschen nie genügt. Dann klagt er das Schicksal an, warum es nicht die Hälfte seiner Gaben zurückgehalten habe, um ihm dafür Selbstvertrauen und Genügsamkeit zu schenken; dann überfällt ihn die Reue um die verlorenen Stunden, die ungenossenen wie die ungenützten, und eine tiefe Verachtung des Lebens: „Wer es mit Sorgfalt liebt, moralisch tot ist er schon, denn seine höchste Lebenskraft, es opfern zu können, modert, indem er es pflegt.” Und bald strahlt er wieder von kecker Siegeszuversicht und ruft gleich seinem Prinzen von Homburg: „O Cäsar Divus, die Leiter setz’ ich an deinen Stern!” Sein äußeres Leben in diesen angstvollen Tagen schildert er selbst in der Klage: „An mir ist nichts beständig als die Unbeständigkeit.” Er wandert und wandert, schließt Bekanntschaften mit bedeutenden Männern, um sie ebenso schnell zu lösen, entwirft neue Lebenspläne, um sie sogleich fallen zu lassen. Er will als ein Landmann in der Schweiz sich eine stille Hütte bauen und bricht mit seiner Braut, weil sie ihm nicht folgen will; er versucht einmal, inmitten der Pracht der Alpen, auf einer Insel in der Aar, mit einem anmutigen Schweizermädchen ein beschauliches Künstlerleben zu führen — und das alles zieht an ihm vorüber wie ein Traum, leer und nichtig neben dem einen, was ihm wirklich ist — neben dem Dichterschmerz um sein Drama. Da endlich erfolgt die Enttäuschung, deren schneidenden Jammer nur die eigenen Worte des Unglücklichen schildern können. Am 5. Oktober 1803 schreibt er der Schwester:
„Der Himmel weiß, meine theuerste Ulrike (und ich will umkommen, wenn es nicht wörtlich wahr ist), wie gern ich einen Blutstropfen aus meinem Herzen für jeden Buchstaben eines Briefes gäbe, der so anfangen könnte: ‚Mein Gedicht ist fertig.’ Aber Du weißt, wer nach dem Sprichwort mehr thut, als er kann. Ich habe nun ein Halbtausend hinter einander folgender Tage, die Nächte der meisten mit eingerechnet, an den Versuch gesetzt, zu[S. 190] so vielen Kränzen noch einen auf unsere Familie herabzuringen: jetzt ruft mir unsere heilige Schutzgöttin zu, daß es genug sei. Sie küßt mir gerührt den Schweiß von der Stirne und tröstet mich, ‚wenn jeder ihrer lieben Söhne nur eben so viel thäte, so würde unserem Namen ein Platz in den Sternen nicht fehlen’. Und so sei es denn genug. Das Schicksal, das den Völkern jeden Zuschuß zu ihrer Bildung zumißt, will, denke ich, die Kunst in diesem nördlichen Himmelsstrich noch nicht reifen lassen. Thöricht wäre es wenigstens, wenn ich meine Kräfte länger an ein Werk setzen wollte, das, wie ich mich endlich überzeugen muß, für mich zu schwer ist. Ich trete vor Einem zurück, der noch nicht da ist, und beuge mich ein Jahrtausend im Voraus vor seinem Geiste. Denn in der Reihe der menschlichen Erfindungen ist diejenige, die ich gedacht habe, unfehlbar ein Glied, und es wächst irgendwo ein Stein schon für den, der sie einst ausspricht. Und so soll ich denn niemals zu Euch, meine theuersten Menschen, zurückkehren? O niemals! Rede mir nicht zu. Wenn Du es thust, so kennst Du das gefährliche Ding nicht, das man Ehrgeiz nennt. Ich kann jetzt darüber lachen, wenn ich mir einen Prätendenten mit Ansprüchen unter einem Haufen von Menschen denke, die sein Geburtsrecht zur Krone nicht anerkennen; aber die Folgen für ein empfindliches Gemüth, sie sind, ich schwöre es Dir, nicht zu berechnen. Mich entsetzt die Vorstellung. Ist es aber nicht unwürdig, wenn sich das Schicksal herabläßt, ein so hilfloses Ding, wie der Mensch ist, bei der Nase herumzuführen? Und sollte man es nicht fast so nennen, wenn es uns gleichsam Kuxe auf Goldminen giebt, die, wenn wir nachgraben, überall kein ächtes Metall enthalten?” —
Gleich darauf eilt er nach Frankreich, um unter Bonapartes Fahnen in England zu landen und — dort „den schönen Tod der Schlachten zu sterben. Unser aller Verderben lauert über den Meeren. Ich frohlocke bei der Aussicht auf das unendlich prächtige Grab”. Eine schwere Krankheit rettet ihn aus diesem Anfalle des Wahnsinns; doch die Narben aus jenen Kämpfen bleiben unvertilgbar[S. 191] seinem Geiste aufgeprägt. Von neuem beginnen die unsteten Wanderfahrten; über lange Abschnitte seines Lebens sind wir noch heute ohne sichere Kenntnis. In diesem reichen Geiste arbeiten dämonische Kräfte, die über die Enden des Menschlichen hinausgreifen, er schwankt zwischen seinem Urbild und seinem Zerrbild, zwischen dem Gott und dem Tier. Sein poetischer Genius bricht sich endlich seine Bahn durch alle diese Leiden, entfaltet sich stolz und sicher, stetig anwachsend. Dann bringt das Unglück des Vaterlandes seinem verwüsteten Leben wieder einen neuen reichen Inhalt: mit der inbrünstigen Liebe eines großen Herzens klammert der Dichter sich fest an sein versinkendes Volk, und während er die herrlichen Werke schreibt, die ihn an die Spitze unserer politischen Sänger stellen, trägt der Unbegreifliche jenen finstern Lebensüberdruß mit sich umher, der ihn schließlich zum Selbstmord treibt.
Es hieße an jeder Freiheit des Willens verzweifeln, wollte man in einem so unseligen Leben keine Schuld finden. Aber wer ist so vermessen, nach den dürftigen Nachrichten das Maß seiner Verschuldung und das Maß seines Unglücks abzuwägen? Nur einige widrige Umstände, an denen Kleists Wille wenig ändern konnte, seien erwähnt. Durch seinen frühzeitigen Eintritt in den Soldatenstand ward sein Entwicklungsgang unterbrochen, seine ganze spätere Bildung autodidaktisch und verwirrt. Und wie unentbehrlich war nicht eine strenge Geisteszucht gerade einem so erregbaren, so leicht und vielseitig auffassenden Kopfe! Ein geborener Edelmann war er hinabgestiegen zu einem Berufe, der jenen Tagen noch für bürgerlich galt, und vermochte doch den stetigen, folgerechten Fleiß des bürgerlichen Arbeiters sich niemals anzueignen. Noch tiefer und unheilvoller mußte auf ihn wirken, daß das Leben seinem Gemüte so wenig Freuden bot. Eine wahre, beglückende Liebe hat er nie genossen. Und wenn wir seine Richtung auf das Drama, sein für jene Zeit wunderbar lebendiges Interesse am politischen Leben bedenken, wenn wir uns fragen: Welch ein Geist mußte es sein, der in dem Käthchen von Heilbronn, in der willenlos [S. 192] sich hingebenden Liebe sein weibliches Ideal finden konnte? — so erkennen wir, daß, bei aller Reizbarkeit, das männliche, ja das männische Wesen der hervorstechende Charakterzug seiner Natur war, so verstehen wir auch, wie schmerzlich dieser stolze Mann den Mangel teilnehmender Liebe empfinden mußte. Seine Braut hat ihn nie beglückt, das bezeugen seine Briefe. Diese Liebesbriefe eines Dichters, die uns mit einer Flut dürrer, doktrinärer Prosa überschütten, seien allen denen empfohlen, welche nicht begreifen können, aus wie seltsamen, widerstrebenden Stoffen der Mensch gemischt ist. Jeder Brief beginnt mit einigen zärtlichen Worten, deren abstrakte Metaphern starke Zweifel an der Tiefe der Empfindung erregen; darauf folgt eine regelrechte Schulstunde; er fordert seine Braut zu Denkübungen auf, er legt ihr Fragen vor, wie: Was ist prächtig? was niederschlagend? Kurz, er liebt sie nicht, er will sie erst bilden, und auch eine reiche Phantasie kann eine solche Täuschung des Gefühls nicht mit poetischem Zauber verklären.
Ulrike Kleist hat mit rührender Hingebung ihr Vermögen, ihr Glück, ihr alles dem Bruder geopfert, doch sie war nur die Schwester, zudem mit ihrem männlichen exzentrischen Wesen dem Dichter allzu verwandt: „Es läßt sich nicht an ihrem Busen ruhn.” Auch eine zweite Geliebte, die er zu Dresden in Körners Hause fand, verstand nicht in die Launen seines herrischen Geistes sich zu fügen, und er stieß sie von sich. Wer ein Ohr hat für die leisen Schwingungen des Gefühls, der errät auch aus den Werken mannhafter Dichter, ob ihr Herz verödet blieb oder ob sie einmal wahr und rein und glücklich liebten — ein feiner und tiefer Unterschied, der mehr in der Form als im Wesen der Empfindung sich kundgibt. Wenn es lichte Geister gibt, die in der Einsamkeit des schaffenden Genius erhaben sind über solcher Bedürftigkeit — Kleist zählte nicht zu ihnen. Ergreifend klingt seine Klage: „So viele junge blühende Gestalten, mit unempfundenem Zauber sollen sie an mir vorübergehn? O dieses Herz! Wenn es nur einmal noch erwärmen könnte!” Er schildert die Liebe selten unbefangen als die welterhaltende [S. 193] Macht, die in dem Stammeln des Kindes als die erste Regung der Menschlichkeit erscheint und den Trotz des Mannes zu der Natur zurückführt; er stellt sie gern dar als eine Krankheit des Leibes und der Seele und verirrt sich zuweilen in die Mysterien des geschlechtlichen Lebens, die der Kunst schlechthin verschlossen sind. Er schildert gern das Nackte, und seine lebensvolle Sinnlichkeit berührt oft die zarte Grenze, welche die schöne Wärme der Leidenschaft von der fliegenden Hitze des Gelüstes trennt.
Auch der Freunde besaß er wenige. Einige ausgezeichnete Männer unter seinen Kriegskameraden, wie Rühle und Pfuel, standen seinem Dichterschaffen allzu fern; und der Verkehr mit dem anmaßenden Phantasten Adam Müller verwirrte nur sein Urteil. Erscheint es nicht fast tragikomisch, daß der derbe, grundprosaische Zschokke und der jüngere Wieland, den die Nachwelt nur als einen warmherzigen Patrioten kennt, die einzigen Poeten waren, mit denen ihn eine gewisse Gemeinschaft künstlerischer Arbeit verband? Zschokkes „Stunden der Andacht” und Penthesilea! — Was frommte ihm der Beifall des alten Wieland, der schon mit einem Fuß im Grabe stand? Der eine, zu dem er emporblickte, Goethe, konnte das Grauen vor den krankhaften Zügen dieses leidenschaftlichen Talentes nicht verwinden; und die lauten Stürmer der romantischen Schule, die mit ihren formlosen Experimenten den Markt beherrschten, verziehen ihm seine Tugenden nicht, sie verachteten den prosaischen Sinn des Mannes, der den Mut besaß, festzuhalten an der strengen Kunstform des Dramas. Den christlichen Poeten des Tages war der ernste Bekenner Kantischer Sittlichkeit unheimlich: wenn Fouqué mit ihm zusammentraf, so sprachen sie selbander — über die Kriegskunst. Von solchen Stimmungen beherrscht erwies die Leserwelt den Werken Kleists eine unbelehrbare Mißgunst; kein einziger froher Erfolg verschönte sein Leben. Als er einst einer Freundin einige seiner Verse rezitierte und jene voll Bewunderung nach dem Verfasser fragte, da schlug er sich verzweifelnd an die Stirn: „Auch Sie kennen es nicht? O mein Gott,[S. 194] warum mache ich denn Gedichte?” Man mag einen jungen Poeten verachten, der die Kraft nicht findet, das unvermeidliche Schicksal eines Erstlingswerkes zu ertragen; doch hier erschüttert uns die gerechte Klage des verkannten Genius. Fester und fester spann er sich ein in sein einsiedlerisches Treiben: das Leid, sprach er stolz, drückt um so schwerer, wenn mehrere daran tragen. Der Fluch der Einsamkeit kam über ihn: sie nährte sein mißmutiges Grübeln, sie gewährte ihm nur zu viel Muße, die Dinge wieder und wieder zu bedenken, also daß jeder Entschluß, kaum gefaßt, ihm alsbald zum Ekel ward. Und wenn wir schaudern vor den frevelhaften Spielen der Phantasie, die in solchen Stunden sein Hirn betörten, so sollen wir doch auch unbarmherzig die Mitschuld seiner Zeit bekennen: dies Künstlervolk ließ den Sänger des Prinzen von Homburg verhungern, während Kotzebue und Zacharias Werner als große Dichter gefeiert wurden.
Es liegt am Tage, daß ein so qualvoll ringender Dichtergeist unwillkürlich Probleme von subjektiver Wahrheit wählen mußte. Kleist wußte wohl, warum er die Frage aufwarf, die ihm viele begabte Dramatiker nachgesprochen haben: ob es denn nicht möglich sei, die Frauen mindestens für einige Abende vom Theaterbesuche auszuschließen. Seine edelsten Werke sind Bekenntnisse, ganz verständlich nur dem reifen Manne, dem verwandte Kämpfe die Seele erschütterten. Wer sich aber hineingefunden hat in diese subjektive Welt, den umfängt sie auch wie ein Zauberkreis. Kleist besitzt eine dramatische Energie, welche dem gemütvollen, gern in die Weite schweifenden deutschen Wesen fast unheimlich erscheint und von keinem anderen unserer Dichter erreicht wird. Ein hoher dramatischer Verstand wirft alles zur Seite, was aufhalten, was den Sinn des Hörers von dem Wesentlichen ablenken könnte. Unaufhaltsam, wie in den Effektstücken gedankenloser Bühnenpraktiker, flutet die Handlung dahin; und doch ist nichts bloß gedacht und gedichtet, alles erlebt und angeschaut. Mit wunderbarer Sicherheit weiß er jederzeit die Stimmung in uns zu erwecken, die sein Stoff verlangt; mit ein paar Worten[S. 195] versetzt er uns in jede fremde Welt. Vor der Wahrheit seiner Charaktere verstummt die Kritik: diese Menschen leben, und wenn der Sturm der Leidenschaft sie packt, dann verliert selbst der nüchterne Hörer die Besinnung. In Kleists reiferen Stücken sind auch die geringfügigen Nebenpersonen des Studiums der tüchtigsten Schauspieler würdig: der Knecht Gottschalk im Käthchen war eine der glänzendsten Rollen Ludwig Devrients. Freilich verführt ihn die Fertigkeit, sich selbst zu belauschen, auch in der Zeichnung seiner Charaktere oft zu virtuoser Kleinmalerei. Er wagt manchmal, jene flüchtigen Gedankenblitze darzustellen, die uns wider Willen durchzucken, die nur durch ihr augenblickliches Verschwinden erträglich werden und darum jeder Darstellung sich entziehen; dann haben wir den Eindruck, als redeten seine Menschen im Traume. In jenen Augenblicken der höchsten Wut, wo in der Wirklichkeit die Leidenschaft stumm bleibt oder nur zerrissene Reden ausstößt, verschmäht Kleist oft das schöne Vorrecht des Dichters, der mächtigen inneren Bewegung Worte zu leihen; solche Szenen machen bei ihm, weil er sich zu sehr an die Natur hält, nur den Eindruck des Richtigen, nicht der poetischen Wahrheit.
Die maßlose Leidenschaft, daran des Dichters Leben sich verblutete, dringt oftmals störend auch in seine Werke: er liebt das Schreiende, Gräßliche, verfolgt jedes Motiv gern bis zur äußersten Spitze, seine Helden jagen ihrer Sehnsucht nach so ungestüm, so unersättlich wie er selber dem Traumbilde seines Robert Guiscard. Als Kleist zu dichten begann, hatte er schon zu vieles, zu Ernstes erlebt, um zu meinen, es ließen sich die großen Widersprüche der Welt mit einer „schönen Stelle” lösen. Aber selbst diese echt künstlerische Tugend wird an ihm oft zum Fehler: er haßt nicht bloß die Phrasen, er flieht die Ideen. Als einen Mangel müssen wir es bezeichnen, daß die von Lessing verpönten langweiligen Aushilfen verlegener Dichter in seinen Dramen fast gänzlich fehlen. Das Trauerspiel hohen Stils verlangt solche Worte der Weisheit, nur daß sie natürlich aus Handlung und Charakter sich ergeben müssen; der Hörer atmet bei ihnen[S. 196] auf, er ahnt den hellen Dichtergeist hinter den Schrecken des tragischen Schicksals. Nicht Mangel an Genie erschwerte ihm, den idealen Gehalt seiner Fabeln an den Tag zu bringen, wohl aber Mangel an Ruhe: seine Stoffe lasteten auf ihm noch in ganz anderer Weise, als jedes unfertige Bild den Künstler bedrückt. Er besaß andauernde Begeisterung genug, um fast nur größere Werke zu schaffen, er arbeitete langsam und kehrte mit gewissenhaftem Fleiße immer wieder zu dem Geschaffenen zurück. Er schildert jede Einzelheit mit peinlicher Genauigkeit; und doch fühlen wir aus der Mehrzahl seiner Werke die innere Rastlosigkeit des Dichters heraus, seinen Drang, des Stoffes ledig zu werden. Man lese die „Episode aus dem letzten Feldzuge”, ein keckes Reiterstück, die einfachste Geschichte von der Welt. Wie ein Husar in einem von den Franzosen bedrohten Dorfe unbekümmert um die Bitten des Wirts behaglich ein paar Gläser trinkt, dann mit einem wilden Fluche davon sprengt und sich durch die Feinde durchhaut — das wird auf mehreren Seiten geschildert, keine Handbewegung des Reiters wird uns erlassen. Und trotzdem kommen wir dabei nicht einen Augenblick zur ruhigen Betrachtung, so atemlos ist die Erzählung.
Auf Kleists Schaffen paßt Wort für Wort die Klage, die Schiller einmal über die Aufgabe des Dramatikers schlechthin ausspricht: „Ich muß immer beim Objekte bleiben; jedes Nachdenken ist mir versagt, weil ich einer fremden Gewalt folge.” Und fragen wir, warum Heinrich Kleist mit aller Schöpferkraft seiner Phantasie doch hinter dem Genius Schillers weit zurückbleibt, so lautet die Antwort: Schiller ist ein Klassiker, er sucht Probleme, die für alle Zeiten wahr sind, und löst sie mit der Sicherheit eines Geistes, der in den Ideen lebt; und weiter: Schiller steht seinen Werken frei gegenüber — trotz jener Selbstanklage, die ihn nicht trifft. Kleist aber wird in der Tat oft unfrei, willenlos fortgerissen von der Gewalt seines Stoffes; ja wir fühlen nicht selten, wie eine glänzende Erscheinung vor ihm aufsteigt, wie sie Macht gewinnt über seinen Geist und ihn zwingt, sie zu gestalten, auch wenn die Harmonie seines Planes darunter leiden sollte.[S. 197] Einzelne traumhaft schöne Bilder kehren in seinen Gedichten immer wieder, fast wie fixe Ideen, die er nicht abschütteln kann.
Trotzdem ist Kleist ein denkender Künstler. Zwar kommt ihm niemals bei, in seinen Briefen über die Gesetze seines Künstlerschaffens zu sprechen, ja in einem Aufsatz voll köstlichen zynischen Humors verhöhnt er alle Kunsttheorien und meint, „daß es, nach Anleitung unserer würdigen alten Meister, mit einer gemeinen, aber übrigens rechtschaffenen Lust an dem Spiel, deine Einbildungen auf die Leinwand zu bringen, völlig abgemacht ist”. Doch in seinen Werken ist solcher Naturalismus nicht zu finden: gewissenhaft hat der Mann, dem die Schule der Bühne verschlossen blieb, nachgedacht über die Gesetze des Dramas; sorgfältig hält er die Kunstformen auseinander. In seinen Dramen ist alles Handlung, in den Novellen alles Erzählung, also daß selbst der Dialog zumeist in indirekter Rede berichtet wird. Man vergleiche das lange Gedicht an die Königin Luise, das Graf York vor kurzem in den Grenzboten mitteilte, mit dem schönen prägnanten Sonette, das offenbar aus jenem Entwurf entstanden ist, und man wird ahnen, wieviel Gedankenarbeit in diesen wenigen Zeilen liegt. Auch in der Form seiner Gedichte bewährt sich der bewußte Künstler. Die ganze Tonleiter der Empfindung steht dem Sprachgewaltigen zu Gebote, doch am glücklichsten gelingt ihm der Ausdruck der stürmischen Leidenschaft; er kennt die Laute des edlen Heldenzorns, wie der tierischen Wildheit. Sein Stil ist höchst persönlich, von unverkennbarer Eigenart und eben darum echt deutsch: eine knappe, markige Sprache, auch in der Prosa allein aus dem deutschen Wortschatz geschöpft, reich an volkstümlichen anschaulichen Wendungen, und wenn es sein muß derb und grob, so wie er einst im Regimente gegen seine „Kerls” gewettert hatte. Der melodische Tonfall lyrischer Rede reizt ihn nicht; ihn kümmert’s wenig, ob seine Jamben zuweilen hart, zerhackt, durch häßliche Flickwörter entstellt erscheinen; nur dramatisch, ausdrucksvoll, ein treuer Spiegel des Inhalts sollen sie sein, und sie sind es.
Mag ihn die Literaturgeschichte immerhin zu der romantischen Schule zählen — die stolze Ursprünglichkeit dieser Erscheinung wird durch einen Gattungsnamen mit nichten erschöpft. Jedes Gedicht Kleists entspricht der Mahnung, die er einst den nachahmenden Künstlern zurief: die Werke der alten Meister sollten „die rechte Lust in Euch erwecken, auf Eure eigene Weise gleichfalls zu sein”. Er hat die Märchenpracht der Romantik mit ahnungsvoller Zartheit besungen, ja der Kantianer sehnte sich auf Augenblicke nach dem Frieden, den nur die Formenschöne des katholischen Kultus gewähren könne; aber dicht neben diesen phantastischen Träumen liegt in seinem Geiste der strenge Realismus, die Freude an dem Schlichtnatürlichen, die Verstandesklarheit des protestantisch-norddeutschen Wesens. Der uns soeben die gaukelnden Gestalten einer Wunderwelt geschildert, führt uns im nächsten Augenblick in die Kämpfe des politischen Lebens, läßt uns in vollen Zügen die frische, scharfe Luft der Zeitgeschichte atmen. So steht der wunderliche Grübler vereinsamt wie ein Fremder in einer Zeit, deren Kämpfe und Leiden er doch tiefbewegt im Innern mitempfindet; und wir Nachlebenden wissen nicht zu sagen, ob wir ihn beklagen sollen als einen Spätling oder als einen zu früh Geborenen. Er erschien zu spät — denn dem geistigen Vermögen einer jeden Epoche ist ein festes Maß gesetzt, es war unmöglich, daß die deutsche Kunst noch bei Lebzeiten Goethes jenen neuen Stil hätte finden können, von dem Kleist träumte. Und wieder: er kam zu früh, denn erst der Bürgersinn, der realistische Zug der Gegenwart beginnt den Kern dieses Dichtergeistes zu verstehen, erst den Dramatikern unserer Tage sind seine Werke ein Vorbild.
Nur der Torso des ersten Aufzuges läßt uns ahnen, welch ein Werk der „Robert Guiscard” zu werden bestimmt war; doch weder das Bruchstück selbst noch die Überlieferung der Normannengeschichte gibt uns einen klaren Begriff von dem Plane. Wir vermuten lediglich, wenn wir „das Volk” als Masse reden und klagen hören, daß dem Dichter eine Erneuerung des antiken Chors in ganz moderner, dramatischer Form, eine Verbindung des[S. 199] charakteristischen und des idealisierenden Stiles vorgeschwebt haben mag. Eine wunderbare, von Kleist selber nie wieder erreichte Pracht der Sprache hebt uns sofort auf die Höhen des Menschenlebens; hier ist sie wirklich, die gorgeous tragedy in sceptred pall, die Tragödie der Könige und Helden. Wir blicken in das wogende Gewimmel eines Völkerlagers, und wie der alte Löwe Robert Guiscard soeben majestätisch unter die klagenden Normannen tritt, da brechen die Szenen ab, die einzigen, welche Kleist nach der Vernichtung des Werks zu erneuern gewagt hat, und traurig legen wir die Blätter aus der Hand, an denen das Herzblut eines edlen Mannes haftet.
Noch während dieser Plan auf der Seele des Dichters lastete, versuchte er sich an einem bescheideneren Werke, dem Drama „Die Familie Schroffenstein”. Neben seiner großen Tragödie erschien ihm das kleinere Gedicht bald armselig, wie „eine elende Scharteke”; fast gewaltsam mußten ihn die Freunde überreden, das Drama zu vollenden. Kein Wunder, daß die Kritik mit diesem Erstlingswerke nichts anzufangen wußte; der Dichter war, da er als Neuling auf den Markt trat, längst in der Stille durch eine harte Schule dramatischer Arbeit gegangen, längst hinaus über die rhetorische Überschwenglichkeit der Jugend.
Der Bau der ersten Akte ist mit der Sicherheit eines gereiften Verstandes entworfen; die Charaktere, voll gewaltiger, wortkarger Leidenschaft, sind gezeichnet mit jener unerbittlichen Wahrheit, welche die Frauen so leicht von Kleists Werken zurückschreckt; das Ganze ein Bild finsterer blutiger Kämpfe, ohne jede Spur einer höheren Idee. Wenn Hegel recht hätte mit seinem Satze, daß ein idealistischer Anfang in der Kunst immer bedenklich sei, so müßte man dies Erstlingswerk mit dem günstigsten Auge betrachten. Und doch liegt gerade in dem Mangel jedes idealen Momentes der Grund seines Fehlschlagens.
Kleist schildert den ererbten Haß zweier verwandter Häuser, deren Kinder sich lieben und endlich durch den[S. 200] Frevel der Väter untergehen. In Shakespeares Romeo und Julie wird der Haß der Familien vorausgesetzt, der Schwerpunkt liegt in der Schuld der Liebenden. Bei dem deutschen Dichter erscheint das Leiden der Liebenden nur als eine Episode, als das heitere Gegenbild der finsteren Fabel, freilich als ein Bild von rührender Innigkeit und bezaubernder sinnlicher Wärme. Der Kern seiner Aufgabe ist, zu entwickeln, wie die lang gehegte Erbitterung der beiden Geschlechter durch ein Nichts, einen leeren Verdacht zum finsteren Hasse gesteigert wird, wie der Wahnsinn des Argwohns die beiden Stammeshäupter — zwei grundverschiedene und doch in ihrem zähen, schweren Wesen nahe verwandte Naturen — übermächtig packt und sie fortreißt von Untat zu Untat. Und dies ist dem Künstler so vollständig gelungen, wirkliche und vermeinte Schuld, Schein und Wahrheit verschlingen sich so fest ineinander, daß der Hörer und schließlich auch der Dichter die Klarheit seines sittlichen Urteils verliert. Dem Dichter selbst wird „das Gefühl verwirrt” wie seinen Helden, er steht ratlos vor dieser jämmerlichen und doch so furchtbaren Kleinheit der Menschen, die in ihrem Grimm befangen nicht rechts noch links von ihrem Wahn hinwegzublicken weiß; er meint zuletzt, die durch den Aberwitz der Sterblichen verschuldete Verwicklung durch einen Aberwitz des Schicksals lösen zu dürfen. Durch einen grundhäßlichen Zufall erschlägt jeder der Väter, in der Meinung, das Kind des Feindes zu treffen, sein eigenes Kind. Vor den unschuldigen Opfern kommt endlich die Nichtigkeit des Argwohns, der all dies Unheil herbeigeführt, an den Tag, und die schuldigen Väter feiern eine weder glaubhafte noch erhebende Versöhnung. Mit sichtlicher Unlust hat der Dichter den Schluß zu diesem krankhaftesten seiner Dramen auf das Papier geworfen; es ist sein eigenes verstörtes Gemüt, das durch den Mund seines Helden verzweifelnd gen Himmel schreit:
Als endlich sein Geist sich langsam erholte von dem Zusammenbruch seiner liebsten Träume, da begann er eine Neuschöpfung des Molièreschen Amphitryon. Eine Neuschöpfung, sage ich, denn bloß zu übersetzen war diesem trotzigen Dichter unmöglich; in ihm lag nichts von weiblicher Empfänglichkeit, und selbst die Aufgabe, das Werk Molières umzugestalten, hätte ihn schwerlich gereizt, wenn nicht die unharmonische Natur des Stoffes jedem neuen Bearbeiter einen weiten Spielraum eröffnete. Die berühmte Fabel, wie Zeus in der Gestalt Amphitryons dessen Weib Alkmene erkennt, bietet in der tollen Verwechslung der Personen, in der Figur des geprellten Ehemanns, diesem zweideutigen Liebling des Lustspiels aller Zeiten, überreichen Stoff zu komischen Szenen; aber, zu grausam für einen Scherz, zu lächerlich, um tiefere Empfindungen zu erregen, kann sie nie einen reinen Eindruck hervorbringen. Als ein Meister hat Molière verstanden, die bedenkliche Kehrseite der Handlung zu verdecken, mit herzerquickendem Selbstgefühl stellt er sich als ein moderner Mensch der antiken Welt gegenüber — so übermütig wie nur Shakespeare in Troilus und Cressida. Er verflacht absichtlich den nationalen Gehalt des Stoffes, er will nichts wissen von dem religiösen Schauer, den die Erscheinung des Göttervaters in der Brust des gläubigen Hellenen erweckte. Seine Götter sind ein lebenslustiges, übermütiges Völkchen, von den Menschen nur durch ihre Macht verschieden und sehr geneigt, diese Übermacht zu mißbrauchen. Er beginnt mit einem Prologe voll köstlicher Laune: Merkur fordert die Nacht auf, einige Stunden länger über Theben zu verweilen, damit Zeus seine Freude bis auf die Hefe genießen könne; sie weigert sich, denn man müsse „das Dekorum der Göttlichkeit” wahren, doch gibt sie nach, als er ihre Neigung für galante Abenteuer, wovon sie sich allerdings nicht freisprechen läßt, ihr vorhält. Mit diesen Späßen und dem possenhaften Wortspiele Bon jour, la Nuit — adieu, Mercure, das den Prolog schließt, gelangen wir sofort zu der leichtfertigen, lustigen Stimmung, die der Dichter verlangt. Nun folgt ein buntes Durcheinander lächerlicher[S. 202] Szenen. Merkur in der Gestalt des Sklaven Sosias zankt sich mit dem wahren Sosias über sein Ich, zerprügelt ihn wiederholt mit göttlicher Urkraft; und zu diesen alten Witzen, wodurch schon der Amphitryon des Plautus und des Camoens ihre Hörer entzückten, tritt eine neue glückliche Erfindung hinzu: der eheliche Zwist im Hause des Fürsten wiederholt sich possenhaft im Hause des Sklaven. Die gewollte Oberflächlichkeit seiner Charakterzeichnung wird dem Dichter erleichtert durch den Genius seiner Sprache: die französische Leidenschaft tritt in viel zu rhetorischer Form auf, als daß sie uns tief ergreifen könnte. Mit leichtfertiger Grazie schlüpft er über die ernsten Auftritte dahin, so daß wir nie zum Nachdenken, nie aus dem Gelächter herauskommen.
Der tiefe Gegensatz deutschen und französischen Kunstgefühles tritt uns vor die Augen, wenn wir nunmehr den deutschen Dichter in seiner Werkstatt belauschen, wie er das fremde Gebilde zu packen und auf den Kopf zu stellen wagt. In den rein komischen Szenen reicht Kleist, trotz der ersichtlichen Bemühung, sie mit lustigen Einfällen zu bereichern, an die schalkhafte Leichtigkeit seines Vorbildes nicht heran; dafür versucht er, die ernste Seite des Dramas zu vertiefen, zu bereichern durch die Macht und Glut deutscher Leidenschaft. Als Amphitryon seinem Weibe nicht glauben will, daß er selbst sie am vergangenen Abend besucht, da ruft sie ihm nicht, wie bei Molière, seine transports de tendresse, seine soudains mouvements — und wie sonst die französischen Phrasen lauten — ins Gedächtnis: leibhaftig vielmehr tritt der Vorgang vor uns hin, wie Alkmene in der Dämmerung am Rocken saß, wie der vermeinte Gatte heimlich ins Zimmer schlich und sie auf den Nacken küßte — und so folgen wir Schritt für Schritt dem Entzücken jener seligen Nacht. Bezeichnend genug liegt bei dem romanischen Dichter der Schwerpunkt des Stücks in den Situationen, bei dem Deutschen in den Charakteren. Alkmene, bei Molière eine sehr gewöhnliche Erscheinung, ist bei Kleist ein herrliches Weib, „so urgemäß dem göttlichen Gedanken in Form und Maß, in Sait’ und Klang”; sie bleibt rein in[S. 203] der Umarmung des fremden Mannes, denn „Alles was sich Dir nahet ist Amphitryon”. Kleist schildert nicht die noble Passion eines galanten großen Herrn, sondern den geheimnisvollen Zauber eines begeisterten Festes der Liebe. Er wagt noch mehr: der christliche Mythus von der unbefleckten Empfängnis der Maria schwebt ihm vor Augen, und er erkühnt sich, der alten Heidenfabel ihren religiösen Inhalt wiederzugeben. Sein Zeus ist der Gott, das irdische Haus muß sich geehrt, begnadigt fühlen durch den Besuch des Allmächtigen. Dergestalt haben zwar die ernsten Szenen unendlich gewonnen. Wie in den Gesprächen mit Alkmene das göttliche Wesen des Zeus durch die irdische Hülle hindurchbricht, wie er endlich mit dem Donnerkeil in der Hand aus dem Gewölke tritt und zu den in heiligem Schrecken zusammenbrechenden Sterblichen redet, das sind Auftritte voll Majestät. Aber das Wesentliche, die Einheit des Stücks, geht verloren. Diese erhabenen Bilder stehen in grellem Widerspruch zu dem possenhaften Treiben der beiden Sosias; es ist unmöglich, Mitleid zu empfinden mit dem tiefen Schmerze des Amphitryon, den wir soeben erst seinen Sklaven in höchst prosaischer Weise prügeln sahen; und mit aller Pracht der Sprache gelingt dem Dichter nicht, uns die Göttlichkeit eines Wesens glaubhaft zu machen, das so groß spricht, aber so grausam und zweideutig handelt wie dieser Zeus. Die zerrissenen, nichtssagenden Reden, womit das Volk zuletzt die Kunde von der seltsamen Gnade des Gottes aufnimmt, beweisen, daß Kleist selbst nicht daran glaubte. Recht behält die faunische Weisheit des Molièreschen Sosias: sur telles affaires toujours le meilleur est de ne rien dire.
Wie anders der fast zur selben Zeit vollendete „zerbrochene Krug”, das einzige selbständige Lustspiel des Dichters — ein Werk aus einem Gusse, rund und fertig, harmonisch bis in die letzte Zeile. Kleist hatte sich einst in der Schweiz mit Zschokke und Ludwig Wieland an einem Kupferstiche ergötzt, der einen plumpen dicken Richter darstellte inmitten hitziger Parteien, die um die Scherben eines Kruges sich streiten. Die jungen Leute[S. 204] wählten dies zum Thema eines literarischen Wettkampfes, und als nun der Grübler sich in das Bild vertiefte, da kam ihm ein Einfall, so einfach, daß er unserem blasierten Publikum kaum auffällt, und doch so glücklich, so echt komisch, daß wir in der armen Geschichte des deutschen Lustspiels nur wenige seinesgleichen finden: der Richter selber hat den Krug zerbrochen bei einem unsauberen Liebesabenteuer und muß, indem er verhört, sich selbst entlarven. Mit virtuoser Kühnheit macht sich Kleist die Arbeit so schwer als möglich; er hält sich genau an das Bild: das ganze Lustspiel stellt, bis auf eine einleitende Szene, nur die eine auf dem Kupferstiche wiedergegebene Situation dar, und zum Überfluß spielt die Handlung in Holland unter breitspurigen Menschen, die mit umständlichem Phlegma jedes Nichts erörtern. Der entscheidende Hergang rollt sich nicht vor unseren Augen ab, er wird nachträglich enthüllt; die Entwicklung des Dramas ist analytisch, sie erinnert an die Komposition vieler antiker Tragödien. Doch der Dichter hat wirklich die Not zur Tugend gemacht, er weiß den Gang des Verhöres so gewandt zu entwickeln, daß wir auf das Geschehene nicht minder gespannt sind wie in anderen Lustspielen auf das Künftige. Und welch ein psychologisches Meisterstück — dieser Richter Adam, wie er sich festlügt mit frecher Stirn, wie er dann aufgescheucht wird aus allen Schlupfwinkeln seiner dummdreisten Schlauheit, wie er sich nach und nach entpuppt als ein Ungetüm von feiger Unverschämtheit, ein holländischer Falstaff. — Wieviel Kraft des Willens lag doch in Kleists Seele, wenn er seinen düsteren Sinn zwingen konnte zu der ausdauernden Heiterkeit der Komödie! Nur an einzelnen Stellen verrät der gepreßte künstliche Ton des Scherzes, daß der Dichter diese derblustigen Gestalten schuf, um sein selbst zu vergessen.
Durchaus nicht auf der Höhe seiner Dramen stehen Kleists Erzählungen. Nicht als ob ihm das erzählende Talent gefehlt hätte: seine Virtuosität in der Detailmalerei konnte sich hier vielmehr am freiesten tummeln. Aber die lose Kunstform legt seinem stürmischen Geiste[S. 205] die Zügel nicht an, deren er bedarf; alle krankhaften Neigungen seines Wesens, welche die ideale Strenge des Dramas mäßigte, lassen sich hier haltlos gehen. Es scheint nicht überflüssig, dies hervorzuheben: unsere besten Dichtertalente sind heute auf dem Felde der Erzählung tätig; dabei laufen wir Gefahr, den natürlichen Wert der Kunstgattungen zu vergessen. Nimmermehr hätte Kleist in dramatischer Form so ganz Verfehltes geschaffen, wie die häßlichen Schauergeschichten, „Der Findling” und „Das Bettelweib von Locarno”, oder gar die weinerliche Legende von der heiligen Cäcilie. Nur die Manier der Erzählung, nicht das Talent verrät, daß diese verunglückten Versuche aus derselben Feder flossen, welche „Das Erdbeben in Chili” und „Die Verlobung in St. Domingo” schrieb. Das fürwahr sind echte Novellen im Stile der alten Italiener: das neue unerhörte Ereignis, das launische Spiel des Schicksals, nicht der Kampf in der Seele des Menschen, gilt dem Dichter als das Wesentliche. In leidenschaftlicher Hast stürmt die Erzählung vorwärts, wunderbar glücklich stimmt die schwüle Luft der indischen Welt zu dem rasenden Wechsel der Geschicke; dem Leser wird zumute, als ob ihm selber die Glut der Tropensonne sinnbetörend auf den Scheitel brenne. Am meisten gerundet in der Form ist die Novelle „Die Marquise von O.”. Aber alle Kunst des Dichters bringt uns nicht dahin, daß wir den schändlichen und — was schlimmer ist — grundhäßlichen Ausgangspunkt der Erzählung verwinden, daß wir dem Helden einen Frevel an einem bewußtlosen Weibe vergeben. Immerhin bleibt erstaunlich, wie der natürliche Adel des Talents selbst beim Ringen mit einem widerlichen Stoffe sich nicht verleugnet. Kleists Freund Zschokke mißbrauchte dasselbe Motiv zu einer Novelle voll fauler Späße; unser Dichter schreitet über das Gemeine rasch hinweg, um sich in eine feine und ernste Seelenschilderung zu vertiefen.
Noch stärker überwiegt das psychologische Interesse in der großen Erzählung „Michael Kohlhaas”. Nur der Deutsche empfindet ganz die tragische Macht dieser einfachen Geschichte: wie ein schlichter Mann, in seinem[S. 206] Rechte gekränkt, vergeblich den Schutz des Gesetzes anruft und dann, verzweifelnd an der Ordnung der Welt, in unbändiger Rachgier Frevel auf Frevel häuft, bis endlich der überfeine Rechtssinn des Rechtsbrechers an der Kleinheit seines Gegenstandes sich selbst die Spitze abstößt. Wir meinen den Schleier fallen zu sehen von einem Herzensgeheimnis des deutschen Mittelalters. Die Unersättlichkeit, die Wollust der Rache konnte so wahr, so überzeugend nur ein Dichter schildern, dem selber das Hirn wirbelte bei dem Gedanken an die Vernichtung des Landesfeindes, der selber soeben seinem Volke zurief:
Aber während die modernen Novellisten sich zumeist in eine Seelenmalerei verlieren, welche der Aufgabe des Dichters ebenso sehr widerspricht wie die breite Naturschilderung, und mit peinlicher Langsamkeit das Herz ihres Helden zerfasern und zerschneiden, bleibt Kleist unwandelbar der Erzähler. Sein Held ist immer in Bewegung, obgleich wir jeden seiner Gedanken erfahren, der Fluß der Ereignisse stockt niemals, obschon uns kein Nebenumstand erlassen wird — bis wir leider plötzlich entdecken, daß dem Dichter die Kraft versagt, die Gestalten unter seinen Händen zerfließen und die so herrlich begonnene Fabel in willkürlichen Visionen endet. Die Erzählung lehrt zugleich, wie übermütig der echte Dichter umspringen darf mit jener „historischen Treue”, deren Wert von der überbildeten Gegenwart so wunderlich mißverstanden wird. Dem Bilde, das wir alle von Johann Friedrich dem Großmütigen im Herzen tragen, schlägt Kleist fast mutwillig ins Gesicht; das moderne Dresden wird mit größter Sorgfalt in das sechzehnte Jahrhundert zurückversetzt, während wir doch wissen, daß die Handlung in Dresden gar nicht spielen konnte. Und doch drängt sich uns nicht der mindeste Zweifel auf: so lebendig tritt uns alles vor Augen, und so glücklich trifft der Erzähler jenen derben biederen Ton der Rede, der uns die Weise unserer Altvordern weit eindringlicher schildert, als die[S. 207] sorgfältigste Zeichnung des Kostüms vermöchte. Erst von dem Augenblicke an, wo den Dichter die poetische Kraft verläßt, wo er sich in nachtwandlerische Träume verliert, werden unsere historischen Bedenken wach. Und nochmals erhebt sich die Frage: warum Kleist nicht, nach dem Rate seines Freundes Pfuel, diesen köstlichen Stoff zu einem Drama verwendet hat? In seinen Dramen tritt „die Unart seines Geistes”, das schlafwandlerische, phantastische Wesen zuweilen störend, nie zerstörend auf; hier in der Erzählung läßt er sich gehen, und das schöne Gedicht, ein Werk seiner reifsten Jahre, wird ganz und gar verwüstet.
Verfolgen wir sein dramatisches Schaffen weiter, so beobachten wir fortan ein mächtiges Aufsteigen seiner dichterischen Kraft, zunächst an der Tragödie Penthesilea. Man erzählt von Hegel, daß er einst, als Tieck den Othello vorlas, entsetzt ausrief: „Wie zerrissen mußte dieser Mensch, Shakespeare, sein, daß er den Jago so darstellen konnte” — worauf Tieck entgegnete: „Herr Professor, sind Sie des Teufels?” Die Schnurre ist, wenn nicht wahr, doch gut erfunden. Wer der Kunst nicht lebt, nur zuweilen aus der befriedeten Welt des Gedankens sich in ihren Zauberkreis hinüberstiehlt, wird sich leicht versucht fühlen, den Künstler, der ein krankes Menschenherz schildert, selber für krank zu halten. Und freilich, solange Kleists Briefe noch verborgen lagen, blieb die Penthesilea, das subjektivste seiner Werke, unverständlich wie der Traum eines Fiebernden; seit wir jene Geständnisse kennen, erscheint gerade diese wilde Dichtung als der Anfang seiner Genesung. Er faßte sich endlich das Herz, den Kämpfen seiner letzten Jahre ins Gesicht zu sehen, er wagte sie zu einem Kunstwerke zu gestalten, und sobald ein Dichter sein Leid gesteht, beginnt er schon es zu überwinden. Die Erlösung freilich, die reine dauernde Versöhnung, welche ein Goethe in solchem Geständnis seiner Qualen fand, sollte dieser Unglückliche niemals erreichen. Der ganze Schmerz und Glanz seiner Seele, so sagt er selbst, ist niedergelegt in der Penthesilea; sein eigenes Ringen und Leiden, jene wilde Jagd nach dem Ruhm, dem vollendeten Kunstwerk, und sein fürchterlicher[S. 208] Fall erschüttern uns in dem Schicksal dieser Königin der Amazonen, die den Schönsten, den Herrlichsten der Männer zu ihren Füßen niederzwingen will und nach kurzem Rausche des Übermuts in rasendem Toben untergeht — denn nicht dem Speer des Feindes,
Wie glücklich fühlt sich der Dichter, „einmal etwas recht Phantastisches zu schreiben”, die einfache Großheit des Achilleus und des Diomedes inmitten der Farbenpracht einer traumhaften Wunderwelt zu schildern! Wie dürr und kahl erscheinen neben dem Duft und Glanz dieser Verse die gleichzeitigen, durchweg unglücklichen Versuche der Romantiker, das Altertum auf ihre Weise wiederzubeleben — ganz zu geschweigen jener langweiligen Penthesilea, welche Tischbein damals auf die geduldige Leinwand sündigte. An seine Heldin verschwendet der Dichter alle Schätze seines Herzens, denn er liebt sie, und oft klingt uns aus seinen Worten die unbefangene Sinnlichkeit der Heiden entgegen. Er wagt sich an das unheimliche Geheimnis der Schönheit, das schon Vater Homer kannte, er will ein Weib schildern, so entzückend schön, daß jedes sittliche Urteil vor ihr verstummt. Ihm ist zumute wie jenen Greisen von Troja, die auf den Mauern sitzend das Verderben bejammern, das um eines Weibes willen über ihr Volk kam — und da die Unheilvolle plötzlich unter sie tritt, wagen sie doch nicht zu zürnen, so schrecklich (αἰνῶς) packt sie der Anblick der schönen Helena.
Aber selbst die Kraft unseres Dichters wird zunichte vor der Unnatur seines Stoffes. Schon vor einer antiken Amazonenstatue verweilen wir mit seltsam befremdeter Empfindung, und doch darf die bildende Kunst in diesem Falle mehr wagen als die Dichtkunst. Unser Erstaunen steigert sich zum Grauen, sobald uns das Seelenleben eines Mannweibes, dies wilde Durcheinanderwogen von Heldenstolz und Kampflust, von edler Liebe und roher Brunst in der hellen Beleuchtung eines modernen Dramas entgegentritt. Nun gar das Umschlagen der Wollust in Blutgier, dies allerscheußlichste Rätsel des Menschenherzens,[S. 209] an einem Weibe zu beobachten, wer könnte das ertragen? Was gilt uns die prachtvolle Schilderung der Rosenfeste von Themiskyra, wo die kriegerischen Amazonen, seligen Schauers voll, die besiegten Jünglinge bekränzt zum Altare der Aphrodite führen? Von dem Liebeswahnsinn dieser Jungfrau, die ihre Zähne in den zuckenden Leichnam des Bräutigams schlägt, wendet sich jedes natürliche Gefühl. Und sogar die schöne Form leidet zuletzt unter der Verkehrtheit der Idee, da die Raserei der Königin in läppischen Irrsinn übergeht.
Wir fühlen, wie krampfhaft das Herz noch zuckte, dem diese wilden Verse entströmten, aber auch wie erleichtert der Dichter aufatmen mußte, da er also seinen Schmerz bekannt hatte. Endlich einmal schien das Geschick dem Unglücklichen freundlich zu werden; er gründete in Dresden eine literarische Zeitschrift, den Phöbus, hoffte zuversichtlich, sich jetzt einen ehrenvollen Platz in der Künstlerwelt zu erobern, trat den geselligen Freuden wieder näher. Schon mehrmals früherhin hatte der „arme Brandenburger” seinen Wanderstab ruhen lassen auf diesem lieblichen Winkel deutscher Erde und stundenlang die Madonnenbilder der Galerie betrachtet und die dunkeln Waldgründe durchstreift, die in das lachende Elbtal münden, und droben von der Brühlschen Terrasse träumend hinabgeschaut auf die sanften Windungen des Flusses und das alles in entzückten Briefen der Schwester geschildert. Es war noch das alte Dresden, die prächtige und doch stille Stadt, die Canaletto gemalt hat, so recht ein Platz zum Träumen und zum Dichten, noch nicht der abgetretene Spaziergang blasierter Touristen. Und — so seltsam spielt der Reiz des Kontrastes in dem Künstlergemüte — gerade hier in dem Schmuckkästlein des Rokokostils erwachte dem Dichter der Sinn für die heimische Vorzeit; sein Geist, der so lange in die Ferne geschweift, kehrte ein in die Fülle des deutschen Lebens, um seine schönsten und reifsten Werke aus dieser reinen Quelle zu befruchten. Er fühlte sich jetzt Mannes genug, einen neuen Herzenskummer, der ihn traf, sofort als Künstler zu überwinden. All die Träume von Liebesglück, die ihm so[S. 210] schmerzlich zerronnen waren, rief er wach, um im Gedichte ein Weib zu schaffen, wie er es ersehnte und nie finden sollte, und alle sanften, glücklichen Erinnerungen seines Lebens versammelte er um sich, um dem geliebten Bilde eine freundliche Umgebung zu bieten. Die alte gotische Kirche stieg wieder vor ihm auf, die seinem Vaterhause gegenüber stand, mit ihrem schweren Turme und den geborstenen roten Backsteinzinnen, die der Knabe so oft ahnungsvollen Blickes betrachtet; er sah die finsteren Tore und die steilen Giebelhäuser in der alten Oderstadt; jene zarten Bilder von dem „Cherub mit gespreizter Schwinge”, von dem „süß duftenden Holunder”, die in seinen älteren Gedichten flüchtig wie ein Sonnenblick aus dichtem Gewölk erschienen, erwachten wieder und mahnten ihn, sie reich und farbig zu gestalten. Also schuf der seltsame Mann, der in allem von der Regel abweicht, in seinem zweiunddreißigsten Jahre das jugendlichste seiner Werke: das Käthchen von Heilbronn.
Wir fühlen ihm nach, wie er mit der naiven Freude des Entdeckers vor den wundersamen Gestalten steht, die er in der Vorzeit seines Volkes aufgefunden; ein frischer Duft weht uns an, wie der Erdgeruch aus dem umgebrochenen Acker. Seine Heldin nennt er selbst „die Kehrseite der Penthesilea, ihren anderen Pol, ein Wesen, das ebenso groß ist durch Hingebung wie jene durch Handeln”. Noch nicht sechzig Jahre sind verflossen, seit dies Werk zuerst an der Wien vor die Lampen trat; und schon mutet es uns an wie eine Sage aus uralter Vorzeit, kaum mehr verstanden von der hellen, strengen Gegenwart. In jedem Volke begegnen uns einzelne Dichtungen, welche, ohne den Stempel klassischer Vollendung zu tragen, doch unantastbar dastehen, weil sie geweiht sind durch die Liebe eines vergangenen Geschlechts; sie fordern, daß der Nachlebende sie dankbar hinnehme wie ein Gebilde der Natur. So dies Gedicht; aus ihm reden alle jene holden traulichen Träume, die unseren Müttern die Jugend beseligten, die Herzenssehnsucht einer Zeit, die unser kälterer Verstand zugleich übersieht und um die Innigkeit ihres Gefühls beneidet. Ich kann nicht ohne[S. 211] Rührung der Stunden denken, da mir meine Mutter von ihren ersten Gängen zum Theater erzählte: wie glückselig hat dies unschuldige Mädchengeschlecht dem Käthchen gelauscht, wenn sie unter dem Fliederbusch ihre keusche Liebe träumt! Der Dichter aber, der so glücklich einen Schatz aus dem Gemüte seiner Zeit zutage gefördert, er war längst nicht mehr, als das Käthchen endlich auf allen Bühnen sich einbürgerte; wir meinen oft seinen Schatten zu sehen, wie er niederschaut auf die verspäteten Erfolge und bitter lachend wie sein Prinz von Homburg die Achseln zuckt:
Selbst heute noch können wir die Kraft des einfachen Märchens erproben: in unseren Vorstadttheatern weilt ein Publikum, zu arm an Bildung und zu schwer bedrückt von den Sorgen des eigenen Lebens, um die Gewalt des tragischen Schmerzes zu ertragen, doch nach deutscher Art zu gesetzt, um allein dem Lustspiele zu huldigen. Hier ist der rechte Tummelplatz für das ernste Drama mit glücklichem Ausgange; hier hat das Femgericht noch seine Schrecken, hier findet der erbärmliche Darsteller des wackeren Gottschalk noch seine Bewunderer, die Kunigunde ihre leidenschaftlichen Feinde. Wir müßten sehr niedrig denken von dem sittlichen Berufe der Kunst, wollten wir solche Erscheinungen über die Achsel ansehen; danken wir Gott, daß das Pariser Hetärendrama noch nicht überall sein Zepter schwingt. Es ist nicht bloß der ritterliche Lärm und Pomp, was diese braven Leute so tief ergreift; noch mächtiger wirkt die Kraft der volkstümlichen Sprache, die Innigkeit des Gemüts, die aus jeder Zeile redet, die Anschaulichkeit der einfach verständlichen Motive. Selbst der Haß, sonst der deutschen Gutmütigkeit so schwer faßlich, erklärt sich hier von selbst. „Der Mensch wirft alles, was er sein nennt, in eine Pfütze, nur kein Gefühl” — das versteht auch der gemeine Mann, nicht die Worte, doch den Sinn.
Freilich muß das Drama von kundigen und rücksichtsvollen Händen vorgeführt werden, mit Pietät nicht vor den schwachen Nerven der Hörer, sondern vor der kräftigen Eigentümlichkeit des Dichters. Welche Barbarei, wenn der zartsinnige Regisseur die Szene, wo Graf Wetter vom Strahl dem Käthchen mit der Peitsche droht, verletzend findet, statt der Roheit eine Niederträchtigkeit einfügt und den Grafen das Schwert zücken läßt auf die Wehrlose! Freilich muß man die Ansprüche der absoluten Kritik daheim lassen. Ist die hingebende Liebe des Käthchens nicht schon selbst wunderbar genug? Ist es nicht bare Tautologie, das größere Wunder durch ein kleineres zu erklären? Verliert Käthchens Liebe nicht an Wert durch den zwingenden Zauber, der sie an den Ritter kettet? Und geht nicht zuletzt der ideale Gehalt des Gedichts geradezu verloren, da nicht das arme Bürgerkind durch die Macht der Liebe über den Stolz des Ritters triumphiert, sondern die Kaiserstochter dem Grafen ihre ebenbürtige Hand reicht? Solche unwiderlegliche Einwände vergessen nur das Entscheidende, daß ein Märchen, ein dramatisch behandelter epischer Stoff nicht unbedingt den Gesetzen des Dramas gehorchen kann; liegt es doch im Wesen des Märchens, die Wunder des Herzens durch die Aufhebung der Ordnung der Natur zu erklären, Lohn und Strafe in der allersinnlichsten Form erscheinen zu lassen. Der zarte Duft des volkstümlichen Stücks verfliegt, wenn wir mit so derber Hand daran treten. Wir beklagen nur, was der Dichter selbst aufs bitterste bereut hat, daß er dem märchenhaften Charakter des Stücks nicht treu geblieben. Rücksicht auf die Ansprüche der Bühne, denen das Käthchen doch niemals völlig genügen kann, verleitete ihn, statt der zaubergewaltigen Fee Kunigunde jenes nüchterne rationalistische Scheusal zu schaffen, das so widerwärtig erscheint hier in der heiteren Fabelwelt, wo höhere Geister noch gern mit dem farbenreichen Menschenleben verkehren. Die maßlose Heftigkeit des Dichters verführt ihn auch diesmal, jedes Motiv zu Tode zu hetzen. Er kann sich nicht genug tun in der Schilderung seiner Heldin, er jagt sie durch alle[S. 213] Stufen der Erniedrigung hindurch, und während er ihr eine übermenschliche Demut leiht, die der Selbstentwürdigung zuweilen nahe kommt, häuft er auf ihre Feindin Kunigunde eine ganz unmögliche Last der Schändlichkeit. Er litt noch unter dem Schmerze um seine verlorene Braut und meinte sich berechtigt, ein Weib ohne Herz mit seinem Hasse zu zeichnen.
Während Kleist so liebevoll die Gestalten der deutschen Vorwelt schilderte, war in ihm längst der heilige Schmerz erwacht um die Gegenwart des Vaterlandes. Er hatte wohl einst über seinem Dichterleide die weite Welt und Deutschland mit ihr vergessen, den Tod gesucht, wo er auch sei. Sobald er sich selber wieder angehörte, regte sich doch der preußische Offizier. Der Künstler steht der Natur näher als der Denker; löst er sich ab von seiner Heimat, so geschieht ihm wie dem starken Baume, der in fremden Boden verpflanzt die Schollen des mütterlichen Erdreichs an seinen Wurzeln mit sich nimmt. Der freie Geist des Dichters hatte das öde Einerlei des Garnisondienstes nicht ertragen, er mochte zuweilen von der Höhe seiner philosophischen Bildung mitleidig herablächeln auf die militärischen Barbaren daheim. Die stolzen kriegerischen Erinnerungen seines Vaterhauses, dem des Königs Rock als das Kleid der Ehre galt, die glänzenden Bilder des preußischen Waffenruhms, die durch die Träume seiner Kinderjahre geschritten waren, hafteten doch weit fester, als er sich selbst gestand, in seinem treuen Gemüte; und als das Verderben an seinen Staat herantrat, da erwachte der Stolz des Preußen, des Deutschen, die angelernten philanthropischen Ideen fielen zu Boden. Schon während des Feldzugs von 1805 fragt er bitter, warum der König nicht sofort, nachdem die Franzosen durch Ansbach marschiert, seine Stände zusammenberufen und durch einen kühnen Krieg die Verletzung des preußischen Gebiets gerächt habe. Immer häufiger erklingt fortan in seinen Briefen die Klage über die finstere Zeit, wo das Elend jedem in den Nacken schlägt. Auf die erste Kunde von der Schlacht von Jena schreibt er mit dem ganzen Stolze und der ganzen Verblendung eines friderizianischen [S. 214] Offiziers: „20000 Mann auf dem Schlachtfeld und doch kein Sieg!” Dann erfährt er wie ein Betäubter die volle schreckliche Wahrheit, dann übergibt ein Mann, der seinen Namen führt, die erste Festung Preußens schimpflich an den Feind, dann sieht der Dichter in Königsberg aus nächster Nähe den tiefen Fall des Hofes und des Staates, und endlich muß er die Faust des Unterdrückers noch an seinem Leibe empfinden. Sein scharfer Verstand hatte schon vor Jahren, da er umnachteten Sinnes durch Frankreich irrte, die prahlerische Nichtigkeit der eitlen Welteroberer unbarmherzig durchschaut; auch ihre Roheit sollte er jetzt erfahren, da er während des Feldzuges von 1807 durch ein Mißverständnis als Spion gefangen und nach Frankreich geschleppt wurde. Er saß dann durch lange finstere Wochen auf dem Schlosse Joux hoch im Jura, auf derselben Festung, wo einst Mirabeau die wildesten Stunden seiner Jugend verlebt hatte.
Nun kehrte er heim in sein geschändetes Vaterland, mit dem vollen Verständnis für die Größe der Zeit, er sah „Ungeheures, Unerhörtes nahen”, eine Macht des Unheils heranfluten wider jedes Heiligtum der Menschheit. Und diese Empfindung wuchs und wuchs, sie wurde etwa seit der Vollendung des Käthchens (1808) die herrschende Macht in seinem Geiste, also daß Dahlmann den Selbstmord des Dichters kurzweg aus der Verzweiflung am Vaterlande erklärt. Wer kennt nicht eine jener einsiedlerischen Naturen, die in tiefer Stille mit der ganzen Macht ihrer unzerstreuten Leidenschaft alle Zuckungen der vaterländischen Geschicke mitempfinden? So lebte auch Kleist in seinem einsamen Zimmer ein hocherregtes historisches Leben: prächtig, eine himmelhohe Flamme schlug dann das entfesselte Gefühl aus seiner verschlossenen Brust empor. Er brauchte nicht erst, wie die zum Vaterlande zurückkehrenden Gelehrten, die Fichte und Arndt, auf den weiten Umwegen des Gedankens die Idee des Volkstums und ihr Recht sich selber zu erklären. Er liebte Deutschland, wie dem Dichter ansteht, unwillkürlich, unmittelbar, „weil es mein Vaterland ist” — so läßt er in[S. 215] seinem patriotischen Katechismus einen deutschen Knaben sprechen. Die glorreiche Fahne, die er einst in seinen jungen Händen getragen, da lag sie im Staube. Ihre Ehre war die seine. Ihre Schmach zu rächen greift er zu jeder Waffe, er schreibt Pamphlete, Satiren und ohne jedes ästhetische Bedenken Gedichte. Er hätte sie nicht verstanden, die armselige Frage, die in einer späteren müden Zeit unter uns aufgeworfen ward, die Frage, ob eine Poesie des Hasses ein Recht habe zu sein. Er wußte, daß die Dichtung jedes berechtigte Gefühl der Menschenbrust schildern darf und daß in diesen Tagen der Haß die letzte und höchste Empfindung des deutschen Mannes war. Es galt das Dasein der Nation; die Begeisterung der Ideologen, die Stimme des natürlichen Gefühls und die Berechnung des Staatsmannes fielen in eines zusammen; nur eine solche Zeit konnte einen so ganz in der Anschauung, der Empfindung lebenden Geist zur politischen Dichtung führen.
Kleist ward, nach dem alten Gleim und den Poeten des Siebenjährigen Krieges, der erste unserer neueren Dichter, der seine Muse den politischen Zwecken des Augenblickes dienen ließ, der erste, dem dies Wagnis völlig glückte. Er weiß und will nur eines — den Kampf der Waffen, augenblicklich, unverzüglich. Er lacht der „Schwätzer”, der Tugendbündler und Philosophen, die von einem Kampfe der Gedanken faseln, wirft ihnen Spottverse ins Gesicht ganz so ungeschlacht und ungerecht wie jene, die er einst gegen Goethe geschleudert hatte. Es leidet ihn nicht mehr im Norden als der Krieg von 1809 beginnt, er eilt hinaus nach dem Schlachtfelde von Aspern, und da auch diesmal die Heere der Feinde siegen, faßt er in vollem Ernst den Gedanken auf, mit dem die erbitterte Jugend jener Tage spielte: er will durch die Ermordung Napoleons das Vaterland befreien und — mit einer großen Tat sein eigenes zerrüttetes Dasein beenden. So berichtet eine nicht streng beglaubigte, aber keineswegs unglaubhafte Überlieferung; allem Anschein nach hat nur ein Zufall den gräßlichen Plan vereitelt. Und derselbe dämonische Haß, dieselbe fürchterliche Wildheit [S. 216] tobt auch durch seine patriotischen Gedichte. Feuriger hat nie ein Sänger zu unserem Volke gesprochen als Kleist in der mächtigen Ode „Germania an ihre Kinder”:
Die Lust der Vergeltung, unzertrennlich von jeder Erhebung eines mißhandelten Volkes, hat auch in unserem Freiheitskriege mächtiger gewaltet, als wir nach den verblaßten Schilderungen der Nachlebenden gemeinhin annehmen; schrieb doch Gneisenau nach dem Tage von Leipzig frohlockend wie ein antiker Held: „Wir haben die Nationalrache in langen Zügen genossen.” Wollen wir Kleists furchtbare Zeilen: „Alle Triften, alle Stätten färbt mit ihren Knochen weiß” geschichtlich verstehen, so müssen wir uns der Stimmung erinnern, die im Jahre 1813 in den unteren Schichten unseres Volkes lebte: — der wilden Kriegsweise der Landwehrmänner: „Schlag ihn tot, Patriot, mit der Krücke ins Genicke;” der gefangenen Rheinbundoffiziere, denen der preußische Soldat die französischen Orden von der Brust riß; des gräßlichen lautlosen Würgens in der ersten Landwehrschlacht, bei Hagelberg, und all der rohen Auftritte, welche des Krieges Gefolge bilden.
Nur diese Glut der Leidenschaft erlaubt unserem Dichter das Unmögliche: ein Poet zu bleiben, indem er die allerbestimmteste Tendenz verfolgt. Seine Lieder halten sich ganz in der Sphäre der reinen Empfindung und streifen nie über in das Gebiet der Reflexion, der Phrase, wohin seine Nachfolger, die Sänger der Freiheitskriege, sich nicht selten verirren. Zwar, dem Manne, der seinen Hermann sagen läßt, einen Gallier, einen Deutschen könne er sich wohl als Weltherrscher denken, „doch nimmer diesen Latier, der keine andre Volksnatur verstehen kann” — ihm wird man nicht vorwerfen, er habe die Idee des großen Kampfes nicht verstanden. Auch vermag er zuweilen sein erregtes Gefühl zu gehaltenem, maßvollen Ausdrucke zu zwingen; wie würdig und edel stellt er die sittliche Größe des gedemütigten preußischen Staates [S. 217] dem rohen Hochmut des Siegers gegenüber, indem er den nach Berlin heimkehrenden König also anredet:
Doch der Grundton, der vorherrschende Charakterzug seiner patriotischen Poesie bleibt nichtsdestoweniger der Haß, und darum stellt sie nur eine Seite der großen Erhebung dar, welche ein Jahr nach des Dichters Tode begann. Denn Gott sei Dank, nicht so nach Spanierart, wie dieser Dichter träumte, sollten die Deutschen in den Entscheidungskampf hineinstürmen. Von dem sittlichen Pathos und der religiösen Begeisterung der jungen Freiwilligen, von der Gutherzigkeit und dem Edelmute, die unser Volk auch in seinem wilden Hasse sich bewahrte — von diesen herzgewinnenden Tugenden, wodurch die deutschen Freiheitskriege in der gesamten modernen Geschichte einzig dastehen und allmählich selbst die Bewunderung ihrer eitlen Feinde erwecken — von alledem ist in Kleists Gedichten wenig zu spüren. Er redet die Sprache einer gequälten Zeit, die sich in wilden Träumen hinaussehnt nach dem Kampfe und nur den einen Gedanken zu denken vermag: „Zu den Waffen, zu den Waffen, was die Hände blindlings raffen.” Erst mit der Erhebung, mit der Gewißheit des Sieges konnte die patriotische Leidenschaft Maß und Haltung gewinnen. Und wer darf bezweifeln, daß Kleist, hätte er den Tag der Befreiung erlebt, fähig gewesen wäre, mit einzustimmen in die reineren und freieren Klänge jener glücklichen Zeit? Wer fühlte nicht, daß der Haß des Dichters nur die Kehrseite ist einer innigen Liebe?
Derber, roher noch redet der Ingrimm in den prosaischen Schriften. Mit unbeschreiblich grausamem Spott wird das märkische Edelfräulein geschildert, das sich von einem französischen Gecken verführen läßt, der sächsische Offizier, der mit patriotischem Hochgefühl unter den Fahnen des Rheinbundes weiter dient. Dann folgen Anekdoten aus dem letzten Kriege, kleine Züge preußischen Soldatenmuts, die den Geist des Heeres beleben sollen, vorgetragen [S. 218] im allerderbsten Wachstubentone, mit zynischem, wildem Humor; der Erzähler weiß sich vor Entzücken kaum zu halten, wenn seine Helden noch sterbend mit „einem ungeheuren Witze” die Franzosen verhöhnen. Auch die erhabene Rhetorik Arndts, den Ton des „Geistes der Zeit”, versucht der Dichter in einzelnen pathetischen Aufsätzen nachzuahmen. Ganz unbefangen wiederholt er die Bilder und Wendungen seiner Gedichte in den prosaischen Schriften. Mit vollem Rechte; denn der Wert dieser unförmlichen Versuche liegt allein in der wilden Naturkraft einer patriotischen Leidenschaft, welche in unserer gesamten Literatur kaum ihresgleichen findet. — Was immer uns erschrecken und empören mag an diesem erregten Tun, wir freuen uns doch, den Dichter also zu sehen. Sein Auge, das so lange in unfruchtbarem Mißmut nur in sich hineingeschaut, blickt freier, offener in die Welt hinaus; die krankhaften Züge seines Wesens treten zurück vor der Hoheit einer großen Leidenschaft.
Schon vor dem Kriege von 1809 hatte Kleist in seiner „Hermannsschlacht” ein Bild des Befreiungskampfes gezeichnet, wie er ihn sich dachte. Wir überschauen mit einem Blicke das Aufsteigen unseres Volkes von der lyrischen zur dramatischen Empfindung, wenn wir dies mächtige Werk, wo selbst die „See, des Landes Rippen schlagend, Freiheit brüllt”, mit Klopstocks Hermannsschlacht vergleichen. Nichts mehr von dem unbestimmten Pathos, das bisher immer den Schilderungen der germanischen Urzeit angehaftet hatte; leibhaftig, in voller sinnlicher Wahrheit tritt diese fremde Welt vor uns hin, ausgemalt bis in den kleinsten Zug und doch ohne alle gelehrte Genauigkeit. Nichts mehr von dem „Bardengebrüll” abstrakter Heroengestalten; wir sehen den Hermann der Geschichte, den staatsmännischen Barbaren, der um des Vaterlandes willen keine der argen Künste römischen Truges verschmäht. Er sucht den Tod im Freiheitskampfe, und nichts soll ihn bewegen, „das Aug’ von dieser finstern Wahrheit ab buntfarb’gen Siegesbildern zuzuwenden”; nichts ist ihm hassenswürdiger, als was sein Herz erweichen, dem großen Werke entfremden könnte: „Was[S. 219] brauch ich Latier, die mir Gutes tun?” Seines Landes Blüte, die Gefühle seines Weibes, die Treue des gegebenen Wortes opfert er ohne Bedenken; der geborene Herrscher, wohin er tritt, spielt er voll übermütigen Humors mit seiner Umgebung; doch an der religiösen Andacht, womit er seinen Plan betreibt, mag man erkennen, wie zartbesaitet das Gemüt dieses rauhen Helden ist. Nur einem Boten vertraut er die verhängnisvolle Botschaft an Marbod, denn „wer wollte die gewalt’gen Götter also versuchen?” — und als endlich die große Stunde erscheint, als die Barden ihren erhabenen Gesang beginnen, da bricht der eiserne Mann, jedes Wortes unfähig, in tiefer Bewegung zusammen. Wie in übermütiger Laune, in bewußtem Gegensatze zu den leeren Tugendmustern der Klopstockschen Muse zieht der Dichter das Idealbild der Thusnelda in die Kleinheit des zeitgenössischen Lebens herab; er schildert sie „wie die Weiberchen sind, die sich von den französischen Manieren fangen lassen”, als eine Geistesverwandte jenes märkischen Edelfräuleins.
Das Gelungene nimmt der Leser hin als selbstverständlich; wenige fühlen, welcher Künstlerweisheit der Dichter bedurfte, um einen so ganz unästhetischen Stoff zu gestalten. Die Römer werden durch berechneten Verrat in das Verderben gelockt; die Gefahr liegt nahe, daß unsere Teilnahme von den Unterdrückten sich zu den Unterdrückern wende. Aber der frevelhafte Übermut dieser Fremdlinge macht jedes Mitleid mit ihrem Untergange unmöglich; und doch ist der Römerstolz zu anziehend geschildert, als daß sie uns ästhetisch beleidigen könnten. Der Grimm des Helden steckt uns an; wir glauben, wir verzeihen alles der Wahrhaftigkeit dieses Hasses, wir rufen mit ihm:
Der epische Stoff gestattet nicht eine wahrhaft dramatische Verwicklung. Die ersten vier Aufzüge enthalten nur die[S. 220] Exposition, und der Schluß, die Teutoburger Schlacht, kann, da das Drama der epischen Massenbewegung nicht mächtig ist, dem weit ausholenden Anlaufe nicht ganz entsprechen. Auch diesen unheilbaren Mangel weiß der Dichter durch kunstvolle Steigerung mindestens zu verdecken: wir folgen dem Anschwellen der Volksbewegung mit wachsender Spannung, wir sehen die schwarzen Wasser Zoll für Zoll emporsteigen und zittern dem Augenblicke, da die Flut über den Damm hinüberschlagen muß, mit einer Angst entgegen, welche der echten dramatischen Spannung sehr nahe kommt. Darum bleibt immerhin möglich, daß das Werk noch einmal dauernd für die Bühnen gewonnen werde. Allerdings nur für die zwei oder drei Bühnen, welche noch ein erträgliches Ensemble zustande bringen; denn ewiger Vergessenheit möge er anheimfallen, der zähnefletschende, in einem Löwenfelle einherstolzierende Unhold, der sich vor einigen Jahren auf einem namhaften Theater böswillig für Hermann den Cherusker ausgab: — und wo ist der Schauspieler zweiten Ranges, der sich an die kleine Rolle des Varus wagen darf? der den geknickten Stolz des Römerfeldherrn, die Ahnung des hereinbrechenden Verderbens, das Grauen vor den Schicksalsworten der Alraune in einem Monologe von vier Versen veranschaulichen könnte?
In einigen Zügen maßloser Wildheit verrät sich wieder der Sänger der Penthesilea. Man mag die gräßliche Szene ertragen, wo der alte Germane sein geschändetes Kind ersticht: der Dichter hat mit glücklicher Ahnung erkannt, daß Verbrechen wider die Frauen bei allen edlen Völkern jederzeit ein Haupthebel großer Empörungen waren. Doch schlechthin empörend bleibt der Auftritt, wo Thusnelda ihren römischen Verehrer von der Bärin zerfleischen läßt — unerträglich schon, weil diese Thusnelda solcher Rache nicht wert ist. Die Tendenz des Gedichtes tritt mit solcher Unbefangenheit hervor, daß wir auf die Rheinbundskönige unter den Germanenfürsten mit Fingern weisen können; aber die Tendenz liegt in dem Stoffe selbst. Und stehen wir selber denn heute, da die alte Blutschuld der Könige von Napoleons Gnaden noch immer nicht gesühnt[S. 221] ist, den Leidenschaften dieser napoleonischen Zeit ganz freien Gemüts gegenüber? Darf der Deutsche gänzlich untergehen in dem Ästhetiker? Darf er nicht auch seine patriotische Freude haben an der erhabenen poetischen Gerechtigkeit, welche dieser Hermann vollstreckt? Ich bekenne gern, daß ich niemals ohne herzliche Erquickung lesen kann, wie dem Ubierfürsten Friedrich von Württemberg der Kopf vor die Füße gelegt wird.
Wie der Dichter einst der finsteren Erscheinung der Penthesilea die rührende Gestalt des Käthchens hatte folgen lassen, so trieb ihn jetzt ein glücklicher Geist, diesem Gemälde seines patriotischen Hasses ein heiteres Bild der Heimatliebe entgegenzustellen. Er schuf das reifste seiner Werke, den Prinzen von Homburg, und knüpfte Hoffnungen daran. Aber die kalte Aufnahme des Werkes sollte ihm zeigen, wie wenig eine politisch bewegte Zeit fähig ist zu begreifen, daß eine patriotische Idee dem Künstler selten mehr sein kann als ein Motiv. Er sollte erfahren, wie wenige Leser in jeder Zeit imstande sind, das Ganze eines Kunstwerks zu fassen. Wir hofften, hieß es, einen Helden zu schauen voll Kraft und edler Gedanken, der alles besitzt, was unserem gedrückten Geschlechte fehlt; und nun bringst du uns diesen wächsernen Achilles, so schwach und menschlich wie wir selbst? Und doch ist Kleists Prinz von Homburg die idealste Verherrlichung des deutschen Soldatentums, welche unsere Dichtung besitzt. Seltsam genug schreibt das große Publikum dem „Lager Wallensteins” dies Verdienst zu. Weil Schiller uns selbst unter der ruchlosen Soldateska des Friedländers heimisch macht, weil die seltene Erscheinung seines Humors hier in glänzenden Funken sprüht, so hat man sich gewöhnt, dem nur dramatisch Gültigen absoluten Wert beizulegen. Unsre Soldaten singen das ganz dramatisch gedachte Reiterlied so harmlos, als wäre die rohe Kampfwut einer entsetzlichen Horde ein passendes Gefühl für unser Volk in Waffen. Wie bei so vielen Gedichten Schillers, ist auch hier durch den langen Gebrauch der wahre Sinn verloren gegangen. Nun gar was sich heute Soldatenpoesie nennt — jene witzelnden Klatschgeschichten [S. 222] aus der Langeweile des Rekrutendrillens und des Parademarsches — das ist jedem rechten Soldaten ein Greuel. Hier aber redet jener schöne Idealismus des Krieges, der jedem rechten Deutschen unverwüstlich im Blute liegt. In jeder Zeile kriegerisches Feuer, überall die kecke, frische deutsche Reit- und Schlaglust und doch so gar nichts von dem polternden Säbelgerassel der Franzosen. Es ist als ob der Dichter vor- und rückschauend ein ideales Durchschnittsbild gezogen hätte aus der Geschichte der preußischen Armee von Fehrbellin bis Königgrätz. Tapfere Krieger, geschart um einen heldenhaften Fürsten, in fester Mannszucht geschult, und doch freie Männer, deutsche Naturen, die auch unter der harten Ordnung des Gesetzes sich noch ein selbständiges Herz bewahren und dem Herrscher aufrecht die Wahrheit sagen — so war, so ist das Heer, das Deutschlands Schlachten schlug, und hier wird es uns geschildert mit einfacher Treue, mit jener anheimelnden Wärme, welche nur das Selbsterlebte dem Dichter in die Seele haucht.
Von diesem bewegten Hintergrunde nun hebt sich ab eine fein und tief gedachte dramatische Verwicklung. Jetzt endlich ist Kleist ganz Dramatiker; nachdem er sich so oft in epische Stoffe verloren, hält er sich hier streng in den Schranken seiner Kunstform. Er zeigt uns, wie der Jüngling vom Manne träumt und dann zum Manne wird — ein Problem, althergebracht in den Romanen und leicht zu lösen für den Romandichter, doch überaus schwierig für den Dramatiker. Und wieder, wie in der Penthesilea, aber milder, heiterer als dort, erzählt uns der Dichter die Geschichte seines Herzens; er leiht seinem Helden seine eigene wundersame Empfindung, diese jähe, stürmische Leidenschaft, die dann plötzlich wie in Zerstreutheit innehält, sich verliert in süße Selbstvergessenheit. Der Prinz erscheint zu Anfang als ein unreifer übermütiger Jüngling, er lebt wie einst der Dichter selbst immer in der Zukunft, nie dem Augenblicke; begehrlich schweifen seine stolzen Träume den Taten um eine Welt voraus; mit all seiner Liebenswürdigkeit ist er doch noch erfüllt von jener naiven Selbstsucht der Jugend, die den[S. 223] Gedanken der Pflicht, des Gesetzes nicht fassen kann. In solcher Stimmung unternimmt er in der Schlacht von Fehrbellin gegen den Befehl des Kurfürsten den kecken Angriff, der den Sieg entscheidet. Und hier weiß der Dichter mit bewunderungswürdigem Künstlerverstande selbst die dramatisch ganz unbrauchbare rührende Geschichte von dem Opfertode des Stallmeisters Froben als einen Hebel der Entwicklung zu verwenden. Der Kurfürst gilt für tot, man hat sein weißes Schlachtroß im Getümmel fallen sehen. Der Prinz fühlt sich darum als den Führer des Heeres, als den Beschützer des verwaisten Hofes, er bekennt der Prinzessin Natalie seine Liebe und steigt zum Gipfel des Übermutes empor: alle Kränze des Ruhmes und der Liebe wähnt er mit einem Griffe auf seine trunkene Stirn herabzureißen — gleich dem Dichter des Guiscard. Da erscheint der totgeglaubte Kurfürst wieder. Dem Jüngling tritt der Mann entgegen, so groß und so schlicht, so streng und so weich, eine herrliche Fürstengestalt, von der wir nur bewundernd sagen können: das ist deutsche Herrschergröße. Der vorwitzige Knabe soll jetzt den Ernst des Gesetzes empfinden, der ungehorsame General wird zum Tode verurteilt. Unbarmherzig, wie immer, wenn es gilt, einen tiefen Gedanken bis auf die Hefe auszuschöpfen, treibt nun der Dichter den aus seinen Träumen Aufgestörten hinab in die tiefste Entwürdigung. Der Prinz bettelt um sein Leben, und erst als er endlich die Gerechtigkeit des harten Spruchs erkennt, sein Haupt freiwillig dem beleidigten Gesetze zur Sühne darbietet, wird Gnade und Versöhnung dem Jüngling zuteil, den wir vor unseren Augen in fünf kurzen Akten zum Manne heranwachsen sahen.
Haben wir also die Idee des Dramas begriffen und uns befreundet mit der ungewohnten Erscheinung eines Bühnenhelden, welcher nicht fertig vor uns hintritt, sondern erst wird, dann verstehen wir auch, daß der Dichter in dieser scheinbar höchstpersönlichen Seelengeschichte einen höheren Gedanken darstellen wollte als das Recht der militärischen Subordination: er gab ein Bild von dem Werden des Mannes, hier zum ersten Male gelang ihm[S. 224] eine typische Gestalt. Dann erscheint auch die seltsame Schlafwandlerszene am Eingang lediglich als ein phantastisches Beiwerk, das den Sinn des Sängers gefangen hielt wie ein schöner Traum und doch den Gang des Dramas nicht wesentlich beirrt. Nur ein Mißklang stört das herrliche Gedicht: jene verrufene Szene, die uns den Prinzen in feig unwürdiger Todesfurcht vorführt. Gewiß, die Demütigung des Helden ist unerläßlich für den Plan des Dramas, und ihre poetische Wahrheit empfindet jeder, dem jugendliche Stoiker verhaßt sind. Hundertmal lieber diese hellenische Natürlichkeit, dies naive Schaudern vor dem Tode, als jene gespreizten Eisenfresser der Nachahmer Schillers, welche zur selben Zeit auf allen Bühnen pathetisch bejammerten, daß der Mensch nur einmal den Heldentod sterben kann. Aber die ungestüme Hast unseres Dichters hat leider versäumt, die Hörer, deren tief eingewurzelte Ehrbegriffe er verletzen will, auf das Unerwartete vorzubereiten: wir sahen den Prinzen zuletzt aufgeregt, doch in männlicher Haltung, und plötzlich ohne jeden Übergang windet sich derselbe Mensch jämmerlich im Staube. So jähe Sprünge erträgt die Seele des Hörers nicht. Dazu tritt die unleugbare Versündigung gegen das historische Kostüm. Uns beirrt nicht das prosaische Bedenken, ob im Jahre des Heils 1675 ein brandenburgischer General also denken durfte? Doch wir fragen ungläubig: wie kann dieser Kurfürst, dieser Oberst Kottwitz, der hier auf der Bühne vor uns steht, dem Prinzen einen so häßlichen Verstoß gegen alle ritterliche Haltung verzeihen? In solcher Umgebung erscheint der Prinz mit seiner antiken Naivität allerdings wie eine Gestalt aus einer anderen Welt.
Jedes echte Kunstwerk ist unerschöpflich, bietet einen Ausblick in das Unendliche. In die leitende Idee des Dramas spielt noch eine zweite Gedankenreihe hinein, welche freilich aus dem hastigen Tun des Helden nicht klar hervortritt, desto klarer aus den Reden der Offiziere. Der Dichter verherrlicht das Recht des freien Heldenmuts, der rettenden Tat neben der toten Regel. Und hören wir die schönen Worte des alten Kottwitz:
wer sollte da den Sehergeist des Dichters nicht bewundern? Denn gerade so dachten drei Jahre später die Männer des ostpreußischen Landtags, als sie, ohne den Ruf des Königs abzuwarten, für ihn und für das Vaterland sich erhoben.
Noch vor wenigen Jahren wurde auf der Leipziger Bühne der Schlußvers des Dramas, der Schlachtruf der Offiziere: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs”, nicht geduldet. Er lautete dort, obschon der mißhandelte Jambus sich heulend wider den Frevel verwahrte, „in Staub mit allen Feinden Germaniens!” Ich aber glaube, daß eine nahe Zukunft den „preußischen Partikularismus”, welcher der königlich sächsischen Vaterlandsliebe so anstößig erschien, dem Dichter zum Ruhme anrechnen wird. Der Prinz von Homburg darf noch auf ein langes Bühnenleben zählen, denn er ist, kurz und gut, das einzige gelungene historische Drama hohen Stils, das seinen Stoff aus der neuen deutschen Geschichte schöpft — aus der Geschichte, die noch in Wahrheit die unsere ist, aus der Geschichte, die mit der derben Prosa ihrer Lebensformen uns doch traulicher zum Herzen redet als die phantastische Pracht des Mittelalters. Wir atmen die freie Luft des historischen Lebens und fühlen uns doch behaglich wie in unserem Hause: niemand unter uns, der nicht einmal seine Freude gehabt hätte an dem ehrlichen grauen Schnurrbart eines wirklichen Obersten Kottwitz. Wer ganz empfindet, wie von Grund aus das Gemüt unseres Volkes seit den Stürmen des Dreißigjährigen Krieges sich verwandelt hat, der weiß diesen glücklichen Griff des Dichters auch ganz zu würdigen. Und jetzt, da endlich unter dem Segen des preußischen Heerwesens die alte stolze Waffenfreudigkeit unseres Volkes überall in Deutschland wieder erwacht ist, wird auch dies schönste Werk deutscher Soldatendichtung zu Ehren kommen, und selbst[S. 226] die Schwaben und Obersachsen werden dem Sänger verzeihen, daß er ein Preuße war. In dem großen Zusammenhange unserer neuen Geschichte erhält Kleists Gedicht eine noch tiefere Bedeutung. Fast anderthalb Jahrhunderte hindurch stand das Heer der Hohenzollern und sein kriegerischer Adel verständnislos und unverstanden der wieder aufblühenden Kunst und Wissenschaft der kleinen Staaten gegenüber. Wohl berührten sich einmal leise die beiden Gegensätze, als das Heldentum des großen Königs der deutschen Dichtung einen neuen Inhalt schenkte, als der Dichter des Frühlings, Ewald Kleist, „für Friedrich kämpfend niedersank”, wie seine Grabschrift sagt — und die preußischen Offiziere in Leipzig dem alten Gellert ihre Verehrung bezeigten. Doch hier zum ersten Male ward der Waffenruhm der Preußen von einem Sohne des märkischen Adels mit der vollen Pracht der deutschen Dichtung gefeiert, und dies erscheint dem Nachlebenden wie die erste Annäherung zweier Mächte der deutschen Geschichte, die beide gleich einseitig der Ergänzung bedurften.
Wie frei und glücklich schwebt des Sängers Geist über dem selbstempfundenen Leide, das er in diesem Gedichte uns darstellt! Wie sollte der Dichter nicht endlich selber die Versöhnung gefunden haben, die er so heiter an seinem Helden geschildert? Und doch stand es anders, ganz anders um den Unglücklichen; nur für kurze Stunden war ihm das heitere Spiel der Kunst ein Labsal. Er hatte weder aus seinem edlen Werke den selbstgewissen Frohmut des Künstlers geschöpft, noch im Verkehr mit Dahlmann die patriotische Zuversicht gelernt, welche so fest und mannhaft aus der ruhigen Versicherung des Freundes sprach: Napoleon wird fallen, wenn wir nur ausharren! Er sah das Reich des „Höllensohnes” wie ein nimmersattes Ungetüm ein Glied nach dem andern vom Leibe unseres Vaterlandes reißen, und allenthalben wohin er schaute — so sagt die erschütternde Klage seines „letzten Liedes” —
Er sah vor sich ein ruhmloses, sorgenvolles Leben, ohne Liebe, ohne Hoffnung. Noch einige schlechte Novellen, einige kleine Anekdoten, um wenig Geld für ein Berliner Winkelblatt hastig auf das Papier geworfen, dann wird er matt und matter
Ich lasse mir nicht einreden, die Schätze dieses Geistes, der bis dahin durch Pein und Krankheit hindurch unaufhaltsam zu immer schöneren Werken aufgestiegen war, seien schon erschöpft gewesen. Was diesem Dichter fehlte, war ein gehobenes, ein großes Vaterland. Ein einziger Sonnenblick des Glücks — und wenn auch nur der Brief Dahlmanns, der den Freund gastlich nach Kiel lud, in die rechten Hände gekommen wäre! — und der Unselige konnte auch diesen Anfall des Siechtums wie so viele vordem überstehen, um in einer schöneren Zeit sein Vaterland mit edlen Gedichten zu entzücken. Es sollte nicht sein. Eben jetzt da der Trieb der Selbstzerstörung wieder in ihm wühlt, tritt ihm eine Freundin näher, welche, krank wie er, sich nach dem Grabe sehnt, und abermals überfällt ihn der gräßliche Gedanke, den er einst der Schwester schrieb: „Das Leben hat doch immer nichts Erhabeneres als nur dieses, daß man es erhaben wegwerfen kann.” — Erhaben wegwerfen! Ach, wenn auch nur ein Zug der Erhabenheit zu spüren wäre in dem jämmerlichen Ende des Dichters. Gleichmütig wie ein Mann, der abends aus einem Zimmer in das andere geht, um sich zur Ruhe zu legen, mit der ganzen schrecklichen Gelassenheit des Irrsinns gab Heinrich Kleist der Freundin und sich selbst den Tod (21. Nov. 1811).
Die Gerechtigkeit der Geschichte hat auch seine Schuld gesühnt. Grausamer strafte sie keinen als diesen Träumer, der zu früh verzweifelte an seinem Volke. Noch sproßte kaum der Rasen auf dem einsamen Grabe am Ufer des Havelsees, da brachte das Schicksal den glühenden Wünschen dessen, der dort ruhte, die überschwengliche Erfüllung. Da klirrte durch die Marken der Lärm der Waffen; da wies ein anderer, ein größerer Prinz[S. 228] von Homburg durch eine rettende Tat unserem Volke den Weg zum Siege; da dröhnten über das befreite Land die Donner einer anderen Hermannsschlacht, die herrlicher, menschlicher war als des Dichters Traumbild. Vielleicht daß einmal unter den preußischen Offizieren ein Wort des Mitleids fiel um den treuen Kameraden, der nicht warten konnte und nicht den Tod des Helden starb. Doch was fragten die Hunderttausende, die zur Freiheit erwachten, nach einem gebrochenen Herzen? Sie stürmten vorwärts, dem Siege entgegen, und brausend klang es um die alten Fahnen:
„In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!”
Friedrich Hebbel
(Königstein 1860.)
In zwiefachem Sinn ist die Dichtkunst die Herzenskündigerin ihrer Zeit. Dem Dichter bleibt nicht nur das schöne Recht herauszusagen, was die Gegenwart in ihren Tiefen bewegt; er zwingt auch die Zeitgenossen, durch die Aufnahme, welche sie seinen Werken angedeihen lassen, ihr innerstes Wesen der Nachwelt zu enthüllen. Die von Grund aus verwandelte Stellung der Gebildeten zu den Werken der Poesie zeigt klarer als irgendeine Tatsache der politischen Geschichte, daß wir wirklich binnen weniger Jahrzehnte andere Menschen geworden sind. Als nach einer langen Zeit vorherrschender literarischer Tätigkeit die ersten Keime freien politischen Lebens in Deutschland sich schüchtern aus dem Boden emporhoben, da galt es noch als ein Wagnis, der ästhetisch verbildeten Lesewelt politische Geschäftssachen in nüchterner geschäftlicher Form vorzutragen, und der alte Benzel-Sternau kleidete weislich den langweiligsten aller Stoffe, einen Bericht über die ersten bayrischen Landtage, in die phantastische Hülle eines Briefwechsels zwischen Hochwittelsbach und Reikiavik. Nur zwanzig Jahre vergingen, und jede Spur andächtigen Schönheitssinnes schien hinweggefegt von der politischen Leidenschaft. Alles jubelte, wenn die Meute gesinnungstüchtiger Zeitpoeten wider die vornehme Ruhe des Fürstenknechtes Goethe lärmte. Das Vaterland forderte, wie ein Wortführer jener Tage selbstgefällig sagt,
Von diesem Äußersten unästhetischer Roheit freilich, von diesem Selbstmordversuch der Poesie sind wir zurückgekommen. [S. 231] Der schwere Ernst der politischen Arbeit lehrte uns die verschwommenen Phrasen der Tendenzlyrik mißachten, und jener schlichte Sinn für das Wahre, welcher das köstlichste Gut der Gegenwart bildet, wandte sich mit Ekel von poetischen Gestalten, die kein eigenes Leben lebten, nur das Mundstück waren für des Dichters politische Meinungen. Doch die alte Begeisterung der Deutschen für das Schöne ist nicht wiedererwacht; dem starken und tiefsinnigen Dichtergenius fällt in unseren Tagen ein unsäglich hartes Los.
Wir wollen nicht allzu bitter beklagen, daß die gesamte Lyrik heute lediglich von den Frauen gelesen wird, nur selten ein Mann von Geist in verschämter Stille an seinem Horaz oder an Goethes römischen Elegien sich erquickt: die Härte, der Weltsinn, die Aufregung des modernen Lebens verträgt sich wenig mit lyrischer Empfindsamkeit. Und wenn in sehr zahlreichen und sehr ehrenwerten Kreisen ein junger Mann, von dem man nur weiß, er sei ein Poet, mit verhaltenem Lachen empfangen wird, wenn man von ihm erwartet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand und Willenskraft erst erweisen, das wir bei allen anderen Sterblichen voraussetzen: so sehen wir keinen Anlaß, sentimental und verstimmt zu werden ob dieser notwendigen Folge der poetischen Überproduktion. Aber versuchet, in einem Kreise gebildeter Männer die triviale Wahrheit zu verfechten, daß die Kunst für ein Kulturvolk täglich Brot, nicht ein erfreulicher Luxus sei — und Widerspruch oder halbe Zustimmung wird euch lehren, wie arg der Formensinn verkümmert ist in diesem arbeitenden Geschlechte. Es ist nicht anders, der ungeheuren Mehrzahl unserer Männer gilt die Kunst nur als eine Erholung, gut genug, einige müde Abendstunden auszufüllen. Wir widmen, was von Idealismus in uns liegt, dem Staate, uns bedrückt eine Geschäftslast, welche die älteren Geschlechter unseres Volkes nie für möglich gehalten hätten, wir wissen den Wert der Zeit so genau zu schätzen, daß der ruhige briefliche Gedankenaustausch unter tätigen Männern fast ganz aufgehört hat und selbst unser geselliger Verkehr überall die[S. 232] Spuren hastiger Unruhe zeigt. Eine solche ganz nach außen gerichtete Zeit sucht in der Kunst die Ruhe, die Abspannung. Wer will bestreiten, daß Gustav Freytag seine Popularität weit weniger seinem edlen Talente verdankt als seiner liebenswürdigen Heiterkeit, welche auch dem Gedankenlosen erlaubt, vor dem unverstandenen, aber lustigen Gebaren der Gestalten des Dichters ein gewisses Behagen zu empfinden? Sehr undankbar ist in solchen Tagen das Schaffen des pathetischen Dichters. Gelingt ihm sein schweres Werk nicht vollkommen, so vereinigt sich zu seiner Verurteilung der Haß der Massen gegen jeden, der ihren dumpfen Schlummer stört, und der gesunde Sinn für Harmonie, dem eine niedrige, doch erfolgreiche Bestrebung erfreulicher scheint als ein groß angelegtes, aber unfertiges Schaffen.
Dabei lebt in diesem prosaischen Geschlechte unausrottbar doch die stille Hoffnung, daß das fröhlich aufblühende neue Leben unseres Staates auch die dramatische Kunst einer großen Zukunft entgegenführen müsse. Freilich nur eine unbestimmte Ahnung. Kein sicheres Volksgefühl zeichnet dem jungen Dramatiker gebieterisch bestimmte Wege vor; uns fehlt ein nationaler Stil, ein festes Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Technik. Unermeßlich, zu beliebiger Auswahl breitet sich vor dem Auge des Poeten die Welt der sittlichen, sozialen, politischen Probleme aus; und wenn schon diese schrankenlose Freiheit der Wahl den geistreichen Kopf leicht zu unstetem Tasten, zum Experimentieren verleitet, so wird ihm vollends die Sicherheit des Gefühls beirrt durch die Wohlweisheit der Kritik. Scheint es doch, als verfolgten manche Kunstphilosophen nur das eine Ziel, dem schaffenden Künstler sein Tun zu verleiden, ihm den frischen Mut zu brechen. Was hat diese Altklugheit nicht alles bewiesen: für das Epos sind wir zu bewußt, für die Lyrik zu nüchtern, für das Drama zu unruhig; die alte Geschichte ist für unsere Kunst zu kahl, das Mittelalter zu phantastisch, die neue Zeit steht uns zu nahe — und wie die anmaßenden und doch im Grunde gehaltlosen Schlagworte sonst lauten. Zu den Füßen dieser überreifen Ästhetik treibt eine vulgäre[S. 233] Kritik ihr Unwesen, deren erschreckende Roheit täglich deutlicher beweist, daß die besten Köpfe der Epoche sich der Kunst entfremdet haben. Wir wundern uns gar nicht mehr, wenn ein tief empfundenes Kunstwerk als Nr. 59 unter „Fünf Dutzend neuer Romane” abgeschlachtet wird, wenn eine Dichtung von G. Freytag oder G. Keller allen Ernstes in eine Reihe gestellt wird mit den Arbeiten der Frau Mühlbach oder ähnlichen Produkten einer volkswirtschaftlichen Tätigkeit, welche sich lediglich durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmen läßt. Wir fühlen uns nicht mehr befremdet, wenn jener beliebige Herr Schultze, der im Erdgeschoß einer politischen Zeitung seinen kritischen Sorgenstuhl aufgestellt hat, mit den Dichtern und Denkern, deren Werke er beschwatzt, auf du und du oder gar im Tone des Schulmeisters verkehrt. Wir empfinden für den Kritiker sogar eine gewisse Hochachtung, wenn er die Kenntnisse eines angehenden Obersekundaners entfaltet — eine Bildungsstufe, welche in diesen Kreisen unserer Literatur nicht allzu häufig erklommen wird. Begreiflich in der Tat, wenn ein starker Künstlergeist, angeekelt von diesem nichtsnutzigen belletristischen Treiben, auch die ehrenwerten Ausnahmen übersieht, welche in unserer Presse zuweilen noch auftauchen, und grimmig seiner Straße zieht.
Doch das schwerste Hemmnis, das die Gegenwart dem dramatischen Dichter in den Weg wirft, ist die Gärung, die Unsicherheit unserer sittlichen Begriffe. Wieviel einfacher als der moderne Mensch standen unsere großen Dichter zu den Problemen des sittlichen Lebens! Welchen sittlichen und ästhetischen Schatz besaß Schiller an Kants kategorischem Imperativ — eine großartige, streng sittliche Weltanschauung, wie geschaffen für den Dramatiker, denn sie läßt dem tragischen Charakter ungeschmälert die Freiheit. Seit die neue Philosophie den Glauben an Gott und Unsterblichkeit erschüttert hat, seit die Naturforschung beginnt, den Zusammenhang von Leib und Seele schärfer zu beleuchten, steht der Dichter, wenn er zugleich ein Denker ist, den einfachsten und schwersten sittlichen Fragen minder unbefangen gegenüber; selbst die Idee der tragischen [S. 234] Schuld und Zurechnung, die dem Dramatiker unbedingt feststehen muß, wird ihm leicht durch Zweifel verwirrt und getrübt. Und wo ist sie hin, die edle, mit Geist und Empfindung gesättigte Geselligkeit, die in den Tagen von Weimar nur einige auserwählte Kreise unseres Volkes beglückte? Die schamlose Frechheit der Halbwelt auf der einen, die unleugbar steifen, gezwungenen Formen unserer guten Gesellschaft auf der anderen Seite — in einer solchen Umgebung erlangt der Künstler nicht leicht die harmonische Bildung der sittlichen und der sinnlichen Kräfte.
Das Edle und Große dieser durchaus von der Politik, der Volkswirtschaft, der Wissenschaft beherrschten Welt begeistert zu empfinden, ihr Leben mitzuleben und dennoch das Schöne, nichts als das Schöne zu schaffen, das ist die schwere Aufgabe des modernen Dichters. Ein Zug der Resignation, das Bewußtsein, daß nicht jede Zeit dem Künstler das Höchste zu erreichen gestattet, wird in solchen Tagen oft den Geist des Dichters ergreifen, und sicherlich viele der heutigen Poeten haben zuweilen mit eingestimmt in die Bitte, welche Friedrich Hebbel einst an seine Muse richtete:
Das ganze Wesen des Mannes liegt in diesen Zeilen: sein Stolz, sein ernster Künstlersinn und jene hoffnungslose Verstimmung, die ihn seinem Volke entfremdete. Aber wie schwer er auch irrte, den Ruhm, den er sich in jenen Zeilen erfleht, wird ihm heute kein Unbefangener mehr versagen. Er dachte groß von seiner Kunst, er lebte ihr mit rastlosem, fruchtbarem Fleiße, mit Andacht und Sammlung, treu seinem Ausspruch: „Leben heißt tief einsam sein.” Oftmals berührt von den Sünden der Zeit, die er lästerte, hat er nie wissentlich ihren Launen gehuldigt; in[S. 235] ihm waltete jene vornehme Selbstgewißheit, welche jedes unmittelbar tendenziöse Einwirken der Poesie auf die Gegenwart verschmäht und sich des freudigen Glaubens getröstet, daß der Gehalt der Dichtung ein ewiger ist und seiner Stunde harren kann.
Ein ditmarscher Kind, in einer engen und harten Welt aufgewachsen, bewahrte Hebbel immer einen Zug rauher reckenhafter Kraft, also daß starke nordische Naturen, wie der alte Dahlmann, ihm die Teilnahme des Landsmannes nie versagten, auch wenn sie seinen Wandlungen nicht folgen mochten. Er selber bezeichnete die altgermanische Welt und die Bibel gern als die Quellen seiner Dichtung. Doch auch andere, minder lautere Kräfte schlugen in sein Leben ein: die nervöse Sinnlichkeit des modernen Paris, die zersetzende, glaubenlose Reflexion der jungdeutschen Literatur. Verbittert durch die Entbehrungen einer freudlosen Jugend, ward der stolze Mann launisch, anmaßend, gehässig; bis zur Grausamkeit selbstisch mißbrauchte er die Güte der Menschen, die sich ihm liebend hingaben. Erst nach langen Irrgängen, da er endlich wieder zurückgriff zu den Sagengestalten unserer Vorzeit, die ihm die Träume der Knabenjahre erfüllt hatten, gelang ihm ein Kunstwerk, das dauern wird.
Die Künstlertugend, welche an Hebbel zuerst in die Augen fällt, ist der seltene, dem Dilettanten allezeit unverständliche Sinn für die Totalität des Kunstwerks. Er verachtet das Haschen nach Einzelschönheiten, wie die kleinmeisterliche, an einzelne Auffälligkeiten sich festklammernde Kritik. Schon aus diesem einen Grunde sollte man endlich aufhören, ihn mit Grabbe zu vergleichen. Grabbe war das Kind einer sinkenden Epoche, welche die Ideale einer großen Vergangenheit in zuchtlosem Übermute zerschlug; in diesem rohen Talente war keine Entwicklung. Hebbel erscheint als der Sohn einer aufstrebenden Zeit, welche neue Ideale zu gestalten suchte. Freilich es war ein Suchen, an dem der grübelnde Verstand oft mehr Anteil hatte als die schaffende Phantasie. Der Dichter experimentierte, er tastete umher nach einem Kunstwerk der Zukunft, in seinen ersten Werken erschien[S. 236] die Intention ungleich stärker als die lebendige Ausführung. Das traurige Wort, womit Hebbel einst die Frage „Man weiß doch, was ein Lustspiel heißt?” beantwortet hat: — „Dies steht so klar vor meinem Geist, daß, wenn ich’s minder hell erblickte, das Werk vielleicht mir besser glückte” — dieses unselige Geständnis gibt leider den Schlüssel zu einem großen Teile seines Schaffens. Er haßt die Phrase, niemals drängt sich bei ihm der Verstand in der prosaischen Form undramatischer Betrachtungen hervor; aber bei aller realistischen Anschaulichkeit im einzelnen läßt das Ganze oft kalt, erscheint als gemacht und geklügelt. Und so findet sich bei Hebbel, der nach dem edlen Ziele strebt, alles Geistige zu verleiblichen, das Zusammenfallen von Idee und Bild ebenso selten wie bei Klopstock, von dem ein altes treffendes Wort sagt, er habe alles Leibliche des Körpers entkleidet.
Man hat Hebbel schweres Unrecht getan, wenn ihm die Wärme des Gemüts gänzlich abgesprochen ward. Selbst aus den verfehltesten seiner Gedichte bricht zuweilen, und dann ergreifend, eine starke und tiefe Empfindung hervor. Wer die Gedichte kennt, worin er Selbsterlebtes, wie das stille Glück des Hauses besingt, der wird den herzlosen Vorwurf der Herzlosigkeit nicht wiederholen. Er dichtete nur, wenn der Geist ihn rief, ließ oft jahrelang die halbfertigen Gestalten seiner Entwürfe ruhen, bis sie von selber wieder erwachten. Trotzdem trat in den also aus künstlerischem Drange entstandenen Werken die Reflexion zuweilen so stark hervor, daß der Hörer kaum wußte, ob ein Dichter oder ein Denker zu ihm sprach. Dies verrät sich vornehmlich in der Zeichnung der Charaktere. Otto Ludwig nennt in seiner grobkörnigen Weise Hebbels dramatische Gestalten kurzab „psychologische Präparate”, er meint: „sie tun dick, sie wissen sich etwas” mit ihrer Eigenart. Ein hartes Urteil, das Hebbels ältere Werke leider nicht immer Lügen strafen. Seine Charaktere handeln so folgerecht, daß wir jedes ihrer Worte vorausberechnen können; er motiviert oft mit überraschender Feinheit, und eine große dialektische Kraft steht ihm zu Gebote, um den Irrgängen innerer Kämpfe nachzugehen.[S. 237] Aber über dem allzu eifrigen Bemühen, den Charakteren feste scharfe Umrisse zu geben, verlieren sie die Farbe, das Leben. Wohl zwingt die strenge Prägnanz des Dramas den Dichter, seinen Menschen offenherzige Geständnisse in den Mund zu legen, welche der phantasielose Verstand unnatürlich findet; doch die helle Selbsterkenntnis, welche Hebbel seinen Charakteren leiht, überschreitet zuweilen die Grenzen der poetischen Wahrheit, und wie selten schallt aus diesen Menschen der volle Brustton naturwüchsiger Leidenschaft heraus, den, wie alles Herrlichste in der Kunst, keine Anstrengung des Hirns erklügeln kann!
Es klingt wie ein unwillkürliches Selbstbekenntnis, wenn dieser zwischen dem Reiche des Gedankens und dem Reiche der Phantasie einherschwankende Geist einmal ausruft:
Der Denker verachtet den stofflichen Reiz, das Anekdotenhafte in der Kunst, er will nicht „der Auferstehungsengel der Geschichte” sein. Er fühlt, daß die moderne Bildung ein Recht hat, über die Tragik Shakespeares hinauszugehen und eine Tragödie der Idee, nach dem Vorbild des Faust, zu fordern; und so fest hält er diesen Gedanken, daß er niemals versucht, eine einfache Charaktertragödie zu schreiben. Die bunte Fülle des Menschenlebens reizt ihn nur, wenn sie ihm ein „Problem”, einen Kampf der Ideen, zur Lösung darbietet. Unter allen Rätseln des Menschendaseins hat ihn keines so anhaltend beschäftigt wie das Verhältnis von Mann und Weib; von der Judith bis herab zu den Nibelungen, in den mannigfachsten Formen versucht er dies große Problem künstlerisch zu gestalten, immer tiefsinnig und mit starkem Gefühle, doch zuweilen spielt auch die häßliche Überfeinerung moderner Sinnlichkeit in seine Bilder hinein.
Ganz modern ist auch seine Anschauung der Geschichte: er sieht in ihr nicht wie Shakespeare die ewig gleiche[S. 238] sittliche Weltordnung, die sich immer wieder herstellt, wenn die Leidenschaft des Menschen sie auf Augenblicke gestört; der Jünger der modernen Philosophen faßt sie auf als ein ewiges Werden. Er liebt den Zusammenstoß zweier Kulturwelten zu schildern: wie das Hellenentum aus der orientalischen Gebundenheit emporsteigt, das Christentum aus der jüdischen Welt, die neue Zeit aus dem Mittelalter. Ich kann jedoch nicht finden, daß der Dichter bei diesem kühnen Unterfangen immer glücklich ist. Die neue Welt, die aus der zerfallenden alten Ordnung sich erhebt, tritt nicht leibhaftig vor uns hin, sie wird uns lediglich angedeutet durch einen symbolischen Zug; und nur weil wir historische Schulbildung besitzen, erraten wir, was uns das Kunstwerk selber nicht sagt, daß die heiligen drei Könige, die am Schlusse von „Herodes und Mariamne” plötzlich auftreten, den Anbruch der christlichen Gesittung vorstellen sollen. Diese Neigung für symbolische Züge beherrscht den Dichter zuweilen so gänzlich, daß er in eine gleichgültige, ja absurde Fabel willkürlich eine Idee hineinlegt, welche ihr völlig fremd ist. Und da ja ausschweifende Phantastik im Innersten verwandt ist mit den Verirrungen überfeinen Verstandes, so erinnert Hebbel mit solcher Symbolik, solchem Mystizismus oft stark an Calderon.
In der Einsamkeit brütender Betrachtung mußte die düstere Denkweise vom Leben, wozu Hebbels Natur neigte, zu erschreckender Stärke anwachsen. Der Pessimismus ist insgemein eine Sünde begabter Menschen, denn nur ein heller Kopf wird die tiefen Widersprüche des Lebens, wird die schreckliche Tatsache, daß die Ordnung des Rechts eine andere ist als die Ordnung der Sittlichkeit, in ihrer ganzen Schärfe durchschauen, nur ein tiefes Gemüt sie in ihrer vollen Schwere empfinden. Kein Wunder, daß diese, die Werke aller bedeutenden tragischen Dichter überschattende, reformatorische Strenge, welche die Welt verachtet und Lügen straft, von dem Haufen verketzert und als unsittlich gebrandmarkt wird. Aber selbst ein tiefmelancholisches Gedicht wird dem Poeten nur dann gelingen, wenn ihm, ob auch verhüllt und verborgen, tief in der Seele[S. 239] der Glaube lebt an den Sieg des Geistes über die Gebrechen der Welt. Noch keinem echten Dichter hat dieser Glaube gefehlt, er atmet selbst in dem schwermütigsten Gedichte, das je in den Nebeln Altenglands ersonnen ward, in Walter Raleighs „the lye”. Hebbel wußte wenig von solcher Hoffnung. Wie er, der Konservative, nicht daran dachte, im Leben an der Heilung der kranken Welt mitzuwirken, so vermögen auch seine Gedichte, obwohl sie dann und wann von künftiger Versöhnung reden, von der Lebendigkeit dieses Glaubens nicht zu überzeugen. Die furchtbare Anklage, die er in einem abscheulichen Sonette gegen die menschliche Gesellschaft schleudert: „Der Mörder braucht die Faust nur hin und wieder, du hast das Amt zu rauben und zu töten” — sie ist nicht ein wilder Ausbruch augenblicklichen Unmuts, sie blieb durch lange Jahre die Grundstimmung seiner Seele. Er erkannte mit eindringender Klarheit die Gebrechen der Welt, doch er verzweifelte an der Heilung. Ganz unerträglich wird diese Verbitterung des Gemüts, wenn Hebbel seinem eigenen Worte zum Trotz „die Kirsche vom Feigenbaum fordert” und seiner düsteren Phantasie die hellen Klänge der Komödie zu entlocken sucht.
Er gesteht, daß er mit seinen Gedichten „seiner Zeit ein künstlerisches Opfer dargebracht” habe; und gewiß, einige der Ideen, welche das moderne Deutschland bewegten, fanden in den Werken dieses Dichters einen treuen und großartigen Ausdruck. Doch gerade die schönste und herrlichste Erscheinung unserer Tage, recht eigentlich die Signatur der neuen Zeit, das Emporwachsen unseres Volkes zum staatlichen Leben, blieb diesem verdüsterten Auge verborgen. Er sah in der Entwicklung unseres Volkes „nicht eine Lebens-, sondern eine Krankheitsgeschichte”. Nun warf ihn sein Unstern unter das verkommene Deutschtum in Österreich; „wir und germanisieren!” rief er hohnlachend. Die frohe Botschaft des Jahrhunderts, die Verjüngung der antiken Sittlichkeit, welche von jedem Menschen, auch von dem Künstler, zugleich die Tugenden des Bürgers fordert — an ihm fand sie einen tauben Hörer. Selbst die Dichtungen unserer kosmopolitischen[S. 240] klassischen Zeit tragen die Spuren der politisch-nationalen Kämpfe der Epoche weit deutlicher auf der Stirn als Hebbels Werke die Eindrücke der Gegenwart. Und wird ja einmal die Natur der Dinge mächtiger als Hebbels Verstimmung, entschließt er sich ein Zeitgedicht zu schreiben, so finden wir nicht, wie es bei dem Sohne der Marschen zu entschuldigen wäre, einen naturwüchsigen Ausbruch des Zornes über die Schmach seines Volkes, sondern ein griesgrämiges Epigramm über Staatsmänner, welche die Kunst verstehen, niemals zu erwachen, oder eine wegwerfende Bemerkung über moderne Staatsverfassungen — oder ein Gedicht an König Wilhelm, das im Grunde nicht gehauen und nicht gestochen ist, in schönen Versen nur die politische Ratlosigkeit des Dichters offenbart.
Bei so trostloser Anschauung des Lebens weiß er nichts von jener edlen Volkstümlichkeit, welche der Ehrgeiz großer Dichter ist. Darum hat er, der Dramatiker, Schillers Größe lange gänzlich verkannt; darum verschmähte er die hohe Schule des Dramatikers, den Wechselverkehr mit der Bühne. Auch dieser Irrtum ist eng verflochten mit einer ehrenwerten Tugend, einer wohlberechtigten Verachtung gegen die bornierten Rücksichten der Konvenienz, welche gemeinhin das Bühnenschicksal eines Dramas bestimmen. Aber nicht die Theaterzensur allein verbannt seine Werke von den Brettern, sie sind in ihrer Mehrzahl in Wahrheit nicht darstellbar. Sie behandeln nicht bloß extreme Fälle, sondern abnorme, krankhaft seltsame Konflikte, welche keinen Widerhall erwecken in den Herzen der Hörer; und wer es verschmäht, die Edelsten seiner Zeit im Innersten zu bewegen, der mag der stolzen Hoffnung entsagen, für das Theater aller Zeiten zu schreiben.
Hart, ja grausam ward diese gewollte Vereinsamung an dem Lebenden bestraft. Über den vielgelesenen Schriftsteller bildet sich die Welt zuletzt immer ein mildes, ausgleichendes Urteil. Doch die Werke dieses Sonderlings fielen zumeist nur einzelnen Kritikern in die Hände, die ihn von den Wällen ihres ästhetischen Systems herab schonungslos bekämpften. Nun geschah ihm, was gemeinhin den Einsiedlern des Gedankens widerfährt: wie um[S. 241] Friedrich Rohmer und Schopenhauer — Männer, die ich übrigens weder unter sich noch mit Hebbel vergleichen will — so scharte sich um diesen vielbekämpften Dichter eine kleine Gemeinde fanatischer Anhänger, die durch unmäßiges Lob den Hohn der Gegner erweckten. So zwischen gehässigen Tadel und blinde Bewunderung gestellt, ward das wohlbegründete Selbstgefühl des Mannes krankhaft reizbar. Auch wir halten es für trockene Philisterweisheit, wenn dem Poeten zugemutet wird, er solle nicht empfindlich sein. Wer darf Angriffe auf sein eigen Fleisch und Blut mit Kälte ertragen? Und wer könnte die alte Wahrheit, daß ein halbes Lob tiefer verletzt als ein ganzer Tadel, bitterer empfinden als der Dichter? Führt doch der Künstler das Los des verwunschenen Prinzen: im Leben soll er sich schelten und stoßen lassen wie die anderen auch, und kaum nimmt er das Saitenspiel zur Hand, so ist er ein geborener Fürst und hat immer recht und treibt mit uns, was ihm gefällt; darum mögt ihr Nachsicht üben, wenn nicht ein jeder dies gespaltene Dasein mit Haltung zu tragen weiß. Aber es ist ein anderes, seinem Ärger über die Kritik einmal durch einen derben, in Gottes Namen ungerechten Zynismus Luft zu machen — und wieder ein anderes, jahrelang die geschmacklose Rolle des verkannten Genies zu spielen, fortwährend mit „Wichten” und „Kannegießern” um sich zu werfen, jedes seiner eigenen Worte mit einer Andacht zu bewahren, die dem reichen Geiste schlecht ansteht, ja sogar nach Knabenart pathetisch zu prahlen: diese und jene Tugend hat mir noch niemand abgesprochen. Jene Liebenswürdigkeit, die, nach der Versicherung seiner Freunde, dem Menschen zuweilen eigen war, blieb dem Schriftsteller versagt. Es gibt glückliche Naturen — und viele unserer streitbarsten Männer, Lessing vornehmlich, zählen dazu — denen wir niemals grollen, auch wenn wir widersprechen; andere wieder, welche uns immer in Versuchung führen, mit ihnen zu rechten, sie mögen sagen, was sie wollen. Zu diesen letzteren zählt Hebbel, nach meinem und vieler anderer Gefühl; er hat den Mitlebenden erschwert, gerecht über ihn zu reden.
Dem Toten sollen endlich die menschlichen Schwächen vergessen werden; auch von dem Kunstwerk seines Lebens gilt das gute Dichterwort, das er einmal über das Drama aussprach: „In einem Kunstwerk muß immer die letzte Zeile die erste rezensieren.” Er ist wirklich gewachsen mit seinem Volke, das er nie ganz würdigte, er befreundete sich als reifer Mann mit den einfachen Idealen, die er einst mißachtet, er lernte die Größe des edelsten unserer Dramatiker schätzen und schuf endlich jene hochpoetischen Gestalten der Nibelungen, die nicht mehr angekränkelt sind von der Blässe des Gedankens. Von diesen letzten Werken des Dichters fällt verklärend ein Lichtstrahl zurück auf die unfertigen Dichtungen seiner früheren Zeit. Kein Zweifel mehr: der friedlose Sinn, der aus Hebbels älteren Dramen spricht, ist nicht die blasierte Ironie der Romantiker, nicht die zuchtlose Frivolität, der buhlerische Weltschmerz der Jungdeutschen, er ist der tiefe und wahre Schmerz eines starken Geistes, der erst nach harten Kämpfen eine Versöhnung finden konnte, welche der Glückliche, der Gedankenarme mühelos erreicht. — Der Dichter wies in seinem Eigensinne jede Kritik der Wahl seiner Stoffe zurück, weil „das einmal lebendig Gewordene sich nicht zurückverdauen” lasse. Heute, da wir sein Schaffen im ganzen überschauen, wird uns das Körnlein Wahrheit deutlich, das in diesem anmaßenden Ausspruch liegt; auch in den seltsamsten Experimenten des Poeten läßt sich eine gewisse Notwendigkeit nicht verkennen.
Wir gehen rasch hinweg über Hebbels erste Novellen, die in der Art des Humors an Jean Paul, in der Hast der Darstellung an Heinrich Kleist erinnern. Wie seltsam verkannte der Dichter sein ganz und gar nicht populäres Talent, wenn er hoffte, seine niederländische Geschichte „Schnock” werde im Bauernkittel von Fließpapier auf den Jahrmärkten feilgeboten werden; den derben Ton herzhaften Spaßes, den der Bauer verlangt, findet dieser Poet des Gedankens nicht.
In seinem ersten Drama Judith versucht Hebbel in der Seele der epischen Heldin der Bibel einen Bruch, einen Kampf hervorzurufen, er will uns an ihr das Recht[S. 243] des Weibes auf wahre Liebe zeigen und dergestalt den Liebling starkgeistiger Maler und Poeten dem modernen Bewußtsein verständlich machen. Freilich wird das gräßliche Weib selbst dadurch kein tragischer Charakter; denn unter den widerstreitenden Gefühlen, welche ihr Herz bewegen, der religiösen Begeisterung für ihr Volk, der durch den Anblick kläglicher Schwächlinge geschärften Ruhmbegierde, endlich der geheimen Liebe zu dem einzigen ganzen Manne, den sie kennt, tritt bald die nackte tierische Sinnlichkeit als das herrschende Motiv hervor. Noch häßlicher ist Holofernes, wohl der unwahrste aller jener souveränen Kraftmenschen, in deren Schilderung sich die Literatur jener Tage gefiel, bei aller scheinbaren Größe ein lächerlicher Prahler. Wahrhaft empfunden sind allein die glaubenseifrigen Gestalten des jüdischen Volkes. Hier war es dem Sohne strenger bibelfester Bauern leicht, aus voller Seele zu schaffen. Aber wie fremd steht die Frömmigkeit des Alten Testaments neben einem Materialismus, der an die häßlichsten Ausgeburten der poésie de sang et de boue gemahnt! Diese Zerfahrenheit der Stimmung, diese Unsicherheit der sittlichen Begriffe des Dichters raubt dem Stücke, trotz der in mächtigem Aufschwung stetig anschwellenden Handlung, die innere Einheit.
Selbst jenes verwirrenden und berauschenden Reizes, den die Judith bei der ersten Aufführung immer bewähren wird, entbehrt die Genoveva. Hebbel versteht noch nicht, den unbestimmtesten und darum bildsamsten der Verse zu gebrauchen: sein dramatischer Jambus ist korrekt und entspricht durch die Härte seiner männlichen Endungen äußerlich dem Wesen des Dramas, aber er hat weder lebendige Kraft noch melodischen Fluß. Mißachtend das durch die Natur des Stoffes Gebotene hat der Poet das wehmütig-liebliche Volksmärchen gewaltsam in eine Tragödie verwandelt, indem er den versöhnenden Schluß hinwegließ und jede Spur des Naiven und Naturwüchsigen vertilgte. Ja, er benutzte den mythischen Stoff, um an ihm die Unwahrheit unserer sittlichen Gesetze zu zeigen. Hier freilich sind „Satzungen und Rechte, die das[S. 244] Lebendig-Freie schamlos knechten”. Diese Menschheit ist befangen in formalistischer Sittlichkeit: nur ein Äußerliches erblickt sie in der Ehre, der Treue, dem Glauben, zu deren Schutze sie die blutbefleckten Hände hebt. Doch wir erkennen in ihr unser eigenes Gefühl nicht wieder; rein unbegreiflich erscheint in dieser gebundenen Welt die ganz moderne Empfindung des Versuchers Golo. Die Handlung ist ein gehäuftes Maß von Schrecknissen — denn bei Hebbel erscheint der Tod stets als die gräßliche Kere, nimmer als milder Genius — die Diktion bietet einen jähen Wechsel von Frost und Hitze; der letzte Eindruck ist vollkommene Ermüdung und die ratlose Frage, ob die wirre Symbolik dieser Szenen wirklich eine Tragödie der ehelichen Treue vorstellt?
Verdankte die Judith ihren Erfolg vor allem ihrer Wahlverwandtschaft mit gewissen krankhaften Verstimmungen der Zeit, und hatte die Genoveva als ein Verstandeswerk gar nur das Staunen eingeweihter Literatenkreise erregt, so fand die Maria Magdalena den verdienten Beifall aller Unbefangenen, ein wahrhaft poetisches Werk, das über seiner klaren und strengen Komposition und über der ergreifenden Wahrheit seiner Charaktere alle seine Mängel leicht vergessen läßt. Hebbel war kühn genug, aus der Not eine Tugend zu machen, die „schreckliche Gebundenheit in der Einseitigkeit” — jene Klippe, an der die meisten bürgerlichen Dramen und Dorfgeschichten scheitern — zum Mittelpunkte des tragischen Konflikts zu erheben. Die Hohlheit kleinbürgerlicher Ehrbegriffe mit ihren schrecklichen Folgen soll dargestellt werden. Zu solcher Arbeit ist Hebbels große dialektische Kraft wie geschaffen. Auch das Eingehen auf Sitten und Zustände, welche dem Poeten genau bekannt waren, ist ihm zum Heile ausgeschlagen. Nicht als meinten wir mit den Verehrern photographischer Wahrheit, der Künstler solle nur Verhältnisse schildern, die ihm durch persönliche Erfahrung vertraut geworden; wer das Zeug hat zu einem Dichter, trägt ein Bild der Menschheit im Herzen. Hebbel jedoch mußte durch einen Stoff, dessen feste Schranken ihm selbst wie den Lesern wohlbekannt sind,[S. 245] von seiner Unart, symbolische Züge in die Aktion zu legen, abgehalten werden. Er bewährt hier seinen Ausspruch: „Überall soll der Dichter ökonomisch sein, nur nicht in seinen Grundmotiven.” Der Bau des Dramas ist musterhaft knapp und gedrungen, auch die Naturlaute der Leidenschaft erklingen tief erschütternd, das Stück würde das Muster eines bürgerlichen Trauerspiels sein, wenn nicht der Dichter durch die Unsicherheit seines sittlichen Gefühls auch dem Hörer das Gefühl verwirrte. Der Hörer nimmt Partei — nicht wie der Dichter will für die büßende Heldin, sondern für den harten alten Philister Meister Anton. Das unglückliche Mädchen hat sich im Zorn verschmähter Liebe einem ungeliebten Manne verlobt, und da ihr Gewissen sie noch immer der alten, jetzt sündhaften Liebe zeiht, wähnt sie sich verpflichtet, dem eifersüchtigen Bräutigam durch verzweifelte Hingebung ihre Treue zu beweisen. Eine solche Tat ist denkbar — denn was wäre unmöglich für ein geängstetes Mädchengewissen — doch sie steht sittlich tiefer als ein in der Hitze natürlicher Leidenschaft begangener Fehltritt. Der Dichter soll uns nicht einreden, das Mädchen sei durch diesen Schritt nicht innerlich befleckt worden. Der alte borstige Vater hat ganz recht, wenn er die Schande nicht auf seinem ehrlichen Bürgerhause dulden will — und über solchen unabweisbaren Verstandesbedenken geht uns die Freude an dem schönen Gedichte fast verloren.
Mit diesem Werke war ein großer Erfolg errungen, des Dichters dramatisches Talent unzweifelhaft erwiesen. Wer hätte nicht hoffen sollen, Hebbel werde mit frischem Mute, mit seiner jetzt durch schöne Reisen erweiterten Bildung fortschreiten auf so glückverheißendem Wege? Statt dessen verlor er sich jahrelang in zielloses Experimentieren, er schrieb jene unglückseligen Märchendramen „Der Diamant” und „Der Rubin”, deren Symbolik zu enträtseln der Mühe nicht lohnt.
In Unteritalien lernte er eine Welt verrotteter Zustände kennen, einen tief unsittlichen Polizeistaat, einen leeren Lippenglauben, einen getretenen und verwilderten Pöbel, eine gewissenlose Geldmacht. Hier, wenn irgendwo, [S. 246] war seine Verachtung der schlechten Wirklichkeit am Platze, hier mußte er fühlen, daß des Künstlers Hände zu rein sind, um die Verwesung byzantinischer Verhältnisse zu berühren. Und hier gerade ließ er sich durch eine aberwitzige Anekdote anreizen zur Erfindung seiner berüchtigten Tragikomödie „Ein Trauerspiel in Sizilien”, welche ein tragisches Geschick in untragischer Form darstellen, des Hörers Lachmuskeln zucken und zugleich ihn vor Grausen erstarren machen soll. Das heißt doch nur die gemeine Prosa des Alltagslebens geradeswegs in die Kunst einführen. Das tragische Geschick in untragischer Form stöhnt und ächzt auf allen Märkten; ihm die tragische Form zu finden, ist des Dichters schönes Recht. Hebbels feiner Formensinn hat ihn davor bewahrt, den unglücklichen Gedanken weiter zu verfolgen. Auch ein anderes Experiment dieser Zeit blieb liegen. In der Tragödie „Moloch” wollte der Dichter „ein Volk stammeln lassen”, die Uranfänge der menschlichen Gesittung, die Entstehung der Religion darstellen — ein Versuch, der mit ungemeiner dichterischer Kraft begonnen, schließlich doch in undramatische Symbolik verlaufen mußte. Wiederum in den zerfressenen italienischen Verhältnissen wurzelt das Schauspiel Julia — eine Schilderung moderner Blasiertheit und Verworfenheit, wie sie nur einem völlig umnachteten Auge erscheinen konnte, ein Drama ohne Abschluß, ohne jedes Interesse, gerade darum gefährlich und unsittlich, weil Hebbel die unnatürliche, kläglich-sentimentale Handlungsweise seines Helden, der sich selber eine wandelnde Leiche nennt, als eine sittliche darstellen, sittlich erhebend durch das abgeschmackte Drama wirken will.
Das waren böse Tage für Hebbel, da sein Selbstgefühl im selben Maße wuchs, wie die Teilnahme der Leser sich ihm entfremdete. Selbst die Freunde fragten verwundert, ob er denn aus dem ewigen Rom nichts anderes davongetragen habe als die feine Durchbildung der Form, welche fortan alle seine Gedichte auszeichnete. Auch das bedeutendste Drama dieser unseligen Periode ist ein Werk des kalten Verstandes. „Herodes und Mariamne” schildert das Judentum in seiner Selbstauflösung und ist zugleich [S. 247] eine Tragödie der ehelichen Treue; so bildet es ein Gegenstück zur Judith und zur Genoveva. Herodes kann es nicht ertragen, daß sein Weib ihn überlebe, zweimal stellt er sie, während er zu gefahrvollen Fahrten verreist, unter das Schwert des Henkers. Gegen solchen Zwang sträubt sich der Stolz der Gattin, denn „das kann man tun, erleiden kann man’s nicht”. Und dieser bei aller Seltsamkeit gewaltige, echt dramatische Konflikt, der schon in der Darstellung des Josephus jedes Herz bewegt, läßt bei Hebbel vollkommen kalt. So sehr ermangeln diese Menschen der Ursprünglichkeit und Freiheit, so sehr befremdet uns die moderne epigrammatische Sprache an historischen Personen, deren grundverschiedene Gesittung wir von Kindesbeinen an kennen.
Endlich, endlich nach so langem theoretischen Umhertasten öffnete sich Hebbels Gemüt wieder natürlicheren, einfacheren Gefühlen, als er die „Agnes Bernauer” schrieb und auf heimatlichem Boden Menschen schuf, so wahr und tüchtig, wie sie ihm seit der Maria Magdalena nicht mehr gelungen waren. Hier erscheint der moralische Revolutionär als politisch konservativ: die Berechtigung des Allgemeinen, des Staates, wird gezeigt gegenüber dem subjektiven Belieben der Leidenschaft. Hebbel bleibt vollkommen frei von der sentimentalen Auffassung der Liebe, deren heute der vornehme Pöbel voll ist. Leider verrät die Heldin kaum durch ein hingeworfenes Wort eine Ahnung von der Schwere ihrer Schuld, und wir empfinden ihren Tod als eine brutale Mißhandlung. Der wahrhaft innerlich ringende Held des Stücks vielmehr ist Herzog Ernst; sollte das Werk dramatisch wirken, so mußte der alte Herzog in den Mittelpunkt der Handlung treten. Dann ließ sich ein besserer Schluß finden als dieser unselige fünfte Akt, wo Hebbel, der sonst das Gräßliche liebt, einen tödlichen Gegensatz durch eine übereilte Versöhnung beendet. In einem Aufzuge die Ermordung der Agnes, den wütenden Kampf des Sohnes gegen den Vater und die Beilegung des Streites darstellen — das verletzt jene Einheit der Zeit, welche der Dramatiker auch nach Lessing noch achten soll, das bleibt unglaublich, obschon[S. 248] der Poet durch die sprudelnde Heftigkeit, welche er dem jungen Herzoge leiht, uns darauf vorbereitet hat. Aber wie das Land nach langer Wasserreise, begrüßen wir in dem Stücke wieder eine warme natürliche Stimmung, wir freuen uns der getreuen Genossen des jungen Herzogs und der kernhaften Bürger. Lebendig tritt die gärende Zeit uns vor die Seele, wo die Tage der Hohenstaufen bereits als ein ferner schöner Jugendtraum in der Sehnsucht der Menschen lebten und moderne Diplomatenkunst die ritterliche Vasallentreue zu verdrängen begann.
So war das Eis gebrochen, und die gesunde freudige Stimmung hielt an. Das gemütvolle Versmaß, das uns Deutschen wie ein liebes altes Märchen zum Herzen redet, das Metrum der deutschen Reimpaare, ward von Hebbel glücklich benutzt für das kleine Künstlerdrama Michelangelo. Diese geistreiche Behandlung einer sinnigen Anekdote gewährt manchen tiefen Einblick in die Geheimnisse künstlerischen Schaffens; und doch ist genug Handlung in dem Stücke, um selbst auf der Bühne Interesse zu erregen. Mögen andere rügen, daß die Schilderung der Kunstfreunde und dilettierenden Künstler sich von tendenziöser Bitterkeit nicht frei hält und sehr deutlich an des Verfassers eigene Fehden mit der Kritik erinnert; mögen sie tadeln, daß die Gestalt des Raffael, wie fast alles Holde und Milde bei Hebbel, ganz schattenhaft gehalten ist: — uns widersteht es, an einem erfreulichen und mit Unrecht vergessenen Werke zu mäkeln. Dieser Michelangelo lebt wirklich — ein hohes Lob, da die allzu verbreitete Kenntnis der Kunstgeschichte hier der freien Tätigkeit des Dichters schwer beengende Fesseln anlegte. Mancher akademisch korrekte Künstler wird an dem jugendfrischen, vielsagenden Worte „die Ordnung, mein’ ich und bleibe dabei, beginnt erst bei der Staffelei” seine eigene Hohlheit erkennen; mancher, der Hebbel mit Mißwollen betrachtet, wird aus diesen einfachen Szenen den heiligen Ernst des Schriftstellers begreifen.
Noch einmal, in der Tragödie Gyges und sein Ring, hat Hebbel einen Schatz von Formenschönheit und Kunstverstand an einen undankbaren Stoff verschwendet. Der[S. 249] Dichter versteht, uns in die Atmosphäre längst entschwundener Zeiten zurückzuzaubern, „an den alten Nil, wo gelbe Menschen mit geschlitzten Augen für tote Könige ew’ge Häuser bau’n”. Wo nicht stellenweise eine allzu moderne Bewußtheit der Sprache uns die Stimmung verdirbt, steht sie wirklich farbenprächtig vor uns, die reiche Wunderwelt des Herodot, die mit der Fülle ihrer rein menschlichen Konflikte unseren Poeten ein so dankbares Feld eröffnet. Dennoch wird dies Trauerspiel mit vollem Rechte nie auf der Bühne Fuß fassen, denn es ist ein antiquarisches Stück. Es ist ein sinniger, freilich mehr für eine Novelle als für eine Tragödie der Ehe geeigneter Gedanke, daß auch in der innigsten Vereinigung jeder Gatte ein Etwas zurückbehält, das Schonung erheischt, das er dem Gemahl nicht hingeben kann, ohne sich selbst aufzugeben; aber wie wenige Leser werden aus der seltsamen Handlung des „Gyges” diese Idee erraten! Heute, da man den Dramatiker unaufhörlich auf historische Stoffe verweist, kann nicht laut genug die einfache Wahrheit wiederholt werden, daß der Dichter seine Menschen in den Herzen seiner Zuschauer, der Kinder seiner Zeit, entstehen und wachsen lassen muß. Mag er getrost Weltverhältnisse aus den Tagen vor der Sündflut uns vorführen: in den Empfindungen seiner Charaktere dulden wir nichts Antiquarisches. Gerade unser Publikum mit seinen abgestumpften Gefühlen wird nur durch einfach-drastische, sofort verständliche Empfindungen erregt werden. Dieser König Kandaules, welcher „Zeugen braucht, daß er nicht ein eitler Tor ist, der sich selbst belügt, wenn er sich rühmt, das schönste Weib zu küssen”, welcher darum den Fremden als Zuschauer an das eheliche Lager führt — er handelt nach unsern Begriffen mit einer brutalen Roheit, die seinen Edelmut uns völlig unglaublich macht und jedes tragische Mitleid aufhebt. Hier aber sind unsere Begriffe im Rechte, weil wir leben. Nur ein bedauerndes Achselzucken haben wir für die untadelhafte Komposition, die Melodie der Sprache und den Gedankenreichtum des Dichters, der in diesem Werke sich glänzend entfaltet. Wie nämlich Kandaules in seinem Hause die[S. 250] Schranken altheiliger Sitte zerstört, so wagt er auch im Staate „an den Schlaf der Welt zu rühren”, obwohl er „nicht die Kraft hat, ihr Höheres zu bieten”. Und in diese dumpfe gebundene Menschheit tritt der einzige, den wir ganz verstehen, der jugendliche Gyges, der Mann der freien entschlossenen Tat, der Sohn des klaren Hellenenvolkes, das die Fesseln starrer Sitte lächelnd abgestreift hat.
Wie seine Dramen, so zeigen auch Hebbels kleine Gedichte eine auffällige Ungleichheit des Werts. Wir sehen eine ursprünglich poetische Natur vor uns, welche durch übereifrige Verstandestätigkeit sich der schönsten Früchte ihres Talents beraubt. Hebbel erstrebt eine Universalität, woran selbst ein Goethe nie gedacht hat — ein Unterfangen, wobei einem pathetischen Dichter das Ärgste widerfahren muß. Ein Mann wie er konnte in seiner Jugend ein Mädchen erschrecken durch heiße, despotische Leidenschaft; er konnte dann ein edles Weib mit jener tiefen und ernsten Mannesneigung erfassen, wovon so manches schöne Gedicht an Christine Kunde gibt; versucht er jedoch zu tändeln und leicht zu kosen, so zeigt er nur die Grazie eines seiltanzenden Elefanten. Auch für das einfache Lied fehlt ihm die Naivität. Dagegen sind mehrere der Balladen durch ihre einheitliche Stimmung sehr wirksam; nur leiden sie meist an zu großer Länge; denn der Dramatiker weiß nichts von dem Kunstgeheimnis des lyrischen Rhapsoden, durch Verstummen das Tiefste zu sagen. Die Gedichte „Dem Schmerz sein Recht” erschüttern durch den heftigen rastlosen Kampf eines aufwärts strebenden Geistes; doch zeigen auch sie, wie selbst die schönsten Gedichte der Sammlung, eine ungelöste Zutat von Reflexion. Das Epigramm ist natürlich stark vertreten: fast überall Gedanken eines gescheiten Mannes, aber auch überall eine unselige Störung, bald durch die Breite der Darstellung, bald durch die Prosa des Gedankens oder durch ein geschmackloses Bild. Selbst das verständigste der Gedichte, selbst das Epigramm, muß in der Phantasie des Künstlers empfangen werden.
Es ist doch ein frischer, erfreulicher Dichterzug in Hebbels Leben, wie er, entzückt von dem liebenswürdigen[S. 251] Spiele einer Künstlerin, sie rasch entschlossen von der Bühne heimführte. Beglückt an der Seite dieser edlen Frau, in dem Frieden eines wohlgeordneten Hauses ließ er jetzt in dem kleinen Epos „Mutter und Kind” alles wieder zu frischem Leben erwachen, was vorzeiten seine Phantasie erregt: das derbtüchtige niederdeutsche Bauernleben, das reiche Hamburg und seinen furchtbaren Brand. Auch die Ideen, welche seinen Kopf vorzugsweise beschäftigen, das Verhältnis von Mann und Weib, die Fragen von der Armut und dem Sozialismus, spielen in das Gedicht hinein. In dieser kleinen Welt rein menschlicher Empfindungen hat der Dichter jene Wärme des Gefühls, jene Freude an dem Milden und Gemütlichen, jene gläubige versöhnte Stimmung wiedergefunden, die auf seinen langen spekulativen Irrfahrten fast verloren schienen.
Uns scheint, in diesen Worten über die Elternliebe liegt unendlich mehr Tiefsinn und kräftiger Mannesmut, als in den heftigsten Invektiven, welche Hebbel je gegen die Gesellschaft geschleudert. Der wesentliche Mangel des Werks zeigt sich in der Form. Wir meinen hier nicht die übermäßige Anwendung des Trochäus, die Hebbel sich erlaubt. Denn der Hexameter ist zwar keineswegs, wie Hebbel meint, „der deutscheste Vers”, sondern ein Maß, das einer ursprünglich der Quantität entbehrenden Sprache niemals ganz natürlich zu Gesichte stehen kann; doch gerade deshalb mag der deutsche Dichter bei dessen Handhabung mit großer Freiheit verfahren. Sein feines Gehör allein muß ihn warnen vor dem Schein der Dürftigkeit, der durch zahlreiche Trochäen entsteht, wie vor dem haltlosen, hüpfenden Wesen und dem zischenden Mißklang gehäufter Konsonanten, welche die Daktylen der „korrekten” [S. 252] Platenschen Schule in den Hexameter bringen. Wir meinen hier die Form in einem minder äußerlichen Sinne. Die ungeheure, vollkommen nur einmal erfüllte Aufgabe, in unserer aufgeregten Zeit das erhabene Gleichmaß epischer Diktion und Empfindung zu bewahren, war dem Dramatiker unlösbar. Bald staut seine Rede sich auf in abgebrochenen Sätzen, bald stürmt sie daher in langen Perioden, die ebenmäßige Wallung des Hexameters geht verloren. — Und dies einfach herzliche Gedicht ging in der Lesewelt fast spurlos vorüber. Ist es doch längst kein Geheimnis mehr, daß das Los der Gedichte heute in den Händen der jungen Damen liegt. Wirken Tragödien zu aufregend auf die Gemüter der Fräulein — nun, hier ist ein Epos aus der stillen Welt des Hauses, ganz dazu geschaffen, ein einfaches Mädchen sanft zu bewegen. Doch leider, keine Spur von Sentimentalität und augenverdrehender Frömmigkeit; und diese Bäuerin hat so gesunde Nerven, sie untersteht sich sogar, im Grünen zu gebären! Mon Dieu, welche Pensionsdirektrice von Pflichtgefühl darf ihren Zöglingen solche Natürlichkeiten bieten?
Unterdessen reifte langsam des Dichters größtes Werk, die Nibelungen. Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim Anblick des Titels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des Weisen zu sagen liebt: das sind alte Geschichten, der Himmel bewahre uns vor dieser tausendjährigen Hexerei — so können wir nicht bestimmt genug die Überzeugung aussprechen: nur wenige moderne Dichter haben die gewaltige Versuchung nicht empfunden, die Gestalten des Nibelungenliedes irgendwie nachzubilden. Da steht sie vor uns, eine jener grandiosen Fabeln, woran die Kunst und der Glaube von Jahrhunderten gearbeitet, das Wunderwerk eines ganzen Volkes, in ihren Grundzügen hoch erhaben über jeder Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen Reize der Jugend tritt das altehrwürdige Werk vor unsere Augen. Seit zwei Menschenaltern erst hat sich die Liebe unseres Volkes wieder der alten Dichtung zugewendet. Seitdem sind die Gestalten des hörnernen Siegfried und der Rächerin Kriemhild einem jeden eng verwachsen mit jenen ersten Empfindungen [S. 253] der Kindheit, welche ewig frisch bleiben, als wären sie gestern empfunden. Und dieser Schatz gewaltigster menschlicher Leidenschaft, der unsere Maler zu immer neuen Nachschöpfungen reizt, ist uns überliefert in einer poetischen Bearbeitung, die dem feineren Kunstsinne der Gegenwart nimmermehr völlig genügen kann. Denn — zum Schrecken orthodoxer Germanisten sei gesagt, was jedes einfache Gefühl sofort empfindet — neben Stellen von hinreißender Kraft und Schönheit dehnen sich im Nibelungenliede weite Strecken von langweiliger Einförmigkeit. Auch der Inhalt bietet oftmals eine fremdartige, ja feindselige Mischung von altnordischen, deutschheidnischen und christlichen Elementen. Die ungeheure Bewegung und leidenschaftliche Wildheit des Stoffes, welchen die epische Form oft kaum bewältigen kann, fordert den Dramatiker ebenso laut zum Nachbilden auf, wie jene Keime verschlungener, eingehender Charakteristik, die sich im Epos nur halb entfalten dürfen. Gründe genug, um in unzähligen modernen Menschen den Wunsch zu erregen, daß die Heldengestalten der alten Sage auf der Bühne erscheinen möchten, wo, nach Hebbels schönem Worte,
Aber wie läßt sich diese ungeheure Fabelwelt dem Verständnis unserer Hörer erschließen? Am nächsten liegt es, durch sorgfältige psychologische Motivierung die alten Recken uns menschlich nahe zu führen. Dieses Weges ist Emanuel Geibel gegangen — und der Erfolg bewies, daß auf solche Weise die finstere Größe des alten Gedichtes gänzlich verloren geht. Wie anders ist Hebbel verfahren! Ein ungeheures Geheimnis bleibt immerdar über den riesigen Gestalten dieser Sage, das keine Kunst unserer helleren Zeit lichten kann. Sollen unsere Hörer an einen Hagen Tronje wirklich glauben, so gilt es nicht, ihn hinabzuziehen in unsere Kleinheit und Feinheit, nein, es gilt, ihn noch reckenhafter erscheinen zu lassen und die Wunder der alten Göttersagen, die im Nibelungenliede[S. 254] schon halb verwischt sind, in voller Pracht zu entfalten. Von vornherein muß der Hörer empfinden, daß er die Welt des hellen, bewußten Verstandes verlassen hat, daß er unter Menschen tritt, die wahllos, zweifellos, wie die Naturgewalten, das Ungeheure tun, die der vollbrachten Untat hart und sicher in die Augen sehen und sie auf sich nehmen wie der Hagen des Liedes, der bei jedem neuen Frevel sich vordrängt und spricht „laß mich den Schuldigen sein”.
Diese Erhöhung der Helden fast über das Maß des alten Liedes hinaus hat Hebbel mit bewundernswürdiger Kunst vollzogen. Wie vertraut sind diese Menschen mit aller Heimlichkeit des Naturlebens. Beredt wird ihre Zunge nur, wenn sie sich erzählen von den Geheimnissen des Waldes, von den Seherworten, die aus dem Nixenbrunnen ertönen, von den Wundern des nordischen Eislandes, von jenen Runen, darüber ein Held vergeblich sinnen mag bis an seinen Tod. Wo es zu handeln gilt, gehen sie ans Werk wortlos, sicher, unentwegt; dann und wann bricht aus den geschlossenen Lippen ein Ausruf jenes gräßlich wilden Humors hervor, der sich schon in dem alten Liede findet, wenn es von Volker spricht:
Doch während der Dichter so trotzig allen unseren konventionellen Begriffen ins Gesicht schlägt, ist er um so maßvoller und schonender verfahren, wo er unser sittliches Gefühl zu verletzen fürchten muß. Jener König Gunther, der schon in dem alten Liede eine sehr widerwärtige Rolle spielt und bei jedem Versuche eingehender psychologischer Zergliederung notwendig ekelhaft erscheinen muß, ist von Hebbel mit sicherem künstlerischen Takte in den Hintergrund geschoben worden. Jung und schwach läßt er den grimmen Hagen gewähren, der ihn und seine Brüder ganz beherrscht. Ebenso ist jener nächtliche Ringkampf auf Brunhilds Lager von Hebbel sehr schamhaft behandelt, und wer sich einmal eingelebt in die wunderbare Luft dieses Dramas, wird ohne jeden Anstoß daran vorübergehen.
Auch daß Hebbel den ganzen Inhalt des Nibelungenliedes in die dramatische Form umgegossen hat, können wir nur billigen. Denn wenn man so gern auf die attischen Dramatiker verweist, die nur einzelne Katastrophen aus der reichen Fülle der homerischen Gedichte sich auswählten, so will diese gelehrte Vergleichung hier nimmermehr passen. Wie Schuld die Schuld gebiert — dies Fortwirken des Frevels, welches in der ursprünglichen Form der Sage, in dem Fluche, den Andwari über das Gold gesprochen, sogar noch schöner ausgedrückt war, bildet recht eigentlich den Kern der Tragik des Nibelungenliedes. Darum müssen wir sehen, wie Siegfrieds Mörder und ihr ganzes Geschlecht untergehen; eine Vision, welche dies nur andeutete, kann uns nicht genügen.
Wer diesen Stoff dramatisch gestaltet, muß verzichten auf die konzentrierte Schönheit des Einzeldramas, er ist gezwungen zur zyklischen Behandlung. Hebbel griff zur Dreiteilung; er läßt auf ein kurzes Vorspiel „Der hörnerne Siegfried” zwei Trauerspiele „Siegfrieds Tod” und „Kriemhilds Rache” folgen. Diese Einteilung ist eben deshalb ein großes künstlerisches Verdienst, weil der Laie meinen wird, sie verstehe sich von selbst. Sie bietet dem Dichter den Vorteil, daß er, ohne je in undramatische Breite zu verfallen, den reichen tragischen Gehalt seiner Fabel wirklich erschöpfen kann. Es gibt einige Stoffe von so unergründlicher tragischer Tiefe, daß sie unserer Seele bei jeder neuen Betrachtung immer neue und immer ergreifendere Situationen enthüllen. Wer hat das Bild von Paul Delaroche „Maria in ihrem Hause in der Nacht nach der Kreuzabnahme” gesehen, ohne im ersten Augenblick zu erstaunen über die Neuheit der Erfindung und im zweiten ihre Notwendigkeit freudig anzuerkennen? Und wenn die Bauern vom Oberammergau ihr Passionsspiel aufführen, was ist es, das diese Tausende während langer Stunden in atemloser andachtsvoller Stille fesselt, den blasierten Großstädter so gut wie die schwäbische Bäuerin, die meilenweit gewallfahrt zu der heiligen Handlung? Es ist nicht bloß die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die in den Tiefen[S. 256] unseres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem Verborgenen hervortritt; es ist nicht bloß die erhabene Weihe, welche der Glaube von Millionen über den grandiosen Mythus von der Kreuzigung Christi ausgegossen hat. Noch ein anderer, rein ästhetischer Grund gibt den anspruchslosen Zeilen des alten Dorfschulmeisters eine so mächtig erschütternde Kraft. Jener eine Tag des Todes Christi ist so überschwenglich reich an tragischen Momenten, daß der Nachdichter nicht nötig hat, zu jenen Verkürzungen zu greifen, welche das Drama insgemein verlangt. Stunde für Stunde vielmehr des schmerzensreichen Tages geht in jenem Passionsspiele an uns vorüber. Also hat der Zuschauer den zweifachen Genuß der tragischen Erschütterung und zugleich der vollen ungetrübten Naturwahrheit; denn auch jener letzte Schein des Absichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunstwerke anhaftet, verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen Moment voll unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in dem Morgen nach Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat verstanden, die Gunst der Fabel auszubeuten. Kein Augenblick des Grausens wird uns erlassen von der Stunde an, da Kriemhild erwacht und der Kämmerling über den toten Mann vor der Tür stolpert, bis zu jener schrecklichen Totenprobe, da der grimme Hagen unerschüttert ruft:
In solcher Weise ist der fünfte Akt von Siegfrieds Tod das Schönste geworden, was Hebbel je geschrieben.
Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das Reckenhafte seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen gezeichnet hat, so war sein Plan doch keineswegs, uns durch das Fremdartige dieser Erscheinungen lediglich in Erstaunen zu setzen. Nein, wir sollen empfinden, dies ist das Geschlecht der Heiden, der Gewissenlosen, das einer neuen reinen Menschheit die Stätte räumen soll. Darum hat er jene Spuren des Christentums, welche in das Nibelungenlied hineinspielen, weiter[S. 257] verfolgt und den Heiden Hagen in grimmiger Feindschaft der Kirche gegenübergestellt. Zuletzt, als die Heiden sich hingemordet, ergreift der Christ Dietrich von Bern das Zepter der Welt
„im Namen dessen, der am Kreuz verblich”.
Dies war sicherlich der einzige Weg, um das Entsetzen dieser Fabel zu einem für das moderne Bewußtsein versöhnenden Abschlusse zu führen. Dennoch liegt hier eine Schwäche des Werkes. Die christlichen Elemente treten im Verlaufe der Handlung so wenig hervor, Dietrich selbst greift so wenig in das Spiel ein, daß sein letztes Aufsteigen fast wie ein symbolischer Zug, zum mindesten nicht als eine Notwendigkeit erscheint. Der ruhige, gewaltige Alte des Nibelungenliedes ist uns verständlicher als dieser Dietrich, der so befremdlich mitten inne steht zwischen der heidnischen und der christlichen Welt.
Gerade vor diesem schönen Drama haben wir aufs neue empfunden, wie ganz eigen unser Volk zu seiner Geschichte steht, wie vertraut und zugleich wie fremd die Jugend unseres Volkes uns erscheint. Jene jugendliche Naivität des Naturlebens, welche sich im Drama schon wegen seiner klaren bewußten Kunstform nur leise andeuten läßt und nur in der Breite des Epos zu ihrem vollen Rechte kommt — sie ist es, die noch heute das Gemüt des Deutschen zu seinen alten Mythen hinzieht. Was aber des Dramatikers eigentliche Aufgabe bildet, das Gemütsleben dieser epischen Zeit, das ist uns in solchem Maße fremd geworden, daß wir dreist behaupten können, ein Trauerspiel aus der französischen oder italienischen Gegenwart dürfe sich heute mit größerem Rechte ein deutsches Trauerspiel nennen als eine Dramatisierung der Nibelungensage.
Dem Dramatiker sind, weil seine Kunst gewaltiger als irgendeine andere den ganzen Menschen erschüttert, engere Schranken gesetzt bei der Wahl seiner Stoffe als dem Maler oder dem erzählenden Dichter; und dieser Einsicht voll hat sicher schon mancher moderne Poet der reizenden Versuchung dieser Fabel widerstanden. So gewiß [S. 258] wir beim Hören von Uhlands Ballade „Jung Siegfried” uns willig in die alte Wunderwelt versenken, ebenso gewiß ruft das Drama den Verstand zum schonungslosen Mitsprechen auf. Indem Hebbel seine Recken gänzlich aus der Welt unseres Denkens und Empfindens heraushob, hat er zwar den einzigen Ton angeschlagen, der diesem Stoffe geziemt, doch er hat zugleich verzichtet auf die höchste Lust des Dramatikers, daß die Hörer fortwährend mit seinen Helden leiden und denken, sie treiben oder zurückhalten möchten. Allerdings bietet dies Drama auch mehrere Charaktere, welche uns völlig verständlich sind, namentlich den Charakter der Kriemhild, den nach unserem Gefühle schönsten des Werkes — wie ja auch Shakespeare in dieser alten Sagenzeit mehrere Stoffe von rein menschlichem für alle Zeiten gültigem Gehalte gefunden hat. Aber daneben stehen sehr viele Züge eines halb bewußtlosen Menschenlebens, das „keinen Grund braucht” für sein Handeln, während der heutige Zuschauer sich doch fortwährend im stillen nach den Gründen fragt.
Und untersuchen wir, was Hebbel neu geschaffen hat in dem alten Stoffe, so finden wir zwar einzelne überraschend feine Motivierungen, welche das Lied gar nicht oder nur leise andeutet, wir sehen Brunhilds geheime Liebe zu Siegfried, wir erfahren, daß die Eifersucht Kriemhild bewog, ihre Schwägerin zu schelten, und daß der Neid der letzte Grund des Hasses ist, den Hagen gegen Siegfried hegt; aber wir können nicht sagen, die Helden seien uns in dem modernen Drama vertrauter geworden als in dem alten Liede. Unvermeidlich vielmehr treten in dem Drama einige moderne Züge störend hervor. Die alten Recken beurteilen sich gegenseitig mit einer bewußten Klarheit, welche zu ihrem eigenen Tun wenig stimmt; und wenn Brunhild zu Gunther spricht:
so offenbaren auch diese Worte ein helles Bewußtsein, das wir der Königin von Isenland nicht zutrauen. Gestehen [S. 259] wir also: wenn uns die Lust anwandelt, uns zu erfreuen an der Größe unserer Sagenzeit, so greifen wir lieber zu dem Nibelungenliede selber als zu dem neuen Drama. Denn in einer Erzählung vergangener Taten nehmen wir vieles arglos und willig hin, was uns in der unmittelbaren Gegenwart des Dramas verletzt; und während die Mängel des alten Liedes uns nur wie das Blei erscheinen, worein die Natur das Silber verborgen hat, machen die Mängel des modernen Werkes den Eindruck einer fremden künstlichen Zutat. Der Dichter hat das mögliche geleistet, aber er hat gewisse Bedenken nicht überwinden können, welche notwendig gegeben sind durch die ungeheure Kluft, die unser Empfinden von dem Seelenleben der epischen Tage trennt.
So war dem kräftigen Manne doch gelungen, das Echte seines Wesens der Mitwelt zu offenbaren, und auch sein letztes Werk gab ein Zeugnis von der Läuterung dieses Geistes. Er nahm die Fabel des Schillerschen Demetrius wieder auf; doch Schillers Drama einfach fortzusetzen kam ihm nicht bei: „Ich könnte ebensogut da zu lieben anfangen, wo ein Anderer aufgehört hat.” In seinen jungen Jahren wäre ihm unzweifelhaft der verzwickte Charakter eines tugendhaften Betrügers ein reizender Vorwurf gewesen; jetzt stand er anders zu den sittlichen Fragen. Sein Sinn war jetzt so ganz auf das einfach Edle gerichtet, er empfand so lebhaft die Gemeinheit, die in jedem Betrüger liegt, daß ihm sogar Schillers Idealismus nicht mehr genügte. Schiller wäre, erklärte er oft, mit seinem Betrüger nicht zu Ende gekommen. Er faßte den Demetrius als den Betrogenen, der erst ganz zuletzt, da er nicht mehr zurück kann, seine eigene Schuld erfährt, und stellte den Usurpator so rein und edel hin, daß ich fast zweifle, ob nicht das vollendete Werk an dramatischem Interesse ebensoviel verloren hätte, als der Held an Tugend gewann. Hebbels realistischer Sinn zeigt sich diesmal nur in der drastischen Schilderung des slawischen Volkslebens, die unser deutsches Gefühl fremdartig berührt. Überhaupt liegt über dem tief durchdachten Werke eine seltsame Kälte; unter den vielen, welche sich an dieser[S. 260] erhabenen Schicksalstragödie versucht haben, reicht keiner an Schillers feurige, schwungvolle Weise heran.
Das Gedicht abzuschließen war dem Dichter nicht vergönnt. Eben jetzt begann die Welt dem lange Verkannten zu danken, da warf ihn eine tödliche Krankheit nieder. Er hörte noch auf dem Krankenbette, seinen Nibelungen sei der große Berliner Dramenpreis zuerkannt worden. Die Antwort, die er dem Boten gab, ist wie der letzte Pinselstrich zu dem Charakterbilde des düsteren, schwerkämpfenden Mannes, der die helle Lust am Leben niemals ganz gekostet hat. Er sagte trüb: „Das ist Menschenlos. Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.”
Otto Ludwig
Kein Satz steht dem Ästhetiker so fest wie dieser, daß die Ideale unserer Zeit nur im Drama die vollendete künstlerische Gestaltung empfangen können. Und keine Tatsache steht dem Beobachter des Kunstlebens so fest wie diese, daß nicht das Drama, sondern der Roman sich heute der höchsten Volksgunst erfreut. Man mag diesen Widerspruch beklagen, und ich beklage ihn lebhaft — aber die ästhetische Empfänglichkeit eines Volkes läßt sich nicht meistern, sie gehorcht ebensowenig wie die Gestaltungskraft der Künstler den Machtsprüchen der Theorie. Die Vorliebe der Zeitgenossen für den Roman entspringt zum Teil der Trägheit; denn das Drama mutet der Phantasie der Hörer eigene Tätigkeit zu, während der stoffliche Reiz des Romans auch den Stumpfsinn erregt. Doch zugleich sagt uns ein richtiges Gefühl, daß die eigentümlichsten Gedanken der Gegenwart bisher in dem Romane ein getreueres Abbild gefunden haben als im Drama. Die jüngste Epoche der deutschen Poesie läßt sich kurz bezeichnen als eine Zeit, welche nach dem Drama sucht, ohne es zu finden. Der lebensfähigen Dramen sind heute so wenige, daß man einigen Mutes bedarf, um ernstlich zu glauben, dies Suchen sei nicht bloß den Reminiszenzen der Weimarschen Tage, sondern einem ursprünglichen Drange der Gegenwart entsprungen. Recht als ein Vertreter dieser suchenden Zeit, als eine tragische Gestalt erscheint uns Otto Ludwig, ein Dichter, der mit allen Kräften eines starken Geistes dem Ideale des Dramas nachtrachtete und endlich doch erleben mußte, daß eine seiner Erzählungen den Zeitgenossen als das schönste seiner Werke galt.
Halb lächelnd halb beschämt gedenken wir heute des sonderbaren Streites der angeblichen Idealisten und Realisten, welcher in den fünfziger Jahren die Spalten so vieler Blätter mit gehässigem Zanke füllte. Als die Ausläufer der Romantik sich in phantastische Experimente verloren, bald die Kunst zum Gegenstande der Kunst machten, bald schattenhafte Märchengestalten erschufen, welche jeder menschlichen Wahrheit und darum der Schönheit entbehrten: — war es nicht natürlich, daß damals frische, mit gesunder Sinnlichkeit begabte Dichter, jenes schwächlichen Treibens müde, mit kecker Hand in die derbe Wirklichkeit des niederen Volkslebens griffen? Dieser aus der Lage der Dinge entsprossenen Richtung verdanken wir die allmähliche Rückkehr der erzählenden Dichtung zu kräftigen, lebenswahren Gestalten. Aber die Dorfgeschichte, die bei ihrem ersten Auftreten, in Immermanns Münchhausen, wie ihr gebührte, nur als eine Episode erschienen war, begann bald sich als die Herrscherin zu fühlen. Der prosaische Sinn der Zeit, froh der großen Triumphe der deutschen Arbeit, stellte dem Dichter die Zumutung, daß er das Schöne suche unter den Düften des Heus, beim Klappern des Webstuhls. Man verwechselte das Ideale und das Abstrakte, schalt über Unnatur, so oft ein Poet über die Schilderung des platt Alltäglichen hinausging. Die realistische Ästhetik bewunderte alles Ernstes den dürftigen Ruhm jenes alten Malers, dessen Trauben die Gier der Sperlinge reizten; sie lief Gefahr herabzusinken zu der Roheit des großen Haufens, dessen Kunstgenuß, nach Goethes klassischem Worte, nur darin besteht, daß er das Abbild mit dem Urbild vergleicht.
Ihr gegenüber scharte sich nach und nach eine seltsam gemischte Gesellschaft. Zarte musikalisch gestimmte Naturen, welche das lyrische Element in jenen realistischen Dichtungen mit Recht schmerzlich vermißten; sinnige Verehrer der Goethischen Muse, die sich aus der Enge der prosaischen Lebensverhältnisse zurücksehnten nach der freieren Luft und der reinen Formenschönheit der antiken Welt; vor allen aber talentlose Schriftsteller, die greisenhaften Epigonen des „jungen Deutschlands”, denen die[S. 264] leibhaftige Wahrheit der Dorfgeschichten ihren eigenen Mangel an Gestaltungskraft klar machte — sie alle vereinigten sich zu dem Rufe, bei dem Streben nach dem Charakteristisch-Wahren gehe die Schönheit verloren. Für das heutige Geschlecht bedarf es kaum noch der Versicherung, daß die hellen Köpfe der beiden streitenden Parteien im Grunde eines Sinnes waren. Darin liegt ja die Größe, der Tiefsinn der Poesie, daß sie, vielseitig, allumfassend, nicht wie die Skulptur den idealistischen, nicht wie die Malerei den charakteristischen Stil begünstigt, sondern beiden freien Spielraum gewährt. Jener zarte Sinn für die reine Form, welcher mit selbstvergessenem Entzücken selbst der abstrakten Schönheit der Linien zu folgen vermag, von den großartigen Umrissen eines Gebirges bis herab zu den lieblichen Wellenwindungen eines Frauenscheitels — er ist dem Dichter nicht minder unerläßlich als der kecke Mut, der seine Lust hat an den mannigfachen Verzerrungen, in denen das Menschenleben die Idee des Schönen entstellt und gebrochen zur Erscheinung bringt. Erst die Vereinigung dieser Kräfte macht den Dichter. Nur ein Mehr oder Minder, ein Vorwiegen der einen oder der andern Richtung ist an einzelnen Künstlern wie an ganzen Zeiträumen wahrzunehmen. Und wenn wir die prosaischen Lebensformen unserer Tage, ihr unstreitbar mehr auf das Wahre denn auf das Schöne gerichtetes Gefühl betrachten, so läßt sich gar nicht leugnen: für einen modernen deutschen Dichter, der seiner Zeit ein offenes Herz entgegenbringt, ist die Hinneigung zur charakteristischen Darstellungsweise nicht Sache der freien Wahl, sondern Ergebnis geschichtlicher Notwendigkeit. — In dem heftigen literarischen Kampfe jener Zeit fanden so einfache Wahrheiten kein Gehör; jeder Künstler ward unbarmherzig hineingezerrt in den Parteihader des Tages. Otto Ludwig selbst hat sich von den kritischen Fehden vornehm zurückgehalten, er hat zur Welt nie anders gesprochen als durch seine poetischen Taten. Trotzdem erkor ihn die buntscheckige Menge der charakteristischen Darstellungsweise zur Zielscheibe ihrer bittersten Anfeindungen; er sollte der wahre Bannerträger sein[S. 265] der Poesie des Tütendrehens. Wunderlicher Irrtum! Wie wahr ist es doch, daß die Lebenden einander nicht verstehen! Heute, da jener törichte Zank längst verstummt ist, da Otto Ludwig nicht mehr unter uns weilt, sei der Versuch gestattet, ein treues Bild des edlen Mannes zu zeichnen. —
Eine harte freudlose Jugend gewährte dem Dichter nur allzuoft einen Einblick in die Nachtseiten des Menschenherzens. Er war zu Eisfeld im Jahre des deutschen Freiheitskrieges geboren und wuchs heran in jenen müden Zeiten, da noch kaum ein Lichtstrahl eines öffentlichen Interesses die Gedanken der Menschen in einer thüringischen Kleinstadt hinweglenkte von den Sorgen und Kämpfen ihres engen häuslichen Daseins. Er erlebte frühzeitigen Liebeskummer, raschen unheilvollen Schicksalswechsel im Hause der Eltern, sah unter den Verwandten wilde Auftritte entfesselter Leidenschaft in gedrückten ärmlichen Verhältnissen, und da er eine Zeitlang hinter dem Ladentische stehen mußte, trat ihm das kleine Alltagstreiben der wunderlichen Käuze, die jene Zeit des ungestörten Philistertums erzeugte, dicht unter die Augen. Das Völkchen um ihn her begann bald zu ahnen, daß eine ungewöhnliche Kraft in der Seele dieses jungen Menschen arbeitete. Ein Augenzeuge erzählte mir einst, wie Thorwaldsen einmal im lebhaften Gespräche im Zimmer auf und ab ging, die Hände auf dem Rücken gefaltet und einen Tonklumpen zwischen den Fingern knetend; nach einer Weile holt er den Ton hervor und siehe da, er hat die edlen Umrisse eines schönen Kopfes geformt. Auch in der Phantasie des jungen Thüringers lag ein Zug von dieser unbewußten geheimnisvollen Schöpferkraft. Er lebte und webte in einer reichen Traumwelt; glänzende Gestalten tauchten auf vor seinem inneren Auge, traten ihm in den Weg, wo er ging und stand, in körperlicher Fülle, in beängstigender Nähe. Vielleicht ist kein deutscher Dichter seit Heinrich Kleist durch eine solche übermächtige Naturgewalt des Vorstellungsvermögens zugleich beglückt und gepeinigt worden. Doch der erlösende Ruf, der den harmonischen, glücklichen Genius früh auf ein bestimmtes[S. 266] Gebiet des Schaffens drängt, erklang diesem ringenden Geiste nicht. Seine Phantasie war ebenso unstet als vielseitig; sein Wesen gemahnt an jene Urzeit des Völkerlebens, da die Gattungen der Kunst noch ungeschieden durcheinander lagen und der Mensch mehr in Bildern und Tönen als in Begriffen dachte. Er hört entzückende Melodien in seinem Innern klingen und beginnt zu komponieren, er zeigt ein lebhaftes Gefühl für die bildende Kunst und sieht die Erscheinungen, die ihm aufsteigen, blendend vor sich in reicher Farbenpracht, so deutlich, daß er das leiseste Zucken ihrer Mundwinkel nachzeichnen könnte; er fühlt die ersten Regungen seiner Dichterkraft und spielt in einem Liebhabertheater zugleich den Dramaturgen und den Kapellmeister.
Als er endlich meint, seinen Beruf für die Musik erkannt zu haben, und die Güte eines Gönners dem Armen das Studium der Kunst ermöglicht, da führt ihn sein Unstern in das höfliche Sachsen. Dem derben Sohne der Thüringer Berge graut vor diesen glatten Städtern, vor „der erlogenen Jugend auf diesen Leipziger Gesichtern”. Er sehnt sich heim nach der alten Bastei in Eisfeld, wo er so oft mit schlichten, kernhaften Freunden geplaudert, zieht sich scheu vor den Menschen zurück. Noch in späteren Jahren, wenn er die hohen Gestalten der Bilder in der Dresdner Galerie betrachtete, erschien ihm das moderne Volk mit seiner Hast und seiner Leere oft nur wie ein Haufen „aufgepappter Nürnberger Männlein”. Er erwarb jetzt, während er eifrig seiner Kunst oblag, durch harte, aufreibende Arbeit eine allgemeine Bildung, die doch immer unfertig blieb, bis er endlich — man sagt, nach dem Anhören einer Beethovenschen Symphonie — sich traurig gestehen mußte, daß die Welt der Musik nicht die seine sei. Nun erwachte seine dramatische Kraft. In seinen dreißiger Jahren geht er noch tastend die Irrgänge des Schülers, mannigfach aufgeregt bald durch die reckenhafte Größe der altnordischen Sagenwelt, bald durch die Spukgestalten der neuen Romantik. Ich verdanke der Güte der Witwe Otto Ludwigs die Kenntnis zweier Dramen aus dieser Zeit, und ich vermag lebhaft nachzuempfinden, wie[S. 267] bald der strenge, rastlos aufstrebende Geist des Dichters, der sich nie genug tat, von so unreifen, chaotischen Werken sich abwenden mußte. „Das Fräulein von Scudery” ist eine wenig glückliche Bearbeitung der bekannten Schauergeschichte von Callot-Hoffmann; die phantastische Willkür der Erfindung, welche der Novellist durch den leichten Fluß seiner Erzählung, durch eine gewisse diabolische Grazie zu verstecken weiß, tritt in dem Drama grell, in widerwärtiger Klarheit hervor. Minder formlos, aber auch weniger eigentümlich ist das Trauerspiel „Die Rechte des Herzens”.
Es gereicht dem Scharfblick Eduard Devrients zur Ehre, daß er aus einzelnen mächtigen Klängen ursprünglicher Leidenschaft, welche in diesen unfertigen Dramen zuweilen aufbrausen, das Talent des Dichters erkannte und ihm die Schule der Dresdner Bühne eröffnete. Was wußte die Klatschsucht des ängstlichen Dresdner Philisters nicht zu erzählen von dem schweigsamen Sonderling, der zuweilen mit seiner langen Pfeife im Großen Garten erschien — eine hohe schlanke Gestalt, schöne, tiefe deutsche Augen, ein großes bleiches Gesicht von langem Haar und Bart umschattet. Ein Ton matter und platter Gemütlichkeit war aus der Dresdner Künstlerwelt niemals ganz verschwunden seit jener Zeit, da die Abendzeitung ihre Wasserkünste spielen ließ, bis herab zu diesen neueren Tagen, da der wackere Julius Hammer verständnisinnig um sich und in sich schaute. Doch alle mannhaften und tiefen Naturen aus diesen gefühlsseligen Kreisen suchten gern das stille Haus des Thüringers auf; und wer ihm irgend näher getreten, pries bewundernd die seltene Hoheit dieses Künstlergeistes, wie besonnen und verständig er im täglichen Leben schaltete, wie treu und wahrhaftig die Stimme der Empfindung aus seinem Herzen klang, und wie geistvoll er in seinem derben Thüringer Dialekte über die höchsten Probleme der Kunst zu reden wußte, wenn man nur anzuklopfen verstand. Eine glückliche Ehe und der günstige Bühnenerfolg zweier Tragödien schienen dem Dichter endlich, da er das vierzigste Jahr schon überschritten hatte, die Bahn eines wohlgeordneten ehrenvollen [S. 268] Lebens zu eröffnen; da warf ihn ein grausames Siechtum danieder, betrog ihn und uns um die Früchte seines Schaffens. Unermüdlich tätig, nie verlassen von seiner Seelenstärke, hat er noch viele Jahre hindurch der Krankheit widerstanden, bis er endlich, kaum zweiundfünfzigjährig, erlag.
Es muß ein harter Kampf gewesen sein, der den Dichter des „Fräuleins von Scudery” befreite von den allzu lange verfolgten romantischen Idealen. Genug, er brach mit dieser phantastischen Welt, endgültig nach seiner starken Art; er wollte fortan auf eigenen Füßen stehen, „Natur und Wahrheit geben, ja die Wirklichkeit selbst” — so schrieb er — „nicht die rohe, sondern die schöne”. In der Tat erschien das Trauerspiel „Der Erbförster”, das in Dresden (1852) zum ersten Male über die Bretter ging, wie eine leidenschaftliche Kriegserklärung gegen alle romantische Verschwommenheit. Es ist kaum möglich, über die ungeheuerliche Fabel dieses seltsamen Dramas ein allzu hartes Urteil zu fällen. Das Thema von Kleists Kohlhaas, das Bild des wackeren Mannes, der durch gekränktes Rechtsgefühl ins Unrecht gestürzt wird — dieser alte schöne grunddeutsche Stoff erscheint hier sonderbar verzerrt. Ein leichter, ja komischer Streit zwischen dem wackeren Förster und seinem nicht minder wackeren Herrn wird durch allerlei äußere Umstände, durch eine verwickelte dramatische Maschinerie, die den Einfluß von Lessings Emilia Galotti nur allzu deutlich erkennen läßt, emporgeschraubt zu der Höhe eines tragischen Kampfes; zuletzt greift gar der gemeine Zufall ein und der Förster erschießt, indem er den Sohn des Feindes töten will, sein eigenes Kind.
Und doch, was war es, das damals die Hörer in gespannter Teilnahme auf den Bänken bannte? Warum regte sich kein Lächeln bei den widersinnigen Zumutungen, welche der Dichter an uns stellt? In leibhaftiger Wirklichkeit, mit überwältigender Wahrheit traten uns diese Menschen entgegen; während des Schauens zum mindesten vermochte der Zweifel nicht sich zu regen. Ein jeder fühlte: das ist tief innerlich empfunden, das ward[S. 269] geschrieben mit jener Sammlung des ganzen Wesens, welche in der heutigen Kunst — bei der Masse von Bildungsstoff, die auf den Künstler eindrängt und seine Teilnahme zerstreut — eine unendlich seltene Erscheinung ist. Diese Gestalten hatten von dem Blute des Lebens getrunken, sie sagten uns nicht, was der Dichter mit ihnen wollte, sie sagten, was sie selber wollten, und sie sprachen es aus, ohne es recht zu wissen. Eine feine und tiefe Unterscheidung, die den Nagel auf den Kopf trifft und von Otto Ludwig in seinen Selbstbekenntnissen oft betont wird; der kalte Verstand begreift sie kaum, das gesunde Gefühl empfindet sie augenblicklich. Gerade die gebildeten Hörer, befangen in der Reflexion, an stete Selbstbeobachtung gewöhnt, zeigen heute wenig Sinn für die rechte Objektivität des Dramatikers; sie sind befriedigt, wenn die Gestalten auf der Bühne nur nichts sagen, was ihrem Charakter widerspricht, und hören gern jene pikanten epigrammatischen Selbstbekenntnisse, welche doch lediglich den psychologischen Scharfsinn, den analytischen Verstand des Dichters, nicht seine Gestaltungskraft zeigen. Hier aber erschien ein echter Dramatiker, der völlig hinter seinem Werke verschwand. Der unglückliche Dichter, der mit seinem schwerflüssigen Talent seinen unablässigen grübelnden Seelenkämpfen dem fruchtbaren, glückselig heiteren Genius Albrecht Dürers gegenübersteht wie die Nacht dem Tage, zeigt doch in der naiven Wahrheit, der knorrigen Eigenart seiner Charaktere eine Verwandtschaft mit dem alten Maler.
Und warum fanden sie so wenig Anklang, jene kritischen Stimmen, welche mit der naheliegenden Behauptung auftraten, hier sei die krasse Trivialität der Schicksalstragödien wieder auferstanden? Nein, hier ist nichts von jener leichtfertigen Frivolität, die des Menschen Tun und Denken an einen rohen Zufall knüpft. Ein alttestamentarischer Ernst schreitet durch das Stück; der Dichter scheint frivol, weil seine gewissenhafte Strenge zur Härte wird. „Unschuld und Verbrechen steh’n an den Enden des Menschlichen; aber den Unschuldigen und den Verbrecher trennt oft nur ein schnellerer Puls” — das ist ein Ausspruch [S. 270] frevelhafter Schwäche, wenn er die Sünde entschuldigen soll. Aber Otto Ludwig versteht ihn im Sinne einer Anklage; er glaubt gerecht zu handeln, wenn er „einem raschen Worte, das unser Herr wird, weil wir uns nicht die Mühe geben, sein Herr zu sein”, die furchtbarsten Schrecken folgen läßt. Eine freudlose, trostlose Lebensweisheit, eine arge Verirrung, gewiß, aber die Verirrung eines tiefen und starken Geistes!
Vielleicht noch peinlicher als den grausamen Schluß empfand der Hörer die schwüle beklommene Luft, die über dem gesamten Werke liegt. Diese starken wilden Leidenschaften im engsten Raume tobend — das macht den Eindruck eines Sturmes im Glase Wasser, dabei geht die Harmonie von Form und Inhalt verloren. Die Berechtigung des dörflichen und kleinbürgerlichen Lebens in der Tragödie bleibt schlechterdings eine sehr beschränkte. Worin besteht der poetische Reiz jener schlichten Lebenskreise? In der Einfachheit, der heimlichen Enge, dem traulichen Frieden eines der Natur noch nicht entfremdeten Daseins. Wie anders in dieser Tragödie! Von dem ästhetischen Reize des Wald- und Jägerlebens ist nicht die Rede; nur die Härte, die Unfreiheit der prosaischen Lebensverhältnisse tritt uns entgegen. Wo die Leidenschaft tobt, da erscheint sie in häßlicher Form: ausgehauen wird des Försters Sohn, und den ruchlosen Mordtaten muß sich die feige Waffe der Büchse als Mittel bieten. Fürwahr, das sind keine Äußerlichkeiten. Wenn der Dichter in der ersten Bearbeitung seinen Helden aufs Gericht gehen ließ, um für den Totschlag den Tod zu finden, wenn er später den juristischen Fehler durch einen psychologischen ersetzte und diesen starren Gläubigen durch Selbstmord enden ließ: — liegt darin nicht ein bedenklicher Fingerzeig, wie wenig diese harmlosen Lebenskreise sich für die Tragödie eignen? Die komische, die rührende Dichtkunst findet in solchen einfachen Zuständen ihr natürliches Element. Die Tragödie schreitet auf geweihtem Boden, sie verlangt den Kothurn, sie fordert eine reine, von dem Dunst und Staub des alltäglichen Lebens gesäuberte Luft, sie fordert große Verhältnisse, wenn die großen Leidenschaften, welche sie entfesselt, [S. 271] groß erscheinen, harmonisch wirken sollen, wenn ihr Eindruck nicht traurig statt tragisch, niederschlagend statt erschütternd sein soll. Oder wäre es ein Zufall, daß die große Familientragödie des Lear, das psychologische Drama des Tasso in der vornehmen Welt spielen? Wir sind weit entfernt, den niederen Ständen die tragische Hoffähigkeit kurzweg abzusprechen; aber es bedarf ungewöhnlichen Glückes, wenn der Dichter einer kleinbürgerlichen Tragödie die arge Klippe umschiffen will, daß die Leidenschaften in diesem engen Raume verkümmert, gebrochen erscheinen, und daß die rächenden Mächte des bürgerlichen Lebens, der Gendarm und das „Trillerhäusle” mit ihrer handgreiflichen Häßlichkeit den Kunstgenuß zerstören.
Noch mehr. Die Tragödie verlangt volle Zurechnung, individuelle Freiheit des Entschlusses der Handelnden, und auch darum sind die Höhen des Lebens ihr natürlicher Boden. Keine Spur davon in unserem Trauerspiele. Dieser Held bewegt sich in einer engen Welt fester Rechts- und Ehrbegriffe, welche nicht minder starr, aber weit minder ästhetisch sind als die Satzungen spanischer Ritterlichkeit in den Dramen Calderons. Seine Ehre glaubt er geschändet, wenn sein Gutsherr ihn wegen einer Meinungsverschiedenheit aus dem Dienste entläßt, sein Ansehen denkt er zu wahren, wenn er mit der Furcht statt der Liebe Weib und Kind an sich fesselt. Auch Kleists Kohlhaas ist ein schlichter Mann aus dem Volke; doch hier zeigt sich die Überlegenheit dieses mit Ludwig verwandten und doch ungleich größeren Geistes. Kleist läßt seinen Helden klar und einfach denken, also daß wir alle, hoch und niedrig, sofort verstehen, warum er in seinem Rechte gekränkt, zur Selbsthilfe greift. Dem Erbförster dagegen widerfährt zwar eine Unbill, doch kein Unrecht, er wird als ein widerspenstiger Diener von seinem Herrn entlassen. Der brave Mann empfindet nun dunkel — und wir mit ihm —, daß das formelle Recht diesmal zur unsittlichen Härte führt; in ihm regt sich die uralte, die echt menschliche und doch ewig unerfüllbare Forderung, daß die Ordnung des Rechts und die Ordnung der Sittlichkeit [S. 272] sich decken sollen. Aber der Dichter verschmäht, dies klare und wirksame Motiv zu benutzen; er leiht seinem Helden nicht die Beschränktheit der Leidenschaft, welche im Drama ein ewiges Recht behauptet, sondern die Beschränktheit der Unbildung, die der Hörer belächelt. Der unwissende Förster kann das sonnenklare Recht seines Dienstherrn nicht begreifen, und auf dieser Dummheit des Helden ruht am Ende der ganze tragische Konflikt! — „So sind meine Thüringer” — pflegte Ludwig zu antworten, wenn man ihm solche Bedenken einwarf; er gedachte dann aller der harten und beschränkten Naturen, die ihm droben auf dem Walde begegnet waren, er erzählte von jenem Manne in Eisfeld, der mit den Seinen dem Hungertyphus erlag, weil er es für eine Schande hielt, der Behörde seine Dürftigkeit zu bekennen. Aber sind solche Empfindungen, weil sie im Leben vorkommen, poetisch wahr? Ist der Hörer, der mit freieren menschlichen Ideen an das Werk herantritt, imstande, sie nachzuempfinden oder auch nur zu begreifen? Die enge kleine Welt, worin der Dichter aufwuchs — sonst ein Segen für den Künstler, denn sie schenkt ihm, was keine Bildung ersetzen kann, Vertrautheit mit der Natur, mit dem einfachen Ausdrucke starker Empfindungen — sie gereicht ihm zum Unsegen. Er vermag nicht, über das Reich der Erfahrung sich zu erheben, er zeichnet das Leben selbst, nicht ein künstlerisches Bild des Lebens. So hinterläßt dies Drama eines ernsten und strengen Künstlers doch einen ähnlichen Eindruck, wie die Werke zuchtloser, nach willkürlichen Effekten haschender Geister: erstaunt und befremdet verweilen wir, dieser Held ist ein unverständliches Original.
Zu diesem Fehler, der aus unfreier Bildung entspringt, gesellt sich ein anderer, der seinen Grund hat in der Überfülle der Kraft. Die sinnliche Wahrheit der bis zur Zudringlichkeit deutlichen Gestalten überschreitet oft die dem Dramatiker gesetzten Schranken, also daß der Schauspieler gepeinigt oder zum Automaten herabgewürdigt wird; über ihnen schwebt nicht jener geheimnisvolle Duft, der die Phantasie des Hörers zu eigener Tätigkeit erweckt. [S. 273] Wie peinlich der Dichter durch seine Traumgestalten bedrückt ward, das fühlen wir bei Ludwig wie bei Kleist am deutlichsten an den Szenen höchster Erregung: hier finden beide selten die Beredsamkeit der Leidenschaft, sie reden die stammelnden Laute der rohen Empfindung, sie scheinen zu kalt, weil sie zu heiß sind. Das alles hat Otto Ludwig selbst späterhin eingesehen, da er sich vorwarf: „Wer den Sinn überzeugen will, lähmt die Phantasie.” Endlich — da einmal auch der begabteste Dichter seine Menschen teilweis sich zum Bilde schafft — so haben all diese Charaktere eine schwere, verschlossene, zurückhaltende Weise, die jede Situation übermäßig gespannt und ängstigend macht und dem Hörer zur Qual wird. — Wer die Stärke dieses Talents bewunderte, der mußte wünschen, ein freundlicher Stern möge die Phantasie des Dichters hinausführen aus der engen Welt, die seine Wiege umgab, damit er das Dürftige und Häßliche des Alltagslebens vergesse — und er möge sich befreien von der Schule Eduard Devrients, welcher er zwar die Bühnenkenntnis und die Sorgfalt in der Charakterzeichnung, aber auch die einseitige Vernachlässigung der idealen Elemente des Dramas verdankte.
Und Otto Ludwig erfüllte diese Hoffnung, als einige Zeit später „Die Makkabäer” erschienen. Der Stoff konnte nicht glücklicher gewählt sein; denn der lyrische Schwung, der in der Fabel selbst liegt, half freundlich einen Mangel in Ludwigs Talent verdecken, und nicht die sinnlich reizende Pracht, welche heute so viele blasierte Poeten an die orientalischen Stoffe fesselt, sondern der tiefreligiöse Ernst der jüdischen Welt, der dem Wesen Ludwigs vollkommen entspricht, hatte den Dichter angezogen. Das Drama gemahnt oft an den glaubensfreudigen Siegesjubel, der in den Klängen von Händels Samson redet. Wie Juda Makkabäus über die Leiche seines Oheims nach dem Götzenbilde schreitet und den Greuel in den Staub wirft — „o arme Beter, ärm’rer Gott!” — und wie den sterbenden Duldern zu Jerusalem aus den Augen des einziehenden Helden neue Kraft zum Leben zuströmt: diese Szenen stehen dem Besten unserer Dichtung zur Seite.[S. 274] Und es sind Kämpfe von ewiger Wahrheit, die der Dichter schildert: die Empörung des freien Heldenmuts gegen religiösen Fanatismus, der Kampf der Glaubenstreue mit dem Zwange weltlicher Tyrannei. Die beklemmende Düsterheit von Ludwigs Erstlingsdrama finden wir hier nicht mehr, wohl aber dieselbe Kraft und Gedrungenheit, denselben sittlichen Ernst. Dies letztere erscheint besonders erfreulich, wenn wir uns des gleichnamigen Stückes von Zacharias Werner, das sich mit Ludwigs Tragödie vielfach berührt, erinnern; denn an dieser Arbeit des Apostaten empört uns nicht sowohl das wüste Durcheinander der Szenen und der hohle Klingklang schlechter lyrischer Verse, als der gänzliche Mangel an Gewissen, die prahlerische Äußerlichkeit des religiösen Gefühls.
In der Zeichnung der Charaktere hat der Dichter hier nur wenig und in großen Zügen motiviert, und leider pflegen die Aufführungen der Makkabäer das Heinesche Witzwort, daß Schauspieler und Dichter in demselben kordialen Verhältnisse zu einander stehen, wie der Henker und der arme Sünder, in besonders schlagender Weise zu bewahrheiten. Es ist ein Vorzug großer historischer Stoffe, daß sie sparsames Motivieren ermöglichen: die erhabenen allgemein-menschlichen Empfindungen der Vaterlandsliebe, des Heldenmuts, der religiösen Begeisterung hat jede nicht ganz stumpfe Phantasie schon durchempfunden, der Dichter hat nicht nötig, durch Kleinmalerei sie uns näher zu bringen. Wer sollte ihn nicht verstehen, diesen königlichen Juda, „den Mann, der seine Tugenden verhüllt, daß unsere Armut nicht vor ihm erröte”, der bei der Feinde Drohen vor Lust bebt wie ein Baum im Regen? Und neben ihm „in ihrer Demut Niedrigkeit” das Röslein von Saron, eine Gestalt, die nur wenige Zeilen spricht, aber, von einer erträglich schönen und gefühlvollen Schauspielerin dargestellt, jeden Zuschauer kaum minder rühren muß als den Juda selber. Auch der vielgeschmähte Charakter der Mutter der Makkabäer scheint uns durchaus wahr und treu. „Kein Weib war weiser, keine Mutter törichter”, dies Wort des Juda löst das Rätsel. Mit durchdringender Klarheit erkennt sie die Schmach ihres[S. 275] Volkes, sie glaubt mit einer die Grenzen des Weiblichen schon überschreitenden Leidenschaft an die Rückkehr der Juden zum alten Glanze, zum alten Gott; und in weiblicher Weise vermischen sich diese religiös-politischen Bestrebungen mit ihrem Familienstolze, ihrer blinden Mutterliebe: in jedem ihrer Söhne meint sie den Helden ihres Volkes zu schauen, und indem sie ihnen die Bahn zum Ruhme weist, zittert sie davor, sie zu verlieren. Es ist ein tiefsinniger Zug, daß diese entgegengesetzten Seiten ihres Wesens zuletzt, da sie selbst ihre Söhne zu Jehovas Ehren in den Tod treibt, miteinander in Kampf geraten.
Leider ist die Komposition sehr unfertig, auf Szenen voll Hoheit folgen oft matte, fast zwecklose Auftritte. Ludwig hat gleich Z. Werner zwei Fabeln verbunden, den Glaubenskampf des Juda und die rührende biblische Erzählung von dem Opfertode der sechs Knaben im Marterofen; aber ihm so wenig als Werner ist die Verschmelzung gelungen. Beide Stoffe sind durchaus dramatisch, es war möglich, sie mit derselben Idee zu durchdringen und in ähnlicher Weise wie die beiden Tragödien im Lear zu einer idealen Einheit zu verknüpfen. In der einsamen Größe des Juda, der sich losreißt von dem mütterlichen Boden der Gesittung seines Volkes, ruht ein tieftragischer Gehalt; der Held — das ist des Dichters eingestandene Absicht — soll zu seiner Beschämung erfahren, daß auch er nur ein Werkzeug ist in der Hand Jehovas, und daß Israel gerettet wird nicht durch den Mut des Heerführers, sondern durch die Glaubenstreue der Masse. Aber dann durfte der Glaubenseifer dieses Volkes nicht bloß durch den Mund des Fanatikers Jojakim zu uns reden; vor Augen mußten wir es sehen, wie die Juden sich mit den Waffen in der Hand erwürgen lassen, weil sie die Sabbatgesetze nicht brechen wollen; und vor allem: dann durfte in den wenigen Szenen, wo wir es schauen, das Volk nicht — in jener Shakespeareschen Weise, die für unsere Gesittung unbedingt ein Anachronismus ist — so gar niedrig und erbärmlich auftreten, denn auch die entsetzliche Starrheit des Glaubens hat das Recht einer großen Idee. Diesem elendesten der Völker gegenüber bemerken[S. 276] wir Judas Schuld kaum, er erscheint als ein makelloser, ein epischer Held; und wie schwer er leidet, wie tief sein stolzer Geist sich zerknirscht fühlt durch die Erkenntnis seiner Kleinheit, das hat der Dichter, wie plötzlich erlahmend, kaum angedeutet. — Noch unsicherer entwickelt sich die andere Fabel; sie gelangt erst in der prachtvollen Schlußszene, da die Makkabäerin um das Leben ihrer Kinder fleht, zur vollen dramatischen Wirkung. —
Wie ist eine so seltsame Ungleichheit des Schaffens zu erklären? Otto Ludwig selber gibt die Antwort in einem rückhaltlos ehrlichen Bekenntnis. Der Dichter gesteht, daß ihn in den Stunden des Empfangens zuerst eine musikalische Stimmung überkommt; sie wird ihm zur Farbe, und durchleuchtet von dieser Farbe treten ihm dann einzelne Gestalten der werdenden Dichtung vor Augen, in einer großen dramatischen Situation, die gewöhnlich nicht die Katastrophe ist. Erst nach diesen Gesichten hört er seine Menschen reden, und aus der Farbenpracht solcher Erscheinungen erwächst ihm nach und nach der Plan seines Werkes. Wer kann das lesen, ohne sofort befremdet zu rufen: Das ist das Bekenntnis eines epischen Dichters! Dem Dramatiker muß die Entwicklung seiner Charaktere, ihr stürmisches Fortschreiten durch eine Welt der Taten und der Leiden das Erste, das Wesentliche sein. Ein dramatischer Dichter, der also nur einzelne Szenen seines Gedichts in seiner Seele erlebt, wird unvermeidlich in der Komposition des Werkes und in den Szenen, die er erst nachträglich hinzugedacht hat, eine ermattete Kraft zeigen, zumal wenn ihm, wie diesem treuen Thüringer, die Gabe des Machers, der über seine Schwächen zu täuschen weiß, gänzlich versagt ist. Und doch ward Ludwig durch sein männliches, tief leidenschaftliches Wesen unwiderstehlich auf das Drama hingewiesen; von der milden, heiteren Beschaulichkeit des Epikers lag gar nichts in ihm. Durch solche verschwenderische Kargheit der Natur, die ihm einige herrliche Gaben des Dramatikers, einige Kräfte des Epikers, doch nicht die Harmonie des Genius schenkte, wird das tiefe Unglück dieses ringenden Dichtergeistes vollauf erklärt. — In der Sprache des Stückes[S. 277] endlich kämpfen zwei Stile: das erhabene, von großen Metaphern strotzende biblische Wort, das dem idealen Drama sich leicht einfügt, steht fremd neben der pointenreichen Redeweise des Lustspiels und der bürgerlichen Dramas.
Alle Freunde des Dichters fühlten: in dieser erhabenen Welt hatte das groß angelegte Talent des Dichters seinen natürlichen Tummelplatz gefunden. Aber Ludwig überraschte uns einige Jahre darauf durch seine Rückkehr zu dem Ausgangspunkte seiner Bildung; das Thüringer Kleinleben hatte ihm den Stoff geboten für die Erzählung „Zwischen Himmel und Erde”. Jene unselige Fertigkeit, uns selbst zu belügen, deren Keim auch in dem reinsten Menschen schlummert, deren Verirrungen in der Liebe dem Komiker einen so dankbaren Stoff bieten — hier ist sie als der Urgrund der Sünde aufgefaßt. Wie wir uns einspinnen in eine Welt erlogener Vorstellungen, wie uns der Wahn lieb wird und wir eine Furcht ebenso schwer aufgeben als eine Hoffnung, wie wir die Welt zu kennen meinen, derweil wir nur uns selbst kennen, wie endlich die Schuld uns dahin führt, in den Menschen zu hassen, was wir an ihnen getan — diese Nachtseiten des Herzens hat Ludwig mit wunderbarer Divination verstanden. Hier, bei Ludwigs reifstem Werke, dürfen wir auch die Frage aufwerfen: was hat dieser Dichter gemein mit den Bestrebungen und Empfindungen seiner Zeit? Nicht als wollten wir in tendenziöser Weise das fabula docet aus den Gebilden des Künstlers ziehen — nicht als wollten wir im mindesten die Berechtigung jener, man darf sagen, zeitlosen lyrischen Dichter bezweifeln, welche, wie Eduard Mörike, eine kleine Welt einfacher Gefühle mit unverwüstlichem Humor verklären: allein gegenüber dem weit bewußteren Schaffen des Novellisten und des Dramatikers ist die Frage nach seinem Zusammenhange mit den Ideen seiner Zeit durchaus am Platze. Lange Jahre verleben unsere besten Männer im Kampfe mit falschen Götzen, mit einer verkehrten Genialität, mit sentimentalen Phrasen, die wir aus einer unklaren verschwommenen Zeit ererbt haben. Darum werden wir so mächtig berührt von der ungeschminkten Wahrhaftigkeit [S. 278] der Ludwigschen Gedichte; die schlichte Größe des Juda reißt uns hin, und selbst die pedantische Figur des Apollonius Nettenmair erweckt unsre Teilnahme, denn das tiefe Klarheitsbedürfnis dieses Mannes, sein Widerwille gegen jede Selbsttäuschung gemahnt uns an selbsterlebte schwere Stunden.
Wie in allen im Herzen des Künstlers empfangenen Gedichten hängen auch in dieser Erzählung Ludwigs die Fehler eng zusammen mit den Vorzügen. Er läßt uns die Stimmen hören, die sich in der Menschenbrust untereinander entschuldigen oder verklagen, doch er verirrt sich auch oft in eine Kleinmalerei, die dem lebhaften Geiste unerträglich wird. Wer wüßte nicht, wie selbst den edlen Menschen zuweilen an heiliger Stelle eine sinnlos widerwärtige Vorstellung überfällt? Welche Fülle widersprechender Bilder und Gedanken durchtobt uns in einem Augenblicke der Aufregung, und wie ganz vergeblich ist das Bemühen, jeden dieser Züge festzuhalten! Wie der Maler um seine Gestalten einen festen Rahmen zieht und dem Beschauer überläßt, diese schöne Welt der Träume noch ins Unendliche auszudehnen, so ist auch dem psychologischen Talent des Dichters eine Grenze gesetzt. Jede übertriebene Motivierung ist unschön, denn sie ermüdet; sie ist unwahr, denn ein vorübergehender Gedanke hinterläßt, in der Form der Darstellung fixiert, einen ganz anderen Eindruck als in seiner flüchtigen Erscheinung in der Wirklichkeit; noch mehr, die Überladung mit psychologischem Detail wirkt verwirrend, sie verdunkelt das Wesentliche, das Ergebnis des psychischen Prozesses.
Ludwig hat das thüringische Kleinleben vielleicht noch treuer, er hat es jedenfalls minder befangen von gebildeter Reflexion geschildert, als Auerbach die Zustände seiner Heimat. Doch gerade darum tritt das Unschöne dieser Verhältnisse in der Detailschilderung der Erzählung sogar noch auffälliger zutage, als in dem knappen dramatischen Bau des Erbförsters. Für die Kunst gibt es noch heute Banausen. Die Theorie soll sich nicht anmaßen, hier eine feste Grenze zu ziehen, welche der Mut eines schönheitssinnigen Künstlers jederzeit überspringen kann.[S. 279] Aber im bestimmten Falle läßt sich mit Sicherheit erkennen, ob des Dichters Helden zu klein, zu alltäglich sind für seine psychologischen Probleme — so hier in einer ganz herrlichen Szene. Als das geliebte Weib in warmem, schwellendem Umfangen in Apollonius’ Armen liegt, als die Versuchung in verlockender Schönheit an ihn herantritt, da faßt ihn „die dunkle Vorstellung, als stehe er wie an seinem Tische, und, bewege er sich, ehe er sich umgesehen, so könne er etwas wie ein Tintenfaß auf etwas wie Wäsche oder ein wertvolles Papier werfen”. Jawohl, solche Bilder mögen in solchem Augenblicke das Hirn eines wackeren Schieferdeckermeisters durchzucken, der an Leib und Seele die Sauberkeit und Ordnung selber ist. Aber welcher Leser von freier Bildung kann ein so kleinliches Bild bei so großem Anlaß ertragen? Die Kunst hat einen andern Maßstab als das praktische Leben. Nicht das wertvolle Gold, sondern die schöne Masse des Marmors ist dem Bildner der erwünschte Stoff; und wie der wilde Frevel des Mordes und der Liebe süße Sünden ästhetisch verzeihlicher sind als leichtere kleinliche Vergehungen, so ist das Ehrenwerte als solches noch nicht berechtigt, den Tempel des Schönen zu betreten. Ludwig selbst hat das gefühlt, indem er mit glücklichem Takt seinem Helden ein Gewerbe gab, das mit seinem kecken Wagen immerhin noch einigen ästhetischen Reiz hat.
Auch der ethische Gehalt der Erzählung leidet unter der Enge dieser kleinstädtischen Welt. Um zu schweigen von der grenzenlosen Zurückhaltung, die wie ein Alp auf allen diesen Menschen lastet und den Ton der Erzählung noch viel gedrückter macht, als der furchtbar ernste Inhalt fordert: — die dargestellten Empfindungen sind nur teilweise rein menschlicher Art, wir steigen wieder hinab in eine Welt von konventionellen Begriffen beschränkter Naturen, denen die Sittlichkeit als mechanische Ordnung, die Vorsehung als eine finster nachtragende Macht erscheint, die zu unfrei denken, um die Idee der Schuld und der Zurechnung zu fassen. Wir wollen zur Not den kleinen Widerwillen überwinden, den uns die peinliche Ordnungsliebe dieses Apollonius, sein Federchenlesen und Möbelbürsten[S. 280] einflößt, wir wollen den freudigen Künstlerspruch überhören, der uns dabei mahnend ins Ohr klingt, Goethes schönes und sittliches Wort: „Süß ist jede Verschwendung!” Wenn wir dem Helden nur seine entscheidenden Entschlüsse nachempfinden könnten! Als Apollonius seine Vaterstadt gerettet und so sich vor seinen eigenen unerbittlichen Augen von jedem Scheine der Schuld gereinigt hat, da verschmäht er, die Witwe seines ruchlosen Bruders, die schändlich geraubte Geliebte seines Herzens heimzuführen, ihr und sich ein sittliches Dasein zu bereiten! Er ist dem Mordstoße seines Bruders ausgewichen, der Frevler ist dabei umgekommen, und — „hast du den Lohn der Tat, so hast du auch die Tat!” Welche Moral! Empfänden diese Menschen natürlich, so wäre die Versöhnung zwar in der Dichtung schwer zu schildern — denn so Großes wirkt im Leben nur eine Macht, welche selbst für die freieste der Künste kaum darstellbar ist, die Zeit — aber sittlich wäre sie möglich, ja notwendig. Einem unfreien Denken bleiben ethische Konflikte unlösbar. Wahrlich, nicht jener aristokratische Tic, der die Tiefen des Volkslebens nicht versteht, heißt uns so reden, sondern die Erkenntnis, daß die freie Bildung den Menschen zur Natur zurückführt! Verstimmt und unfähig, uns der trübseligen Resignation des Schlusses zu erfreuen, legen wir endlich das schöne Buch aus der Hand. —
Während blinde Bewunderer das epische Talent des Dichters priesen, gestand der strenge Mann sich unbarmherzig ein, daß seine Novelle nur aus einer Reihe dramatischer Szenen bestand. Für das Epos bleibt das Berichten der Begebenheiten immer das Wesentliche. Doch wo war hier der leichte Fluß der Erzählung, wo die behagliche Freude des Epikers an der Detailschilderung der Außenwelt? Gewiß, die Geschichte ist, wie man sagt, novellistisch „spannend”, aber nur, weil uns der dramatische Konflikt der Charaktere mächtig fesselt. Gewiß, das Buch ist reich an wunderschönen landschaftlichen Schilderungen, aber nur da, wo es gilt, die Stimmung der handelnden Personen in der Natur widerzuspiegeln. Laßt einen Charakter dieses großen Psychologen zwei Zeilen[S. 281] reden, und der ganze Mensch steht leibhaftig vor euch. Aber laßt Ludwig die Außenwelt um ihrer selbst willen schildern, und ihr empfangt einen verworrenen, unklaren Eindruck. Am allerseltsamsten spielt das epische und das dramatische Talent des Dichters durcheinander, wenn er die äußere Erscheinung seiner Helden zeichnet: er sieht sie vor sich, hell und bestimmt wie der Epiker, aber er schildert mit peinlicher Unbeholfenheit; wir fühlen die Verlegenheit des Dramatikers, der, gezwungen zu erzählen, sich verpflichtet meint, alles zu berichten, was der Schauspieler agiert.
Jedem Unbefangenen mußte jetzt die Befürchtung aufsteigen, die psychologische Meisterschaft des Dichters werde, wenn er bei der saloppen Form der Erzählung verharre, zu virtuoser Manier ausarten, und seine strenge Wahrheitsliebe werde zum Behagen an der Prosa des Alltagslebens herabsinken, wenn er in der kümmerlichen Umgebung seiner Thüringer Heimat befangen bliebe. Leider schien das letzte Werk, das Ludwig veröffentlichte — zwei Novellen unter dem Titel „Thüringer Naturen” — die schlimmsten Besorgnisse zu rechtfertigen. Es war die Zeit, da die neue realistische Richtung ihren Höhepunkt erreicht hatte. Als unsere Dichtkunst noch jugendlich unsicher nach ihren Stoffen umhertastete, da brauchte es einen Lessing, um die Marken zwischen der Poesie und den anderen Künsten zu zeichnen. Hundert Jahre darauf hätte ein Mann von feinem Schönheitssinne wohl nach einem anderen Lessing rufen können, der Poesie und Prosa scheiden sollte. Gebildete Männer schämten sich nicht, jedes wohlgeordnete wissenschaftliche Buch über Branntweinbrennerei und Drainage ein Kunstwerk zu nennen; die ästhetische Kritik rief ungestüm nach patriotischen Stoffen, nach Schilderungen aus dem deutschen Leben, auf daß der haushälterische Leser zu dem Luxus der Kunst nur ja ein wenig patriotische Erhebung, ein wenig ethnographische Belehrung mit in den Kauf nehmen könne. Die blasierte vornehme Welt, der Hetärennovellen und der Redwitzischen Süßlichkeit satt, stürzte sich, gleichwie Mörike in jenem lustigen Gedichte über einen herzhaften Rettich[S. 282] die weichliche Schwäche der Mondscheinpoesie vergißt, mit roher stofflicher Lust auf die derbe Hausmannskost der Dorfgeschichte und fand den Tolpatsch originell, den Brosi pikant, das Amreile allerliebst! Es war eine Mode wie andere auch. Aus allen dunklen Winkeln deutscher Erde, aus Kassubien und aus dem Ries beschworen die ideenlosen Nachtreter Berthold Auerbachs ein Geschlecht von Tölpeln und Rüpeln herauf, und je roher, je ungeschlachter diese Bauern es trieben, desto mehr waren sie „aus dem Leben gegriffen”, mit desto höherem „ethnographischen Interesse” betrachtete sie die Lesewelt.
Es schien in der Tat, als hätte auch das Talent des Thüringer Dichters sich dazu herabgewürdigt, der neuen Mode zu huldigen. Mit dem höchsten Aufwande von psychologischer und ethnographischer Treue erzählte er in seiner Novelle „Die Heiterethei” eine dürftige Geschichte aus dem Volksleben seiner Heimat — den bloß scheinbaren Konflikt zwischen zwei wackeren Liebenden, die nur durch die Zwischenträgerei der „großen Weiber” ihres Städtchens eine Weile getrennt werden. Der denkende Leser aber fragte verzweifelnd: wozu so vielen Tiefsinn an einen kümmerlichen Stoff vergeuden? Uns ist, als stände eine jener Miniaturkapellen gotischen Stils vor uns, zu klein um erhaben, zu anspruchsvoll um niedlich zu erscheinen. Die Heiterethei und der Holdersfritz sind wieder zwei jener stolzen reinen Menschen, denen das Aussprechen zarter Empfindungen unmöglich ist; beide Gestalten und die Schilderung ihrer sittlichen Wiedergeburt würden jeden fühlenden Leser entzücken, erschienen nicht auch sie entstellt und unschön in der maßlosen Häßlichkeit ihrer Umgebung. Die Heiterethei hat etwas von einer Heroine — und sie wird mit dem zürnenden Engel im Paradiese verglichen, da sie — den klatschenden Weibern den Kaffee ins Feuer gießt und das Volk zur Tür hinausjagt!! Als der Holdersfritz das Prügeln in der Schenke verschworen hat, will er den Genossen seiner stürmischen Jugend zeigen, daß er die alte Kraft noch besitzt: ein schwerbeladener Schubkarren wird im Kot festgefahren, die Heiterethei und alle Männer versuchen[S. 283] ihre Kraft daran, bis endlich der Fritz die Adelsprobe besteht! Wir lesen das nicht mit jenem Lächeln durch Tränen, das der wahre Humor hervorruft, sondern mit der ratlosen Frage auf den Lippen: Ist das alles Scherz oder Ernst? Wo das Unschöne zurücktritt, da erreicht der Dichter statt ästhetischer Erhebung doch nur moralische Erbauung; so in der Schlußszene, als der Fritz endlich den Trotz seiner Braut gebrochen hat und glücklich rufen darf: „Sie ist raus, die alt’ Heiterethei!” Und diese beiden Menschen stehen noch wie ideale Gestalten unter den übrigen. Im bittersten Ernste wird uns seitenlang eine Prügelei in der Schenke beschrieben. O ihr Grazien! Auf Schritt und Tritt begegnen wir der Schwäche aller Dorfgeschichten, jener unseligen Sprache, welche weder Dialekt noch Hochdeutsch, sondern ein unästhetisches und unnatürliches Gemisch von beiden ist. Und diese „großen Weiber”! Das freie leichte Spiel des Humors ist unserem ernsten Dichter versagt, in grotesken Zerrbildern erscheinen ihm seine komischen Gestalten, gespenstisch, peinlich für ihn selbst wie für den Leser. Diese Leute reden nicht, sondern der eine „hustet”, die andere „spinnt”; die „Baderin besteht bloß aus O und Ach, in ein ewiges Erröten gewickelt”, eine andere „setzt ihr Zifferblatt auf den Kopf und nimmt ihr blaues Gehäuse um die Schultern”, ein dritter „schlägt die Vorderbeine über den Kopf zusammen”. Wahrlich, nur der tiefe ethische Gehalt in den inneren Kämpfen der beiden Liebenden vermag uns über so viel Unschönheit zu trösten.
Noch ärger verfehlt ist die letzte Novelle „Aus dem Regen in die Traufe”. Ein zwerghafter Schneider, fortwährend geprügelt, anfangs von seiner Mutter, dann von seiner Braut — diese Mutter selbst „das alt’ Fegefeuer”, mit einem „polierten Nasenrücken”, der, wenn sie bekümmert ist, so zu strahlen pflegt, daß man von „glänzendem Herzeleid” reden kann, endlich jene Braut, „die Schwarze”, ein Scheusal an Leib und Seele, wo sie ihrer Natur freien Lauf lassen darf, immer polternd und mit ihren kolossalen Gliedmaßen alles zerschlagend — dies die Helden! Das ist zuviel des Häßlichen, das erregt physischen Ekel[S. 284] und erinnert an die abscheuliche Erzählung Auerbachs von den zwei keifenden und raufenden alten Hexen Huzel und Pochel, welche freilich damals die Bewunderung einer verblendeten Kritik erregte. Immerhin erscheint auch in dieser unglücklichen Novelle eine Gestalt, in der wir die edlen Züge unseres Dichters wieder erkennen, die kleine Sannel. In diesem guten Kinde ist der wunderbare Reichtum weiblicher Liebe und Hingebung zu entzückend liebenswürdiger Erscheinung verkörpert; und — ein großes Verdienst in solcher Umgebung — sie ist hübsch, gottlob, sehr hübsch! Um dieser braven Dirne willen ließ sich manche ästhetische Sünde verzeihen.
Die Fanatiker des Realismus jubelten, jetzt endlich habe der Dichter die ursprüngliche Kraft des biderben Volkslebens ganz verstanden; die Gegner beklagten mit schlecht verhehlter Schadenfreude, so werde ein großes Talent zugrunde gerichtet durch die Torheit der Mode. Wie wenig ahnten die Lobredner und die Tadler, was in diesem seltsamen Menschen vorging! Die Erzählungen, mit denen der Meister des Realismus sein letztes Wort gesprochen haben sollte, galten ihm selber nur als Beiwerke. Er hatte sie hingeschrieben ohne jede Rücksicht auf die Mode des Tages, lediglich um sich zu beruhigen, um unter den vertrauten Gestalten seiner Heimat einmal auszurasten; und soviel ich weiß, sind die „Thüringer Naturen”, die fast wie ein Zerrbild von „Zwischen Himmel und Erde” erschienen, früher entstanden als diese schöne Erzählung. Ludwigs beste Gedanken schweiften längst auf anderen, steileren Pfaden. Wieder wie vor Jahren, da er sich losriß von der Romantik, kam ein schwerer Kampf über seinen rastlosen Geist, er begann in der Stille seines Krankenzimmers seine eigenen Werke zweifelnd zu betrachten, und wie der bedeutende Künstler immer der beste Kritiker seiner Werke ist, so fand auch Ludwig, sicherer als das Urteil dritter vermochte, die Mängel seines Schaffens heraus: „Der Gefahr des anatomischen Studiums muß ich erliegen, ich stehe vor einem Charakter, wie eine Ameise vor einem Hause.” Er fühlt, daß er mit seinen Makkabäern schon auf dem rechten Wege gewesen, daß das[S. 285] Ideal und die natürliche Wahrheit, statt einander auszuschließen, vielmehr für den rechten Künstler eines sind, daß die Illusion sich ganz von selber einstellt, wenn der Dichter nur das Schöne schafft: „Es gilt jetzt nicht, in Opposition gegen allen Idealismus zu stehen, es gilt vielmehr, realistische Ideale darzustellen, d. h. Ideale unserer Zeit.” Er sucht das Drama hohen Stils, das in einer einfachen „schlanken” Handlung, in dem Ringen und Leiden großer, nicht allzu individueller Charaktere das allgemeine Menschenschicksal darstellen, das der Natur treu bleiben und doch nicht roh naturalistisch wirken soll: „Die ruhigen Szenen durch rasches Gespräch belebt, die bewegteren künstlerisch gemäßigt. So werden beide Klippen vermieden, dort die zu geringe, hier die zu starke Illusion.”
Eine bunte Welt dramatischer Gestalten drängte sich jetzt vor sein Auge; der alte Fluch geistvoller Naturen, daß sie sich übernehmen in ihren Plänen, ging an dem Kranken grausam in Erfüllung. Ein Entwurf jagte den andern; der Anfang eines Schauspiels „Die Brüder von Imola”, einige herrliche Szenen aus einer Tragödie „Marino Falieri” wurden niedergeschrieben, noch auf dem Totenbette ein Drama „Tiberius Gracchus” begonnen. Auch die Heldengestalten des Siebenjährigen Krieges haben den Kranken beschäftigt; er schilderte in einem Vorspiele „Die Torgauer Haide” das friderizianische Heer mit einer derben, kernhaften Lebenswahrheit, die den wirksamsten Stellen des schönen Romans „Cabanis” von W. Alexis nichts nachgibt. Das Lieblingswerk dieser Jahre war ein Trauerspiel „Agnes Bernauerin”. Ludwig fühlte mit feinem Künstlertakt, daß dieser Engel von Augsburg in der historischen Überlieferung mehr eine rührende als eine tragische Gestalt ist; er versuchte sie zu einem schuldvollen tragischen Charakter zu erheben, lieh ihr einen dreisten vorwitzigen Zug und lief freilich Gefahr, das Mitleid für die Heldin zu ertöten. Aber die alte rätselhafte Unart seiner Phantasie, die nur fragmentarisch schaffen konnte, ließ sich nicht mehr bewältigen. In wundervoller Klarheit erschienen ihm einzelne Szenen, und was er von solchen Bruchstücken auf das Papier warf,[S. 286] wirkt hinreißend, bezaubernd auf den Leser. Er meinte wohl, jetzt, da er mit Bewußtsein schaffe, entwerfe er zuerst den Plan, dann erst erschienen ihm seine Gestalten; doch die unhemmbare vorwärtsschreitende Gestaltungslust des rechten Dramatikers, welche nicht ruhen kann, bis sie ihren Helden auf die Höhen der Leidenschaft emporgetrieben und dann herniedergestürzt hat — sie erwachte dem Kranken nie. Eine Lücke, die sich niemals füllen wollte, klaffte immer zwischen den einzelnen in höchster Pracht geschauten Bildern, der Ring des Kunstwerks schloß sich nicht. Nun packt er „die Stoffe, die er bebrütet”, aber und abermals an, wohl zwölfmal oder mehr wird die Bernauerin umgearbeitet — nie vollendet.
Er belauscht sich während des Schaffens, er fühlt seine Verwandtschaft mit Kleist und Hebbel, vergleicht seine Gestalten mit den ihrigen, er findet in Shakespeare den vollendeten Künstler und versucht aus dessen Werken die höchsten Gesetze der Kunst abzuleiten. Sein eigenes Selbstgefühl, seine Künstlerfreudigkeit fühlt sich erdrückt durch die Größe des Briten, sieben Jahre lang bis zu seinem Tode läßt ihn das Bild des fremden Dichters nicht los, er schreibt „Shakespearestudien” und trägt in diese Blätter, wie in ein Tagebuch, alles zusammen, was ihm Kopf und Herz bewegt: Selbstgeständnisse, ästhetische Regeln, Dramenentwürfe, Studien über Shakespearesche Charaktere, Besprechungen eigener und fremder Werke. Der Thüringer Natursohn spricht in Lob und Tadel mit einer unbefangenen Geradheit, die unserer verzärtelten rücksichtsvollen Zeit wie eine Stimme aus den cheruskischen Wäldern klingt, er berührt die feinsten und höchsten Rätsel der Kunst und des Seelenlebens, er erörtert Fragen, die nur ein reicher Künstlergeist aufwerfen kann — als z. B.: „Wie reich ein Stück Shakespeares an Handlung ist und wie wenig Szenen es doch hat und wie diese auch so viel poetische Ausmalung haben” — und gleich darauf befremdet er uns durch einen Erklärungsversuch, der eine fertige historisch-philologische Bildung verlangt, also der Intuition des Künstlers allein nicht gelingen kann — und dann folgt wieder ein Selbstbekenntnis von fast unheimlicher [S. 287] Klarheit. Auch in Ludwigs Seele wühlte jene krankhafte Neigung, sich selbst zu belauern, welche das Leben Heinrich Kleists verwüsten half. Aber während Kleist in der Kunst sich immer wieder zu frischer Schöpferlust ermannte und nur in seinem äußeren Leben ein unglücklicher Grübler blieb, verfloß Ludwigs Leben wohlgeordnet, in gleichmäßigem Wellenschlage, der krankhafte Trieb in ihm warf sich allein auf sein künstlerisches Schaffen. Schon ein Übermaß gelehrten Wissens lähmt oft den freien Flug des Dichtergeistes, doch noch verderblicher als die allzu schwere Bildung des Verstandes wirkt auf den Künstler jene vorzeitige Kritik, die ihm die Freude stört an seinen halbvollendeten Gestalten. Mir ward unsäglich traurig zumute, als ich einst in einigen Heften aus Ludwigs Nachlaß blättern durfte. Welch ein ungeheurer Fleiß in diesen eng beschriebenen Bogen; nur selten einmal hat die zitternde Hand des Kranken am Rande bemerkt, er habe heute seinen Kindern zulieb’ zeitig Schicht gemacht. Große tiefsinnige Entwürfe, prächtige Verse, glänzender, schwungvoller als die schönsten Stellen der Makkabäer, dann wieder einzelne aufgebauschte geschraubte Bilder, und schließlich doch kein Ganzes — eine Phantasie, die uns zugleich durch ihren Reichtum und durch ihre Unfruchtbarkeit in Erstaunen setzt.
Ganz gewiß hat auch die Krankheit und die Sorge um des Lebens Notdurft den Aufschwung dieser Dichterkraft gelähmt. Man darf von Ludwig nicht reden, ohne mit ernstem Wort einer häßlichen Schwäche der deutschen Gesittung zu gedenken — des unanständigen Geizes, den die deutsche Lesewelt ihren Schriftstellern entgegenbringt. Alle die bequemen Entschuldigungen, welche auf unseren noch jugendlichen Volkswohlstand verweisen, zerfallen in nichts vor der beschämenden Tatsache, daß in dem kleinen Holland, dem halbbarbarischen Rußland die Auflagen guter Bücher weit stärker, oft zehnmal stärker sind als in dem großen gelehrten Deutschland. Kein Volk liest mehr, keines kauft weniger Bücher als das unsere. Namentlich unsere höheren Stände zeigen im literarischen Verkehrsleben einen Mangel an Feingefühl, eine Kargheit, [S. 288] welche unsere Nachbarn mit Recht als unschicklich schelten. Solange es bei uns noch nicht für schmutzig gilt, wenn eine reiche elegante Dame mit Handschuhen bewaffnet ein unsauberes Lesezirkelexemplar eines Buches liest, das sie im nächsten Laden für wenige Groschen kaufen kann — ebensolange werden alle Schiller- und Tiedgestiftungen die gedrückte Lage der deutschen Schriftsteller nicht wesentlich bessern. Ist ein deutscher Dichter vollends wenig fruchtbar, fehlt ihm, wie diesem Thüringer, gänzlich das Talent für den einzigen gewinnbringenden literarischen Erwerbszweig, für die Journalistik, so kann er der bitteren Not nicht entgehen.
Doch in Wahrheit liegt der letzte Grund der Unfruchtbarkeit von Ludwigs späteren Jahren nicht in der Krankheit, nicht in der Armut, sondern in jener rätselhaften Anlage seiner Phantasie. Ihm blieb versagt, der Welt die Schätze seiner Seele zu zeigen, er war mehr, als er schuf, und nur seinen Freunden lebt das unverstümmelte Bild seines Wesens in der Erinnerung. In der Kunst aber gilt nur das Können — der alte Spruch soll allezeit in Ehren bleiben, ob er auch grausam scheine; das landläufige Urteil wird bei Otto Ludwigs Namen immer zuerst an jene Erzählung „Zwischen Himmel und Erde” denken, welche er selber für ein Nebenwerk ansah. Wer den unendlichen Wert der Persönlichkeit in der Kunst versteht, wer da weiß, daß in der Entwicklung des geistigen Lebens wie in dem Haushalt der Natur nichts verloren geht, der darf freilich bei einer so äußerlichen Schätzung nicht stehen bleiben. Wie die politische Geschichte dem General Friedrich von Gagern einen ehrenvollen Platz anweist um der Gedanken willen, die er in der Stille für Deutschland dachte, um der unerfüllten Hoffnungen willen, die sich an ihn knüpften — so wird auch die Literaturgeschichte nicht bloß anerkennen, was Otto Ludwig schuf, sondern auch ein Wort des Dankes übrig behalten für die hohen Ziele, die der Ringende nicht ganz erreichte; sie wird gerecht und in Ludwigs eigenem Sinne urteilen, wenn sie ihn auffaßt als den Dichter der Makkabäer, der das realistische Ideal im Drama zu verwirklichen suchte.
Gottfried Keller
Zwei köstliche Geschenke findet der Schweizer in seiner Wiege, welche das Reifen echt-menschlicher Bildung und darum auch das Gedeihen der Kunst mächtig fördern müssen. Von Kindesbeinen an umfängt ihn der Zauber einer wunderbar reichen und vielgestaltigen Natur, zugleich einer mächtigen Natur, welche nicht duldet, daß der Mensch sich ihr entfremde und das fromme Bewußtsein seiner Abhängigkeit verliere; und sein Leben sodann verbringt er unter den Segnungen einer uralten politischen Freiheit. Dennoch hat der rüstige Stamm, welcher die Sehnsucht des großen Mutterlandes, die Einheit, bereits in beglückender Erfüllung besitzt, zu dem königlichen Reichtum deutscher Kunst kaum ein ärmliches Scherflein beigetragen. Nur zweimal mit bedeutendem Erfolge wußten die Schweizer die Vorteile ihrer Lage für die Literatur zu benutzen.
Als die Eroberungsgelüste der Nachbarfürsten an dem Todesmute der Schweizerbauern gescheitert, da schollen die Sempacher Lieder und die Burgundischen Kriegsgesänge von den Alpen nieder, und die hochgemute Weise „Der Stier von Uri hat scharpffi Horn, kein Herr ward ihm nie zhoch geborn” fand frohen Widerhall unter den Marschenbauern, die im Norden zu gleichem Kampfe sich scharten, und unzählige Nachahmer in den sangeslustigen Haufen der Landsknechte. Die Reformation zog in der Schweiz so wenig wie in Deutschland einen Aufschwung der Dichtung nach sich. Seltsam genug: trug doch jene Bewegung in der deutschen Schweiz einen freieren, weltlicheren Charakter als bei uns; ist doch „unser Landskraft Zwingli” und sein staatsmännisches Wirken, sein kühner Reitertod ein ganz anders lohnender Stoff für die Kunst als Luthers gewaltigere aber mehr innerliche Größe. Erst lange nachher, zur Zeit der Wehen, welche dem Glanze[S. 291] unserer Dichtung vorausgingen, sprachen die Schweizer wieder ein entscheidendes und gutes Wort, als ihr natürlicher Sinn, ihr treu bewahrtes germanisches Wesen sich auflehnte gegen den Zwang französischer und Gottschedischer Regeln. An jener Blütezeit selbst haben die Schweizer nur insofern einen bedeutenden Anteil, als ihre Geschichte ein Gegenstand unserer Dichtkunst ward, und vielleicht mehr als irgendein anderes neueres Ereignis hat Schillers Tell das Gefühl der Gemeinsamkeit des Zweiges mit dem großen Stamme unter ihnen wieder angefacht. Auch neuerdings, während ihr Staatswesen so frisch und rüstig fortschreitet und der Aufschwung des Verkehrs den beschränkten Gesichtskreis der abgeschiedenen Alpengaue täglich mehr erweitert, ist das Land von den Bewegungen auf dem Gebiete der Kunst ziemlich unberührt geblieben. Zwar die französischen Schweizer haben durch die Farbenpracht ihrer unvergleichlichen Landschaftsmalerei bewiesen, daß der Hochländer ein offenes Auge, ein empfängliches Herz hat für die Herrlichkeit seiner Berge. In der schönen Literatur jedoch war es um so stiller. Die naturwüchsige Kraft des wackeren Berner Pfarrherrn in Ehren: wir verargen es doch keinem seiner Landsleute, wenn er sich ernstlich verwahrt gegen die Unterstellung, daß die Erzählungen Jeremias Gotthelfs ein getreues Bild vom Schweizerleben böten. Nur eine Seite der Schweizer Art weiß er zu schildern: die Härte, den Trotz, die örtliche Beschränktheit, das zähe Beharren der Bauern; aber statt des unbefangenen, allem Guten hell entgegenblickenden Auges, das wir von dem Bürger eines tüchtigen Freistaates erwarten, finden wir kleinlichen Sinn, einen unerträglich engherzigen Haß gegen alles, was unser Jahrhundert groß macht; und statt der lieblichen Bilder, die ihm ein Gang ins Freie zeigen konnte, führt er uns nur zu oft eine kümmerliche, häßlich-enge Welt vor die Augen.
Unter den Lebenden ist doch ein Schweizer Poet, der sein Land mit Ehren vertritt. Das Glück ist dem Erfolge von Gottfried Kellers Schriften wenig günstig gewesen, und auch während des Schaffens hat ihm nicht immer die gleiche freundliche Sonne gelächelt. Wenn wir trotzdem [S. 292] auch seine halbvergessenen Jugendschriften in den Kreis unserer Betrachtung ziehen, so geschieht es, weil eine lebendige Kritik nur dem möglich ist, der den Entwicklungsgang des Künstlers übersieht. Die Überfülle seichten poetischen Schaffens hat allmählich in den Reihen der Kritik einen unwürdigen Ton handwerksmäßiger Roheit eingeführt: Kritik und Kunst leiden gleich sehr, wenn ein begabter Dichter sein Fleisch und Blut als Nummer 59 unter „Fünf Dutzend neuer Romane” besprochen findet. Was der Kritik gegenwärtig vor allem nottut, ist ein wenig Pietät vor der individuellen Eigentümlichkeit der Künstler. Wer nicht einzusehen vermag, daß in jedem Kunstwerke außer seinem absoluten ästhetischen Werte und seiner historischen Bedeutung noch ein höchst persönliches Element liegt, das gebieterisch Verständnis fordert, der ist für Kunstbetrachtungen verdorben. Von Schiller kennen wir das bezeichnende Wort: „Den Schriftsteller überhüpfe die Nachwelt, der nicht größer war als seine Werke.” Lassen wir dies Eingeständnis uns einen Fingerzeig sein; suchen wir hinter jeder Dichtung, die uns erquickt, den freien und wohlgeordneten Dichtergeist zu entdecken, dem wir sie verdanken. Das Suchen wird selten unbelohnt bleiben, am wenigsten wenn es sich um einen deutschen Dichter handelt. Denn das Bewußtsein unserer Volkseinheit ist bei den meisten von uns nicht ein Werk der Reflexion und gelehrter Forschung, sondern ein Ergebnis persönlicher Erfahrung, der Erinnerung an so viele starke Männer, aus allen Ländern deutscher Zunge, die wir aus ihren Werken oder von Angesicht zu Angesicht kennen und in denen allen wir die Spuren eines Volksgeistes wiederfinden. Darum ist uns jeder ganze und tüchtige Mann, in dem wir eine gute Seite deutschen Wesens erkennen, eine Freude: er ist uns ein Unterpfand mehr für die Erfüllung unserer heiligsten Hoffnungen.
Sie bildeten eine sehr gemischte Gesellschaft, die „Gedichte”, mit denen Gottfried Keller im Jahre 1846 hervortrat. Immer wieder, wenn eine solche bunte Sammlung von Gutem und Verfehltem erscheint, ertönt die[S. 293] Klage über den Mangel an Selbstkritik, und immer wieder vergißt man, wie tief diese kritiklose Redseligkeit in der Natur des Alters, das zur lyrischen Dichtung besonders neigt, und wohl auch in der Natur der Lyrik selbst begründet ist. Es waren damals die Tage, wo die langen und erbitterten Parteikämpfe, welche die Neugestaltung des Schweizer Gemeinwesens ankündigten, ihrem letzten gewaltsamen Ausbruche sich nahten, es schien die Schweiz „der Freiheit Werkstatt, wo zornig ihre Essen sprühn und rauchen”. Zugleich erfüllten Heinescher Weltschmerz, ausschweifende Lehren von der Emanzipation des Fleisches und der fanatische Christenhaß des Daumerschen Hafis die Köpfe unserer Jugend. Unser Schweizer Poet stürzt sich mit Leidenschaft in das berauschende Treiben der Zeit, und so stehen in dem seltsamen Büchlein schwungvoll phrasenhafte Freiheitslieder im Herweghschen Stile und bitterböse Angriffe gegen die Glatzen der Christenpfaffen friedlich neben Gedichten, deren wohllautende Verse in heiliger Andacht die Größe der Natur feiern, oder in denen der Dichter mit rührender Offenherzigkeit über den Sünden seiner Jugend zu Gericht sitzt. Das ist das Eigene an solchen Sammlungen: je mehr lyrisch die Gedichte sind, je mehr sie nur die Stimmung des Augenblicks wiedergeben, desto verwirrter der Eindruck, den das Ganze dem Leser hinterläßt. Die meisten sind befriedigt, wenn sie nur das Gefühl mit hinwegnehmen, daß der Poet ein jedem Hauche der Zeit geöffnetes Herz und die Gabe besitze, seine Empfindungen stark und schön auszusprechen. Aus diesen Gedichten war es doch nicht schwer, ein Mehreres herauszulesen, — eine tüchtige durchaus eigenartige Natur. Leicht ließ sich erkennen, daß der Zorn dieses Dichters Muse nicht ist: seine tendenziösen Lieder sind selten tief empfunden, und je überzeugender die einfache Plastik seiner Bilder uns vor die Seele tritt, desto tiefer verletzt uns der Zynismus in dem „Apostatenmarsch”, dem „Pietistenwalzer” oder wie sonst diese weder singbaren noch witzigen Spottgedichte heißen. Der junge Republikaner ist sehr wohl fähig, seine gute Sache poetisch zu vertreten; aber nicht der Kampf ist es, der seinem[S. 294] Wesen zusagt: „Voran, voran, ihr Bittern in fegenden Gewittern! wir ziehen heilend, segnend nach mit klar gestimmten Zithern” — so singt er in Augenblicken, wo er ganz er selber ist. Das Ziel nur hat einen Reiz für ihn, das glückliche Gleichmaß eines freien mit Recht und Wohlwollen geleiteten Gemeinwesens; und in diesem Sinne weiß er das Glück seiner Heimat mit einem Vollgefühle der Zufriedenheit zu preisen, um das wir ihn beneiden. Nicht eine politische Doktrin führt ihn in das demokratische Lager, sondern jene Tugend, deren sich die echte Demokratie mit größerem Rechte rühmen darf als irgendeine andere politische Richtung, die vorurteilsfreie, alles Menschliche achtende Humanität:
Noch mehr gefällt uns der Dichter, wenn er mit wenigen, klaren und sicheren Strichen ein einfaches Bild der Natur nachzeichnet, wenn er den Knaben besingt, der im Walde liegt, durch die Zweige gen Himmel blickend, und gern und ruhig duldet, daß eine Eidechse über seinen Hals schlüpft — oder das Mädchen, wie sie eine Rose in den Brunnen wirft und das Wasser schlau in Wellen schlägt, bis der Knabe den Blumengruß gewonnen hat. Diese Einkehr in die Natur bleibt bei Keller frei von aller Sentimentalität; es ist die kerngesunde Lust am Einfachschönen, nicht eine mürrisch-trübe Flucht vor den Stürmen der Welt. Recht derb vielmehr weiß er die „Goethephilister” abzufertigen: — wer spricht von Anmut, wenn die Berge wanken? Und dann gerade erklingt sein Lied am schönsten, wenn er die rein menschliche Lebenslust und seine Liebe zu seiner großen rastlos vorwärtsstrebenden Zeit zugleich ausspricht. Allbekannt ist sein Gedicht an Justinus Kerner. Als der alte Herr einmal einen poetischen Stoßseufzer ausstieß ob der dampfestollen Welt, die er nicht mehr verstand, da wußte ihm der frohmutige Schweizer so stolz, so jugendfrisch zu antworten, daß der greise Sänger gewiß seinen Trost davon gehabt hat:
Ein Dichter von so jugendlicher Frische, so einfachem Natursinn mußte die zeitgemäße Tendenz bald als unnützen Ballast über Bord werfen. Reifende Einsicht mußte ihn abbringen von der Neigung zum Seltsamen, Barocken, welcher er in den „Gedanken eines Lebendigbegrabenen” und ähnlichen Gedichten, die sich schon durch ihre Aufschrift verurteilen, gefrönt hatte, mußte ihn zurückführen zu dem Sinne für das Schlichte, Wahre, der in seinem Wesen lag und aus seinen gelungenen Liedern sprach.
In der Tat zeigen Kellers „Neuere Gedichte” eine reifere Gestaltungskraft. Die Stürme des Jahres 1848 waren gekommen, und in den deutschen Parteikämpfen steht der Schweizer natürlich auf demokratischer Seite. Aber wie anders weiß er jetzt seine politischen Ideen dichterisch zu verkörpern! Kurz entschlossen tritt der übermütige junge Plebejer vor das Fenster des Fürstenhauses und singt sein „Ständchen an eine Prinzessin”:
Das heißt doch die Idee der Brüderlichkeit praktisch und als Künstler verstehen! Wer heute die Schriften liest, woraus damals unsere Jugend ihre Staatsideale schöpfte, der erschrickt nicht bloß vor der Ideenarmut, sondern mehr noch vor der trostlos langweiligen Nüchternheit, die sich, bei aller phantastischen Überschwenglichkeit, in ihnen brüstet, vor jener dürren Prosa, welche[S. 296] sich allemal einstellt, wenn die Phantasie sich auf Gebiete wagt, die ihr verschlossen sein sollten. Wahrlich, kein geringes Maß von Kraft und Gesundheit gehörte dazu, diese abstrakten Träume des sozialen Radikalismus in individuelle Gestalten umzubilden:
Sicher, das Bild einer schönen, menschlich-reinen Zukunft. Und wer wollte mit dem lyrischen Dichter über politische Fragen rechten, wenn er getan hat was er nicht lassen konnte, wenn er einen glücklichen Traum, der sein Herz bewegt, in tief empfundenen Worten wiedergibt? Die Frühlingsmonde der deutschen Revolution, die berauschende Hoffnung, die wie ein Lauffeuer von Land zu Land eilte, das erste mächtige Aufatmen nach einer langen Zeit dumpfen unnatürlichen Schweigens — dies, bei all seiner Verkehrtheit doch wunderbar großartige Schauspiel lebt vielleicht nur denen ganz klar und schön in der Erinnerung, welche damals zu jung waren, um an dem Kampfe selbst teilzunehmen und die Sorgen und Gefahren des Augenblicks zu würdigen. Die furchtbare Enttäuschung, welche dem Rausche folgte, hat es begreiflich jedem Künstler unmöglich gemacht, den überreichen Stoff zu benutzen, den jene Tage ihm bieten. Kaum daß wir einmal in einer Gemäldesammlung ein Genrebild treffen, wie den lustigen „Einzug des Reichsverwesers” von Oppenheim, das uns die Stimmung des bewegten Frühlings zurückruft. Unter all den Gedichten, welche mit dem Sturme kamen und verschwanden, ist keines so ganz[S. 297] erfüllt von dem Pulsschlage jener Zeit, der fraglosen Hoffnungsseligkeit, wie diese politischen Gedichte von Keller. Freilich, nicht alle tragen diesen Charakter reiner Empfindung. Es sind manche darunter, welche in parteiischer Verschrobenheit Betteljungen und Taugenichtse als das eigentliche Volk verherrlichen. Doch aus den meisten redet ein echt humaner Freisinn, ein liebevolles Mitgefühl mit den Armen und Leidenden.
Auch in dieser Sammlung geben wir den einfachen Naturbildern den Preis, welche, frei von aller Wortmalerei, oft mit glücklicher Wahrheit die Seele einer Landschaft widerspiegeln oder als echte Idyllen den Menschen in einfach-frohem Dasein schildern. Natürlich stößt dies offene Auge auch oft auf Häßliches, und der Dichter hat nicht immer die Kraft, es zu verklären; solche Gedichte erscheinen, da seinem ehrlichen Wesen die kleinen Künste, das Widrige zu bemänteln, gänzlich fehlen, doppelt grell und abstoßend. Seine Weinlieder sind zwar keineswegs frei von jenen renommistischen Klängen, welche bei solchen Stoffen zum Handwerk zu gehören scheinen; aber der Grundton ist auch in ihnen ein gesunder: die einfache herzliche Dankbarkeit für die reichen Geschenke der Natur.
Mit dieser schönen Künstlertugend Gottfried Kellers hängt indes eine wunderliche Grille zusammen, — ein grimmiger Haß gegen die Idee der Unsterblichkeit. Er wähnt, dieser Gedanke sei unverträglich mit dem Gefühle der Daseinsfülle, welches das Glück seines Daseins ausmacht, und er verfolgt ihn wieder und wieder mit dem bittersten Spotte. Wer unberührt ist von der Gehässigkeit, womit diese Idee seit alter Zeit und neuerdings wieder bald verteidigt, bald angegriffen wird, der erstaunt billig darüber, wie grundverschiedene Dinge unter diesem Namen begriffen werden. Daß, wie wir das Schaffen großer Männer und großer Völker handgreiflich fortwirken sehen von Geschlecht zu Geschlecht, so auch der schwächste Sterbliche ein notwendiges Glied ist in der großen Kette der Geschichte — daß darum keine unserer Taten ganz verloren geht, keine wieder zu vertilgen ist durch äußerliche Buße — dieser Gedanke ist allerdings die Grundlage[S. 298] jeder streng gewissenhaften Sittlichkeit. Diese Unsterblichkeit soll der Mensch — nicht glauben, denn wer darf beim Glauben von einem Sollen reden? — sondern ernst und klar erkennen. Und auch der Dichter mag zu Felde ziehen gegen die Leichtfertigkeit oder die äußerliche Religiosität, welche diese Erkenntnis leugnet. Wie anders der Glaube an ein bewußtes Dasein nach dem Tode! Wenn jetzt schon jeder unbefangene Denker gesteht, daß unser Wissen über diese Frage nichtig ist, so wird einst eine Zeit reinerer Menschlichkeit kommen, wo alle Welt über die heute so arg verketzerte Wahrheit einig ist, daß der Glaube an ein Jenseits mit unserem Glücke, unserer Tugend an sich nicht das mindeste zu tun hat. Für schwache oder gemeine Naturen kann der Glaube an eine Fortdauer nach dem Tode ebensowohl eine Quelle der Unsittlichkeit werden wie das Leugnen derselben; wenn es asketische Toren gibt, welche sich „die köstliche Neige der Zeit mit dem Gedanken der Ewigkeit verdünnen”, so leben noch weit mehr Menschen, welche zugleich mit dem Glauben an ein Jenseits jedes Lebensglück, jeden sittlichen Halt verlieren würden. Freilich, wenn der ungeheure Gedanke der Ewigkeit von unreinen Lippen gepredigt oder durch triviale Vorstellungen getrübt wird, dann soll der Dichter dagegen, wie gegen alles Kleinliche und Unwahre, sein lauteres Wort erheben. In dem glücklichen Gedichte „Wochenpredigt” schildert Keller, wie am heißen Erntetage die lebensmüden Alten in der Kirche sitzen und der Priester ihnen verkündigt, daß wir im ewigen Leben „von einem Stern zum andern hupfen und endlich in den Urquell schlupfen”. Dann geht das Pfäfflein heim, und, um die Zeit bis zu einem abendlichen Feste totzuschlagen, verschläft es den Nachmittag.
Gewiß, das muß ein arger Pedant sein, dem dieser lustige Einfall keinen Beifall entlockt. An sich aber ist der Glaube an ein Jenseits weder sittlich noch unsittlich,[S. 299] weder schön noch unschön; er mag von Dichtern mit gleichem Glücke verherrlicht oder verworfen werden. Wer darf dem wie Sphärengesang tönenden Schwunge der von diesem Glauben durchaus getränkten Oden Klopstocks oder Hölderlins sein poetisches Recht bestreiten? Und wieder, wer darf das echt künstlerische Gefühl verkennen, welches Keller treibt, die Blumen und die irdische Herrlichkeit ringsumher also anzureden: „Ich wende mich vom Schrankenlosen zu eurer Anmut froh zurück?” Nur sollte es kaum der Bemerkung bedürfen, wie wenig eine dauernde Beschäftigung mit so formlosen abstrakten Stoffen der Dichtkunst frommen kann. Wir lächeln, lesen wir heute, wie Klopstocks seraphische Überschwenglichkeit sich sogar die Freude an einem Johanniswürmchen durch die Frage verbittert: „Du bist vielleicht, ach! nicht unsterblich?” Aber nicht bloß lächeln müssen wir über den Luftkampf, welchen die materialistischen Poeten von heute führen; auch die ernste Frage können wir ihnen nicht schenken, wie es sich mit dem Wesen der heilenden und versöhnenden Kunst verträgt, einen Glauben zu verspotten, der für Unzählige den Inbegriff alles Heiligen bildet? Lesen wir vollends Zynismen wie das Lied: „Ich hab’ so manchen Narren gekannt, der wollte ewig leben” oder manche der „Gaselen”, so gestehen wir, daß dieser materialistische Fanatismus der Verketzerungssucht der „Christenpfaffen” völlig ebenbürtig ist. —
Inzwischen hatte Keller seine Kraft zu einem größeren Werke gesammelt, zu dem Romane „Der grüne Heinrich”. Es bedarf keines Tiefblicks, um zu erkennen, daß gar manches in diesem Buche von dem Poeten selbst erlebt ist, daß er in langer und liebevoller Arbeit die Früchte einer mannigfach bewegten Jugend zusammengetragen hat. Aber hier ist nichts von jener Schönseligkeit, jener Selbstvergötterung, die seit Rousseaus Tagen solchen Konfessionen anhaftet. Das Gedicht ist entstanden aus dem natürlichen Bedürfnisse, mit einer erfahrungsreichen Zeit, die der Dichter überwunden hat, völlig abzuschließen. Freilich verliert so das Werk an Einfachheit und Abrundung der Komposition, was es an Wahrheit und Lebhaftigkeit [S. 300] gewinnt. Keller hat das naturgemäßeste Thema des Romans gewählt: er schildert den Werdegang eines Charakters; und wir wüßten aus den letzten Jahren kaum eine Dichtung, welche einen jungen Mann in dem Alter, wo man zuerst beginnt, auf sein Leben zurückzuschauen, so tief und dauernd fesseln könnte. Aber nicht bloß der stoffliche Reiz zieht uns zu dem Buche: auch der Kunstwert der ersten Bände ist hoch anzuschlagen. Die gleichmäßige Heiterkeit seiner Natur, sein für alle, auch die kleinsten Schönheiten der Außenwelt geöffnetes Auge, seine frohe zuversichtliche Weltanschauung, der die Geschichte als ein großes Lustspiel erscheint, worin die überlegene, unbedingte Einsicht schließlich alles versöhnt: — das alles mußte Keller von selbst zur epischen Dichtung führen. Wie wahr weiß er die verborgensten Falten in dem Charakter seines Helden aufzudecken, und doch sind diese Schilderungen nicht peinlich-genau, nach Art englischer matter-of-fact-Novellen, sondern poetisch wahr. Zu den gelungenen Teilen dieses Romans möchten wir die kritischen Klopffechter des Idealismus und Realismus führen: hier, wie an jedem Kunstwerke, könnten sie lernen, daß lebendiger Schönheitssinn zum charakteristischen Stile so notwendig gehört wie der Anker zum Schiff. Keller besitzt nicht jenen leeren abstrakten Formensinn, den ästhetische Feinschmecker an Paul Heyse und Geibel bewundern, sondern ein kräftiges, angeborenes, aber durch Bildung geadeltes Schönheitsgefühl. Auch wenn die Fabel des Romans das Geheimnis nicht verriete, würde uns die Darstellungsweise auf die Vermutung bringen, daß ein Stück von Maler in ihm liegen muß. Könnte der arme Mann von Toggenburg diese lachenden Schilderungen vom Schweizerlande lesen, wie herzlich würde der Gute seine Landsleute um Verzeihung bitten, daß er ihnen das Verständnis der Naturschönheit abgesprochen. So recht an seiner Stelle ist Kellers Talent, wenn er die echt epischen, durch ihre Einfachheit großen Empfindungen ausdrückt: wenn er schildert, wie der Jüngling mit befangenem Staunen zum ersten Male seiner Großmutter begegnet und das seinem Dasein Vorangegangene groß[S. 301] und unvermittelt ihm gegenübertritt — oder wenn er uns einführt in das heilige Schweigen der Nacht, wo das Glück der Erde seinen Rundgang zu halten scheint über die schlafende Welt. Kellers Sprache ist von jener anschaulichen Kraft, die dem Sohne des Volkes zu erwerben leicht wird, und sie wird mit der Freiheit gehandhabt, welche nur die Frucht gewissenhafter Arbeit ist. Keller hat sich das schöne Vorrecht des Epikers, daß er scheinbar absichtslos und ohne Rücksicht auf den Leser schreiben darf, nicht entgehen lassen: er erregt von Hause aus unsere Teilnahme für den Helden, aber nirgends reizt er uns durch jene prickelnde Neugierde, die den Kunstgenuß zerstört. Sein Buch ist, wie die Weisheit des Brahmanen verlangt, „ein Ganzes, das besteht aus tausend kleinen Ganzen”.
Die Mängel des Romans lassen sich meist darauf zurückführen, daß der Poet seinem Stoffe nicht frei genug gegenübersteht. Bezeichnend dafür ist, daß die Kindheitsgeschichte des Helden weit unbefangener und klarer dargestellt wird als seine späteren Erlebnisse, von denen manche des Dichters persönliches Interesse noch allzu nahe berühren mochten. Wir lernen den grünen Heinrich kennen, wie er von seiner Mutter und seiner Schweizer Heimat sich trennt, um in München Landschaftsmaler zu werden. Aber schon nach den ersten Reiseabenteuern wird die Erzählung abgebrochen, und wir erhalten die Jugendgeschichte des Helden in der Darstellung, die er, um sich selber Rechenschaft zu geben, aufgesetzt hat. Stört diese Zerspaltung der Fabel ohnehin den harmonischen Eindruck, so führt sie noch schwerere Nachteile mit sich. Die Form des Tagebuchs gibt dem Dichter Gelegenheit, sich in behaglicher Weitschweifigkeit zu ergehen und seiner Neigung für das Absonderliche, die er trotz aller ästhetischen Bildung doch nicht hat ablegen können, die Zügel schießen zu lassen. In der Absicht, uns mit dem Charakter des Helden vertraut zu machen, gibt er uns dessen Betrachtung über alles Erdenkliche, Herzensergießungen, so derb ehrlich, so verzweifelt naiv (denn der grüne Heinrich verdient seinen Namen nicht bloß um[S. 302] der Farbe seines Rockes willen), daß ein gesetzter Leser sich bekreuzen möchte. Schlimmer ist, daß diese Betrachtungen oft die Wahrheit der Erzählung zerstören. Das langsame Erwachen des Menschen aus kindischem Traumleben zu hellem Bewußtsein ist vielleicht der zarteste Gegenstand, den ein Dichter berühren kann: nur die allerruhigste, unbefangenste Erzählung kann uns hier überzeugen. Eine Reihe kleiner kindischer Sünden, die uns, einfach erzählt, ganz natürlich erscheinen würden, erregen unser Befremden, weil der zwanzigjährige Tagebuchschreiber sich die Motive seiner alten Missetaten nachträglich zu erklären sucht. Jedoch solche Mißgriffe sind nicht häufig. Im ganzen ist es eine Lust, diese Kindheitsgeschichte zu lesen. Selbst das unbefangen Tierische im Menschen wird uns gezeigt, seine natürliche Grausamkeit, seine schamlose Selbstsucht; wir sehen, wie die erste Wurzel der Unwahrheit, die falsche Scham, sich bildet, wir werden an jene haarscharfe Grenze geführt, welche das naturgemäße Erwachen einer lebendigen Einbildungskraft von der bewußten Lüge scheidet: und doch geht über dieser Fülle des Charakteristischen nicht der wehmütige Zauber verloren, der über dem Dämmerleben des Kindes schwebt. Durchaus bewährt sich des Dichters sittlicher Takt: er hütet sich wohl, den gedankenlosen Diebereien des Kindes mit dem Strafgesetzbuch in der Hand entgegenzutreten: aber sein Künstlerzorn erwacht, wenn er den Helden bei einem kleinlichen, engherzigen Gebaren findet. Die ersten bewußten Jahre verlebt der Held in engen Verhältnissen unter der liebevollen Zucht einer ernsten, genauen Mutter. Dann beginnt der unreife Spieltrieb allmählich umzuschlagen in die Lust an wirklicher Tätigkeit. Heinrich beschließt, sich zum Künstler zu bilden. Da sehen wir mit Rührung, wie hilflos die arme Witwe dem fremdartigen Treiben des Sohnes gegenübersteht: kann sie doch den Liebling ihres Herzens kaum anders unterstützen, als indem sie Strümpfe für ihn strickt. Und wie ergreifend erscheint das unselige Streben des Autodidakten, der, bald führerlos, bald mißleitet von unfähigen Lehrern, haltlos seiner unfertigen Empfindungslust, seiner knabenhaften [S. 303] Neigung für das Sonderbare preisgegeben ist. Ein Landaufenthalt seines Helden gibt Keller Anlaß zu Schilderungen des Volkslebens von so viel Schönheit und Farbenpracht, daß wir uns erstaunt fragen, ob dies dieselben Menschen sind, welche in Bitzius’ Erzählungen unser ästhetisches Gefühl so oft schwer beleidigen. Diese Bauern sind weder malerisch noch großartig, sie sind schroff und engherzig, soweit in jenem harten materiellen Leben der Mann es sein muß, um auf eigenen Füßen zu stehen; es sind starke aufrechte Männer, sondertümliche, eigenartige Charaktere, wie sie in freier Unabhängigkeit sich bilden. Aber wie ehrwürdig erscheinen uns hier die köstlichen Güter des Landmanns, das frische Brot und der junge Wein; und wie tüchtig und beneidenswert das Volksfest der Tellfeier mit all seiner Derbheit, seinem naiven Ungeschick; denn über all dem bunten Treiben sehen wir ein naturwüchsiges, freies Gesamtleben, dem der Staat noch nicht als eine dem Volk entfremdete mechanische Amtsordnung gilt. Dort auf dem Dorfe empfängt des Helden Charakter die ersten dauernden Eindrücke der Leidenschaft. Seine romantische Neigung, seine unklare Schwärmerei wird durch ein zartes junges Mädchen gefesselt, aber sein Künstlerfeuer, seine lebendige Sinnlichkeit liegen in den Banden eines gereiften Weibes. Die schöne Judith ist eine jener sicheren, naturfrischen Frauen, die auch in unseren frommen Tagen nimmer aussterben werden: schön und stark, heißblütig und mit heidnischer Unbefangenheit jeder Leidenschaft folgend, aber durchaus wahr und eine harmonische Natur, der man nicht grollen kann. Dies Doppelleben des Helden ist mit ergreifender Wahrheit geschildert, aber auch mit einer naiven Offenherzigkeit, wie wir sie nur dem grünen Heinrich verzeihen können. Wir sind die letzten, die verbildete Prüderie unserer Frauen, welche ihnen die edelsten Kunstgenüsse verdirbt, zu verteidigen, und wir wissen sehr wohl Kellers kräftige Sinnlichkeit von der faunischen Lüsternheit der Franzosen zu unterscheiden: dennoch bedauern wir, daß manche schöne Hand den Roman aus der Hand legen wird, erschreckt durch diese Darstellung des Nackten, für welche ein künstlerischer [S. 304] Zweck nicht zu finden ist. Das zarte Mädchen stirbt, von Judith reißt Heinrich sich los in einem gewaltsamen Ausbruche unreifen Tugendstolzes. Endlich zieht der zuversichtliche junge Held in die Fremde, um — alles zu vergeuden, was er besitzt, sein und seiner Mutter Leben.
Von hier hebt die eigentliche Erzählung wieder an, und sie sticht auch dadurch von dem Tagebuch in sehr störender Weise ab, daß von den vielen in diesem angeknüpften Fäden kaum einer von der Erzählung wieder aufgenommen wird. Mit des Helden Eintritt in das Münchener Kunstleben beginnt auch der Dichter sich eingehender mit der Kunst zu beschäftigen. Sein Buch ist das herbste, unbarmherzigste Verdammungsurteil über den Dilettantismus. Nur der Meister, nur wer seinen Beruf gründlich versteht, ist glücklich, mag er auch einen Stiefel zurechthämmern — dies der Kern der Kunstanschauung Gottfried Kellers. Eine goldene Wahrheit, die dem Sohne eines starken und regsamen Volksstammes wohl ansteht; ein Kind mag sie fassen, aber Tausende unserer Gebildeten gehen zugrunde, weil ihnen der sittliche Mut, ihr zu folgen, mangelt! Die Standrede, welche der Maler Erikson seinem Freunde, dem grünen Heinrich, hält, über die mächtige Gesellschaft der „Wollenden” in der Kunst, über die nahe schöne Zukunft, wo die Städtebewohner sich an dem Gruße: Dichter? Dichter! Künstler? Künstler! erkennen werden, und ein Senat geprüfter Buchbinder und Rahmenvergolder zu Gericht sitzen wird über den Werken des reinen Fleißes — dieser Scherz ist eine meisterhafte Satire, die jeder junge Künstler einmal lesen sollte. In solchem Geiste frischen vollkräftigen Künstlertums bekennt sich Keller auch zu jener Auffassung des geistigen Eigentums, die zu Recht bestehen wird, solange es rüstige Künstler gibt: der ohnmächtige Schwächling, dem eine gute Idee über Nacht gekommen, hat nicht das mindeste Recht zur Klage, wenn ein schöpferischer Kopf sie seiner unfähigen Hand entreißt und lebendig gestaltet. Wiederum eine sehr einfache, selbstverständliche Wahrheit; aber haben uns nicht die tragikomischen Erlebnisse des Schulmeisters von Possenhofen gezeigt, wie wenig unsere[S. 305] tonangebenden Schriftsteller diesen braven Künstlersatz begreifen? — So gern der Dichter über künstlerische Dinge redet, so wenig wird die Schrift dadurch zum Kunstroman. Weder stellt sich hier die Kunst eitel vor den Spiegel, noch treten wir in jene Kreise der Aristokratie des Geistes, welche mit ihrem vorherrschend innerlichen Leben der Dichtung einen noch weit minder dankbaren Stoff bieten als der Adel. Das Buch bleibt ein einfacher bürgerlicher Roman; der Dichter hat es verstanden, diese besonderen Erlebnisse zu einem Bilde des Allgemeinen zu erweitern. Seine Verachtung des künstlerischen Dilettantismus ist lediglich der Haß des tüchtigen Menschen gegen alles Halbe und Schwächliche. Der Held bleibt ein epischer Charakter, er läßt die ganze Fülle der Welt der Erfahrung bildend auf sich wirken. Der Maler Ferdinand Lys schließt sich an ihn an, einer jener unselig begabten Menschen, an denen die Gegenwart reich ist: durchaus geistreich, fähig, von allem die höchsten und kühnsten Begriffe zu fassen, auch nicht gerade unproduktiv, aber mit einem Überwiegen des kritischen Denkens über die schöpferische Begabung, welches ihn am dauernden, beglückten Schaffen hindert. Oft genug gerät der gescheite Skeptiker mit dem unreifen jungen Freunde in Streit, bis einmal der Junge, stolz auf den willkürlichen Gottesglauben, den er sich aus den Trümmern der Dogmatik allein noch gerettet, ihm mit schwer beleidigenden Worten seinen Atheismus vorwirft. Da folgt eine Katastrophe, wie sie im Jugendleben nicht selten ist, lächerlich und tief traurig zugleich: seinem Herrgott zu Ehren verwundet der verblendete junge Mensch den Freund im Zweikampfe, und Ferdinand stirbt einige Jahre darauf an den Folgen der Wunde. Heinrich erkennt endlich, daß er zum Maler verdorben ist, er zeigt sich gänzlich ungeschickt zum Erwerben, er gerät in bittere Not. Eine ehrenwerte und doch falsche Scham entfremdet ihn gänzlich seiner Mutter, und die unglückliche Frau stirbt vor Sehnsucht und Gram um den verlorenen Sohn.
Hier nun muß es sich entscheiden, ob Heinrich ein wahrer Romanheld ist, ab er fähig ist, seine inhaltlose, gutmütige Jugendbegeisterung mit einer kräftigen, durch[S. 306] geistigen Schwung geadelten Lebenstätigkeit zu vertauschen. Aber hier erfahren wir, wie selten jene behagliche Heiterkeit des Gemüts, die Keller befähigte, seiner Erzählung einen ruhigen epischen Fluß zu geben, sich verbunden zeigt mit der dramatischen Energie, welche zum Abschlusse jedes Kunstwerks unerläßlich bleibt. Und noch klarer zeigen sich die schlimmen Folgen davon, daß der Held zu viel von des Dichters Fleisch und Blut hat. Heinrich faßt zwar den männlichen Entschluß, der Malerei zu entsagen, aber er meint sich berufen, im lebendigen Menschenstoffe zu schaffen. Nein, junger Freund, wenn du, so derb geschüttelt durch schwere Erfahrungen, noch nicht helleren Auges in dein Inneres blicken kannst, so bist du noch immer der „grüne” Heinrich. Zum Maler taugt dieser Mensch freilich nicht, denn er ist unfähig, nur mit einem Sinne die Welt zu erfassen, er hat seine Lust an der sprossenden Frühlingssaat, während seine Malergenossen den giftigen Ton der Farbe beklagen; aber zum handelnden Leben taugt er darum noch minder. Ein ästhetischer Widerwille war es ja, der schon den Knaben von dem Mysterium des Abendmahls zurückstieß, dichterisch ist die üppige Erfindungslust, welche sein Malerwirken so bitter störte — mit einem Worte, in Heinrich steckt ein Poet. Aber Keller hat nicht den Mut, diesen Entwicklungsgang aufzudecken, er vernachlässigt darum das fruchtbare Motiv, das in Heinrichs ästhetischer Lebensanschauung — diesem Urgrunde seines Glücks und seiner Schuld zugleich — enthalten ist. Er weiß sich schließlich nur so zu helfen, daß er Heinrich, während wir noch auf dem vorletzten Blatte das Beste hoffen, auf der letzten Seite sterben läßt. Diese Ratlosigkeit über den Ausgang des Helden verdirbt den letzten Band durchaus; er ist gewandter geschrieben als der Anfang, aber in der Komposition und der dichterischen Wärme steht er weit zurück. Er ermüdet uns durch lange, völlig zwecklose Schilderungen und Betrachtungen. Ja, es gelingt dem Dichter sogar einmal, unsere Teilnahme dem Helden gänzlich zu entfremden, da Heinrich im Elend in eine unerträglich weinerliche Gramseligkeit verfällt. Am Schlusse[S. 307] indes erhebt sich die Erzählung noch einmal zu regerem Leben. Heinrich schüttelt die letzten Spuren seines Jammers von sich, er erstarkt zu neuem Selbstgefühle, und zum ersten Male kommt die Macht einer tiefen Liebe gewaltig über ihn. Aber sein Tod zerreißt des Lesers kaum wieder erwachte Hoffnungen. Es bleibt ein Mißgriff, der nicht wieder gesühnt werden kann, daß der Dichter Heinrichs Freund und Mutter zum Teil durch seine Schuld sterben ließ. Solche Verschuldungen, die mehr dem Ungeschick des Kopfes als der Schlechtigkeit des Herzens entspringen, bilden immer einen gefährlichen Stoff für die ernste Dichtung. Es ist hart, daß Heinrich um dieser Sünden willen, welche ja nicht das Werk seines freien Willens waren, zu den Verdorbenen und Gestorbenen gehören soll. Und doch würden wir es noch minder ertragen, wenn Heinrich auf dem Grabe seiner Mutter lustig Hochzeit hielte. Im Leben freilich ist es nicht nur möglich, ja wir dürfen sogar verlangen, daß ein Mensch mit so unseliger Vergangenheit noch ein wackerer und glücklicher Mann werde. Aber so Großes bewirkt im Leben nur jene Macht, welche selbst für die freieste und gewaltigste der Künste kaum darstellbar ist — die Macht der Zeit! So ist denn die Achillesferse aller Romane, der Schluß hier besonders schwach. Das Buch endet mit einem grellen Mißlaute.
Wir durften wohl erwarten, daß ein so stark gärender Most endlich zu einem reinen und edlen Wein werde. Nicht gänzlich haben die Erzählungen von den „Leuten von Seldwyla” diese Hoffnungen erfüllt. Wie in jenem Romane breite, ermüdende Reflexionen sich neben den schönsten Bildern bewegten Menschenlebens ausdehnten, so stehen in dieser Schrift einige gänzlich verfehlte Erzählungen neben Novellen, die aus dem Schatz unserer Dichtkunst, will’s Gott, nie wieder verschwinden werden. Die Leute von Seldwyla sind, was schlechte Künstler „ein poetisches Völkchen” nennen. Gegen dieses selige Lumpentum, das die Gemütlichkeit für seine besondere Kunst hält, wendet sich der Dichter mit der lustigsten und doch bittersten Ironie. Keller hat sehr richtig gefühlt, daß solche flache Lustigkeit, die schließlich ins Elend versinkt, zu gehaltlos [S. 308] ist, um der Kunst einen Stoff zu bieten. Das verkommene Volk gibt ihm nur den Hintergrund, von dem sich die Schilderungen einiger origineller Menschen abheben.
Freilich, wie ganz hat den Dichter sein guter Genius verlassen, als er seinen „Pankraz, den Schmoller” schrieb. Uns ist, als müßte der lange Erikson hervortreten, dem Poeten auf die Schulter klopfen und ihn fragen, ob auch er nach so mannhaftem Kampf gegen das Dilettantenwesen für die mächtige Genossenschaft der Wollenden sich habe werben lassen. Es scheint des Dichters Absicht, zu schildern, wie oft gerade seine kleinen Eigenschaften des Menschen Schicksal bestimmen, ihn fast wider Wissen und Willen in ein schweres Schuldverhältnis zu seiner Umgebung bringen. Und wieder scheint es, er wolle in dem nichtig-eitlen Charakter der Lydia das unheimliche Geheimnis der Schönheit, das schon Vater Homer geahnt, enthüllen. Aber er versucht nicht einmal, diese Motive auszuführen. Kurz und gut, die Geschichte entbehrt jeder Pointe — so sehr, daß wir nicht einmal sicher sind, ob die Vermutungen, welche wir vorhin über des Dichters Plan äußerten, in Wahrheit zutreffen.
Kaum anders steht es mit dem Märchen „Spiegel das Kätzchen”. Hier ersteht der ideenlose Humor der alten Romantik aus dem Grabe, jener leere Humor, der sich nicht begnügt, die Poesie von falschen moralischen Zwecken zu säubern, sondern auch die künstlerischen Zwecke aus der Kunst verbannen möchte, jener Scherz, dem der Halt eines gedankenvollen Ernstes fehlt. Der Dichter weiß den altertümlichen Ton der Märe vortrefflich anzuschlagen, und einige Stellen der Erzählung erinnern an die schönheitssatte Einfachheit der alten italienischen Novellen; auch die Hexengeschichten sind phantastisch und lustig genug — aber wir ahnen nicht einmal, wo hinaus der Poet mit dem Ganzen will. Wir sehen hier zwar nicht den in vollkommener Tendenzfreiheit, im reinen Dasein sich ergehenden Fleiß des Dilettanten, aber eine sehr verwandte Verirrung: den Übermut des Künstlers, der sich bewußt ist, schön zu erzählen und nun meint, jede grundlose, willkürliche Erfindung tue es auch. Dabei geht die Eintracht [S. 309] zwischen der Phantasie und dem schlichten Verstande verloren, welche doch in einem rechten Künstlerkopfe fein brüderlich zusammen hausen sollten.
In dem Schwanke von den „Drei gerechten Kammachern” hat Keller durch die Tat gezeigt, was wahrer Humor ist: drollig genug ist die Erzählung, recht, was man bei uns daheim eine pudelnärrische Geschichte nennt; aber hinter den mutwilligsten Einfällen schaut ein ernstes und starkes Gefühl hervor, eine rüstige Verachtung jener Laster, welche dem Künstler die hassenswürdigsten der Sünden sein müssen, der Engherzigkeit und Heuchelei. Nach dem verlumpten Neste Seldwyla kommen drei gerechte Gesellen in ein Kammachergeschäft. Ein jeder in der Absicht, des Meisters Nachfolger zu werden, machen sie sich durch ihren wütenden Fleiß, ihre makellose Gerechtigkeit das Leben zur Hölle. Das Ende ist, daß die Gerechten um den Preis des Meisterrechts und der Hand einer alten Jungfer unter dem Jubel der Narren und Lumpe der Stadt einen aberwitzigen Wettlauf halten. Der Scherz ist lustig genug, das elende Dasein dieser Menschen mit einer Wahrheit geschildert, welche freilich oft bis zu den Grenzen des Erträglichen, ja dann und wann darüber hinaus schreitet. Leider siegt zuletzt des Dichters warmes Herz über seinen Kunstverstand. Wir verargen ihm nicht, daß er dieser widerwärtigen Rotte eine derbe Züchtigung zudachte; wir finden es ganz in der Ordnung, daß er den Dietrich unter den Pantoffel jener schrecklich tugendhaften Schönen bringt; aber wenn er seinen Jobst am ersten besten Baum aufhängt und Fridolin ins Elend stürzt, so hat einfach der Spaß ein Ende.
Gar eigen hebt sich von diesem tollen Treiben die tiefernste Erzählung von „Frau Regel Amrain” ab. Die allereinfachste Geschichte: eine herrliche junge Frau, die ihren jüngsten Sohn erzieht, um es kurz zu sagen — ein solches Weib, wie wir unsere Mütter uns vorstellen. Keller betritt hier ein Gebiet, wo er besonders heimisch, besonders reich ist an feinen Beobachtungen — das Kinderleben; und niemand wird ungerührt bleiben von der schlichten Einfalt dieser Erzählung. Freilich, eine reine[S. 310] Novelle ist sie nicht. Denn nicht nur führt sie — was der Novelle nicht zusteht — den ganzen Entwicklungsgang eines Charakters an uns vorüber; sondern sie ist auch — befremdlich genug bei diesem freisinnigen Dichter — nicht ohne einen gewissen moralisch erbaulichen Beigeschmack. Die Versicherung mindestens, daß seine Geschichte authentisch sei, hätten wir ihm, im Interesse der Kunst und des Dichters, gern geschenkt: Frau Amrain lebt sicherer und leibhaftiger in dieser Novelle als in einem „wirklichen” Schweizerstädtchen.
Aber einen glücklichen Dichtersonntag hat Gottfried Keller gefeiert, als er die Novelle schrieb: „Romeo und Julia auf dem Dorfe.” Um den Tadel, der uns drückt, nur gleich vom Herzen zu nehmen: Welcher böse Geist trieb den Dichter, uns am Schlusse dieser wunderschönen Novelle durch ein tendenziöses Nachwort aus allen Himmeln der Poesie in die bare Prosa herabzustürzen? Er schreibt alles Ernstes eine Apologie seiner Fabel, als müßte der Leser nicht von selbst empfinden, daß alles gar nicht anders kommen konnte. Nun gar die Behauptung, solche gewaltige Leidenschaften seien nur noch unter dem „eigentlichen Volke” möglich — eine Parteiverirrung, welche Keller in Goethes Schule hätte verlernen sollen — dreifach unbegreiflich am Ende einer Erzählung, welche ausgesprochenermaßen nur ein Gegenbild ist zu einer Geschichte aus der vornehmen Welt! Dieser Vorwurf ist jedoch der einzige Tadel, den wir gegen das schöne Gedicht zu erheben wissen. Etwa einige Dichtungen Groths und Hebels abgerechnet, hat uns keine der modernen Dorfgeschichten so schlagend gezeigt, wie schön das arme Volk ist, wenn sich das offene Auge findet, es zu schauen. Der Vergleich mit Shakespeares Tragödie, zu dem der Titel herausfordert, schadet der Novelle nicht allzusehr, denn die bescheidene Form der Erzählung und die kleine Welt, wohin sie uns führt, stimmen unsere Ansprüche von Anfang an herab. Um zu schweigen von dem unendlich vielen, das den großen Briten über alle modernen Poeten hoch emporhebt — schon um der Form der Darstellung willen muß die glühende Sinnlichkeit der Fabel in der[S. 311] Novelle mehr stofflich, mehr unmittelbar auf uns wirken, als in der idealen durchgeistigten Atmosphäre des Dramas. Aber wie schreckhaft auch diese starke Leidenschaft verwöhnte Nerven berühren mag, sie bleibt doch lauter, sie bleibt die welterhaltende Macht der Liebe. Echt tragisch ist das Los der Liebenden; denn was sie heraushebt aus der Gemeinheit ihrer Umgebung, die Tiefe ihres, reinem Ehrgefühle und wahrer Leidenschaft zugänglichen Wesens — das begründet zugleich ihre Schuld. —
Es bleibt ein mißlich Ding mit den heitren harmonischen Menschen, denen es wohl ist in ihrer eigenen Haut, zu rechten: sind sie doch imstande, auf jeden Vorwurf die unwiderlegliche Antwort ihres großen Altmeisters zu geben: „Ich habe mich nicht selbst gemacht.” Wir wollen es darauf wagen. Wie wacker er auch das Seldwyler Völkchen an den Pranger gestellt hat: es fließen doch ein paar ansehnliche Tropfen Seldwyler Blutes durch Kellers eigene Adern. Nur so ist es zu erklären, daß sein schönes Talent so ganz Verfehltes schaffen konnte, wie jene beiden Novellen. Versteht er es, solche Schwachheit mit der Kraft eines rechten Künstlerwillens zu bändigen, so dürfen wir noch schöne Gaben von ihm hoffen. Eine lange Reihe von Jahren liegt noch vor ihm, und wir preisen ihn in seiner Schweizer Heimat glücklich, daß die Bitterkeit des deutschen politischen Elends nicht unmittelbar verstimmend auf seinen künstlerischen Gleichmut wirken kann. Vergessen hat er Deutschland darum nicht; davon hat er noch jüngst Zeugnis abgelegt, als er auf dem Züricher Festschießen die nordischen Gäste mit dem Liede begrüßte:
Heinrich von Treitschke, geboren in Dresden am 15. September 1834 und gestorben in Berlin am 28. April 1896, zählt zu den besten Männern des Zeitalters Bismarcks. Was uns als der stärkste Ton in dem großartigen Zusammenklange der Persönlichkeit Bismarcks erscheint, der tatfrohe, praktische Idealismus einer rücksichtslosen deutschen Gesinnung, das klingt auch aus jedem Worte dieses Geschichtsschreibers, der zugleich ein leidenschaftlicher Mensch und ein Dichter war. Zwar bedeuten seine Verse und Dramen als Kunstwerke nicht viel; aber als Schilderer großer Menschen, als Darsteller vergangener Zeiten hat er jenes Dichtertum bewiesen, das August Wilhelm Schlegel meinte, wenn er den Historiker einen rückwärts gewandten Propheten nannte. Und dazu gesellte sich bei Treitschke das leidenschaftliche, in den Glaubenskämpfen der Hussiten bewährte Temperament seiner tschechischen Vorfahren. Der Vater stieg vom Husarenleutnant zum sächsischen General auf, die Mutter war die Tochter eines Kavalleriemajors, und etwas vom kühnen Soldatentum hat Treitschke sein Leben lang behalten, trotzdem ihm seit der Jugend ein Gehörleiden, das sich bis zu völliger Taubheit steigerte, das frische fröhliche Dasein verkümmerte.
Früh erwachte die Teilnahme an Geschichte und Politik, die liberale Gesinnung und die Begeisterung für Deutschlands Freiheit und Einheit. Der Schüler Dahlmanns in Bonn wurde bereits zum überzeugten Preußen und geriet damit in Widerspruch zu dem kleinlichen Sondergeist seiner sächsischen Heimat. In unablässiger Arbeit eignete er sich die Grundlagen geschichtlicher, volkswirtschaftlicher und literarhistorischer Kenntnisse an und wurde 1859 Privatdozent in Leipzig. Damals entstand[S. 313] bereits der ausgezeichnete Aufsatz „Heinrich von Kleist”, die erste jener Dichter-Charakteristiken, die unser Band sämtlich vereinigt. Mögen sie in Tatsachen und Urteilen jetzt zu einem kleinen Teil überholt erscheinen — die edle Form, die große Gesinnung, die Schärfe und Feinheit der Charakteristik gesellen diese durchkomponierten Bilder bedeutender deutscher Schriftsteller und Dichter zu dem Besten, was unsre spärliche Essayliteratur aufweist.
Der temperamentvolle akademische Lehrer errang sogleich die größten Erfolge. Die Hörer spürten, daß hier eine große Gesinnung mit reichem Wissen sich einte, mehr aber noch war es jene fortreißende, bis zum Schluß des Lebens wachsende Beredsamkeit, die alle in den Bann Treitschkes zwang. Schon damals keimte auch der Gedanke, die Entwicklung der neuesten Zeit zu schildern, aus dem später das Hauptwerk die „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert” erwachsen ist.
In Leipzig scharte sich um Treitschke ein Freundeskreis von bedeutenden Menschen, darunter Gustav Freytag, Franz Overbeck, Salomon Hirzel, Friedrich Zarncke. Von hier kam die Anregung der Rede am hundertsten Geburtstage Fichtes, die zu dem Aufsatz „Fichte und die nationale Idee” umgebildet wurde und in dem großen Vorgänger fast das eigene Bild zeichnete. Größeres noch bedeutete die kurz zuvor entstandene mächtige Schrift „Die Freiheit”, ein begeistertes Bekenntnis zum politischen und theologischen Liberalismus, und so manche andere größere und kleinere Aufsätze, darunter der über den geistesverwandten Lessing.
Als in Preußen der Verfassungskonflikt entstand, war Treitschke unter den Gegnern Bismarcks, auch in dem damaligen Sachsen konnte er, der Liberale, nicht auf eine Professur rechnen. So ging er nach Freiburg. Vorher hatte er noch bei dem großen deutschen Turnerfest am 5. August 1863 auf dem Leipziger Marktplatz eine alles begeisternde Rede gehalten, jene echte Demokratie preisend, welcher die Zukunft Europas gehöre. Das führte zum Bruche mit dem Vater, zum endgültigen Bruche mit[S. 314] dem Sachsentum und wurde besiegelt in der bedeutendsten politischen Schrift Treitschkes „Bundesstaat und Einheitsstaat”, der Kriegserklärung gegen die verlogene Bundesverfassung Deutschlands, gegen das ebenso verlogene Legitimitätsprinzip, gegen die Weiterexistenz der Kleinstaaten. Mit Recht behauptet der Biograph Treitschkes: „Wenn von irgendeiner Schrift gesagt werden kann, sie habe Bismarck den Weg zur Begründung des Reiches geebnet, so war es diese.”
In dem katholischen Freiburg fühlte Treitschke sich im Exil, und so bedeutete es für ihn die glücklichste Fügung, als jene Beziehungen zu Berlin sich anknüpften, die durch sein tapferes Eintreten für Preußen im Jahre 1866 und die leidenschaftliche Broschüre „Die Zukunft der norddeutschen Mittelstaaten” gefestigt wurden. Er erhielt eine Professur in Kiel, kehrte aber schon nach einem Jahre nach Baden, nach Heidelberg, zurück. Dort verlebte er die sieben glücklichsten Jahre seines Lebens, trotzdem nun sein Gehör völlig erlosch. Seine großen Führereigenschaften traten in der begeisterten Gefolgschaft der akademischen Jugend immer sichtbarer vor Augen. Von der frischen Kraft dieser Jahre zeugen auch die damals entstandenen Geschichtswerke: „Frankreichs Staatsleben und der Bonapartismus”, „Cavour”, und „Die Republik der vereinigten Niederlande”.
Vor der Begründung des Deutschen Reiches erhob Treitschke, ein wahrhafter Prophet, seine Stimme gegen die selbstsüchtigen, der deutschen Einheit schädlichen Ansprüche Bayerns, ebenso wie gegen den partikularistischen Liberalismus, mit dem er jetzt noch äußerlich zusammenging. Er ließ sich in den Reichstag wählen und gehörte ihm bis 1884 an, trotzdem seine Taubheit ihm die Teilnahme an den Verhandlungen sehr erschwerte. Die Beschäftigung mit den öffentlichen Fragen, mit der geistigen und sittlichen Entwicklung brachte Treitschke zu der Überzeugung, daß man namentlich gegen die neue in Berlin entstehende Großstadtkultur ankämpfen müsse. Dies war ein Hauptgrund, daß er dem Rufe als Professor der Geschichte an die Berliner Universität folgte. Seit dem[S. 315] Sommer 1874 hat er dort auf dem Katheder gewirkt wie in seiner Zeit kein anderer akademischer Lehrer, vor allem durch das in jedem Winter gelesene Kolleg über Politik, ein wahres Stahlbad für die Hörer.
Was er hier im gesprochenen Wort verkündete, das bot er einem weit größeren Kreise durch sein Hauptwerk, die „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert”. In fünf Bänden schilderte sie, von 1879–1894 erscheinend, die Entwicklung des deutschen Staats- und Geisteslebens bis zur Revolution 1848. Aber hier wie in dem Streite mit den Kathedersozialisten zeigte es sich deutlich, daß Treitschkes Denken, seine Vorstellung von der Gesellschaftsordnung und von den eigentlich ausschlaggebenden Kräften immer mehr erstarrte und den Forderungen einer neuen Zeit nicht gewachsen war. Seine wachsende Verbitterung suchte im Judentum einen Prügeljungen, an dem er allen Groll gegen die neuen Zeiterscheinungen auslassen konnte, und das mächtige Temperament ließ sich zu ungerechten demagogischen Äußerungen hinreißen. Auch kam sein einseitiges Preußentum immer mehr zum Ausdruck, namentlich im zweiten Band der Deutschen Geschichte.
So wurden die letzten Jahrzehnte Treitschkes von unaufhörlichen Kämpfen erfüllt, bei denen häufig das Recht nicht auf seiner Seite lag. Freilich konnte er noch bei großen Anlässen, wie den Hundertjahrfeiern der Königin Luise und Luthers, das Wort mit der alten reinen Kraft ertönen lassen. Aber immer mehr wurde er zu einem Werkzeug der Reaktion, immer mehr verengte sich der Kreis seiner geistig hochstehenden Freunde, immer ungerechter wurde das Urteil.
Inzwischen waren alle Ehren, die dem großen Gelehrten damals zuteil werden konnten, auf Treitschkes Haupt vereinigt worden. Er erbte von Ranke, dem überlegenen Vorgänger, den Titel eines Historiographen des preußischen Staates, er empfing nach den kleineren Ehrenzeichen den Orden Pour le mérite, er genoß die Gunst des jungen Kaisers Wilhelm II. So blind war freilich die monarchisch-konservative Gesinnung des alten Treitschke nicht, daß sie die ungeheuren Mängel der Persönlichkeit des[S. 316] neuen Kaisers und die verhängnisvollen Folgen seines Waltens hätte übersehen können, und gelegentlich erhob auch er seine warnende Stimme.
Als Treitschke sich den sechziger Jahren näherte, befiel ihn ein schweres Augenleiden. Nachdem er es überwunden hatte, ging er mit neuer Kraft an die Fortsetzung der „Deutschen Geschichte” und schuf sein Bestes, den fünften Band, die Schilderung der ersten Regierungsjahre Friedrich Wilhelms IV. Es war der Abschluß seines Schaffens. Wenn auch noch einzelnes nachfolgte, sollte er das Bild der Revolution von 1848, mit dem er sein Lebenswerk krönen wollte, nicht mehr malen. Er erlag einer tückischen Krankheit, in der Fülle seiner geistigen Kraft, dieser Kraft, die überall dort groß und segensreich waltete, wo nicht angeborene und anerzogene Eigenschaften zum Nachteil der unabhängigen erworbenen Gesinnung die Oberhand gewannen.
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