The Project Gutenberg EBook of Gedankengut aus meinen Wanderjahren.
Zweiter Band, by Max Dauthendey

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Title: Gedankengut aus meinen Wanderjahren. Zweiter Band

Author: Max Dauthendey

Release Date: August 16, 2014 [EBook #46594]

Language: German

Character set encoding: UTF-8

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GEDANKENGUT AUS MEINEN ***




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Gedankengut
aus meinen Wanderjahren

Zweiter Band

Ein vollständiges Verzeichnis der Schriften
Max Dauthendeys
findet man am Schlusse des Bandes

Max Dauthendey

Gedankengut
aus meinen Wanderjahren

Zweiter Band

Signet

Albert Langen, München

Copyright 1913 by Albert Langen, Munich

Druck von Hesse & Becker in Leipzig
Papier von Bohnenberger & Cie., Papierfabrik, Niefern bei Pforzheim
Einbände von E. A. Enders, Großbuchbinderei, Leipzig

Im Januar 1894 reiste ich, von unbezwinglicher Sehnsucht getrieben, zum bohuslänschen Pfarrhaus zurück. Aber die starken Eindrücke des ersten Aufenthaltes, die in meinen Erinnerungen schlackenlos dastanden, hatten sich so vergeistigt, daß die Wirklichkeit jetzt nicht mehr die Höhe der vergangenen Eindrücke erreichen konnte.

Ich blieb deshalb nur bis zum Frühjahr dort und reiste dann, ehe der Schnee noch vollständig weggetaut war, im April nach England, wo ich mit einem amerikanischen Künstlerehepaar, — Freunden des jungen Schweden, mit denen er seit seiner Amerikareise im Briefverkehr stand — zusammentraf.

An diese neue Bekanntschaft knüpfen sich dann Reihen neuer, mein äußeres Leben und meine Gedanken bestimmende Erlebnisse und eine spätere Aufenthaltszeit in Paris und in Mexiko.


Bei jenem zweiten Aufenthalt im Pfarrhause, bis zum Frühjahr 1894, schrieb ich endlich jenes Drama ohne Menschen: „Sehnsucht,“ zu dem ich in München, am Achensee und im Hoftheater während der Byronschen Manfred-Aufführung angeregt worden war. Aber ich hatte den Stoff zu lange mit mir herumgetragen und hatte mich schon über den Ursprungsgedanken hinausentwickelt, und fand, daß ich die Gesänge der Sehnsucht, der Wüste, des Meeres und der Gletscher nicht so inhaltsschwer schreiben konnte, wie ich es gewünscht hätte.

Oder stand ich vielleicht nicht genug über der Sehnsucht und war ich selbst zu sehnsüchtig an Geist und Leib geworden? Denn der Wunsch, eine Frau zu finden, ein Mädchen, das liebend, häuslich und geistig kameradschaftlich um mich in einem kleinen stillen Haus walten sollte, dieser Wunsch wurde, je länger ich von der Heimat fort in der Fremde leben mußte, in mir immer dringender.

Aber die Erfüllung dieses Herzenswunsches lag ganz im Blinden. Denn ich konnte mich selbst nicht erhalten und wurde von meinem Vater nur notgedrungen unterstützt. Mit einem Hirn nur voll Pläne und mit Aussicht auf zukünftige Werke konnte ich kein Geld erwerben.

Und mein Vater, der von Monat zu Monat drohte, mir den Unterhalt zu entziehen, weil er mich dadurch auf seine Weise anspornen wollte, fleißig zu sein, er gab mir keine sichere Hilfe, so daß ich daraufhin hätte eine Frau an mich binden können. —

Schon bei meinem ersten Aufenthalt im Pfarrhause hatte ich im lautlosen Verkehr mit den Naturdingen eine Reihe Gedichte geschrieben, von denen jedes die Stimmung eines bestimmten Naturerlebnisses geben sollte.

Ein Gedicht hieß „Amselsang“, ein anderes „Faulbaumduft“, eines „Vollmond“, eines „Morgenduft“, eines „Wolkenschatten“, eines „Meerwassergeruch“, eines „Regenduft“. In diesen kleinen Gedichtversuchen hatte ich gewagt, Empfindungsbilder, die während des Mondaufganges oder beim Faulbaumduft, beim Regen, bei Wolkenschatten oder beim Amselsang in mir auftauchten, beinahe wahllos und getreu niederzuschreiben. Es waren gesteigerte, phantastische Bilder, die dem alltäglichen Leser sinnlos erscheinen mußten, die sich mir aber beim einsamen Erleben des Regens, des Mondaufganges und des Duftes von Pflanzen und vom Meer in der bohuslänschen Granitwüste aufgedrängt hatten. Und so verwirrt diese Gedichtversuche beim ersten Eindruck erscheinen mochten, es lag doch ein wahrheitsgetreuer Zusammenhang zwischen Bild und Empfindung darin.

Aus jugendlicher Begeisterung und von der Aufgabe durchdrungen, möglichst wirklichkeits- und empfindungsgemäß das Leben in der durchlebten Bilderkette wiederzugeben, entstanden scheinbar form- und sinnlose, abenteuerliche Gedichtversuche, die nichts anderes waren als erste Schiefertafelübungen meiner späteren Lyrik.

Diese Gedichte, die in dem Band „Ultraviolett, einsame Poesien“ erschienen sind, können nur als Entwicklungsversuche gelten und haben keinen Sinn für die breite Öffentlichkeit. Aber ohne diese Versuche wäre ich nicht zu meiner späteren Dichtungsweise gelangt, und wenn man mich noch einmal in dieselbe Welt setzen würde und in denselben Zeitgeist, in dem ich aufwuchs, ich würde nicht anders handeln können, als ich es getan habe.

Auf den Titel „Ultraviolett“ war ich durch einen Zufall gekommen. Bei einer Durchreise durch Berlin hörte ich, daß Paul Scherbart einen Verlag gründen wollte, genannt: Verlag der Phantasten. Und ich war aufgefordert, Beiträge zu schicken. Aber der Titel „Phantasten“ gefiel mir gar nicht. Er nahm der Phantasie die Würde und kam mir für die Dichter entwürdigend vor.

Ich machte eines Morgens Scherbart einen Besuch und fragte ihn, warum er denn das Wort Phantasten nötig habe. Wohl sei ich sehr dafür, daß die in den letzten Jahren durch den Naturalismus zu kurz gekommene Phantasie wieder zu Ehren kommen sollte, da die Phantasie der natürlichste Kern des dichterischen Geistes wäre. Aber das Wort Phantasten decke sich nicht mit dem ernsten Wert derer, die ihre Dichtungen phantasievoll und fern vom nüchternen Wirklichkeitsabschreiben gestalten wollen.

„Sagen Sie mir einen anderen Titel, wenn Ihnen einer einfällt,“ meinte Scherbart lebendig.

Nach kurzem Besinnen entfuhr mir das Wort „Ultraviolett“.

Scherbart sagte: „Das versteht nicht jeder.“ Und ich mußte ihm zustimmen, daß für einen Verlag der Name zu unverständlich sein konnte.

Aber als ich Scherbart verlassen hatte, hing ich auf der Straße dem Gedanken noch weiter nach. Denn Scherbart hatte mich gefragt: „Wie kommen Sie eigentlich auf das Wort ‚Ultraviolett‘?“

Dann hatte ich ihm erklärt, daß mein Vater, der sich auf Optik verstanden, durch seine Auseinandersetzungen über die ultravioletten Lichtstrahlen — die bewiesenermaßen im Weltraum leben, aber vom Menschenauge nicht erfaßt werden können — mir für dieses unsichtbare Licht eine große innere Ehrfurcht erweckt habe. Eine heilige Scheu habe sich immer bei der Vorstellung dieses Lichtes „Ultraviolett“ in mir geregt.

Außerhalb meines Augenkreises, sagte ich mir, war ein Licht entdeckt worden, das nur berechnet, aber nicht genossen werden konnte. Und es hatte mich bei der Vorstellung, daß jene ultravioletten Strahlen einsam im Weltraum leben müssen, ohne die Bewunderung des Menschenauges genießen zu dürfen, immer ein geheimnisvolles Wehgefühl durchschauert. Das ultraviolette Licht erschien mir als das Einsamste unter den einsamen Lebewesen.

Und da ich nun die Einsamkeit im Norden bewundern und schätzen gelernt und gefunden hatte, daß sie befruchtend auf meine Dichtung wirkte, sah ich die Phantasie des Dichters, die fern vom Weltgetriebe reifen und sich entwickeln muß, als den innigsten Gefährten jenes ultravioletten Lichtes an.

Ich weiß, daß dieses eine Jünglingsschwärmerei war, und daß ich im Grunde nicht das Alleinsein an sich meinte. Denn am liebsten hätte ich die Einsamkeit mit einem Weibe geteilt. Und in der Liebeseinsamkeit wäre ich nie auf den Gedanken verfallen, mich als Leidgenosse des einsamen Lichtes Ultraviolett zu fühlen.

Aber ich war damals stolz — wie jeder Asket stolz auf sein härenes Gewand, auf seine Geißel und auf seiner Geißel Wunde ist — stolz, der sehnsüchtige Gefährte des lebensfernen Ultravioletts zu sein.

Und so beschloß ich, da der Titel nicht für einen Verlag paßte, wie Scherbart gemeint hatte, denselben Titel „Ultraviolett“ meiner Sammlung Dichtungen zu geben, die ich teils in München nach Gemälden in der Sezession und teils nach Natureindrücken in Bohuslän niedergeschrieben hatte.

In meiner Weltabgeschiedenheit hatte ich auch gefunden, daß Gedichte sich besser einprägten, wenn jedes Gedicht auf ein einzelnes Buchblatt gedruckt war. So wie bei einem Gemälde auf der Rückseite der Leinwand nicht noch ein Gemälde Platz findet, so fand ich es übel, wenn nicht jedes Gedicht auf ein Blatt gedruckt war, ähnlich wie bei Handschriften, wobei man nur die eine Seite zu beschreiben pflegt. Und in diesem Sinne ließ ich mein Buch „Ultraviolett“ drucken.

Die Annahme, daß das Buch nur einigen Künstlern Anregung geben würde, bestimmte mich, dasselbe nur in hundert Exemplaren drucken zu lassen. Damit ich aber mit den fünfzig Exemplaren, die ich verkaufen ließ, da ich die übrigen fünfzig verschenkte, auf die Druckkosten kommen konnte, ließ ich den Preis für jedes Buch auf fünfundzwanzig Mark ansetzen. — Heute wird das Buch von den Antiquariaten für achtzig Mark verkauft, wie ich aus verschiedenen Katalogen in den letzten Jahren ersah.

Daß sich in der Welt der Kritik kein kleines Geschrei erhob, als dieses absonderliche Buch das Schaufensterlicht der Buchhandlungen erblickte, wird sich jeder denken können, der ein wenig das literarische Tagesleben kennt. Ich aber war damals ahnungslos wie Johannes der Täufer in der Wüste. Ich wußte nicht, daß ich eine vierfache Sünde in den Augen der Kritik begangen hatte.

Erstens: in einer Wirklichkeitszeit, in der „Wiedergabe des Alltagslebens“ das Losungswort der schreibenden Welt war, hatte ich phantastische Poesie erzeugt. Man sagte, ich wolle mit diesem Buch die Kritik an der Nase führen und säße heimlich daneben und verlachte alle und alles.

Zweite Sünde war: die Ausstattung des Buches, die nie dagewesene Ausstattung des nur halb bedruckten Buches. Und auch diese Sünde war, wie die erste, doch nur eine Einfaltssünde von mir.

Die dritte Sünde war der ungeheuerliche Titel „Ultraviolett“, wobei alle Kritiker den Nachdruck auf „Ultra“ legten. Während ich aber doch nie den lateinischen Ursprung des Wortes bedacht hatte, sondern nur immer von der Wehmut des Gedankens und des Gefühls beherrscht war, daß jenes wirkliche und unwirkliche Licht dort an der äußersten Grenze der Weltallvorstellung aufs Einsamste lebte.

Meine vierte und auch nicht kleine Sünde war, daß ich bei allen drei Überspanntheiten auch noch als vierte einen überspannt hohen Preis angesetzt hatte, der mir aber gar nicht zu hochgegriffen schien im Verhältnis zu meinen Druckunkosten. Warum sollte ich nicht für das Buch fünfundzwanzig Mark verlangen dürfen — alle fünfzig Exemplare wurden verkauft —, da ich doch gar keinen Gewinn für mich beanspruchte, sondern nur auf die Höhe der Druckkostensumme kommen wollte.

Ich merkte lange nicht, in welchem Grad ich mir durch dieses Buch meine Zukunft verbittert hatte. Zwar die Künstler, die Maler, liebten das Buch. Die Dichter blätterten darin verblüfft herum, fühlten den jugendlichen Drang des Dichtenden und waren gerührt von der Askese und der ehrlichen Weltfremdheit, die aus den Zeilen sprachen. Aber die Kritiker sahen mich für einen frechen Eindringling an, für einen wahnwitzigen Narren.

Zwanzig Jahre hindurch konnte ich in fast jeder Kritik, die über meine Art zu dichten geschrieben wurde, das Wort „Ultraviolett“ wiederfinden. Wie die Brandmarke, die man einem Galeerensträfling ins Fleisch brennt, rief man mir fortgesetzt das Abc-Buch meiner Lyrik in Erinnerung. Auch als ich schon längst über die Anfänge des ersten Könnens hinaus war, wollte man nur immer von meinen ersten Gehversuchen sprechen.

Wäre ich nicht in einer Zeit der allgemeinen Mauserung der Weltanschauung geboren, sondern wie die Dichter der früheren Jahrhunderte in einer Epoche feststehender Ideale, dann wären diese neuen Gehversuche nicht nötig gewesen. Aber gerade in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts begann sich allgemein die europäische Menschheit von einer beinahe zweitausend Jahre alten Idealwelt loszulösen.

Wie den Griechen und Römern der Olymp eingestürzt war vor zweitausend Jahren, so stürzte uns der alttestamentarische Himmel ein nach beinah zweitausendjährigem Glauben. Und wer es ehrlich mit seiner Zeit meinte, mußte dem Erlöschen alter Ideale Rechnung tragen und, im Dunkel stehend, Gehversuche machen, Tastversuche, um zu fühlen, zu suchen, von wo ein neues Licht der Zukunft für Leben und Kunst leuchten würde.

Solche Tastversuche waren für mich mein Buch „Ultraviolett“. Ich nehme dieses Buch nicht anders in Schutz. Es ist nur ein Dichtungsversuch, der mir in einer unklaren Zeit genützt hat, der aber nie für die breite Öffentlichkeit bestimmt war. —

Ich verweilte deshalb ausführlich beim Ursprung dieses Buches, nicht um mich zu entschuldigen, sondern um mich und unsere Zeitforderungen zu erklären. —


Mein zweimaliger Aufenthalt im Norden, im bohuslänschen weltfernen Pfarrhause, hatte zur Folge, daß ich einsames und ursprünglichstes Naturleben kennen gelernt hatte und dabei zugleich aus engen Kulturverhältnissen alter deutscher Vergangenheiten losgekommen war, so daß ich jetzt nicht mehr leicht ausgetretene Wege einschlagen konnte. Dieser zweimalige Aufenthalt in Schweden gab mir einen größeren Weltblick. Ein jahrelanges Auslandsleben folgte, wobei ich Kunsteindrücke und vielseitiges Menschenleben aufnahm und Zeit und Vermögen blindlings verschwendete, nie nach Nutzen und Einkünften, sondern nur nach Lebensbereicherung fragend.

Daß ich mir damals das Erleben noch durch die stete Frage störte: wird dieser Tag ein Gedicht bringen? Und daß ich mich bei jedem Weg fragte, ob ich auf ihm eine Dichtung erleben würde. Dieses gehetzte Fragen kam nicht aus meinem Innern. Es war teils von der äußeren jugendlichen Ungeduld, mich betätigen zu wollen, eingegeben, teils kam es aus dem Ansporn, den mein Vater brieflich auf mich ausübte, indem er von Vierteljahr zu Vierteljahr drängte, Neues von mir hören zu wollen. Immer sollte ich ihn auf dem Laufenden halten mit Plänen und Hoffnungen für neue Bücher. Er glaubte wahrscheinlich, Faulheit könne mich hinter seinem Rücken auffressen.

Man wollte zu Hause nicht dem harmonischen und angeborenen natürlichen Entwicklungsfleiß, der jedem jungen Mann, der sich ernstlich ein Ziel gesetzt hat, innewohnt, vertrauen und glauben. Und man spornte den von selbst Fortschreitenden so an, als wenn er ein Eingeschlafener wäre.

O wieviel Sorge kann solche Übersorge anderer uns bereiten! Vertrauen ist das Gefühl, auf das die Jugend ein unbedingtes Recht hat.

Unter diesen Umständen war ich gezwungen worden zu fragen: Wird eine Dichtung aus dieser Reise entstehen? Werde ich diese Reise literarisch verwerten können? — Aber erst nach der Reise um die Erde, in meinem vierzigsten Lebensjahr, fühlte ich mich reif, Geschehenes und Gehörtes in Prosa und Dichtungen ununterbrochen wiedergeben zu können. Dann erst war es mir wieder zur zweiten Natur geworden, unbewußt erleben zu können, ohne dabei an literarisches oder dichterisches Verwerten denken zu müssen.


Bei meinem Sommeraufenthalt in Dänemark am Isefjord 1893 hatte ich den Entwurf zu einer neuen Dichtung gemacht.

Dieser gab ich den Titel „Die schwarze Sonne“. In dieser Dichtung wollte ich im Gegensatz zur freudigen Sonne, die Sonne des Leides darstellen. So wie die Nacht dem Tag folgt, sagte ich mir, so wandert auch durch den Tag der Freuden der schwarze Strahl einer schwarzen Sonne, und die von ihm Gezeichneten ließ ich zu einer Leidensschar sich zusammenschließen. Es sollte dieser Zug von Leidenden ein Gegenstück zum Bacchuszug sein, den ich auf dem großen Gemälde von Rubens in der alten Pinakothek in München gesehen hatte.

Der Zug durchwandert die Heide. Nackte Männer, nackte Frauen, nackte Jungfrauen und Knaben, verwundet vom Leid, zusammengeschart im Leid und doch sich ihr Leid nicht eingestehen wollend, aber jeder gezeichnet vom Todeskeim, wandern und lagern abends im Wald. Die Stärksten unter ihnen, die reifen Männer und Frauen pflücken schwarze Giftbeeren, und Männer und Frauen sterben in einer letzten Umarmung.

Die Mädchen, Knaben und Greise aber steigen morgens vom Wald an den Felsenabhängen hinunter zum Meer und binden angeschwemmte Stämme zu einem Floß zusammen. Sie besteigen das Floß. Sie haben sich mit Waldkränzen geschmückt. Das Meersalz hängt sich an ihre Lippen, während sie singen. Und als die weiße Sonne des Tages im Mittag steht, schickt die schwarze Sonne des Leides aus der Tiefe des Meeres eine große finstere Welle herauf, die das Floß mit den bekränzten Singenden verschlingt. —

Der Einfall zu dieser Dichtung kam mir am Isefjord. Ich ging dort einmal bei einem Feldspaziergang in trauriger Stimmung, gequält von Einsamkeit und bedrängt von der Sorge um das tägliche Leben, an einem Moor vorüber. Vom Anblick der nachtschwarzen Moorerde und des unheimlichen Moorwassers angezogen, und angelockt von Todeslustgedanken, setzte ich mich am Rande des Moores nieder und fühlte, wie die Düsterkeit, die mich bei fröhlicher Stimmung vielleicht erschreckt hätte, mir jetzt in meiner Traurigkeit wohl tat.

Ich hatte bisher noch nie erlebt, daß mich Düsteres angelockt hätte, und daß ich mich bei Düsterem wohlgefühlt hatte, denn ich war immer lebenswarm und lebensfröhlich gewesen. Nun aber sagte ich mir, als ich am Moor saß und eine Wohltat von der Düsterheit der Landschaft empfing: es muß zwei Sonnen geben. Eine Freudengesinnte, die dem Freudiggestimmten gefällt, und eine Leidgesinnte, die dem Leidtragenden wohltut. Und es war mir, als sah mich aus der Tiefe des Moores die schwarze Sonne des Leides an und begrüßte in mir die Düsterheit meines Kummers.

Die Dichtung „Die schwarze Sonne“, die ich dann zu schreiben begann, dichtete ich zum erstenmal in Binnenreimen, wobei ich, um das Echo des Wanderns auszudrücken, die Reimworte mitten in die Zeilen stellte, um so die im Takt schreitenden Schritte der Wandernden ertönen zu lassen.

In Kopenhagen schrieb ich den ersten Gesang dieser Dichtung, in London den zweiten Gesang und später in Stockholm den Schluß. Das ganze Gedicht entstand im Laufe von ungefähr zwei Jahren. Ich hatte immer große Arbeitspausen zwischen den verschiedenen Gesängen eintreten lassen müssen, da ich nur dann an dieser Dichtung weiterschreiben konnte, wenn mich ein tiefes Leid grämte.

Auch dieses Epos, obwohl ich es später — noch vor zwei Jahren — in einer neuen Auflage erscheinen ließ, zähle ich unter die Entwicklungsschriften meiner Dichterlehrjahre, von welchen ich hier in diesem Buche nebenbei berichten will.

Diese Jugendbücher waren ekstatische Ausbrüche einer jungen Phantasie. Ich hatte noch nicht die Geliebte gefunden, die der geistigen Freudigkeit als Gegengewicht irdische Freudigkeit des Lebens gibt. Erst später, im Liebeserleben, wurde mein Dichten warmblütig, während meine Dichtungen vorher, Nordlichtstrahlen ähnlich, aus meinem Kopfe schossen und mehr Spukwerk als Kunstwerk waren.


Ich hatte in meiner Jugend immer einen heiteren und lebensfröhlichen Sinn, und wenn ich morgens aufwachte, war ich nie grämlich und ängstlich, immer von Hoffnungen und Lebenswärme bewegt. Alles Erlebte war für mich immer festlich gewesen trotz des unerbittlichen Ernstes, der in meinem Vaterhause geherrscht hatte. Denn mein Vater war, als ich zwanzig Jahre alt wurde, bald ein Greis von siebzig Jahren. Ich fühlte mich oft ein wenig zu weise erzogen und kam mir damals etwas greisenhaft und im Blute unbeholfen vor, besonders da ich nicht wie andere junge Leute meines Alters Liebesgetändel und flüchtige Liebesverhältnisse pflegen konnte. Ich war immer von einer steten Bangigkeit erfüllt, die große Leidenschaft versäumen und verfehlen zu können.

Meinen Vater und meine Mutter sah ich als Vorbild aufopferndster Liebe an. Ich wäre nur dann imstande gewesen, einem Mädchen von Liebe zu sprechen, wenn ich es zu meiner Frau machen wollte.

Aber die Bedrückung, in meinen damaligen Verhältnissen keine Frau ernähren zu können, und der Gedanke, daß ich vielleicht jeden Tag der Frau begegnen könnte, zu der ich hätte sagen mögen: „Wir wollen uns lieben,“ und für die ich dann wohl Liebe, aber keine Mittel zum Zusammenleben bereit haben würde — diese Erwägungen verfolgten mich unausgesetzt und machten mich zurückhaltend der Welt gegenüber, der ich jeden Tag von neuem, seit ich mein Vaterhaus verlassen hatte, die Hoffnung auf Lebensmöglichkeit abringen mußte.

Mein Vater drohte von Brief zu Brief, mir meinen monatlichen Unterhalt zu entziehen, deshalb waren meine Sorgen nicht unbegründet. Und jeden Tag genoß ich nur wie ein Mensch, der schnelle Blicke auf eine Landschaft wirft, indessen immer unterirdisches Erdbeben grollt, das ihn jeden Augenblick aufscheucht und ihm von seinem, in den nächsten Sekunden möglichen, Untergang redet.

Da ich auch nicht die Leichtigkeit in mir fand, im Plauderstil für Tageszeitungen schreiben zu können, um mir dadurch Geldmittel zu verschaffen, — weil ich mich in einer geistigen Umwälzung befand und bewußt und unbewußt einer neuen Dichtungsart zustrebte und unzersplittert, aufmerksam für den neuen Dichtungsgeist leben mußte, — so war ich oft recht unglücklich in allen Reisetagen, und trotz aller neuen Eindrücke, immer unglücklich umgeben von der mich hilflosmachenden Tagessorge.

Es sollte mir natürlich in Kleidung, Auftreten und Haltung niemand meine oft recht verzweifelte Lage anmerken. Und so trug mein Gesicht meist ein Lächeln, das nur zur Hälfte Lebensfreudigkeit war, zur anderen Hälfte aber eine Anstandsmaske über meine Sorgen legen sollte.


Ich hatte im Winter 1893, ehe ich zum erstenmal nach Bohuslän kam, eine kleine philosophische Betrachtung geschrieben, die ich „die Kunst des Intimen“ betitelt hatte. In Bohuslän fügte ich dieser Schrift einen zweiten Teil an, „die Kunst des Erhabenen“. In der „Kunst des Intimen“ sprach ich von Jakobsens Schreibweise, von Ola Hanson und von Ähnlichen, auch vom Maler Munch. Wogegen ich in der „Kunst des Erhabenen“ den vorgenannten Künstlern den Dichter Homer, Dante und ähnliche gegenüberstellte. Ebenso verglich ich in der Malerei Michel Angelo und die großen Italiener mit den alten Holländern und den Sezessionisten der Neuzeit. Und verglich in der Musik Beethoven und Wagner mit Mozart und Grieg. Mit diesem Überblick über das Kunstleben aller Zeiten wollte ich zeigen, wie die Anforderungen im Künstlertum immer auf Erhabenes und Intimes zugleich gerichtet waren.

Von dieser Handschrift, die, ich glaube, nur fünfzig Druckseiten aufwies, hoffte ich, daß sie mir nebenbei auch eine kleine Einnahme bringen möchte. Ein kopenhagener Rechtsanwalt, den ich kennen gelernt hatte, und dem die Arbeit gefiel, legte die Druckkosten für das Buch aus. Der junge Schwede hatte die Handschrift ins Schwedische übersetzt, und so erschienen diese Gedanken eines Deutschen in schwedischer Sprache bei einem dänischen Buchhändler in Kopenhagen gedruckt. Die deutsche Handschrift habe ich später auf den Reisen verloren, und die kleine Arbeit ist niemals anders als in schwedischer Sprache erschienen. Ich erzähle dieses, um an manche Hoffnungen und Pläne zu erinnern, die man sich als junger Schriftsteller macht, und die absterben wie Schößlinge eines Baumes, die neben den Hauptästen entstehen und verdorren müssen.

Während ich in Berlin im Winter 1893 jene Abhandlung über „intime Kunst“ niederschrieb, war mir auch der Gedanke gekommen, daß man intime Schauspielbühnen einrichten müßte, Bühnen in Zimmern oder Sälen, die nicht durch einen viereckigen Ausschnitt das Bühnenbild vom Zuschauer getrennt zeigen, sondern den Zuschauern, — welche zwanglos in Gruppen im Saal verteilt sein müßten —, den Eindruck geben sollten, als erlebten sie nicht bloß ein Schaustück, sondern ein intimes Ereignis, an dem sie selbst teilnahmen. Durch das Nichtgetrenntsein vom Bühnenbild sollten sich die Zuschauer enger mit den Erlebnissen verkettet fühlen.

Auch hatte ich geglaubt, da die Schauspieler damals das Pathos noch nicht ganz abgelegt hatten, es müßten die Schriftsteller zuerst noch selbst in einigen Schauspielen auftreten und die neue Spielart den Schauspielern zeigen. Denn die intime Wirklichkeitskunst bahnte sich zuerst in den Köpfen der Schriftsteller den Weg, und nur durch sie, meinte ich, könnte dem Schauspieler das damals noch fast unbekannte Wirklichkeitsspielen beigebracht werden.

Ich hatte ein Jahr vorher im Winter 1891, als ich noch zu Hause in Würzburg war, ein damals noch ziemlich unbekanntes Maeterlinksches intimes Drama, „Der Eindringling“ (l’Intruse) aus dem Buch „Die Blinden“ übersetzt. Von Maeterlink erhielt ich dann das Einführungsrecht dieses Stückes für Deutschland.

Ich machte dann Ende Winter 1892 mit Frau Marholm einige Besuche bei verschiedenen Schriftstellern in Berlin und forderte sie auf, ein „Intimes Theater“ zu gründen. Ich fand offene Ohren. Es schien, als sollten einige Aufführungen zustande kommen, denn die Lust nach einer intimen Bühne lag allgemein in der Luft.

Da es aber schon Frühjahr wurde, verschob man die Angelegenheit auf den nächsten Winter. Doch war keine rechte Sicherheit zu erlangen, und meine Reise nach Schweden und mein langjähriger Aufenthalt im Ausland, brachen dann die verschiedenen Unterhandlungen ab.

Etwas mutlos hatte mich der Ausspruch des damaligen Vorstandes der „Freien Bühne“ gemacht, dem ich Maeterlinks Drama „der Eindringling“ in meiner Übersetzung eingereicht hatte. Er meinte, daß es jetzt keine Zeit wäre für eine intime Kunst im Maeterlinkschen Sinne, die zu zart und phantasieblau sei. Besonders, da eben Gerhart Hauptmann das deutsche Publikum zu starker Nüchternheitskunst bekehren wolle, würde Maeterlink keine Aufmerksamkeit wecken.

Und ich sah auch ein, daß Berlin wirklich im Augenblick nicht der Boden für intime Phantasie und seelische Zartheit war, wie Maeterlink sie bot. —

In Kopenhagen hatte ich außer der kleinen Handschrift „Die Kunst des Intimen“ und „Die Kunst des Erhabenen“ auf eine Aufforderung der Zeitung „Politiken“ eine kleine Skizze geschrieben. Wie ich schon vorher erzählte, war ich damals noch nicht ganz frei von dem Wahn, Phantasien schreiben zu müssen, in welchen ich — als Gegensatz zu den alten abgebrauchten Menschenverkörperungen in der Natur, wie Elfen, Faune, Ungeheuer, Gnomen usw. — die Natur ohne menschliche Figurenwelt, einzig als Bild und Erlebnis für sich, geben wollte.

So hatte ich in jener Zeitungsskizze farbig beschrieben, was das Licht der Sommersonnenstrahlen erlebt, wenn es sich durch die Ritzen geschlossener Fensterläden von den Kornfeldern in einen alten Gobelinsaal eines dänischen Herrenhauses hineinstiehlt und dort bei den alten verstaubten Möbeln einen Aufruhr von neuem Leben hervorbringt.

Die Kopenhagener Zeitung brachte die erbetene Skizze, zugleich mit meinem Bild und einer Besprechung über meinen Roman „Josa Gerth“. Und diese Zeitung war es, die zum ersten Mal das Wort „Farbendichter“ auf mich anwendete, das Wort, das nachher noch jahrelang mein Begleitname in der literarischen Welt bleiben sollte. —


Nach meinem zweiten Aufenthalt im Winter 1893–1894 im bohuslänschen Pfarrhause reiste ich zu Anfang April 1894 von Schweden nach London. Ich fuhr auf einem Küstendampfer vom schwedischen Hafen Uddevalla, südlich von Fjellbacka, ab und erreichte, die Nordsee überquerend, in drei Tagen die Themsemündung.

Ich kann heute noch nicht den Eindruck vergessen, den mir die englischen Fischerflotten machten, die da still lagen im Meer am Themseeingang auf der großen Silberbank des Wassers, über dem die Vorfrühlingssonne bei silberberänderten Wolken blitzte. Die still arbeitenden Boote sahen aus wie unzählige dunkle Fische auf einer weißen Metallplatte.

Dieser Anblick der Vereinigung von Meer und stillen Meerarbeitern ließ mich noch einmal vor der Ankunft in London weit und frei aufatmen. Es sammelt sich in jedem jungen Herzen ein beklemmendes Gruseln an, wenn man zu einer fremden Weltstadt kommen soll. Es gruselte mich, von London verschluckt werden zu können, von den dort angestauten verschiedenen Lebensbegriffen und sich widerstreitenden Lebensgefühlen. Und so genoß ich noch einmal, wie im Abschiednehmen von der Meereseinsamkeit, die mir in Schweden ein weiser Kamerad geworden war, den letzten Meerblick, der mir so unendlich hell und friedlich mit seinen Meerarbeitern einen unzerstörbaren Glückszustand zuspiegelte.

Es wurde Abend, als wir in London in den schmutzigen Dockwassern, an rußigen düsteren Ausladehallen, im Finstern lautlos landeten. Und mehr als die See am Mittag gebraust, toste jetzt rundum das millionenträchtige London in der Nacht.

In einer Pension am Upper Wooburn Place, die in der Nähe des Britischen Museums lag, und wo die Freunde des jungen Schweden, das amerikanische junge Künstlerehepaar, lebten, nahm ich Wohnung.

Der Amerikaner hieß James mit Vornamen, und seine Frau hieß Theodosia. Er war Neuyorker und sie aus San Franzisko, und beide hatten sich in Frankreich auf dem pariser Montparnasse, dem Künstlerstadtteil der pariser Amerikaner, kennen gelernt. Sie hatten sich eben in England trauen lassen und lebten hier auf einem Zimmer der Pension, sorglos bei Künstlersorgen.

In ihnen lernte ich nicht bloß die Menschen eines neuen Zeitgeistes kennen, sondern es sprach auch die Einfalt und Unverbrauchtheit des jungen Erdteils, aus dem sie kamen, aus ihren Handlungen und ihren Gedanken.

Bei unseren ersten Gesprächen erschien es mir, als unterhielt ich mich mit Schulkindern. Die beiden amerikanischen Künstler hatten in allem einen etwas belehrenden Ton, so wie Schulkinder untereinander reden, die sich und ihre Gefährten ganz richtig für unerwachsene Menschen halten. Da sie kein Deutsch sprachen, wurde unsere Unterhaltung auf Englisch oder in schlechtem Französisch geführt, was den belehrenden Ton bei den beiden erhöhte.

Ich hatte noch nicht viel von Okkultismus gehört und nicht viel von Astrologie, nichts vom englischen mystischen Maler Blake und seinen Geisterdichtungen, ebensowenig kannte ich Swedenborgs übersinnliche Philosophie. Ich wußte nichts von Geheimbünden. Ich wußte nur, daß diese Art Gelehrsamkeit in Deutschland mittelalterliches Treiben genannt wurde, und daß sie mir auch immer aus der Ferne als solches erschienen war. Ich glaubte nie an Wahrsagungen, nie an Aufstellung von Horoskopen, noch an ägyptische, arabische oder indische Sterndeuterei. Das amerikanische Ehepaar aber nannte sich Adepten eines mystischen Geheimbundes, über den sie nicht reden durften.

James wollte Bildhauer werden, Theodosia Malerin, und deshalb waren sie von Amerika nach Europa gekommen. Und als ich sie fragte, wozu sie denn die mystische Lehre für ihre Kunst nötig hätten, so sagten sie mir ganz richtig, jede Kunst brauche einen seelischen Inhalt, eine geistige Bildungslinie. Und als ich sie fragte, ob ihr Geheimbund die Freimaurerei sei, da lachten sie und meinten, daß die Freimaurer weit entfernt seien von dem Kreis, dem sie angehörten.

Das Zimmer, das sie bewohnten, war geräumig und bildete für sie beide: Schlafzimmer, Wohnzimmer, Eßzimmer und Atelier. Bisher hatte ich noch nie ein junges Ehepaar der gebildeten Stände kennen gelernt, das, auf einen so bescheidenen Raum angewiesen, so glücklich lebte wie diese Amerikaner. Und wenn ich heute an jenes londoner Zimmer zurückdenke und an das Kaminfeuer, an den londoner Nebel vor den Fenstervierecken und an das ewige Teewasser, das auf den Kohlen des Kaminrostes den ganzen Tag gekocht wurde, dann entzückt mich immer noch der bescheidene Geist jener strebenden und sich gegenseitig anspornenden amerikanischen jungen Eheleute.

An den Wänden ihres Zimmers waren mit Heftnägeln unzählige Photographien an die Tapete gesteckt. Botticelli, dessen Ruhm damals alle Amerikaner mit besonderer Vorliebe in Mode gebracht hatten, war mit seinem Bild „Primavera“ vertreten. Leonardi da Vincis „Mona Lisa“, einige Photos von Holzschnitten Albrecht Dürers und verschiedene Bilder von Michel Angelos Arbeiten waren hier zum Studium und zur künstlerischen Augenlust ganz willkürlich an der Wand um den Kamin verteilt.

Zuerst wollte ich nicht recht zuhören, wenn die Amerikaner mir die Mystik der Darstellungen Michel Angelo’s, die Mystik Leonardo da Vincis und Albrecht Dürers erklärten und immer von Mystik und Symbolik bei allen alten Meistern sprechen wollten. Aber zwei Menschen gefunden zu haben, die eine neue Weltanschauung in der Mystik suchten, die ein neues Heil in ägyptischer, arabischer und indischer Astrologie zu finden glaubten, die überhaupt nach einem Sinn des Lebens fahndeten, das fesselte mich an diese amerikanischen Künstler.

Und ich machte mich geduldig, um ihnen zuzuhören bei ihren ganz unglaublichen mystischen Ergründungen, die sie immer wieder von neuem aus ihrem Geheimbund mit nach Hause brachten.

Ich hätte gern etwas Näheres über diese geheimen Versammlungen erfahren. Sie aber sagten, ich wäre noch viel zu ungläubig und zweifelnd und müßte, blind ergeben, ohne Mißtrauen, mich zuerst in Astrologie und okkultistische Lehren vertiefen, und wenn ich dann von dem heiligen Drang erfüllt wäre, ein Adept werden zu wollen, so würde ich ganz von selbst den Weg zu diesem Geheimbund finden.

Manchmal in den ersten Tagen fragte ich mich, ob ihr ganzes Gebaren nicht vielleicht ein Künstlerscherz sei. Vielleicht würden sie später über mich belustigt lachen. Denn es schien mir ungeheuerlich, daß zwei aus dem Wirklichkeitsland Amerika, zwei aus dem Arbeitsland kommende Neuzeitmenschen, in die Dunkelheiten der Astrologie, der Alchemie, der Scholastik und Mystik zurückkehren wollten. Es war mir, als ob freie Menschen um Ketten und Kerker bettelten.

Der Amerikaner Weisheit hatte aber nichts mit dem Wissen der Theosophen gemein. Sie verneinten es lebhaft, als ich sie fragte, ob ihr Bund etwas mit Theosophie zu tun hätte.

Sie malten und bildhauerten in London nicht, sondern sagten, das würden sie wieder aufnehmen, wenn sie nach Paris zurückgekehrt wären. Sie waren nur jetzt nach London gekommen, um sich in die Geheimwissenschaften zu vertiefen und sich in jenem Geheimbund unterrichten und belehren zu lassen.

Sie waren aber niemals düster gestimmt, immer fröhlich und glücklich. Nur hatte für mich ihre Fröhlichkeit etwas Körperloses. Sie konnten sich nur immer bei übersinnlichen Gedanken aufhalten, ähnlich wie es jene Theosophen getan, denen ich in München begegnet war.

Sie lachten mich aus, als ich sie fragte, ob die Lehre, der sie nachgingen, der Spiritismus sei. Ich wußte damals noch zu wenig von Okkultismus und erst später erfuhr ich, daß jene beiden einer okkultistischen Gesellschaft angehörten.

Dadurch, daß die Unterhaltungen mit jenen beiden Okkultisten immer halb Englisch, halb Französisch geführt wurde, fühlte ich mich sehr aus meinem Gleichgewicht gehoben und aus meinem Deutschtum fortgerückt, und die Einsamkeit meiner Gedanken war dadurch in dem unendlichen London unendlich viel größer, als sie im Pfarrhaus im Bohuslän gewesen, wo ich mit der Natur erquickenden Gedankenaustausch gepflegt hatte. Denn die Gespräche über Mystik bereiteten mir zuerst nur Qual. Es war mir, wenn ich der Geistesrichtung jener Okkultisten folgte, als ginge ich in den Spuren der schwarzen Sonne, die ich am Isefjord in Dänemark in das schwarze Moor hineingedichtet hatte.

Das große düstere London selbst erschien mir wie eine schwarze mächtige Sonne. Als ich in jener Nacht, vom schwedischen Schiff kommend, die finsteren Docks betrat und sofort in den Bauch der Erde steigen mußte und in rauchigen Tunnels, beinahe zwanzig Stationen weit, unterirdisch reisen mußte, um zum Upper Wooburn Place zu gelangen, da glaubte ich durch die Eingeweide der Erde zu jagen.

Noch am Mittag desselben Tages war ich auf der Silberbank des Meeres unter silbriger Sonne gewesen, war durch silbrige Luft in die Themse eingefahren, an dem grünen Ufer von Greenwich und Richmond vorüber, und jetzt schien es nirgends mehr Meerfreiheit und ländliches Grün zu geben. Seitdem ich da in der Unterwelt fuhr, war mir, als führe ich in die Erdfinsternis, von aller Natur und Natürlichkeit fort, als tauschte ich klare Gedanken gegen dunkle Hirngespinste ein.

Seltsamerweise wirkte aber London, als ich es dann bei Tage sah, gar nicht so himmelgetürmt und nicht so geschäftshastig und großstadtgierig wie Berlin in jenen Zeiten auf mich gewirkt hatte. Die vielen Straßenzüge in London, in denen sich kleine Familieneinzelhäuser überaus schmucklos und einfach, ohne Schaufenster und, nur zweistöckig, aneinanderreihten, wirkten in ihrer Schlichtheit und Unauffälligkeit und in ihrer gediegenen Nützlichkeit, wenn auch eintönig, so doch menschenwürdig.

Die londoner Geschäftsstraßen waren sachliche Arbeitsstraßen, in denen einem das Geldverdienen als eine Naturnotwendigkeit erschien, wobei die Arbeit nicht fieberhaft war, sondern gründlich, stark und einfach verrichtet wurde.

Durch eine im englischen Volk eingewurzelte und durch Geschlechter eingeführte klare Lebensordnung, der sich die ganze Stadt wie eine gut arbeitende, nirgends von Willkür gestörte Maschine hingibt, wirkte diese Millionenstadt mit den kleinen Familienhäusern fast friedlich und traulich wie ein Riesendorf.

Der Segen des Sichunterordnenkönnens der einzelnen unter Vätersitte und unter unumstößliche gesellschaftliche Sitte wirkte bei einer Millionenbevölkerung ungemein wohltuend. Und die tadellose Ordnung im englischen Tagesleben umgab wie ein Schutz, wie die Weihe heiliger Naturgesetze, den Fremdangekommenen. Auch der willkürlichste Mensch wird vom englischen starken Ordnungsleben, das das riesige London, wie einen sicher geleiteten Gutshof, tadellos arbeitend zusammenhält, zur Selbstzucht angespornt. Denn ohne Selbstzucht und Unterordnung des einzelnen unter das Massengefüge konnte hier wie überall im Weltall keiner vorwärtskommen.

Der Engländer, der unausgesetzt Achtung oder Verachtung austeilt, züchtet sich auch die Fremden, die zu ihm kommen, so wie er gewöhnt ist, den Ländern, die er erobert hat, und ihren Eingeborenen englische Ordnung und englischen Lebenssinn beizubringen.

England hat es, wie man weiß, mit dieser Ordnungsstrenge erreicht, daß rund um die Erde seine Sprache die Reise- und Weltsprache wurde. Dieses von altersher feststehende, eingeschulte englische Wesen, das stolz auf sich selbst beruht und sich alles Fremde kraftvoll unterordnet, fühlte ich als wohltuende Macht vom ersten Schritte an, als ich englischen Boden betreten hatte.

Als ich an jenem Ankunftsabend, der Untergrundbahn entstiegen, zum Pensionshause am Upper Wooburn Platz kam — das sich in nichts unterschied von den tausend stillgeordneten Nebenhäusern, und das dadurch häuslich und vornehm in sich zurückgezogen wirkte —, fühlte ich mich schon in jener Straße durch die schweigende Ordnung wohl aufgehoben.

Da war noch ein altmodischer Türklopfer außen an der Haustüre, ein Klöppel, der auf eine Bronzeplatte fiel. Ein schlank gewachsenes Dienstmädchen in schwarzem Kleid mit weißen Manschetten, weißem Kragen und weißem Häubchen öffnete und geleitete mich durch die Vorhalle, die aber keinen kahlen Gang und kein kahles Treppenhaus aufwies. Selbst diese nebensächlichen Hausräume waren traulich mit Hausgeräten und Bilderschmuck ausgestattet, und mir war, als sei ich in ein altes Herrschaftshaus und in einen Kreis alter Familienüberlieferungen eingetreten.

Auch der überall sparsam verwendete Raum im Hause, wo eingebaute Schränke, Tapetentüren und eingeschachtelte Kammern den Hausraum ausnützten — ich möchte sagen das Hausleben verinnerlichten und einem den Wert von jedem Zoll des londoner Bodens deutlich in Erinnerung brachten —, dieses Raumsparen erhöhte den Reiz des Wohnens. Man befand sich in einem solchen Hause wie in einer Schatulle, welche Geheimfächer barg, und an der das sorgsam Durchdachte dem Eintretenden Vertrauen einflößte und ihm Bestätigung vom Wert des Lebens gab. Sich beschränken müssen und sich klug und gewandt beschränken können, sich für das Leben züchten müssen, das redete hier jeden, der das Leben ernst nehmen wollte, wohltuend auf Schritt und Tritt an, innerhalb und außerhalb der Häuser Londons.

Daß das englische Volk auf einer engen Insel lebt und in seinem Vaterland jeden fußbreit Erde liebt, daß es sozusagen im Meer verlassen lebt, auf sich allein angewiesen, umgeben von den ungeheuren Meereshorizonten, die dieses Volk weltblickend werden lassen und es zugleich heiß heimatliebend machen, dieses wurde einem in London täglich bewußt gemacht. Und daß dieses Meervolk, vom Festland getrennt, im Gegensatz zu den Festlandvölkern sich eigenwilliger und im besten Sinne eigensinniger entwickeln mußte, das wurde mir täglich beim Wandern und Beobachten englischer Eigenart und englischer Gediegenheit von den londoner Straßen erklärt.

So erstaunte es mich auch bald nicht, daß hier im Mittelpunkt der fünf Weltteile, hier wo man täglich großzügige Fühlung mit Ägypten, Indien und mit dem fernsten buddhistischen Asien hat, eigenartige Gedankenmischungen entstehen können. Gedankenmischungen, die, ebensogut wie die neuzeitliche Wissenschaft, eine Fortsetzung in der Entwicklung des Menschheitsgeistes hervorbringen können. Da die Engländer im fernen Osten mit fremdem Volksgeist in steter Berührung leben, können asiatische alte Weisheiten echter und unverfälschter durch den gradlinigen Meerverkehr der Engländer nach London kommen, als dieses in Deutschland oder in den anderen Festländern der Fall ist, die nicht so sehr im Mittelpunkt des Weltverkehrs stehen.

Bei uns in Deutschland riß die Wissenschaft im letzten Jahrhundert in den Herzen und den Hirnen der Gebildeten alte Weltanschauungen ein, aber sie baute keine neuen Ideale auf. In England aber, wo Vätersitte unerschütterlicher feststeht als bei uns, reißt man nicht so leicht ein, sondern baut — eingeschachtelten Räumen in den Häusern ähnlich — buddhistische, mohammedanische und altägyptische Ideenwelten in die christliche Weltanschauung hinein. Und, in dem man nicht bloß Rohprodukte aus den asiatischen Kolonien in London einführt, sondern auch die Geistesprodukte der unterworfenen asiatischen Nationen, versucht man in England, Gedankenreiche aus der Vereinigung fremder Weltanschauungen, zusammengeschmiedet mit der heimatlichen Gedankenwelt, zu gründen.

Die Inder, die Ägypter, Asiaten und Afrikaner, denen der Londoner täglich in seinen Straßen und in den Gesellschaften, als zum englischen Reich Zugehörigen, begegnet, konnte er auf die Dauer auch geistig nicht unbeachtet lassen und mußte über ihr ihm fremdes Geistesleben nachdenken.

So versteht sich meistens der Engländer heutzutage besser als irgend ein Europäer auf japanische und chinesische Kunstwerke, und die englische Literatur ist reich an asiatischen Übersetzungen und an ernsten Werken schlichter getreuer Kunst- und Sittenschilderungen asiatischer Völker. Während die deutschen Reisewerke vielfach von deutschem Gelehrtenwissen beleuchtet niedergeschrieben werden, sind die vielen Werke der englischen Privatreisenden — deren es natürlich bei dem ungeheuren Weltverkehr englischer Schiffe Legionen gibt — allmenschlicher, freundlicher und traulicher gehalten. Der Inhalt dieser Werke ist mehr von allmenschlicher Bewunderung erfüllt als von geistiger Überhebung.

Während in England durch den ungeheueren Welt- und Völkerverkehr sich neue Anschauungen den alten Anschauungen beimischen und Möglichkeiten einer gedanklichen Umgestaltung zulassen, stocken in Deutschland seit der Wirklichkeitserkenntnis der neunziger Jahre die Entwicklungen zu neuen geistigen Idealen hin fast vollständig. Man spürt von der großen deutschen Flotte her noch keinen Völkerweltverkehr und Weltgedankenaustausch im deutschen Lande selbst.

Ich will aber nicht sagen, daß in England in den breiten Volksmassen große gedankliche Umwälzungen erreicht worden sind. Doch praktische Umwälzungen sind erreicht worden, wie zum Beispiel die von England kommende Einrichtung der segenstiftenden Heilsarmee oder die von England und Amerika kommende Lehre von der „Christlichen Wissenschaft“, der „christian science“, die durch bewußte geistige Erhöhung die Gesundheit des Körpers anstrebt.

In Deutschland selbst ist nichts der Art aus der Nation entstanden. Man lebt bei uns noch von einem wissenschaftlichen Wirklichkeitssinn befangen.

Aber ein Siebzigmillionenvolk sollte sich doch zu neuen geistigen Höhen, zu neuen Idealen hin aufraffen. Immer noch befangen vom Geist der achtziger und der neunziger Jahre, in denen die Künstler und Gelehrten den Weg zur Wirklichkeit wiesen und zum Niederreißen falscher Ideale, verrannte sich jetzt die deutsche Welt in Wirklichkeitslust.

Die Zeit Goethes, die sich an den griechischen Göttern Erhebung holte, die Zeit Walters von der Vogelweide, in der das Christentum noch ein jung blühendes Ideal war, soll natürlich nicht wiederkommen. Aber die Wirklichkeitslust, die heute herrscht, die ohne Geisteslust ist, sie artet auf die Dauer in ein niederes Vergnügen aus, bei dem die nach neuem Geist sehnsüchtigen Menschen nicht ewig mittun können. Und die Lust nach einer neuen Geisteserhebung schwebt überall in der Luft, so wie am Ende des Winters die Sehnsucht nach dem Frühling da ist.

Dieses Streben nach einer neuen Weltanschauung, das ich bei dem jungen amerikanischen Ehepaar schon vor zwanzig Jahren in London miterlebte, bestätigte es mir schon damals, daß die naturalistische Kunst, die in der Literatur in Deutschland in Gerhart Hauptmann ihren ersten größten Vertreter fand, nicht die allein seligmachende Entwicklung in der Dichtung bleiben würde.

Eine Vereinigung von starker Wirklichkeit und höchster Geistigkeit, eine festliche Weltauffassung vom festlichen Weltalleben und aus einer sich demütig und doch allmächtig fühlenden Menschheit heraus wird eine neue Festwelt für die jungen Dichter entstehen.


Weil im Weltalleben nichts zu klein und nichts zu dunkel ist, als daß es nicht Aufnahme in den Verstand und in das Gefühl einer neuen Menschheit finden müßte, so öffnete ich damals, nachdem ich den ersten Widerwillen überwunden hatte, willig Herz und Ohr auch der mittelalterlichen Welt, der ägyptischen Magie, der assyrischen Sternkunde, der indischen Adeptenlehre, der mittelalterlichen Alchemie und hörte tage- und wochenlang den Auseinandersetzungen des jungen und geistig entzückten amerikanischen Ehepaares zu.

Ich ließ mir die dicken Bände des Geisterdichters William Blake vorlesen und deuten. Und war in Bohuslän die Welt für mich stark, prächtig, natürlich klar und handgreiflich am Meer und beim Granit und in dem würdigen Pfarrhaus ausgebreitet gewesen, so gerade dem entgegengesetzt, unklar, geisterhaft, aber doch nicht unnatürlich, bei aller Finsternis nicht unglaubhaft, malte sich jetzt vor mir in jenem kleinen londoner Zimmer die tastend begeisterte Dunkelwelt der Magie.

Ich glaubte zuerst, daß jene beiden Menschen, die mich in die Geheimwelt des Geisterlebens einweihen wollten, es ebenso auf Wunderverrichtung abgesehen hätten, wie ich und mein Freund, der junge Philosoph, einige Jahre vorher, an jenem Augustnachmittag auf dem Gute bei Würzburg, Wunderwünsche gehabt hatten.

Ich sagte deshalb den Amerikanern, daß ich längst über die Sehnsucht, Wunder zu erleben, fortgekommen sei und deutete ihnen an, daß meine Weltanschauung darin bestehe, das größte und kleinste Leben im Weltall, ebenso wie mich selbst, als festlich zusammengehörig anzusehen und jedes Leben als seinen eigenen Schöpfer und zugleich als Mitschöpfer des ganzen Alls zu betrachten. Ich sagte ihnen, das Weltall würde von mir als ein Festleben, als eine unendliche Festlichkeit angesehen, bei der wir alle ewig in Freude und Leid mitfeiern und alle von neuem Leben zu neuem Leben die Festgestalt wechseln und dabei alle alles besitzen und zugleich der Besitz aller sind.

Da sagten die beiden Amerikaner: „Das ist im Grund dieselbe Lehre, die wir meinen. Wir haben sie in einem Geheimbund erfahren, und Sie sind mit Ihrem Freund, dem Philosophen, durch eigenes Nachdenken zur selben Erkenntnis gelangt.

Wir glauben dasselbe. Wir glauben auch, daß wir Menschen Wunder wirken könnten, aber aus Weisheit das Schöpfungswerk nicht durch törichte Wundersucht stören wollen. Denn dann wären wir nicht mehr weise. Wir glauben ebenso an die Festlichkeit des Lebens. Wir glauben aber auch, daß man sich die großen Kräfte der Sterne ebenso zu Nutzen machen darf, wie man sich Elektrizität und Dampfkräfte zu Nutzen gemacht hat.

Denn es wird kein vernünftiger Mensch daran zweifeln können, daß die Sternenmassen, die sich im Himmelsraum bewegen, die sich bald einander nähern, bald voneinander entfernen, in denen ganze Sonnensysteme wandern, daß diese Sonnen, die sich mit ihren Planeten umkreisen — daß diese sich einander nähernden und sich entfernenden Weltkörpermassen nicht untereinander Einflüsse ausüben müssen auf das Leben, das auf ihnen besteht.

Die Riesenschwankungen, die die Annäherungen solcher Massenungeheuer gegenseitig erzeugen, bleiben nicht ohne Einfluß auf die pflanzliche, tierische, chemische und menschliche Welt, die sich auf den verschiedenen Gestirnen befinden mag.

Darum sind die sich verschiebenden Stellungen der Sterne von Bedeutung für das kleinste Atomleben, also auch für das Menschenleben auf unserem Gestirn. Die Verschiebungen der Sterne bringen durch bedingte Atomverschiebungen Veränderungen chemischer Prozesse hervor. Denn die verschiedenen Gestirne stehen, wie jeder weiß, auf verschiedenen Verbrennungsstufen. Sie sind außerdem verschiedenartig zusammengesetzt. Und angenommen, es würden auch auf jedem Stern dieselben Elemente vorhanden sein, so sind diese doch in verschiedenen Hitze- und Abkühlungsstufen von verschiedenster Wirkung.“

Diese letztere Erklärung sagte ich mir selbst, als die beiden Amerikaner mir die Sterneneinflüsse glaubhaft machen wollten. Ich sagte mir: betrachtet man das Weltall als eine chemische Masse, in der jedes Sonnensystem ein Molekül bedeutet, das sich wieder aus Atomen zusammensetzt, und sieht man die Planeten jedes Sonnensystems als Atome des Sonnensystemmoleküles an, so kann man sich recht gut vorstellen, daß Aufruhr und Änderungen in dieser chemischen Verbindung entstehen, wenn zum Beispiel ein Komet, der ein Atom darstellt, sich einem Molekül, einem Sonnensystem nähert, und dessen Bahn kreuzt.

Angenommen, es sei irgendein chemischer Stoff auf dem Komet überwiegender tätig als auf dem Planeten, dessen Bahn der Komet kreuzt, so wird er wie ein Gärungskeim auf die vorher ruhige Bahn des Planeten einwirken. Denn durch Strahlung kann der Komet kleinste Körperchen, wie zum Beispiel Elektronen, aus der Ferne in das Sonnensystem aufrührerisch schleudern und vorübergehend Zersetzungsprozesse erzeugen, die sich dann selbstverständlich als Unruhen, als Erdbeben, Störungen, Krankheiten des Wassers, Krankheiten der Luft, Krankheiten der Erde, Störungen in der Elektrizität, die sich also auch als Krankheiten der elektrischen Ströme auf jenem Planet fühlbar machen. Die Lebewesen unseres Planeten, die Menschen zum Beispiel, würden dann unruhiger denken, unruhiger handeln, gestört im Gleichgewicht, kriegerischer gesinnt sein und fieberhafter und gewalttätiger werden.

Kriege, die sonst bei ruhigerem Überlegen vermieden werden könnten, werden bei dem gereizten Geisteszustand, in dem sich der ganze Planet befindet, durch die Strahlenstörung, die er vom Kometen erhielt, unvermeidlich werden, ebenso wie Mißwachs, Erdkrankheit und Hungersnot dann die Folge sein könnten.

Den denkenden Menschen muß es einleuchten, daß die gesamte Sternenwelt als eine Molekül-, Atom- oder Elektronenwelt gedacht, mit kreisenden Molekülwelten, das heißt Sonnensystemen, fortgesetzten Veränderungen unterworfen ist, die je nach den Molekülverschiebungen, je nach den Sternstellungen einsetzen.

Zu jeder Stunde der Nacht und des Tages ist die Sternstellung eine andere rund um den Planeten Erde. Also sind die Wirkungen im Weltall und auf der Erde, die chemischen Prozesse, die statthaben, stündlichen Veränderungen unterworfen.

Sagen wir nun, die chemische Masse Jupiter, oder die chemische Masse Venus, oder die chemische Masse Merkur entfernt oder nähert sich der chemischen Masse Erde, so müssen unbedingt, wie bei dem Nahen eines Kometen, Schwankungen bei allen Leben der Erde eintreten.

Nun sind aber nicht bloß alle Sterne in verschieden starken Elementzusammensetzungen zu denken. Sondern auch die verschiedenen Pflanzen, die verschiedenen Tiere und die verschiedenen Menschen sind aus verschiedenen Gewichtteilen jener Elemente zusammengesetzt. Nähert sich nun ein Stern, der durch seine Zusammensetzung schädlich oder günstig wirken kann, so wird jedes Lebewesen auf der Erde sich bei seiner Annäherung glücklicher oder unglücklicher fühlen, glücklicher oder unglücklicher handeln.

Und darum sagten die alten Astrologen: dieser ist ein glücklicher Tag für diejenigen, die zum Beispiel unter Jupiter geboren sind. Denn an diesem Tag ist die chemische Zusammensetzung im Weltall durch die Jupiterstellung, das heißt durch Molekularveränderungen, die das Atom Jupiter erzeugt, günstig für alle die, welche aus einer ähnlichen chemischen Zusammensetzung bestehen wie der Planet Jupiter.

Die ewig sich ändernden chemischen Prozesse, die sich einander nähernden und sich voneinander entfernenden Sternmassen, die den aus Elementen zusammengesetzten Körper des Menschen, der Tiere, der Pflanzen und der ganzen Erde stündlich chemisch beeinflussen, so wie auch sie wieder beeinflußt werden, diese Sternwanderungen und die dadurch entstehenden stündlich verschiedenen Sternmischungen, diese stündlich wechselnden chemischen Prozesse lassen einem die Sterndeutung, die durch Jahrhunderte und Jahrtausende bei allen Erdvölkern, bei Chinesen, Indern, Afrikanern, Azteken und Germanen geübt wurde, als eine durchaus nicht übernatürliche Wissenschaft verstehen.

Ein Astrologe kann also, wenn er die Geburtsstunde eines Menschen weiß und die Sternstellung jener Stunde, die er in den astronomischen Aufzeichnungen bereits festgestellt findet, nachgeschlagen hat, jenem Menschen die Zukunftsstunden, in denen ihn schädliche Einflüsse unvermeidlich treffen werden, aus dem astronomischen Kalender berechnen. Ähnlich wie ein Chemiker voraussagen kann, welche Einflüsse einer bestimmten chemischen Mischung von Vorteil oder von Nachteil sein können.

Der Astrologe hält sich also an Sternenprozesse. Er ist sozusagen der Kenner der Himmelschemikalien, angewendet auf die Chemie des Menschenkörpers. Wie es kluge und unkluge Chemiker gibt, gibt es natürlich auch kluge und unkluge Astrologen.

Die Indier, die Araber, die Ägypter, die unter wolkenloserem Himmel geboren sind als wir, und die die Sterne in mehr Nächten des Jahres studieren konnten als wir, haben in ältester Zeit, wie jeder weiß, die größten Fortschritte in der Beobachtung des Himmels gemacht. Auf der Reise um die Erde wurde ich an einigen indischen Fürstenhöfen in geräumige, besonders für die Astrologie gebaute Höfe geführt, wo große gemauerte Instrumente verteilt waren, die heute noch, wie seit urältester Zeit, den Messungen und der Sternenkunde dienten.

Ob es Wert hat, die beeinflußten Lebenstage, die guten oder bösen, eines Menschenlebens aus den Sternen vorauszubestimmen, das wird jeder bei sich selbst fühlen müssen. Nicht jeder trägt Verlangen, die Stunden wissen zu wollen, die ihm schädlich oder günstig sind.

So wie heutzutage der Bauer und der Luftschiffer und der Seemann, ehe sie an die Arbeit gehen, das Voraussagen der Wetterwarten und das Wetterglas gern in Anspruch nehmen, so mag es auch wohl Menschen geben, die, so wie es die alten Griechen, Ägypter und Römer taten, die ihnen günstigen Sternstunden wissen wollen, ehe sie sich zu irgendeinem wichtigen Entschluß aufmachen. Da alle Dinge im Leben ihre unreifen, ihre reifen und überreifen Stunden und ihre welken Stunden haben, so wird der, der nicht selbst einen starken Instinktblick hat, zu Hilfsmitteln greifen, die seine Instinkte unterstützen. Der starke Instinktsmensch aber wird ohne Sterndeutung auskommen. Ein starker Bauer, ein Flieger oder ein Seemann, welcher die Wetterbestimmung im Instinkt und in der Erfahrung, sozusagen im Blut sitzen hat, dieser Starke wird sich nicht um die nicht immer sicheren Wetterwartenvoraussagungen kümmern. —


Als ich nun in London täglich mit dem amerikanischen Ehepaar über Astrologie und andere okkultistische Wissenschaften eingehend sprach, wendete sich mein Sinn, der sich vorher seiner zeitgemäßen wissenschaftlichen Aufklärung und Überwindung mittelalterlicher Mystik gefreut hatte, diesen Gesprächen von Tag zu Tag aufhorchender zu.

Ich mußte mir beschämt sagen, wir hatten in den deutschen Schulen unserer Neuzeit, in denen ich aufgewachsen war, blindlings den über Astrologie nicht unterrichteten Lehrern die Verachtung der Astrologie ablernen müssen. Wir Schüler waren in diesem wie in vielen anderen Weltanschauungsgedanken dumm gemacht worden von Unaufgeklärten, und man verblieb gedankenlos sein Leben lang in dieser blinden Verachtung stecken, die man fälschlich für die höhere Aufklärung einer neuen Zeit gehalten hatte.

Die Lehrer hatten mit dem Satz: keiner kann die Zukunft wissen, die Astrologie ist etwas Übernatürliches, und mit Übersinnlichem geben wir neuzeitlichen Menschen uns nicht mehr ab, — die Astrologie rasch abgetan. Dieses mußte ich den beiden amerikanischen Okkultisten zugeben.

Die beiden Amerikaner wiederholten mir fortwährend: die Astrologie ist keine übersinnliche Kraft. Es wird bei der Astrologie mit natürlichen Kräften hantiert. So natürlich wie man mit dem Zucker sich den Tee versüßen kann und mit dem Salz den Tee ungenießbar machen kann, so natürlich ist die Sterndeutung. Die Wetterkarte der Wetterwarten und die Sternkarte der astronomischen Warten sind anerkannte wissenschaftliche Tatsachen, und nur auf Tatsachen, nicht auf Übersinnlichkeiten oder Übernatürlichkeiten, stützt sich auch die Astrologie.

Und da ich für Lebensbeobachtung bin und für Lebensbereicherung eintrete, wurde mir, als ich alles dieses ruhig und es nicht blind ablehnend überdachte, die Wissenschaft der Astrologie verständlich. Ich begriff, daß sie ungefähr den Wettervorausberechnungen gleichkommt.

Der an Einflüssen reiche Sternhimmel, den ich nachts über mir sah, angefüllt mit Schicksalsträgern, war mir danach nicht mehr bloß ein Bild aus leuchtenden Weltbällen, die wie ein leeres Feuerwerkschauspiel flimmern und nur durch ihr Licht ergötzen. Die Nachtbilder der Sterne sehen jetzt immer prächtig ereignisschwanger in mein Fenster, wie die Gesichter einer Menschenmenge, unter denen ich hier und dort Bekannte begrüße, die beeinflussend auf mein Schicksal unbewußt wirken, wie ich auf sie unbewußt wirken muß.

Leben, mit denen man in nächster Nähe, im Gespräch oder in Gedanken, verkehrt, werden einem herzlich vertraut. Und so wurden mir nach dieser Erkenntnis jetzt die Planeten herzlich vertraut. Sie wurden zu Nachbarn meines Lebens, wie jene Vögel mir vertrauter sind, die in meinem Garten nisten, als die, die nur am Himmel vorüberfliegen.

Die Planeten Venus, Jupiter, Mars waren für mich bisher nur Sterne in der Sternmasse gewesen. Sie traten mir aber bei der Betrachtung des nächtlichen Himmels nachbarlich nah, nachdem ich ihren besonderen Einfluß auf die Leben der Erde erfahren hatte. Sie sind Familienmitglieder unserer Erde, sagte ich mir, Glieder unserer Sonnenverwandtschaft.

Jene Möwen in Bohuslän, deren Brutstätte ich besucht hatte, waren mir damals auch von der Stunde an vertrauter geworden, da ich mich in ihr Brutleben vertieft hatte, nachdem ich vom Kapitän und dem Pfarrer an der Möwen Eigenleben erinnert worden war. Und beim Nachdenken darüber, daß ich tölpelhaft gewesen und die Wochenstuben der Möwenmütter gestört hatte, war ich, nachdem ich mich mit den Gewohnheiten jener Vogelwelt bekannt gemacht hatte, mehr zum innerlichen Kameraden jener Möwen geworden, als ich es vorher gewesen. Wohl hatte ich die Möwen vorher schon als Weltallkameraden gefühlt, aber ich war ihnen noch nicht als Lebensnachbar nahegekommen. Und ebenso war es mir jetzt mit den Sternen ergangen.

Damit, daß man sich die Weltzusammengehörigkeit aller Leben im Geiste klar gemacht hat, hat man nur den ersten Schritt zur Erkenntnis des Weltallfestes getan. Der Geist, unsere Weltferne, besitzt aber auch einen erdvertrauten Leib, der uns zur Weltnähe führt, deshalb muß man die neue Weltanschauung nicht bloß geistig, sondern auch körperlich erleben wollen, um zur Weltvertraulichkeit zu gelangen, die dann der geistigen Feststimmung auch die irdische Feststimmung gibt. Denn erst aus beiden Feststimmungen ergibt sich das warme allfestliche Lebensgefühl des Menschen.


Aber nicht bloß vom geistigen Sichvertiefen des nach Lebensergründung strebenden amerikanischen Ehepaares hatte ich in London Gewinn. Auch vom schlichten Alltagsleben, das sie führten, lernte ich neue Lebensart kennen.

Der junge amerikanische Ehemann erleichterte seiner Frau, wo er konnte, das Hauswesen, um sie zu schonen. Da er ihr nicht ein eigenes Haus bieten konnte, war er doppelt sorgsam um sie. Und es war eine Freude zu sehen, wie keine Handreichung, die er ihr tat, ihm erniedrigend vorkam in bezug auf seine männliche Würde.

Sie, die Schwächere zu schonen, war ihm Würde. Wenn er sie glücklich wußte, dann fühlte er sich lebenswürdig und dachte nicht daran, seiner Männlichkeit irgendeine andere Glorie aufzusetzen. Und in der Tat, in der Hingabe zu ihr, in der Sorge um ihr Wohl, bewies er seine Männlichkeit besser, als wenn er sich eigenliebend mit leerer Würde gebrüstet hätte.

An einer Straßenkreuzung des Upper Wooburn-Platzes befand sich ein Markt. Kein Markt im deutschen Sinne. Sondern da waren vier Läden der vier Häuserblocks, die die Straßenkreuzung bildeten. Da waren ein Bäckerladen, ein Fleischerladen, ein Drogenladen, der zugleich Fischhandlung war, und eine Gemüse- und Südfrüchtehandlung. Es gab also da alles zur täglichen Nahrung Nötige.

Der Drogist bot Geflügel und Fische, Marmeladen und sonst hundert eßbare Dinge feil. Die Grünwarenhandlung war reich an Gemüsen aus den Mittelmeergegenden und an Südfrüchten der englischen Kolonien. Der Fleischerladen war appetitlich und zeigte frische Ware auf sauberem Marmor, und der Bäckerladen bot Backwaren und Teegebäck aller Art.

Der junge amerikanische Künstler nahm jeden Morgen eine Handtasche und kaufte alles Nötige für die Mahlzeiten ein, und ich begleitete ihn und staunte über seine Kenntnisse. Die frischesten Gemüsearten, die besten Fleischstücke, die schmackhaftesten Fischarten verstand er im Rohzustande ausgezeichnet auszuwählen. Ich fand diesen Morgenweg immer unterhaltsam und anregend.

Man hörte in der Fischhandlung von den letzten Fischzügen, vom Meersturm, der die Hummernsendung verhindert hatte. Man hörte in der Gemüsehandlung von der Bananenernte, die in diesem Jahr in Ceylon besonders günstig gewesen sei, von den Ananassendungen, die eben aus Westindien eingetroffen waren. Man hörte beim Metzger vom Viehstand und von der Viehzucht in den verschiedenen englischen Provinzen, die London versorgten, und man war während zwanzig Minuten ein bißchen überall in der Welt gewesen.

Wenn wir dann nach Hause kamen und der Amerikaner seine Einkäufe der Köchin der Pension gegeben, und diese die Dinge in die Küche, die im Keller lag, hinuntergetragen hatte, und wenn später zur Frühstückszeit, um zwölf Uhr mittags, und zur englischen Mittagszeit, nach sechs Uhr abends, alle eingekauften Sachen wohlzubereitet von der schmucken Bedienung aufs Zimmer gebracht wurden, dann aß man die Speisen angeregter und belustigter, weil man ihren Ursprungsorten schon beim Einkaufen nahegekommen war.

Nichts zu gering finden, auch in den kleinsten Dingen von Hand zu Hand sich behilflich sein, ohne sich in falsche Würde einwiegen und behaupten zu wollen, dieses war es, was ich nie vorher Gelegenheit hatte, in Deutschland zu beobachten. Und ich lernte in der Nähe der jungverheirateten Amerikaner ein mir neues Tagesleben, denn das Zusammenleben der beiden war innig und edel.

Der junge Mann hatte nie das Bedürfnis, in Kaffeehäusern zu sitzen oder Klubs zu besuchen. Er und seine Frau kannten viele Menschen in London und gingen Sonntags zur Teestunde in verschiedene Häuser, und ein- oder zweimal in der Woche besuchten sie den okkultistischen Geheimbund, dem sie angehörten. Die Hälfte des Tages oder ganze Tage verbrachten sie im Lesesaal der britischen Sammlungen, da sie nach London gekommen waren, um sich geistig zu vertiefen. Später wollten sie dann wieder nach Paris zu ihrer Atelierarbeit zurückzukehren.

Durch einen Bekannten, der ein Haus in Kensington besaß, konnte ich auch eine Einlaßkarte in den britischen Lesesaal erhalten. Denn man darf nur, wenn man die Unterschrift eines londoner Hausbesitzers vorzeigen kann, auf Genehmigung eines Einlaßgesuches rechnen.

Dort im größten Lesesaal der Welt sah ich zum erstenmal die mächtigen großen Bände in der Urschrift, die Albrecht Dürer — der Okkultist gewesen — über Menschenkörpermaße mit Bild und Text verfaßt hat. Auch sah ich die großen Mappen Leonardo da Vincis, seine Urschriften über Festungsbaukunst, Entwürfe für seine Belagerungsmaschinen und die ersten Skizzen für sein Meisterwerk „Mona Lisa“, seltene Kunstdinge, die ich später nicht wieder Gelegenheit hatte zu genießen. Der junge amerikanische Bildhauer studierte jene Albrecht Dürerschen Bücher, und ich übersetzte ihm die deutschen Texte ins Englische.

Auch die Bände des englischen Geisterdichters Blake, der um 1810 gelebt hat, fesselten mich sehr. — Die Okkultisten behaupten, es sei nachweisbar, daß alle die großen Meister der Italiener, ebenso die Meister des mittelalterlichen Deutschlands, die Maler und auch Goethe, viele Zeit ihres Lebens dem Studium der Kabbala gewidmet haben. Deshalb seien dieser Männer Werke von so bleibender Schönheit, weil sie nicht bloß äußeren Sinnenreiz bieten wollen, sondern weil sie auch die Geheimwelt der Urweisheit, deren Schlüssel in der Kabbala liegt, erfaßt haben.

Der englische Dichter und Maler Blake, der die Kabbalaweisheit gründlich studierte, hat absonderliche Gedichtbände gedichtet, die voller Geisternamen wimmeln. In seinen Werken, die dickbändiger als die Bibel sind, hat er eigentümlicherweise über jede Zeile, die er schrieb, Bilder dessen, was jede Zeile in Worten erzählt, gezeichnet: fliegende Geister auf Wolken, Sternen, Planeten, halb Tier-, halb Menschenungeheuer. Die Seiten seiner Bücher sehen deshalb sehr fremdartig aus, da jeder Gedanke nicht bloß in Wortzeilen, sondern auch in Zeilenbildern dargestellt ist.

Ich hatte früher von dem Kabbalawissen reden hören, ähnlich wie von der Astrologie, als von etwas Krausem, Unvernünftigem. Ich erfuhr aber, daß dieses Wissen so wohlbegründet ist, wie die Astrologie es ist, die jedem einzelnen notwendig oder unnotwendig erscheinen kann, so wie das Wettervoraussagen.

Das Kabbalawissen dringt in die Tiefe und in den mächtigen geistigen Erfahrungsgehalt ein, der aufgespeichert wurde von starken Gehirnen aller Jahrhunderte, von Gehirnen, die über das Alltagsleben hinaus Weltergründungen gesucht haben, wie es Salomon getan und die arabischen Mathematiker und die indischen Brahmanen, wie der Kult der Griechen in Delphi und der Isiskult der Ägypter.

Doch diese Ergründungen, wenn sie auch fern vom Wirklichkeitssinn der heutigen Wissenschaft zu liegen scheinen, sind einst mit nicht minder hohem Wirklichkeitssinn erforscht und zusammengetragen worden.

Ein Mensch, der sich abends zu Bett legt, weil er am Tage Geld verdient hat und müde wurde, und der dann fest schläft und morgens wieder aufsteht und wieder Geld verdient und abends wieder einschläft — er würde zum Beispiel nie beobachten können, daß die Sternstellungen sich nachts verändern. Und so werden ihm viele tausend andere Beobachtungen entgehen, die ihm nicht zufällig auf dem Weg seines Geldverdienens begegnen und sich ihm aufdrängen.

Deshalb aber darf dieser Mensch doch nicht behaupten wollen, weil er tausend Beobachtungen nicht selbst erlebte, die es außerhalb seines Berufsweges gibt, und die von anderen beobachtet werden können, welche sich das Weltergründen und Weltbeobachten zum Beruf gemacht haben, daß diese Dinge, die er nicht gesehen hat, überhaupt nicht bestehen.

Es wäre wohl ein Unsinn, zu behaupten, daß es keine Sterne gibt, weil einer, welcher mit den Hühnern schlafen ginge, niemals den Sternhimmel gesehen hätte.

Und so darf auch ein kluger Mensch und ein Mensch, der sich Schöpfer und Geschöpf zu gleicher Zeit fühlt, nicht blindlings nur auf sein Gegenwartsleben pochen, sondern er muß auch die Werte der Vergangenheit beobachten. Die Geheimwerte, die fremde Völker, fremde Jahrhunderte ergründeten, müssen auch bei jedem klugen Geiste Beachtung und Aufnahme finden. So wie wir die Taten der Geschichte würdigen, müssen wir auch die Gedanken der okkultistischen Überlieferungen würdigen lernen, die nichts anderes sind als die Geschichtsereignisse des Denkens, Werte aus der Geschichte stiller, geheimer Beobachtungen, aus der Geschichte jener geheimen Wirklichkeiten, die scheinbar im Unwirklichen liegen und immer wiederkehren und immer weiterleben.

Ich meine natürlich nicht, daß jedermann sich in den Okkultismus vertiefen kann. Aber diejenigen, die sich zum Geistesadel der Nation zählen wollen, sollten doch, ehe sie rasche Urteile fällen, für die sie keine Vorkenntnisse haben, erst selbst den alten Überlieferungen nachdenken, ehe sie tiefste Natürlichkeiten für unsinnige Unnatürlichkeiten ausgeben.

Wie weit diese Geheimlehren nützlich sind und anwendbar aufs heutige Leben, dieses soll jeder sich selbst beantworten. Wer die Astrologie zu Rate ziehen will, dem sollte das unbeirrt und unbelacht freistehen. Dann erst ist unsere Zeit, die sich so gern die aufgeklärte nennt, wirklich würdig, aufgeklärt genannt zu werden, wenn sie durch keinen Spott mehr die Wege verstellt, die der jahrhundertalte Menschengeist gegangen ist.


Bei allen Gesprächen über Mystik, die ich mit den beiden Amerikanern pflegte und nach dem Tagesstudium im Lesesaal der britischen Sammlungen, fühlte ich mich doch oft recht einsam. Und das Glockenspiel einer Kirche, die in der Upper Wooburn Straße in jeder Stunde dieselbe Melodie anschlug und abspielte, kam oft süßlich und fad in mein stilles Zimmer und war wie in meinem Mund der langweilige Geschmack des Oatmealbreis, den ich morgens zu meinem Tee aß.

Ich sehnte mich sehr nach deutschem Wort und deutscher Laune, als mir eines Tages das Dienstmädchen bei meiner Heimkunft vom Lesesaal eine Visitenkarte reichte und sagte, der Herr, der die Karte abgegeben, wünschte, daß ich ihn besuche. Dieser Besucher war der deutsche Dichter Frank Wedekind.

Von Frank Wedekind waren damals erst nur wenige Werke erschienen. Ich hatte in München zwei Jahre vorher sein Drama „Frühlingserwachen“ gelesen. Die Schilderung einer grausigen Tragik, die heranreifende Kinder in Schule und Haus von törichten Lehrern und kaltblütigen Eltern erdulden müssen, hatte mich sehr erschüttert. Wedekind selbst kannte ich noch nicht. Als ich ihm dann meinen Gegenbesuch machte, sagte er mir, er habe meine londoner Adresse durch Otto Julius Bierbaum aus Berlin erhalten, die dieser wieder von Richard Dehmel erfahren hatte.

Wedekind und ich trafen uns danach öfters im Piccadillyhaus, das damals das einzige Kaffeehaus in London war, da es sonst nur Stehschenken, Tee- und Likörstuben gab.

Wedekind war eben nach einem längeren pariser Aufenthalt nach London gekommen. Seine Launen, so schien es mir, schwankten zwischen Weltbegeisterung und Weltverachtung.

Wenn ich aus den britischen Sammlungen kam oder von den neuidealistischen Gesprächen der beiden Amerikaner und Wedekind traf, war das ein seltsamer Gegensatz. Nachts in der Unionschenke, wo er zu finden war, bekam man nur Einlaß, wenn man in einer bestimmten Weise auf die Tür klopfte. Von außen war diese Schenke ein lichtloses Haus, und innen fand man in einem langen Gastraum eine sehr gemischte Kundschaft, Zirkus- und Varietékünstler, und Wedekind bei einem Toddy. Wenn er mir dann von seinen pariser Erlebnissen erzählte, indessen manches Mal neben uns eine Zirkustänzerin übermütig auf den Tisch sprang und unter dem Hallo der Gäste Cancan tanzte, dann war mir, als sei ich vor ein lebendes höllenbreuglsches Bild geraten.

Die Hölle hier war eigentlich harmlos. Aber der Gegensatz zwischen der nächtlichen Umgebung und meinen amerikanischen Freunden am Upper Wooburn Platz war kraß genug. Und ich, der ich bald ein Jahr lang in Skandinavien nur stummes Meer und stumme Steinwelt gewöhnt gewesen, war etwas verwundert über den überraschenden Szenenwechsel.


Der Frühling kam. Man merkte ihn aber in der Weltstadt nur erst an den Schaufenstern und an den Kunstausstellungen und an den über Nacht von den Gärtnern hingezauberten Tulpenbeeten im Regentpark und Hydepark. Jene Großgärten besuchte ich manchmal an den Konzerttagen, als eben die londoner Geselligkeitszeit eröffnet wurde. —

James hatte mich auf einen englischen Dichterkreis aufmerksam gemacht, der sich um den mir damals unbekannten Dichter Oscar Wilde versammelte. Der Amerikaner erzählte mir, Oscar Wilde hielte täglich zur Teestunde Empfänge ab in einem vornehmen Ausschank der Hydeparkstraße. Dieser Dichter habe in diesem Frühjahr die Mode der grünen Rose aufgebracht und trüge immer eine solche im Knopfloch. Der Amerikaner selbst kannte ihn nicht.

Aber da ich nichts von Oscar Wildes Dichtungen wußte, dachte ich nicht daran, ihn aufzusuchen, auch nicht, als ich im britischen Lesesaal Wildes „Salome“ gelesen hatte, die mir wie eine lüsterne Entwürdigung der alten guten Bibellegende vorkam. —

Ehe die Frühlingstage kamen, gab es noch ein paar schwere finstere Nebeltage, wobei der londoner Nebel wie ein dicker gelber Qualm die Mittage zur Nacht machte und in mir starke Sehnsucht nach Deutschland erweckte.

In diesen Nebeltagen stellte mir das amerikanische Ehepaar den irländischen Dichter Yeats vor, der damals in London lebte und der, wie sie, jenem Geheimbund angehörte. Auch dieser Mann hatte Verlangen nach neuen Idealen.

Yeats glaubte fest an verschiedene Geisterreiche zwischen Himmel und Erde, an Himmelsabteilungen, die von verschiedenen Geistergrößen bewohnt seien. Ähnlich, wie der Dichter Blake sie in seinen Dichtungen und Bildern dargestellt hatte. Yeats sagte mir: so wie es auf der Erde Könige, Beamten, Kaufleute und Tagelöhner gibt, so gibt es auch unter den unmittelbaren Kräften, unter den Astralleibern, die ihre Körper nach dem Tod verlassen haben, Rangordnungen. Und die verschiedenen Geister, die in verschiedenen Körpern gewohnt haben, werden nicht plötzlich ein und derselbe Geist, sondern sind nach dem Tode ebenfalls in verschiedene Rangordnungen eingeteilt.

Es gibt in den Geisterreichen, sagte Yeats, Kraftunterschiede so gut wie in den Körperreichen. Er meinte, er habe das sichere Gefühl, daß die Geister seiner alten irischen Heimatgötter, die vor dem Christentum hatten zurückweichen müssen, noch in der Luft über Irland lebten und zurückgerufen werden könnten. Im irischen Landvolk lebten noch viele der alten Lieder und Sagen und wurden in den Winternächten vor den Feuern der Kamine vielfach erzählt und gesungen. Und Yeats hatte sich mit einem anderen irischen Dichter verabredet, sie wollten als Landsleute gekleidet von Dorf zu Dorf ziehen und den Glauben an die alten irischen Götter wieder erwecken, indem sie die irischen Heldengeschichten und die Götterlehren den Bauern erzählten. —

Im Drury Lane Theater in London wurde in derselben Zeit ein Yeatssches Stück gespielt, zu dessen Erstaufführung der Dichter das amerikanische Ehepaar und mich eingeladen hatte. Ich erinnere noch, daß das Stück die ganze literarische Welt von London anzog, und daß Aubrey Beardsley, der damals bekannt gewordene englische Maler, der eben sein „Yellow Book“ herausgegeben, den Theaterzettel gezeichnet hatte, und daß also das Stück ein künstlerisches Jahresereignis war.

Ich verstand aber von dem Schauspiel nichts und schrieb es der Frühlingsluft zu, daß meine Augen, während auf der Bühne gespielt wurde, zufielen. Ich sehe nur noch in der Erinnerung eine Dame vor einem großen Kaminfeuer in einem dunklen Gemach und hinter ihr ein mondscheinblaues Fenster. Was die Dame mit Geistern und lebenden Menschen sprach, kam aber nicht zu meinem Bewußtsein.

Als ich wieder aufwachte, wurde geklatscht. Vorher, ehe wir zu jener Vormittagsaufführung ins Theater gegangen waren, hatte die Sonne geschienen, und wir hatten einen Kreis der Yeatsschen Bekannten in einer Frühstückstube neben dem Theater getroffen, wo vom „Yellow Book“ Aubrey Beardsleys das erste Exemplar herumgereicht worden war.

Dann nach dem Theater war es grauheller Spätnachmittag draußen auf der Straße. Aus Frühlingswolken fiel Frühlingsregen, der mit lauwarmem Wasser über das londoner Pflaster lief.

Der Geist dieses eintönigen Frühlingsregens war neben mir in der Loge gesessen und hatte mich eingeschläfert. Ich schämte mich ein wenig, als der lange, blaßgesichtige, schwarzhaarige, irische Dichter uns fragte, wie uns sein Stück gefallen habe. Ich wußte ihm nichts zu antworten. Als wir dann zu Hause im schlichten Zimmer der Amerikaner am Kamin saßen und auf das Kochen des Teewassers warteten, fingen wir wieder an von den Geistern zu sprechen.

Hatte mich schon der Nebel herzschwach gemacht, der sich plötzlich unerwartet wie ein dunkler Knebel ins Fenster steckte und mir den Atem beklemmte, so taten dies der Frühling und die Gespenstergespräche noch viel mehr. Und ich sehnte mich fort nach Deutschland, heftiger und heftiger. Ein paar kleine Zufälle trieben mich dann ganz plötzlich zur Abreise.

Eines Nachmittags war ich im Hydepark. Ich saß auf einem der Pfennigstühle am Rotten Row; viele Zuschauer hatten sich beim Nachmittagskorso niedergelassen. Leichte Landauer und schwere Kutschen, gelenkt von schmucken Herrn oder Damen, und bespannt mit rassigen Pferden, zogen ununterbrochen, als wäre ein allgemeines Wettrennen, vorüber.

Ich hatte eine Zeitung gelesen und sah auf und bemerkte ein sehr hübsches Gefährt aus hellem Holz, dessen lebhafte Pferde von einer jungen, sehr schönen Dame geführt wurden, die neben ihrem Stallburschen auf hohem Kutscherbock saß. Dame, Wagen und Pferde schienen zusammengehörig wie ein Geiger und seine Geige. Blitzend jagte das schöne Bild an mir vorbei. Ich bedauerte, daß es so schnell verschwunden war, und daß ich die Dame nicht nochmals sehen konnte.

Da höre ich ein Knattern, ein unheimliches Rasseln. Zugleich springen alle Leute, die neben mir sitzen, auf und steigen auf ihre Stühle, um über die Köpfe der Menschenmenge fortsehen zu können. Einen Augenblick schauten alle gespannt nach einer Richtung. Ich konnte mich nicht vor- und nicht rückwärtsbewegen, so schnell hatte sich eine Menschenmauer gebildet. Aber an den Gesichtern der Kutscher, die an der entgegengesetzten Seite des Rotten Rows in langen Reihen anhielten, sah ich, daß sich etwas sehr Schlimmes ereignet haben mußte.

Da eilte auch schon durch die Menschenmenge von Mund zu Mund das Gerücht: ein Wagen sei an einem Prellstein aufgestoßen und umgestürzt. Die Dame, die gelenkt hatte, sei auf die Steine geschleudert worden. Und einige Minuten später wandten sich bleiche Gesichter um, und einer sagte es dem anderen knapp und bestimmt: „Die junge Dame und ihr Diener sind tot!“

Allmählich wurde ich vom Menschenstrom nach jener Stelle gedrängt. Man hatte die Leichen der Dame und des Stallburschen bereits fortgefahren. Die Pferde an dem zertrümmerten Wagen wurden eben ausgespannt und fortgeführt. Die schönen Tiere zitterten noch und waren in ihrer Erregung kaum zu bändigen. Das dünne, leichte Gefährt aber lag zersplittert wie ein Spielzeug bei den Prellsteinen. Dann wurden die Trümmer rasch fortgeschafft und die Wagenreihen, die von den Polizisten zurückgehalten worden waren, bewegten sich wieder mit ihren tänzelnden Pferden festlich heran, und das Wagenschauspiel glitt von neuem aufglänzend an mir vorüber und über die Unglücksstelle fort.

Ahnungslose Damen grüßten und nickten sich aus den Wageninnern zu und wußten nicht, daß soeben eine aus ihren Reihen verschwunden war wie eine Geistererscheinung. Und ich fragte mich: welcher Unterschied ist da zwischen Geistern und Wirklichkeit? Sind wir nicht alle ein unwirklicher Spuk, da wir so schnell kommen und so schnell verschwinden können? Warum soll einem dann die Geisterwelt nicht glaubwürdig sein? Unser Erdenleben selbst ist doch nur eine flüchtige Geisterwelt!

Und ich wurde sehnsüchtig, Ruhe zu finden von dem vielen Erleben und vor den vielen Gedanken, die mir hier mein Leben zu denken aufgab. —

Dann kam ein Sonntag, an dem die beiden Amerikaner und ich bei einer englischen Dame zum Frühstück geladen waren. Dieselbe wohnte weit von uns in einem der entferntesten londoner Stadtteile. Wir sollten nur bei schönem Wetter dorthin kommen, damit wir dann auch den kleinen Hausgarten genießen könnten. Es war aber leicht nebelig am Upper Wooburn Platz und es regnete auch ein wenig. Wir zögerten deshalb, auszugehen. Dann aber entschlossen wir uns doch und gingen.

Groß war unser Erstaunen, als wir nach einigen Untergrundhaltestellen aus der Erde ans Tageslicht stiegen, blauen Himmel fanden und bei jener Dame hören mußten, daß es in ihrem Stadtteil den ganzen Vormittag über schönes Wetter gewesen wäre und es dort keinen Tropfen geregnet habe.

London ist also so groß, daß jedes Ende ein anderes Wetter haben kann, sagten wir uns lachend. Und das Frühlingswetter jenes Stadtteils tat es mir an. Ich kehrte nur in unser graues Viertel zurück, um bald darauf meinen Koffer zu packen und dem grauen London und den amerikanischen Freunden Lebewohl zu sagen.

Dann reiste ich über Harwich und Hook of Holland nach Deutschland und vorerst nach Berlin.

Es war der erste Juni, als ich durch Holland fuhr, wo die Kornfelder schon hoch standen. Hie und da sah man kleine Segel über den Halmspitzen auftauchen. Das sah seltsam aus, Segelboote im Korn! Die Kanäle lagen von den Ähren verdeckt, und die Schiffe kamen lautlos mit den weißen Segeln über den noch grünen Halmen daher.

Am liebsten wäre ich aus dem Eisenbahnzug ausgestiegen und hätte mich hier an den Rand eines Kornfeldes gesetzt und in die rundgeballten silbersonnigen Wolken gestarrt, die über dem flachen Holland lebhafter wirken als irgendwo. Und ich hätte gern den Sommer hier verträumt und den Segelbooten nachgesehen. Denn ich war sehr stadtmüde. Die vielen Gespräche der letzten Monate und das künstliche Gedankenleben im britischen Lesesaal und am Kamin der Amerikaner hatten mich naturhungrig gemacht.

Und seit ich das junge amerikanische Künstlerehepaar bescheiden und doch glücklich auf ihrem Pensionszimmer hatte hausen sehen, war der Drang und die Sehnsucht, ein Mädchen zu finden, mit dem zusammen ich den Frühling hätte jetzt genießen können, den Sommer, den Herbst, den Winter, — so stark in mir geworden, daß mich das leere Ansehen der Landschaft ungeduldig machte und mir jeder Tag qualvoll vorkam, der mich so ziellos der Weltbetrachtung preisgab, statt der Weltumarmung. Und ich sehnte mich nach Weltwärme und sehnte mich nach der Nähe einer geliebten Frau.

Ich hatte den Wunsch, mich verheiraten zu wollen, in London einmal zu den Amerikanern ausgesprochen, und sie hatten mir geantwortet: „Wer stark wünscht, zieht durch Wünsche die Wirklichkeit herbei. Aber,“ fügten sie hinzu, „Sie müssen sich ununterbrochen Ihren Wunsch klar machen und ihn immer wieder wünschen. Dann gestalten Sie sich damit die Zukunft, und Sie werden den Weg zu der Frau ganz von selbst finden, zu der Frau, die Sie lieben. Denn diese ist ja bereits geboren und geht irgendwo auf der Erde herum, unbewußt sehnsüchtig nach Ihnen, so wie Sie sich unbewußt nach ihr sehnen. Richten Sie Ihr ganzes Denken auf Ihren Wunsch, und Sie müssen jener Frau bald begegnen.“

Und die beiden guten Menschen bedauerten lebhaft, daß mir gar nicht anders zu helfen wäre als durch Geduld und starkes Wünschen. Und sie wollten mit mir wünschen, daß ich recht bald glücklich werden sollte.

Aber es ging auch in meinen Ohren immer die Rede mancher anderen Menschen um: „Ein Dichter soll frei bleiben. Ein Dichter soll sich an keine Frau binden. Der Dichter gehört der Welt, und er zerstört sich als Dichter, wenn er einen Hausstand gründet.“

Diese Aussprüche erregten in mir manchen Zweifel gegen mein Wünschen. Und die Zweifel, ob ein Dichter glücklich werden würde, wenn er eine Frau fürs Leben an sich gebunden hat, bedrängten mich in jenem Frühjahr, nachdem ich von London in Berlin angekommen war, so stark, daß die Zweifel kräftiger wurden und mit dem Herzenswunsch täglich zu ringen begannen. Und aus diesem Ringen zwischen Liebessehnsucht und Zweifel entstand in jenen Monaten ein kleines Versdrama „Sun“, das ich in Berlin schrieb.

Eindrücke, die ich noch von Bohuslän in mir trug, und die Seereise nach England mit dem Blick auf die Fischerboote bei der Mündung der Themse verdichteten sich zu einem Seebild. Und ich wollte in dem Drama Menschen schildern aus dem Anfang der christlichen Zeit, da Christentum und Heidentum noch im Volksgeist schwankend lebten.

Ich verlegte die Handlung an einen See in ein Pfahlbaudorf. Der junge Fischer, den ich „Sun“ nannte — der Name ist das englische Wort für Sonne —, war ich selbst, und ich verkleidete mich in die Vorstellung, ein Skalde, ein Volkssänger, in jenem Pfahlbaudorf zu sein.

Die Brüder hassen Sun, weil sie glauben, daß er ein Zauberer sei. Sie sagen, er könne den See, die Fische und das Wasser behexen. Denn Sun spricht mit allen Dingen. Auch nachts, wenn er im Mond auf der Altane des Pfahlbaues sitzt, spricht er mit dem Mond, mit den Wellen und mit den Mondschatten. Und am Tag neigt er sich zu den Gräsern und spricht mit dem Grase, spricht mit dem Holunderbaum, spricht mit der Morgensonne. Und wenn er draußen im Boot liegt, über den Bootsrand gebeugt, fängt er keine Fische wie die anderen Leute, aber er spricht mit den Fischen und mit den Wasserpflanzen.

Man sagte, er lege sich auch oft ins Boot zurück und spräche mit den Wolken und berede den Wind. Aber es sind nicht Reden, wie sie andere sprechen, die er da hält. Er summt und singt, als wäre er der Herr aller Dinge oder, als gehöre er mit allen Dingen zusammen. Lautlos kann er stundenlang so still liegen. Dann hört er allen Dingen zu und hört alles, behaupten seine Brüder.

Und seine Brüder beredeten den Mönch, der mit anderen Mönchen vor Jahren an den See gekommen war und das Pfahlbaudorf bereits bekehrt hatte, er, der Christenpriester solle Sun aus seiner Sippe austreiben. Damit der Zauberer nicht die Fischzüge störe und das Wetter nicht nach Belieben bestimme.

Aber in der Zeit, da die Brüder fortgegangen waren, um den Mönch zu holen und die Sippe, schlich sich in Suns Haus die junge Tochter eines anderen Pfahlbauers. Und sie traf den Skalden, der heimgekommen war vom See, und sie verstand plötzlich, geweiht von ihrer Liebe zu ihm, den Holunderbaum, der im Abend sang, und die Wellen und die Sonnenlichter. Aller Dinge Sprache verstand sie vom Augenblick an, als der junge Skalde seinen Arm um sie legte und sie an sich zog. Denn Sun liebte das Mädchen seit langem.

Sie aber war gekommen, um ihn vor seinen Brüdern zu warnen. Sie sagte ihm, während heute die Hagelwolke über den See niedergeprasselt sei und er ungestört auf dem See im Kahn weitergesungen habe, ohne sich von Hagel und Sturm stören zu lassen, hätten seine Brüder ihn laut für einen Zauberer erklärt. Denn die Brüder seien von Haß und Neid erfüllt über seine Friedlichkeit und Ruhe.

Sie hätten jetzt die Sippe aufgestachelt und waren fortgegangen, um den Mönch zu holen, der das Zauberwesen aus Sun austreiben sollte. Und wenn Sun nicht die Zauberei aufgeben wolle, sagten sie, würde ihn die Sippe hinaus in den Urwald zu den wilden Tieren jagen, und er dürfe nicht mehr unter christlichen Menschen wohnen. Das Mädchen bangte sehr für Suns Leben.

Während sie noch zu dem Geliebten so sprach, ging die Sonne vor dem Hause unter, und eine Amsel sang. Und der junge Skalde lächelte nur und sagte ihr, er fürchte seine Brüder nicht. Er treibe kein Zauberwesen.

Sie aber, die er umarmt hielt, und die in ihrer Liebe jetzt die Abendröte ins Haus hereinsingen hörte, und die das Lied der Amsel nicht bloß als einen Ruf, sondern in Suns Nähe als ein Liebeslied verstand, begriff, daß der junge Skalde kein Zauberer war. Sie sah, daß er friedlich und festlich zu horchen verstand, und daß alle Dinge friedlich und festlich sangen, weil er sie ungestört singen ließ, wie es seine lärmenden Brüder nicht verstanden.

Als es rasch dunkel geworden war und die Ängstliche nochmals den Geliebten überreden wollte, daß er freiwillig fliehen sollte, damit ihm der Mönch und die Brüder und die Sippe nichts Böses tun sollten, Sun sich aber furchtlos weigerte und den herangehenden Leuten entgegenging, blieb das Mädchen in seiner Nähe, um zu sehen, ob man ihm etwas antun könne.

Mit Fackelbränden in den Händen kam das Volk im Abend heran und in ihrer Mitte der Mönch. Der hob ein Holzkreuz in seiner rechten Hand auf und trat vor den jungen Skalden hin und forderte Sun auf, er solle ihm die bösen Geister nennen, mit denen er bei Tag und Nacht, im Mond, im Sonnenschein und im Sturm Zwiesprache führe. Denn man wisse, sagte der Mönch, Sun spräche mit der Luft und mit dem Wasser, mit der Sonne und mit den Bäumen, mit lauter unvernünftigen und toten Dingen, die ihm doch nicht antworten können. Es müßten also Geister sein, die er aus dem Nichts zu beschwören verstünde. Aber der Gottesgeist dulde keine Götter neben sich, und er, der Gottespriester, müsse die unsauberen Geister aus Sun austreiben.

Das ganze Volk aber stand schweigend und nickte zu der Rede des Mönches und wartete darauf, daß der junge Skalde sich nun öffentlich erklären und sein geheimnisvolles Tun verantworten sollte.

Der junge Skalde sah friedlich lächelnd, still und ernst in alle Gesichter der Leute, die ihn da alle aus Unverstand haßten. Und Sun sagte zum Mönch einfach, daß er den Holunderbaum und die Wellen des Sees und den Wind und die Wolken und die Sonne singen höre, und daß er auch allem Leben Lieder zusinge, denn sein Herz sei glücklich und festlich. Und wie könne man das Lied der Blüte und das Lied einer Welle und das Lied einer Amsel als bösen Geist ansehen, da aller Leben Sprache doch Lebensfreude sei, die er überall höre und die wohltuend und glücklichmachend wäre. Und er sagte noch, er antworte den Lebensgeistern der Dinge in Liedern, die sein Herz ihm vorsingt. Und er trage nichts Böses gegen die Sippe im Herzen und nichts gegen den Mönch.

Da fuhr der Christenpriester wütend auf und schrie, der junge Skalde wäre bereits so besessen von bösen Geistern, daß er nicht mehr die bösen Geister von den guten unterscheiden könne. Denn nur Dämonen wohnten in den toten Dingen der Natur. Und wenn der Skalde nicht versprechen könne, die Zaubergespräche beim Hause und auf dem See einzustellen, dann müsse er die Sippe verlassen und würde aus dem Dorf zu den bösen Geistern des Waldes gejagt.

Da sagte Sun zu dem Mönch, daß er das Singen niemals unterlassen könne. Daß er die Leben, die da um ihn leben, singen höre, und er es nie lassen könne, die Lieder zu singen, die ihm von seinem Herzen eingegeben würden.

Nachdem der junge Sun so gesprochen, richtete er sich auf und schritt aus der Hütte und band sein Boot von dem Altan los und ruderte auf den See in die Nacht hinaus. Der Mönch und das Volk verstanden nun, daß Sun sie freiwillig und für immer verlassen hatte.

Und wie die Leute noch staunten und Suns Ruderschlägen nachhorchten, die draußen in der Nacht vom See hereinhallten, da sprang aus der dunklen Herdecke ein junges Mädchen hervor. Das drängte sich zwischen den Leuten durch und sprang aus der Hütte. Und alles Volk rief den Namen des Mädchens. Und die Leute schrien auf, weil das Mädchen in den See gesprungen war und nun dem fortrudernden jungen Manne nachschwamm.

Aber der Vater des Mädchens stürzte aufgeregt auf den Altan hinaus und rief zornig seine Tochter zurück. Doch nur das Echo der Berge antwortete ihren Namen. Das Mädchen kehrte nicht um und folgte dem Ausgestoßenen. Da hob der Vater beide Fäuste in die Luft und verfluchte sein Kind und schleuderte hinter den Fliehenden her laut Fluch um Fluch durch die Nacht.

Der Schauplatz des zweiten Teiles des Dramas ist dann ein Platz im Urwald, in derselben Sommernacht. Im Wald leuchten ein paar verfaulte Riesenstämme phosphorfarben, und Scharen von Leuchtkäfern ziehen durch die dunklen Büsche. Ein wenig Mond scheint durch die Baumwipfel, und Sun und das Mädchen tasten flüchtend vorwärts. Das Mädchen ist scheu geworden im unheimlichen Dunkel des Waldes, und als Sun auf eine Eiche steigt, um beim Mondschein über den Wald fortzusehen und zu erfahren, ob sie verfolgt werden, steht es zitternd und angstvoll bei der Wurzel des Baumes. Der junge Mann, als er keine Verfolger sieht, deutet oben in der Eiche auf die Sterne und auf den Mond und fragt hinunter, ob seine Geliebte den Gesang der Sterne höre und das Lied der Mondnacht.

Das Mädchen aber hört in seinen Ohren nur die wilden und drohenden Flüche, die sein Vater ihr nachgeschleudert, und es hört im Walde überall die Stimme seines Vaters. Als Sun von der Eiche steigt und den Arm um die Geliebte legen will und sie zu sich ins Moos ziehen will, da wehrt sich diese und flieht einige Schritte von ihm fort. Sie glaubt ihren Vater hinter jedem Busch zu hören, überall ist sein Fluchen.

Da überredet Sun die Furchtsame nicht länger, und er sagt nur, sie solle sich bei der Birke niedersetzen. Er wolle dann, einige Schritte von ihr entfernt, sich niederlegen, und er wolle ihr erzählen, damit sie sich nicht mehr fürchte.

Das Mädchen aber hört immer deutlicher die Flüche und des Vaters Stimme. Es wird immer unruhiger, und immer mehr Zweifel tauchen in ihm auf, ob Sun nicht doch ein Zauberer sei. Und als sich die Zweifel in ihm immer mehren, hört es des Vaters Stimme lauter und verdammender und hört dazwischen des Mönches Stimme aus allen Büschen. Angstgepeinigt springt die Erschrockene auf und stürzt, den Skalden verdammend, zurück auf dem Weg den sie gekommen, zurück zu den andern.

Sun aber glaubt nicht gleich an die Flucht des Mädchens. Doch als er am Morgen den Platz leer findet und das Gras noch warm findet, wo die Geliebte vorher geruht, ruft er und ruft. Aber er scheucht nur das Wild im Walde auf. Als sein Herz dann bitter klagt, taucht die rote Scheibe der Morgensonne in der Ferne bei den Wurzeln der Eichen auf, und der Gesang der Morgensonne und der Gesang der Amsel versuchen Sun zu trösten.

Er horcht und wird ernst und stark, und die Eichenstämme im Morgenwind singen, und Sun gehorcht den Eichen und macht sich hart wie ihre Stämme. Dann singt er vor sich hin, daß er die Eichen verstanden habe, daß er, der Skalde, ewig einsam sein müsse, einsam wie die Eichen im Urwald. Und er geht aufrecht weiter in den Urwald und kehrt nicht mehr zu seiner Sippe zurück. —

Dieses Drama dachte ich mir mit Musikbegleitung gespielt.

Nachdem ich es in Berlin niedergeschrieben hatte und dann zu einem kurzen Besuch zu meinem Vater nach Würzburg gereist war, kam ich mir in der Heimat unverstanden, wie Sun im Pfahlbaudorf vor. Und ich sehnte mich wieder heftig von den Menschen fort, da ich nicht wußte, wo ich das Mädchen finden sollte, das ich mir vorstellte. Ich sehnte mich wieder nach der Urwelt Schwedens zurück, wo mir die Natur, die unberührte, mit ihren Wäldern wohlgetan, wo keine Forstzählung den Wald kleinlich und zum Holzgeschäft machte, wo die Welt ursprünglich und herzlich war, so daß ich mich an ihr vergessen konnte. Während ich unter vielen Menschen meine Einsamkeit immer an mir nagen fühlte.

Der junge Schwede, der sich in Stockholm befand, schrieb mir, daß er auf Dalarö bei Stockholm einen schönen Sommeraufenthalt wisse. Dorthin reiste ich dann und wohnte auf einem Hof, der tief im Walde lag, und dort schrieb ich einige der Landschaftsgedichte, die sich in meinem kleinen Band „Reliquien“, meinem ersten Gedichtbuch, finden. Das Buch ließ ich bei meinem späteren Aufenthalt in Mexiko drucken, und noch später, im Jahre 1900, kam es dann durch einen deutschen Verlag in Neudruck an die breitere Öffentlichkeit.

Ich sollte unbeirrt wünschen, hatten die Amerikaner gesagt, und würde dadurch in die Nähe des Mädchens kommen, das für mich geboren an irgendeinem Fleck der Welt lebte. Ich wünschte heftig. Und es hat dieser Wunsch, der unbewußt hinter allen meinen Wünschen stand, mich in jenem Sommer nach Schweden geführt, wo ich im selben Herbst die Bekanntschaft jenes Mädchens machte, die dann meine Lebensgefährtin wurde und es heute noch ist. Und viel später, als ich die Amerikaner in Paris wiedersah und ihnen dann meine Frau vorstellte, erinnerten sie mich oft an die Stunden in London, da ich ihnen geklagt hatte — wenn ich sie beide glücklich sah —, daß ich doch bald die Frau finden möchte, die für mich bereits an irgendeinem Ende der Erde lebte und wartete.

Und nie hätte ich damals in London glauben können, daß einige Monate später der Wunsch schon die Erfüllung finden sollte.


Mein Leben an der schwedischen Ostküste in diesem Sommer 1894, auf einem Hof in den Wäldern auf der Insel Dalarö, war durchaus nicht eigenartig und reizvoll, nicht mächtig und nicht erschütternd, nicht so, wie ich es im Granitland Bohuslän gefunden hatte. Wenn man diese beiden schwedischen Küsten miteinander vergleicht, drücken sich ihre Landschaftsunterschiede am besten mit den Worten aus: die Westküste zeigt eine männliche Haltung, schroff, unerbittlich, trotzig. Die Ostküste Schwedens dagegen wirkt weiblich, mit sanften Stränden, mit ebenen großen Waldungen, mit Wiesen und vielen sanften bewaldeten Inseln.

Meist grünen dort Tannen und Birken, dazwischen hier und da starke Eichen. Auch viele Steinblöcke sind in den Wäldern verstreut, aber nicht vergleichbar mit dem Granitpanzer Bohusläns. Das Meer ist an der schwedischen Ostküste schmeichelnder. Es hat den schwachen Wellenschlag eines Sackgassenmeeres. Es wirkt gezähmt und hat nichts von dem titanenhaften Fluten, von den frischen, schaffenden und vernichtenden Kräften, die das Meer im Skagerak beleben. Die Ostküste ist ein Land der Gutsbesitzer, und statt der Fische im Meer sind es dort die Kühe auf den Wiesen, die den Menschen versorgen müssen.

Diesen Unterschied fand ich zuerst reizlos. Aber die schwedische Güte und Treuherzigkeit, die überall im Lande zu Hause ist, gefiel mir auch in Dalarö, und so blieb ich bis spät in den Herbst dort und saß noch, als es regnete, draußen im Wald und machte Waldspaziergänge mit dem Lehrer einer Schnitzereischule. Das Schulhaus lag mitten im Dickicht und hatte viele Schüler, welche da eifrig wie Waldwichtelmänner in einem Holzhaus an Hobelbänken und Schnitztischen in Scharen arbeiteten. —

Als die Tage dann kurz und dunkel wurden, zog ich Anfang Oktober nach Stockholm. Ellen Key, die schwedische Philosophin, hatte damals einen literarischen Salon in Stockholm, wo sich Sonntags die bekanntesten schwedischen Schriftsteller trafen. Ich verkehrte gern bei der liebenswürdigen Ellen Key, und an einem Sonntagabend lernte ich bei ihr den jungen norwegischen lyrischen Dichter Sigbjörn Obstfelder kennen.

Ellen Key hatte in ihrem Salon zwischen den verschiedenen Sesseln ein kleines Stühlchen stehen, das war einst ihr eigenes Kinderstühlchen gewesen. Auf diesem kleinen Stuhl saß Obstfelder an jenem Abend, umgeben von einem Kreis von Herren und Damen. Er sprach so leise, daß sein Sprechen wie ein Wimmern war. Und als ich ihm ein wenig lebhaft in irgendeiner Frage widersprechen mußte, meinte Ellen Key, Obstfelder in Schutz nehmend: man dürfe das Lamm, wie sie ihn nannte, nicht so heftig anreden.

Ich erzähle diese kleine Begebenheit nur, um den jungen Dichter zu zeichnen, der sehr ernst, aber auch sehr empfindsam war, zugleich aber kräftig genug und eigentlich des Schutzes der Damen entraten konnte. Aber sein Hang zu großer Traurigkeit gab ihm den Schein von Hilflosigkeit. Und es war sehr gütig von Ellen Key gemeint, daß sie dem immer sorgenvollen und einem tiefen Weltschmerz nachhängenden, jungen Norweger schützend zu Hilfe kam.

Das Wesen dieses Dichters aber war das gerade Gegenteil von meinem Wesen. Während ich allen Lebensregungen die festliche Seite abgewinnen wollte und den festlichen Kern des Lebens immer betont haben wollte, war Sigbjörn Obstfelder von einem wollüstigen Nachhängen der Traurigkeiten des Lebens beherrscht.

Diese Art stieß mich ab, aber erregte zugleich immer wieder mein Erstaunen, weil ich es kaum für möglich halten konnte, daß jene Traurigkeit ernsthaft war. So kam ich fast auf den Gedanken, dieses Traurigsein für Einbildung zu halten, und es fesselte mich, zu ergründen, wie dieser junge Mann sich im Leben zurechtfinden konnte bei all dem Leid, das er freiwillig aufsuchte.

Als man Obstfelder fragte, ob er sich in Stockholm wohl fühle, wisperte er an jenem Abend etwas Unverständliches. Dann erklärte einer in der Gesellschaft, der ihm zunächst saß und die Worte verstanden hatte, der junge Dichter habe gesagt, er fühle sich nirgends wohl. Als wir beim Heimweg zusammen durch die Straßen Stockholms gingen, erzählte mir Obstfelder, daß er eine Witwe liebe, die rotverweinte Augen habe und einen großen schwarzen Kreppschleier am Hut trage. Und er sagte mir, daß ihn die Trauer der Dame angezogen habe. Sie hätten beide gestern einen schönen Nachmittag verlebt. Er habe sie auf den Kirchhof begleitet, an das Grab ihres Mannes, und habe den Kranz tragen dürfen. Das sagte er tieftraurig, einfach und ungesucht, als wäre das Traurigste das Begehrenswerteste für alle Menschen. Mir wurde unheimlich bei der Vorstellung, daß ein Mann mit jungem warmen Blut sich gern trauernden Menschen anschloß und Damen in Trauerschleiern bevorzugte und am liebsten Spaziergänge zu Kirchhöfen machte. Obstfelder sagte mir weiter, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, er liebe es, in Stadtvierteln zu wohnen, wo ganz arme Leute hausen, versorgte Gesichter armer Leute. Er suche sich als Wohnung gern Häuser aus, die so bekümmert aussehen wie ihre elenden Bewohner, Häuser, wo auf den Fensterbrettern ein paar kümmerliche Blumen stehen, dürftige Geranienstöcke, die in alte Scherben und Porzellantassen gepflanzt sind, wo Wäschestücke vor den Fenstern zum Trocknen aufgehängt sind und wo die grauen engen Treppenhäuser, die nach Kalk und Keller riechen, ausgetretene Treppenstufen haben. In solcher Umgebung, die nie frei aufgeatmet hat, in der das Leben bedrückt aus den Winkeln winselt, dort fühle er sich am wohlsten und zu Hause.

Ich hatte darnach geglaubt, daß Obstfelder hilfsbedürftig sei, und da ich in einer angenehmen Pension wohnte am Tegnerlund, in einem schönen, reinlichen und geräumigen Hause, mit Aussicht über die grüne freundliche Tegneranlage, so dachte ich, ich würde dem jungen Dichter etwas Gutes tun, wenn ich die liebenswürdige alte Dame, bei der ich wohnte, bäte, ihm einen billigen Mittagstisch zu geben. Aber Obstfelder fand es dann viel zu sonnig, viel zu schön, viel zu hell und viel zu freundlich bei jener Dame und sagte mir dieses, was ich ganz unbegreiflich fand.

Und ich sagte ihm: „Sie finden genug Traurigkeit auch in hellen freundlichen Häusern. Glauben Sie doch nicht, daß die reinlichen Menschen, die in schönen Häusern wohnen, nicht viele Traurigkeiten und viele ungeweinte Tränen verbergen müssen. Die Dame zum Beispiel, die jene Pension hat, in der ich wohne, ist von Kindheit an halb taub; sie hört nur, wenn man durch ein Hörrohr zu ihr spricht. Sie hat sich ihr Leben lang nur mit Büchern unterhalten müssen, und sie ist zart und vornehm und lautlos. Und wenn sie auch nicht einen Kreppschleier trägt, so umgibt sie doch immer ein dunkler Schleier von Lebenswehmut. Er ist nicht für die Augen zu sehen, aber für das Gefühl.“

Während ich dieses sagte, ärgerte ich mich dabei, daß ich dem Dichter der Traurigkeit mein freundliches helles Haus, in dem ich wohnte, von der innersten Seite erklärte, und daß ich ihm erst sagen mußte, was ich als etwas Selbstverständliches empfand, daß die Menschen, die zu lächeln suchen, während sie trauern, nicht minder stark empfindende Menschen sind als die, welche da offensichtlich weinen und traurig den Kopf hängen lassen. Aber Obstfelders Drang zu Traurigkeiten hin mag auch wohl darin begründet gewesen sein, daß sein Vater, der einst ein tüchtiger Bäcker war, in seiner Armut im Bürgerspital in Stavanger Unterkunft gefunden hatte. Vielleicht wollte der Sohn nicht besser wohnen als der Vater.

Sigbjörn Obstfelder war früher Ingenieur in Amerika gewesen und hatte dann, zurückgekehrt von dort, den ihm verhaßten Beruf aufgegeben. Er erhielt, als ich ihn kennen lernte, vom norwegischen Staat ein Jahresgeld, das aber so wenig war, daß er nie richtig aufatmen konnte. Der Fluch der meisten jungen Dichter ist es, daß sie die weite Welt erleben möchten und sich vertiefen möchten in die Leben ringsum, und in Lebensnot wie vom Leben Ausgestoßene jahrelang neben dem Lebensstrom herschleichen müssen, von bitterer Armut erniedrigt.

Auf meiner Weltreise, als ich fern in Asien in Hongkong und Schanghai und in Japan großen deutschen Kriegsschiffen begegnete, die auf dem Weg zu den Kolonien nach der Südsee waren oder dort in asiatischen Gewässern nach China beordert lagen, dachte ich oft beim Anblick der kostbaren Staatsfahrzeuge bei mir: wie wäre es doch so einfach, wenn auf diesen mächtig schwimmenden Staatskolossen, für die das Volk Millionen bezahlt hat, einige Kabinen für Gelehrte, Künstler und Dichter eingerichtet wären, um diesen freie Hin- und Rückfahrt nach fernen Ländern zu ermöglichen!

Und wie wäre es einfach, wenn neben den Kasernen oder in den Regierungsgebäuden in unseren Kolonien, die doch auch vom deutschen Volk bezahlt werden, ein Unterkunfthaus, eine Herberge für Gelehrte, Künstler und Dichter vom Staat eingerichtet würde! Welche Unsummen werden vom deutschen Volk an Beamte aller Art verwendet! Welche Unsummen für Kasernen und Schiffe! Es würde bei den Millionen, die dafür ausgegeben werden, nicht darauf ankommen, wenn der Staat den jungen Künstlern des Landes auf den Panzerschiffen freie Fahrt und in den Kolonien Unterkunftshäuser mit freiem Aufenthalt zum Studium der fremden Länder gewähren würde.

Und es würde auch nicht große Summe kosten, ein Taschengeld, ähnlich einem Beamtensold, den Studierenden zu jenen Reisen mitzugeben. Man dürfte aber nichts von ihnen fordern und nichts von ihnen erwarten nach dieser Reise. Man müßte ihnen Vertrauen und Glauben schenken, daß das, was man für sie täte, sich zum Vorteil für das Vaterland erweisen würde.

Denn manche Künstler, die gereist sind, konnten aus der Ferne nichts mit nach Hause bringen als ein gründliches Heimweh und ein echtes und tiefes Heimatserkennen. Es ist genug, wenn nur dieses erreicht wird, daß einer, indem er den richtigen Abstand von der Heimat bekommen hat und beim Vergleich mit anderen Völkern, die er besuchte, seine Heimat aufrichtig beurteilen lernte, durchdrungen wird vom Bewußtsein, daß niemals äußere Schönheit ferner Weltteile dem echten Mann die Heimatsscholle ersetzen kann. Ein Volk, das sich solch echte Heimatkünstler züchtet, tut sich selbst wohl, indem es immer den Dank und die Gedanken dieser Künstler an sich fesseln wird. Und die Werke dieser weitgewanderten Künstler werden tiefe, nutzvolle Arbeiten werden, da sie dann aus tiefen Heimwehlebensströmen geschöpft sind.

Während jetzt viele der jungen Künstlerkräfte aus Lebenshunger das Nachtleben der Großstädte und in ihrer Armut und Ratlosigkeit das Herumsitzen in Kaffeehäusern pflegen müssen, um wenigstens vor den Schaufenstern des Weltlebens zu bleiben, da ihre Geldmittel nicht zum Einhandeln großer Welteindrücke reichen, so würden dagegen freie Kriegsschiffsreisen die jungen Künstler reich befruchten können.

Man soll nicht spotten über die Kaffeehauspoeten der heutigen Zeit, die sich meistens aus jungen heranwachsenden, dichtenden Lebensanbetern zusammensetzen. Man soll helfen, statt zu spotten. Das Volk, jede Nation hat die Pflicht zu helfen. So gut wie ein Land seine Landesgrenzen erweitert, indem es ferne Kolonien gründet, im selben Verhältnis muß es auch die Weltblicke derer erweitern, die berufen sind, das Leben künstlerisch festzuhalten in allen Zeitläuften. Denn nur die Künstler können die fernen Länder dem Heimatland innerlich nahebringen.

Es sollten auch die Staatseisenbahnen allen angehenden jungen Künstlern, Gelehrten und Dichtern freie Fahrt durch ganz Deutschland geben, und ebenso sollten die Nationen untereinander den Künstlern diese freie Fahrt durch alle Länder ermöglichen.

Die schwedische Nation hat durch einen Schweden, der den Nobelpreis stiftete, die Bewunderung ganz Europas geerntet. Dieses Volk geht auch in der freien Eisenbahnreise der Künstler den Kulturvölkern mit großem Beispiel voran. Die stockholmer Eisenbahnverwaltung erteilt jedes Jahr einigen Künstlern, inländischen wie ausländischen, freie Reise erster Klasse vom südlichsten bis zum nördlichsten Grenzpunkt in Schweden. Ich selbst erhielt vor einigen Jahren für mich und meine Frau auf Anfragen diese freie Fahrt durch ganz Schweden, und ich weiß, daß freies Reisen auch anderen deutschen Schriftstellern gewährt wurde.

Warum ist die deutsche Nation sich nur ihrer Pflicht bewußt, ihre Minister, ihre Offiziere, ihre Geistlichen besolden zu müssen? Warum ist dieselbe Nation sich nicht ihrer Pflicht bewußt, ihre Künstler besolden zu müssen, die neue Seelenwerte hinterlassen? Neue Seelenwerte schaffen die Geistlichen, die immer wieder die Bibel erklären, nie, und die Geistlichen erhalten doch Besoldung und Pfarrhäuser vom Staat.

Die Städte, die einen Künstler geboren haben, sollten es als eine Ehre ansehen — wenn sie es nicht als Pflicht betrachten — dem Künstler, der die Erdscholle, der den Menschenstamm, aus der er hervorgeht, in seinen Werken verherrlichen wird, Haus und Garten zu bauen und ihn zu erhalten.

So wie die Städte Kasernen, Kirchen, Spitäler, Rathaus, Post, Bahnhof bauen können und sich Parke, Theater, Konzertsäle hinstellen, so sollten die Städte doch zuerst bei dem jungen Künstler Heimatschutz und Heimatsorge anwenden, der bei ihnen durch seine Geburt Heimatrecht erlangt hat.

Ein bescheidenes Haus, ein bescheidener Garten, eine bescheidene Einrichtung, gesundheitlich und sauber im Stand gehalten, eine bescheidene Küchenkost sollte jeder Künstler in seiner Heimat für sich finden, neben dem freien Reisen durch die Länder. Und laßt dann bei ihm seine Frau oder seine Familie, seinen Vater, seine Mutter, oder eines seiner Geschwister weilen, die um ihn sorgsam sein wollen. Denn bedenkt, daß der Künstler immer im Geiste weltfern leben muß, um echt im Geist und Gefühl zu schaffen. Und bedenkt, daß ein Künstler ein wenig Schutz um sich braucht, weil der Geist immer leichter zu gefährden ist als der Körper.

Ihr erlaubt doch euren Generälen und Offizieren, euren Ministern und Beamten, euren Lehrern und protestantischen Geistlichen, daß sie ihre staatliche Wohnung haben, worin sie mit ihrer Familie hausen. Seid nicht engherzig und gönnt euren Künstlern dasselbe, was ihr diesen Männern, die der Staat benötigt, bietet.

Jede Stadt sollte eine Jahressumme aussetzen für jeden ihrer Künstler, der Geburtsrecht in ihr hat. Jede Stadt wird so die Heimatkunst und dadurch die nationale Kunst bereichern helfen.

Der Künstler soll in seiner Heimatstadt seinen Erdfleck haben, sein Stück Vaterland und sein Heimatdach, wo er zu jeder Zeit, wenn er, bereichert von Wissen und Erleben, sich zurückziehen will, für kurz oder lang einen Ruheplatz zum Ergründen und Ausarbeiten seiner Eindrücke finden kann; einen Ruheplatz, wenn er krank ist, und einen Ruheplatz, wenn er alt ist.

Die flüchtige Hast, die viel unreifes Schreiben erzeugt und einen Wust von Büchern gebiert, durch die das Volk kaum den Weg aus nebensächlichen Werken zu hauptsächlichen Werken finden kann, wird wegfallen, sobald der Künstler immer wieder weiß, daß seine Stadt und zugleich die ganze Welt frei vor ihm liegt. Wenn er weiß, daß er frei, kostenlos wandern und zurückkehren darf, sobald er es verlangt, und überall standesgemäße Unterkunft findet.

Jeder Künstler muß wissen, daß er unermeßliches Vertrauen genießt, weil er mit dem kleinsten Buch, mit einem einzigen Gemälde, mit einem einzigen Musikstück Unermeßliches, Hoheitsvolles seiner Heimat geben kann, Höheres, als jemals Pfarrer, Lehrer und Beamte ihrer Heimat und ihrem Volke zu geben vermögen.

Dann wird mancher Künstler nicht gezwungen werden, manchem erniedrigenden bürgerlichen Zeitgeschmack zu huldigen, des täglichen Brotes und des Lebens zuliebe. Er wird stark werden durch die Heimat, die er bis zu seinem Lebensende als sicheren Lebensgrundstein spürt.

Es sollten sich Vereine bilden, die Einzelhäuser und Atelierhäuser und Unterkunftshäuser den wandernden Künstlern bauen.

Die Echtheit eines solchen mit Bewußtsein gepflegten Künstlertums wird das nationale Leben eines Volkes so verinnerlichen, daß davon die Völker, geistig gekräftigt und geistig erfrischt, sich in jeder Beziehung tatkräftiger fühlen werden. Denn durch die Würdigung des Künstlers wird die höchste nationale Geist- und Gefühlsentfaltung gepflegt. So wie Nationen bis jetzt für ihre körperliche Erhaltung sorgten, indem sie Handelsministerien, Kriegsministerien, Ministerien der Kolonien und andere Ministerien gegründet haben, müßten sie auch ein Künstlerministerium aus tätigen Künstlern gründen, das an Bedeutung zum mindesten der Nation so wichtig sein müßte wie die Schulangelegenheiten, die kirchlichen und die militärischen Angelegenheiten.

Aber zuerst müssen die Städte und Orte beginnen, ihre schöpferischsten Söhne, die Künstler, die in ihnen geboren sind, heimatlich und in allen Ehren zu verpflegen. Die Städte sollen sich aber nicht einfallen lassen, dabei in einen Wetteifer zu verfallen und zu protzen mit dem Wohltun, denn damit schädigen sie die künstlerische Ruhe ebensosehr wie mit der Vernachlässigung der Künstler. Die Städte sollen nicht künstlerische Schlemmer und künstlerische Verschwender erziehen. Die Städte sollen den in ihren Mauern geborenen Künstlern unveräußerliches Hab und Gut auf Lebenszeit zur Verfügung stellen. Aber die Heimat soll den Künstler nicht durch verderbliche Üppigkeit verwöhnen und vernichten. —

Ich sprach diese Gedanken aus, die mir oft auf Reisen und zu Hause im Herzen umgingen. Ich hatte die Künstlernot nicht bloß bei Hunderten von jungen heranwachsenden Künstlern in vielen Städten Europas vor Augen, auch meine eigenen Notstunden vergangener Jahre gaben mir diese Gedanken ein. Hunderte von Gesprächen habe ich gehört und hundertmal rastloses Fragen, wie den jungen heranwachsenden Künstlern am besten geholfen werden könne, damit sie die Welt in Tiefen und Weiten erleben und doch, in der Heimat festwurzelnd, ihrer großen Lebensaufgabe, die an sich mühevoll genug ist, ohne Armutsleiden gerecht werden könnten.

Ich will nicht sagen, daß alle Künstler das Reisen nötig haben. Manche werden zeitlebens ihre Scholle nicht verlassen wollen. Aber das werden die wenigsten sein. Ich glaube, daß jedem Künstler in der Jugend der Drang innewohnt, wenn nicht alle Weltteile, so doch die Heimat auf freien Reisewegen und die äußerste Heimat, die Kolonien, ebenfalls auf freien Reisewegen erleben zu wollen.

Und die Mittel, dieses zu erreichen, sind nicht so ungeheuerlich und nicht so unmöglich unerschwinglich für ein Volk, wenn man den Plan verfolgen würde, für die Künstler freie Reise auf den Staatsschiffen und freie Reise auf den Staatseisenbahnen einzurichten, und wenn man es durchsetzen würde, mit Errichtung von Unterkunftshäusern in den Großstädten und mit Errichtung von Heimathäusern in den Heimatsorten den betreffenden Künstlern das Wandern und das Wohnen und die Verpflegung zu erleichtern. —


Der arme Sigbjörn Obstfelder starb schon bald. Er wurde nur einige dreißig Jahre alt. Not, Gram, Unterernährung machten, daß er hinsiechte und lebenswiderstandslos wurde, und die erste größere Krankheit, die ihn traf, raffte ihn fort. Nachdem der Arme noch die Schrecken einer unglücklichen Ehe erlebt hatte und von der Frau, die er liebte, tägliche Verachtung ertragen mußte, weil er sie nicht ernähren konnte, wurde er todkrank und starb. Die Norweger sehen Obstfelder heute noch als einen ihrer tiefsten Lyriker an, die die Neuzeit hervorgebracht. Der Dichter des Elends und der Traurigkeit ist er gewesen und geworden durch das Elend, das heutzutage jeden armgeborenen Dichter verfolgt. —

Die meisten Völker haben ein Gesetz gemacht, das die Nutznießung der Werke eines Künstlers nur bis dreißig Jahre nach seinem Tode den Nachkommen des Künstlers gewährt. Die Nationen, die sich also ein Nationalrecht auf das Lebenswerk ihrer Künstler zugesprochen haben, haben das Eigentum eines Menschen nach dreißig Jahren als vogelfrei erklärt und als der Nation zugehörig. Die Völker, die dieses Gesetz gemacht und dieses Recht sich zueigneten, haben damit öffentlich kundgetan, daß der Künstler kein außer der Nation und außer dem Volksinteresse stehender Mensch ist.

Und es ist darum nicht bloß anständig, sondern gerecht, zu fordern, daß das Volk, das sich durch den Künstler später auf Jahrhunderte bereichert fühlt, eine Vorausvergütung auf diese zu erwartende Nationalbereicherung dem Künstler bei Lebzeiten zukommen läßt. Und zwar in der Weise, daß die Nation dem Künstler die Arbeit und die Aufnahme von Lebenseindrücken erleichtert. Jedes Künstlers Heimatstadt soll angewiesen sein, den Künstler, der ihr einst Ruhm bringt und ihr einen geistigen Besitz hinterläßt, nicht bloß gnädig zu besolden, sondern diese Stadt soll dem Künstler einen Ehrenunterhalt bieten. Denn angeborenes Künstlertum berechtigt den jungen Künstler, einen Ehrensold zu erwarten und zu empfangen.

Der Einwand, daß soundso viele junge Kräfte vielleicht der Nation keinen Reichtum zurücklassen, indem nach ihrem Tode ihre Werke vielleicht nicht einmal von dreißigjähriger Bedeutung sind, dieser Einwand wird dadurch hinfällig gemacht, daß ein einziger großer Künstler jene hundert und mehr umsonst vom Staate ernährte Künstler aufwiegen würde.

Goethes Geist ist in der deutschen Nation so selten wie Bismarcks Geist und Moltkes Geist. Aber deshalb ernährt man doch viele Offiziere und Staatsbeamte, wenn diese auch keine Bismarcks und Moltkes werden, und bietet ihnen Ehren und Unterhalt, Wohnung und Altersversorgung. Und soviel wie diese Beamtenschar, die der Staat heute ernährt, Versorgungsgelder beansprucht und Würdegelder, soviel wird im Verhältnis nie der Künstler dem Staat kosten. Denn die echten Künstler werden von der Natur vereinzelt geboren und können nicht durch Schulen gezüchtet werden wie Beamte und Offiziere! Also werden sie nie in Massen da sein. Aber die Werte, die hundert von tausend Künstlern hinterlassen, sind immer unschätzbarer und unbezahlbarer als die Werte, die hundert Beamte von tausend Beamten auf Hunderte von Jahren der Zukunftsentwicklung des Nationalgeistes schenken können.

Außerdem soll der Künstler — und jeder echte Künstler wird es so wollen — nicht in Protzerei und Großtuerei vom Staate großgepflegt werden. Sondern es soll ihm verholfen werden zur Bewegungsfreiheit und Heimatsruhe, und es soll ihm Schutz vor Nahrungs-, Gesundheits- und Verpflegungssorgen gewährt werden. Dieses Wenige aber soll ihm in gediegenster und ehrendster Weise zugesprochen werden. Denn des Künstlers Leben, auch des jüngsten künstlerischen Anfängers, bedeutet, sowohl wie seine Werke nach seinem Tode, ein Ehrengut für die Nation.

In den achtziger und neunziger Jahren, in jener Zeit, von der ich hier in meinem Buch „Gedankengut“ spreche, waren die Selbstmorde unter den jungen Künstlern in schreckenerregender Weise an der Tagesordnung. Das neue Großstadtleben, das da zum erstenmal von der Maschinenwelt urplötzlich aufgebaut, im Glanz des neuen elektrischen Lichtes, in der Eile des Reiseverkehrs und mit dem Einsetzen des blendenden Nachtlebens, dastand, verwirrte manchen jungen Geist. Ebenso kam dazu die öffentliche Unverhülltheit des bisher unterdrückten Geschlechtslebens, das aus der Verkümmerung und Unterdrückung in einen Geschlechtstaumel umschlug, der nichts mehr mit heiliger, selbstverständlicher, aus der Natur geborener Geschlechtsliebe zu tun hatte.

Dieses Großstadtleben überreizte jährlich viele aufwachsende und ins Leben tretende junge künstlerische Talente mit seinen neuen schwindelnden Freiheiten. Es riß die jungen Künstler aus dem Heimatboden in nervenerschütterndes Getriebe, erweckte maßlose Weltgier und Sinnenbegierde und erfüllte die Künstlerherzen nur mit viel Blendwerk und mit viel krankhaftem Verlangen aufgestachelter Erwartungen.

Der Alkohol spielte dann als Hauptbetäubungsmittel eine große Rolle. Die käufliche Straßenliebe und die herzloseste Abenteuerjagd, die das innerste Verlangen nicht stillen konnten, trieben die zerrütteten Geister junger Künstler entweder ins Irrenhaus oder zur Alkoholvergiftung an oder zum Selbstmord.

Würden aber die jungen Künstlerkräfte, die da welthungrig in den Weltstädten zusammenkamen, freie Wege, von Staat und Nation gebotene freie Weltwanderwege gefunden haben, und würden sie auch die Versicherung gehabt haben, daß bei der Rückkehr aus der Fremde ihnen die Heimat immer einen Ehrenruheplatz zu bieten hatte, so wären nicht die Verzweiflung, die Verirrung, der Selbstmord damals so alltäglich geworden.

Ein verrückter Maler, ein verrückter Dichter, ein Malerlump, ein Dichterlump, ein armer Musikernarr — so hörte man und hört man noch heute im Volk die jungen Künstler verächtlich nennen, sie, die vielleicht nicht immer welterschütternde Werke hinterlassen werden, die aber doch meistens alle ehrlich streben und auch mit dem kleinsten Werk Festlichkeit verbreiten können und einen Hauch von seliger Unwirklichkeit in die sich sonst heißlaufende Wirklichkeit des Lebens zu bringen vermögen.

Es ist nicht wahr und es ist eine Selbsttäuschung, wenn eine Nation behauptet, sie könne das Heer der jungen Künstler nicht ernähren. Sie muß es können. So gut wie sie das Muskelheer, das Kriegsheer, vaterlandsfreudig ernährt, muß sie das Geistesheer junger schöpferischer Künstler ernähren.

Die Nation muß die geistigen Förderer, die zur Erhöhung der Lebensfestlichkeit und zur Erhöhung des Lebensmutes und zur geistigen festlichen Erhebung dem Volk geboren sind, mit allen Kräften und allen Ehren von allen Sorgen des Alltagslebens befreien, damit jeder Künstler sein ihm angeborenes festliches Innere, seine ihm angeborene geistige Schöpferkraft in erschöpfendstem Maße betätigen kann. Nur dann darf sich eine Nation vollkommen lebenswürdig nennen, wenn sie sich aufrafft und sorgt, daß ihre Künstler, deren Werke sie später als Nationaleigentum beansprucht, bei Lebzeiten Anspruch haben dürfen auf würdigste nationale Förderung.

Und wenn Heimatgemeinde und Staatsgemeinde Hand in Hand gehen bei der Förderung der Lebensfrage ihrer Künstler, so wird eine Hilfe gar nicht so schwer sein und unmöglich, wie das bis zum heutigen Tag allgemein angenommen wurde. Der Staat allein kann nicht helfen. Er hat auch nicht den Einblick in jede einzelne Künstlernatur. Die Stadtgemeinde aber, die den Künstler geboren hat, trägt die erste Verpflichtung zur ehrenvollen Erhaltung des Künstlerlebens, das in ihren Mauern geboren wurde. Der Staat aber soll das Reisen der Künstler zu Wasser und zu Land durch Reiseerleichterung und Einrichtung von Unterkunftshäusern ermöglichen.

Wie schnell werden dann jene Kaffeehausliteraten ihre Arbeitswege finden und nicht mehr, brütend und zeitvergeudend, ihre Jugend vertrauernd, sich dem Spott des Publikums preisgeben müssen. Wenn jene jungen Künstler frei reisen können, werden sie nicht mehr in ihrer Traumseligkeit bloß die Kaffeehäuser aufsuchen müssen. Ihre Träume werden durch weites Reisen großzügige Weltnahrung erhalten, und später dann, von der Weltwanderung zurückgekehrt, werden sie ihre Heimat doppelt lieben können, werden mehr als in jedem anderen Land die Schönheit der engen Heimat entdecken und werden herzliche Dichter und weise Berater ihrem Volke sein können.

Wenn man aber sagen würde, daß es Jahrhunderte den Künstlern schlecht gegangen ist und Jahrhunderte ihnen ohne Stadt- und Staatshilfe weiter schlecht gehen soll, so ist das eine liederliche und unwissende Antwort. Es ist, als wollte einer sagen: wir sind Jahrhunderte ohne Eisenbahnen und ohne Telegraphie ausgekommen, wir haben uns Jahrhunderte nicht gegen die Pocken impfen lassen müssen, und die Menschheit hat doch gelebt, jede Neuerung ist ein Unsinn, weil die Menschheit sich ohne Neuheit von selbst durchschlägt oder verdirbt!

Kein ernstes Gehirn und kein ernstes Herz wird einer so menschenunwürdigen Antwort zustimmen können.

Natürlich ist nicht jeder, der einen Reim schreiben kann, ein Dichter. Nicht jeder, der eine Zeichnung nachzeichnen kann, ist ein Maler, und nicht jeder, der ein Instrument spielen kann, ist ein Komponist. Aber jeder Stadt wird es mit der Zeit nicht schwer fallen, in ihren Mauern ihre wirklich schöpferischen Künstler zu entdecken und diese in den Stadthaushalt aufzunehmen.

Bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahr, vielleicht auch noch früher, wird es jedem Künstler möglich sein, den Beweis zu liefern, daß er etwas Eigenartiges schaffen kann. Von dann ab sollte er in die Stadtobhut aufgenommen werden. Wenn nicht der Beweis so auffallend ist, daß er schon mit zwanzig Jahren die Aufnahme erlangen kann. Mit der Aufnahme in den Stadtschutz müßte dann zugleich die Aufnahme in den Staatsschutz verbunden sein.

Und kann ein junger Künstler nicht mit fünfundzwanzig Jahren den Beweis seiner Fähigkeit bringen, so bringt er vielleicht mit dreißig, mit fünfunddreißig, mit vierzig Jahren den Beweis, daß sein Leben ein geistiges Heimatgut und damit ein geistiges Staatsgut bedeutet.

Der Gedanke, nicht ewig dem Elend preisgegeben zu sein, wird einem jungen Künstler, wenn er auch noch nicht den Stadtschutz erlangt hat, mutig und lebenszuversichtlicher machen und ihn vor den großen Bekümmernissen schützen, die seine geistigen Arbeiten benachteiligen. Denn es ist eine traurige Niederträchtigkeit, wenn unverständige Menschen den jungen Künstlern nachsagen, daß, je mehr Not sie leiden müssen, desto besser die jungen Geister arbeiten können.

Das ist gerade so unsinnig und roh gesprochen, als wollte ich sagen: je weniger ich einen Garten pflege, desto mehr Blumen blühen und desto mehr Früchte tragen die Bäume dort.

Die Blumen und die Früchte, die sich unter Mühseligkeiten, ohne Pflege im verwahrlosten Garten durchschlagen müssen durch Unkraut, Insektenfraß und auf vernachlässigtem ungedüngtem Boden, die werden recht kümmerlich ausfallen im Vergleich zu denen die auf einem gut gepflegten Gartenstücke aufwuchsen.

Der junge Künstler, der sich zum Stadt- und Staatsschutz hin entwickelt, wird in seiner Familie, bei seinen Verwandten und Freunden Achtung erhalten! Und bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahr wird die Familie nicht abstehen wollen, den jungen Künstler wie einen Studenten, den sie danach versorgt weiß, nach Kräften zu unterstützen. Der junge, sonst von seinen Verwandten unverstandene und beargwöhnte Künstler wird der Verachtung enthoben werden durch die Aussicht, daß er nach seiner ersten stärkeren Arbeit dann für die weiteren Arbeiten den Schutz und die Ehrenversorgung der Nation finden wird.

Und sollte es wirklich vorkommen, daß unverdientermaßen einige halbe Talente Unterkunft gefunden hätten, so wäre das Unglück nicht zu groß, denn wie viele halbe Beamte und halbe Offiziere ernährt nicht der Staat seit Jahren. Größer ist das Verschulden der Nation, wenn sie die Gesamternte der Kunst nicht heben und steigern will. Denn dadurch wird die Lebensfestlichkeit, der Lebensmut und die Lebenskraft eines ganzen Volkes und seine Weisheit und seine Gefühlswelt niedergehalten.

Was nützt ein stehendes Heer, was nützen alle Offiziere und Beamte, die zum Kulturschutz da sind, wenn in dem Schutzwall, den das Heer und das Beamtentum um die Geisteskraft des Volkes bilden soll, diese Geisteskraft nicht zu gepflegtem Blühen gebracht wird. Denn die höchste Blüte der nationalen Geisteskraft war nie allein das Gelehrtentum eines Volkes, sondern vor allem war es das Künstlertum.

Seht zurück auf die Jahrtausende, was von dem Leben der toten Völker heute noch fruchtbringend zu uns gekommen ist. Es sind das meistens nur die künstlerischen Werke toter Nationen. Mit den Wissenschaften vergangener Jahrtausende können wir nicht allzuviel mehr anfangen, und nur einiges davon wirkt noch befruchtend, während die Dichter und die Künstler untergegangener Nationen heute noch in ihren Werken immer gefühlbefruchtend ewig unter uns weiterleben.

Wir können fast gar nicht daran glauben, wenn wir zum Beispiel ein altes chinesisches Gedicht, ein indisches Lied, ein griechisches Drama, eine ägyptische oder griechische Bildsäule nachempfinden, daß diese Geschlechter, aus deren Zeit diese Werke uns überliefert wurden, vom Erdboden verschwunden sind. Diese Geschlechter haben nur ihren Körper, aber nicht ihren Geist aufgegeben. Denn ihr Geist lebt in den überlieferten Kunstwerken fruchtbringend und unüberwindlich, alle kommenden Zeiten zur Achtung zwingend und an die tote Zeit erinnernd.

Die Künstler sind die unsterblichen Atome der Völker. Was diese Atome taten oder sagten, behält ewige Lebenswärme, wenn es echt gewesen. Denn die Werke der Künstler bilden den Unsterblichkeitsbestand untergegangener Völker.

Und wenn der einzelne Mensch gern an ein Fortleben seines eigenen Lebens und des Lebens seiner Lieben denken möchte, so wird er, wenn er ein ernstes Wesen ist, auch an dem Fortleben seines Volkes, in dessen Mitte sein Leben sich abspielte, beteiligt sein wollen und sich daran beteiligen müssen.

Darum wird es Ehrenpflicht jedes Bürgers sein, daß er mit der Erhaltung des Künstlertums und mit ehrenvoller Verpflegung der Künstler zur Unsterblichkeit der Nation beisteuert. Ebenso, wie jeder tüchtige Bürger zur nationalen Verteidigung mit seinem gesunden Körper und seinen Steuern willig beiträgt. Es wird eine Steuer, zum Nutzen der Künstler den verschiedenen Ständen des Volkes, der Arbeiterklasse, der Beamtenklasse und der Kaufmannsklasse angepaßt, das ganz selbstverständliche und natürliche Mittel sein, zu dem die veredelte und sich selbst achtende Nation greifen muß, um festliche Daseinsberechtigung und künstlerische Unsterblichkeit zu erlangen.


Als eines der vielen tausend Beispiele, die ich bringen könnte, um dem deutschen Volk zu berichten, wie bitter und grausam ein junger Künstler von der Verpflegungssorge gequält werden kann, will ich nur einen der unglücklichsten Fälle aus meinem eigenen Leben erzählen.

Es war eines Tages in Paris. Meine Frau und ich waren schon wieder von Mexiko zurückgekehrt, wo wir gehofft hatten, unter billigen Lebensverhältnissen und fern von dem anspruchsvollen europäischen Leben uns niederzulassen und uns durchzuschlagen. Es war ein Rettungsversuch gewesen, ein Fluchtversuch fort von der Überkultur. Mit dem Rest meines Vermögens hatte ich mir in Mexiko einen Tropengarten kaufen wollen, dessen Ertrag uns ernähren sollte.

Diese und viele andere verzweifelte Versuche, Dichtung und Lebensverdienst zu vereinigen, waren gescheitert, und mittellos befanden wir uns wieder, nach Paris zurückgekehrt, in einem bescheidenen Künstlerhotel im Stadtviertel Montparnasse. Wir wohnten in einem kleinen Zimmer, das wirklich für nicht mehr als fünf Schritte Raum hatte. Aber wir waren verhältnismäßig unbesorgt, und ich dichtete, und wir hofften auf die Hilfe von Verwandten, denen wir geschrieben hatten.

Aber die Antwort blieb aus. Und eines Tages hatte ich kein Kupferstück mehr in der Tasche. In Paris war es uns unmöglich, in eine Wirtschaft zu gehen und auf Stundung zu essen, und es blieb uns auch keine Aussicht, von irgendwelcher Seite Hilfe zu bekommen.

Tonlos und die Verzweiflung einander nicht zeigen wollend, saßen wir, meine Frau und ich, in unserem kleinen Zimmer und hatten nicht gefrühstückt und wußten, daß wir weder Mittag- und Abendessen erhalten würden, und daß wir wahrscheinlich auch, wenn wir nicht vorher verhungert sein würden, das Gasthaus bald verlassen müßten, da wir die Miete des winzigen Zimmers nicht zahlen konnten.

Wir hatten natürlich unzählige Briefe geschrieben nach verschiedenen Seiten, aber entweder abschlägige Antworten oder gar keine Antwort erhalten. Und doch hatte ich viele Bekannte und viele Verwandte in aller Welt und hatte auch mehrere Bücher veröffentlicht, und man wußte, daß ich kein zweifelhafter Anfänger mehr war, denn mein Name war bereits unter die Namen der neuzeitlichen Literatur als bekannt aufgenommen worden. Und doch war dieses Mal, wie so oft vorher und nachher, keine Hand da, die uns Schutz bieten wollte. Denn niemand fühlt einem Künstler gegenüber, auch wenn dieser schon bekannt ist, eine Verpflichtung, bevor derselbe nicht gestorben ist. Dann erst setzt die Verpflichtung, ihn als Nationalgut zu ehren, die Häuser, in denen er gewohnt hat, mit Tafeln zu versehen, seine Notbriefe zu veröffentlichen, mit rührender und leider mit recht nutzloser Sorgfalt ein.

An jenem grauen Sorgentag, an dem die große Stadt Paris mir wie ein menschenleeres Meer vorkam, auf dem meine Frau und ich vergeblich hilfesuchend hintrieben, fand ich, als ich gegen Abend die Gasthaustreppe hinunterstieg, am Schlüsselhalter neben der Hausmeisterstube bei meiner Zimmernummer ein Telegramm für mich angesteckt.

Ich will das gefaltete Papier öffnen, als meine Frau im selben Augenblick durch die Haustüre von der Straße hereinkommt, da sie auf der Post gewesen und meine Briefe fortgeschickt hatte. Sie sieht das noch ungeöffnete Telegramm in meiner Hand, erschrickt und bittet mich dringend, es nicht zu lesen. Ich verstehe, daß sie irgendeinen Verwandten, von dem es mir peinlich wäre, Hilfe anzunehmen, telegraphisch um Hilfe angegangen hat, und daß dieses nun die Antwort sein muß, der meine Frau mich aber nicht aussetzen will, im Fall dieselbe abschlägig ist.

So deutete ich mir den Schrecken in ihrem Gesicht. Und um sie nicht zu quälen, gab ich ihr das Telegramm ungeöffnet. Wir verließen dann zusammen das Gasthaus und gingen auf dem stillen Boulevard Raspail hin. Und hier erzählte sie mir unter Tränen, daß ihr, nach all den abschlägigen Antworten, nichts anderes übriggeblieben war, als einen ganz außergewöhnlichen, aber notwendigen Ausweg zu wählen. Sie hatte am Nachmittag ihrem Vater, der nicht mehr helfen wollte, nach Stockholm telegraphiert, daß ich plötzlich an einem Hirnschlag gestorben sei! Und sie hatte ihn um Beerdigungsgeld gebeten! — Nun war es uns ganz schauerlich zumute, als wir das Telegramm öffneten, das meines Schwiegervaters Beileid enthielt und zugleich die Meldung, daß tausend Franken für die Beerdigungskosten telegraphisch folgen würden. Ich war tief erschüttert. Niemals ist mir eine Hilfe so schauerlich und grauenhaft erschienen wie diese. Und doch mußte ich meiner Frau recht geben, als sie diesen einzigen Ausweg, den es für uns gab, gewählt hatte.

Wir gingen zum Gasthaus zurück und warteten unter unheimlicher Bedrückung und empfingen eine Stunde später von der Post mein Beerdigungsgeld. Und noch unheimlicher wurde dann die kleine Mahlzeit, die wir in einer kleinen Künstlerwirtschaft, schweigend und mit Tränen kämpfend, einnahmen. Wir waren von der Sorge schon so ernst gemacht worden, daß wir dieses Mal nicht mehr die Kraft hatten, uns von dem empfangenen Geld mit jugendlicher Leichtigkeit zu sättigen.

Als wir zu unserem Gasthaus zurückkehrten, fanden wir dort andere Beileidstelegramme von anderen Familiengliedern meiner Frau aus Stockholm vor. Wir weinten, als läge wirklich ein Toter im Zimmer, so sehr quälte uns noch der Schrecken und die Schmach der Not. Dann mußten wir, um die Sorge der Angehörigen nicht zu lang auszudehnen, zurücktelegraphieren und melden, daß ich wieder am Leben sei, und zugleich schickten wir erklärende Briefe ab.

Aber mein Begräbnisessen, an dem ich selbst teilgenommen hatte, und jene Notstunden, die meine Frau zu dieser verzweifelten Notlüge gezwungen hatten, stehen mir heute noch schaudervoll im Gedächtnis. Nur die tausend jungen Künstler, die sich in ähnlicher Lage befunden haben, werden mir nachfühlen können. Aber den Fluch, der sich einem auf die Lippen drängt, den man erbittert jener Generation zurufen möchte, die nie ihre ganze Kraft eingesetzt hat, um sich der Kunstwerke, die ihr ihre Künstler schenkten, würdig zu erweisen — diesen Fluch verschluckt man am besten. Denn immer ist noch die Annahme möglich — wenn auch die Zeit zur Erkenntnis nationaler Pflichten bei den Völkern damals noch nicht reif war — daß eine bessere Zeit jetzt anbricht, die dem Stand der Künstler gerecht werden muß. Diese Hoffnung tröstet mich und macht mir vergangene Schmerzen allmählich vergessen.

Vorläufig, finde ich, benehmen sich die Nationen dem Künstlerstand gegenüber im Großen und Ganzen wie Räuber einem Wehrlosen gegenüber. Sie raubten einfach dreißig Jahre nach dem Tod des Künstlers den Nachkommen das Eigentumsrecht der Arbeit des Verstorbenen. Dem sie im Leben nichts gegeben haben, den sie in seiner Jugend bezweifelt und verachtet haben, dem sie in seiner Jugend keine hilfreiche Hand gereicht haben, keine Mittel und Wege geschenkt — dem nehmen sie auch noch das, was seinen Kindern und Enkeln gebührt, das Eigentumsrecht der väterlichen Arbeit.

Warum fallen nicht die Güter des Adels, warum fallen nicht die erworbenen Vermögen der Reichen, warum fallen nicht die Geschäfte verstorbener Handelsherren nach dreißig Jahren der Nation zu?

Richard Wagner wünschte, daß sein „Parcifal“ nur in Bayreuth gespielt würde. Welche Kämpfe hat es jetzt der Familie Wagners gekostet, ihr Eigentumsrecht nach dreißig Jahren verlängert zu erhalten! Dieser Künstler wurde bei Lebzeiten von seinen Gläubigern von Stadt zu Stadt gejagt. Er mußte sich verstecken, wurde in seinen Arbeitsjahren mit Schande und Spott beworfen und steht jetzt als der Herold eines neuen deutschen Musikgeistes, von ganz Europa gefeiert, an der Spitze der deutschen Musikwelt und brachte seinem Volk vor anderen Völkern Ruhm und Ehre.

Und ging es Beethoven anders? Verkannt und versorgt plagte er sich sein Leben lang. Nichts schenkte ihm die Nation. Aber er schenkte seinem Volk seine Kraft, so daß es sich nach seinem Tod das musikstolzeste Volk nennen durfte. Die Nation selbst aber hat nichts für Beethoven getan, als er lebte.

Für die Wehr des Landes sorgt man. Es kommt mir aber vor, als ob wir dicke Gartenmauern bauen, indessen drinnen im Garten die besten Bäume und die besten Pflanzen hungern. Und was nützen die Mauern, was nützt das Heer, wenn die Gartenleitung, wenn die Regierung die besten jungen Pflanzen und jungen Bäume nicht zu pflegen weiß.

Neulich erst hat sich eine ausgezeichnete polnische Malerin, die, tüchtig und anerkannt, von den besten französischen Malern gerühmt wurde, und deren Bilder von verschiedenen Museen angekauft wurden, nach jahrelanger Mühseligkeit, verzweifelt gemacht von Nahrungssorgen, in Warschau vor einen Eisenbahnzug auf die Schienen geworfen.

Die unglückliche Künstlerin war zu einem Besuch nach Hause nach Polen gereist. Vielleicht hoffte sie bei ihren Verwandten Hilfe zu finden oder in der Heimat überhaupt. Aber es scheint, Enttäuschung dort hat ihr den letzten Mut genommen. Und statt in den Zug zu steigen, der sie wieder nach Paris, in die bittere Mühseligkeit fern von der Heimat zurückführen sollte, hat die arme verzweifelte Frau den Tod gewählt und sich vor die Lokomotive geworfen.

Und diese Malerin war kein halbes Talent. Es war ein großes Talent, das mit ihr untergegangen ist. Und die Stadt Warschau hätte stolz sein dürfen, eine solche Künstlerin geboren zu haben. Wenn die Nationen stolz sind auf Völkersiege, so sollten sie noch stolzer sein auf Geistessiege.

In meiner Wohnung hängt ein Bild, das jene Frau gemalt hat. Sie war in Paris Schülerin Carrières gewesen, und sie hatte sogar selbst mit Carrière und einem anderen bedeutenden Pariser Maler eine Malschule eröffnet. Ich kannte sie gut, schon vom Tage an, an dem sie zum erstenmal nach Paris kam, bis zu ihrem Tode, und ich weiß genau, daß keine andere Sorge als die Sorge um den Lebensunterhalt jene Künstlerin in den Tod getrieben hat.

Die arme bedeutende Frau bewohnte ein großes Atelier, und dieser Raum war ihre Lebensstätte. Sie schlief auf einem kleinen Liegestuhl in einem Winkel dieser Werkstatthalle. Aber man soll nicht denken, daß jenes Atelier bunt aufgeputzt war mit weibischem Schmuck. Der große Raum war nur ernste Werkstatt, war die echte Arbeitsstätte eines echten Künstlergeistes. Mit Ausnahme von einigen notwendigen Hausgeräten standen da nur noch eine alte Kommode, ein Klavier und ein paar Tische und Stühle. Außerdem befanden sich nur Unmassen von Bilderrahmen, aufgespannte Leinwanden, Staffeleien und ein kleiner eiserner Ofen in dem arbeitsnüchternen Raum.

Die zarte Gestalt dieser Künstlerin, deren großer Kopf auf einem gebrechlichen lautlosen Körper lebte, sehe ich noch immer mit der Palette in der Hand vor mir. Eine große Palette, hinter der die schmächtige Dame fast verschwand.

Ein paar armselige Tassen ohne Untertassen und ein einziger Teelöffel, der, wenn Besuch da war, herumgereicht wurde, machten ihre wenigen Haushaltungsgegenstände aus. Sie aß täglich kaum mehr als ein Ei oder einen Zwieback und sie trank Tee in der Abendstunde und Tee in der Morgenstunde und Tee in der Mittagsstunde. Manchmal nur besuchte sie mittags eine kleine Arbeiterspeisestube, wo sie einen Teller Suppe aß und ein Brot.

Sie war tief gebildet. Polnische Dichter und polnische Künstler und französische Dichter und französische Maler füllten an Sonntagabenden die ärmliche pariser Malerwerkstatt, wenn die Polin Empfang hatte. Dann reichte die Künstlerin in ihren wenigen Tassen den Tee herum, schlicht und anspruchslos zwischen ihren Gästen sitzend. Das Echo aller europäischen Kunstbestrebungen und das Echo aller europäischen Dichtergeister lebte in den klugen Meinungen, die an jenen Sonntagabenden in dem wenig erleuchteten riesigen Glasraum zwischen jener Frau und ihren Gästen lebhaft ausgetauscht wurden.

Eine Schwester dieser Malerin studierte in Paris Chemie. Und ich erinnere mich, daß mir eines Tages die Künstlerin, als sie mich malte, mit außergewöhnlich lebhaften Augen erzählte, ihre Schwester sei jetzt in jener chemischen Abteilung in Paris beschäftigt, in welcher man auf künstlichem Wege Diamanten herzustellen versuchte.

„Ach,“ sagte sie lächelnd, halb ernst, halb spaßhaft, „wenn meine Schwester es lernen wird, Diamanten zu machen —“ und sie vollendete den Satz nicht und malte weiter und sah mich nicht an, weil sie schon erschrocken war, sich vielleicht verraten zu haben. Denn sie wollte niemand wissen lassen, wie schlecht es ihr gehe. Sie sagte zu jedermann, daß ihr Vater sie unterstütze. Aber später erfuhr ich, daß sie dieses nur sagte, um nicht bemitleidet zu werden. Sie hoffte auf die künstlichen Diamanten, träumerisch und belustigt!

Nie klagte sie in Worten, aber ihr demütig stilles feines Wesen klagte, ohne daß sie es selbst wußte. So sagte sie einmal an einem eisigen Wintertag lachend zu mir:

„Das große Atelier heizt sich so schwer, und deshalb muß ich mich nachts, um nicht zu frieren, in alle möglichen Teppichlappen und Jacken und Schals einwickeln. Sie würden mich gar nicht wiedererkennen, wenn Sie mich einmal morgens so sehen könnten, wie vermummt ich da bin. Und ich muß immer lachen, wenn ich mich morgens beim Aufstehen zufällig im Spiegel sehe.“

Die arme Künstlerin kehrte jeden Morgen ihre Werkstatt eigenhändig mit den zierlichsten Händen der Welt und heizte selbst den kleinen groben Ofen, um das Geld für die Bedienung zu sparen. Und dabei hingen von ihr unsterbliche Werke im Luxembourgmuseum, und sie hatte bereits verschiedene goldene Medaillen in londoner und pariser Kunstausstellungen erhalten.

Ich finde, das polnische Volk hätte weinen und trauern müssen tagelang, nachdem sich jene begabte Frau in Warschau verzweifelt auf die Schienen geworfen hatte. Die Lokomotive, die den zarten und von Entbehrungen geheiligten Körper dieser Künstlerin rasch unter ihren Eisenrädern zermalmt hat, sie, scheint mir, war barmherziger als das Volk, das eine seiner besten Künstlerinnen hat hungern und darben lassen.

Haben denn die Künstler nicht genug mit der Bewältigung ihres Gefühlslebens zu tun, mit der Bewältigung ihrer Weltbetrachtung, mit der Erringung eines ruhigen Künstlerstandpunktes, von dem aus sie nie dagewesene Werke aufbauen müssen! Warum sollen Künstler auch noch die Nahrungssorgen bewältigen, sie, die von der Natur geboren sind zu schenken, Höchstes und Erdentrücktes. Sie, die nicht wie die Beamten und Offiziere in Wiederholungen und vorgeschriebenen Richtungen ihr tägliches Amt erfüllen können. Sie, die nach jedem vollendeten Werk ein neues, ganz anderes, niedagewesenes Werk beginnen müssen. Sie, die tiefste Sammlung, tiefste Verinnerlichung der Arbeitskräfte vom Gedanken des Geldverdienens trennen muß, weil sonst das Künstlerwerk unrein, unkünstlerisch wird und nicht Ewigkeitswert erreicht und nicht erhebende Kraft spenden kann.

Sie, denen das entstehende Kunstwerk sogar verbietet, an Ruhm und Ehre zu denken, sie, die also nur auf sich hingewiesen, ohne Rücksicht auf ihren Vorteil oder Nachteil, schaffen müssen und auch von der Natur so geboren sind, um nur so schaffen zu können, sie, die nie den Geldverdienst im Auge haben dürfen, damit ihr Auge rein bleibt wie das Auge eines Heiligen und eines Helden; sie, die so veranlagt sind, so hilflos dem Verdienst gegenüber — ihnen sollte nicht die ganze Nation, die später jene künstlerischen Werke genießt und deren Eigentumsrecht beansprucht und die durch die Künstler mit Ruhm bedeckt wird — ihnen sollte nicht die Nation einen würdigen Platz in ihrer Mitte bei Lebzeiten einräumen können?

Wenn es bis heute nicht in dem Maß geschehen ist, wie es geschehen muß, so sind daran schuld der unaufgeklärte Zeitgeist und eine veraltete Weltanschauung. Aber mit der Anerkennung der Festlichkeit des Lebens werden die Völker nicht anders können — wenn sie ehrlich sein wollen —, als dem nicht nach Geld streben dürfenden Künstlertum freie Entwicklungswege und freie Pflege zu bieten.

Das Volk hatte bisher die falsche Meinung, daß das Künstlertum mit der Leichtlebigkeit, dem Leichtsinn, der Verschwendung und der Unzuverlässigkeit unzertrennlich zusammenhängen müsse, ebenso wie mit der Launenhaftigkeit. Die Leute zucken die Schultern über den Künstler, wenn sie manche seiner Handlungen nicht begreifen, und sagen zwar entschuldigend: „Es ist eben ein Künstler. Der darf das tun. Ein wenig leichtsinnig, ein wenig leichtlebig, ein wenig verschwenderisch, ein wenig launisch, ein wenig unzuverlässig darf er schon sein. Es ist ein Künstler.“ Aber man verachtet trotzdem die künstlerische Sorglosigkeit.

Ich frage: in welchem Stande fänden sich nicht obige Eigenschaften? Wer kann mir einen Stand nennen, in welchem nicht leichtlebige, leichtsinnige, verschwenderische, unzuverlässige und launenhafte Leute zu finden wären? Gibt es nicht unter den Offizieren Schuldenmacher, Spieler? Gibt es nicht unter den Kaufleuten, unter den Handwerkern leichtlebige, unzuverlässige, verschwenderische Menschen?

Ich habe am Eingang dieses Buches gesagt, daß dem Künstler, als sechster Sinn, die Sorgenblindheit angeboren ist. Das will aber nicht sagen, daß er die Sorgen nicht sieht und von ihnen nicht mehr geplagt wird wie jeder andere Mensch. Der Künstler hat von der Natur die Kraft bekommen, über die Sorgen hinweg in geistige Erhebung kommen zu können, und so scheint es denen, die das nicht vermögen, als wäre der Künstler bei allen Sorgen leichtsinnig und sorgenlos. Aber da sein Beruf in der Erdentrücktheit liegt, wird der Künstler doppelt schwer betroffen, wenn er von seiner Arbeit, der weltentrückten, zur Wirklichkeit zurückkehrt und statt des Lohnes die Nahrungssorge neben sich sitzen sieht.

Das Volk besoldet seine Priester. Warum? Weil man sagt, sie dienen einem Wesen, das sie nicht bar bezahlt; sie dienen einem Ideal. Und was tun die Künstler anderes? Dienen sie nicht alle dem Kunstideal? Schöpfen sie nicht täglich aus der Unwirklichkeit neue Gefühls- und Hoheitswerte? Und verdienen sie darum nicht, daß ihr ihnen wenigstens denselben Lohn gebt wie euren Priestern, wie euren Bischöfen? —

Ich habe einmal einer Verschwendungsszene in einem Künstlerhaus beigewohnt. Jener Künstler ist jetzt ein vielgefeierter Mann, und sein Name ist berühmt. Aber dieses trug sich vor zwanzig Jahren zu, als er noch jung war und erst an der Schwelle zur Berühmtheit stand.

Er hatte damals noch einen Brotberuf und konnte sich nur nebenbei mit seiner Kunst beschäftigen und litt sehr unter diesem Doppelleben. Eines Abends, als ich sein Haus besuchte, fand ich seine Frau allein mit dem jüngsten Kinde auf dem Arme, und sie klagte mir, halb lachend, halb weinend:

„Sehen Sie, was er wieder gemacht hat! Ist das nicht ein toller Mensch? Gestern hat er seinen Monatsgehalt bekommen, und auf dem Heimweg kam er an einer Teppichhandlung vorüber, in welcher dieser kleine Teppich ausgestellt war. Und denken Sie, dieser Teppich reizte ihn durch seine Farbenzusammenstellung so sehr, daß er sich nicht enthalten konnte, in den Laden einzutreten und den Teppich zu kaufen. Und drinnen im Laden fällt ihm ein wunderbares venezianisches Kelchglas, ein rubinfarbenes, auf, und auch dieses mußte er haben.

Und er legte für beides seinen ganzen Monatsgehalt auf den Tisch. Er ließ sich dann den Teppich zusammenrollen und nahm das Rubinglas dazu und kam vergnügt, als wenn er das große Los gewonnen hätte, zu mir nach Hause. Dann rollte er den Teppich hier mitten im Zimmer auf und ging am Abend stundenlang jubelnd und entzückt, die Augen auf den farbigen Teppich gerichtet, auf und ab, hin und her. Und dazwischen hielt er den venezianischen roten Rubinkelch gegen das Lampenlicht und freute sich wie ein Kind, dem man eine Blume geschenkt hat.

Warten Sie nur, er wird gleich nach Hause kommen. Dann werden Sie selber sehen, wie er sich benimmt. Aber ich kann ihm nicht einmal böse sein. Er freut sich zu sehr. Ach, sagen Sie nur, was macht man mit solchem Menschen? Sie können sich vorstellen, daß in einem Haushalt, wo Kinder sind, der ganze Monatsgehalt nicht für Teppichfreuden und für ein venezianisches Glas verwendet werden darf.“ So klagte die junge ratlose Künstlerfrau.

„Sind Sie ohne Sorge,“ sagte ich, „es wird ein schönes Kunstwerk, irgendeine künstlerische Eingebung aus dem Teppich und aus dem Rubinglas Ihrem Manne gegeben werden.“

„Ja, das sage ich mir auch,“ meinte die junge Frau aufatmend, „und das tröstet mich auch. Es ist ja eigentlich auch keine Verschwendung von meinem Manne, da sich solche Ausgaben immer wieder bei ihm künstlerisch umsetzen. Aber augenblicklich hätten wir den Monatsgehalt nötiger gehabt als den Teppich und das venezianische Glas.“

Die Frau des Künstlers hatte verständig als Künstlerfrau und verständig als junge Mutter gesprochen. Die Liebe zu ihrem Mann hatte ihr tiefes Verständnis für seine Handlungen gegeben, und die Liebe zu ihren Kindern gab ihr aber auch zugleich die laute Klage auf die Lippen. Man hörte ihr aber an, sie wußte nicht recht, durfte sie klagen oder nicht. —

Tritt die Verschwendung in anderen Gesellschaftsklassen nicht in wilderer Art auf? Die Verschwendung des Künstlers setzt sich stets in neue Eingebungen um. Die Verschwendung aber in anderen Kreisen bleibt barer Schaden, ohne daß er sich in Gewinn umsetzt. Und wie klein sind im Grund die Verschwendungen, die sich ernste Künstler leisten oder geleistet haben, im Verhältnis zu dem Aufwand, den Offiziere, Beamte und Kaufleute über ihre Verhältnisse wagen!

Auch ist ein ernster Künstler immer mehr von seinem Gewissen geplagt als irgendein anderer Mensch. Und die meisten Künstler, die ich traf, haben weniger Luxusschulden gemacht als Schulden, die den Lebensunterhalt betrafen.

Ich habe aber nie einen ernsten Künstler getroffen, der das Leben nicht schwer genommen hätte. —

Man könnte falscherweise annehmen, ich hätte, wenn ich von ehrender Versorgung sprach, die dem Künstler die Heimatstadt und der Staat bieten sollten, gemeint, man sollte die Künstler äußerlich auffallend ehren. Dieses aber wäre das schrecklichste Leid, was man dem stillen Künstler antun könnte. Es gibt zum Beispiel nichts Störenderes für den echten Künstler, als wenn er mit Nachfragen, Aussprüche zu fällen, Vereinen beizutreten, Bild und Autogramme zu liefern und ähnlichen Verlangen geehrt wird. Möglichst unauffällig, möglichst unsichtbar und möglichst unbeobachtet will und soll der ernste Künstler seine Werke schaffen.

Wohl sehnt jeder Künstler sich nach Beifall und Widerhall und freut sich, wenn seine Arbeiten ihm die Herzen seines Volkes zuführen. Aber nicht in auffallender Ehrung und nicht auf seine Person soll und will der echte Künstler die Anerkennung hingelenkt wissen.

Der Künstler will und soll immer hinter seinen Werken zurücktreten. Nur auf diesem bescheidenen Platz wird er sich ewig fruchtbar fühlen. Darum sichert ihm sein Leben, sichert ihm Wanderfreiheit, nehmt ihm die Alltagssorge ab! Aber krönt ihn erst nach seinem Tode, zerrt ihn nicht bei Lebzeiten aus seiner Verinnerlichung heraus in die verflachende Öffentlichkeit.

In alter Zeit, wenn in Japan der Kaiser in seiner Sänfte durch die Straßen getragen wurde und reiste, da war es bei Todesstrafe verboten, daß ihn das Auge eines seiner Untertanen ansah, ihn, den Sohn des Himmels. Die Menschen mußten sich alle mit der Stirn auf die Erde neigen, und niemand im Volk hatte je den Kaiser gesehen, und nirgends durfte ein Bildnis von ihm hergestellt werden.

Der leitende Gedanke dabei war wohl der, daß das Idealbild, das sich das Volk von einem Sohn des Himmels im Geist gemacht hatte, nicht zerstört werden sollte, und auch der Kaiser selbst mochte nicht von tausend Gaffern in seiner kaiserlichen Ruhe und Würde gestört werden. Und dieses letztere wird jeder echte Künstler dem japanischen Kaiser am besten nachempfinden können.

Wie störend sind heutzutage die Zeitungsumfragen, mit denen die Künstler geplagt und gestört werden. Nur eines Augenblicksreizes wegen, nur um einen leeren Neugierreiz der Masse zu befriedigen, soll der Künstler antworten. Der Künstler sollte immer ein unsichtbarer Schöpfer bleiben dürfen. Und ich denke mir, der allerschönste Nachruhm für einen echten Künstler ist der, daß sein Kunstwerk namenlos groß bestehen bleibt, daß er auf viele Zeiten und Völker befruchtend mit seinem Werke wirkt, aber daß sein Leben hinter dem Werk verschwindet. So daß man in späten Zeiten nichts von ihm weiß und sich über seine Herkunft streitet, da er so bescheiden und unauffällig gelebt hat, daß sein Leben verschwinden konnte hinter seiner starken Arbeit, hinter seiner starken Schöpfung, die erst sein eigentliches Leben, sein unsterbliches, ewiges Dasein bedeutet.

Wir wissen von den Gesängen der „Edda“ nicht mehr die Namen der Dichter. Wir wissen vom „Nibelungenlied“ nicht mehr, wer es gedichtet hat. Wir wissen von vielen schönen alten Volksliedern nicht mehr, wer sie gesungen hat. Kümmern wir uns darum, wenn wir die Märchen von „Tausend und eine Nacht“ lesen, nach den Namen der arabischen Dichter zu fragen? Wunderbare Werke reißen uns so fort, daß wir darüber den Dichternamen vergessen.

Und dieses, dünkt mir, ist die allerhöchste Anerkennung für einen Dichter, wenn seine Werke so blind hinreißend die Menschen packen können, daß seine Werke selbständige Welten wurden, und daß nur des Dichters Nation, daß nur ihr Name an Stelle des Künstlernamens tritt.

Dieses Vergessen des Künstlers darf aber nicht aus Vergeßlichkeit, aus Rücksichtslosigkeit, aus Geistesbeschränktheit seines Volkes entstehen. Sondern die Kraft seiner Schöpfung muß den Künstler vergessen machen, die Kraft der Hingabe an das Kunstwerk, die Kraft, die das Kunstwerk so überwältigend gestaltet hat, daß man den Dichter deutlich zu kennen, zu sehen, zu hören glaubt und dabei ganz vergißt, nach seinem Namen zu fragen.

Nur so soll diese höchste Anerkennung entstehen. Man ist dann dem toten Künstler viel näher und ist ihm näher noch als sein eigener Name ihm gewesen ist. Man wird eins mit ihm in Körper und Geist, als wäre man selbst der Schöpfer jener Kunstwerke.

Die Persönlichkeitsvergötterung, die heutzutage getrieben wird mit lebenden Künstlern, ist, so wohlgefällig sie im Augenblick für beide Teile sein kann, im letzten Grunde kunstfeindlich. Nur die Kunstwerke sollten gefeiert werden. Für das Leben des Künstlers aber soll in unauffälliger, ehrerbietiger Weise von Heimat und Staat gesorgt werden. Des Künstlers Person aber soll nur dadurch geehrt werden, daß man den Künstler ungestört, unbelästigt von vergötternder Neugierde, unbelästigt von äußerlichen, persönlichen Ehrungen sein Lebenswerk vollenden läßt. Denn der Widerhall, die Nachricht wie seine Werke wirken, wird immer zu ihm dringen, und dies wird und soll ihm genügende Befriedigung sein. Und das Bewußtsein, daß er stillschweigend, mehr und mehr, als der Stolz seiner Stadt und als der Stolz seines Landes mit anderen Künstlern zugleich gepriesen wird, muß ihm genügen, wenn er sich ernst nimmt.

Heutzutage leben fast die meisten Künstler, aus ihrer Heimat entwurzelt, einer Großstadtkunst ergeben. Denn ihr Weltdrang wurde in den jungen Jahren nicht genügend befriedigt. Und statt daß sie von aller Welt Lebenseindrücke aufnehmen können, müssen sie in den Kaffeehäusern der Großstadt oder im Großstadtgetriebe Kreise bilden und sich dort zusammenhalten, um sich leben zu fühlen.

Da die Nation den Heranwachsenden keine Hand zum Vorwärtskommen, zum Weltbetrachten bot, nicht durch Reiseerleichterung, nicht durch Unterkunftshäuser, nicht durch Heimatsverpflegung, so bildeten sich in den Großstädten unter den entwurzelten Künstlern jene kommenden und gehenden, hastigen, neuheitswütigen Kunstrichtungen aus. Denn die jungen Männer wurden unruhig, angepeitscht vom beirrenden Großstadtgetriebe, hastig im Ausdenken neuer Kunstwerte. Ich erlebte eine ganze Reihe solcher kommender und schwindender Kunstrichtungen in den jetzt bald fünfundzwanzig Jahren meiner Erfahrung.

Die Zeitbetrachtung aber wird in späteren Jahrhunderten nur feststellen, daß um die Wende des zwanzigsten Jahrhunderts, ähnlich wie um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts, eine sich neubildende Weltanschauung die Künstler zu neuen Formen in der Dichtung, wie in der Malerei und der Musik kommen ließ.

Und dann wird auch dieses einmal vergessen werden, und es werden nur einzelne Lieder, einzelne Kunstwerke dastehen, und man wird, um ihre Entstehungszeit zu bezeichnen, sich kurz fassen, wie man von diesen und jenen Volksliedern heute sagt: „Sie sind aus dem zehnten oder zwölften Jahrhundert entstanden,“ oder, „sie sind um die Zeit Karls des Großen entstanden.“ Dieses wird dann die reinliche Ausscheidung des Bleibenden von dem Nebensächlichen sein. Von den Geburtswehen verschiedener Kunstrichtungen wird man nichts mehr wissen oder nicht viel darnach fragen. Das Kunstwerk allein soll wie ein kleiner oder großer Stern am Himmel der Vergangenheit stehen.

Das Sichzusammenschließen der Künstler, das Richtungen hervorbrachte, die schnell auftauchten und schnell von neuen Richtungen abgelöst wurden, trat wohl niemals so stark auf als in den neunziger Jahren. Die Wichtigsten aller dieser Richtungen aber blieben der Naturalismus und die Neuromantik, die sich gegenseitig den Rang streitig machen wollten. Zwei große Gegensätze kämpften damals unter den Künstlern.

Der Naturalismus hat das Wirklichkeitserleben der Dichter geschult, und dann kam später wieder Schulung der Gedanken- und Phantasiewelt hinzu, die man zu Anfang der neunziger Jahre vor lauter Schwelgen im Wirklichkeitserkennen versäumt hatte.

Ich glaube aber, daß literarische Richtungen nie mehr so hastig auftauchen werden wie damals, keine sich überstürzenden Richtungen mehr einander ablösen werden, sondern daß ein selbstverständliches, geistvolles Erzählen und ein ganz selbstverständliches Liedersingen, jedem Land angepaßt und jeder Provinz angepaßt, im ganzen Reich einsetzen wird, sobald Dichter und Volk wieder eine feststehende Weltanschauung bekommen haben.

Die christliche Weltanschauung war einmal ein künstlerisch befruchtendes Ideal und hat einmal Künstler und Volk eng zusammengeführt. Und auch in heidnischer Zeit, als die Götterideale bestanden, sind Künstler und Volk einheitlich begeistert worden.

So wird auch die Anschauung von der natürlichen Festlichkeit des Lebens, von dem Bewußtsein, daß wir alles besitzen und alle uns besitzen, zugleich mit der Erkenntnis, daß wir im tiefsten Grunde Schöpfer und Geschöpf, unwirklich und wirklich sind und Festgeber und Gast des Lebensfestes sind, ein einheitliches künstlerisches Ideal werden können. Denn diese Weltanschauung wird in einem Volke oder in allen Völkern der Erde, wenn sie Fuß gefaßt hat, die Herzen und die Gehirne des Menschen festlich kunstfreundlich erwärmen und erleuchten. Dann werden nicht mehr nach zwei, drei Jahren Kunstrichtungen auftauchen, Künstler und Volk verwirrend.

Dann werden Künstler und Volk sich nicht mehr entfremdet sein. Dann wird wieder stillschweigendes Einverständnis zwischen Künstler und Volk herrschen, wenn die Menschen — welche die Festlichkeit des Weltallebens und ihres eigenen Lebens anerkannt haben — nicht mehr nur die Welt als ein Jammertal oder als ein Durchgangsaufenthalt zum besseren Leben betrachten, sondern Zeit zum Kunstgenuß finden, und Zeit haben werden zur künstlerischen Vertiefung in alles Weltalleben.

Jedes so aufgeklärte Volk wird mit der dem Künstler angeborenen Festlichkeit Schritt halten können, wenn es sich zu dem Standpunkt aufschwingt, daß alle Leben sich selbst belohnen und selbst bestrafen, daß alle Leben teilhaben an der Allmacht, an der Allwissenheit und an der Unsterblichkeit des Weltallfestes, und daß alle Leben, zu festlichem Dasein zusammengekommen, Festlichkeit schaffen wollen. —

Wie es ein Schaden für das Land ist, wenn Bauern und Landleute in großen Massen die Dörfer verlassen und, statt Landbau zu pflegen, einen Stadtberuf wählen, so ist es ein Schaden für die Kunst und für das Künstlertum, wenn Künstler in Massen ihre Heimatorte verlassen und sich in den Großstädten ansammeln, weil sie glauben, dort ihren Welthunger befriedigen zu können.

Gebt den Künstlern kostenlos Reisefreiheit zu Wasser und zu Land, gebt dem Künstler sein Heimathaus in der Vaterstadt oder in ihrer Umgebung und gebt ihm Unterkunftshäuser — in der Art von Klubwohnhäusern in den Weltstädten —, wo jeder Künstler freie Verpflegung findet. Und er wird bei freier Reisemöglichkeit gar nicht den Drang haben, in den Weltstädten, die ihm im letzten Grund nur vorübergehend zusagen, sich für das ganze Leben dort niederlassen zu wollen. Das heißt, wenn er nicht selbst in einer der Großstädte geboren und dort zu Hause ist.

Die Möglichkeit, verschiedenste Länder und Weltstädte kostenlos besuchen zu können, und die Möglichkeit, kostenlos zur Bereicherung des Weltüberblickes große Seereisen machen zu können, alles dieses wird den Künstler nicht mehr heimatentwurzelt, sondern heimatsansässig machen, wenn er, heimgekehrt von den Reisen, die Arbeitsruhe ersehnt.

Wir leben in einer Zeit, die mehr von überzüchteter Großstadtdichtung lebt als von wohlgepflegter Heimatdichtung, welche in verschiedenen Landesteilen aus den verschiedenen Landschaften und verschiedenen Landschaftseelen aufblühen könnte, die aber nichts mit beschränkter Lokaldichtung gemein haben soll.

Man stelle sich vor: eine Provinzbevölkerung wohnt um einen Fluß oder um einen See. Eine andere Bevölkerung ist hauptsächlich auf Wald- und Wiesenland angewiesen. Eine dritte Provinz ist eine Heidelandschaft. Eine vierte liegt an der Meeresküste, eine fünfte liegt im Binnenland, in Bergen bei Bergseen, eine sechste kennt nur Gruben, Bergwerke, Fabriken, eine siebente treibt Ackerbau und hat Weinland und Hügellandschaft.

Wie verschieden ist die eine Bevölkerung von der anderen in jedem Landkreise! Wie verschieden müssen die Männer jeder Provinz denken und arbeiten! Und wie verschieden wird die Frauenschönheit, die im verschiedenen Menschenschlag, im verschiedenen Landeskreis auftritt, vom Künstler besungen und wiedergegeben werden müssen.

Es haben wenige Künstler ihre Heimat so geliebt wie zum Beispiel Fontane seine Mark liebte, und wie der Maler Hans Thoma sein badisches Land liebt. Wie jeder weise Mensch seine Eltern und seine nächste Familie näher fühlt als die Fremden, so wird in jedem Dichter die Heimatliebe zugleich mit der Liebesleidenschaft zu dem Weib, das er sich von irgendwo aus der Welt nach Hause geholt hat, am besten die innigsten und herzlichsten Stimmungen und Bilder aus seiner Dichterkraft auslösen.

Von allen großen Künstlern wissen wir, daß sie gerne gewandert sind. Ich erinnere nur an die Deutschen Walter von der Vogelweide, Dürer, Goethe. Und wie fruchtbar blühte Geist und Herz des Künstlers nach der Wanderzeit. Denkt an Richard Wagner, denkt an Nietzsche. In den jungen Jahren zogen sie alle hinaus und wechselten Ort um Ort. Aber der war nie ein großer Künstler, der nicht endlich seßhaft werden konnte. Und glücklich der, der dann die Seßhaftigkeit wieder in der Heimat finden durfte. —

Über meinen Lebenslauf in meinen Wanderjahren berichtete ich zuletzt von Stockholm, vom Winter 1894, von den Sonntagsbesuchen bei Ellen Key, wo ich den norwegischen Lyriker Sigbjörn Obstfelder, den Dichter der Traurigkeit, kennen gelernt hatte.

Eines Tages erzählte mir Obstfelder, er habe bei seiner letzten Sommerwanderung, als er mit seinem Geigenkasten durch die Berge Norwegens zu Fuß gereist war, eine junge schwedische Dame mit ihrer Mutter kennen gelernt. Der Vater der jungen Dame sei ein Großkaufmann. Obstfelder war jetzt öfters im Winter in dem Landhaus jener Familie draußen vor Stockholm zu Gast.

Im Laufe des Winters ergab es sich dann, daß ich jene junge Dame durch Obstfelder kennen lernte. Ich traf sie einige Male in einem stockholmer Lesesaal, wo man für zwanzig Öre stundenlang in einem lautlosen Zimmer Zeitungen aus aller Welt lesen konnte, und wo auch Bücher zu leihen waren. Später war ich dann in ihrem Hause eingeladen und hatte die Familie kennen gelernt.

Gleich nach der ersten Begegnung hatte ich, was mir sonst so schnell noch nie vorgekommen war, ein Gedicht über das schöne Goldhaar jenes Mädchens geschrieben. Ich merkte aber auch dabei, daß ich zum erstenmal in meinem Leben mehr als nur flüchtig verliebt war. Ich fühlte erstaunt, daß die ernsteste Seite meines Gefühls angeschlagen war.

Ungläubig und verwundert kämpfte ich zuerst gegen den befremdeten Liebesernst an, der beinahe schmerzlich in mir wach geworden war. Ich mußte mir immer wiederholen: nur mit diesem Mädchen, bei welchem scheuer, starker Geist und gesunder, keuscher Körper zusammenlebten und mir nicht bloß vom süßen Verlieben sprachen, sondern vom tiefen Zusammengehören, würde ich gern täglich meine Zukunft teilen.

Und bei ihr, sagte ich zu mir, kann ich mir den Begriff Ehe vorstellen. Vielen lieblichen, reizvollen, unterhaltenden und brennend berückenden Frauengeschöpfen war ich vorher begegnet. Manche hatte meine Sinne gefesselt, manche meine Gedanken unterhalten, manche hatte mir schöne Träume gegeben. Und verschiedenste Liebesgefühle konnte ich mir bei all den verschiedensten Mädchen vorstellen, jede war wie eine Farbe oder eine Farbenabstufung gewesen. So wie man einmal ein schönes Blau liebt, einmal ein feuriges Rot, einmal ein erfrischendes Grün, einmal ein stolzes Goldgelb, so wie einzelne Farben belebend und entzückend wirken können, so waren mir verschiedene Mädchen vorher nahe gekommen. Aber wie man nicht nur eine Farbe sein Leben lang ansehen möchte, so war ich immer bei jeder Frau früher oder später dem Gedanken ausgewichen, eine von ihnen meinem Leben für immer verbinden zu wollen.

Aber dieses schwedische Mädchen jetzt war die erste, die keiner einzelnen Farbe ähnlich war. Sie war, wie jeder Lebenstag, eine Vereinigung aller sieben Farben. Ich konnte erschütterndes Rot in ihr finden und besänftigendes Blau, das erquickende Grün und das machtvolle Goldgelb. Ihr Herz war von der Natur warm und verständig gebildet, so daß es nicht wie ein einfarbiges bengalisches Feuer mein Herz nur festlich blendete, sondern ich fühlte mich in jenes Mädchens Nähe festlich befriedigt und wußte, nachdem wir uns kaum einige Stunden gesehen hatten, daß ihr Leben mir gehörte, und daß das meine ihr gehören müßte.

Eigentlich wäre es das Einfachste gewesen, wenn ich ihr dies alles gleich gesagt hätte. Aber die neue Liebeserkenntnis war, wenn ich die Lippen öffnen wollte und sie zu ihr aussprechen sollte, mir selbst noch so ungeheuerlich überraschend, daß ich zauderte und immer schweigend hinhorchte, ob ich nicht den Schall und die Aufregung dieses Ereignisses in und um mich laut werden hören könnte.

Ich war bestürzt dumm wie Hans im Glück. Eines nur bestätigte mir den Hall des Ereignisses. Das war die Tatsache, daß ich über diese Frau in den nächsten Tagen wieder ein Gedicht machen mußte und wieder ein Gedicht — und so fort bis auf den heutigen Tag. Und dieses Besingen ihrer Erscheinung war natürlich der Schall des laut gewordenen ernsten Gefühles, das mich erschütterte.

Es war im Frühjahr 1895. Niemand außer dem jungen Schweden hatte ich es gesagt, daß ich mir meine zukünftige Frau in jenem jungen Mädchen vorstellen konnte, das ich öfters, bei verschiedenen Gelegenheiten, bald in Gesellschaft anderer, bald zufällig allein im Lesesaal wiedergesehen hatte. Der jungen Dame selbst hatte ich keine Andeutung gemacht. Denn ich fand es ganz lächerlich, daß ich junger Fremdling, der ich nur von meines Vaters Gnade leben durfte und mich hilflos vor einer ganz unklaren Zukunft befand, wagen sollte, an die Möglichkeit zu denken, vor den Vater dieses Mädchens hinzutreten, um seine Tochter als Frau zu verlangen.

Meine Verhältnisse hatten sich nicht geändert. Und in den Bürgerkreisen rechnete man es einem jungen Mann, der nicht Universitätsstudent war, übel an, wenn er in meinem Alter von siebenundzwanzig Jahren noch keine anderen Einnahmen hatte als die Unterstützung von zu Hause.

Täglich fühlte ich mich gedemütigt von dieser Lebenseinrichtung, die den jungen Dichter oder jungen werdenden Schriftsteller lieblos und gedankenlos behandelt und ihm keine staatliche Lebensvergünstigung, keine staatliche Fürsorge für sein weiteres Fortkommen und für seine Entwicklung bietet. Von Monat zu Monat mußte ich in ausführlichen und eindringlichen Briefen immer wieder meinen weiteren Unterhalt von meinem Vater erbitten.

Wie hätte ich da wagen sollen, in einem fremden Land in ein reiches Kaufmannshaus einzutreten und um die Hand der Tochter zu freien! Wenn ich auch auf ein späteres Erbteil von zu Hause rechnen konnte, so lag mir das doch ganz fern, solange mein Vater lebte, etwas von seinem Tod erhoffen zu wollen. Dieser Gedanke hätte mir nicht geschmeckt, und ich hätte nicht gewagt, mich auf diesen Gedanken zu stützen und den Vater des Mädchens darauf hinzuweisen.

Im Frühjahr 1895 begegnete ich eines Tages, als ich in Stockholm in einen offenen Trambahnwagen aufsprang, der jungen Dame, die bereits eingestiegen war. Und ich saß neben ihr, sehr vergnügt darüber, sie einmal ganz allein und nicht in dem lautlosen Lesesaal zu sehen, wo man sich neben anderen Lesern immer nur ein geflüstertes „Guten Tag“ und „Lebewohl“ hatte zunicken können.

Es war elf Uhr vormittags, und die Sonne schien freundlich, als hätte sie uns beide zusammengeführt, und als freue sie sich jetzt mit uns. Draußen eilten während der Fahrt die sonnenbeleuchteten Häuser vorüber und Stockholms Brücken, die Bildsäulen der Könige, die Schiffe im lebhaften Mälarenwasser und das vornehme Stockholmer Schloß, das wie eine einzige Terrasse über das stahlblaue Stromwasser herschaut.

Mir schien, ich hatte die schwedische Hauptstadt nie so glänzend und frühlingsbewegt gesehen als jetzt an der Seite des jungen Mädchens, die einen gütigen Hauch von Familienunschuld mit einer frischen, neuzeitlichen Weltart in ihrem sicheren und freundlichen Wesen vereinigte.

Ich war beglückt, daß sie einiges über mich wissen wollte, wenn es auch nur kleine unbedeutende Fragen waren, die sie an mich richtete. Einen Augenblick war es mir, als führen wir beide ganz allein durch die Welt. Und da kam es mir leicht über die Lippen, ihr zu erzählen, daß ich ein paar Gedichte über sie geschrieben hatte.

Sie sah erstaunt und erfreut aus und fragte, ob sie die Gedichte lesen dürfte. Da aber wurde mir klar, daß diese Gedichte die innerlichste Liebeserklärung enthielten, der ich je in meinem Leben Wort gegeben hatte. Und ich wußte nicht recht, ob ich ja oder nein antworten sollte. Indessen hielt der Trambahnwagen, und die junge Dame mußte aussteigen. Und im Aussteigen sagte sie nochmals:

„Bitte, bringen Sie doch die Gedichte in den Lesesaal mit.“

Ich sagte rasch: „Nein, ich werde sie Ihnen mit der Post schicken.“

„Ich bitte, tun Sie es bald,“ rief sie mir noch zu und reichte mir die Hand.

Aber kaum war ich im Wagen allein und kehrte wieder zu meinem nüchternen Sorgendasein zurück, da sagte ich mir: sie hat keine Ahnung, was diese Gedichte sagen. Sie glaubt vielleicht, es sind nur ein paar spöttische oder schelmische Reimereien. Und ich nahm, als ich nach Hause kam, die Gedichte und las sie noch einmal durch. Und während ich las, war es mir, als säße die junge Dame wieder neben mir, wie vorher in dem Trambahnwagen.

Und da überströmte mich ein warmes zukunftsgläubiges Gefühl, und ich sagte mir: mag werden, was will. Mag sie mich verlachen oder mag sie erschrecken — ich werde ihr die Gedichte schicken. Und ich schrieb dieselben auf schöne saubere weiße Blätter. Aber schon während des Schreibens schämte ich mich wieder, und mein Zimmer und ich selbst wurden mir unheimlich.

Mein Blut wogte dann auf und nieder, als ich die Blätter in einen Briefumschlag getan. Und als ich meinen Mantel anzog, um zum Briefkasten zu gehen, war mir jede meiner Bewegungen fremd und neu. Es wurde mir klar, die nächsten Tage mußten etwas ganz Ungewohntes bringen. Ich konnte mir aber nicht ausdenken, wie sich jenes Mädchen benehmen würde, wenn es die Gedichte empfangen hatte.

Entweder, sagte ich mir, war ich, wenn es die Gedichte gelesen hatte, sein erklärter Bräutigam vor meinem und seinem Herzen oder, wenn es sich ablehnend und erschrocken benahm, müßte ich gleich fort aus dieser Stadt. Denn nach dem Überreichen der Gedichte würde es mir nicht möglich sein, in denselben Straßen zu gehen, wo die Geliebte täglich ging, und in diesen Straßen unter ihren Augen meine ihr offenbarte Sehnsucht kalt zu machen und zu begraben.

So lange sie nichts von meiner Neigung wußte und kein Wort, kein Blick, kein Gedicht mich ihr verraten hatte, konnte ich in ihrer Nähe alle meine Träume und meine Hoffnungen entstehen, kommen und gehen lassen und war immer noch mein eigener Herr über mein inneres Leben. Aber wenn ich diesen Brief mit den Gedichten dem Briefkasten übergeben hatte, war ich der Knecht einer Aufrichtigkeit geworden, die vielleicht verfrüht war oder vielleicht niemals jener Frau zu Bewußtsein kommen sollte.

Ich ging dann am ersten Briefkasten vorüber und sagte mir: es gibt mehr Briefkästen. Und ich ging an dem zweiten Briefkasten vorüber und sagte mir: du hast ja den ganzen Tag Zeit, den Brief in den Briefkasten zu werfen. Und so kam ich zur Straße, in der die Stadtwohnung der Familie jenes Mädchens war. Und da war wieder ein Briefkasten. Dieser war der verführerischste von allen Briefkästen.

Ich ging dort ein paarmal auf und ab; aber während ich von weitem das Haus ansah, wo jene junge Dame ahnungslos in ihrem Familienkreis, bei ihrem tüchtigen Vater und bei ihrer tüchtigen Mutter, von Sitte und Würde umgeben, wohnte, da befiel mich wieder die Scham vor meiner Armut.

Nein, niemals, sagte ich mir, werde ich mich lächerlich machen, und ich werde in einem fremden Land nicht um ein fremdes reiches Mädchen werben, ehe ich nicht genug besitze und frei und unbefangen das Vertrauen der Eltern fordern kann.

Es war mir darnach nicht schwer, den Briefkasten zu meiden. Und ich eilte, so schnell ich konnte, zu meiner Straße zurück. Und wenn es mir auch unterwegs öfters noch einen Ruck gab, und ich schnell einen hastigen Griff in die Tasche tun wollte, um den knisternden Briefumschlag mit den ehrlichsten Liebesgedichten in den nächsten Briefkasten zu werfen, so kam ich doch glücklich in mein Zimmer zurück, und dort verbrannte ich sofort in meinem Ofen den Briefumschlag mit den Gedichtabschriften.

„Gottlob, welcher Torheit bist du entgangen!“ sagte mein Verstand. „Aber nein,“ weinte mein Herz, „nun ist es wieder alltäglich um mich, und alle Festlichkeit, die da hätte entstehen können, ist im Ofen zu Asche verbrannt. Warum quälst du mich so lange? Warum hast du nicht mutig gewagt, was gewagt werden muß?“

„Oh,“ lachte mein Verstand roh. Und er schickte mir eine schamheiße Blutwelle ins Gesicht. „Wie lächerlich wärest du morgen vor dir dagestanden, sowohl, wenn jene ‚nein‘, als wenn sie ‚ja‘ gesagt hätte.“

„Nein, nein, nein, Liebe ist nie lächerlich,“ schluchzte mein Herz. Und ich lief aus dem Zimmer fort, um Luft zu schnappen. Denn ich wußte mir nicht mehr zu sagen, hatte ich vernünftig oder unvernünftig gehandelt.

Am nächsten Tag war ich aber doch zufrieden, daß ich mich nicht verraten hatte, denn ich hatte Herz und Verstand Frieden schließen lassen. Sie waren beide mit mir zu folgender Überzeugung gekommen: Ist diese Frau wirklich mein Schicksal, wie ich es so sehr ersehne, dann wird mir dieses Schicksal nicht entgehen. Ich werde dann, wie ich auch in bezug auf sie handle, immer recht handeln. Wenn ich auch meine Gedichte vor ihr nicht enthüllen darf, wird sie doch mit der Zeit ahnen müssen, was ich für sie empfinde.

„Habe Geduld und überlasse alles der Zeit und deinem Schicksal,“ sagten Herz und Verstand zu mir, friedlich geworden.

Es war an diesem Tag der erste Mai, und die Sonne schien so fröhlich wie am Tage vorher, da ich der heimlich geliebten begegnet war. Und an die fröhliche Vormittagsonne, die in meinem Zimmer die Leere wärmte, war seit der Begegnung der gestrigen Vormittagfahrt im Trambahnwagen an dieses Vormittagsonnenlicht die Erscheinung des jungen Mädchens gebunden. Es war mir, als säße es jetzt wieder zwischen elf und zwölf Uhr vormittags neben mir. Aber heute saß es an meinem Schreibtisch.

Nach dem Mittagessen sagte die liebenswürdige, aber halb taube, gütige Pensionsdame zu mir, es müsse mir etwas ganz besonders Angenehmes begegnet sein, da ich heute einen so glücklichen Ausdruck hätte. Und eine ältere Freundin, die mit ihr, nachdem die Tischgäste gegangen waren, noch allein im Eßsaal geblieben war, drohte mir, schelmisch lächelnd, mit dem Finger, als wollte sie sagen: Sie haben wohl ein kleines Herzensabenteuer erlebt.

Durch die Balkontüre, die gegen den Tegnerplatz hinsah und breit offen stand, fiel der Maiensonnenschein glänzend in das große Eßzimmer, und der lange Balkon vor den Fenstern lockte hinaus in die sonnige Luft. Da bekam ich einen scherzhaften Einfall; ich drehte meinen Ring am Finger um, so daß der Stein des Ringes an die Handinnenseite kam und der Ring dann nur als Goldreif wirkte. Ich deutete lachend auf den glatten Goldreif und sagte halb ernst, halb scherzend zu den beiden älteren Damen: „Ich habe mich heute verlobt.“

Dieser Satz lag, seit der letzten Begegnung mit jenem jungen Mädchen so sehr oft vorgesagt, in meinem Herzen und meinem Verstande da, daß die festliche Stimmung, der Sonnenschein und die auf ein Liebesereignis hindeutenden Fragen der Damen mir spielend den Satz entlockten: „Ich habe mich heute verlobt.“

„Ach,“ riefen die beiden Damen fröhlich erstaunt, für Scherz und für Ernst bereit, „heute am ersten Mai haben Sie sich verlobt? Und das erfahren wir jetzt erst?“

„Ja, es bleibt einstweilen noch Geheimnis,“ sagte ich lachend weiter.

„Das müssen wir feiern,“ meinte die Hausdame. Und sie ließ gleich den Kaffeetisch, an den wir uns eben setzen sollten, auf den Balkon hinaustragen und ließ eine auf Eis gestellte Flasche schwedischen Punsch bringen.

Als wir in der Sonne saßen, wollten aber die Damen wissen, wer jene Dame sei, deren Ring ich an der Hand trüge. Aber der Scherz wurde mir nun beinahe zu ernst, und, in die Enge getrieben von der fröhlich festlichen Stimmung der Fragenden, die mit den Punschgläsern auf das Wohl meiner Braut anstoßen wollten, wenn ich ihren Namen genannt hätte, blieb mir nichts übrig, als lachend zu erklären, indem ich mit der Hand auf die Sonne deutete, die mir so warm aufs Herz schien und so frühlingshaft erregt zu uns über das Balkongeländer sah: „Ich habe mich heute mit der Maiensonne verlobt.“

Die Damen, die gern Scherz liebten, waren über den zahmen Einfall nicht böse. Und sie glaubten vielleicht auch heimlich, ich wollte den Namen meiner Herzensdame nicht nennen. Sie stießen dann fröhlich mit den Punschgläsern auf das Wohl meiner Braut, der Maiensonne, an.

Mein Herz aber und mein Geist waren während dieses Vorgangs weit von dem Balkon abwesend. Meine Hand spielte zwar mit dem Ring, mein Gesicht lachte mit den Damen, meine Augen vergnügten sich an der Maiensonne, aber es fehlte mir mein Kern. Es fehlte meinem äußeren Dasein in jenem Augenblick mein innerstes Dasein. Und heute erst beim Rückblick weiß ich, wo in jener halben Stunde damals mein innerstes Leben geweilt hat.

Es war nicht in die Wohnung zu jenem jungen Mädchen gegangen. Mein innerstes Leben war von jenem Balkon fort, allwissend gegen den Strom der Zeit angeschwommen und hatte hellsehend ein Jahr vorausgeschaut und war frei und fröhlich geworden, weil es gerade über ein Jahr am nächsten ersten Mai jenes junge Mädchen und mich zusammen in einer der Straßen von Paris fand, wo wir eben unseren Verlobungstag feierten.

Und mein Herz wollte in mir aufjubeln, aber mein Leben durfte nicht jenen Damen, die da so fröhlich ahnungslos am weißgedeckten Tisch bei mir saßen, zulachen, denn es sah allwissend noch anderes. Es sah, daß die Hausdame, die mich zuerst gefragt hatte, welches Glück mir begegnet wäre, nicht mehr am Tische saß, und daß ihre Freundin in Trauer gekleidet umherging.

Denn jene, die da vor mir lachte, sah nicht mehr die Maiensonne des nächsten Jahres. Sie starb im Vorfrühling, und meine inneren Augen sahen bereits ihren Platz am Tisch leer. Und mein innerer Jubel über meine Verlobung durfte nur scheu in mir antönen.

In diesem zweigeteilten Gefühl stand ich vom Kaffeetisch auf und verabschiedete mich von den beiden Damen, auf deren Verlangen ich mich auch zum Abschied vor der Maiensonne verbeugen mußte. —

Als der Sommer kam und sich alle Welt aus der Stadt fort, auf Reisen, aufs Land und in alle vier Windrichtungen zerstreute, reiste ich, um mein Vaterhaus zu besuchen, nach Deutschland. Und zu Hause angekommen, erzählte ich dann meinem Vater, daß ich mich gern in Schweden mit einem jungen Mädchen verheiraten möchte. Er fand das gut, aber als er mich fragte, wovon ich mit meiner Frau leben wollte, wurde es mir wieder klar, daß man als junger Dichteranfänger der Wirklichkeit schutzlos und hilflos gegenübersteht.

Der Dichtergeist sagte zu mir: „Du darfst nicht ans Geldverdienen denken, darfst nie mit der Dichtung Geld verdienen wollen, sonst helfe ich nicht beim Dichten mit. Wenn dir deine Werke von selbst Geld einbringen werden, so ist das gut und schön. Aber um des Geldes willen dir zu dienen, dazu gebe ich mich nicht her. Ich will nicht Knechtdienst tun.“

„Denn ein Dichtergeist,“ fuhr die Stimme in mir selbstbewußt fort, „arbeitet nicht für Taglohn. Er läßt sich nicht rufen, er läßt sich nicht Kanzleistunden vorschreiben. Da er aus dem Reich der Unwirklichkeit kommt, kann er sich nicht mit deiner Wirklichkeit, mit deiner Hungerfrage, mit deiner Zeitfrage, mit deinen körperlichen endlichen Lebensfragen beschäftigen und nicht Rücksicht auf deine Endlichkeit nehmen.

Der Dichtergeist ist der Hall deiner Ewigkeit, der in dir laut wird; lauter im Dichter als in den anderen Menschen. Er erhebt deine Gefühle ins Unendliche und will deinen Worten Rhythmen geben, nicht Zeitmaße der nützlichen Zeit. Unwirkliche Zeit, Ereignisse der Vergangenheit und Zukunft können dir in der Dichtung Gegenwart werden, wenn du den Dichtergeist in seiner Unendlichkeit aus dir singen läßt.

Willst du ihn aber zum Lastknecht, zum Gegenwartsknecht machen, der deinen Magen ernähren soll und deinem Körper Behaglichkeit bringen soll, dann treibst du diesen Geist aus dir aus. Dann bleiben nur Reste von ihm in dir, und die werden nur halbe Werke leisten, Endlichkeitswerke. Mit ihnen wirst du kein Glück machen, denn der unbefangene Leser wird sie immer als Reste erkennen, und die Welt hat das Recht, deinen ganzen Dichtergeist zu fordern.“

„Aber ich kann mein begehrendes Herz nicht verstoßen,“ sagte ich zum Geist der Dichtung, der so zu mir sprach. „Ich liebe und will die Geliebte ernähren können.“

„Nimm dir Geduld,“ sagten Herz und Geist zu mir, „denn wir sind unzertrennlich aneinander gebunden. Ohne Herz gibt es keinen Dichtergeist. Er ist die Flamme, die nur vom liebenden Herzen gespeist wird.“ —

Da mir mein Vater nicht raten und nicht helfen konnte und mir ebenfalls von Geduld und Zeit sprach, und daß ich die Hoffnung nicht sinken lassen sollte, beschloß ich, nicht mehr nach Schweden zurückzukehren, und war müde gemacht von der Aussichtslosigkeit, von der ich kein Ende sah.

Und ich nahm mir vor, um meine Gedanken von meiner innersten Sehnsucht abzulenken, eine Reise zu Fuß nach Italien zu machen.

Ich wollte von München nach Rom wandern. Und da ich immer gern Landschaften zeichnete, kaufte ich mir frische Farben und Papierblocks und wollte unterwegs zeichnen und malen und diese Malereien am Weg verkaufen und so bis nach Rom kommen.

Aber mein Schicksal ließ mich von München nur bis Schliersee kommen. In Schliersee wohnte damals in einem kleinen Bauernhause am Bergabhang über dem See der schwedische Schriftsteller Ola Hanson mit seiner Frau. Und es kam mir die Lust an, diesen zuerst zu besuchen und dann erst die Fußreise nach Italien anzutreten.

Ich stieg in einem Schlierseer Gasthaus ab und suchte Ola Hansons Haus auf. Die beiden alten Bekannten waren erfreut, mich nach so langer Zeit wiederzusehen. Wir hatten uns seit meinem ersten Aufbruch nach Bohuslän nicht mehr gesehen, da jene von Friedrichshagen nach Oberbayern gezogen waren und nicht mehr in Berlin lebten, als ich später mehrmals dort durchreiste.

In ihrer weißgetünchten Bauernstube saß ich nun Abend für Abend bei den schwedischen Schriftstellersleuten, und mein Herz war glücklich, daß es von Stockholm erzählen durfte, von Obstfelder und Ellen Key, von Heidenstam und Geijerstam und Levertin und Josephson. Und während Tür und Fenster der Bauernstube weit in die Sommernacht offen standen und von den dunklen Matten ein paar Kuhglockenlaute antönten, wenn dort schlafende Kühe sich regten, erstaunte ich mitten im Erzählen immer wieder, daß vor den Fenstern meine deutsche und bayerische Heimat lag, da ich mich doch eben deutlich auf den stockholmer Straßen hatte gehen gefühlt.

Ich dehnte den Aufenthalt in Schliersee länger aus, als ich mir vorgenommen hatte. Je mehr ich mit Ola Hanson von Stockholm sprach, desto mehr schwand Rom, das ich sehen wollte, und ich sah zuletzt wieder als Reiseziel Stockholm vor mir liegen.

Aber dann sprach doch der Verstand dazwischen und sagte barsch: „Du wirst nicht mehr Vermögen als vorher in den Taschen haben, um in Schweden eine Frau heiraten zu können, wenn du jetzt wieder dorthin umkehrst. Du bist von dort abgereist, weil dir das Vermögen fehlte, mit dem du die zukünftige Frau ernähren sollst. Erinnere dich doch, wie du im Mai in der stockholmer Straße an dem Briefkasten standest. Da war es dir doch ganz bewußt, daß du ohne Geld nicht freien darfst.“ —

Eines Abends ging ich mit Herrn und Frau Hanson von ihrem Berghaus hinunter nach Schliersee in den Garten des Gasthauses „Zur Post“. Sie hatten mir gesagt, daß Hermann Bahr, der sich eben auf der Hochzeitsreise befände, mit seiner jungen Frau dort abgestiegen wäre, und daß sie ihn treffen und mich ihm vorstellen wollten.

Ich sah und sprach dann auch Hermann Bahr an jenem Abend. Und am nächsten Vormittag fuhr ich mit ihm und seiner jungen Frau in einem Ruderboot auf den Schliersee hinaus. Als wir danach, er und ich, nachdem seine Frau zum Gasthaus gegangen, um sich umzukleiden, ein wenig auf der Landstraße spazierten, erinnere ich, daß ich, auf Bahrs Befragen, ihm eine lebhafte Schilderung meiner Eindrücke von Bohuslän gab und ihm erzählte, wie mich das Leben in dem einsamen schwedischen Pfarrhaus und meine Spaziergänge dort im schwedischen Granitland dazu gebracht hätten, die Dichtungen meines Buches „Ultraviolett“ zu schreiben.

Er verstand sehr wohl, daß man den Regenduft und den Mondaufgang, den Amselschlag und alle Naturerlebnisse lebhafter und bilderreicher aufnehmen müsse, wenn man an einer steinernen, weltfernen Küste, in einem Land, dessen Sprache man nicht versteht, mit feingewordenen Ohren und Augen nichts anderes erlebte als das wenige, das sich in dem steinernen Rahmen jener fremden Natur abspielte.

Und während ich so sprach, und Hermann Bahr mein Leben in Schweden in Gedanken mitlebte, wurde mir mit einem Male klar, daß mein ganzes Buch „Ultraviolett“ kein Herz besaß; daß alle diese Lieder herzleer wirkten im Vergleich zu den wenigen Versen, die ich jetzt über das junge schwedische Mädchen gedichtet hatte.

Wie anders wären jene Lieder geworden, die ich in Bohuslän aus meiner Einsamkeit heraus gedichtet hatte, wenn damals schon jenes Mädchen mit mir über die Steine der schwedischen Westküste gegangen wäre! Die Gedichte wären nicht bloß Farbenbilder und Tonbilder geworden, sondern Lieder voll Liebesgeist. So sagte ich zu mir.

Der Inhalt des Buches „Ultraviolett“ erschien mir jetzt wie eine durch Natureinsamkeiten hingleitende Irrlichtflamme, die nur eine blaue Luftflamme war, aber die kein Feuer hatte, das einen Körper verzehrte.

Mein Herz hatte damals noch nicht gebrannt, als ich nur der Dichterlust zuliebe dichten wollte.

Nun war mir völlig klar: ich mußte umkehren, nach Stockholm zurück und nicht nach Italien wandern. Dieses Mädchen, das ich im Norden wußte, war mir so notwendig zum Atmen wie meine Lunge. Mein Herz war an ihr entzündet worden und konnte auch nicht in der Ferne mehr verlöschen. Es verfolgte mich jetzt ebenso sehr die Sehnsucht nach der Liebe jenes Weibes als die Sehnsucht nach den Dichtungen, die sie mir eingeben würde.

Als ich dann am nächsten Tag Hermann Bahr mit seiner jungen Frau glücklich lachend abreisen sah, und als ich am Abend wieder oben auf dem Berg in dem Bauernhause Ola Hanson und seine Frau besuchte, sprach dort in ihrer Häuslichkeit der Geist der Ehe, der Geist der Lust, einen Hausstand zu gründen, stark auf mich ein, und ich erzählte beiden, daß ich eine Stockholmerin liebte, die ich heiraten wollte. Die beiden waren sehr erstaunt und freuten sich und wünschten mir Glück. —

Kaum aber nach Stockholm zurückgekehrt, wurde mir noch deutlicher als vorher bewußt — da ich durch das viele Reisen mich wieder in Not gebracht hatte —, wie unmöglich es mir sein würde, da ich nur von meines Vaters Gnade lebte, mich mit einer Frau durchzuschlagen. Aber doch fand ich nicht die Kraft, die Sehnsuchtsgedanken an das junge Mädchen aufzugeben. In Stockholm angekommen, erfuhr ich, daß sie verreist sei, aber ich war glücklich, wenigstens in ihrer Vaterstadt umherzugehen. Eines Tages aber hörte ich dann plötzlich von ihrer Verlobung.

Ich wollte sofort aus Schweden abreisen. Doch die Mittel zur raschen Reise fehlten für mich, und eine mir grauenhafte Verkettung der Umstände zwang mich sogar, am Verlobungsessen im Hause der jungen Dame teilzunehmen. Danach hätte ich aber am liebsten meinem Leben ein Ende gemacht.

Wie ich noch voll Gram und Unentschiedenheit mit mir zu Rate ging, meldete mir eines Tages das Dienstmädchen, daß ein unheimlicher Mann vor der Türe stünde, der mich zu sprechen wünsche. Es war der polnische Schriftsteller Stanislaus Przybyszewski, dessen leise Stimme und fremdländisches Äußere dem Dienstmädchen Furcht eingejagt hatte. Przybyszewski war mit seiner Frau, welche Norwegerin war, von Kristiania nach Stockholm gekommen, und ich war nun glücklich, durch den geistig lebendigen Polen auf andere Gedanken gebracht zu werden. Er arbeitete in dieser Zeit eben an seinem Roman „Satans Kinder“.

Bei irgendeinem Bekannten saßen wir nun immer, bei starken Alkoholgetränken und im Zigarettenqualm, er, seine Frau, Freundinnen und Freunde, fast Nacht für Nacht bis in die Vormittagstunden, unendliche Reden führend und unendlich schweigen könnend, halb schlafend, halb wachend, zusammen, immer neue Grogs brauend, immer neue Zigarettenschachteln öffnend. Und mein Hirn tanzte bald, überreizt von Nikotin- und Alkoholvergiftung, und ich fühlte mich in jenen Winterwochen weder körperlich noch geistig lebend. Es war mir in jenen Nächten oft, als wären wir alle Spukgestalten geworden, die Frauen wie die Männer jenes Kreises. Wenn sie lachten, wenn sie sprachen, wenn sie schwiegen, waren sie mir wie eine Gespenstergesellschaft, die erst der anbrechende dunkle Wintermorgen scheuchte.

Aber sobald wieder nachmittags die Straßenlaternen angezündet waren und überall künstliches Licht war, fand sich auf der Alkoholwolke und auf den Tabakswolken die Spukgesellschaft wieder zusammen, mit wirren geistblitzenden verzerrten Gelächtern die lange Nacht ausfüllend.

Przybyszewski spielte Chopin, wenn er bei Laune war. Das sonst so öde Klavier wurde dann zu einer Hölle, die er mit wild tastenden Händen öffnete. Und die Töne fraßen Ordnung und Gesetze und Gedanken blindlings aus den Hirnen aller Zuhörer fort, und Töne, Menschen und Zeiten wurden zum Chaos. Kein Leben behielt mehr seine Form und seinen Sinn. Nur der Einsturz alles Lebens und die Vernichtungsfreude schien in den Tönen zu funkeln, wie der glühende Alkohol in den Gläsern und wie die Feuerpunkte der Zigaretten zwischen den Lippen der Menschen, die da in Sesseln und Sophas auf den Teppichen herumlagen und herumhockten.

Und da war kein stilles Kreisen der Gestirne, kein geordnetes Planetenleben mehr an dem Nachthimmel draußen, der zu den Fenstern auf uns und auf den spielenden Polen sah. Es war, als schossen vor meinen Augen alle Sterne, Kometen geworden, wild und regellos durch den Nachtraum.

Die Töne klirrten unter den weißen gelenkigen Fingern des Spielenden, und die Herzen klirrten in der Brust der Zuhörer. Und wie die Scherben der zerbrochenen Groggläser am Boden, sahen die Augen der Frauen und Männer, Glassplittern ähnlich, aus dem Tabakrauch. Der Geist, der sekundenweise aus ihnen aufschoß, hatte keine Geistesgewalt mehr, sondern war nur ein Zucken und Verenden des Geistes. Des Morgens war mein Herz voll Mattigkeit, und abends sehnte es sich doch wieder nach dem Untertauchen in den Hexensabbat.

Endlich raffte ich mich im Januar auf, die Stadt zu verlassen, wo die wirren Nächte mich für die bekümmerten Tage betäuben mußten. Denn ich schlief in diesen Wochen nicht einmal tagsüber, sondern sehnte mich unnütz. Ich lag und dachte an mein Herz und stand erst zur Abendstunde auf, gedankenmüde und verquält.

Aber als ich das Geld zur Abreise bereit hatte, fehlte mir der Mut zur Abreise, und ich gab das Reisen wieder auf. Denn auch in der dunkelsten Zeit, in dem Wirrwarr jener Nachtstunden, stand wie der Geist meiner guten Stunden, wie der gute Genius meiner Gedichte, hinter dem Tabaksqualm, hinter den Betäubungen, das Gesicht jenes Mädchens, das ich liebte.

Und wenn ich morgens über die menschenleeren Pflastersteine nach Hause ging, sagte ich mir: über diese Steine wird sie am Tage gehen! Und dieser Gedanke gab mir ein wenig Befriedigung. Doch ich getraute mich nicht, von den Steinen aufzusehen. Denn dann konnte ich sie, wenn sie auch nicht auf der Straße war, im Geist deutlich am Arme ihres Verlobten daherkommen sehen.

„Wir wollen alle reisen,“ sagte eines Tages Frau Przybyszewski. Und ich sagte, ich wollte meinem Vater um Geld telegraphieren. Wir gingen dann alle zusammen zum Telegraphenamt. Aber wie ich das Telegrammpapier vor mir liegen hatte, sagte ich: „Ich werde niemals Geld erhalten, wenn ich nicht einen triftigen Grund angebe.“

Ich schrieb deshalb auf das Papier: „Bitte telegraphiere mir tausend Mark wegen einer Frau.“ Aber dann wußte ich nicht mehr weiter. Ich meinte, mein Vater würde vielleicht annehmen, daß ich einen Ehrenhändel hätte. „Schreiben Sie dazu,“ sagte eine der Frauen, „werde sonst verhaftet.“ Und ich schrieb dieses und schickte das Telegramm ab und erhielt auch am Abend das Geld von meinem erschrockenen Vater, der natürlich briefliche Aufklärung verlangte. So wildes Wesen trieb die Verzweiflung mit mir, daß ich nichts mehr bedachte, was ich tat.

Wir reisten am nächsten Tag von Stockholm ab. In Kopenhagen trennte ich mich dann von Przybyszewski und seiner Frau und fuhr nach Paris.

Vorher hörte ich schon, daß jene junge Schwedin in Stockholm ihre Verlobung wieder gelöst hatte, und ich atmete auf und durfte nun wieder hoffend und frei an sie denken; doch wagte ich es kaum noch. —

In Paris hatte ich das amerikanische Ehepaar James und Theodosia, die von London zurückgekehrt waren, in ihrem Atelier bald nach meiner Ankunft aufgesucht und hatte ihnen von meiner Herzensnot erzählt und von meiner Hoffnung, daß der Himmel mich vielleicht doch noch einmal mit der jungen schwedischen Dame, die ich liebte, zusammenführen würde.

Die beiden Amerikaner machten mir großen Mut und sagten immer wieder, mein Wünschen würde sicher so stark wirken, daß ich eines Tages noch glücklich würde.

Und Paris war die geeignete Stadt, in der ich am stärksten meinem Liebeswunsch nachhängen konnte, denn das Straßenleben, die Vergangenheit und die Gegenwart dieser Stadt sprechen ununterbrochen von der Liebe, die diese Stadt erlebt, erlebt hat und erleben will.


Als ich im Februar 1896 nach Paris kam, war vier Wochen vorher Frankreichs bester Dichter, der Lyriker Paul Verlaine, gestorben. Und die Zeitungen erzählten täglich Züge aus seinem Leben. Man erfuhr, daß er sich von Krankenhaus zu Krankenhaus durchgeschlagen hatte. Aber er war nicht so sehr krank gewesen als notleidend. Er hatte keinen anderen Ausweg gesehen, um sich zu helfen, als daß er sich bei den verschiedenen Spitälern in der Armenabteilung krank meldete, nur um Unterkunft und Verköstigung zu erhalten.

Ich wohnte auf der Höhe des „Quartier Latin “ in einem Gasthof in der Straße de l’Abbé de l’Épée, einer friedlichen kleinen Seitenstraße des Boulevards St. Michel, die, wie man weiß, die Hauptstraße des pariser Studentenviertels ist.

In der stillen, freundlichen Gasse, durch welche fast nie ein Wagen fuhr, waren auf der einen Seite sonnenbeschienene, helle, hohe Gartenmauern, und am Gassenende stand eine alte Kirche, die mit Abend- und Morgengeläut die klösterliche Friedlichkeit noch erhöhte. Das Gäßchen war sehr still. Man sah nur immer das menschenleere, sonnenbeschienene, saubere Pflaster unter den Fenstern. Die Häuser waren ein- und zweistöckige, kleine, helle, vornehme, weltabgeschlossene Einzelhäuser. Manchmal verirrte sich einer der Straßenverkäufer, mit singender Stimme ausrufend, unter die Fenster der sauberen Gebäude, aber sonst flogen dort nur die Sperlinge durch den Sonnenschein.

In dem ruhigen Gasthof stiegen meistens ausländische Künstler ab und einige ältere französische Studenten, die Prüfungsarbeiten machten. Zur Frühstücks- und Abendessensstunde sah man kluge, ernste, gedankenvolle Köpfe in dem schmalen Eßsaal. Dieser Saal war schmal wie ein Hausflur. Durch die Verglasung seiner einen Längsseite sah man in den kleinen dreieckigen Hausgarten, der mit hohen, dichtverwachsenen Efeumauern und einem grünen Rasen eine wohltuende Oase für das Auge war, wenn man ermüdet vom Weltstadtlärm und aus der wüsten pariser Lebensjagd, aus der Innenstadt, heimkehrte und sich zur Mahlzeit niedersetzte.

Da sah man manchmal auch im Gartengrün eine Katze kauern und sich bei der Efeuwand sonnen, oder es flog eine Amsel herbei und spazierte auf dem Rasen und flog dann über die Mauer in einen Nachbarsgarten, von wo sie, auf hohem Ahornzweige schaukelnd, ein Lied jubelte. Man wußte nicht mehr, lag dieses Stück grüne Erde da draußen vor dem schmalen Speisesaal in der Stadt Paris oder in einem friedlichen Kirchhof. Denn dieses stille, kleine Gasthaus hatte die Macht, starken Frieden um sich zu verbreiten, so wie Öl, das man auf stürmende Wellen träufelt, das Meer im Umkreis sanft macht.

Wenn ich nicht diese Stille in Paris täglich erlebt hätte, ich hätte es nicht für möglich halten können, daß man solche Lautlosigkeit schaffen kann mitten in einer Millionenstadt. Aber dieses ist die Kunst der Pariser, vornehme Ruhe zu schaffen. Indem sie mit kluger Ausnützung des kleinsten Erdflecks grüne Gartenwinkel anlegen, in welche man mit Einfachheit und Bescheidenheit nur Rasen und Efeu pflanzt und so dem Auge ländliche Ruhe zuführt. Man schachtelt also ins laute Paris Ruhe in Ruhe ein. Und man gelangt so dort mitten in dem kochenden Leidenschaftsherd, der die ganze Stadt wie einen ewig arbeitenden Krater wogen und wallen läßt, trotz aller überhitzter und gesteigerter Lebenslust, zu einer fast unschuldigen Ruhe mit sich selbst.

In keiner Weltstadt sah ich auch jemals soviel Kleingewerbetätigkeit. Neben den großen, spiegelglänzenden, gläsernen pariser Läden nistet ein bescheidener und traulicher Kleinhandel. Alles darf und alles soll leben können hier in dieser lebenswarmen Stadt! Es kommt einem vor, als stünden diese Worte als Spruch am Eingang der meisten Straßen. Wie jahrhundertalte Wohnungen und Häuser Raum für viele Andenken haben, Andenken an verschiedene Geschlechter, die hier lachten und starben, so ist das pariser Straßenleben durchwebt und durchlagert von Versteinerungen verschwundener Zeitschichten.

Dieses gibt der Stadt etwas innig Rührendes, etwas innig Rückständiges und künstlerisch Gedankenvolles neben der wahnwitzigen Vorwärtsjagd, dem Vorwärtsstreben und dem lauten Dasein.

Nirgends sah ich noch soviel Katzen auf der Welt als in Paris. Daß die Ägypter die Katzen heilig sprechen konnten, wurde mir nirgends verständlicher als in Frankreich. Die pariser Katzen gehen wie die Geister vergangener Geschlechter lautlos und gepflegt, geliebt und geschützt in allen Häusern herum, in allen Läden, in allen Gasthäusern. Kein Mensch erschrickt vor ihnen, kein Mensch jagt sie, und sie werden nicht bloß geduldet, sondern gefeiert, weil der lebendige und lebenssüchtige Pariser im letzten Grunde auch am Tier die Ruhe des Benehmens als die höchste Lebenskunst feiert.

Der alte schwedische Maler Josephson, den ich auf Veranlassung von Ellen Key noch vor meiner Abreise in Stockholm besucht hatte und der fünfzehn Jahre seines Lebens in Paris verbracht hatte, sagte beim Abschied zu mir:

„Also, Sie wollen nach Paris! Grüßen Sie die große, starke Stadt von mir, die große, ruhige, vornehme Stadt.“

„Ruhig?“ fragte ich. „Die Stadt, in der man sich seit Jahrhunderten betäubt, innerlich und äußerlich, die Stadt kann doch nicht ruhig sein?“

„Glauben Sie mir,“ meinte der alte Maler, „Paris ist die ruhigste Stadt in Europa. Und wenn Sie dort hinkommen, rate ich Ihnen, nehmen Sie es sich als ersten und letzten Grundsatz vor: bewahren Sie sich immer Ihre Ruhe dort. Machen Sie mit Ruhe die Hast mit. Aber geben Sie Ihre Ruhe nie auf. Dann wird Sie der Pariser schätzen, er, der so verächtlich auf die unruhigen Fremden herabsieht.“

Und als ich nun die Katze, das Symbol häuslicher Ruhe, überall in Paris gepflegt fand, mußte ich immer an diese Worte des alten schwedischen Malers denken. —

Draußen vor meiner sonnenstillen Gasse stand man, wenn man die breite, sonnige Straße St. Michel kreuzte, vor den großen Eisengittern des weiten Luxembourgparkes, dem Garten der Bildsäulen der Königinnen von Frankreich und der Dichter.

Auf den Terrassen rund um den Platz eines großen Wasserbeckens stehen die Bildsäulen der hohen Frauen, und unter den Augen der steinernen Königinnen und in einem Kreis von Zuschauern lassen die pariser Kinder dort im Frühlingsnachmittag ihre handgroßen Segelschiffchen auf dem Wasserspiegel kreuzen.

Aber auf einer anderen Seite des Schloßgartens, im lauschigeren Teil, wo die Singvögel in blühenden Büschen nisten und grüner Rasen mit Blumenhügeln und Zwergobstbäumen abwechselt und unter schattigen, alten Kastanien- und Ahornbäumen noch Lauschigkeit und Heimlichkeit herrscht, findet der Spaziergänger die Denkmäler der Dichter.

Im Nebenflügel des Lustschlosses selbst, das näher zur Stadt hin liegt, und darin jetzt die Senatoren von Paris ihre Sitzungen abhalten und ihre Schreibstuben haben, ist die neuzeitliche Bildersammlung mit ihren Kunstschätzen lebender oder erst jüngst gestorbener Zeitgenossen.

Die Luxembourgsammlung wird als die Vorhalle zum Allerheiligsten, zur Ewigkeitssammlung, dem Louvre, angesehen. Ein Kunstwerk, das eine gewisse Anzahl von Jahren in der Luxembourgsammlung ausgestellt ist, wird, wenn sein Kunstwert nach Jahren noch als ein Bleibender anerkannt ist, dann erst der Louvresammlung einverleibt.

So sind der Luxembourggarten und seine Bildersammlung eigentlich das Besitztum der französischen Jugend. In den Vormittagsstunden sieht man im lauschigen Teil des Parkes manchen bücherlesenden Studenten. Am Nachmittag gehört der Baumschatten den Kindern, den Kinderfrauen und den Tierfreunden, die die Vögel füttern und sich die Sperlinge so zähmen, daß diese ihnen die Brotkrumen von den Lippen picken.

Der Spätnachmittag aber lockt die Studenten und jungen Künstler mit ihren zierlichen Freundinnen in Scharen von der Seite des Boulevards St. Michel her auf den großen Musikplatz des Gartens, und bei Musikspiel lebt das Liebesspiel in den Augen, in den Worten und Gelächtern der Spazierenden. —

Jedem Fremden flößt die große Ordnung Achtung ein, die sowohl in London als in Paris die Tagesarbeit und das Vergnügen in bestimmte Zeitabschnitte abteilt. Man muß das Uhrwerk dieser Städte als Fremder verstehen lernen und sich ihm anpassen. Das Leben dort wird von der Ordnung wie ein Konzert von einem Kapellmeister geleitet. Es haben sich bestimmte Ordnungsbegriffe gebildet, die von Geschlecht zu Geschlecht festgehalten werden. Man spricht von der Stunde vor „der Spazierfahrt ins Gehölz“. Dann kommt die Stunde „der Erfrischungsgetränke“, die Stunde vor dem „Gang ins Theater“ und so weiter.

Die Strenge, mit der an althergebrachter Sitte festgehalten wird, macht den Pariser stolz und ruhig mitten im Neuzeittrubel.


Damals, im Jahre 1896, lebten und arbeiteten in Paris immer noch Zola, Huysmans, Mallarmé, von denen für die Literatur tonangebende Neuerungen ausgingen. Wie ich schon sagte, Verlaine war eben gestorben. Auf dem Boulevard St. Michel lief ein älterer, etwas komischer, halb verhungerter Literaturstudent im Gehrock und Zylinder umher, der den Spitznamen Bibi hatte, und der unversehends mitten im Menschengewühl zu einem herantrat, aus seiner hinteren Gehrocktasche eine Stiefelbürste zog, den Zylinder höflich lüftete und mit ernster Miene um die Erlaubnis fragte, einem den Staub von den Stiefeln und vom Hosensaum bürsten zu dürfen.

Man ließ es sich gefallen und gab ihm eine Geldmünze dafür. Denn jedermann wußte, daß Bibi bitterarm war. Aber außerdem wußte man auch, dieser dürftige, dürre Mensch, der nur flüsterte und der im Menschengedräng wie ein Schatten kam und schwand, er war der treueste Anhänger Paul Verlaines gewesen. Und man behauptete später, daß er noch zehn Jahre nach Verlaines Tod das letzte Hemd des Dichters an seinem Leib trage und es, aus Verehrung für den toten Meister, niemals ablege.

Gestalten von solch rührender, wandelnder Lächerlichkeit lebten viele im Gedränge des Boulevards St. Michel. Zur Mitternachtsstunde tauchten sie auf, und es war dann, als verkörperten sich in ihnen vergangene Zeiten.

Man sah da auch ein altes Mütterchen. Sie verkaufte Oliven in Öl oder gekochte rote Krebse, je nach der Jahreszeit, und man sagte, sie sei eine Freundin des Dichters Musset gewesen. Sie war wohl neunzig Jahre alt, und ihr Kopf wackelte, und manchmal machte sie einen Luftsprung, wenn ihr auf einer Kaffeehausrampe von einem Studenten Geld zugeworfen wurde. Dieser Hopser der Alten war die letzte Erinnerung aus ihrer Tänzerinnenzeit, die sie einst am Ballett der Großen Oper erlebt hatte.

Diese Spukgestalten der Vergangenheit wurden von den Studenten sowohl wie von ihren Freundinnen, die die nächtlichen Straßen füllten, geachtet und geliebt, man schätzte sie. Sie bildeten die Patina der Straße. Alte Kenner des Lebens sahen ihnen ehrfürchtig und behaglich schmunzelnd zu. Und die jungen Lebensneulinge betrachteten diese Überbleibsel toter Zeiten mit Scheu und mit leisem Anflug von Selbsterkenntnis: das Leben vergeht, darum wollen wir es festlich nehmen. Mehr Erkenntnis aber lebte noch nicht in den jungen Nachtschwärmern des lateinischen Viertels.


In diesem Stadtteil von Paris verbrachte ich vom Februar 1896 bis Ende April die letzten Wintertage. Im Betrachten der großen fremden Stadt und im Betrachten der nächsten Umgebung meiner Gasse, in der ich wohnte, vergingen die Stunden schnell.

Und eines Sonntags, im Parke von Versailles, erstaunte ich, daß in den hohen Baumgängen und in den künstlichen Wasserläufen dort schon die Frühlingssonne warm spielte.

Als ich über die endlose Baumreihe, die sich von der Schloßrampe beinahe bis an den Erdrand hinzuziehen scheint, hinsah und mich die frische, freie Luft ferner Äcker und Felder anwehte, knickte mein Herz ein. Denn ich wurde plötzlich erinnert, daß es außer dem künstlichen Stadtleben, das ich bis jetzt in diesen pariser Wintertagen und in den letzten Monaten in Stockholm fern von freier Natur gelebt hatte, auch noch Wiesen, Wälder, Länder, Erdteile und Meere zum Aufatmen gab.

Und die Luft sagte weiter, daß über dem Meer fern im Norden ein Mädchen, das ich ersehnte, lebte, und daß die Frische, die hier in den stadtfernen Versailler Schloßgarten über Äcker hergekommen war und nicht über Hausdächer, mich an das ferne Land im Norden erinnern wollte, an Bohuslän, wo ich zuerst ohne Herz gedichtet hatte, und an Stockholm, an meine Wohnung am Tegnerlund, wo ich meine ersten Liebesgedichte herzlich gedichtet hatte.

Hier in Frankreich war ich bisher vor dem Neuen wie ein Schlafwandelnder gegangen, und es war mir oft, als ob ich meine Dichtung und meine Liebesgefühle zu jenem Mädchen in einem fern vergangenen Leben erlebt hätte.

Aber nun kam vom Erdrand junge Luft durch den langen Baumgang, über den langen Wasserlauf, zu den Treppen der Schloßrampe von Versailles, und eine große Sehnsuchtswelle rührte mich an. Die Vögel, die Amseln und Finken, die da in den blätterleeren hohen Bäumen des Parkes aufsangen, wollten auch mich zum Aufsingen überreden. Und das Wasser blitzte unter dem dunklen Geäst, die Frühlingssonne glitzerte in den laubleeren Kronen der Bäume, und die weißen großen Götterbilder, die da am Fuß der breiten Treppe stehen, sprachen von der Göttlichkeit des Menschenleibes und von der Festlichkeit, mit der die Heiden ehemals Himmel und Erde herzlich und selbstverständlich genossen haben.

Der große leere Frühlingsgarten, der bereit stand zu erwachen, der Knospen und Blätterschwärme bringen wollte und zu grünen Sälen werden wollte, darinnen sich die Menschen in Paaren ergehen sollten, dieser Garten sagte: „Geh, hole dir dein Mädchen und komme wieder mit ihr. Meine festlichen Wege sind nicht für Einsame gedacht. Ich bin ausgedacht zur Feier der Liebesgefühle. Auf meinen Wegen will ich der Menschen Liebesgeplauder hören und will Menschen sehen, deren Herzen nicht einknicken vor Weh und Einsamkeit, wenn sie an das Ende meiner langen Baumgänge blicken.

Wenn es die kleine Amsel dort fertig bringt, sich ein Weibchen zu finden und diesem ihr Lied zu singen, warum sollst du, junger Mensch, es nicht fertig bringen, wie eine Amsel dein Weibchen zu finden und ihm deine Lieder zu singen.“

Alles dieses hörte ich laut in meinem Blut reden. Bei jedem Schritt, den ich über den feinen Sand in dem ebenen Garten tat, schluchzte mein Herz und klagte meinen Verstand an und sagte:

„Sieh und höre, was der Garten spricht. So wahr als die Sonne, die jetzt hier das leere Wasser in weißes glänzendes Feuer verwandelt, die Gartenbäume und den Rasen täglich anruft, daß sie blühen sollen, und so wahr es ist, daß dieser Garten der Sonne folgen muß und Blätter und Knospen treiben wird, so wahr ist es, daß ich dich anrufe und flehe: höre auf dein Herz. Du kannst es nie betäuben!

Ich rufe dich an wie die Sonne. Und dein Geist und dein Leib müssen mir folgen. Du kannst die Liebe nicht ersticken. Das ferne Gesicht jenes Mädchens, das du liebst, spiegelt sich in mir, in deinem Herzen, wie die Frühlingssonne hier im Wasserlauf und verwandelt mich in weißes Feuer. Geh heim jetzt und liebe und singe.“ —

Und am Abend in Paris im hellgrauen Frühlingsabend, in dem kleinen stillen Gasthof, schrieb ich mein erstes Gedicht seit Monaten und wünschte inbrünstig wie nie diejenige herbei, von der heute im leeren Versailler Schloßgarten den langen Nachmittag das ganze Weltall zu mir gesprochen hatte.

Seit drei Tagen aber befand sich die, die ich fern in Schweden glaubte, in derselben Stadt wie ich. Das erfuhr ich am nächsten Tag, als ich ihr, die mir wie vom Himmel gefallen schien, mitten in Paris begegnete. —


Ich ging meistens nach dem Frühstück, das ich zwischen elf und zwölf Uhr einnahm, und das mein Mittagessen bedeutete, aus dem Gasthaus fort, um dann im Luxembourggarten zu lesen, und trat gegen zwei Uhr in ein Kaffeehaus ein, wo ich immer einige mir bekannte Künstler traf. Manchmal saß ich im Café Francois premier am Boulevard St. Michel. Da war Verlaines Stammplatz gewesen, der jetzt auf dem Ledersofa unter den mit Blumen bemalten Spiegeln für immer leer blieb.

Der Kellner dort, der den Dichter noch vor einigen Monaten bedient hatte, erzählte, wenn er mir die Zeitungen brachte, gern von seinem toten Dichtergast. Von ihm hörte ich auch über den seltsamen kindlichen Goldhunger, der den verarmten Bohêmepoeten kurz vor seinem Tode noch befallen hat.

Freunde hatten Verlaine ein kleines Zimmer gemietet, und dort fanden sie ihn eines Tages, als er seine wenigen Tische, Stühle und Geräte und alles, was in dem dürftigen Stübchen sich um ihn befand, liebevoll mit einer ganz gemeinen Goldbronzenfarbe bemalte.

Er, der selten Gold in die Hände bekommen hatte, den der Hunger an die Türen der Armenspitäler getrieben hatte, und der in seinem Geist sich so viele goldfeurige Leidenschaftshimmel in die Welt geträumt hatte, wollte auch einmal die irdische Armseligkeit — in der ihn seine stolze reiche Nation darben und verkommen ließ —, ehe er sterbend von ihr schied, sichtbar vergoldet sehen.

Er konnte das Zimmer schon nicht mehr verlassen vor Entkräftung und von stetem Elendsfieber gepeinigt, das seinen Körper zerrüttet hatte. Seine Freundin, die ihn zuletzt pflegte, kaufte ihm einige Flaschen Goldbronze, seinen letzten Wunsch erfüllend. Und halb kindlich, halb spöttisch schmunzelnd, vergoldete er in seiner Stube das graue und abgestorbene Holzgerät, die Stuhlbeine und die Tischbeine. Die blanke Goldbronze mußte dem kranken Dichter den fehlenden Sonnenschein in den dunklen pariser Dezembertagen vortäuschen, die Frühlingssonne hat der Arme nicht mehr wiedersehen dürfen.

Verlaine starb, und die pariser Bürger bemerkten seinen Tod kaum. Nur das Studentenviertel, nur die Künstler, erlitten bewußt einen tiefen Verlust mit seinem Hinscheiden.

Sollte man es für möglich halten, daß große Geister so unbemerkt von einer gebildetseinwollenden Bürgerschaft und so ungefühlt leben und gehen können? Das war doch nie bei den Griechen und Römern der Fall, daß ein großer Mann in ihrer Mitte lebte, den nicht auch die ganze Nation gekannt hätte. Die Jagd nach dem Gold heute macht die Bürger geistesblind, blind gegen sich selbst, blind gegen ihre eigenen tiefsten heiligsten Forderungen.

Der arme Dichter rief jenes Gold, das die Bürger von ihm fernhielt, in sein Sterbezimmer, und er zwang den Goldschein, ihm in sein leidendes, abschiednehmendes Auge zu sehen. Und als ihn das Gold ungerührt ansah, lächelte er ihm im Sterben zu und versöhnte sich auch mit ihm, seinem Lebensfeinde. Das Gold, nach welchem Verlaine nie gestrebt, hatte ihn vielleicht deshalb, weil der Dichter es nicht verehren wollte, gehaßt. Das Gold, das über alle bürgerlichen Menschen Macht hat, hatte nicht über diesen Helden der Dichtung Macht bekommen, und nur in seiner Sterbezeit spielte Verlaine mit dem Glanz des Goldes wie ein Kind. —

Da ich an jenem Tage, nach dem versailler Sonntag, keinen von meinen Bekannten im Café Francois premier getroffen hatte, ging ich in das Kaffeehaus Lilas, das auf der Höhe des Studentenviertels am Boulevard Montparnasse liegt. Dort war immer ein Kreis des jüngsten künstlerischen Frankreichs und des jüngsten künstlerischen Auslandes, nachmittags und abends, anzutreffen.

Ich befand mich auch nicht lange dort, da kam Eduard Munch und setzte sich zu mir. Ich fragte ihn sogleich nach der Adresse einer norwegischen Freundin jener jungen stockholmer Dame, die Munch ebensogut wie ich kannte. Ich ließ mir dann vom Kellner eine Postkarte geben und schrieb an jene Dame nach Norwegen, denn bei ihr hielt sich jetzt, wie ich erfahren hatte, die junge Stockholmerin zu Besuch auf.

Ich hatte noch nicht zwei Zeilen und noch nicht die Frage an die Norwegerin, ob die junge Schwedin schon nach Stockholm zurückgekehrt sei, ausgeschrieben, als sich die Glastüre des Kaffeehauses öffnete und Munch neben mir erstaunt ausrief: „Nein, sehen Sie, da kommt sie ja schon selbst.“

Verblüfft sah ich auf und sah wirklich sie, zu der ich so ungeduldig in diesem Augenblick nach Skandinavien hingedacht hatte, unter der Tür eintreten. Ihr Gesicht, das ich gestern ganz fern am Ende der versailler Baumgänge im Frühlingswinde in meinem Geist hatte aufwachen sehen, kam mir nun vervielfacht aus den breiten Spiegelwänden, aus allen Ecken und Enden der Glaswände des pariser Kaffeehauses beweglich und lebend entgegen.

Ich sah mich mit einemmal wie umringt von allen den Sehnsuchtsbildern, die ich mir von jenem Mädchen gemacht hatte. Und es stand in der Mitte aller dieser Spiegelgesichter wie der warme Kern aller meiner Sehnsüchte, und erstaunt reichte es mir über den Marmortisch die Hand zur Begrüßung.

Die junge Schwedin war mit ihrer norwegischen Freundin kurz entschlossen nach Paris gekommen. Sie war nach der raschen Verlobung und Entlobung dieses Winters unruhig, müde und fliehend vor sich selbst und ratlos geworden.

Sie kannte schon Europa von früheren Reisen. Ihr Vater hatte sie, als sie achtzehn Jahre alt war, nach der Schweiz gebracht, in ein Pensionat, wo sie fremde Sprachen gelernt hatte. Ein Jahr später war sie mit mehreren Freundinnen durch Italien gereist, nach Rom und Neapel, und sie war dort eifrig durch die Bildersammlungen gewandert, teils weil sie dieses unterhalten hatte, teils weil sie ihren Vater beim Heimkommen mit dem Gesehenen unterhalten wollte. Auch Paris hatte sie besucht und dann London. Und später war sie in England auf dem Lande einige Zeit in einem Pfarrhaus in Pension gewesen. Alles dieses wußte ich, und ihr plötzliches Erscheinen in Paris war mir erklärlich, da ich auch wußte, wie gern und leicht sie reiste. —

Am dritten Tage unseres Wiedersehens schien es mir endlich an der Zeit zu sein, ihr zu erzählen, warum ich ihr die Gedichte, welche meine Liebe erklärt hätten, in Stockholm nicht gegeben hatte. Ich wollte ihr sagen, daß ich nicht gewagt hatte, um sie zu freien. Aber jetzt hätte ich eingesehen, daß mir nichts Schlimmeres begegnen könnte, als von ihr getrennt zu leben.

Wenn ich ihr auch noch nichts zu bieten hätte als meine Liebe und meine Lust, ihr zeitlebens Liebeslieder zu schreiben, so meinte ich doch, es würde der Kampf gegen die Armut das kleinste Übel sein.

Durfte doch der Amselmann das Amselweibchen besingen! Und wurden sie nicht beide satt dabei und konnten ans Nestbauen denken?

Und diesen Mut wollte ich mir jetzt nehmen, und das Mädchen, das ich liebte, wollte ich mir nicht mehr entgehen lassen, wollte nicht mehr getrennt von ihm leben.

Ich stieg deshalb am dritten Tage mittags in einen Wagen und fuhr in das entfernte Stadtviertel, wo die junge Dame in einer Pension wohnte, und wo sie für einen Monat ein Zimmer genommen hatte.

Ich holte sie dort ab, und wir gingen miteinander fröhlich plaudernd zum Frühstück, und darnach schlenderten wir durch die Louvresammlungen und kamen zuletzt auch vor die große Bildsäule der Venus von Milo, die im Erdgeschoßgewölbe des Louvreschlosses einen Raum für sich hat.

Der heilige wunderbare marmorne Frauenleib, der da hochaufgerichtet, stolz und göttlich allen Menschen zum Wohlgefallen geschaffen schien, machte uns beide verstummen. Ich mußte an den Dichter Heinrich Heine denken, der sich als Totkranker vor dieses Bild hatte hintragen lassen und der mit den Fingern sein Augenlid öffnen mußte, das schon gelähmt war, um nur nochmals vor seinem Tod die Venus bewundern zu können, für die er so viele Strophen gesungen hatte. Den kranken Dichter, den halbtoten, erquickte noch einmal die Schönheit, die ein griechischer Künstler vor mehr als zweitausend Jahren geschaffen hatte!

Nach zweitausend Jahren ist jene Kraft heute noch wirksam, mit der die Künstlerhand den Marmor geformt, mit der ein menschlicher Geist, mit der ein Mensch einen Göttinnenleib und eine Götterkraft geschaffen hatte!

Sind wir Menschen dann nicht Schöpfer, Schöpfer am Weltall, wenn wir nach zweitausend Jahren noch mit unserer Hände Werk und mit dem Werk unseres Herzens ferngeborene Geister begeistern können und ihnen Lebensmut und Lebensherzlichkeit einflößen können, ihnen sogar noch Götterkraft in der Todesstunde geben können? — Die griechischen Götter vergingen, aber der griechische Künstler lebte fortwirkend über seine Götter!

Ich schickte ein kurzes Stoßgebet zum Liebesgeist, der vor zweitausend Jahren den Marmor geschaffen hatte. „Segne mein Vorhaben!“ bat ich. „Großer Geist, wenn du ewig des Lebensfestes höchster Festgeist gewesen bist, steh mir bei. Laß mich nicht mutlos werden. Segne uns beide!“

Oft habe ich später an den seltsamen Zufall denken müssen, daß uns unser Weg ganz absichtslos in den Louvre und vor die Venus geführt hatte. Der Anblick der starken Liebesgöttin und die starke Künstlerkraft, die aus dem Marmor jahrtausendestolz zu uns redete, beschleunigte mein Vorhaben, und ich sagte der lang Begehrten meinen Herzenswunsch.

Einige Stunden später stellte ich bei einem Abendbesuch bei James und Theodosia, den Amerikanern, meine Braut vor. Diese freuten sich und triumphierten, weil sie mir vorausgesagt hatten: das, was man stark und aufrichtig, im Innersten seines Wesens wünscht, zieht man zu sich heran und schafft so selbst seinem Wunsch die Erfüllung.

Die tatkräftigen Amerikaner schlugen uns vor, daß wir, wie sie es getan hatten, gleich nach England reisen sollten, um uns dort trauen zu lassen. Das taten wir auch und reisten am nächsten Tage; und am fünften Tage nach dem Besuch bei der Venus im Louvre waren wir schon vermählt.

Bei unserer Trauung herrschte aber eine babylonische Sprachverwirrung. Die junge Schwedin verstand wohl deutsch, konnte es aber noch nicht sprechen. Ich verstand schwedisch, konnte es aber nicht sprechen. Und von einem englischen Geistlichen, der weder schwedisch noch deutsch verstand, wurden wir in der französisch sprechenden Stadt St. Helier, auf der Insel Jersey, in einer wunderbaren alten englischen Kapelle in französischer Sprache getraut.

Im Seebad Gorey auf derselben Insel, in dem schmucken englischen Fischerdorf, das am Fuße einer alten Normannenburg liegt, wohnten wir während des Monats Mai bis Anfang Juni, von wo wir dann nach Paris zurückkehrten. Denn ich bemerkte mit Schrecken, wie schnell man im Glück das Geld ausgibt.


Ich war einige Wochen vorher, ehe die junge Schwedin in Paris erschien, noch in der schrecklichsten Notlage gewesen. Zwei Tage hatte ich fast nichts zu essen gehabt und hatte kein Geld und keine Aussicht, welches zu bekommen. Ich hatte Brief um Brief nach Hause geschrieben, aber mein Vater wußte nichts davon. Man wollte ihn mit meinen Briefen nicht verstimmen und man legte dieselben, da er nicht wohl war und zu Bett lag, ungeöffnet auf seinen Schreibtisch, einen Brief zum anderen.

Das amerikanische Ehepaar streckte mir endlich das Heimreisegeld vor, nachdem ich schon halb verhungert war. Ich hatte an einem Tag nur für einen Sou eine halbe Semmel gegessen und am anderen Tag nur ein Ei für meine letzten zwei Sous verzehrt und die Hälfte der Semmel vom Tage vorher, die ich aufgehoben hatte. Um meine Kräfte zu schonen, hatte ich mich zuletzt tagsüber aufs Bett legen müssen, weil ich mich nicht durch Gehen im Straßenlärm hungrig machen wollte.

Am dritten Tag konnte ich nicht mehr länger in dieser elenden Weise auf den Postboten warten, und als mich zufällig die beiden Amerikaner besuchten und mich fragten, warum ich nicht ausgehen wollte, gestand ich ihnen meine Hungersnot. Noch am selben Abend begleiteten sie mich, nachdem sie mich gestärkt hatten, zum Bahnhof, und ich reiste zu meinem Vater.

Dieser war müde von den dreijahrelangen Unterstützungen, die er mir gegeben hatte. Er bedachte nicht, daß die Schriftstellerei und die Dichtung mehr Studienjahre in Anspruch nehmen als die Medizin und die Jurisprudenz. Ich erlangte aber dann doch von ihm, nach einer eindringlichen Auseinandersetzung, daß er mir noch einmal einige tausend Mark gab, wofür ich ihm dann versprach, wenn dieses Geld verbraucht wäre, für mich selbst zu sorgen, so daß mein Vater sich darnach nicht mehr um mich kümmern sollte. Mit dieser Summe wollte ich sparsam leben und hoffte auf baldige Büchereinnahmen. Ich wollte jetzt in einem Winkel von Paris eifrig schreiben.

Aber weder mein Vater, noch ich, ahnte bei diesem Wiedersehen — das unser letztes war —, daß ich sechs Wochen später verheiratet sein würde. Ich hatte damals keine Ahnung, daß das junge Mädchen, das ich im stillen liebte, nach Paris kommen würde. Und mit nur viertausend Mark in der Tasche hätte ich nicht gewagt, nach Stockholm zu reisen und im Hause des Großkaufmanns um die Tochter zu bitten.

So war ich nach Paris zurückgekehrt und hatte mich ein wenig bei den Spaziergängen im Luxembourggarten von dem letzten Hungerschrecken erholt, als die junge Schwedin erschien und ich nun, ermutigt durch die paar Banknoten in meiner Tasche, mich nicht lange besann und für mein Herz ein Weib wollte, da es ja auch der ärmste pariser Straßensperling sich erlaubte, ein Weib von der Natur zu fordern. —


Von der Englandreise nach Paris zurückgekehrt, mieteten wir jungen Eheleute dann in der Rue Boissonnade, die eine Atelierstraße ist, von einem Amerikaner, der zum Sommer aufs Land gezogen war, ein großes ausgestattetes Maleratelier und ein Schlafzimmer.

Noch einige Zeit konnte ich meiner jungen Frau verbergen, daß die Sorge bald vor unserer Tür stehen würde, und daß ich nicht ahnte, wovon wir dann weiterleben sollten.

Da unsere meisten pariser Bekannten jetzt im Hochsommer auf dem Lande waren, war unser einziger Verkehr das amerikanische Ehepaar James und Theodosia, die in der Nähe des Eiffelturmes an einer Avenue ein hoch im Himmel gelegenes Atelier mit Küche und Schlafzimmer bewohnten.

Die alten okkultistischen Gespräche wurden bei den Amerikanern wieder aufgenommen. Denn James und Theodosia hatten ihre kabbalistischen und okkultistischen Studien nicht aufgegeben. Beide standen immer noch im regen Briefverkehr mit ihren londoner Freunden. Eines Tages besuchten wir auch in ihrer Gesellschaft in Neuilly den letzten Abkömmling eines schottischen Königs, der in Paris als Ägyptologe lebte und mit seiner Frau ein hübsches Gartenhaus bewohnte, wo er Sonntags eine Unmenge Damen und Herren empfing.

Ich sah bei ihm die Papyrusrollen des ägyptischen Totenbuches, das jener Gelehrte aus den Hieroglyphen ins Englische übersetzte.

Derselbe Gelehrte führte später in Paris den alten Isiskultus wieder ein, und seine Frau wurde Isispriesterin. Ich ersah das viele Jahre später aus illustrierten Zeitungen, die das Bild der beiden mit der Nachricht von der Auffrischung des Isiskultus brachten.

Mit James und Theodosia besuchten wir in jenen Sommermonaten auch öfters die Gewölbe des Louvres, die die großen ägyptischen Sammlungen enthalten. Ich lernte dabei wieder viel Neues aus den Geheimlehren der Okkultisten kennen. Sie erklärten mir, daß es falsch sei, wenn man die großen Porphyrbildsäulen jener ägyptischen Götter, die Tiergestalt zeigen, immer für Tiergottheiten ansehen will.

Diese Steinbilder, halb Menschen, halb Tiere, die da in steifer feierlicher Haltung aufrecht stehen oder sitzen, tragen nur Tiermasken vor den Gesichtern: die Maske eines Ibisvogels oder die eines Schakals oder die einer Tigerkatze. Die Ägypter stellten die Götter gern mit Tiermasken dar, um anzudeuten, daß Tier und Menschen die gleichen menschlichen Regungen besitzen, daß alle Erdenleben ein und dasselbe göttliche Leben erleben, und daß das Unergründliche hinter verschiedenen irdischen Masken auftritt; und daß nicht bloß in der Gestalt des Menschen, sondern auch in den Tieren alle ewigen Gefühle des Weltalls sich vereinigten.

Auch wenn wir die Maske wechseln und im anderen Leben Katze, Schakal oder Ibis werden, haben wir dieselben ewigen Gefühle in uns. Deshalb wurden bei den Ägyptern Tiergesichte von Menschengestalten getragen und umgekehrt. Die Sphinx zeigt einen Menschenkopf auf einem Tierleib. Menschen und Tiere gehen im wechselnden Weltalleben ineinander über.

Da ist keine Grenze gezogen zwischen dem Empfindungsvermögen der beiden. Mensch und Tier, beider Körper, leben vom Hunger und von der Liebe, sie erleben beide die höchsten Weltallfestlichkeiten Geburt, Liebe und Tod. Und beide erleben Weltunergründlichkeit. Mensch und Tier erschaffen sich aus der gleichen Wirklichkeit und der gleichen Unwirklichkeit. Mensch und Tier gehören der Endlichkeit und der Unendlichkeit an, da sie dem Weltalleben angehören, das ein festliches Verwandlungsspiel aus unendlicher Kraft bedeutet, worin sich alles mit unendlichem Geist erschafft. Deshalb ist kein Tier von Natur geistloser als der Mensch. —

Ich hörte sehr gern solchen Erklärungen über die ägyptischen Kunstwerke zu, den Erklärungen über das Symbol der Schildkröte, über das Symbol des Skarabäuskäfers und über viele andere Gestalten des Tierreiches, die der Ägypter tausendfach nachgebildet hat, um sie immer als Gleichnisbild der Ruhe oder als Gleichnisbild der Seelenwanderung vor Augen zu haben. Ähnlich wie die Christen sich das Lamm und die Taube als Lebensgleichnisse in den Kirchen dargestellt haben.

Nicht bloß hoher Geist sprach aus den ägyptischen Kunstwerken; es wirkte ebenso erhebend die edle vereinfachte Linie, in der die ägyptischen Künstler Menschenkörper und Tierkörper in Porphyr, Granit und Alabaster dargestellt hatten. Mit kluger Beherrschung arbeiteten einst ägyptischer Meistergeist und Meisterhände ernst und mit gemessener Ruhe, so wie der Strahl der senkrechten Sonne, die steil über dem Nil steht und nur des Menschen wichtigste Lebenslinie an Körper und Seele groß beleuchtet. Bei solcher Feierlichkeit der Lebensauffassung verstummen alle nebensächlichen Fragen des Alltags, und nur der reine stolze Weltallfestlichkeitsgedanke strömt von den Kunstwerken auf den Beschauer. —

Wenn ich dann von den Louvregewölben wieder hinaus auf die pariser Straßen kam, nachdem wir uns lange in die ägyptischen Bildwerke vertieft und uns an ihnen ergötzt hatten und die Festlichkeit unseres eigenen Daseins bestätigt erhalten hatten vom festlichen Lebensgefühl ferner Jahrtausende, so konnte ich mich mit meiner jungen Frau, die sich gern mit mir in alles vertiefte, was mich künstlerisch erregte, zuerst nicht gleich zurechtfinden in den Gegenwartsstraßen von Paris.

Wie läppisch kamen mir zum Beispiel an den Möbeln, die da in den Schaufenstern standen, die Rokkokolinien vor. Flüchtig wirkend wie Straßengeschwätz im Vergleich zu den ägyptischen monumentalen Hausgeräten. Im Vergleich auch zu den edlen griechischen Geräten, die strengen Zweck und zarte, nur angedeutete Grazie und eine leichte kluge natürliche Ausschmückung gezeigt hatten, und die wir ebenfalls vorher im Louvre bewundert hatten.

Ich hätte am liebsten die Augen geschlossen und wäre mit meiner Frau durch die Jahrtausende zurückgeeilt und hätte mit ihr am liebsten das untergegangene Theben am Nil und das verschwundene Athen Homers aufgesucht. Denn wir nahmen die Liebe, die wir jetzt erlebten, hoch, festlich und feierlich, und das Glück des Körpers wünschte auch das Glück des Geistes.

Aber der Geist unserer Jahrhunderte, sagte ich mir, der Geist der alten Weltanschauung heutzutage, verfolgte, haßte und beschimpfte den Körper, da er sich ihn mit einer Erbsünde belastet vorstellte. Der Menschenleib war wegen seiner Vergänglichkeit vom christlichen Geist immer verächtlich und herablassend behandelt worden. Aber die Glückseligkeit, die der liebende Körper geben konnte, schien mir vollkommen glücklichmachend zu sein. Wogegen man das nicht vom Zeitgeist sagen konnte, der immer hochmütig mit zukünftiger Seligkeit handelte.

Man war in meiner Jugendzeit in den Bürgerkreisen noch argwöhnisch gegen die selbstverständlichsten Forderungen des lebenden Körpers. Und man schämte sich in den Familien seiner natürlichen Liebesforderungen. Man gestand sich wohl ein, daß das Herz liebebedürftig sei, man sprach von der Zusammengehörigkeit der Seelen. Aber man wollte gern die Regungen des Körpers bei der Liebe übersehen wissen. Man fand aus falscher Scham des Leibes natürliche Lebensbedingungen sündhaft.

In meiner Jugendzeit waren fast alle Mädchen bleichsüchtig. Und ich erinnere mich, daß man sie mit den verschiedensten Medizinen gesund machen wollte. Aber das gesündeste Mittel, das darin besteht, dem gereiften Körper die unerbittlichen Forderungen der Sinne zu befriedigen, indem man die jungen Menschen so früh wie möglich, sobald es ihre körperliche Sehnsucht fordert, sich verheiraten läßt, dieses kam gar nicht in Frage. Man tat, als wäre der Körper nur ein Seelenquäler.

Wenn der Körper sich nicht krank meldete, wußte man von seiten der Erzieher damals während der Erziehungsjahre gar nichts von ihm. Man sprach nur eindringlich zu dem jungen Menschen von der Seele, vom Gemüt und vom Herzen. Und diese an und für sich erhabensten Dinge wurden durch die übertriebene Anrufung dem Heranwachsenden so lästig gemacht, daß ein junger, körperlich reif werdender Mensch die Worte Seele, Gemüt und Herz zu verachten begann, ehe er noch ihren Sinn begriffen hatte.

Denn diese Worte, die eigentlich erst dem reifen zufriedengestellten erwachsenen Körper in aller Innigkeit und Erhabenheit beim Erleben verständlich werden, wurden den Kindern, sowohl in der Religion von den Lehrern, als in der Familie von den Eltern, so reichlich zugeteilt, daß ihnen die Ohren damit vom Schall dieser schönen Worte übel vollgestopft waren.

Und wurden jene Menschen dann älter und reif, so steckten ihnen die Ohren immer noch voll vom leeren Wortschwall, und sie wollten keinen Anschluß an den Inhalt dieser Worte haben. Sie verlachten oder wichen allen tieferen Werten des Lebens, allen tieferen geistigen Erkenntnissen aus und fanden es überflüssig, davon zu sprechen. Denn man hatte von der Schulbank her und von der Familie her den Menschen mit zu frühem Hinweisen auf geistige Lebenswerte vor hohen Worten Ekel eingeflößt. Der verachtete Körper rächte sich später und griff stürmischer und rücksichtsloser und, aus dem Gleichgewicht gebracht durch langes Darben, heftig nach dem Wirklichkeitsleben, und fern von geistiger Vertiefung entschädigte man sich für die zu frühe und überüppige Seelenlehre der Schul- und Erziehungsjahre.

Die Jahre, die man, eingesperrt in den Gefängnissen der Schule beim Auswendiglernen geistestötender Plappereien, fern von den vier belebenden Jahreszeiten, beinahe unterirdisch eingekerkert, hatte verbringen müssen und die weiteren Jahre, die da in gemütstriefenden Familienkreisen bei falscher Scham fortgesetzt werden mußten, entnervten die heranwachsenden jungen Männer und jungen Mädchen meiner Zeit.

Nervenkrankheiten aller Art brachen in Massen aus. Das Wort Hysterie tauchte auf, und wie ein Aussatz fraß diese Krankheit der Nerven um sich und befiel viele gesundgeborene Menschengeister. Die natürlichen Sinnentriebe des herrlichen und klug durchdachten Menschenkörpers, die die Erzieher bei übertriebener Seelenzucht und übertriebener Mast des Geistes einfach ableugneten und für sündige, menschenunwürdige teuflische Triebe erklärten, die nagten, von falscher Weltanschauung vergewaltigt, verzweifelt in der Einsamkeit am klaren Geist vieler junger Menschen.

Und die vorher herzlichen und natürlichen Triebe arteten dann in herzlose Sinnensucht aus, die doppelt heftig in der Unterdrückung wucherte. Und die Unschuld der Natürlichkeit und der Empfindung, in der jeder Mensch und jedes Lebewesen sich im Weltall geschaffen hat, und die Gesundheit der jungen Menschen wurden durch die Sinnenunterdrückung angegriffen.

In allen Großstädten fand ich, daß die Entnervung in schreckenerregendster Weise in jenen Jahren unter den jungen Menschen aller Stände überhandgenommen hatte. Viele Männer, die mit siebzehn, achtzehn Jahren körperlich männlich entwickelt waren, ebensoviele Mädchen, die schon mit sechzehn und siebzehn Jahren reif zur Mütterlichkeit waren, und die eine natürliche kluge einfache Freude zum Leben mitbrachten, wurden auf den ewigen Schulbänken und in verlogener Familienunterdrückung matt gemacht und übermüdet vom Warten.

Ihre Körper welkten bleichsüchtig, weil ihr körperlicher Liebessinn hungern mußte. Und weder nützte den jungen Mädchen die Sorgfalt der Familie, noch den jungen Männern die Pflicht des Berufes, diese konnten nicht die seelische Überreiztheit von den körperlich darbenden jugendlichen Naturen abwenden.

Das Drama „Jugend“ von Max Halbe wurde deshalb in den neunziger Jahren mit so großer Begeisterung aufgenommen, weil es eines der echtesten Zeitdramen war. Die einander begehrenden jungen Leute sahen sich in diesem Drama in ihren natürlichsten Forderungen und in ihrem unnatürlichen Leid widergespiegelt.

Und noch grimmiger und beinahe in grotesker Tragik bedichtete damals die Seelen- und Körperqualen der reifwerdenden jungen Menschen in seinem Drama „Frühlingserwachen“ Frank Wedekind. Nur war man in den Bürgerkreisen jener Jahre noch nicht an Selbsterkenntnis so weit vorgeschritten, daß man das Erwachen des jugendlichen Körpers zur Liebe und die daraus entstehende Tragik zwischen Schulzwang und Körperdrang begreifen und ernst nehmen wollte.

Wedekinds tragischstes Drama fand erst zehn Jahre später die große Anerkennung, die ihm gebührte. Beschränkte Polizeiverbote, die dem starken Künstler Wedekind soviel grimmiges Unrecht getan haben, wurden dann endlich aufgehoben, und das erschütterndste Schulkinderdrama, das erschütterndste Erzieher- und Schülerdrama, das jemals geschrieben worden ist, durfte endlich seine aufklärende Wirkung von der Bühne auf die Öffentlichkeit ausüben. —

Im Mittelalter hat man vielen Erwachsenen das Leben zur Hölle gemacht, indem man viele unschuldige Menschen in Massen für Hexen und Zauberer erklärte, weil man Körperlichkeit haßte und verfolgte. Und in meiner Zeit hatte man der Jugend die Jugend zur Hölle gemacht. Die Erwachsenen hatten sich mehr oder weniger zu Sinnennatürlichkeit befreit, und die Menschen verbrannten nicht mehr Unschuldige als Hexen und Zauberer. Aber die ermüdenden Schulen, die man eingerichtet, der Schulzwang und der Erzieher Unverständnis aller jugendlichen sinnlichen Regungen gegenüber, sie waren eine Hölle für die Jugend geworden.


Das Grauenhafte an der heutigen unvollkommenen Lebensfestlichkeit wurde mir stärker bewußt, wenn ich so mit meiner jungen Frau durch Paris ging und wir sehr zufrieden und glücklich waren. Wie erstaunt sieht der Alltag den Glücklichen und Festlichen an, der Alltag, den die europäischen Menschen sich künstlich geschaffen haben.

In der natürlichen festlichen Weltalleinrichtung aber gibt es niemals einen Alltag. Da ist auch jede Arbeit eine Lebensfestlichkeit. Es gibt da nur lautere und stillere Festlichkeiten im Weltall, aber nirgends einen Alltag. Der Schlaf noch ist eine stille Festlichkeit und das Sterben auch.

Seht die Vögel an, wenn sie ihre Nester bauen. Seht die Tiere im Walde an, wenn sie ihr Futter suchen, die Rehe und Hasen, wie vergnügt sie es tun, wie leicht und lächelnd und doch wie tiefernst dabei, ernster als der gezüchtetste Mensch und lächelnd wie nur der wohlerzogendste Mensch.

Sagt nicht, daß nicht das wildeste Tier lächeln kann. Das Wildschwein, das mit seinen Jungen spaziert, grunzt behaglich und plaudert mit seinen Kleinen, und das zwinkernde Behagen seiner Augen ist sein Lächeln, das so herzlich aus des Wildschweins Lebensfestlichkeit kommt, wie das Menschenlächeln einer Menschenmutter, die ihre Kinder spazieren führt.

Als ich um die Erde reiste, erstaunte mich immer wieder an Asien, daß ich dort keinen Sonntag fand. Zuerst war mir das seltsam. Aber welcher Gebildete in Europa hat nicht das Gähnen gelernt am Sonntag, weil ihm eine Ruhe aufgezwungen wird, nach der sein Körper nicht verlangt hat. Man hat Arbeitslust, und man soll alle sechs Tage an einem Tag plötzlich nicht arbeiten. Man fühlt oft gerade den Drang und den Geist, am Sonntag glückliche Geschäfte abzuschließen, und man darf sich nicht beschäftigen.

Dieses verblödende Sonntagsfeiern, das eigentlich nur eine Angewohnheit, aber kein Festbedürfnis ist, fällt auf der anderen Erdhälfte bei den buddhistischen Asiaten in Indien, China und Japan weg. Und wenn ich mir vorstelle, jeder Mensch bei uns dürfte die Ruhe unserer europäischen zweiundfünfzig Sonntage, die Ruhestunden dieser Tage, in Minuten oder Stunden nach eigenem Gutdünken über das ganze Jahr hingestreut genießen, dann würden viele Nervenkrankheiten, viel Hast und Übereilung, die Europa an den Abgrund früher Entnervung führen werden, und die jetzt schon einzelne Völker vor die Frage der Entvölkerung gestellt haben, fortfallen und einer ruhigeren Einsicht, einer ruhigeren Beschaulichkeit und einer ebenmäßigeren sanfteren und stündlich festlicheren Daseinsfreude Platz machen.

Etwas anderes ist es, wenn die Menschen, um ihre Gemeinschaft untereinander zu spüren und ihre Gemeinschaft mit der Natur zu genießen, natürliche Jahresfeste feiern wollen. Es gibt genug natürliche Jahresfeste: Vaterlandsfeste, das Fest der Sonnenwende, die Feste der Frühlingswiederkehr, das Fest der Wiederkehr des Lichtes, die Feste verschiedener Blütezeiten in Wald und Feld, Vollmondfeste und Feste bei der Stellung besonderer Sterne, Feste bei gewisser Planetennähe und Erntefeste. Diese Feste, davon sich auch einige in der alten Weltanschauung finden, bieten genügende natürliche Ruhetage im Jahr, genügende im Weltalleben begründete Feste.


Ich besuchte in jener pariser Zeit 1896/97 auch öfters das eben erst eröffnete Museum Guimet, das beim Trocadero liegt, und darin ein reicher Franzose ungeheure Schätze asiatischer Kunst angesammelt hat. Chinesische und japanische Kunstgewerbegegenstände waren da und große Götterbronzen, viele vergoldete Buddhas, auf riesigen vergoldeten Lotosblumen sitzend, und wunderbares asiatisches Lackgerät für Haus und Tempel, ebenso eine reiche asiatische Bilder- und Porzellansammlung.

Hier erwachte die Lust zu meiner späteren Weltreise zum erstenmal, als ich mich sehnte, des Friedens jener Völker teilhaftig zu werden, die da im kleinsten nicht bloß Nützliches tun, sondern nützlich Schönes, die als Buddhisten mit allem Weltalleben festlicher verkehren, weil sie sich nicht höher stellen wollen und sich nicht hochmütig besser zu sein dünken als die mitlebenden Lebewesen des Alls.

Ich sehnte mich, jene Völker aufzusuchen, die so gesittet und klug denken und sich jahrhundertelang künstlerisch geschult und bereichert haben und künstlerischen Verkehr übten mit allen Weltalldingen durch beschauliches Sichvertiefen in die Natur. Jene Völker waren nicht bloß den Menschen, sondern auch den Pflanzen und den Tieren vor ihren Fenstern und Türen vertrauliche Kameraden geworden, da sie herzliche Bewunderer sind allen Lebens.

Die Volksmassen der Europäer haben es hingegen hauptsächlich nur zu wissenschaftlichem Ergründen und Bewundern des Lebens gebracht. Über die Wissenschaft hinaus, zur Kunst, zur künstlerischen Vertiefung, wohin alle Leute in Japan und China durch ihre buddhistische Weltauffassung gekommen sind, davon sind unsere breiten Volksmassen noch weit entfernt.

Nur eine Schar von künstlerisch Gebildeten und nur die Künstler weisen in Europa von Jahr zu Jahr mehr darauf hin, mit dem Weltalleben künstlerischen festlichen Verkehr zu pflegen, was seit der Heidenzeit bei uns nicht mehr der Fall gewesen ist.


Das Atelier in Paris, in dem meine Frau und ich wohnten, lag in einer Sackgasse, in welcher sich viele Ateliers befanden, und wo fast nur Künstler und Künstlerinnen hausten, Amerikaner, Franzosen, Deutsche und Skandinavier. Dieser glasbedeckte Raum lag in einem freundlichen sauberen Gartenhof und grenzte mit der Rückwand an einen großen Klostergarten, dessen Bäume wir nachts durch die Wand rauschen hörten, und dessen singende Vögel uns morgens beim Erwachen ihre frohen Gedanken gaben.

Die Mauer jenes Klostergartens lief außen am Boulevard Raspail entlang. Sie war hoch, und ich habe nie in diesen Garten hineinsehen können. Er ist für meine Augen unsichtbar geblieben und baute sich nur vor meinen Ohren in der Sonnenstille des Tages und in der Sommerstille der Nächte auf.

Im Atelier war hoch oben unter der Decke ein kleines Luftfenster, das nicht größer war als die Blätterhand einer Kastanie, und durch dieses handgroße Viereck leuchtete die Sonne durch das Kastaniengrün herein zu uns und gab einen Schimmer der Gartenwelt.

Nur draußen auf der Straße konnte man die Laubkronen der uralten hohen Ulmen über der langen Mauer sehen und die Singvögel, die von Krone zu Krone flogen. Dieser Garten hinter jener Mauer war in jenem Sommer, den wir in dem heißen Paris verbrachten, nur eine Sommerfrische für unsere Ohren.

Manchmal stand ich frühmorgens um fünf Uhr auf, von dem Rauschen des unsichtbaren Gartens aus dem Bett gelockt, und ging allein auf dem leeren breiten morgenfreundlichen Boulevard Raspail nach dem eine halbe Stunde von unserer Wohnung entfernt liegenden Park Montsouris. Dieser liebliche Mäusebergpark ähnelt sehr einer japanischen kunstvollen Gartenanlage.

Es befindet sich dort ein großer glänzender künstlicher See von künstlichen Hügelwegen, sprudelnden Quellen und kleinen Schluchten umgeben. Auf dem pflanzenreichen Wasser tummeln sich viele hundert verschiedene Wasservögel, bunte chinesische Enten, afrikanische rosa Flamingos, schwarze australische Schwäne und silberblaue Möwenarten der Polarmeere. Der Garten hatte damals nur wenig hohe Bäume, aber viel blühendes Buschwerk.

Eines Morgens bemerkte ich dort ein vornehmes Gefährt, das am Gitter stand, aber ich beachtete es nicht besonders. Als ich dann hoch oben auf den Hügelwegen spazierte, sah ich auf der gegenüber liegenden Seite des Sees zwei Frauen auf einer Bank mit heraufgezogenen Beinen nebeneinander sitzen. Ich stand halb verdeckt hinter einem Goldregenstrauch und blieb erstaunt stehen, um durch mein Hervortreten auf den offenen Weg nicht die Aufmerksamkeit der seltsam kauernden Frauen auf mich zu richten.

Ich war um diese frühe Stunde gewöhnlich der einzige Spaziergänger im Garten. Außer dem alten grauen Invaliden, in dessen Obhut die Parkbewachung lag, der mich schon kannte und dem ich öfters beim Füttern der Wasservögel zusah und mit dem ich manchesmal plauderte, war sonst kein Mensch zu sehen.

Die beiden Frauen hatten keine Hüte auf und waren so schlicht und schmucklos gekleidet, daß ich sie im ersten Augenblick für junge Fabrikarbeiterinnen hielt, die da frühmorgens auf dem Wege zur Fabrik, mit häuslicher Näharbeit beschäftigt, eine Weile den blühenden Park genießen wollten.

Dann sah ich aber mit Erstaunen, daß die Frauen, die dort lautlos, wie zwei graue Mäuschen, mit hochgezogenen Beinen auf der Bank saßen, zwei vornehme Japanerinnen waren. Und der Invalide erzählte mir später, es seien Damen der japanischen Gesandtschaft, die mit ihrem Wagen zur frühen Morgenstunde den Park öfters aufsuchten, und die lautlos, jede mit einer Seidenstickerei in der Hand, ein Stündchen hier verbrachten. Die Kleidung einer jeden von ihnen war ein unauffälliger japanischer Kimono aus schiefergrauer Seide. Die Köpfe der Frauen waren schön frisiert, und außer dem schwarzen glänzenden Haarknoten trugen sie keinen Kopfschmuck.

Hätten sie nicht nach asiatischer Sitte mit heraufgezogenen Beinen auf der Bank gesessen, sie wären mir gar nicht aufgefallen, und ich hätte sie von weitem für zwei schlichte Frauen aus dem Volk gehalten. Unauffällig verschmolzen diese stillen Wesen mit dem Morgenleben der Gartenwelt.

Diese vornehmen Damen aus der hohen japanischen Aristokratie waren nicht auffälliger in ihrer Kleidung und in ihrem Gebaren als die Amseln oder die Tauben, die im Rasen ab- und zuflogen. Eine zufriedene vornehme Einheit trennte bei ihnen nicht Körper und Kleidung voneinander. Ihre schlafrockartigen Kimonos waren für die Körper schlichte Behälter, wie das Federkleid es für die Vögel, wie das Fell es für die Tiere ist.

Diese asiatischen Kleider waren gütige und selbstverständliche Hüllen für den Leib, die in großzügiger Linie die Gestalt nur andeuteten, die Glieder schützten, aber nicht allen Körperlinien nachliefen. Es war nur Selbstverständlichkeit und keine Selbstgefälligkeit in dieser klugen Kimonokleidung, die, wie es schien, sowohl auf der Straße als hier im Garten, sowie im Hause, vor allem Schlichtheit, edle Nützlichkeit und vornehme Haltung betonte.

Ich habe dann jene Damen nicht wiedergesehen. Vielleicht hat es sie verscheucht, daß sie sich im Park nicht mehr allein wußten, aber ich habe dasselbe Bild später oft in Japan wiedererlebt. Sowohl in der Eisenbahn dort als im Geschäftsleben war es die Unauffälligkeit, die die wohlanständige japanische Frau kennzeichnet. Nur die Teehaustänzerinnen, die das Bürgerstadtteil verlassen haben und ein eigenes Stadtteil in Japan bewohnen, das abends für die Besucher geöffnet wird, nur diese tragen auffallende feuerbunte Kleider, die mit Blumen in Gold und Purpur bestickt sind. Und auch die kleinen Kinder läßt man in kunterbunten Kleidern eine äußerliche Lebensfreude öffentlich zur Schau tragen.

Der gebildete Mensch, der das innere Leben reich in Gemüts- und Seelenfarben erlebt, wird den äußeren Farbenbehang gern vermeiden.

Nur das Kind, das noch nicht reif für das Innenleben ist, und jene Frauen, die ihr Leben daran setzen, allein den Sinnen zu schmeicheln, die sollen zu den Farben greifen. Aber die häusliche und im Gleichgewicht zwischen Geist und Körper lebende Frau wird immer die Schlichtheit dem grellen Auftreten vorziehen. —

Damals, nach meinen häufigen Besuchen in den Louvresammlungen und in der asiatischen Sammlung Guimet, kam mir die Sehnsucht, Ägypten und Griechenland zu besuchen, Indien, China und Japan. Griechenland bereiste ich dann im zweiten Jahr meiner Verheiratung. Die anderen Länder sah ich erst zehn Jahre später. Aber es war mir in allen diesen zehn Jahren, bis ich die Weltreise in meinem achtunddreißigsten Lebensjahre ermöglichen konnte, ein stetes Bedürfnis, von asiatischen Ländern zu hören. Von den Ländern, aus denen wir alle unsere Weisheit und künstlerische Kultur erhalten haben, von jenen Ländern, die von jeher ihren Hunger nach Kunst so selbstverständlich befriedigt haben wie den Hunger ihres Magens. Künstlerische Schönheit gehört bei den Asiaten zum Leben wie das tägliche Salz, ohne das der Mensch nicht leben kann. —


Teils angeregt durch die Kraft der Liebe, teils angeregt durch die Gespräche kabbalistischer und okkultistischer Art schrieb ich in jenem Sommer 1896, wo ich, eben verheiratet, in jenem Atelier in Paris wohnte, das Epos „Phallus“. Auch diese Dichtung zähle ich noch zu meinen Jugendschriften.

Dieses Gedicht schildert, wie der Riese Zeit und die Riesin Leben, nachdem sie neun Jahre sich geliebt hatten, den jungen Gott Phallus schufen, den Gott der männlichen, lebenfortpflanzenden Kraft. Der junge Gott, von den Menschen verkannt, wandert durch die Straßen der Städte der menschenüberfüllten Welt und findet die Menschen in Kleidern aus Sorgengarn gekleidet und mit Mützen aus Maulwurfsfellen über den Ohren. Und sie wohnen in Backsteinhäusern, deren Steine aus dem Staub untergegangener Völker gebacken sind, und die Menschenasche der Jahrhunderte, die sich auf den Wegen der Erde angesammelt hat, erstickt die Geister und Gedanken der kommenden Geschlechter.

Da tritt Phallus, nackt und herrlich geformt, unter diese im Menschenstaub lebenden sorgengrauen Menschen. Die frische Weisheit der Quellen, die starke Kraft der Wurzeln aller Bäume, die Härte aller Metalle der Erde, die Brunst der Tiere und der Geist des Himmels haben den jungen Gott großgezogen, als ihn Vater und Mutter liegen gelassen, wo sie ihn geboren.

Er kommt in der Stadt in das höchste Haus, dessen Wände nach allen vier Windrichtungen sehen. Auf den Treppen und Gängen des Hauses findet er Hunderte von Leichen junger Männer, in deren leeren Augenhöhlen Schwärme von Fliegen nisten.

Phallus steigt über die Leichen der Jugend und tritt in den größten Saal jenes Hauses ein. Dieser Saal ist in der Mitte durch eine Glaswand geteilt, und hinter dem Glase leben die letzten Töchter der Menschen, von den Männern getrennt, in einem Spiegel.

Scharen sterbender junger Männer, die sich die Stirn an der harten Glaswand eingerannt haben, liegen vor diesem Spiegel verblutend auf den Fliesen des Saales.

Phallus sieht staunend die Scharen der Sterbenden, die nicht zu den Töchtern des Landes gelangen konnten, und er sieht auf die letzten Töchter der Menschen, die hinter der Glaswand lächeln und sich schmücken und unberührt bleiben vom Massentod der jungen Männer.

Da schüttelt ein ungeheures Mitleid das Herz des jungen Gottes Phallus, und da er nicht die unzerbrechliche eisige Glaswand zerschlagen kann, die die jungen Männer von den Frauen trennt, so stemmt er seine Arme gegen das Dach des Saales, zerbricht die Decke und ruft die Sonne herein, die dann mit ihrem Weltfeuer den großen Spiegel, in dem die letzten Töchter der Menschheit wohnen, zerschmilzt.

Aber die jungen Mädchen lassen sich nicht durch des jungen Gottes Gewalt fangen. Sie lachen höhnisch auf, und sie machen sich alle unsichtbar. Denn sie hatten das Unsichtbarmachen erlernt, das der Gott Phallus nicht kannte.

Der junge Gott, der schon glaubt, die Töchter des Menschen zu fassen, steht allein im leeren Saal, wo das geschmolzene Glas seine nackten Sohlen verbrennt. Er aber achtet nicht der Brandwunden. Er ruft laut die Töchter der Menschen. Aber diese bleiben unsichtbar und fliehen ihn.

Doch die lebenskräftigen Rufe des Gottes erwecken die Scharen der jungen toten Männer, die auf den Treppen aufstehen und erstaunt den weltkräftigen Gott vor sich sehen. Aber auch sie flüchten alle erschrocken vor seiner Kraft.

Phallus legt sich am Abend auf einen Berg zum Schlafen nieder. Der Berg erglüht von des Gottes Hitze und speit Rauch und Feuer und wird ein Vulkan.

Die Männer beschlossen, den schlafenden Gott zu binden und zu töten. Doch Phallus schläft tief und glühend in glühenden Wolken, und keiner der Menschen kann sich ihm nahen.

Der junge Gott wandert fort über die Erde und besucht alle Geschöpfe. Und er schafft den Wolken Töchter, den Adlern Söhne und den Eichen Töchter, und die Sturmfrau gebiert von ihm Söhne. Er bevölkert mit seinen sagenhaften Gestalten die Erde, und allen seinen Geschöpfen gibt er silbernes klares Blut. Und mit Wohlgefallen begegnet er überall auf den Bergen und in den Wäldern seinen Geschöpfen, die sich vermehren und sich lieben.

Nur die letzten Menschentöchter konnte Phallus nicht zur Liebe bewegen. Das Menschengeschlecht ist am Aussterben. Die letzten Männer der Menschen schlafen einsam an trüben Seen, und einsam in hohlen Bergen liegen die Töchter der Menschen. Aber sie sind alle mit Kleidern aus Sorgengarnen bekleidet und wissen nichts mehr vom nackten Menschenleib.

Einmal liegt Phallus in einer Nacht schlafend auf jenem rostigen Berg, in dessen Innern die letzten Menschenfrauen wohnen. Sie, die kaltblütig Denkenden, fühlen, wie sich der Berg erwärmt, und denken alle sofort, daß es nur der Gott Phallus sein könne, der in der Nähe ist und die Steine erwärmt.

Sie erschrecken und teilen sich gegenseitig ihre Furcht mit. Phallus aber hört, auf dem Berg liegend, durch den erwärmten Felsen ihre feigen Reden. Zugleich hört er auch über sich das Gespräch eines Adlerknaben, der um die Tochter einer Wolke wirbt, und er hört, wie jeder von beiden stolz erzählt, daß sein Vater der Gott Phallus ist.

Als der Adlerknabe erfährt, daß die Wolkentochter silbernes Blut besitze wie er, will er, daß sie ihm das Blut in ihren Adern zeigen soll. Sie soll mit ihm hinunter ins Tal an den Salzsee kommen, wo die finsteren Männer der Menschen, die letzten, um ein Feuer schlafen. Dort soll sie sich vor das Feuer stellen, damit sie, durchleuchtet, ihm das silberne Blut in ihrem Leibe zeige. Dann wollte er sie immer lieben, immer küssen, wenn sie vom selben Stamme sei wie er.

Und Phallus sieht sich um und sieht, wie überall unter den Geschöpfen, die er geschaffen, rund auf der Erde die Liebe herrscht, nur nicht bei den letzten Menschen.

Und wie der Gott noch auf dem Berge liegt und horcht, stürzt plötzlich einer der Götterboten, mit Namen Hilferuf, herauf vom See und erzählt Phallus, indessen vor Schrecken die Wolken erstarren, daß die metallgierigen letzten Menschen unten am See zwei seiner Geschöpfe, den Adlerknaben und die Tochter der Wolke, getötet haben, um das Silber aus ihren Adern zu fangen.

Phallus springt auf, und unter ihm schreit die erschrockene Erde. Er flucht den letzten Menschen, und sein gewaltiger Götterfluch erschlägt die letzten unsichtbar fliehenden Männer und Frauen. Das Unsichtbarwerden nützt ihnen nichts mehr. Die Menschheit verzehrt eine rächende Nacht.

Dann steht Phallus auf der menschenleeren Erde allein. Sein Fluch hat alles Leben vernichtet. Auch seine Geschöpfe sind zu Asche verbrannt unter dem furchtbaren Fluch.

Phallus weint sechs Tage, sechs Nächte. Seine Träne steht still am siebenten Tag, und Phallus ruht auf verwitterter Erde.

Die Erde gibt ihm ihren weisen Rat. Der Einsame soll sich nach seiner Herzlust ein Weib wünschen, wie es ihm sein Herz befiehlt. Denn einem Herzwunsch müssen die Sonnen gehorchen.

Und Phallus wünscht und ruft seinen Herzschrei ins Weltall. Die beiden Riesen Urklang und Urlicht, die die Sonnenfeuer schüren und die Sterne rollen, und die dem Urleib der Welt dienen, hören am Feuerherd den Schrei, den Phallus auf Rat der Erde, die mit großer Weisheit zu ihm gesprochen hatte, zu den Sonnen gerufen hat. Unter diesem Schrei stürzen betäubt die ältesten Riesen des Weltalls, Urlicht und Urklang, geblendet nieder. Und das Feuer der Sonne schrumpft ein, so daß die Sonne verdunkelt und die Erde aufschreit, weil ihre Tierherden und ihre Wälder sterben.

Phallus bittet die Riesen, ihm das Weib zu geben, nach dem seine Sehnsucht ruft.

Da beraten alle Sonnen, denn sie müssen zittern vor einem echten Herzschrei, und sie müssen antworten. Und sie versprechen Phallus einen neuen Stern zu bauen. Auf diesem wollen sie sein Weib, das sie ihm erschaffen wollen, wandeln lassen. Dort auf dem rundesten Stern soll er sie besuchen. Und sein Weib, geboren aus Himmel und Erde, werde ihm heiter drei Söhne gebären. Die Namen der Söhne sind Bildner, Pfeifer und Träumer.

Und die Sonne verspricht, Phallus Söhnen drei Bräute zu senden. Die Namen der drei Bräute sind: Lichtlust, Klanglust, Mär.

Die drei Söhne des Phallus und die drei Töchter der Sonne sollen dann der Erde neue Menschen schaffen, Menschen nach heiligen Maßen, nach Linien der Mutter.

„Und nun, Phallus, freue dich und entzünde die verdunkelte Sonne mit deiner Freude. Komm in den heiligen Garten, wohin alle Straßen der Erde münden, und finde das Ende der schmerzlichen Welt. Dort unter Lauben aus seltenem Laub finde dein Weib.

Ihre Brüste sind wie ein Paar Honigäpfel, und ihre Augen sind wie zwei dunkle Teiche, auf deren Tiefe das Alter der Erde und das Alter der Sonne geschrieben steht. Ihr Leib aber ist wie ein Garten, und ihre Adern sind heiße Bäume. In ihrem Herzen münden feurig alle Straßen der Erde. Bei ihr findest du das Ende der schmerzlichen Welt.“

Und Phallus betrachtet sein Weib und nennt sie Herzfreude und umarmt sie. Sie gebiert ihm drei Söhne. Als die Söhne heranwachsen, hören sie ein Seufzen und ein Schluchzen im Schlaf in jeder Nacht. Sie klagen dies dem Vater. Er erzählt ihnen, daß das die Erde sei, die sie klagen hören. Die Erde wolle Menschen.

Da verlangen die Söhne, daß der Vater sie zur Erde bringe. Sie wollen der einsamgewordenen Erde wieder neue Menschen erschaffen.

Der Vater aber sagt ihnen: „Wenn ihr einmal zur Erde gekommen seid, könnt ihr nie mehr das Auge eurer Mutter fassen. Nie seht ihr wieder solch rundes Auge.“

Aber die Söhne bestehen darauf, daß der Vater sie zur Erde führe.

Darauf erzählt ihnen Phallus, daß sie dort drei Jungfrauen der Sonne finden werden. Diese Jungfrauen sollen sie zu Bräuten nehmen.

Auch die Mutter umarmt ihre Söhne zum Abschied und gibt ihnen Ratschläge. Sie sagt ihnen, daß auf Erden der Wurm Tod wohnt und die Schlange Unheil. Und sie müßten diesen beiden göttliche Gestalt geben und müßten dem Tod ein Lächeln und die eisernen Sohlen der Notwendigkeit geben und das Unheil als einen in Ketten wandernden Schattenkönig ansehen. Sie werden auch auf der Erde die Mutter Erdlust und ihre vier Töchter finden: Erdfeuer, Fleischlust, Blutbrand und Gürtellos. Sie sollen mit den Töchtern der Erde drei Nächte im Maimond tanzen und drei Nächte im Herbstmond, und weiter ratet die Mutter den Söhnen:

„Und seid ihr auf Erden angekommen, nie backt dort Ziegel vom Staub eurer Brüder, nie näht von Maulwurffellen euch Mützen. Schneller geht nie als im Takt eurer Herzen, aber schaut tiefer als euer Auge.“

Phallus führt die Söhne zur Erde. Dort gibt er ihnen drei Hengste, stählerne Hengste, die vom Urblau geworfen wurden. Sie heißen Eifer. Und Phallus füttert sie mit Blitzen. Auf diesen Hengsten sollen Phallus’ Söhne die Töchter der Sonne erjagen, die auf goldenen Stuten vor ihnen fliehen.

Zwölf Monde jagen die Söhne des Phallus hinter den Jungfrauen her, bis sie sie erreichen und die Frauen ihnen fürs Leben in Liebe zu Willen sein wollen.

Und dann wird später geboren: Rundherz, der erste rundherzige Mann, und Rundherz, die erste rundherzige Frau. Und Goldklang und Goldwort. Diese leben bei Bäumen und Tieren glücklich wie Mutter Herzfreude im Urblau. —


Ich gab den Inhalt dieser Dichtung deshalb hier an, um an die Gedankengänge zu erinnern, die durch jenes Buch gehen. Man wird erkennen, wie sehr dieses Gedicht aus den Gefühlen und Gedanken jenes Lebensabschnittes hervorgegangen ist, aus dem Leben meiner jungen Ehe und aus dem Verkehr mit dem okkultistischen amerikanischen Ehepaar. Aber im tiefsten Grunde natürlich war das Epos von meiner festlichen Weltanschauung beeinflußt worden.

Dieses Epos „Phallus“, ebenso wie die „schwarze Sonne“, deren Entstehung ich schon früher beschrieb, das Buch „Ultraviolett“, das Drama „Sun“ und das Drama „Sehnsucht“, waren Arbeiten, die ich vom fünfundzwanzigsten bis zu meinem dreißigsten Jahre schrieb.

Außerdem hatte ich in jenem Jahre 1896 von Gedichten einen kleinen Band liegen, den ich teils im Herbste 1894 geschrieben hatte, teils stammen die meisten dieser Gedichte aus dem Jahr vor meiner Verheiratung. Dieses Bändchen von ungefähr hundert Gedichten war mir ein kleines Heiligtum. Es waren darin meine ersten Liebeslieder, und ich hatte mir vorgenommen, sie nie zu veröffentlichen. Ich schämte mich, meine innigsten Gefühle anderen zum Lesen zu geben, und ich sagte zu meiner Frau, daß diese Liebesgedichte erst nach meinem Tod erscheinen dürften.

Ich wünschte Dichter zu sein, aber wollte nicht nach der öffentlichen Anerkennung streben, da die Anerkennung von ihr, der ich meine Gedichte schrieb, mich reichlich zufriedenstellte. Die bedichtete Liebe gehört nicht in die Öffentlichkeit, so dachte ich damals. Liebe ist jedes Menschen innerste Herzensangelegenheit, meinte ich. Und wenn ich aufgefordert wurde von Zeitschriften und Zeitungen, eines der Liebesgedichte zu senden, antwortete ich nicht.

Denn meine Liebe hatte noch die Schamhaftigkeit des jugendlichen Alters. Sie war noch nicht die Liebe des ausgereiften Mannes. Ich glaubte, daß meine Liebesinnigkeit von der Welt belächelt werden könnte. Ich hatte noch nicht die Weisheit im Fleisch, daß man die Welt in sich besitzt, und daß das Echte, das einen bewegt, alle Echten auch bewegt, und daß alle in der großen Welt von der gleichen Innigkeit der Freuden leben und von den gleichen Qualen der inneren Leiden.

Wer seine Freuden oder Leiden in einem Kunstwerk wiedergeben kann, in einem Musikstück, in einem Bild oder in einem Gedicht, der gibt damit im letzten Grunde nicht sich, nicht seine Innigkeit, nicht seine Erschütterungen, sondern er gibt die Gefühlswelt aller. Darum ist es eine falsche Schamhaftigkeit, Gedichte oder Kunstwerke, die aus dem Liebesinhalt eines Lebens stammen, vor der Öffentlichkeit verbergen zu wollen.

Damals war meine Zurückhaltung nur insofern gerechtfertigt, als der Band Gedichte, den ich „Reliquien“ nannte, zu meinen Jugendgedichten zu rechnen ist. Ich versuchte bei diesen Gedichten in den ersten Anfängen eine neue Form und Kürze, die ich erst später sicherer handhaben konnte. Und ich wollte weder die Innigkeit, noch die Neuheit belächeln lassen.

Wieviel muß ein junger Künstler mit sich selbst durchkämpfen! In der Dichtung kann nicht einmal ein Freund den Freund beraten. Keinen Freundesweg, keinen Schulweg, keinen Staatsweg, nur den eigenen Lebensweg, nur den eigenen Verantwortungsweg kann der junge Künstler beim Schaffen gehen.


Bei all dieser Verantwortung des innerlichsten Berufes wird dem jungen Dichter nicht einmal äußere Hilfe zuteil, keine Erleichterungen, die ihm der Staat auf Reisewegen verschaffen könnte, keine Erleichterungen durch Staat und Vaterstadt. Den jungen Dichtern, auf die später einmal nach Hunderten von Jahren die Nation angewiesen ist zurückzuschauen, und die sie als die Förderer ihrer Geistesschätze und ihrer Herzensbildung den Kindern und Kindeskindern nennen, wird von ihrer Nation bei Lebzeiten keine Sorgfalt zuteil.

Keine Hand rührt sich im Staatshaushalt, die heranwachsenden Dichter zu pflegen, die innerlich ganz aufgenommen sind von ihrer geistigen Entwicklung und von ihrem vertiefteren Empfindungsleben, in dem sie untertauchen müssen, von der Oberfläche des Alltags fort. Niemand bedenkt, daß Dichter nicht daran denken können und auch nicht daran denken dürfen, Geld mit ihrer Kunst zu verdienen, um ihrer künstlerischen Entwicklung nicht zu schaden.

Viele jener jungen Männer müssen deshalb die verzweiflungsvollsten Stunden und Tage durchmachen. Sie werden bitter davon gepeinigt, mitten in der Welt des Verdienens verdienstlos dastehen zu müssen, trotzdem sie unausgesetzt arbeiten, trotzdem es für sie keine Ruhetage gibt. Ich möchte auch sagen, keine Ruheaugenblicke gibt es für sie, denn des Künstlers Leben ist ein stündliches unausgesetztes Ringen, der inneren Welt schöpferischen Ausdruck zu geben.

Nie sind Künstler in einem Augenblick ihres Lebens ganz frei von diesem Schöpfungsfieber. Denn das Leben des Künstlers bewegt sich im Verhältnis zum Leben der Gelehrten, Kaufleute und Handwerker in fieberhaftem gesteigerten Zustand, und dieser ist viel gesteigerter als der Fieberzustand, in dem ein Erfinder lebt.

Der Erfinder kämpft mit der Gestaltung neuer Wirklichkeit, die Künstler aber müssen neue Unwirklichkeit gestalten.

Verleger und Zeitschriften können einem jungen Dichter nicht viel nützen. Sie sind Geschäfte, die für ihren Vorteil arbeiten müssen. Gedichte werden mit Kleinigkeiten bezahlt und nicht nach ihrer Güte und nicht nach ihrem Inhalt und innerem Wert, nicht wie man Juwelen abschätzt, für die man nach Feuer, Glanz und Schliff die Preise bestimmt.

Und doch benötigt jedes Volk Gedichte und Dichter, wie es Heldentaten und Helden benötigt. Weil der Lebensgeist, die Lebensfreude und der Lebenssinn erst im Kunstwerk seine Krönung findet. Und weil der Nachwelt im Gedicht die Gefühlswelt der Vergangenheit übermittelt werden soll. Kein Volk sollte es vernachlässigen, seinen jungen Künstlern breiteste Lebenserleichterung zu bieten. Das Volk, das dieses tut, bietet sich dann selbst ein höheres Leben.


Nachdem ich einige Monate verheiratet war, kam das, was ich schon vorausgesehen hatte, daß das Geld, das mein Vater mir im Frühjahr gegeben hatte, rasch zur Neige ging. Denn ich hatte damit Hochzeitsreise und den Sommeraufenthalt in Paris bestreiten müssen. Und als ich das Gedicht „Phallus“ beendet hatte, wußte ich genau, daß jetzt noch niemand dasselbe kaufen würde, und daß das, was man mir vielleicht dafür böte, so wenig sein würde, daß man sich davon nicht viel Lebenstage kaufen könnte. Erst fünf Jahre später nahm dieses Gedicht die Zeitschrift „Insel“ für einige hundert Mark.

Diese Ohnmacht, nichts verdienen zu können und doch die Zeit bei unausgesetzter Arbeit zugebracht zu haben, zu wissen, daß ich mich zugleich in fortgesetzter geistiger Weiterentwicklung befand und eine neue Weltanschauung verkörpern wollte, die täglich meine Gedanken und mein Empfinden beschäftigte — alles dieses hätte mich verfinstern müssen.

Wohl wurde ich oft verdüstert. Aber die junge Liebe, die ich erlebte, war zu süß und ließ keine Verbitterung in mich dringen. Ich fühlte nur, daß die Welt nicht in Ordnung war. Und wenn ich mich auch schämte, Freunde und Verwandte um Weiterhilfe immer wieder von neuem angehen zu müssen, so sagte doch mein Inneres: es wird sich ganz von selbst eines Tages beweisen, daß die Hilfe, die man mir gab, nicht schlecht angewendet war.

Im letzten Grund gab ich die Schuld, daß ich bitten mußte, der ungenügenden Gesellschaftsordnung, in der ich heutzutage lebte, und die jeden jungen, sich entwickelnden Dichter ganz aus dem Auge ließ und ihn zum Bitten und Betteln zwang und ihn dem Mitleid und zufälliger Unterstützung aussetzte. Sowie man früher nicht auf das Volk- und Arbeiterwohl bedacht gewesen war, so war man jetzt noch nicht auf das Künstlerwohl bedacht; aber diese Erkenntnis war schmerzlich, je klarer sie mir wurde.

In Petersburg lebten noch Verwandte meiner Mutter und alte Freunde meines Vaters. Und da ich meinem Vater hatte versprechen müssen, als er mir die letzte Geldsumme gegeben, ihn nicht wieder um Unterstützung anzugehen, so dachte ich an meine Verwandten in Rußland.

Traurig war es mir, meiner Frau jetzt erzählen zu müssen, daß ich schon lange Sorgen für die Zukunft in mir trug. Sie hatte stillschweigend angenommen, daß meines Vaters Unterstützung nicht ausbleiben würde, und begriff, als das nicht der Fall war, daß ich nach Petersburg reisen müsse, um von dortigen Verwandten vielleicht eine dauernde Unterstützung zu erhalten. Ich reiste dann nach Rußland, nachdem das amerikanische Ehepaar meine junge Frau aufgefordert hatte, während meiner Reisetage in ihrem Atelier Aufenthalt zu nehmen, wo ich sie also in gutem Schutz wußte.

Diese Reise, bei der ich nur fünf Tage von Paris abwesend war, war eine der eigentümlichsten, die ich je erlebt habe. Es war mir ganz bunt und seltsam zumute, aus Frankreich zu kommen, über den Rhein, nach Deutschland, mich verheiratet zu wissen und doch meine Frau, welche Schwedin war, bei Amerikanern im Französisch sprechenden Lande zurückgelassen zu haben.

In Berlin, am Bahnhof Friedrichstraße, als ich dort kurzen Aufenthalt hatte, umarmten mich von allen Seiten aufs stürmischste deutsche Erinnerungen. Meinem Ohr, das so lange Schwedisch, Französisch und Englisch gehört hatte, war die geliebte deutsche Muttersprache wie Musik. Jedes Wort am Bahnhof der deutschen Hauptstadt schmeckte mir wie Honig und Milch, schmeckte nach Süße und Einfachheit.

Mein Gehirn war nicht bloß von Sorgen, sondern auch von der Fremde übermüdet. Das fühlte ich jetzt erst, wo die Heimatlaute ohne Gehirnanstrengung in mein heißes, von der Fremde gerädertes Herz wie Tau fielen.

Du hast ein Land, sagte mein Blut. Du hattest vergessen, daß du ein Volk besitzt, Heimatgebräuche, Heimattraulichkeit, Heimateinfachheit voll Selbstverständlichkeit, ein Volk, dem du angeboren, angewachsen bist, das du nicht abschütteln kannst, das du bis in den Tod als deinen Besitz fühlen sollst. So wie dein Körper dir gehört, gehört nur das deutschsprechende Volk, nur das deutsche Wesen dir. Nur auf deutschem Boden gehen deine Füße sicher. Nur in deutscher Luft atmet deine Brust frei auf. Nur bei deutscher Landschaft wirst du echt dichten können.

Aber so klar, wie ich dieses heute schreibe, wurden mir damals die auf mich einstürmenden Gefühle nicht bewußt. Ich hegte noch den Wahn, soweit Eisenbahnen, europäische Sitte und europäische Gedanken reichen, müßte auch ich mich als Künstler überall zu Hause fühlen können, überall dichten können. Denn die früheren Jahre der Familienenge lagen noch in meiner Erinnerung wie ein Zellengefängnis, in das ich noch nicht wieder hätte zurückkehren können. Die weite Welt schien für mich noch das Notwendigere zu sein und das Nützlichere für meine Weiterentwicklung.

Aber ich war doch erstaunt, daß ich solche Süßigkeit in meinem Blut empfand, als ich auf dieser Reise von der französischen Sprachgrenze fort nach Deutschland gekommen war. Und es tat mir weh, daß ich allein war und meiner Frau nicht Deutschland und Berlin und deutsches Wesen zeigen konnte.

Doch der schöne Heimatrausch war kurz. Der Zug flog noch in der Nacht von Berlin nach Königsberg. Und am nächsten Mittag, als in Eydtkuhnen an der Grenze struppige russische Packträger, mit roten Hemdblusen, weiten Pluderhosen und schweren Stulpstiefeln angetan, meine Koffer durchs Zollamt trugen und ich den großen kupfernen Samowar in der Bahnhofwirtschaft dampfen sah und ich auch der mir bereits aus einer früheren Reise und aus Familienerinnerungen bekannten russischen Art wieder begegnete, konnte ich nur schwer aus der alten Heimathaut in die russische neue Haut schlüpfen und mich anderen Gebräuchen anpassen.

Doch sagte ich mir dabei, alle die wechselnden Bedrängnisse wollte ich gern ertragen, wenn ich dann danach, mit Zukunftsunterhalt versorgt, von Petersburg nach Paris beruhigt zu meiner Frau zurückkehren könnte. Und ich hielt mich nur an diesen Gedanken.

Mein Schrecken war aber groß, als ich in Petersburg hören mußte, daß die Schwester meiner Mutter, die ich besuchen wollte, in einem der letzten Monate gestorben war. Auf ihre Hilfe hatte ich gehofft, denn die anderen Verwandten standen mir nicht so nah und hatten für sich selbst zu sorgen.

Ich hatte die weite Reise unternommen, weil ich wußte, daß langes Briefschreiben meine Lage nicht so gut würde auseinandersetzen können. Und nun war diese Reise umsonst! Man hatte mich vom Tod meiner Tante nicht benachrichtigen können, da man meine Adresse nicht gewußt. Ich erfuhr nun den Tod der mir lieben Verwandten erst bei meiner Ankunft in Petersburg. Damit war aber auch alle Hoffnung auf Hilfe tot.

Ich blieb kaum zwei Tage in Rußland. Dann fuhr ich wieder von einem Ende Europas nach dem anderen Ende, nach Paris zurück.

Sehr niedergeschlagen reiste ich nochmals durch Deutschland, als wäre es ein fremdes Land. Eilig flog ich durch deutsche Meilen und durfte nirgends aussteigen. Und es war mir seltsam, sowohl in Königsberg, als auch in Berlin und Köln, überall auf jedem Bahnsteig, wieder denselben Gesichtern der Schaffner, der Zeitungsverkäufer, der Kellner zu begegnen. Dieselben Menschen standen da, überall, wo ich zwei Tage vorher vorübergekommen war, in ganz Europa noch wie am selben Fleck. Aber ich war nicht mehr derselbe. Ich hatte die fremde russische Welt in mir, den Schrecken der Todesnachricht, die Qualen der Enttäuschung, die Angst vor der Zukunft und fremde Petersburger Bilder. Ich war drei Tage durch drei große Völkerheimaten gereist, zuerst hoffnungsfröhlich, und kam nun verzweifelt denselben Weg zurück. Der Weg war derselbe. Auch ich als Wanderer war äußerlich derselbe. Aber mein Herz hatte auf diesem riesigen europäischen Weg noch mächtigere Wege durch viele innere Welten zurückgelegt und war nicht bei mir.

Ich hatte zuerst die Heimatsehnsucht erfahren, das Heimatentzücken. Ich hatte dann ferne Verwandte wiedergesehen, Vergangenheiten besucht, war Toten begegnet. Ich hatte in neuen Familien Neugeborene gefunden, die eben erst ihr Leben anfingen, die harmlos und hoffnungsvoll anzusehen waren, wie ich es auf der Hinreise gewesen. Ich hatte auch gealterte, enttäuschte Gesichter gesehen, sowie ich selbst jetzt gealtert und enttäuscht geworden.

Als ich in Paris wieder auf dem Bahnhof ankam, waren für die große Stadt auch nur ein paar Tage vergangen. Hier hatte sich nichts am Stadtbild geändert. Dieselben Zollbeamten, dieselben Gesichter überall, dieselben Gewohnheiten und derselbe Lärm auf den Straßen.

Doch ich kam von neuen Gesichtern umgeben in diese Stadt zurück, mit Gesichtern von ganz Europa, die aus mir heraussahen, die aus mir sprachen, und die doch niemand an mir bemerken konnte. Ich schien mir dabei, als ich ein paar Stunden später am Abend mit meiner Frau und den Amerikanern über die Straße ging, gar nicht von dieser äußeren Welt hier fortgewesen zu sein.

Ich war auch nur äußerlich in Paris angekommen. Innerlich war ich noch lange nicht da. Und ich wußte auch, daß ich innerlich nie wieder ganz ankommen würde. Erfahrungen und innere Erlebnisse verwandeln einen Menschen rasch und gründlich. Und man verwandelt sich nie wieder zurück. Bei manchen Erlebnissen reist das Blut schneller als Sonne und Erde, und das Herz eilt beiden im Altwerden voraus.

Oftmals habe ich später dasselbe wieder erlebt, aber nie so auffallend wie bei dieser Blitzfahrt, bei der ich binnen einer knappen Woche zweimal Europa durchquerte. Trotz aller persönlichen Enttäuschung bewunderte ich aber die Kraft unserer heutigen Zeit, die es einem einfachen Menschen ermöglicht, solche Reisestrecken in Kürze zurückzulegen.

Wenn man bedenkt, welche Zeitdauer früher ein Reisewagen zu Goethes oder Luthers Zeit nahm, so war diese meine Europafahrt, äußerlich angesehen, nur ein Reisespiel. Innerlich waren aber die Entfernungen mit solcher Schnelle fast unmöglich zu bewältigen. Ich war noch wochenlang nach dieser Blitzfahrt wie betäubt und fürchtete noch nachträglich an einem Gehirnfieber von den Folgen der äußeren und inneren Erschütterungen zu erkranken. —

Jetzt kamen bittere Tage. Ich erinnere, daß wir uns einmal nur aus etwas Stärkemehl, mit heißem Wasser aufgebrüht, und mit dem Zusatz von ein paar Krumen Kakao, die wir als Rest in einer Kakaobüchse fanden, zum Mittagessen einen braunen Brei in einem kleinen Töpfchen über einer Spiritusflamme anrührten. Wir versuchten dabei zu lachen und zu singen, trotzdem unser Blut ganz dünn vor Lebensangst war. Und als die Spiritusflamme ausging, weil der Spiritus nicht mehr gereicht hatte, konnte dieser braune Kleister, der nicht fertig gekocht war, nicht einmal unsere Nahrung werden. Es wurde uns übel, als wir davon versuchen wollten, und wir hungerten lächelnd weiter, immer hoffend, daß die Türe aufgehen müsse. Wenn wir auch nicht einen lieben Gott erhoffen konnten, der uns persönlich Hilfe brächte, und wenn auch kein Abgesandter des deutschen Volkes zu erwarten war, so glaubten wir doch, es müsse irgend ein lieber Mensch hereinkommen, und hofften dieses gern.

In dieser Not kam aber auch wirklich ein unerwarteter Helfer. Wir bekamen ein Telegramm aus Havre, daß mein Freund, der junge Philosoph, der eben als Schiffsarzt aus Japan zurückkam, nachdem er vorher in Brasilien gewesen war, in einer Stunde in Paris ankommen würde.

Er kam und half dann, ohne sich zu verwundern. Und als er am nächsten Tag wieder abreiste, weil sein Schiff von Havre weiterfuhr, hatten wir wenigstens für einige Zeit wieder das Hungergespenst verschwinden machen können.

Einige Wochen später, im Herbst 1896, sagte uns eines Tages ein Telegramm, daß mein Vater gestorben sei, und nun reiste ich zum erstenmal mit meiner Frau nach Deutschland.

Ich muß aber noch berichten, daß in jenen schweren pariser Sorgentagen sich in mir immer mehr und mehr der Gedanke entwickelte, daß ich mich mit meiner jungen Frau vor der so anstrengenden und kostspieligen und, wie mir immer schien, unnützen europäischen Kultur zurückziehen wollte, um irgendwo als Landmann oder Gärtner, in der Natur, in einer Landschaft, meinen Unterhalt zu suchen. Und ich machte jetzt oft mit dem amerikanischen Ehepaar Pläne dieser Art.

Die beiden Amerikaner hatten öfters im Sommer in weltentlegenen Bretagnedörfern gewohnt, hatten dort manches Mal ein kleines leeres Fischerhäuschen gemietet und waren genügsam mit wenigem Hausrat ausgekommen. Sie fanden, daß Fischnahrung und Brot zum Leben vollkommen ausreichend wären. Man könne vielleicht nebenbei Geflügelzucht als ständige Erwerbsquelle anlegen und wäre dann nicht angewiesen auf Kunsthändler und Verleger und auf Bitten um Unterstützung bei Freunden und Verwandten.

Der Gedanke leuchtete mir ein. Es schien mir, als müßte es nicht so unmöglich sein auf diese Weise, wenn auch bescheiden, so doch endlich sorgenfreier zu leben. Ich wollte den Aufenthalt am Meer und die Einsamkeit in großer Landschaft, auch bei anspruchsloser Nahrung, mit Freuden wählen, wenn ich dadurch sorgenfrei werden würde und künstlerisch unabhängig arbeiten könnte.

Wir sagten uns, wir könnten mit Büchern und Zeitschriften, die wir uns kommen lassen wollten, in einer Fischerhütte geistig an der Welt beteiligt bleiben und würden körperlich frisch bleiben durch einige Landarbeit, und würden dann freie stolze Künstler sein können, die nicht mehr von Gnaden leben müßten und dann auch nicht unter Demütigung der geldverdienenden Kreise zu leiden hätten.

Früher, wie ich noch nicht meine Lebensgefährtin gefunden, hatte ich nur vorübergehend die Landeinsamkeit vertragen. Herzunzufriedenheit und Blutunruhe hatten mich immer wieder zum Suchen nach Menschen in die Städte und unter Menschen zurückgetrieben. Jetzt aber, da mein Herz und mein Blut zufrieden waren, fehlte mir nichts als Ruhe vor äußeren Sorgen, damit ich meine volle Kraft der Dichtung widmen konnte; denn die Heimatsehnsucht glaubte ich überall überwinden zu können.

Nach langen Besprechungen schlug ich den Amerikanern vor, nicht nach der rauhen Bretagne zu gehen, sondern in ein wärmeres Klima, wo die Früchte der Erde uns unter leichterer Landarbeit den Lebensunterhalt geben würden, und wo wir dann mehr Zeit für die künstlerischen Arbeiten behalten würden.

Wir dachten an den Genfersee, wo es üppige Gärten gibt und Weinland. Aber die Erdarbeit schien dort zu hart für uns Künstler zu sein und zu viel Zeit zu beanspruchen. Dann dachten wir an die Riviera, an Korsika, Spanien oder Sizilien. Und der Amerikaner schlug amerikanische Südstaaten vor, und seine Frau, Theodosia, die in der Nähe von San Franzisko geboren war, schlug Kalifornien vor als das leichteste Arbeitsland und als bestes Land für Gartenfrüchte.

Wir wollten uns nun eine kleine Reisesumme verschaffen, dann Land in Pacht nehmen und fleißig sein. Sowohl wir zwei Männer als die beiden Frauen dachten mit Garten-, Haus- und Künstlerarbeit in einer schönen Landschaft, wo Wald, Wasser und gutes Klima wären, unsere Lebenstage ruhig verbringen zu können, fern von überreizter Kultur, fern von der die Kunstarbeit so störenden Geschäftsgier unserer Zeit.

Der Amerikaner hatte in Neuyork zwei kleine Häuser, von deren Rente er bisher knapp leben konnte, so daß er wenigstens nicht mit der äußersten Not zu kämpfen hatte. Er wollte nun versuchen, diese Häuser verkaufen zu lassen. Sein Großvater, mütterlicherseits, hatte die Tiffany Glasfabrik in Neuyork gegründet und war ein reicher Mann, und von ihm erwartete James später ein größeres Erbe.

Ich selbst war hauptsächlich dieser Landankaufspläne wegen, um zu ihrer Ausführung eine größere Geldsumme von meinen russischen Verwandten zu erhalten, nach Petersburg gereist. Wir hatten dann nach dem Fehlschlagen dieser Reise von neuem wochenlang darüber nachgedacht, wie wir die Anlagesumme für einen dauernden Landaufenthalt erlangen sollten, als wir plötzlich die Nachricht vom Tode meines Vaters erhielten.

So sehr mich die Todesnachricht erschütterte, so war doch ein Aufatmen in mir, das ich damals aber nicht gleich bewußt fühlen wollte. Denn ich fand es häßlich und gemein, daß der Tod meines, mir so lieben alten Vaters mich in meiner bedrängten Lage aufatmen machen sollte.

Heute nach so langer Zeit weiß ich es aber, wenn ich auch als Sohn vom Verlust tief getroffen wurde, als Künstler fühlte ich, daß das Schicksal auf irgendeine Weise mir zu meinem weiteren Weg hatte verhelfen müssen. Aber es schaudert mich doch heute noch, daß mein Schicksal mir, der ich so sehr an meinem Vater gehangen hatte, nur durch seinen Tod helfen konnte.

Ich frage das deutsche Volk, dem ich angehöre, in dessen Land ich geboren bin, und in dessen Sprache ich meine Bücher schreibe: ist es nicht erschütternd, daß ein Künstler nicht auf gütigem Wege, nicht auf staatlichem und auf dem Gemeindewege, die Erleichterung seines Lebensunterhaltes erhalten kann. In einer Nation, wo so viele tausend Beamte das Brot des Staates essen und auf Kosten der Nation leben können, weil sie ihre Arbeit im Dienste der Nation tun, sollen auch die Künstler leben können.

Die Künstler, die ihrer Nation dienen, werden nur manches Mal mit Ehren und Geschenken belohnt, wenn sie alt geworden sind. Aber wie viele junge Künstler, die in den nächsten hundert Jahren unter den Ehrennamen des deutschen Volkes genannt werden können, wie viele werden, im Augenblick während ich dieses niederschreibe, in ähnlicher Weise wie ich es vor fünfzehn Jahren erlebte, aufatmen müssen, wenn der Vater oder die Mutter stirbt. Und sie müssen es als schändlich fühlen, daß sie erst durch den Tod der liebsten Angehörigen, erst durch eine Erbschaft, in die Lage versetzt werden, weiter leben zu können.

Im wilden Hohn, der mich damals über solche Tragik befiel, nannte ich das Erben Menschenfresserei. Denn als ich mein Erbe erhielt, war es mir grauenhaft zu denken, daß ich mich von der Kraft meines toten Vaters nähren mußte, und daß der Dichterberuf mich unter den jetzigen Gesellschaftsgesetzen nicht ernähren konnte. Der Vaterlandsgeist läßt doch seine Kriegsoffiziere nicht hungern, wie darf er die Friedensoffiziere, die Künstler, vernachlässigen und übersehen. Dienen sie ihm nicht erst recht, indem sie dem Geist und der Schönheit dienen, das heißt dem innersten Leben, dem innersten Vaterland, dem Herzen der Nation dienen?

Solange diese Einsicht einem Volk fehlt, ist eine Nation noch unentwickelt und soll sich nichts auf ihre Kulturhöhe einbilden.

In den Tagen, während ich dieses schreibe, werden die hundertjährigen Geburtsfeste zweier deutscher toter Dichter gefeiert. Der eine ist Otto Ludwig, der andere Friedrich Hebbel, und beide lebten in bitterster Not und Verzweiflung.

Wen feierten wir Deutsche, als jene Dichter hungerten? —


Als ich mit meiner Frau zum erstenmal nach Deutschland, nach Würzburg kam, im September 1896, fragte ich mich, ob ich nicht jetzt für immer in der Heimat bleiben sollte. Aber wenn auch mein Erbe zum Lebensunterhalt für eine Person ausgereicht hätte, für zwei reichten die Zinsen nicht.

Und außerdem, so lieb ich meine Vaterstadt auch immer gehabt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, jetzt schon in meinen jungen Jahren mich in der Provinz niederzulassen, in einer Stadt, wo kein neuzeitliches Kunstleben gepflegt wurde.

Mit Ausnahme von der Musik, die es in Würzburg gut hatte, wurden damals Malerei und Dichtung ernstester Art in den gebildeten Kreisen ziemlich nebensächlich behandelt. Vom neuzeitlichen Geist Ibsens, Gerhart Hauptmanns, Björnsons, Strindbergs war in jenen Jahren in meiner Vaterstadt so gut wie nichts zu spüren. Es gab dort keine jungen Schriftsteller, keine strebenden Literaturkreise, keine sezessionistischen Maler wie in München und Berlin.

Die deutschen Provinzstädte lebten hauptsächlich von Viktor v. Scheffels altdeutscher Romantik. Sie glaubten schon Äußerstes zu tun, wenn sie im Theater ein Sudermannsches Stück aufführten. Auch muß man bedenken, daß Zeitschriften wie die „Jugend“ und der „Simplizissimus“ im Jahre 1896, von dem ich hier spreche, eben erst gegründet wurden. Ihr Geist, der die breiteren Volksmassen in künstlerischer Hinsicht, später auch in der Provinz, auf neuzeitliche Literatur, Zeichner und Maler aufmerksam machte und ihnen etwas neuzeitliches Stilgefühl beibrachte, war noch nicht tätig.

Die Provinzstädte Deutschlands, auch die, welche Universitätsstädte waren, lebten damals von den Klassikern, und ihre Kenntnisnahme von moderner Literatur hörte bei Paul Heyse auf. Es herrschte noch kein geistigkünstlerischer Gegenwartspulsschlag im Leben der kleinen Universitätsstädte.

Es hatten sich auch noch keine literarischen Gesellschaften in den akademischen Kreisen gebildet. Und deshalb mußten die jungen Künstler sich in den großen Städten in Paris, München, Berlin zusammenhalten, um im neuen Geist zusammen zu stehen gegen die bürgerlichen Vorurteile, die neben dem sogenannten Klassikergeist keine neuzeitlichen Lebensschönheiten aufkommen lassen wollten.

Die jüngsten Künstler jener Zeit waren verraten von ihrer eigenen Nation. In den Schulen und in den meisten Zeitungen, in allen Bürgerkreisen, selbst beim Adel, der sonst immer zu den Künstlern gehalten hatte, war man aufgebracht gegen den Wirklichkeitssinn, der sich in der Kunst der neunziger Jahre ausdrückte, der die Stirn hatte, auch das Häßliche lebensbedeutend zu finden, der auch den Armenstand, den Arbeiterstand künstlerisch verehrungswürdig fand und ihn mit Liebe in Bild und Wort schilderte.

Der zuerst unter den Künstlern lautgewordene, alles umarmende neue Weltgeist, der die Arbeit und den Arbeiter nicht mehr verächtlich, nicht mehr ekelerregend, nicht mehr abstoßend finden konnte, verblüffte alle sogenannten gebildeten Kreise jener Tage. Sie spotteten, lachten, schimpften auf die jungen, von neuer Weltinbrunst aufgeklärten Künstlerherzen, die stürmisch und mit Recht forderten, daß auch der verachtete Lebensstand, der der Arbeiter und der Armen, der Kunstwürdigung teilhaftig werden sollte. Die Künstler behaupteten, daß eine Schönheit in der Arbeit liege, eine ernste Schönheit in jedem Arbeiter, und daß Schönheit auch bei den Kranken, Armen und Elenden zu finden sei.

Die Jungen wollten das Volk auf diese inneren Schönheiten des Lebens aufmerksam machen. Man wollte ernstlich zeigen, daß hinter äußerer Häßlichkeit sich tiefe Ergriffenheiten verbergen, die künstlerische Erschütterungen hervorrufen können.

Die jungen Künstler wollten das Innenleben der Nation bereichern. Aber die Bürgerkreise, die im Geldverdienen und im Tagesgetriebe der Annahme dieser neuen Kunstideale noch nicht gewachsen waren, wollten sich nicht von ihren alten Schönheitsgrundsätzen, die sie für unerschütterlich hielten, trennen, wollten sich nicht innerlich vertiefen und sich nicht von schmerzlichen Schönheiten der Welt bereichern lassen.

Und doch hatten dieselben Bürgerkreise ihr Leben lang immer ein schmerzliches Ideal, Christus, den Gekreuzigten, vor Augen gehabt. Aber vielleicht gerade deswegen, weil ihnen von Kindheit an gepredigt wurde, daß das Leben ein Jammertal sei, wollten jene Kreise bei den Künstlern eine Erlösung aus dem Jammertal finden.

Und als die Künstler auf die Leiden der Armen und der Arbeiter und auf die Schönheit der Arbeitskraft selbst, wie Uhde, Meunier, Zola und Gerhart Hauptmann es taten, aufmerksam machen wollten, da rief der ganze Bürgerstand entrüstet: „Wir haben keine Kunst und keine Künstler mehr! Die Jungen sind verrückt geworden. Sie wollen uns weismachen, daß Häßlichkeit schön sei. Wir aber wollen uns an der Schönheit erholen. Wir sehen genug Elend im Leben, wir wollen Erlösung vom Elend bei den Künstlern finden.“

Und jene Entrüsteten bedachten nicht, daß die Schönheit und die Festlichkeit des Lebens überall im Weltall zu Hause ist, in den Leiden und in den Freuden, im Schönen und im Häßlichen, beim König und beim Arbeiter und beim Bettler.

Jene Leute jener Jahre lebten das Leben nicht in dem Sinne, wie es gelebt sein soll, mit großem Weltgeistumarmen. Sie hatten sich nur ein Mitleid angezüchtet, womit sie allen Elenden künstlich begegneten. Und dieses Mitleid war ihnen nur Pflicht geworden. Ihr Mitleid war ihnen nicht Natur und Natürlichkeit und nicht Weltallfestlichkeit.

Die Bürger jener Tage ließen nur das halbe Leben gelten. Nur der lichten Seite konnten sie Festlichkeit abgewinnen. Sie sehnten sich nur, vom Leben auszuruhen, wenn sie Kunst genossen. Aber der Ernstseite des Lebens, der Arbeit im Leben, der Arbeitsheiligkeit und der Arbeitsfestlichkeit konnten die Massen der Gebildeten damals keinen künstlerischen Reiz abgewinnen.

Sie haßten das Müssen und die Notwendigkeit der Arbeit. Sie sprangen nicht lebensfroh zu bei der Arbeit. Arbeit war ihnen noch erniedrigend und war ihnen nicht voll Weihe und Lust und war ihnen nicht etwas Selbstverständliches, Natürliches. Sie wußten nicht, wie es dem ganzen Weltall natürlich ist, zu arbeiten.

Die Menschen von damals hatten sich ausgedacht, daß die Arbeit eigentlich ein Fluch wäre, eine Plage, eine Qual, eine Demütigung. Und sie hatten sich furchtbar geschädigt durch diese falsche Auffassung dieses wichtigen Lebenspulses.

Arbeitet nicht die Sonne und dreht sie sich nicht immer und kommt und geht ununterbrochen? Arbeiten nicht alle Sterne immer, die da kreisen und seit Millionen Jahren ohne auszuruhen arbeiten? Arbeiten nicht alle Pflanzen, die sich aufbauen und blühen und sich nähren müssen? Arbeiten nicht die Bäume, die da Früchte hervorbringen, vom Frühling bis zum Herbst? Arbeiten nicht alle Tiere? Arbeiten nicht die Meere, die ihre Strömungen haben, die Flüsse, die unaufhaltsam vorwärts treiben?

Arbeitet nicht der Menschenleib stündlich mit seinem Herzen, mit seinen Lungen, mit seinem Blut? Und warum wollt ihr Menschen eure Hände lahm liegen lassen und eure Füße nicht rühren, eure Gehirne nicht anstrengen, euer Herz nicht fühlen lassen, da es dem ganzen menschlichen Körper wohl tut, wenn er arbeitet.

Jeder Mensch soll natürlich nur nach seiner Veranlagung arbeiten. Nur dann wird er der Menschheit nützlich sein können, nur dann, wenn er das tut, wozu er sich befähigt fühlt. Nichts soll er versuchen, was außerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten liegt.

Aber im Kreis seiner Fähigkeiten wird er die Arbeit immer festlich und glücklichmachend empfinden müssen. Das Märchen, das die Arbeit als einen Fluch ansieht, das ist ein irreführendes Märchen. Denn ein festliches Dasein ohne Arbeit gibt es nicht im Weltall.

Nur ein Mensch, der das Leben nie vollständig ergründet hat, nur die Menschheit der früheren Jahrhunderte, die nicht wie wir bis zur Erkenntnis der Festlichkeit des arbeitenden Daseins, der Festlichkeit des arbeitenden Weltallebens durchgedrungen war, konnte sich nach Himmeln ohne Arbeit sehnen. Himmel ewiger Ruhe sind Todeshimmel.

Hat es uns jemals geschmerzt, daß wir atmen dürfen? Wenn wir gesund sind, wollen dann nicht Glieder, Blut und Geist tätig sein? Daß kranken Menschen Arbeit schwer ankommen mag, ist selbstverständlich. Ihnen kommt vielleicht auch das Atmen schwer an und das Leben überhaupt. Den Gesunden aber wird immer das Leben ein Weltfest sein, ebenso wird ihnen die Arbeit ein Fest sein, die ein Teil des Lebensfestes ist.

In meiner Jugend war in den reichen Kreisen die Ansicht maßgebend, daß Nichtstun höchste Lebensweisheit und Lebensschönheit sei. Niemand hatte zwar jemals versucht, ewiges Nichtstun zu erleben, aber alle träumten von diesem unmöglichen Ideal, das ein falsches und blödes Ideal war. Denn im fortgesetzten Nichtstun, das fühlt jeder bald, siechen Körper und Geist dahin, und der Mensch verdirbt und verfault und wird Unrat.

Auch die Künstler wollte man damals zwingen, die Schönheit des Nichtstuns in den Kunstwerken zu feiern. Das heißt, man verlangte, daß sie eine ganz platte unmögliche Schönheitsharmonie in Farben und Linien ausklügeln sollten und Ideallandschaften, Idealporträts schaffen sollten, künstliche, unnatürlich ausgedachte Bilder voll verlogener Schönheiten, die ähnlich den wehleidigen Seelenschwärmereien waren, in denen sich in Versen die Dichter einer süßlich romantischen Zeit ergingen.

Bei diesen Kunstwerken künstlichster und ganz unkünstlerischer Natur wollten dann die vom Nichtstun schwärmenden Bürgerherzen vom Alltag, wie sie sagten, bei der Kunst ausruhen.

Daß es aber für den gesunden Menschen keinen Alltag gibt, daß der vernünftige Mensch von der Festlichkeit der Arbeit spricht wie von der Festlichkeit des Genießens, dieses war erst nur den Künstlern jener neunziger Jahre bewußt geworden. Die Bürger litten noch unter dem eingeredeten Fluch der Arbeit.

Es war damals nicht daran zu denken, daß Künstler und Volk, die sich in ihren Forderungen nicht verstanden, sich gegenseitig achten könnten. Der Bürger verachtete den Künstler als nicht ernst zu nehmend, weil der Künstler nicht vom Fluch der Arbeit jammerte, weil er die Arbeit verehrte und seine eigene Arbeit festlich nahm.

Der Künstler wieder verachtete den Bürger, weil dieser von den Kunstwerken nur künstliche, ausgedachte Schönheit ersehnte und nicht die tiefe aufrichtige Weltfestlichkeit nachfühlen wollte, die auch auf der Ernstseite des Lebens, auch bei den Elenden, bei den Armen, bei den Häßlichen und bei den in Ruß und Qualm Arbeitenden, das Menschenherz bereichert und künstlerisch erschüttert.

Innere Schönheit der Lebensernstseite wiedergeben zu können, das war die Errungenschaft der Künstler der neunziger Jahre, die sich verächtlich von althergebrachter Schönheit fort der Wiedergabe neuer Schönheitsoffenbarungen zugewendet hatten.


Ich konnte also nicht daran denken, mich in meiner Vaterstadt niederzulassen, weil ich noch bei meiner Jugend des künstlerischen Verkehrs und der Anregung bedurfte und eines Gedankenaustausches, den ich dort nicht gefunden hätte. Und da sich weder die Stadt- und Gemeindeverwaltung, noch der Staat damals um junge Dichter und Künstler kümmerten, konnte ich auch nicht in Deutschland und nicht in der Heimat auf Unterstützung rechnen und mußte weiter den Plänen nachhängen, einen Landaufenthalt zu suchen in einem günstigen, möglichst warmen Klima, wo die Gartenarbeit für mich nicht zu hart sein würde, und wo ich von meinem Erbe Erde kaufen wollte.

Ich reiste deshalb vierzehn Tage nach dem Tode meines Vaters mit meiner Frau nach Sizilien. Wir wohnten einige Wochen in dem berühmten schönen Felsenstädtchen Taormina, das der ganzen Welt durch das besterhaltenste griechische Theater bekannt ist.

Dort unter freiem Himmel in der Theaterruine saß ich grübelnd und sah auf die Rauchsäulen des nahen Ätna, aber ich fühlte mich nicht zufrieden. Der alte Kulturboden Siziliens, auf welchem einem überall die Spuren griechischer und normannischer Menschengeschlechter begegneten, gab der Gegend rundum etwas Greisenhaftes, trotz aller südlicher Kraft. Alle Wege schienen dort ausgefahren zu sein. Aus den Gesichtszügen des Menschenschlages, dem ich da begegnete, sprachen einem verwischte afrikanische, europäische, arabische Rassen an.

Ich sehnte mich nach Paris zurück.

Auch manche schöne Hauskatze ägyptischer Rasse, die auf den Türschwellen und in den Gäßchen des Felsennestes Taormina im Sonnenschein still und klug saß und mich vorübergehen ließ, ohne sich zu rühren, ohne sich zu ducken, erinnerte mich an das pariser Leben. Diese Haustiere kauerten wie eingewachsen an den sizilianischen Türschwellen, als wollten sie sagen: hier hat kein Fremder das Recht, sich niederzulassen. Hier wirst du immer ein Fremder bleiben, und nur als Gast darfst du kommen und gehen.

Es schien mir auch ganz unmöglich, daß ich hier auf dem sizilianischen Kulturboden, der seit Jahrtausenden unter vielen Menschengeschlechtern aufgeteilt war, einen Fleck für mich finden könnte, und daß ich als Fremder die Sitte des eingeborenen Bauers nachahmen könnte. Hier war kein künstlerischer Unternehmungsgeist mehr in der Luft. Nur wenn man hätte Fabriken gründen wollen und Großindustrie, wäre es vielleicht möglich gewesen, fortzukommen in diesem Lande. Aber auch das wäre sicher sehr schwer gewesen.

Als zu Ende Oktober an jedem Morgen die Meernebel weiß vor den Gasthausfenstern standen und mich an den grauen Norden erinnerten, verstärkte sich in mir das starke Heimweh nach dem nördlicheren Europa und ebenso geschah das durch ein lebendes Bild, das ich immer vor Augen hatte.

Wir wohnten in Taormina in einem sehr hübschen kleinen Gasthof an der Hauptstraße, der viel von Künstlern besucht wurde, und dessen Speisesaal bemalt war mit den Einfällen durchreisender junger Maler. Von diesem Saal aus, dessen zwei Fenster auf die Straße sahen, bemerkten meine Frau und ich täglich gegenüber auf dem Altan des ersten Stockwerks eines einfachen Hauses eine neunzigjährige graue Alte. Die saß dort, solange tags die Sonne schien, und hielt eine Kunkel in der Hand und drehte vom Flachs zwischen ihren gekrümmten Fingern immer fleißig den Faden.

Sie saß da schlicht und sah kaum von ihrer Arbeit auf. Um sie her auf dem Geländer der Altane trockneten Weintrauben. Täglich war die Sonne am Himmel über den Häusern der Gasse, und täglich saß unter der Sonne am Altan uns gegenüber die arbeitende Alte, die nie von der Arbeit aufsah. Wie die Altane fest an der Hauswand klebte, so lebte die alte graue Frau in diesem Hause und an ihre Arbeit angeklebt.

Jene Arbeiterin schickte mich durch ihr ununterbrochenes, schlichtes und bescheidenes ernstes Tun schweigend aus Sizilien fort. Ich sehnte mich bei ihrem Anblick zurück nach dem stillen Atelier in Paris, dahinter der unsichtbare Garten rauschte, und wo ich im Sommer fleißig wie die Neunzigjährige gearbeitet hatte, und ich sehnte mich auch nach dem künstlerischen und fleißigen Paris, dessen große Emsigkeit mir immer eine innerliche Freude gewesen.

Mir fehlte hier in der Meer- und Felsenlandschaft das Gesumm des großen Menschenbienenstockes der Weltstadt von dem Augenblick an, da ich erkannt hatte, daß ich hier nie in dem überlieferungsreichen Land den Eingeborenen ähnlich werden könnte, und nie unter ihnen würde als Fischer oder Landmann leben können. Nach dieser Erkenntnis trieb es mich von Sizilien fort, vorläufig nach Paris zurück, wo ich vorher so gut gearbeitet hatte.

So fuhren wir bald nach Neapel und nahmen ein Schiff nach Marseille und waren zu Anfang November wieder in Paris.

Der Amerikaner und die Amerikanerin waren erstaunt, daß wir schon zurückkamen, denn sie hatten nach Sizilien nachkommen wollen. Aber ich erklärte ihnen traurig, daß wir den Plan, uns irgendwo in einem Lande mit Landarbeit beschäftigen zu wollen, aufgeben müßten. Denn ich hätte eingesehen, daß man nirgends der Bauer eines Landes werden könnte, nur vielleicht in dem Lande, in dem man geboren war.

Und ich sagte: „Wir müssen uns ins Leben finden. Wenn die europäische Kultur uns auch quält, wir müssen uns einordnen in die europäische Art und Weise.“

Da sich mein Gehirn auf der Sizilienreise an vielen neuen Landschaftsbildern gesättigt hatte, waren mir die Wünsche nach Landeinsamkeit vorläufig zurückgedrängt worden, was aber die beiden Amerikaner gar nicht begreifen wollten.

Sie hatten ihr Atelier aufgegeben, und James verhandelte bereits über seinen Häuserverkauf in Neuyork. Sie ließen mir beide deutlich durch Ausdruck und Worte verstehen, daß sie glaubten, das väterliche Erbe, das ich erhalten, habe mich bequem gemacht. Und ich fühlte, daß die Freunde mich nicht mehr als Freund achten könnten, wenn ich nicht festhielte an dem in den armen Tagen gefaßten Entschluß, einer falschen Kultur den Rücken zu kehren und von der Hände Arbeit auf dem Lande zu leben und so, bei Gartenarbeit und Geflügelzucht, ein von Verlegern und Zeitschriften unabhängig arbeitender Dichter zu werden.

Sie hatten beide als Amerikaner keine Ahnung vom echten Bauernstand, der aus den Unergründlichkeiten des Heimatbodens aufgewachsen und mit den Eigenarten des Erdstrichs, den er Jahrhunderte bearbeitete, dem Schoß seiner Heimaterde angehört, und dessen Lebensart nicht von jedem beliebigen Fremden nachgeahmt werden kann.

So wie die eingestammten Pflanzenarten, Steinarten, Tierarten eines Landstriches nicht beliebig verpflanzt werden können, so stellt der Bauer auf dem angestammten Boden eine erdgeheiligte Menschenart dar. Der Fremde, der sich neben dem Bauer eines Landteiles niederlassen will und von einer anderen Bodenart geboren wurde, er wird ewig dem Bauer des Landes fremd bleiben. Und es müssen erst Jahrhunderte vergehen, bis Kinder und Kindeskinder, vielleicht durch vielfache Blutmischung mit den Eingeborenen, ihre fremde Art verloren haben und von dem betreffenden Erdstrich als Zugehörige anerkannt werden können. Da hilft kein Wille und kein Geist, die Anpassung wird nie künstlich erreicht. Aber dieses begriffen die Amerikaner nicht.

Als Künstler brauchte ich die Heimat und die Zugehörigkeit zu meinem angestammten Land. Das hatte mir die alte Kultur in Sizilien eingegeben, sowohl die sizilianischen Katzen auf den Türschwellen, als die alte arbeitende Frau auf der Altane in Taormina.

Das sagten mir auch jetzt in Paris die uralten Kleingewerbe, die auf hundertjährige Überlieferungen zurückschauten, das sagten mir die steinernen Königinnen am Teich des Luxemburgparkes, das sagte mir das uralte Schloß, der Louvre, und die Schlösser der pariser Umgebung, aus deren ehrwürdigen Steinen mich die Geschichte des französischen Volkes und sein Alter und seine Arbeitstätigkeit immer als den Ausländer und den Fremden ansahen, und mir begreiflich machten, daß ich als Deutscher nach Deutschland gehörte.

Auch wenn ich meine blonde Frau betrachtete, redeten ihr Haar und ihre helle Haut von germanischen Ländern und germanischer Heimat. Ihr Haar war goldgelb wie das Tannenharz und ihr Auge silbrig grün wie leichte Birkenblätter und ihre Haut weiß rosig wie Birkenrinde, beschienen vom Sonnenaufgang.

Es war nichts Romanisches in ihrem Wesen und an ihrem Aussehen, und an ihrer Seite blieb das große Paris für mich immer wie ein großes Gasthaus, in dem ich nur auf der Durchreise lebte. Denn germanische Art verbindet sich in nichts mit der romanischen Art des französischen Volkes. Auch das war gut für mich zu erfahren. So konnte ich nie ernstlich daran denken, nur zu versuchen, in Paris festen Fuß zu fassen und vom ausländischen Wesen beeinflußt zu werden.

Aber meine Jugend spielte mir doch noch manchen Streich. Wäre damals das Vaterland dem heranwachsenden Künstler ein wenig entgegenkommend gewesen, so hätte ich nicht in Jugendunerfahrenheit und Lebensangst noch große, umständliche, überseeische Umwege machen müssen, bis ich endlich in der Heimat seßhaft wurde. —


In jenem Winter 1896/97, als ich mit meiner Frau am Boulevard Montparnasse wohnte, hatten wir mehrere Zimmer in einem Gasthof gemietet. Dabei war ein größerer Salon mit Klavier. Meine Frau studierte bei einem der besten pariser Musikprofessoren ein wenig Harmonielehre, da sie gern aus alten Musikwerken Melodien alter Völker, die sie sich abschrieb, sammelte und mir vorspielte, nachdem sie dieselben für Klavier umgesetzt hatte.

In unserem Salon sahen wir in jenem Winter des Abends viele Menschen bei uns, meistens ausländische Maler und Schriftsteller, Skandinavier, Polen, Russen und Russinnen, außer den beiden Amerikanern.

Wir hatten aber sonst unsere einfachen Lebensgewohnheiten nicht aufgegeben und aßen in der „Crémerie“ der Madame Charlotte in der Rue de la Grande Chaumiere, die unserem Hotel gegenüberlag. Dieses war damals die echteste Künstlerwirtschaft des Stadtviertels Montparnasse.

Dort waren auch Strindberg und Munch jeden Tag. Im Strindbergschen Drama „Rausch“ spielen ein paar Akte in jener urechten französischen Künstlergarküche, über deren Eingang geschrieben stand: „Rotschild ist der Eintritt verboten. Wer nicht Schulden machen kann, bleibe draußen“, und ähnliches.

Die Wände des kleinen Raumes hatten keine Tapeten nötig. Sie waren dicht behangen mit Hunderten von eingerahmten Ölbildern. Da fand sich aber selten eine Anfängerskizze darunter, denn die eigenartigsten Künstler, die besten von Paris, hatten hier gegessen und Schulden gemacht und in jungen Jahren die Madame Charlotte mit einem guten Ölbild bezahlt. Da waren selbst Bilder von van Gogh und Gauguin zu sehen.

Zur Frühstücksstunde zwischen elf und zwei Uhr war dort bei Madame Charlotte kaum ein Platz zu bekommen. Auf dem steinernen roten Backsteinboden standen an zwei Wänden zwei einfache lange ungedeckte Holztische, an denen ungefähr fünfundzwanzig Menschen Platz hatten. Im Hintergrunde des Raumes war neben dem flaschenreichen Kredenztisch die dunkle Küche. Durch die immer offene Küchentüre sah man die vom Herdfeuer beleuchtete starke Lothringerin „Madame Charlotte“, die selbst kochte und die ihren Sohn, einen späteren Kunsthändler, und die Magd mit den Tellern zu den Gästen schickte.

Beim Eintritt in die „Crémerie“ war jeder darüber erstaunt, welch buntgewürfelte Gesellschaft man dort antraf. Außer den Malern, die da in Joppen schlicht von der Atelierarbeit kamen und schnell ihr Essen schluckten und vorerst wenig Lust zum Sprechen hatten, waren da auch viele Malerinnen, Damen der besten Gesellschaftskreise.

Ich kannte dort zwei russische Fürstinnen aus Moskau, die ihre Freundinnen mitbrachten. Einige hatten ihre Wohnung im Champs-Elysée, und sie kamen öfters mittags aus dem vornehmsten Stadtviertel angefahren, den neuesten Pariser Frühlingshut auf dem Kopf. Manche jener vornehmen Ausländerinnen kam gegen den Willen ihrer Verwandten, wie man mir sagte. Sie aßen einen Teller der wässerigen Suppe und tranken ein Glas des sauersüßen Weines und wagten sich auch an eines der rätselhaften Fleischgerichte, die Madame Charlotte auftischte. Von denen man nie genau wußte, ob sie frisch oder alt, vom Pferdeschlächter, Hundeschlächter oder Katzenschlächter kamen.

Ein paarmal wurden wir krank nach diesem Essen. Aber wir gingen doch immer wieder zu Madame Charlotte, weil die anderen spiegelglänzenden Wirtschaften der Boulevards weder dem Geldbeutel noch dem Geist zusagten.

Der Zigarettenrauch, der gegen zwei Uhr in dem kleinen kellerartigen Raum schwebte, hing über manchem Kopf, der einige Jahre nachher aus diesem unbekannten Winkel hinter den zwei Tischen der Madame Charlotte hervor in die Öffentlichkeit trat und weltbekannt wurde.

Hier bei der kargen Mahlzeit wurden große Träume geträumt, künstlerische Pläne entworfen, und die Augen in manchem sorgengrauen Gesicht kämpften hier schweigend, in den Teller starrend und innerlich schwere Lebensfragen betrachtend.

Da war kein gitarrenklimperndes Künstlertum in diesen vier Wänden zu finden. Auch keine schwüle lüsterne pariser Luft drang hier ein. Es kamen keine der pariser Straßenmädchen zu Madame Charlotte herein. Auch kein Modell wagte dort zu essen, wo die jungen Meister und Meisterinnen aßen.

Nur ausländische Damen der Bürger- und Adelskreise, kluge Amerikanerinnen, lebhafte reizvolle Russinnen, Polinnen, Rumäninnen, Irländerinnen, Schweizerinnen und Österreicherinnen traf man an, von denen manche mutig die Künstlerarmut dem reichen weichen Familienleben vorgezogen hatten, und die nach Paris gekommen waren, um Welt und Kunst zu erleben. Teils malten sie in Museen, teils in eigenen Ateliers, und die jungen Maler begegneten ihnen mit Achtung und Höflichkeit.

Manche Künstlerehe wurde auch in dieser Garküche — die Rotschild nicht betreten durfte — in ihren ersten Anfängen geschlossen. Und wie der Feuerschein aus der dunklen Küche manchmal hellauf bis zur Decke schlug und uns alle wie ein Blitz beleuchtete, so schlug das Blut manchem heiß über dem Gehirn zusammen. Und es entstanden dort Tragödien, die später ihren erschütternden Abschluß an irgendeinem Weltende fanden. —


Als im Frühjahr 1897 meine Erbschaftsangelegenheiten so weit geordnet waren, daß ich mein Vermögen erhalten konnte, befiel mich von neuem der Schrecken vor der Zukunft. Von den Zinsen meines Erbteils konnte ich mit meiner Frau nicht leben, und wenn das Kapital aufgezehrt war, hätte ich wieder der Not entgegensehen müssen. Und dieses wollte ich doch verhindern.

Ich hörte wieder aufmerksamer dem immer noch pläneschmiedenden Amerikaner zu. Diesem hatte ich erklärt, daß ich seit jener Reise nach Petersburg und seit der Heimfahrt zur Beerdigung meines Vaters mir klar gemacht habe, daß ich niemals ohne meine Muttersprache, ohne Deutsch sprechen zu hören, mich auf die Dauer irgendwo fest niederlassen könnte. Es sei mir bewußt geworden, daß ich nicht lange mehr im Ausland leben könne und nicht daran denken könne, Deutschland für immer zu verlassen und mich in anderssprechenden Ländern anzukaufen.

Da schlug der Amerikaner mir vor, wir sollten alle nach den Südstaaten Nordamerikas ziehen, nach Neukarolina. In diesen Ländern gäbe es überall Deutsche, und es würde mir nicht schwer fallen, öfters Deutsch sprechen zu hören, wenn ich Sehnsucht danach hätte. Das Klima wäre dort äußerst günstig für leichte Gartenarbeit.

Aber mir wollte der Vorschlag immer noch nicht gefallen. James aber sagte, er würde jedenfalls nach den Südstaaten Amerikas reisen und sich dort mit seiner Frau niederlassen. Er wollte zugleich in London und Neuyork in Zeitschriften einen Aufsatz veröffentlichen, der den Vorschlag enthalten sollte, daß junge verheiratete Künstler aller Nationen sich auf einem Stück Land zusammenfinden sollten.

Sie sollten zusammen eine Arbeitsteilung vornehmen, wie es in Ordensniederlassungen früher der Brauch gewesen. Jedes Künstlerehepaar sollte ein kleines Arbeitshäuschen erhalten, und man sollte den halben Tag über mit den Händen arbeiten und die andere Hälfte des Tages künstlerisch tätig sein. Es sollten sich so Maler, Musiker und Dichter zusammenfinden. Des Abends sollten die, welche Lust nach Geselligkeit hatten, im Sommer auf einem Rasenplatz, im Winter in einer Halle zusammenkommen, Sportspiele spielen, Musik hören, Theateraufführungen und Vorträgen und Vorlesungen von Dichtungen beiwohnen.

Der Amerikaner wollte amerikanische Mäzene ausfindig machen, die Geld zum Bau von Bibliotheken und zum Bau nützlicher bescheidener Gebäulichkeiten, zum Bau von Werkstätten und so weiter, hergeben würden. Die Gedichtwerke sollten in der Vereinigung jener Künstler auf kleinen Handpressen selbst gesetzt und selbst gedruckt werden und unter den Mitgliedern zur Verteilung kommen. Bei Jagd, Fischerei und Gartenarbeit sollte der Körper Tätigkeit finden, und damit sollte zugleich auch von allen Künstlern für den gemeinsamen Unterhalt gesorgt werden.

Es war eine selbstverständliche Gewissenhaftigkeit vorausgesetzt, eine gewisse Lebensreife und die Bedingung, daß nur verheiratete Frauen und Männer, also nur Paare mit ihren Kindern, Aufnahme finden könnten. Wie das gemeinsame Leben einer solchen Künstlervereinigung sich dann entwickeln würde, das sollte man der Zukunft überlassen. Es sollte kein Zwang im Zuziehen und Fortziehen herrschen, und man wollte mit frohen Hoffnungen das beste für Kunst- und Körperleben erwarten.

Es war aber dabei nicht geplant, daß die Künstler alle zusammen in einem Dorf wohnen sollten. Man hoffte, daß die amerikanische Regierung ein größeres Stück unbewohntes Land zur Verfügung stellen würde, und daß einige Millionäre sich finden könnten, die das amerikanische Kunstleben heben wollten, indem sie dort den Künstlern Heimstätten schaffen würden.

Jeder Künstler sollte entfernt von den anderen wohnen, der eine an einem Fluß, der andere an einem Wald, der dritte auf einem Berg. Nur am gemeinsamen Versammlungsplatz sollte man sich sprechen und sich uneingeladen nie im Arbeiten stören.

Dieser Plan war von dem Amerikaner ausführlich ausgearbeitet worden. Und er veröffentlichte dann auch in Neuyork und London den Aufsatz über die amerikanische Künstlerkolonie, den ich ins Deutsche übersetzte und einer deutschen Monatsschrift schickte.

Viele Künstler suchten damals Neuland, und in jenen Jahren gründete sich die Worpsweder Vereinigung, die aber nur ein Zusammenwohnen in derselben Landschaft, aber nicht, um freie Lebensmöglichkeit zu erlangen, ein Zusammenarbeiten kennt.

Der Drang nach Vertiefung und Abwendung von der Geschäftshast und Geschäftsgier und vom geschmacklosen bürgerlichen Unverstand ging als tiefe Sehnsucht damals unter den jungen Künstlern Europas um. Und so war das eigentlich gar nicht so absonderlich, was der Amerikaner vorschlug.

Ich hatte nur den einen Einwand, der war, daß ich am liebsten die Künstlervereinigung auf deutschem Boden gesehen hätte. Aber ich verstand auch, daß übervölkerte Länder wie Deutschland für den Plan nicht geeignet waren, weil man nicht so leicht in unserem verkehrsreichen Lande eine verkehrsfreie Landschaft hätte finden können.

Ein zweiter Grund, der für Amerika sprach, war der, daß amerikanische Millionäre freigebiger sind und leichter ideale Bestrebungen unterstützen würden als deutsche reiche Leute.

Nur hatte ich von jeher einen Widerwillen gegen Nordamerika. Das große Land, in dem die Einwanderer in dem letzten Jahrhundert die eingeborenen Stämme zurückgedrängt oder ausgerottet hatten, und auf dem meine Phantasie keine anderen geschichtlichen Träume fand als die Knabenträume aus dem Buch „Lederstrumpf“, dieses Land, das nie große alte Baudenkmäler, nie große geschichtliche Ereignisse aus dem Mittelalter oder der frühesten Vergangenheit für uns aufzuweisen hatte, gab meiner Einbildungskraft, wenn ich mich dort hinversetzte, nur leere unbekannte Wälder und leere ungeschichtliche Grasflächen zu sehen, auf denen sich nichts abspielte als das Geschäftsleben der Eisenbahnzüge, die durchs Land hinliefen.

Als ich von dieser meiner Unlust gegen Nordamerika zu dem Amerikaner sprach, so hatte er einen neuen Vorschlag bereit. Er meinte, wir sollten nach Mexiko. Dort würden wir genug Stimmung finden. Dort gäbe es alte Baudenkmäler der Azteken, wunderbare Ruinen verlassener Indianerstädte in tiefen Wäldern. Auch sei das Klima, das halbtropische, der Gartenarbeit günstig. Man könnte dort leicht Gärten pachten und diese billig von Indianern bearbeiten lassen, wenn unsere Kräfte nicht ausreichen sollten.

Das alte Gold- und Abenteuerland Mexiko, mit der gewaltigen Vergangenheit des Aztekenreiches, fesselte meine Einbildungskraft und Aufmerksamkeit sofort. Und da ich mein geerbtes Geld in Paris leicht und schnell schwinden sah und in der Heimat mir kein Vaterhaus mehr stand, so sagte ich mir, ich müsse für einige Jahre meine Heimatsehnsucht schweigen lassen. Ich hatte früher in Schweden und in London gelebt und dort gedichtet, ich würde also auch in Amerika dichten können. Es würde mir sicher gut tun, meinte ich, einige Jahre ganz zurückgezogen vom alten Europa — das ich, wie ich glaubte, auswendig kannte —, in einem schönen tropischen Lande zu wohnen, mir durch einen Garten Verdienst zu verschaffen und zugleich neue Dichtungen zu schreiben.

Dann, wenn ich mal Heimweh bekäme, könnte ich mit leicht verdientem Gelde später zurückkehren oder auch wollte ich, wenn ich die Heimat vergessen könnte, in der Fremde bleiben.

Jedenfalls war jetzt, als der Frühling kam, meine Reiselust wieder wach, und es wurde beschlossen, daß wir nach Amerika, das heißt nach Mexiko reisen sollten.

Gedrängt von der unsicheren Zukunft, die mich in Europa erwartete, getrieben von den schlimmen Erfahrungen der Not, die ich erlebt hatte, redete ich mir trotz meiner unstillbaren Sehnsucht nach Deutschland, die mich im geheimen plagte, die Notwendigkeit ein, Europa verlassen zu müssen. Aber ich ertappte mich oft dabei, nachdem ich dem Amerikaner die Mithilfe bei der Gründung seiner Künstlervereinigung zugesagt hatte, daß ich an einer glücklichen Ausführung des Planes stark zweifelte.

Wir machten dann für diese Reise wochenlang Einkäufe in Paris, und die Hundertfrankenscheine flogen aus meinen Händen wie welke Blätter. Es war kein Leichtsinn, der mich zu diesen vielen Einkäufen hinriß. Es war die innerste Sehnsucht vom angeborenen Europa Andenken und künstlerische Werte mitzunehmen hinaus in die riesenhafte Fremde der Tropenwelt, vor der mir eigentlich im stillen bereits graute.

Mit großen Koffern und Kisten, die all mein Hab und Gut enthielten, reisten wir von Paris zu Anfang Mai 1897 ab. Wir nahmen noch einen Aufenthalt von vier Wochen in der Bretagne, wo wir auf Nachricht von den Amerikanern warteten, welche bereits nach Neuyork vorausgeeilt waren, um ihren Hausverkauf zu ordnen, und welche uns von dort telegraphieren sollten, sobald sie nach Mexiko abreisten.

Anfangs Juni erhielten wir das Telegramm und fuhren von der Bretagne nach Southampton, wo wir am nächsten Tag einen Dampfer des Norddeutschen Lloyd bestiegen, der uns nach Neuyork brachte. Dort wechselten wir das Schiff und fuhren mit einem kleineren Dampfer nach Vera-Cruz im Golf von Mexiko.

Ich habe diese Mexikoreise in ihren landschaftlichen Reiseeindrücken in meinem Roman „Raubmenschen“ so eingehend geschildert, daß ich mir die nochmalige Wiedergabe hier ersparen kann, um dem Leser, der den Roman bereits kennt, nicht mit Wiederholungen lästig fallen zu müssen.

Ich will nur in kurzen Zügen meine Gefühle wiedergeben, die mich nach einigen Monaten zur Rückkehr nach Europa antrieben.

Kaum hatte ich im Golf von Mexiko in Vera-Cruz nach einer langen Seereise das tropische Festland unter den Füßen, kaum sah ich die ersten Kokospalmen in einem Baumgang der kleinen Hafenstadt, da wurde mir mit einem Schlage klar: hier werde ich nie ein deutsches Lied schreiben.

Aber du hast doch in England, Dänemark und Schweden gedichtet, meinte der törichte Verstand, der beim Menschen immer das ursprüngliche Gefühl bevormunden will, und der dem Gefühl gegenüber doch immer der beschränktere ist.

Des Verstandes Vorsicht läßt den Menschen nie so tief und innig mit dem Weltallfest verschmelzen, wie es das Gefühl will. Und nur den stärksten Menschen gelingt es, sich gegen den Verstand im Gefühl zu behaupten, und dieses sind dann auch die künstlerischsten Menschen. Das unklare Gefühl greift in seiner Unbewußtheit immer sicherer zu und handelt immer ehrlicher und glücklicher, als der sich brüstende zielbewußte und von seiner Klarheit geblendete Verstand.

Sicher ist, daß das Gefühl bei jedem Künstler die Oberhand behalten muß, und daß der Künstler nur deshalb der schöpferischste unter den Menschen ist, weil er immer das zielbewußte dunkle Gefühl bei seinen Schöpfungen für sich handeln läßt und mit dem Verstand nicht dem Gefühl dreinredet.

Aber, dieses zu tun, kann nur ein Künstler wagen; nur er ist reiner Gefühlsheld. Nur ihm ist ein harmonisches Weltgefühl angeboren, mit dem er, ohne den Verstand zu fragen, festlichere Harmonie erzeugen kann, als sie jemals der größte ausklügelnde Verstand mit aller Berechnung zuwege bringen könnte. Nie sollte deshalb der Verstand nichtkünstlerischer Menschen an Kunstwerken des Künstlers Urteile üben dürfen. Jene Nichtkünstler können mit allem höchsten Verstand nie das harmonische Weltgefühl des Künstlers erfassen, das sein Werk geschaffen hat. Nur wenn jene vertrauend und treu glaubend ihr Gefühl einem Kunstwerk hinhalten, können sie allmählich, mit Selbstbeherrschung und Ausschaltung des unkünstlerischen Verstandes, den Hoheitsgefühlen künstlerischen Schöpfungen nahekommen.

So antwortete damals auch mein Gefühl in Mexiko meinem Verstand: er habe unrecht zu verlangen, daß ich in Mexiko dichten sollte, weil ich in England, Dänemark und Schweden gedichtet hätte.

„Du verstehst aber auch gar nichts,“ so sagte das Gefühl zu ihm. „Begreifst du denn gar nicht, daß Skandinavien und England germanische Länder sind, Deutschland ähnliche Länder. Tannen, Birken und Buchen wachsen dort. Die Landschaft und die Sprache jener Länder spricht germanische Laute, hat schlichte germanische Farben. Wolken, Winde und Erde sind sich ähnlich in jenen nordischen Ländern.

Aber in Mexiko riecht es nach Kaffee, Zucker und nach allerhand Drogen, nach Zimt und Pfeffer; die ganze Landschaft riecht wie ein Kaufmannsladen. Und dann, sieh die Formen der Palmen! Sieh diese kopfgroßen Kokosnüsse! Kannst du dir diese Nüsse vergoldet am Weihnachtsbaume vorstellen?

Ach — und Weihnachten! Die schönen lautlosen Schneenächte! Die langen dunklen Wintermorgen! Die ernste dunkelgrüne Tanne! Und die Tannenzapfen daran! Ich hasse diese schwindelnden Kokospalmen, die da gespreizt zum Himmel ragen, als wären sie Pfauenfächer, aufgespannt über dem Haupt eines Großmoguls.

Glaubst du denn, daß ich ohne Singvögel, ohne Rotkehlchen, ohne Finken und Stare, ohne Lerchen dichten kann! Du verstandloser Verstand, der mich hierher gelockt hat. Hier soll ich dichten! Hier, wo über den Dächern statt blinkende Schwalbenscharen ungeheuere Aasgeier die Gassen umjagen, Aasgeier, die ich nur aus den zoologischen Gärten kenne. Bin ich je in einen zoologischen Garten gegangen, um über Papageien, Jaguare und Alligatoren zu dichten?

Du hast mir immer von warmer Luft und schönen Blumen erzählt, die ich in den Tropen finden würde. Und ich bin dir gedankenlos gefolgt, denn du wolltest nicht darauf hören, wie ich in meinen Herzkammern schluchzend Tag und Nacht in Paris bettelte: geh nicht aus Europa fort! Es gibt ein Unglück, du verlierst nur dein Geld! Es kostet dich dein Vermögen, und du hast nichts davon.

Aber du natürlich, du warst der Verstand, der mich zurückwies, und nanntest mich gefühlsduselig und sagtest, man muß sich im Leben hart machen. Man muß nützlich sein können und muß nicht immer das Gefühl reden lassen. Nur dann kommt der ganze Mensch vorwärts, wenn der Verstand das Gefühl beaufsichtigt. So sagtest Du, Verstand, zu mir.

O, hätte ich nur den Mut gehabt und dir diese Reise verboten, wie ich immer dir gebiete, wenn du mir ins Dichten hineinreden willst. Das weißt du, beim Dichten durftest du mir noch nie hineinreden. Beim Leben ließ ich dich manches Mal mitsprechen. Eigentlich aber traute ich dir auch da niemals recht.

Du, Verstand, mußt es noch lernen, mehr schweigender Teilhaber in meinem Menschenleben zu sein. Sonst zerstörst du uns beide.“ —

Nach diesem Gespräch meines inneren Lebens öffnete ich meinen Mund und sagte zu meiner Frau:

„In diesem Lande bleibe ich nicht lang. Ich möchte schon am Ende der Woche abreisen. Am liebsten möchte ich gleich aufs Schiff zurückkehren. Denn dieses hier ist kein Land um deutsch zu dichten. Das sagt mir mein Gefühl.“

Es war mir, als hätte ich nun schon meine Pflicht getan, indem ich mit Amerika einen Versuch gemacht und gelandet war und Europa den Rücken gekehrt hatte, wie ich es dem Amerikaner versprochen. Und es kam mir schon nach den ersten hundert Schritten am Land vor, als wäre ich nun ledig aller heiligen Verstandespflichten und dürfte nun wieder meinem Gefühl gehorchen und gleich nach Europa umkehren.

Wir fuhren aber doch noch von Vera-Cruz nach der Hauptstadt Mexiko. Ich erwartete dort auf der Post Briefe mit der mexikanischen Adresse des amerikanischen Ehepaars zu finden. Aber es war keine Nachricht da, und ich wußte nicht, was ich nun im fremden Erdteil tun sollte.

Ich wendete mich an den deutschen Konsul und erkundigte mich über die Landesverhältnisse. Er meinte, das Innere des Landes sei sehr gefährlich für Fremde. Es lebe da spanisches Gesindel in Indianerdörfern, und wenn die bei einem etwas Geld vermuten, könne man bei jedem Spaziergang leicht aus dem Hinterhalt erschossen werden. In diesem ordnungslosen Lande krähe kein Hahn nach einem Toten. Den Mörder fände man niemals. Es gäbe zu viel Morde hier. Und die Polizei hätte zu viel zu tun, wenn sie alle Morde verfolgen wollte, die sich draußen in abgelegenen Gegenden ereigneten.

Würden wir aber trotzdem im Lande Gärten bebauen und unbehelligt leben wollen, so müßten wir wenigstens zusammen zehn Männer und zehn Frauen sein, und auch dann wäre es sehr gefährlich, wenn wir die Landessprache nicht sprächen und nicht der katholischen Religion angehörten. Denn die Spanier wären in Religionsfragen sehr streng und fanatisch.

Ich mußte für mich lachen, als ich diese Aufklärung auf dem Konsulat empfing. Der Gedanke war uns vor der Reise nicht gekommen, erst schriftlich anzufragen. Die ganze Reise war nun umsonst. Es war mir aber doch angenehm, daß der Amerikaner noch nicht angekommen war, denn nun würde ich schnell wieder abreisen können, dachte ich.

Ich hatte es auf einmal so eilig, nach Europa zurückzukehren, als erwarteten mich dort die hellsten Freuden. Meine Frau aber meinte, wir sollten doch erst ein wenig in Mexiko Ausflüge machen, das Land betrachten und die Ankunft der Amerikaner abwarten.

In den nächsten Tagen begegneten wir James und Theodosia auf der Straße. Sie waren schon lange da und hatten uns überall gesucht. James hatte sogar einen Empfehlungsbrief an den Präsidenten Porfirio Diaz mit sich. Als meine Frau ihnen sagte, wir dächten wieder an die Abreise, waren sie sehr erstaunt. Nachdem ich ihnen dann erzählt hatte, wie sehr der deutsche Konsul mir vom Bleiben abgeraten, fanden sie die Warnungen übertrieben. Ich aber blieb dabei und sagte:

„Lieber bin ich Steinklopfer, Straßenkehrer und Bettler an den Kirchentüren in Europa, als daß ich in einem Land bleibe, dessen Natur, dessen Palmen und Vulkane, dessen Agavenpflanzungen, Zuckerrohr und Kaffeebäume mir niemals ein deutsches Lied geben werden.“

Da verstanden sie, daß ich nicht bleiben würde und gingen geärgert von uns. Ich war aber erstaunt, daß sie sich ärgern konnten, wo ich doch als Künstler gefühlsehrlich zu Künstlern zu sprechen glaubte. Sie aber maßen mich mit ihrem Verstand, nannten mich launenhaft und begriffen mich nicht.

Sie hatten mir, ehe sie fortgingen, noch das Versprechen abgenommen, daß ich mich wenigstens erst einige Wochen überzeugen sollte, ob ich dem Lande keine Reize abgewinnen könnte. Ich sagte, das sei ganz unnütz. Aber ich versprach ihnen, mich einige Zeit umzusehen, trotzdem ich wußte, daß es keinen Sinn hatte. Denn ich hatte beim ersten Blick, bei der Landung in Vera-Cruz, begriffen, daß ich meinem Gefühl recht geben mußte, das sich beim Anblick der ersten Kokospalme aufgelehnt hatte, und das mir gesagt hatte, daß ich hier niemals ein deutsches Gedicht schreiben würde.

Ich kaufte mir dann ein Pferd und ritt jeden Tag in die Umgebung der Hauptstadt auf Meilen über die Hochebene hin, wo es nur ausgetrocknete Staubflächen, einige Maisfelder und nur vereinzelte Bäume gab.

Mexiko teilt sich klimatisch in drei Zonen: in das glühende Tropenland am Meer, wo Vera-Cruz liegt, in das Halbtropenland, das auf halber Höhe, auf dem Weg nach der Hauptstadt, sehr fruchtbar einen reichen Landstrich voll Plantagen und Haziendas bildet, und dann, als dritter Teil, in die Hochebene, auf welcher die Hauptstadt Mexiko liegt. Diese Ebene wirkt leer im Vergleich zu den beiden anderen tiefer gelegenen Zonen, sie hat zwar auch ein warmes, aber nicht so glühendes Klima und ist nicht so fruchtbar. Diese Hochebene ist staubig und trostlos öde, und ihr Landschaftsreiz besteht nur im gewaltigen Rundblick auf die Vulkanberge am Horizont.

Ich besuchte bald auch die reichen Gärten und Plantagen der Halbtropen, fand dort viele spanische Klöster umgewandelt in neuzeitliche Zuckerfabriken und durchwanderte die Pflanzungen, die üppigen Bananengärten, die Ananasgärten, die Kaffeegärten, die Zuckerrohrfelder und die Baumwollenfelder.

Aber immer begleitete mich auf allen Wegen, mitten in der Tropenüppigkeit, der Gram, daß es nirgends Wiesen mit heimatlichen Blumen gab, nirgends Wälder, die da rauschten. Denn die Urwälder rührten sich nicht. Wie aus Leder geschnitten hingen die schweren Blättermassen in der Luft, und die Bäume standen in der Treibhausschwüle aufgebläht. Da war kein liebliches Geflüster von Halmen und Gräsern. Kreischende Vögel mit grellen Lauten nannte man mexikanische Nachtigallen. Ihre Pfiffe waren wie Lokomotivenpfiffe gellend, so daß einem bei diesem Gejohl die Ohren schmerzten.

Die weißschaftigen Königspalmen standen zwar prächtig da, wie Säulen aus Marmor und Alabaster. Sie verblüfften mich erst; dann aber wußte ich nichts mit den fremdartigen Eindrücken und mit der Verblüffung in meinem Herzen anzufangen.

Jeden Morgen, wenn ich aufgestanden ans Fenster trat — nachdem ich im Schlaf in Europa gewesen war —, schnürte sich mein Herz zusammen, sobald ich statt Europäer draußen Indianer in ihren weißen Hemden und ihren weißen Hosen lautlos durch die Straßen eilen sah. Und die Dunkelgesichter und die fremden Bäume und die spanisch-mexikanische Architektur, alles erzählte mir immer wieder: du bist viele Wochen weit durch einen ungeheuren Ozean von deinem Heimaterdteil getrennt.

Ich hatte Ländlichkeit und tropische Lebensfreude gegen das geschäftliche Europa, gegen den Warenhaussinn europäischer Weltstädte eintauschen wollen und hatte nicht dabei an Abenteuerlust, nicht an die Befriedigung wilder Instinkte, wilder roher Goldgier und nicht an Jagd nach fabelhaftem Glück gedacht.

Aber schon auf dem Schiff von Neuyork nach Vera-Cruz war mir das Gesindel, das von der ersten bis zur letzten Klasse das Schiffsdeck füllte, aufgefallen. Da waren nur Glücksjäger, Goldschmuggler, Männer, die sich der harten Arbeitsordnung in Neuyork und den nördlichen Staaten nicht unterwerfen wollten, und die sicher nicht vor falschem Spiel, betrügerischen Geschäften, ja sogar nicht vor Raub und Mord zurückscheuten. Das sah man ihren frechen herausfordernden Gesichtern an, daß sie wie überhitzte Spieler ihren letzten Lebenseinsatz auf Abenteuerreisen gewagt hatten.

Da war keine Ruhe bei ihnen und natürlich auch von künstlerischem Lebenssinn und inniger Lebensbetrachtung kein Gedanke in ihrer Nähe.

Denselben Gesichtern und Gesellen begegnete ich dann zwischen Vera-Cruz und Mexiko auf der zweitägigen Eisenbahnfahrt, auf dem Weg nach der Hochebene und in der Hauptstadt Mexiko überall. Die Gold- und Silberminen Mexikos, die in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Hunderttausende angezogen hatten, aber jetzt reichlich geplündert waren, lockten immer noch die goldlüsternen ordnungslosen Geister aus dem Norden Amerikas.

Wenn auch viele von jenen Männern das Goldsuchen aufgegeben hatten und Besitzer von kleinen Haziendas geworden waren, so waren die Landesverhältnisse nicht friedlicher geworden. Das sah man der Ausrüstung aller Männer an, daß sie immer noch gegen Mord, hinterlistige Überfälle, heimtückischen Todschlag und gegen Raubgier nicht bloß in entlegenen Winkeln des Landes, sondern auf den offenen Hauptstraßen, sogar mitten in der verkehrsreichen Hauptstadt Mexiko, anzukämpfen hatten.

Ein Revolver genügte ihnen nicht in der Gürteltasche. Auf der Juwelierstraße und Hauptstraße der Stadt Mexiko standen die schwer bewaffneten Gruppen morgens, mittags und abends zusammen, als wäre die Straße ein Räubermarkt. Die Männergürtel waren bepackt mit Revolvern und Waffen aller Art. Die großen breitrandigen Filzhüte, die Sombreros, die die Gesichter halb verdeckten, gaben jedem einzelnen das Aussehen von einem Rinaldo Rinaldini.

In den Trambahnwagen und in den Eisenbahnwagen, abends auf dem Korso und beim Billardspiel in den Kaffeehäusern begegneten einem die mit Revolvern und Waffen bespickten Gestalten überall. Sie waren immer mit Waffen drohend beladen, als kämen sie eben von Raubzügen zurück oder als hätten sie sich zu einem Raubplan verabredet.

Wir, die wir von dem lebhaften, aber doch gesitteten pariser Boulevardleben, nur mit Sonnenschirm und Spazierstock bewaffnet, friedvoll und natursehnsüchtig in jenem Lande angekommen waren, verwunderten uns nicht wenig über die abenteuerliche Haltung der Leute hier und über ihr räuberisches Aussehen.

Mit dem Totschläger in der einen Hand, den Revolver im Gürtel und eine brennende Laterne in der anderen Hand, so standen nachts in Gruppen die Polizisten an den Straßenkreuzungen. Und jeden Donnerstag war unter den Bäumen der „Avenue des Columbus“ Musterung über das Heer der Polizisten.

Eine der aufregendsten Polizeigreueltaten ereignete sich während meines Aufenthaltes.

Ich erlebte es, daß neunzehn Polizisten, bestochen und überredet vom verbrecherischen Polizeioberhaupt selbst, einen Häftling, der im Nationalpalast eingesperrt war, am Nachmittag des Nationaltages in seiner Zelle mit neunzehn Messerstichen niederstießen.

Das Polizeioberhaupt war mit jenem verhafteten Mann verbrecherisch verbunden gewesen. Jener Gefangene hatte dem Polizeipräsidenten früher einmal Gift verschafft, damit dieser einen Abbé aus dem Wege schaffen konnte. Jener Abbé, der auch wirklich von ihm vergiftet wurde, war der Beichtvater einer reichen jungen Mexikanerin gewesen, die der Polizeipräsident hatte heiraten wollen. Aber der Abbé, der auch der Beichtvater des Polizeipräsidenten gewesen, hatte jene Dame vor der Heirat gewarnt. Auf diese Warnung hin hatte sie ihre Verlobung mit dem Polizeipräsidenten gelöst.

Jener Mann, der dem Polizeipräsidenten das Gift zu jenem Mord verschafft hatte, erpreßte danach von ihm unausgesetzt große Schweigesummen. Als der Polizeipräsident nicht weitere Erpressungsgelder zahlen wollte oder konnte, drohte jener, den Mord an dem Abbé dem Präsidenten der Republik mitzuteilen und den Polizeipräsidenten durch diese Enthüllungen zu vernichten.

Am Vormittag des mexikanischen Nationalfestes, im September, als der Präsident der Republik, Porfirio Diaz, an der Tribüne vorfuhr, von welcher er die Truppenschau abhalten sollte, drängte sich jener Mann, der das Polizeioberhaupt beim Präsidenten der Republik anzeigen wollte, durch die Zuschauermasse und hielt, um die Aufmerksamkeit des Präsidenten und seiner Generäle auf sich zu lenken, einen faustgroßen Stein in der gehobenen Hand, als wolle er Porfirio Diaz erschlagen.

Ein General warf sich dem Heranstürmenden entgegen, ebenso taten andere Herren der Umgebung und die Polizisten. Man fesselte den Mann, welcher laut rief, er habe große Enthüllungen über die Polizei zu machen. Man sah den Polizeipräsidenten selbst, der den Mann fortschleppen ließ, rasch mit dem Gefangenen in einen Wagen steigen und nach dem Nationalpalast fahren. Der Polizeipräsident hatte seine Wohnung im Nationalpalast, wo der Häftling eingesperrt wurde.

Nach der Truppenschau kehrte Porfirio Diaz unter dem Jubel der Menschenmassen und von den Leuten von allen Balkonen herab begeistert begrüßt, durch die Hauptstraße, die Calle San Francisco, an der Spitze der Truppen in die Stadt zurück. Die Zeitungen brachten in Extrablättern noch mittags, während des großen Nationalfestessens, die Nachricht von dem glücklich abgewendeten anarchistischen Anschlag eines Verrückten auf den Präsidenten der Republik.

Ich selbst war bei der Truppenschau gewesen und hatte mit eigenen Augen an dem beflaggten Platz der Stadt den Überfall auf den Präsidenten mit angesehen.

Am Abend war großes Feuerwerk vor dem Nationalpalast, wo Musikbanden spielten. Hunderttausende von Indianern, die auf dem Platz vor der Kathedrale Bananen brieten und Maiskuchen buken und dort auf dem Rasen um kleine Kohlenfeuer hockten, sangen während der ganzen Nacht zu ihren Mandolinen alte wehmütige Indianerweisen, Überlieferungen aus der Aztekenzeit.

Ich ging mehrere Stunden auf dem Festplatz umher, saß unter den Bäumen und freute mich an den malerischen Gruppen, an den sanften friedlichen Liedern und an der Schlichtheit und Einfachheit des Eingeborenenvolkes. In weißen Leinwandkleidern, in weißer Hose und weißem Hemd die Männer und in blauen Leinwandröcken und in schwarze Tücher gehüllt die Frauen, so lagerten die Indianerscharen auf dem Rasen und vergnügten sich sanft und harmlos. Sie waren wie Gazellenherden, die in einer Nacht im Mondschein vergessen dürfen, daß sie von Jägern, Hunden, tödlichen Gewehren und eisernen Waffen am Tage umringt, gehetzt und mitleidlos gejagt dahinleben müssen.

Gegen Mitternacht, als ich heimging, hörte ich einige Schüsse fallen. Der Schall kam von der Richtung des Nationalpalastes, welcher ein langes einstöckiges Gebäude im spanischen Jesuitenstil ist. Ich kümmerte mich aber nicht um das Schießen und ging nach meinem spanischen Hotel. Ich sah noch, als ich den Platz verließ und in die Seitenstraße bog, daß Scharen von Polizisten aus allen Straßen nach dem Nationalpalast liefen, und daß auch die Massen der auf dem Rasengarten des Platzes friedlich gelagerten Indianer sich erhoben hatten und sich gegen den Nationalpalast hinbewegten, angezogen, wie es schien, von den Schüssen, deren Echos ich noch in den Ohren trug.

In jenem Lande aber, wo man den ganzen Tag mit Pistolen bewaffneten Männern begegnet, schien es mir nichts Absonderliches zu sein, wenn ein kleiner Streit ausgebrochen war, bei welchem geschossen wurde, oder daß ein kleiner Überfall statthatte. Und da es nicht weise ist, sich unter Streitende zu mischen, vermied ich es, neugierig zu werden, und schlenderte nach Hause.

Am nächsten Morgen hatte ich das kleine Ereignis vergessen und dachte erst daran, als alle Zeitungen berichteten, daß in der Nacht jener Anarchist, der den Präsidenten bei der Truppenschau angefallen hatte, in dem Haftzimmer im Nationalpalast von einer eindringenden Menschenmenge gelyncht worden sei. Neunzehn maskierte Männer wären in das Gebäude eingedrungen, gefolgt von tobenden Menschenmassen, und die neunzehn Maskierten hätten mit neunzehn Messern — die sie in dem Leichnam stecken ließen — den Verhafteten im Haftraum niedergestoßen. Auf einem Zettel, den sie zurückließen, stand das Wort „Lynchjustiz“ geschrieben.

Die Pistolenschüsse aber, die ich gehört hatte, waren um Mitternacht vom Polizeioberhaupt selbst vom Balkon des Nationalpalastes abgegeben worden. Man sagte, als die neunzehn maskierten Mörder in den Palast drangen, hätten sie den Polizeipräsidenten, der noch allein spät in seinem Amtszimmer tätig gewesen, aufgefordert, ihnen den Weg zum Haftzimmer zu zeigen, da sie im Namen des Volkswillens, im Namen der Nation, den Häftling, der am Morgen bei der Truppenschau das Leben ihres geliebten Präsidenten der Republik bedroht habe, lynchen wollten.

Der Polizeipräsident habe auf dieses Ansinnen nicht eingehen wollen. Doch als sich die Mörder nicht hatten abhalten lassen und selbst den Weg zum Haftlokal gesucht und gefunden hatten, sei das Polizeioberhaupt auf den Balkon gesprungen und habe seinen Revolver in die Nachtluft abgefeuert, um die auf dem Platz das Nationalfest feiernde Volksmasse aufmerksam zu machen und sie zur Hilfe herbeizurufen.

Nach einigen Tagen aber stellte sich zum größten Erstaunen der Stadt Mexiko heraus, daß der Polizeipräsident selbst diesen Mord an dem Verhafteten beauftragt hatte. Aber man wußte noch nicht, welcher Grund den obersten Polizeiherrn zu dieser Mordtat gezwungen hatte. Der Beweggrund wurde erst später enthüllt.

Die Leute, die auf des Polizeipräsidenten Pistolenschüsse in den Hof des Nationalpalastes geeilt waren, einige hundert Menschen, hatte er durch die Schüsse herbeilocken wollen, und er hatte hinter ihnen die Palasttore schließen lassen. Das Ganze sollte den Anschein bekommen, als wäre der geheimnisvolle Mord vom Volk erzwungen worden und die Polizei selbst überrascht worden vom Volkswillen.

Aber ein Polizist jener neunzehn Polizisten, die von ihrem Oberhaupt überredet waren, erklärte an einem der nächsten Tage, von Gewissensbissen gepeinigt, den ganzen Vorgang auf dem Geschäftszimmer einer der größten Zeitungen der mexikanischen Hauptstadt.

Er berichtete: am Nachmittag des Nationalfestes habe der Präsident der Polizei neunzehn neue Messer kaufen lassen, habe neunzehn der zuverlässigsten seiner Polizisten zu sich ins Zimmer gerufen und ihnen erklärt, sie wüßten doch von jeher, daß der Präsident der Republik nur ungern ein Todesurteil unterschreibe, und daß sie Diaz einen Gefallen täten, wenn sie ein Todesurteil an dem Attentäter vollstrecken würden. Er, der Präsident der Polizei, wolle das Ganze so anordnen, daß der Mord einem Lynchverfahren, von Volksmännern ausgeführt, ähnlich sehen sollte.

Den Bedenken der neunzehn Polizisten setzte er entgegen, daß sich der Präsident der Republik den neunzehn Beamten erkenntlich erweisen würde, wenn sie Porfirio Diaz das Unterschreiben des Todesurteils über jenen Anarchisten ersparen würden. Da jener Mann doch zum Tode verurteilt werden müsse, fiele keine Mordschuld auf die Beamten. Denn sie würden nur mit dieser Tat dem Gesetz zu seinem Recht verhelfen und zugleich dem Präsidenten der Republik eine Gefälligkeit erweisen.

Nachdem die Zeitungen diese Enthüllungen des einen mitschuldigen Polizisten gebracht hatten, war die ganze Bevölkerung der Hauptstadt Mexiko von Entsetzen erfüllt. Der Polizeipräsident wurde verhaftet, ebenso die neunzehn Polizisten. Allmählich kam auch heraus, warum jener getötete Mann dem Polizeioberhaupt im Wege gewesen war, und daß außer der Vergiftung des Abbé der Polizeipräsident noch viele Schändlichkeiten begangen hatte.

Seine Freunde aber sandten ihm in einem ausgehöhlten Kuchen einen geladenen Revolver ins Gefängnis, und er erschoß sich dort, ehe man ihn richten konnte. Die neunzehn Polizisten wurden alle zum Tode verurteilt. Die Zeitungen brachten die Bilder der neunzehn Verurteilten, und Ansichtspostkarten mit den neunzehn Gesichtern der Mörder wurden während meines Dortseins noch überall auf den Straßen verkauft.

In atemlosester Spannung hatte die ganze Stadt vierzehn Tage lang die Enthüllungen über diesen außergewöhnlichsten Mord verfolgt. Auch ich las die Berichte über diese unerhörten, schauderhaften Polizeizustände, und ich verstehe recht wohl, daß manche, die meinen Roman „Raubmenschen“, darin ich diese Schreckenstat erzähle, gelesen haben, die Wirklichkeit dieses nie dagewesenen Schreckens bezweifeln mochten. Aber diese Ungeheuerlichkeit ist tatsächlich wahr und hat sich während meines Aufenthaltes in Mexiko ereignet und sozusagen vor meinen Augen abgespielt.

Daß Mexiko das Land der mörderischsten Möglichkeiten ist, wurde mir klar. Sobald ich von Juli bis Dezember genügende Eindrücke gesammelt hatte, so daß ich für alle Zeiten wissen konnte, daß ich dort niemals ländlichen Frieden und künstlerische Ruhe finden würde, reiste ich, nachdem ich noch mit meiner Frau eine Rundreise durch den Golf von Mexiko nach Neu-Orleans gemacht hatte, von dort über den Ozean zurück nach Europa, wo wir wieder Anfang Februar in Havre landeten.

Die Rückreise war so stürmisch gewesen, daß unser Schiff überfällig war und in Havre als verloren galt und bereits auf der Verlustliste stand. Von vier Dampfkesseln waren zwei im Sturm unbrauchbar geworden, so daß wir nur mit halber Fahrt vorwärts kommen konnten und statt zwei Wochen sechs Wochen zwischen dem mexikanischen Golf und Frankreich in unendlichen Ozeanstürmen zubrachten.


Einige unserer Freunde in Paris, junge deutsche Maler, erwarteten uns bei unserer Rückkunft am Bahnhof Saint Lazare. Und als sie meiner Frau zum Willkommgruß Blumen reichten und wir wieder durch das vornehme bewegliche Paris fuhren, atmete ich tief auf. Hier war doch wieder Gesittung! Hier war doch nicht mehr offensichtliche Räuberwillkür! Mochten auch noch so viele Verbrecherleidenschaften im Dunkeln dieser Weltstadt hausen, das äußere Stadtgesicht war jedenfalls menschenwürdig.

In dieser Stadt herrschte vor allem das Lächeln der Frauen, das gnädig oder ungnädig die Willen der Männer lenkte, und die Frauenlust stand hier höher als die Goldlust.

Von der göttlich künstlerischen Herrschaft der Liebe in all ihren Sehnsüchten, vom wildesten und lüsternsten Sinnentrieb an bis zum zärtlichsten Sehnen nach dem Gunstblick der geliebten Frau, sprechen Straßen und Menschen in jedem Augenblick in Paris.

Paris trägt den Namen jenes Hirten, der den Apfel als Schönheitspreis der Venus reichte, und der sich dadurch einstmals Juno und Pallas Athene zu Feindinnen gemacht haben soll. Und es ist wohl kein bloßer Zufall, sondern ein dichterischer Einfall des Lebens, daß diese Stadt das schönste Venusbild der griechischen Liebesgöttin zu sich in den Louvre gerettet hat, das Bild der Venus von Milo, zu welcher jährlich Tausende von Europäern gewallfahrtet sind und noch wallfahrten.

Die Reise nach Mexiko hatte mir aber doch nicht bloß Verluste gebracht. Es war eine große innere Erkenntnis über mich gekommen, die, daß der Erdteil Europa, in dem ich geboren war, mich lebenslänglich nicht loslassen wird. Nirgends anders, in keinem anderen Weltteil, durfte ich mir als Künstler Haus und Heim schaffen. Dies war mir ganz klar geworden, und ich hegte nun keine überseeischen Niederlassungsträume mehr.

Aber Überlandträume konnte ich doch nicht aufgeben. Der unkünstlerischen Großstadtgeschäftigkeit und dem neuzeitlichen Maschinenwesen, das über Europa herrschte, glaubte ich nur entgehen zu können, wenn ich mich in einen, an edelsten Überlieferungen reichen Winkel Europas zurückzog und dort vielleicht doch ein Hirtendasein führen konnte.

Es müßte aber ein Land sein, sagte ich mir, wo ich Eichen, Buchen und heimatliche Flora finden konnte. Kein Land der Palmen. Und ich glaubte, daß Griechenland, von wo wir Europäer edelste Dichtung und herrliche Kunstwerke und unsere Menschlichkeitslehre im reinsten künstlerischen Sinn empfangen hatten, das rechte Land für mich wäre, um dort, ungestört vom Weltgetriebe, der Dichtung leben zu können.

In Athen und draußen vor Athen oder an irgendeiner griechischen Meerbucht müßte es möglich sein, einen Weinberggarten zu kaufen, dachte ich mir, und dort wollte ich in einem bescheidenen Haus, unter mildem Himmel, bei europäischen Eichen und Wiesen wohnen.

Ich hatte schon in Schweden in den letzten Jahren mit Vorliebe griechische Dramen gelesen, und ich fand sie viel festlicher und feierlicher als die Gesellschaftsspitzfindigkeiten und die Nervenlust der Ibsenschen Dramen, die damals die Begeisterung der Welt für sich hatten.

Als ich mit meiner Frau nach der Beerdigung meines Vaters im Jahr 1896 vor der Mexikoreise nach Sizilien gereist war, war ich auch durch Karlsruhe gekommen. Richard Dehmel hatte mir brieflich von einem jungen Dichter Mombert erzählt, den ich doch kennen lernen sollte, und der auch in Süddeutschland wohne. Ich sah dann A. Mombert in Karlsruhe einen Nachmittag, und als ich ihm sagte, ich wollte mir auf die Reise nach Sizilien Homers „Ilias“ und „Odyssee“ mitnehmen, da hatte er die Liebenswürdigkeit, mir diese beiden Bücher anzubieten und sie mir beim Abschied auf die Reise mitzugeben.

Auf dem Schiff zwischen Genua und Neapel las ich dann zum erstenmal in der „Ilias“, die ich noch nie gelesen hatte, und die ich nur öfters vorher in großen Prachtausgaben in der Hand gehabt und durchblättert hatte. In den früheren Jahren war mir Homers Sprache viel zu lebensfestlich gewesen, weil ich selbst noch vom Alleinsein bedrückt und ohne Liebe lebte. Jetzt aber hatte ich in mir Herzensfestlichkeit durch eine geliebte Frau gefunden, und Homers „Ilias“ und „Odyssee“ wurden mir so leicht verständlich, wie es nur sonst das deutsche Nibelungenlied uns Deutschen ist.

Die sonnige Schiffbank auf dem kleinen österreichischen Lloyddampfer, der uns damals von Genua durch das Mittelmeer nach Sizilien trug, war auch ein geeigneterer, um Homer zu lesen, Platz als die Schulbank. Das Schiff, das zwischen blauem Wasser und blauem Himmel, einer weißen Sommerwolke ähnlich, hinschwebte, ließ mir beim Lesen die unermeßlichen Rhythmen der „Ilias“ so lebendig und kräftig werden, daß es mir vorkam, als trüge mich Gesang um Gesang durch die Bläue. Das Rauschen der Meereswellen vermengte sich mit dem Rauschen des Geistes und dem Rauschen der Bilder und der edlen Gefühle, die Zeile um Zeile aus der „Ilias“ dringen.

Bei der Hinreise nach Mexiko aber las ich dann auf dem großen Ozean die „Odyssee“. Und die Abenteuer des männertötenden Odysseus und die festlichen Schrecken, die der Held erlebte, hielten mich kräftig und aufrecht, als ich mich zwischen Neuyork, Havanna und Vera-Cruz auf dem Goldsucherschiff von Abenteurergesindel umgeben fand. Unter den Verbrecherblicken und Verbrechergedanken, die mich dort und nach meiner Ankunft in Mexiko stündlich auf allen Straßen umgaben, war mir das Lesen Homers Bedürfnis geworden.

Auch hatte ich für die Künstlerniederlassung nach Mexiko einige Abgüsse griechischer Reliefs, Verkleinerungen vom Parthenonfries und eine Masse guter Photographien der besten griechischen Bildhauerwerke der Louvresammlungen, in Kisten eingepackt, mit mir. Und griechische Bilder und griechische Dichtung trösteten mich oft drüben über dem Atlantischen Ozean in dem wilden Vulkanland Mexiko, wenn ich vor Heimweh nach Europa zu verzweifeln meinte.

Durch den deutschen Konsul in Mexiko war mir auch ein Lehrer der deutschen Schule bekannt geworden, der mir und meiner Frau in jenen mexikanischen Monaten einigen griechischen Unterricht gab. Denn nachdem ich Homer in deutscher Sprache gelesen hatte, wollte ich gern dieselben Verse in griechischen Lauten nochmals hören. Aber der Unterricht war nur kurz und wurde durch die Rückreise nach Europa bald abgebrochen.


Am Abend des Karnevaldienstages waren wir, von Mexiko zurückkehrend, wieder in Paris eingetroffen. Bei der Vorüberfahrt am Opernplatz bliesen vom ersten Stockwerk des Opernhauses über die Menschenmenge die Fanfaren, die die Eröffnung des Maskenballes anzeigten. Es war mir aber, als verkündeten die Trompeten zugleich das Ende des Winters, den Beginn und den Einzug des Vorfrühlings und einen Willkomm für uns in Europa.

Ich verabredete mit meiner Frau, die von der langen ozeanischen Sturmreise sehr erschöpft war, daß sie sich in ihrem Vaterhause in Schweden ausruhen und sich dort aufhalten sollte, bis ich in Griechenland Haus und Garten gefunden hätte. Sollte ich aber dort auch keinen geeigneten Platz entdecken, so wollten wir uns dann beide in Würzburg, in meiner Heimatstadt, treffen und wollten dort einstweilen wohnen.

Wir waren dann noch einige Wochen bis Mitte April 1897 in Paris.

Am Tage, da ich meine Fahrkarte nach Griechenland bei der „Schiffsgesellschaft des Mittelmeeres“ in Paris bestellt hatte und meine Frau eben nach Schweden abgereist war, begegnete mir auf dem Boulevard St. Michel der Schriftsteller Karl Vollmöller, den ich kurz vorher kennen gelernt hatte. Als er hörte, daß ich in zwei Tagen nach Griechenland reisen würde, sagte er mir, er würde gern auch nach Griechenland fahren. Er wolle nur an seinen Vater nach Hause telegraphieren, und wenn dieser zustimmende Antwort gäbe, würde er mit mir reisen. Wir fuhren dann einige Tage später von Marseille nach dem Hafen Piräus und machten die griechische Reise zusammen.


Bei der Fahrt um den Peloponnes entzückte mich besonders die rhythmische Berggestaltung dieses griechischen Landteiles. Die Berge waren dort, als ob eine Hand die Berglinien in der Luft vorgezeichnet hätte, als wären die Wellen der Erde einst bezwingenden rhythmischen Handbewegungen gefolgt und dann als zur Erde gewordener Rhythmus stehen geblieben.

In zarten Morgensonnenfarben, in einem kühlen Grün, das wie bereift aussah, und in einem fleischigen goldigen Rosa erschienen auf ätherblauem Meer diese ersten griechischen Landlinien des Peloponnes vor meinen Augen. Und ich hoffte bei ihrem Anblick bestimmt, daß hier der Boden für glücklichsten Dichterfrieden sein könnte, denn ich war beglückt vom Anschauen der rosigen Küste.

Ich saß, vom tönenden Meer getragen, auf dem sauberen silberweißen Schiffsverdeck, halb hinhorchend auf den Arbeitstakt der Schiffsmaschine, und baute mir in Gedanken ein Haus dort hinüber an eine der stillen weltverlassenen Meeresbuchten.

Vom Schiff aus gesehen, sprach jenes griechische Land keine andere Sprache als meine Heimatlaute, die ich in der Brust trug, und kein anderes Leben lebte an der nahen Küste als das Traumleben und die Traumgeschichten, die ich vom stillen Schiffsdeck hinüberschickte unter die Ölbäume dort.

Von jenen frühesten Morgenstunden an, als wir um den Peloponnes fuhren, bis zum Abend und bis zum nächsten Morgen, solange die Reise bis Piräus währte, füllte sich mir das leere Schiffsdeck, auf welchem wir nur vier Passagiere waren, mit allen Helden der „Ilias“, mit allen großen Geistern Athens.

Das Schiff war dann nicht mehr nur ein gewöhnliches Dampfschiff; es wurde hoheitsvoll ein Argonautenfahrzeug voll herrlich gerüsteter Männer, voll festlicher Götterfrauen. Sie kamen in hellen Zügen wie aufsteigender Meerschaum über das türkisenblaue Meerwasser. Sie kamen aus den fernsten Ölbaumhainen. Und als spät am Tage der Berge lange Abendschatten sich dunkelgrün in das Meer hinaus bis an unseren Schiffsbord hinlegten, da kamen immer mehr griechische Helden und Heldinnen, griechische Götter und Göttinnen, gefolgt vom frohen singenden Volk, auf den Abendschatten, wie auf Brücken, über die Meerflut heran.

— Nur wieder neun Jahre später erlebte ich ähnliches Entzücken, als ich in einem ähnlichen silberblauen Vorfrühlingslicht in der japanischen Inlandsee fuhr, zwischen japanischen Ufern, in der Heimat des naturseligsten Volkes der Erde. —

Als ich die Uferbilder und Meeresbuchtenlinien Griechenlands zum erstenmal zwischen den Wimpern meiner Augen in mein Herz einziehen fühlte, schienen sie unwirkliche Gefilde zu sein. So verklärt schimmerte das Tageslicht von den melodisch geschweiften Bergen, als wäre die Küste von dem Licht einer geistigen, unirdischen Sonne beschienen.

Jene Erde, die so viele Schritte ernster Helden einst gehört hatte und sich von Homer besungen fühlte, lag da vor mir, als hätte sie sich unter Homers Gesang verklärt — wie eine Frau, die lautlos ein Liebeslied immer wieder singt, das ihr der gestorbene Geliebte einst gedichtet hat.

Und wie das Antlitz eines Menschen, der ein Gedicht wiederholt, das er liebt, und dessen Auge zwischen irdischem und unirdischem Ausdruck geteilt, verklärt in den Tag sieht, so sah Griechenland — das Lied Homers lautlos vor sich hinsingend — mit seinen feierlichen Höhen an jenem Tage, an dem ich vom Morgen bis zum nächsten Morgen im Meer an der Küste vorüberfuhr, in meine Augen und war eine heilige Geisterwelt, eine heilige Dichterwelt.

Es schien keine Stunde nüchterner Alltag an jenen Ufern zu sein. Eine köstliche Festlichkeit begleitete mich an dieser Küste entlang bis zur nächsten Morgenstunde, bis zum Augenblick, da das Schiff in Piräus anlegte.

In Piräus, im Hafengetriebe, zwischen Hafenhallen und Haufen von Fischerbooten, bei schmutzigen Fischerkneipen, bei den Kähnen, die, beladen mit gelben Orangen und grünen Zitronen, fremdartig leuchteten, wußte ich nicht mehr, als ich den Fuß ans Land gesetzt, daß ich in Griechenland war. Es lag vor mir ein kleinstädtischer lebendiger Mittelmeerhafen mit dem üblichen Hafenlärm, mit Zollbeamten, Fuhrleuten, Fischern. Nur die griechische Lebhaftigkeit, das fliegende Verständnis für jeden Augenblick des Lebens, eine gewandte Eile und eine bestrickende Gefälligkeit, die den Nordländer argwöhnisch macht, in ihnen war griechischer Geist zu fühlen.

Wir fuhren dann bald mit einem Wagen auf der alten Heerstraße hin, die in einer geraden Linie, wie mit einem Lineal gezogen, nach Athen führt. Ich hatte geglaubt, daß hier Ende März schon Frühlingsgrün zu finden wäre, und war nun erstaunt, daß die Weingärten an den Wegseiten nur braune Rebenstrünke und noch kein grünes Blatt zeigten.

Während der Fahrt sah ich immer geradeaus und wunderte mich, daß ich nirgends den Felsen der Akropolis entdecken konnte. In der breiten Ebene, die sich zwischen zwei Bergzügen von Athen nach Pyräus ans Meer zieht, hätte ich geglaubt, den Berg und die Akropolis am Ende des Tales, groß gegen den Himmel gezeichnet, sofort erkennen zu müssen. Aber erst nah bei der Einfahrt in Athen sah ich, umgeben von höheren Hügeln und verschwindend klein neben dem mächtigen Hymettosbergwall, die Anhöhe der Akropolis mit den Tempelresten. Aus der Ferne ließ diese Tempelruine noch nichts von ihrer Großartigkeit ahnen.

Das neue Athen, in das wir einfuhren, mit seinen bürgerlichen Häusern der Neuzeit, mit seinen Schaufenstern, Straßenbahnen, seinem Kaffeehausleben, mit dem Getriebe unseres Jahrhunderts in der langen Stadionstraße, war mir vom Anfang an im Wege. Ich wäre am liebsten draußen vor der neuen Stadt heimlich aus dem Wagen gestiegen und durch die Felder in weitem Bogen um das neuzeitliche Athen gegangen, hinauf zur Akropolis.

Am Tage vorher auf dem Meer war ich im Geist in einer stillen Ruinenwelt angekommen, die sich Athen nannte. Ich hatte in Gedanken nebenbei ein paar Gasthäuser oder ähnliche Häuser in ehrfurchtsvoller Entfernung, den Ruinen bescheiden Platz machend, gesehen und hatte geglaubt, daß die Fenster jener neuen Häuser, so wie die Augen der neuen Menschen dort, den ganzen Tag andachtsvoll träumend und vom Bewundern der großen Vergangenheit der Ruinen bewegt, keine Zeit zu eigenem Leben finden könnten.

Nun aber lärmte da eine sich selbständig dünkende junge Stadt, eine mit Trambahnen, elektrischen Maschinen, Telegraphen und Telephonen und mit Motoren arbeitende, zeitgemäße, laute, ehrgeizige Stadt.

Diesen Zeitlärm konnte ich noch nicht mit meinen, nur feierliche Ruinen suchenden Wünschen vereinigen. Und ich war enttäuscht und wünschte mich wieder aufs griechische Meer zurück. Die Zeitungsverkäufer und die Lotterieverkäufer, die auf unserem Wagentrittbrett geschäftig schreiend emporkletterten, während wir in die lebendigen, gewerbetreibenden Morgengassen von Athen einfuhren, machten mich endlich lachen. Und Humor stellte sich ein, und ich freute mich, doch allmählich von der Meeröde wieder unter zappelnde Menschenkinder gekommen zu sein.

Das unterhaltende südliche Straßenleben, die Kupferschmiede, die Seiler, die Korbflechter, die Töpfer und das viele andere Kleingewerbe, das da zusammengepackt in den Gassen nistet, war in seiner herzlichen Irdischkeit reizvoll zu betrachten, und der Lärm, der mich zuerst abstieß, lockte bald vertraulich meine Ohren an. Eine arbeitende starke Gegenwart, meine Gegenwartswelt, erfüllte mich wieder, und ich ließ die feierlichen Träume weit zurück und fühlte mich trotzdem wohl.

Mein Reisegefährte hatte von seinem Vater einige Empfehlungen an griechische Geschäftsleute, an den deutschen Konsul und an den deutschen Archäologen Professor Dörpfeld mit sich. Von dem letzteren erhielten wir bei einem Besuch einige gute Ratschläge für unseren Ritt durch den Peloponnes, den wir von Olympia aus nach Sparta unternehmen wollten. Zuerst aber wollten wir vorher noch Delphi, Apollos heilige Stätte, am korintischen Meerbusen sehen. Französische Gelehrte hatten dort kürzlich das große Ruinenfeld der Heiligtümer wieder aufgedeckt. —

Morgens von sechs bis neun Uhr herrschte schon das lauteste Leben zwischen den blendend weißgetünchten Häusern von Athen. Keine Stadt ist mir je wieder so hell vorgekommen wie diese lichtdurchtränkte weiße Neustadt Athen. Und trotzdem herrschte Düsterkeit in den Straßen.

Denn in keiner Stadt sah ich jemals wieder so wenig Frauen, wie am Nachmittag dort auf dem Schloßplatz, während die Musik spielte. Nirgends war eine griechische Dame, nirgends ein griechisches Mädchen zu sehen. Nur manchmal fuhr ein weibliches Wesen in einem Wagen vorüber. Aber auf dem Schloßplatz standen wie eine einzige schwarze Masse, Schulter an Schulter, plaudernde Männer von allen Altern.

Nie wieder sah ich ein ähnlich einseitiges Dasein. Man könnte glauben, es würde hier Börse abgehalten unter freiem Himmel. Oder man konnte denken, es sei eine Verschwörung im Gang. Während im heutigen Rom zur Musikzeit in den Gartenanlagen des Monte Pincio die Römerinnen aller Gesellschaftskreise, zu Fuß und zu Wagen, plaudernd mit und zwischen den Herren erscheinen, sind in Athen zu den Musikstunden nur einige Ausländerinnen am Rand des Platzes bei den Kaffeehäusern zu sehen. Es entsteht deshalb hier kein fröhliches Gemisch, keine festliche gesellige Woge. Wie eine zusammengepferchte Stierherde stauen sich die Männer stumpf und stolz um die Musik.

Ich habe ähnliches nur im Hyde-Park in London gesehen, wenn ein politischer Redner auf einen Stuhl gestiegen war und sich Hunderte von Männern um ihn gesammelt hatten. Dort sah ich ähnlich viel schwarzbekleidete Rücken wie auf dem Schloßplatz von Athen.

Eine gähnende Langweile ging von dieser Musik aus. Denn die plaudernden und politisierenden eifrigen griechischen Männer ließen die Musik, wie es schien, nur in ihren Ohren verhallen. Die Frauen, die im Gehen und im Lächeln wandelnde Musik sein können, fehlten hier den Augen der Männer, und das machte, daß die Männerohren nur halb hinfühlten, und daß nur eine halbe Festlichkeit aufkam.

Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, sagt die Bibel. Und ich möchte hinzufügen: es ist nicht gut, daß der Mann ohne eine Frau Musik hört, daß der Mann ohne eine Frau ein Gedicht liest, daß der Mann ohne eine Frau ein Bild betrachtet, daß der Mann nur mit Männern spaziert. Ohne die Frau kommt nur die halbe Welt der Kunstwerte und die halbe Welt allen Lebens zum Mann. Ebenso können die Frauen die Welt und die Künste nicht allein ohne den Mann ganz verstehen und ganz genießen.


Als ich allein um die Erde reiste ohne meine Frau, merkte ich es zuerst gar nicht, wie wenig ich eigentlich sah. Ich merkte es aber gleich, wie viel ich sah, als ich heimkam von der Weltreise und meine Frau in meinen Erzählungen mit mir zusammenreiste.

Da erst wachten viele Blicke auf, von denen ich nicht gewußt, daß ich sie aufgenommen hatte, und Bilder und Landschaften und Begebenheiten kamen mir aus dem Unterbewußtsein ins Bewußtsein, als ich vor ihren Augen noch einmal die Weltreise zu Hause in Gedanken dichtete.

Was ich für mich allein erinnert hätte, das wäre kaum die Hälfte der Eindrücke gewesen. Für sie aber erinnerte ich noch eine Fülle, die ich im Unbewußten beim Reisen mit ihren Augen aufgenommen hatte, und die verloren gegangen wären, wenn nicht ihr Auge mir dann zu Hause das unbewußt Gesehene geweckt hätte.

Ich hatte auf der Weltreise unterwegs keine Notizen gemacht, was ich niemals auf Reisen tue, hatte mich auch durch keine Bücher auf die Reise vorbereitet, las auch nach meiner Heimkehr nicht die Briefe durch, die ich unterwegs geschrieben hatte, sondern hielt mich nur an mein und ihr Auge, an unsere inneren und äußeren Augen, mit denen ich die große Reise nochmals nachreiste, so wie ich heute nach sechzehn Jahren die griechische Reise wieder nachreise.

Von der Weltreise kam ich im Juli 1906 zurück, und erst im Juli 1907 begann ich mein Buch „Die geflügelte Erde“, das jene Reise in Versen beschreibt. Nur einige Photographien und Ansichtspostkarten und nur kleine Geschenkerinnerungen, die ich von jedem Ort unterwegs für meine Frau mit nach Hause genommen hatte, nur diese winzigen Stückchen Wirklichkeit halfen mir zwei Jahre lang nochmals die sieben Meere und ihre Wunder in einer Dichtung aufleben zu lassen.

Ich fühlte mich während der Reise um den Globus auch keinen Augenblick als Schriftsteller reisen. Wohl hatte ich jene Fahrt mit dem Gedanken angetreten, später einmal eine Dichtung über die Wunder der Erde schreiben zu wollen. Aber während der Reise enthielt ich mich jedes Gedankens an das künftige Buch. Und ich glaube, ich bewahrte mir dadurch einen möglichst unbefangenen innerlichen Blick, indem ich jedes übertriebene berufsmäßige Schauen, jedes berufsmäßige Aufnehmenwollen beim Reisen ausschaltete, wie ich das auch bei Erlebnissen immer zu tun versuche.

Nur dann lassen sich die Empfindungen und die Gefühle breit und tief in einem nieder, wenn man ihnen allmenschlich und zwecklos entgegenkommt. Jeder Zweck macht die künstlerischen Gefühle taub und öffnet nicht die Tiefen des Innenlebens im Menschen.

Aber ich habe gefunden, daß es für einen Schriftsteller einer jahrelangen Selbstzucht bedarf, einer immer wieder erneuten Zucht des Willens und einer immer wieder erneuten Zucht zur Ruhe und Geduld bedarf, um das Leben mit offenem Gefühl täglich von neuem in heiliger Zwecklosigkeit empfangen zu können. Nur jenen Zweck soll der Dichter hochhalten, den, dem Weltalleben nachzufühlen und nicht nur sein eigenes Leben, sondern alle Lebenserscheinungen in das Herz einmünden zu lassen.

Nur dann wird dem, der sich durch solches Weltallempfinden, durch das gerechte und empfindende Betrachten aller Leben bereichert hat, nicht bloß das geistige, sondern auch das leibliche Gefühl der Lebensunendlichkeit zu teil.

Die Lust an der Unvergänglichkeit der einzelnen Atome des Leibes überbietet dann das leise Weh über die Vergänglichkeit der Leibesform. Denn das Gefühl der leiblichen Unsterblichkeit ist für uns alle erreicht, sobald wir das Weltall als unseren Leib und Besitz fühlen lernten.

Als ich am Spätnachmittag des ersten Tages in Athen, am Theseustempel vorbei, dessen ehemals weiße Säulen jetzt wie gelbes Bienenwachs leuchten, auf dem Weg bei den alten Amphitheatern zur Anhöhe der Akropolis hinaufwanderte und dann über die breiten zerbrochenen Freitreppen, auf dem mit Quadern bepflasterten Platz beim kleinen Erechtheiontempel vor den ungeheueren Säulen des Parthenontempels stand, da, schien es mir, waren das keine Ruinen, was ich vor mir sah. Es waren Bauwerke noch im Aufbau begriffen.

Die Handwerksleute und die Architekten schienen den jungen Bauplatz des herrlichen Zukunftbaues eben zur Abendstunde verlassen zu haben und waren hinunter in die Stadt gegangen. Da lagen Säulen und Quadern, die scheinbar noch am Mittag den Hammer und den Meißel der Steinmetzen gespürt hatten. Und die steinernen Frauengestalten, die das Sims des Erechtheion auf ihren Köpfen stützen, waren von den jungen Bildhauern vorhin erst mit den lebenden Frauen verglichen worden, die dazu Modell gestanden hatten, vor dem inneren und äußeren Auge der Künstler.

Jung, lebensvoll, wunderbar zeitlos waren die Formen und die künstlerischen Linien der behauenen Steine. Die gerillten Säulen standen jung aufrecht, als wäre in ihren tiefen Rinnen nur erst ein Mal ein Frühlingsregen herabgerieselt.

Nichts sprach hier von jahrtausendaltem Regen, von jahrtausendalten Winden und Sonnenbränden, die diese Steine erlebt hatten. Nur neuzeitliche und zukünftigste Weltfestlichkeit tönte bei jedem Schritt auf den Fließen des Parthenons in mein innerstes Ohr. Diesem Bauplatz fehlten nur die Gerüste; man mußte annehmen, die Baugerüste seien zu früh abgenommen worden, ehe die Bauten noch ganz fertig waren. Einen andern Eindruck empfing ich nicht. Das Wort Ruine kam nicht in meinen Gedanken auf.

Welche stümperhafte Bauten waren dagegen die alten römischen Backsteinbauwerke des Forums in Rom! Welche stümperhafte, geistesbeschränkte, unharmonische Linien trugen nicht alle anderen Steinbauten Europas! Hier an der Akropolis waren nicht bloß geschickte Menschenhände und klug berechnende Gehirne an der Arbeit gewesen. Hier hatten weltfestliche Herzen die Pläne gezeichnet, weltfreudige Hände und Augen Meißel und Hammer walten lassen. Die aus den Gehirnen eines Volkes von Dichtern geborenen menschenherrlichen Götter hatten, ähnlich wie sie beim Kampf um Ilion die Krieger aneiferten, so hier die Künstler bei ihrer Arbeit beseelt. Diese Tempel waren gedichtet, waren jahrtausendalte Steingedichte. Und so wie jedes echte Gedicht kein Alter, keine Zeit, keine Vergänglichkeit kennt, so standen auch diese Bauten alterlos jugendlich in ihrer unvergänglichen Selbstverständlichkeit da.

Auch die Säulen, die gestürzt waren, sie wurden nicht zu Ruinenstücken. Sie blieben Vollkommenheiten. Sie schienen in jedem Augenblick neu aufwachsen zu wollen, da jeder einzelne Stein, jede Meißellinie Unsterblichkeit ausstrahlte und überzeugendste Weltallfestlichkeit.

Wenn ich mir heute vorstelle, daß dort auf der Anhöhe der Akropolis, um den freien Platz bei dem Parthenontempel, Flieger mit ihren Flugmaschinen landen und wieder aufsteigen sollten und um jene sogenannten Ruinen kreisen würden, und wenn ich mir dieselben Luftfahrzeuge aufsteigend und kreisend um alte deutsche Burgen denke oder um das Schloß von Versailles, um den Londoner Tower, um das Potsdamer Lustschloß Sanssouci — nirgends in Europa würden die Flugmaschine und der Motor in ihrer edlen stählernen Gelenkigkeit und gestaltet von neuzeitlichem Erfindungsgeist sich so klar und gleichberechtigt dem Geist der Baumeister anpassen als bei der Akropolis. Hier könnte man glauben, die Ururenkel jener Bauleute haben von ihren Vätern mit den Plänen der Tempel auch die Pläne zu den neuzeitlichen Flugmaschinen, die Pläne zu den stählernen Motoren, ebenso wie die Pläne der drahtlosen Telegraphie, die Pläne zu den Markoniapparaten und die Pläne zu allen heutigen technischen und elektrischen Erfindungen erhalten.

Wenn ich an Gotik-, Renaissance- oder Rokokobauten denke, selbst wenn ich an den arabisch-maurischen Stil mit seiner weiblichen Märchenhaftigkeit denke, — bei keiner dieser an sich harmonischen Stilarten tritt das Geistige und das Körperliche in so klarer, edler und einfacher Einheit auf. Dieser Baustil ist der Brudergeist unserer sich in Arbeit und Festlichkeit und Selbstzucht übenden Zeit. Jung tritt einem dieser Neuzeitgeist entgegen aus allen alten Bauten Griechenlands und besonders aus den alterlosen athenischen Bauten der Akropolis und des Theseustempels.

Es scheint mir oft, als hätten unsere Architekten in ihren neuesten Bauten noch nicht dem aufgeklärten festlichen Zeitgeist voll Rechnung getragen. Wohl wirkt die große Vereinfachung in der heutigen Architektur befreiend. Aber es fehlt noch die Selbstverständlichkeit der Formen.

Zu viel geschultes Wissen, zu wenig innerliche Freiheit gestalten den heutigen Baustil. Es sind noch nicht alle Dumpfheiten alter Weltanschauungen vollkommen überstanden. Es herrscht noch nicht in der Architektur die selbstverständliche einfache Weltallfestlichkeit, die angeboren in uns lebt.

Den meisten unserer Bauwerke fehlt in der Linie noch die natürliche Beherrschung, mit welcher zum Beispiel ein Vogel von Baum zu Baum fliegt, mit der ein Reh aus dem Waldsaum tritt, mit der die Biene arbeitet und die Forelle gegen den Bachstrudel schwimmt, mit der das Buchenblatt sich aus seiner braunen Schutzkapsel entfaltet, mit der jede Baumart ihre verschiedenen zackigen Blätter naturgefällig hervorbringt.

Bauformen müssen so körperlich klug wie geistig klug sein und Nutzen und Schönheit in unzertrennlicher klarer Einheit vereinigen.

Aber ich will nicht damit sagen, wenn ich die alten griechischen Baudenkmale lobe, daß man, wie man es zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts getan, zu Napoleon des Ersten Zeit und später, die griechische Säulenwelt nachgeahmt bei uns aufstellen soll.

Ich möchte nur darauf hinweisen, daß, wenn wir eine befreite festliche Innerlichkeit, mit der der Grieche das Alltagsleben in jedem Augenblick auffaßte, auch bei uns wirken lassen wollen, so werden wir dann auch zu geistig freieren Bauwerken, unserem Klima angepaßt, zu einem edlen, unveränderbaren feststehenden Stil kommen.

Eine festliche Weltanschauung wird alle Künstler verinnerlichter und vereinfachter arbeiten machen. Sobald das Leben von den europäischen Völkermassen nicht bloß als eine Pflicht oder gar als sündiges Jammertal oder als ein Durchgangsaufenthalt zu einem besseren Leben aufgefaßt wird, wird sich alles Menschenleben natürlicher und künstlerischer gestalten als jemals.

Wenn die Völker von der zweckmäßigen, daseinsklugen Weltfestlichkeit aller Leben, also auch von der Festlichkeit der Menschenleben, durchdrungen und überzeugt worden sind, wird der Kunstsinn festlich befreit sein.

Ebenso wie die Griechen, so hat man auch lange Zeit die Japaner nur vom Standpunkt einer schmachtenden Schönheitsschwärmerei aus bewundert. Man verstand nicht, wie herrlich nützlich in erster Linie alle Gebilde sind, die diese beiden Völker hervorbrachten, und die zuerst den Zweck erfüllen und bei wunderbarer Zweckdienlichkeit eine selbstverständliche Schönheit bieten.

Eine Bauernfrau im schlichten Arbeitskleid und jeder Arbeiter in seiner Arbeitstracht, die zweckdienlich erfunden wurde, wirken künstlerisch und zeitgemäß und sind nicht stimmungsstörend für den Künstler.

Zweck und Geist verhöhnend aber sind die heutigen, zerstückelten und zusammengenähten, sinnlosen Modekleider der europäischen Frauen. Grauenhaft verirrt ist das europäische Frauenkleid von heute und ist nicht mehr die kluge nützliche, schöne irdische Hülle für den schönen irdischen Frauenleib.

Die Japanerin, die Chinesin, die Araberin sehen ihr Kleid noch mit gesundem und klugem Natursinn als eine feierliche, zweckmäßige Umhüllung an.

Das europäische, zweckwidrige, schönheitswidrige, unedle, unsinnig zusammengestellte Modenungeheuer, das man nicht mit dem edlen Namen Frauengewandung benennen darf, ist ein Ergebnis dumpfer, verjährter und überwundener Weltanschauung.

Und auch die europäische Männerkleidung beengt den Körper, wirkt zerstückelt und ist zeitraubend beim Anlegen. Sie besteht aus viel zu viel einzelnen Teilen und Teilchen.

Der Menschenkörper aber soll eingehüllt und nicht eingezwängt werden.

Wie man ein einziges Einpackpapier um einen Gegenstand wickelt, den man einhüllen und so geschützt heimbringen will, so wird von Chinesen und Japanern der Körper des Menschen bei der Kleiderfrage behandelt.

Man preßt den Leib nicht ein und behängt ihn nicht mit zehnerlei Lappen und Läppchen, nicht mit drückenden Knöpfen und mit überflüssigen Litzen, Kragen, Krawatten. Der Asiate hüllt den Leib wie einen kostbaren Gegenstand weit und reichlich und doch sorgfältig ein, ohne die Glieder herauszuschrauben oder sie zu beengen. Der Asiate läßt seinem Leib in der Hülle Bewegungsfreiheit, er behandelt seine Glieder gütig und selbstverständlich verständig und liebevoll.

Man betrachte nur die Bilder der Japaner und Chinesen, die seit Jahrhunderten die Frauen immer im gleichen Kleide zeigen. Jene Völker sind nicht müde geworden, dieses selbe Kleid immer wieder zu sehen.

Man nahm an dieser Kleidung nur kleine Abwechslungen in den Stoffmustern vor, von Jahrhundert zu Jahrhundert kaum merkbar. Unsere Frauenwelt aber ist von einer Kleiderkrankheit, von einer Kleiderverwandlungssucht besessen. Teils bewirkt dieses die kaufmännische Gewinnsucht der Männer, teils hysterische Eigenliebe der Frauen, die sich gegenseitig zu unsinnigsten gehetzten Formen anspornen.

Wenn aber einmal Frau und Mann sich nicht mehr belügen und sich nicht mehr als den Gipfel der Schöpfung betrachten, sondern sich als Weltallmitglieder sehen, dann wird die Eitelkeit edlere Wege gehen. Diese aufgeklärten Menschen werden den Modeirrsinn verschmähen, und die Körper mit natürlichen Gewändern zweckdienlich, vornehm und freudig verhüllen, statt den Leib mit Stückwerk überreizt, unbequem, unschön einzupressen oder zu behängen.

Das chinesische Kleid, das weite Beinkleid, der ärmelweite, hemdartige chinesische Rock, könnte auch für uns Europäer eine Zukunftskleidung werden. — Die künftige Frau wird zugleich wie der künftige Mann die Schöpferkraft des ganzen Weltalls in ihrem Herzen als ewigen verantwortlichen Besitz und als unendlichen festlichen Widerhall fühlen. Diese dann nicht nur persönliche, sondern weltallfestlich gestimmte Zukunftsfrau, die im Garten und in der Natur, in der Gesellschaft, im Haus und bei der Arbeit, bei den Künsten und bei den Weisheiten ihres Volkes freudig und befreit aufgewachsen ist, diese wird sich ganz von selbst scheuen, sich unedler zu kleiden als die Griechinnen es taten, unedler als die Frauen der sinnenweisen Völker Asiens es tun.


Ich erlaubte mir die griechische Reise mit dieser Betrachtung zu unterbrechen, da ich, wie ich nochmals wiederholen möchte, in diesem Buch Gedankengut aus meinen Wanderjahren geben will und nicht nur Ereignisse. Ich möchte im Anschluß an die europäische Kleidungsfrage daran erinnern, welches Aufsehen in den neunziger Jahren Tolstois „Kreuzersonate“ machte. Der Dichter eiferte in diesem Werk gegen die Schamlosigkeit unserer Frauenkleidung, gegen die das Fleisch ausstellenden Ballkleider und gegen das Stahlgerüst, das damals den Frauen die Rippen einpreßte und die Brüste und Hüften herausdrückte.

Wie recht hatte der große Mann! Wie werden die europäischen Frauen von allen asiatischen Völkern verachtet, weil sie der Öffentlichkeit Reize enthüllen, die nur der Liebesstunde und dem Geliebten gehören sollen.

Das ist nicht Festlichkeit des Lebens, eine schamlose Ausstellung der Reize. Das ist hurenhafte Festlichkeit. Und sie mag gut sein auf dem Sinnenmarkt, dort wo die Frau ihren Körper verkaufen will, in den Häusern und Stadtvierteln der Freudenmädchen. Aber nicht einmal auf den japanischen Mädchenmärkten wagt die Dirne Japans mehr als ihr Gesicht und ihre Hände öffentlich zur Schau zu stellen.

Würden wir alle nackt gehen und würden alle Sinnenverrichtungen wie die Tiere unter freiem Himmel und vor allen Menschen ausüben, das wäre unschuldiger und schamvoller als es diese berechnende, halbe Enthüllung auf den heutigen Bällen der Europäer ist. Gebietet es die Sonnenhitze, das Baden im Meer, die Hitze im heißen Süden, daß die Frauen ähnlich den Indierinnen nur halb verhüllt gehen, so ist dann dieses Sichenthüllen natürlich und dort durch Zweckmäßigkeit geheiligt und unschuldig zu nennen.

Aber in unserem kalten, kühlen Klima, in unserer nüchternen Winterwelt, ist es Wahnsinn und Schamlosigkeit, wenn die Männer sich gegenseitig ihre Frauen in den Gesellschaften mit entblößten Brüsten und nackten Armen zuführen.

Ich meine nicht, daß die Frau ihr Gesicht verhüllen soll wie die Mohammedanerin. Das Gesicht soll niemand verstecken, aus dem Geist sprechen soll und das Herz.

Die Chinesinnen und Japanerinnen gehen seit Jahrhunderten schlicht und vornehm mit offenem Gesicht und schön frisiertem Kopf, ohne Hutaufputz, auf ihren Straßen umher und in ihrem Hause. Nur die Tänzerinnen und die öffentlichen Mädchen kleiden sich in schreiende Farben.

Da dieses Volk in seinen nördlichen Provinzen in ähnlichem Klima lebt wie wir, und wie wir bei Regen, Sonne und Schnee aufgewachsen ist, soll man nicht glauben, daß wir uns nicht auch an jenen Kleidertrachten ein Beispiel nehmen dürften. Denn jene Tracht der Chinesen und Japaner eignet sich auch für unsere europäischen Witterungsverhältnisse und ist für unsere Männer und Frauen nützlicher und zweckdienlicher, als die heutige europäische Tracht es ist.

Wer es nur einmal in seinem Leben versucht hat, ein japanisches oder chinesisches Kleid anzulegen, der wird den wunderbaren Genuß nicht vergessen können, den ihm diese schöne, vornehme, kleidsame, gesunde und behagliche Umhüllung bereitet hat.

Sowohl die Anzüge für die Männer als die Trachten für die Frauen sind in jenen Ländern für beide Geschlechter aufs Sinnvollste ausgedacht. Kein Druck eines Hakens oder Hornknopfes, keine Beengung und Ermüdung fühlt der Körper in dieser einfachen harmonischen und lebensfestlichen Gewandung. In diesen Hüllen bleibt der Mensch ein unbeengter Mensch.

Diese Kleider treiben den, der sie trägt, nicht an, mit sich selbst in eitlem Unfrieden, in eitler Wechselsucht und unnützer Unbequemlichkeit zu leben. Diese weiten Kleider in ihrer einfachen Schönheitslinie bedeuten, weil sie zweckmäßig sind, beim Tragen und Anlegen eine Kraftersparnis für den Körper und für das Leben eine Zeitersparnis.

Ich bin mir in Japan und China in meiner europäischen Kleidung, die beengend, ermüdend und von den Schneidern unfrei ausgetüftelt ist, mit ihren vielen Knöpfen und Knopflöchern, mit der unmännlichen Krawatte und den vielen anderen Unbequemlichkeiten, belastet und ungeheuerlich vorgekommen unter den schlicht und zweckmäßig, bequem und vornehm umhüllten Chinesen und Japanern. Ich erschien mir unfreudig und unsinnig gekleidet.

Wir belächelten bisher nur das Fremde an der aus der Fremde kommenden Tracht der Chinesen und Japaner. Aber wir versuchten niemals diese Trachten auf ihren Lebenssinn, auf ihre Bequemlichkeit, Sparsamkeit, Einfachheit und Zeitersparnis hin genau zu prüfen. Man könnte sehr wohl bei uns zur allgemeinen Erleichterung und zum allgemeinen Wohlbefinden sowohl jene Trachten der asiatischen Männer als die der asiatischen Frauen zur Grundlage für eine neue europäische Tracht annehmen und einführen.

Schnelle Zeitungsschreiber verbreiten bei uns fortgesetzt die Nachrichten, in Japan und China kleide sich jetzt die Bevölkerung europaähnlich. Dieses ist nur insoweit wahr, als es sich auf das Militär, auf die Beamtenwelt und die mit Europa verkehrenden Diplomaten bezieht. Das chinesische und japanische Volk aber, der chinesische Handwerkerstand und der Bauernstand, von denen Millionen in Japan und China leben, diese denken nie daran, ihre Kleidung, die ihre Urväter ihnen so bequem, gefällig, sparsam und zweckdienlich erdacht haben, aufzugeben.

Mein japanischer Reiseführer, ein gebildeter Japaner, trug europäische Kleidung. Aber wenn er abends das Hotel betrat, so vertauschte er gleich die ihn belästigende europäische Tracht mit seiner schönen unauffälligen, schlafrockartigen Gewandung.

Als ich ihn einmal fragte, warum er das tue, sagte er höflich: zum Billardspielen würde er auch zu Hause im Hotel die europäische Tracht anbehalten. Dazu sei sie sehr bequem, da der weite japanische Ärmel das Billardspielen erschweren würde. Aber sonst sei ihm die japanische Tracht bequemer.

Ich mußte lachen und ihm recht geben, wie ich in so vielem den Asiaten recht geben mußte, ihnen, die wir Europäer in unserem grünen Schuldünkel so oft mißverstehen und ungefühlt und ungerecht und unverständig beurteilen. —


Eines Abends bestiegen wir in Piräus ein Schiff, das uns in der Nacht durch die Schleusen des Isthmus von Korinth und durch die korinthische Meerenge am nächsten Morgen nach Itea bringen sollte. Itea ist eine Landungsstelle am Fuße der Bergmasse, auf welcher die Ruinenfelder des heiligen Delphi ausgebreitet liegen.

In dieser Nacht schlief ich nur wenige Stunden und träumte wachend, am Schiffsgeländer sitzend. Griechische und türkische Kaufleute, mit ihren Familien, hockten schlafend, in Mäntel und Decken eingewickelt, in der warmen Frühlingsnacht auf dem Verdeck. Von der friedlich schlummernden Menschenherde sah man im Mondschein nur Knäule, und das Schiff glitt mit den Schlafenden wie ein großes schwimmendes Bett durch das mondglänzende Wasser.

Ich saß am Schiffsgeländer und beobachtete unseren Weg, der, als der Schiffskörper in die hochgemauerten Schleusen kam, einer Fahrt durch gemauerte Kellerräume glich. Der Mond ging treu am Himmel über dem Schiffsmast mit, es war auch, als sänke er mit dem Schiff von Schleuse zu Schleuse tiefer.

Wie wissen die Neuzeitmenschen sich die Wege zu kürzen! Wie sind sie unglücklich von der Endlichkeit aller Wege durchdrungen! Tausende und tausende Jahre lang nahmen die Menschen das Leben breit, machten auch Umwege, weil sie immer am Anfang und Ende der Wege zugleich waren. Wir aber sehen heute nur das Ende aller Wege vor uns. Der Anfang ist abhanden gekommen, der Weganfang fehlt, der sich immer wieder dem Ende anschließt.

Eine Eintagsfliege lebt nicht kürzer als ein Mensch, der hundert Jahre alt wird. Die Fliege erlebt ihr Leben, das für die Form des kleinen Wesens so unendlich viel ist, wie es die hundert Jahre Menschenleben für die Form Mensch sind. Den Menschen fehlt das Köstlichste heute: die Zeitlosigkeit. Das Gefühl fehlt, das uns sagt, daß nicht bloß das Leben, nicht bloß das Vorwärtsrennen erlebt werden soll, sondern daß Lebensbetrachtung ebenso wie Tätigkeit ein Allestun bedeutet, wenn sie im Geist und im Herzen gepflegt wird.

Ein Europäer von heute braucht eine Zeitung, wenn er nicht arbeitet. Und wenn er die Zeitung fortlegt, braucht er einen Mund oder mehrere Münder, die ihn anreden. Und er braucht um sich Ohren, in die er wieder hineinredet. Und die Europäerin braucht Augen, die sie betrachten, umschwärmen, beneiden. Sie braucht auch auf dieselbe Weise ihre eigenen Augen.

Aber sich selbst brauchen wenige Europäer und wenige Europäerinnen. Und von der Allwelt sind sie überzeugt, daß mit ihr sich die Wissenschaft genügend beschäftigt; und von der Schönheit der Allwelt, von der Innigkeit des Allebens wissen sie, daß diese die Künstler beschäftigt, so wie sie wissen, daß die Schuster sich mit dem Leder und die Schreiner sich mit dem Holz beschäftigen.

Wenn die Europäer Stiefel anziehen oder Möbel hinstellen, tragen sie den Stiefel nicht an ihrer Person, sie lieben sich das Möbelstück nicht an wie ein Kind, das man adoptierte. Die neuen Stiefel sind für die anderen angezogen, die Möbel sind für die anderen hingestellt, so wie die Augen für die anderen da sind.

Sich selbst haben jene, die so tun, nie gefunden. Darum kann man nicht sagen, daß sie sich verloren haben. Nur die wenigsten von ihnen wissen heute, wer sie sind und was sie wollen. Sie wissen aber immer, was alle wollen.

Und sie verwechseln den Willen des anderen mit dem eigenen und halten die Wünsche der anderen für ihre eigenen. Sie hören nicht mehr mit ihren eigenen Ohren, sie redeten niemals mit ihrem eigenen Munde. Sie hören mit geliehenen Ohren, und mit geliehenem Mund reden sie.

Sie sind nur Schattenleben aller jener, die wie sie nur ein Schattenleben führen. So wie der Schatten hastiger dem Körper vorausgleitet, spurlos, bald rechts, bald links, bald vor, bald zurück, am Wege hinstreift, ohne eigentlich den Weg zu sehen, so sind die Herzen jener Europäer heute, die die Hast und die Eile lieben, wenn sie auf den Wegen, an den Dingen vorüberfliegend, achtlos hinflüchten.

Immer sind sie wie Menschen, die, statt vom Berg mit den Füßen herunterzugehen, statt das Land mit den Füßen zu fühlen, sich von den Bergen auf dem kürzesten Weg durch die Luft herunterstürzen. Die Eile, der kürzeste Weg, das ist ihr Lebenszweck. Und sie glauben ihr Leben zu bereichern, indem sie sich eilig mit Endlichkeitsgefühlen anfüllen und anpeitschen, da sie das Größte am Leben, das Wirklichste, das dem Menschen angeborene Unendlichkeitsgefühl, nicht als Wirklichkeit empfinden können.

Sie halten die Ewigkeit, die in uns ebenso wirklich liegt, wie sie in jeder Minute draußen das Weltall unbegrenzt macht, für eine billige Einbildung. Sie bedenken dabei aber, kurzsichtig, nicht, daß ihre Endlichkeit, ihre Wirklichkeit, erst recht eine Einbildung wird, sobald das Menschenleben nicht den unendlichen Widerhall in dem uns angeborenen Unendlichkeitsgefühl findet.

Aber bei der Jagd nach Eile erhält keine Gebärde, kein Erlebnis Widerhall und gibt kein Wesen dem anderen Wesen den Rahmen der Unendlichkeit. Statt einer Musik, statt einer Lebenshymne, die das Schicksal jedes Menschen, zusammengesetzt aus Leid- und Freudetönen, dem inneren Ohr, dem ewigen Ohr vorsingt; statt der ewigen Bilder, die dem inneren Auge, dem ewigen Auge, des Menschen sich täglich hinmalen wollen, bleibt dem Eiligen nur ein Tonlärm und ein Farbenfleckengefühl im Sinn.

Die Menschen von heute haben die Lebensruhe eingebüßt, die jedem Menschen die Erkenntnis gibt, daß er im Innersten zugleich Herr und Diener der Schöpfung ist. Die Lebensruhe hat sich in eine Lebensflucht verwandelt, und die meisten fühlen sich deshalb nur als Lebensknechte.

Einige glauben ihr Ich erst nach dem Tode in einem Himmel oder in einer Hölle wiederzufinden, in einer ausgedachten Peinlichkeit oder in einer erdachten Überschwenglichkeit, für die das Weltalleben keinen Raum hat, und die ein weises Weltschöpfertum nie ausklügelt.

Oder die, die sich aufgeklärt vorkommen, erwarten, daß sie nach dem Tode spurlos verschwinden. Und sie werden spurlos verschwinden, da sie nie waren. Denn ihr Schattenleben ist noch kein Leben gewesen. Und sie waren nur fliegende, hastige, fahrige Schatten auf Erden. Sie erkennen dieses selbst, da sie finden, daß sie spurlos verschwinden werden.

Diese Leben sind so verschieden von wirklichen Menschenleben, wie die Zuckungen eines toten elektrisierten Frosches verschieden sind von den Bewegungen eines lebendigen. Die hastigen Zuckungen der Eile jener Gehirne geben jenen Menschen kein herzliches Leben, und es gehen von ihnen auch keine herzlichen warmen Lebenswirkungen aus.

Nur durch Sichzeitnehmen, nur durch das Verweilenkönnen, durch das zeitlose Sichvertiefenkönnen, nur durch geduldiges Umwegemachenkönnen gelangt der Mensch zu seinen innersten Augen, zu seinen innersten Ohren, zu seinem innersten Mund und auch zu seinen innersten Händen.

Aufnehmen und Wirken geschieht dann im Rahmen zeitloser Ruhe, im Rahmen der dem Menschen angeborenen innersten Ewigkeit. Jede andere Art zu leben, erzeugt gekünsteltes Dasein. Warmblütiges Leben will Weile, Geduld und Vertiefung.

Ein Mensch, der zu langsam ist, der wird nicht soviel Schaden unter den Menschen anstiften als der Mensch, der zu schnell ist.

Betrachtet die Ruhe, die in jedem Kinde wohnt. Wenn der Erwachsene ein Kind nicht erschreckt durch ungeduldiges Antreiben zur Eile, und das Kind noch nicht verdorben ist durch die verderbliche Eilelust der heutigen Menschen, so handelt jedes Kind aus der Weltunergründlichkeit heraus, ruhig vornehm, bedächtig, sich Zeit lassend.

So wie ein würdiger Greis, der zur Weisheit und zum weisen Rückblick des Lebens gelangt ist, Ruhe verbreitet, trägt jedes Kind in sich ein weises stilles Vorwärtsschauen, das sich nicht anders ausdrücken kann als durch Ruhe. Ruhe, die ergründen will und die mit vorsichtigen Tastversuchen zu den ewigen Lebensregeln kommen will, die das Kind innerlich unbewußt als richtig erkennt. Zu diesem Erkennen will jedes Kind seinen noch ungelenken Körper und das noch ungelenke Gehirn mit Ruhe hinführen; sobald es nicht durch Eile und Antrieb verwirrt wird, gelingt jedem in Ruhe geleiteten Kinde die Lebenserkenntnis von selbst.

Immer habe ich gefunden, daß die Schulknaben mehr innere Ruhe und dadurch mehr innere Weisheit besaßen, mehr innere Klugheit als der vom heutigen Leben ungeduldig gemachte, gepeitschte und in seinem Innenleben bereits zerrüttete Lehrer.

Darin besteht die Heiligkeit der Jugend, daß sie noch ein unzerrüttetes Innenleben kennt, das noch nicht schattenhaft geworden ist, wie das Innenleben der Erwachsenen es heute ist. Ich glaube, innerlich können die jetzigen erwachsenen Menschen, die durch den Wahlspruch: Zeit ist Geld und Geld ist Leben, innerlich kurzsichtig und innerlich schwerhörig geworden sind, von den Kindern leichter tiefer sehen und tiefer hören lernen als von ihren eigenen, bereits verdorbenen Augen und Ohren.

Und wie die Ruhe des Kindes aus des Menschen Urkraft kommt, so ist die Ruhe des echten Künstlers aller Zeiten gewesen. Und wie die Ruhe dieser beiden ist die Ruhe der Tiere, ist die Ruhe der Pflanzen, ist die Ruhe aller Weltalleben einem ewigen Weisheitszustand unergründlich angeschlossen. Diesen natürlichen Weisheitszustand verjagt sich der heutige, hastige, nach Zeit und Wegabkürzung und Endlichkeit gierige Europäer. —

Das griechische Volk, das eine so große und edle Vergangenheit hat, hat zwischen Athen und Sparta im Peloponnes, also um den Isthmus von Korinth, seinen Handel jahrhundertelang walten lassen, und seine Schiffahrt bedurfte nicht der Schleusen und des Durchschneidens einer Landenge. Dieses Künstlervolk lebte festlich in Göttermenschenlust und nahm sich Zeit zu seiner Festlichkeit. Den Griechen war ein rascher kluger Blick eigen, ein rasches lebendiges Handeln, aber keine jämmerliche überstürzte Eile. Keine jämmerliche, nervenzerrüttende Lebensjagd störte das große Volk in seiner künstlerischen Hoheitszeit beim Weltallfest. Darum, weil es Zeit zum künstlerischen Genießen hatte, hatte es sich auch in Delphi und in Olympia große Festplätze geschaffen, dieses kleine unsterbliche Volk.


Am frühen Morgen, als das Schiff kurz vor Sonnenaufgang im schattigen Wasser an der Küste entlangglitt, stand das Parnaßgebirge, mit silbrigem Schneeglanz am Gipfel, morgengrau in der frischen Aprilluft. Auf diese Berge hatte ich die lange Nacht gewartet. Hier hatten die griechischen Dichter den Sitz des Dichtergottes Apollo und den Sitz der Freundinnen der Künstler, der neun Musen, hingeträumt. Und was die Künstler träumten, das glaubte ehemals ihr Volk, und es träumte es nicht bloß nach, sondern es lebte es nach. —

Der heilige Ort Delphi liegt auf der halben Berghöhe, den Blick gerichtet zum Musensitz, den Blick gerichtet zum Parnassos, zum Sitz des Dichtergottes.

In Itea, wo morgens das Schiff landete, fanden wir Maultiere und einen Führer. Und wir ritten durch den kleinen Ort, der, weltverloren, vergessen und unberührt, von keinem Reisenden besucht werden würde, wenn nicht die Anziehung der großen Reste großer Künstlerträume, die Anziehung der Ruinen Delphis, einzelne Freunde Griechenlands nach Itea bringen würde.

Außer kleinen Eidechsen am Wege und Ölbaumanpflanzungen begegneten wir, im Morgen hinreitend, nichts als Steinen. Das Klettern unserer bepackten Maultiere schien kein Ende zu nehmen. Und der alte graubärtige Führer, der den Weg in allen seinen Lebensjahren hier geklettert war, hatte uns Fremden nichts zu sagen und auch nicht seinen Tieren, die er nur mit einem Zungenschnalzen manchmal aufmunterte.

So ritten wir denn in diesem Schweigen, das zwanglos und natürlich war, nicht bloß den Berg hinauf, sondern wir kamen mit den hufeklappernden Tieren und mit dem verwitterten Alten unmerklich in die Jahrhunderte zurück. In den zwei, drei Stunden, die der Ritt beanspruchte, legten wir die Wegstrecke von zwei- bis dreitausend Jahren zurück, mühelos und einfach.

Auf der breiten gepflasterten heiligen Wallfahrtsstraße, am Bergabhang, bei Felsblöcken vorbei, bei Aprilwolken, die unter uns hinschwebten, waren wir dann, als das neue Dorf Kastri oben mit unscheinbaren Hütten auftauchte, längst nicht mehr in unserem Zeitalter. Und in der dünnen Bergluft schien das Blut in uns zarter und war in den Adern mehr Lebensgeist geworden als Lebensblut.

Am Wege sahen wir einige Schachte in den Felsen. „Felsengräber,“ sagte der Führer. Und er zog aus seiner Tasche einen kleinen Ring aus Eisenbronze, der mit Plattgold vergoldet war. Es war ein Fingerring, den er in einem Grabe dort gefunden hatte.

Wer hatte ihn getragen? Ein Apollopriester? Oder eine der liedersingenden Frauen im Dienste des Gottes der Dichtung?

Ich kaufte dem Alten den Ring ab. Ein zweitausendjähriges Körperchen war in meine Hand gekommen, auf dem weiten Wege der Vergangenheit eine erste körperliche Begegnung mit der Vergangenheit. Und ich sah das alte Ringlein als einen Willkommgruß Delphis an.

Das Bergdorf Kastri, das da oben liegt, war erst kürzlich, vor einigen Jahren, aufgebaut worden. Die Leute hatten früher auf entfernteren Felsen gewohnt, auf den grün umwachsenen Schutthügeln, unter denen das von verschiedentlichen Erdbeben und Bergstürzen zerstörte und verschüttete alte Delphi gelegen, ehe man die Ausgrabungen begonnen.

Wir hatten eine Empfehlung an den griechischen Vorsteher der Ausgrabungsarbeiten. In seinem Hause bekamen wir dann gegen Bezahlung Wohnung und Beköstigung wie in einem Gasthaus. Er führte uns am Nachmittag zum neuen Dorf hinaus auf der breiten heiligen Straße hin, die früher mit Tausenden von Bildsäulen geschmückt war. Die Kunstwerke waren dann von den römischen Kaisern geraubt und nach Rom und nach Byzanz fortgeschafft worden.

Nach einem Weg von zehn Minuten kamen wir an einen gewaltigen, sanft ansteigenden Berghang, und vor uns lag auf der ansteigenden Ebene, unterhalb einer mächtigen Bergwand, das neuausgegrabene ungeheure Trümmerfeld der vielen delphischen Tempelruinen. Da lagen auch aufgedeckt und gut erhalten mit ihren ansteigenden Sitzreihen die Amphitheater. Da standen noch die weißen marmornen Sessel der delphischen Priesterinnen im Theater; sie waren mit feinen weißen Löwenklauen und mit feinen kleinen Löwenköpfen geschmückt.

Der Rundtempel, in welchem die Pythia, auf dem Dreifuß sitzend, in tiefer Betäubung übersinnliche Gesichte hatte und Orakelworte sprach, war eingestürzt wie die anderen Tempel. Aber in der Mitte des guterhaltenen Tempelrundsteines starrte noch der rötliche Felsenstein aus dem weißen Marmorrund. Und da waren noch die Erdspalten phosphorgrün, aus welchen einst die Schwefeldämpfe gestiegen, die die Priesterin in den Götterschlaf versetzt hatten.

Und viele Dinge, die ich längst vergessen hatte, waren wie selbstverständlich dort noch am Leben. Da war auch noch die eisige heilige Quelle, und ihr Eishauch, aus der Felswand kommend, war noch wie vor Tausenden von Jahren belebend, und das Quellwasser tropfte auf die Steine wie flüssiger Kristall.

Da war, gut erhalten, das große Stadion, viele hundert Fuß lang, mit den Sitzreihen am Berg an der Felswand hingedehnt.

Wie muß es hier einst den jungen Kämpfern hochgemut zu Sinn gewesen sein, wenn sie mit gepflegtem Körper und gepflegtem Geist, mit leiblichem und geistigem Mut den Lorbeer Apollos errungen haben. —

Von der Höhe des Stadions hat man bergabwärts einen vollständigen Überblick über das ungeheure, von silbrig weißen und bläulich grauen Steinmassen dicht bedeckte Trümmerfeld, welches vom alten Delphi einen immer noch gewaltigen Eindruck gibt.

Man stelle sich im bayerischen Gebirge, vielleicht bei Partenkirchen oder Mittenwald, auf einer mehrere Kilometer großen, hoch gelegenen Bergmatte eine eingestürzte Tempel- und Theaterwelt vor. Nirgends sind Städte oder Dörfer rund um diese Bergeinsamkeit sichtbar, nur die Wolken des Himmels steigen aus den Schluchten auf, am Rande dieser verlassenen Trümmerwelt.

So einsam, weltentrückt liegt Delphi. Nur aus einem Taleinschnitt blinkt in der Tiefe, wie eine große Silberbarre, ein Stück des Meeres aus den Abgründen herauf. Vor den fernen und vor den nahen Bergen stehen Wolken wie weiße Marmorrampen und lassen über sich neue Berghöhen im Himmel erscheinen. Höhen, die, von der Erde durch Wolkenfelder abgeschnitten, im Sonnenhimmel wie Erdinseln schweben. Aber die Stufen der Luftrampen der Wolken verschieben sich langsam, und die Nähe verschwindet, und neue, unsichtbar gewesene Berge enthüllen sich, wie herbeigetragen auf neuen Wolkenfeldern. Unmögliches und Wirkliches arbeitet in der Höhe um Delphi vor dem Menschenauge. Erdstreifen werden zu Himmeln, und Luftreiche werden Erdreiche.

Aus dem großen Bergschlund, in welchen die Delphimatte am Rande des Ruinenfeldes, zwischen Ölbaumwäldern, Kastanien, Platanen, Eichen und Birken abstürzt, aus diesem dunkelgrünen Abgrundkessel ziehen die Wolken in Ballen wie ein gärender Urschaum weiß aus dem Talschlund.

Diesen Abgrund nannten die Griechen einst den Nabel der Erde. Hier, sagten sie, hing einst die Erde bei ihrer Geburt mit dem Mutterleib des Himmels eng zusammen, und hier am Rande des Nabels der Erde war deshalb den Menschen das Mutterweltall näher als irgendwo auf der Erde.

Ich konnte mir beim Anblick der sich immer verwandelnden, die Berge verzaubernden und die Berge erscheinen lassenden dampfenden Wolkenwelt gut vorstellen, daß hier das Volk sich einst fortgerückt fühlte, und daß es sich bei den Wolkenstufen fernen Leben, fernen Zukunftsdingen nahefühlen mußte.

Denn das auf- und niederwogende Wolkenheer, in welchem unsichtbare Hände zu arbeiten scheinen, wie Hände von tausend Künstlern, die da im Himmel Heerscharen von schimmernden Kunstwerken gestalten, dieses immer arbeitende Gewölk um Delphi entzückte die phantasievollen Griechen so sehr, daß sie weiße Massen Marmor über Marmor jahrelang herbeischleppten, und daß sie silberweiße Tempel und Schatzhäuser und silberweiße Amphitheater und die silberweiß gepflasterte, breite, heilige Straße auf dem Meilenfeld des Bergabhangs wie ein weißes Wolkenfeld entstehen ließen.

Nur die Erdbeben und die herabstürzenden Bergwände und die Raubgier fremder Eroberer konnten die ragenden, weißen Tempel und diese leuchtenden Tempelstraßen in ein Trümmerfeld verwandeln, das jetzt hell aufgelöst vor mir lag wie ein Bergnebel, der sich verflüchten wollte.

Ich fand da Säulenreihen, die sahen von der Höhe des Stadions wie Reihen hingezählter Mühlsteine aus. Denn die Säulen jener Tempel waren nicht aus einem langen Stein gebildet, sondern aus Rundsteinen, die, ähnlich wie Münzen aufgebrochener Geldrollen, jetzt nach dem Umstürzen auseinandergerollt waren. Säulen, die zwei Männer kaum umfassen könnten, lagen zu Dutzenden auf den Treppen und auf den entblößten, noch schön geglätteten Steinfußböden der einstigen Tempelhallen.

Der Glaube an den Gott der Dichtung, an Apollo und an die neun Musen hatte hier Tausende von Händen von Geschlecht zu Geschlecht bei atemloser Arbeit rege gehalten. Der Glaube an die Notwendigkeit der Dichtungskraft, Glaube an die menschenfreundlichste Kunst und an die erhebendste Lust schuf diese Marmorbauten.

Keinem anderen Gotte als dem der Dichtkunst hatte man in dem griechischen Lande eine so mächtige Stätte bereitet, eine Stätte weltfern und himmelnah, bei den Füßen der Wolken, bei den Füßen der Sonne, bei den Wangen des Äthers und beim Nabel der Erde.

Herrlicher als alle Tempel und Theater, herrlicher als die dreißigtausend Bildsäulen, die Delphi geschmückt haben sollen, war hier in Delphi auf der Berghöhe für die Menschen die Himmelsnähe gewesen, und die Erdtiefe, die sich ins Unbegrenzte, ins innere und äußere Leben der Welt, dem Menschenherzen zu öffnen schienen.

Diese Bergmatte, die zweitausend Fuß über dem Meere liegt und hinter der das Parnaßgebirge noch viele tausend Fuß höher mit senkrechten Bergwänden ansteigt, sie horcht wie eine gewaltige Muschel zum Himmel, als horche hier ein ungeheures Ohr zu den fernen Planeten und Sonnen.

Die nahe graue Silbermasse des getürmten Parnaßgebirges konnte den Gebeten und den Inbrünsten der Pilger ein inneres Echo geben. Diese sonnenbeleuchtete hohe Gesteinwelt führte den Blick zu überirdischen Festigkeiten und gab den Herzen der Delphiwallfahrer Vertrauen auf die jedem Leben eigenen überirdischen Kräfte.

Das Menschenherz, das auf der Höhe in Delphi schneller schlug und in der klaren Luft leichter atmete, kam sich unbebürdet vor und war, den Verwandlungen der Wolken nachträumend, eigenen Verwandlungen, Kräftigungen und Lebensstärkungen leichter zugänglich.

Und die Augen der Menschen, die einst hier zwischen tausend marmornen Kunstwerken wandeln durften, und die Ohren, die die feierliche Musik der Apollohymne — deren Text man, auf Steinen eingegraben, vor kurzem erst wiedergefunden hatte — genießen durften, diese Augen und Ohren fühlten sich unwillkürlich glücklich. Frieden und Schönheit, von Künstlern geschaffen, walteten einst hier und wurden vom Landschaftshintergrund ins Unendliche gesteigert.

Die Wanderer, die einst auf den heiligen Tempelstraßen von Unwirklichkeit erfüllt und erschüttert wurden, stärkten hier beim Sitz der neun Musen ihr Herz, das mit Sorgen der Endlichkeit gekommen war. Und von Apollo verwandelt und verwandelt von der Hoheit der neun Kunstfreundinnen, kamen die Menschen zurück von Delphi, als stiegen sie verjüngt und bürdelos vom Himmel nieder zu ihren Menschengeschäften zurück.

So können Kunst und Natur gewaltig trostreich und lebensbestärkend Menschen und ganze Völker innerlich erhöhen.


In einem Schuppen sah ich auch den kegelförmigen Marmorblock, der den Nabel der Erde darstellte und der in einem Tempelinnern gestanden. Dieser fast mannshohe Block war schön geglättet und zugespitzt, und rundum befanden sich in seinen Marmor eingemeißelt Vögel, Blumen, Trauben, die fröhlichsten Dinge, die, von der Erde erzeugt, dem Menschenherzen Genuß bereiten.

Mein Reisegefährte und ich, wir waren im Jahr 1898 zwei der wenigen Deutschen, die das neuausgegrabene Delphi zu sehen bekamen. Wir durften aber mit unseren Taschenapparaten noch nichts photographieren und keine Zeichnungen in unsere Skizzenbücher machen. Alles das war untersagt. Am ersten Tag hatte uns der Leiter der noch nicht beendeten Ausgrabungen selbst durch die Ruinen geführt.

An den anderen Tagen, als wir das Ruinenfeld allein besuchten, folgten uns griechische Soldaten, die jeden Fremden als Wache begleiten und streng darauf achten mußten, daß nicht photographiert und nicht gezeichnet wurde. Die Franzosen, die das Geld zu den Ausgrabungen gegeben hatten, und die das alleinige Grundrecht über die Ruinenfelder noch einige Jahre besaßen, ließen damals Fremde nur ungern zur Besichtigung zu. Sie wollten zuerst die ersten Berichte über das neu ans Tageslicht zurückgekehrte Delphi herausgegeben haben. —

In der Nacht in Delphi lag ich auf meinem Kopfkissen mit offenen Augen fast ununterbrochen wach und starrte zu dem weit offenen Fenster meines Zimmers hinaus, wo der Mond wie ein goldener Gott im Himmel saß und die Wolkenfelder, die zu ihm heraufzogen, wie weißen Ton in große Formen zu kneten schien, und der dann diese Bilder zerbrach und zerstreute und unaufhörlich wieder neue Wolkenbilder auftürmte.

Es war heute nicht anders als in den Mondnächten vor zweitausend Jahren, da die Priester und die Pilger zu dem Mond geschaut haben mögen, der da über dem Weltschlund, über dem Nabel der Erde schwebte wie ein Gedanke, der aus der Unergründlichkeit glänzend auftaucht und leuchtet.

Mein Reisegefährte hatte mich am Abend gefragt, ob ich mir hier bei Delphi ein Bauernhaus im Dorfe Kastri bauen oder mieten wollte. Ich hatte nicht gewußt, was ich antworten sollte. Innerlich war ich ergriffen von der Landschaftsherrlichkeit, aber zugleich auch erschüttert von der Fremdheit.

Und als ich jetzt in der Nacht schlaflos und überlegend in die wühlenden Wolkengebilde sah, die draußen wie eine Wolkenvölkerwanderung über den finsteren Bergtälern bald senkrecht zum Mond aufstiegen, bald seitlich vom Mond fortflüchteten, da wurde ich von einem Weinkrampf geschüttelt.

Ich grämte mich, weil ich nicht wußte, wo ich mich niederlassen sollte. Ich war todunglücklich, weil ich auch hier an dem weihevollsten Ort Griechenlands, bei dem Gedanken des immer Bleibensollens auf dieser weltfernen Berghöhe, bei einer toten gestürzten Säulenwelt, bei den Resten einer toten gestürzten Idealwelt, mir heimatlos vorkam.

Es war mir, als wenn ich mir zugemutet hätte, ich sollte mein Haus mitten in einen fremden Friedhof zwischen Grabsteine hinstellen und dort mit meiner Frau dann Liebe und Dichtung pflegen.

Hier in Delphi waren zwar keine äußeren Schrecken wie in Mexiko. Hier waren herrliche Vergangenheitsträume. Hier waren keine Räuber wie in Mexiko, keine goldgierigen. Aber die Vergangenheit war hier gegen mich räuberhaft. Gegen die Größe und die Hoheit der ungeheuren griechischen Traumreste, gegen das Geschaffene, das hier bereits aus dem Erdboden alle Kräfte gezogen hatte, hätte ich hier stündlich ankämpfen müssen, dabei hätte ich aber nicht Frieden finden können für mich selbst, nicht Frieden und Kräfte für neue Wege.

Es war hier, als sollte ich in den Grüften bei den Särgen großer Ahnherren frische Luft suchen. Die Erinnerungen waren hier zu stolz und zu selbstherrlich. Der Stolz und die Herrlichkeit jener künstlerischen Ahnen unserer heutigen europäischen Kunstwelt beklemmten mir die Luft und die Lebenslust meiner Gegenwart und meiner Zukunft. Meine Gedanken wollten auf diesen Wegen hier nichts vom Morgen und nichts vom Werdenden und Zukünftigen wissen. Sie wurden immer zurückgerollt statt vorwärts, und sie weilten in verklärter tausendjähriger Vergangenheit und befanden sich dort wie in einem hypnotischen Zustand.

Ich war verzweifelt, da ich einsah, wenn Delphi mich nicht zum Bleiben locken könne, dann würde mich wahrscheinlich kein anderer Platz in Griechenland zum Niederlassen locken.

Der künstlerische Lebensernst, der einst hier gelebt hatte, gab mir aus den delphischen Ruinen deutlich eine Offenbarung: nur in deiner engsten Heimat wirst du künstlerische Kraft finden! Nicht im Auswandern, sondern im Heimkehren liegt dein Heil! —

Und als der Morgen kam und meine verzweifelte Gedankenwelt in meiner Stirnhöhle stiller wurde, so wie der Wirbel von Hell und Dunkel da draußen im Wolkenhimmel stiller wurde, sagte ich mir: ich will jetzt nur noch nach Arkadien auf die andere Seite des korinthischen Meeres hinüberreisen. Vielleicht finde ich dort in einer schönen Landschaft, wo keine Ruinen den Geist ablenken, ein Landhäuschen, wie ich es mir immer, in ländlicher Stille fern von der Kultur, erträumt habe.

Nach jener durchkämpften Nacht konnte ich dann zu meinem Reisegefährten sagen, daß ich nicht in Delphi bleiben könne, und daß ich mich nicht weiter mit der Hausfrage und Niederlassungsfrage hier in Delphi abgeben wolle.

Den ganzen Tag vorher hatte ich immer beim Wandern durch die Tempel meinen Reisezweck aus dem Auge verloren, und nur als wir abends die Ruinen verlassen hatten und ins Dorf Kastri zurückgekehrt waren, hatte ich mich wieder an den eigentlichen Sinn meiner griechischen Wanderung von meinem Reisekameraden erinnern lassen müssen. Dann erst, durch das Erinnern, war im Abend Unruhe über mich gekommen: für welchen Erdenfleck soll ich mich entscheiden? Soll ich wirklich meine Heimat hier in Delphi aufschlagen? — Nun aber nach der gedankenstürmischen wachen Nacht wußte ich, daß ich weiterreisen und weitersuchen wollte.

So hatte ich auch bereits in Athen mit mir viele Selbstgespräche geführt. Denn jeden Schritt, den ich in Griechenland bisher getan, tat ich nicht wie ein Vergnügungsreisender, sondern immer wie ein Auswanderer, der heimatlos eine Heimat sucht.

Ich beneidete oft meinen Reisegefährten, der neben mir sorglos und frühlingsfröhlich eine schöne Studien- und Vergnügungsreise machte, während ich, voll Enttäuschungen von Mexiko kommend, die ernsten Gedanken um meine Lebenssorge und die Sehnsuchtsgedanken nach meiner Frau immer zwischen den Zähnen zerbiß, als kaute ich an einer bitteren Wurzel, die ich verschlucken sollte und nicht verschlucken konnte. —

Wie wir wieder auf den Maultieren hinunterreiten sollten nach Itea, war mir nach kurzer Strecke das Sitzen auf dem bepackten Tier, das mühselig und vorsichtig abwärts stieg, zu langweilig. Ich sprang ab und lief voraus über das vieltausendjährige Pflaster der heiligen Straße. Es war mir dann, als lachten meine Schritte fröhlich, weil ich nicht oben in Delphi bei dem alten Ruinenfeld geblieben war, und weil ich nicht mehr daran dachte, mich in jener Fremde niederzulassen.

Und die riesigen alten Quaderplatten der Straße, über die vielleicht einmal Homer nach Delphi gewandelt war, und die unter seinen Schritten geklungen hatten damals, wie heute unter unseren Schritten, besprachen sich mit meinem Herzen, während ich eilig bergabwärts schritt.

„Deine Füße sind nicht hier gewachsen und nicht dein Leib,“ sagten die Steine der heiligen Straße zu mir. „Darum wird auch das Brot des Landes deinen Hunger nicht sättigen können, und das Wasser des Landes wird deinen Durst nicht löschen können, und die Luft des Landes wird dir keine Ruhe bringen können, dir Fremden. Männer erstarken nur im Lande ihrer Väter. Sie sollen mutig wandern, aber der Weg des Mannes soll von der Heimat zur Heimat zurückführen.“

„Ihr Steine habt recht,“ sagte mein Herz. „Ihr fühlt zart und fein wie nur warmes Blut fühlt, und ihr redet wahr und aufrichtig wie nur gutes Blut redet.“

„Dann soll auch diese Reise umsonst sein?“ schrie mein Verstand dazwischen. Und es war mir, als gäbe mir der Schreier einen unsichtbaren Schlag ins Gesicht, so daß ich rot und blaß vor Scham wurde. „Soll dein Geld unnütz verreist sein? Sollen dich deine Freunde für einen Narren erklären? Nein, wir kehren nicht um! Blut und Herz sind immer weichlich unverständlich. Wir müssen hier in diesem Lande jetzt ein Haus finden. Haben nicht Tausende die Heimat verlassen? Der Verstand eines Menschen von heute darf nicht heimatsehnsüchtig empfindsam sein. Ich bin härter als ihr alten Steine. Und diese Füße sollen vorläufig noch nicht daran denken, zur Heimat zurückzulaufen.“

„O unheiliger Verstand von heute!“ rief es aus den Pflastersteinen der heiligen Straße. Und mein Herz schwieg verschüchtert.

So kämpfte und wogte es in mir. Kein Weg machte mich müde in meinen Gliedern, aber die Unklarheit über meine Zukunftswege machte mich müde in meinem Herzen und am ganzen Leibe.


Ein Dampfschiff brachte uns dann am Nachmittag hinüber ans andere Ufer der Meeresenge, und von dort fuhr uns ein Zug nach Patras. Aber hier muß ich einen kleinen erlebten Scherz erzählen, der das griechische Volk gut kennzeichnet, das geneigt ist, immer in der Unbegrenztheit der Phantasie zu leben.

Am Schalter des kleinen Bahnhofs, an dem wir Fahrkarten nehmen sollten für den Zug, der von Athen erwartet wurde und der uns nach Patras bringen sollte, fragten wir — uns in französischer und englischer Sprache verständigend — den Schalterbeamten, ob wir, anstatt mit diesem Zug zu reisen, der erst in einer Stunde von Athen hier erwartet wurde, nicht mit einem früheren Zug fahren könnten.

Der Beamte nickte eilfertig und höflich. „Das ginge schon.“ Wir waren erstaunt und konnten nicht begreifen, warum er es uns nicht gleich gesagt hatte, daß es einen früheren Zug gab. Wir forderten natürlich nun für den früheren Zug Karten. Ungefähr nach zehn Minuten könnte der Zug abgehen, sagte der Beamte. Er würde uns dann die Karten auf den Bahnsteig bringen.

Wir fanden es etwas eigentümlich, daß man uns nicht gleich die Karten geben konnte, aber wenn man viel reist, wundert man sich nicht mehr laut, und so schwiegen wir, nickten und gingen dann plaudernd auf dem Bahnsteig auf und ab.

Nach zehn Minuten, als der Mann noch nicht kam und auch kein Zug sichtbar wurde, plagte uns Ungeduld. Wir warteten noch eine Weile und gingen dann zum Schalter. Dort nickte uns der Beamte wieder zu und sagte, er hätte die Berechnung gleich fertig.

Wir begriffen nichts. Aber da wir in fremden Sprachen redeten, glaubten wir, weiter geduldig sein zu müssen, und gingen wieder auf dem Bahnsteig auf und ab.

Kurz darauf suchte uns der Beamte auf. Er hielt ein Aktenpapier in der Hand und las davon ab, daß der Fahrpreis für den Zug nach Patras vierhundertundfünfzig Francs betragen sollte. Wir möchten das Geld hinterlegen, sagte er freundlich. Dann würde er die Wagen von der nächsten Hauptstelle telegraphisch bestellen, da hier keine Wagen für einen Extrazug vorrätig wären.

Wir sahen einander erstaunt an und mußten natürlich hell auflachen. Der Grieche hatte geglaubt, wir wünschten einen Extrazug zu nehmen, weil wir vielleicht zu vornehm wären, um auf den athener Zug zu warten. Denn fremde Reisende wurden damals, da nur wenig Ausländer in Griechenland unterwegs waren, entweder für reisende Prinzen oder für amerikanische Milliardäre angesehen. —


Der Hausdiener unseres Hotels in Athen, der öfters Reisegesellschaften durch den Peloponnes führte, hatte uns seine Visitenkarte an den Hausdiener des Hotels in Olympia mitgegeben, denn dieser war ebenfalls Reiseführer.

Am nächsten Morgen kamen wir von Patras aus, wo wir übernachtet hatten, in Olympia an. Dort nahmen wir den empfohlenen Führer und Maultiere und ritten durch die Landschaft von Arkadien nach Süden gegen Kalamata. Eine Tagreise vor Kalamata verabschiedete sich der Führer, der uns drei Tage begleitet hatte, und an seine Stelle trat ein griechischer Bauer, der uns nach Kalamata brachte, wo ein dritter Mann ihn ablöste und uns über den Gebirgspaß, immer noch auf Maultieren, nach Sparta führte.

In Sparta ruhten wir zwei Tage aus und nahmen dann einen Wagen nach Tripolitza. Dieser Ort ist eine Stadt mit türkisch-griechischer Bevölkerung. In Tripolitza übernachteten wir und fuhren am nächsten Tag nach Nauplia und von dort nach Epidaurus, wo wir wieder übernachteten und am Tage darauf mit einem Wagen nach Nauplia zurückkehrten. Von Nauplia führte uns ein Eisenbahnzug nach Mykene, wo wir nur einige Stunden beim Löwentor, im Palast des Agamemnon und am Grab der Klytämnestra weilten. Dann fuhren wir mit der Eisenbahn, ohne auszusteigen, über Korinth nach Athen zurück.

Wir waren zwei Wochen auf dieser Rundreise von Athen nach Delphi und durch den Peloponnes unterwegs gewesen, als wir zum Osterfest am athener Bahnhof ausstiegen.


Meine Aufmerksamkeit hatte sich hauptsächlich, als wir nach Olympia kamen, in Gedanken auf Arkadien gerichtet.

Die dunkelgrauen Ruinen von Olympia liegen versteckt, von kleinen grünen Anhöhen eingeschlossen, und die Landschaft umher hat nicht das Großzügige, nicht das Erschütternde, nicht das sich unaufhaltsam Verwandelnde wie die von kreisenden Wolkendämpfen umwanderte hohe Gebirgsmatte von Delphi. Aber gewaltig, irdisch trotzig und machthaberisch lagen in Olympia, beim lieblichen Herahügel, die wuchtigen Säulen des Zeustempels. Und da stand auch noch der mächtige Sockel, der einst das herrliche Laokoonbildwerk getragen, das jetzt in den Sammlungen des Vatikans in Rom steht.

Außer den machtvollen Gebäuderesten, die in dem kleinen Hügeltal durch die deutschen Ausgrabungen aufgedeckt lagen, war um Olympia nichts Reizvolles zu finden. Und ich sehnte mich, fortzureisen von den grauen trüben Steinmassen, die nicht festlich leuchteten, und die in lieblicher Landschaft Träumern glichen, die sich auf grünen Rasen hingelegt haben und gutmütig mit dem Erdboden verschmelzen wollen und, von gütigem Grün und Sonne zugedeckt, davon träumen Erde zu werden.

In dem kleinen Hotel, das das einzige Haus in Olympia war, saßen an einem Ende des langen Mittagstisches neun deutschsprechende Professorenfrauen. Sie waren auf einer Italienreise von Brindisi herübergekommen und hatten zusammen einen Abstecher nach Griechenland gemacht.

Damit wir den neun, unaufhörlich redenden Frauenzungen nicht preisgegeben wären, unterhielten wir uns, am anderen Ende des Tisches sitzend, in raschem pariser Französisch. Ich muß aber gestehen, auch dabei war wieder nur mein Verstand Tyrann über mich. Mein Herz wimmerte und lechzte nach den deutschen Heimatlauten, die vom anderen Ende des Zimmers kamen. Und ich wäre gern zu den neun alten Damen hingerückt, wenn auch ihre Zungen unausgesetzt wie Strickstrumpfnadeln bei der Sprecharbeit klapperten.

Ich war schon ganz müde von dem Suchen in der Fremde nach einem Haus. Meine Ohren horchten darum entzückt auf deutsche Frauenworte. Ich hatte deutsche Frauen seit der raschen Reise nach Petersburg, seit dem kurzen Aufenthalt am Berliner Bahnhof Friedrichstraße, seit dem Begräbnis meines Vaters und seit der Rückkehr von Mexiko, nun fast ein Jahr lang, nicht mehr unverfälscht sprechen hören.

Als wir am nächsten Morgen früh um drei Uhr in Olympia vom Hotel fortritten, vom Führer begleitet, um tief in den Peloponnes hineinzuwandern, tat es mir leid, daß die neun Professorenfrauen noch schliefen und ich nicht mehr zum Abschied die neun deutschen Frauenstimmen hören durfte, die zwar so gar nicht zu der griechischen olympischen Stimmung der Tempelruinen hingehörten, die aber meinem Herzen ein wenig den Heimathunger und den Heimatdurst besänftigt hatten.

Es war in der ersten Hälfte des April, als wir durch den Peloponnes ritten. Aber außer den unzähligen Anemonen, deren es feuerblaue, rosenrote, rosige und schneeweiße gab, fanden sich im jungen Gras der kühlen Wiesen noch keine anderen Blumen. Diese farbigen Anemonen, deren schwarze Staubfädengruppe aus der hellen Blütenkrone wie eine dunkle große Pupille in einem Auge aufsah, betrachteten uns von allen Wegen in dem Peloponnes, auf den Berghöhen und im Talgrün.

Diese jungen Anemonenblumen, die vielleicht erst eine Woche alt waren und vielleicht nach einer dritten Woche schon verblüht sein würden, hatten einen unergründlichen Festblick und beleuchteten mit ihrer kurzen Lebensfreude die mühseligsten Höhen, die unsere Bergpferde erklettern mußten. Mir schien aber, die jungen Blumen kannten alle Freuden der Welt. Sie freuten sich in ihrem dreiwochenkurzen Leben mehr, als die Menschen sich in einem hundertjährigen Dasein freuen können.

Den Blicken dieser frohen Anemonen verdanke ich es, daß ich nicht in bittere Verzweiflung über mich selbst geriet. Denn mein Auge wurde immer salzig, wenn ich an meine ferne Frau dachte, die so weit von mir fort, in Schweden, am äußersten Ende Europas, im Norden weilte, während ich hier am äußersten Ende Europas, im Süden, auf einem Pferd kaum auf der Erde ritt. Denn der Boden unter den Hufen des Tieres, das mich trug, gehörte kaum noch der Gegenwart an. Er war das verschollene Vaterland eines untergegangenen großen Volkes.

Ich ritt hier nicht im April im Jahr 1897. Ich ritt hier im April eines Jahres, das Hunderte von Jahren vor Christi Geburt vor mir blühte. Auf den Wegen erzählten die wochenjungen Anemonen von den Augen der jungen Griechen und Griechinnen, die einst in jedem vierten Jahr von allen Teilen des Peloponnes, im Festjahr und zu den Kampfspielen, nach Olympia gezogen waren.

Die Urmutter Erde gibt alle ihre Erinnerungen ihren Blumen am Wege mit. Und der Himmel, unter dem sich die Blumen für ein kurzes Hochzeitsfest erschlossen haben, das ihnen Geburts-, Liebes- und Todesfest zugleich ist, bestätigt die Erinnerungen, die der Himmel mit der Erde austauscht. Nichts ist vergessen, was da, an die Erde antönend, vorübergewandelt ist, auch nicht der Blick eines Auges, der eine Blume am Boden streifte. Alles lebt ewig im All, unversunken und erwachend, wenn es sich gerufen fühlt.

So wie die Graswege jetzt hier unter hohen Ahornhainen, unter schönen hochgeschwungenen Platanen, bei blendendweißen stattlichen Birkenstämmen, mit den vielfarbigen Scharen der Anemonen bevölkert waren, so war auch der Weg selbst nicht einsam. Überall kamen unserem Geist die Geister fröhlich wandernder Griechen aus der Vergangenheit entgegen. Menschenleer war die Landschaft, aber hoheitsvoll seelenbevölkert.

Ein paarmal kamen wir an echt arkadischen Wiesen und Quellen vorüber. Da war eine Quelle, die sprang als mannsdicker Silberstrahl von einem kleinen haushohen Hügel in weitem Bogen und freiem Sprung von grüner Höhe auf die blumenbedeckte Wiese. Dieser köstliche Wasserstrahl kam erquickend und lebendig in die weiche Wiesenstille, und es würde uns nicht verwundert haben, wenn hier bei der Quelle und den Blumen Quellnymphen und Baumnymphen sich aus dem Gras erhoben hätten und in rhythmischen Tanzreigen unter dem arkadischen Frühlingsblau vorübergezogen wären.

Am Wege trafen wir selten ein Haus. Aber wenn wir zu einem der kleinen weißgekalkten Bauernhäuschen kamen, herrschte dort ideale Armut und patriarchalische Einfachheit. Der Hausherr, ein schlichtgekleideter Landmann, verbeugte sich unter der Tür. Er konnte uns kein Mahl bieten, auch nicht für Geld, denn er selbst lebte nur von Brot und Milch und getrockneten Feigen.

Ein Gläschen wasserfarbener Mastichabranntwein war alles, was wir kaufen konnten. Aber wir hatten Brot und Feigen, etwas Schinken und kaltes Huhn von Olympia in den Reisetaschen mitgenommen; wir saßen vor dem Hause nieder unter den hohen glitzernden bauschigen Silberpappeln am grasigen Wegrand und dachten selbst kaum daran, das wenige zu essen, das wir bei uns hatten.

Denn die kräuterduftende Luft hier, die Luft aus den grünen Bäumen und die Luft aus der kühlen Frühlingserde und aus dem kühlen Frühlingsgras erquickte uns festlich das Herz, und wer von dieser Luft kostete, kam sich frisch genährt vor. Diese Luft ließ im Magen keinen Hunger aufkommen.

Niemals bin ich wieder tagelang so anstrengend gereist, und niemals habe ich tagelang so wenig Nahrung zu mir nehmen müssen. Und am Abend jener Tage war ich nicht müde. Es war, als würden wir hier vom Himmel unsichtbar mit Nektar und Ambrosia genährt.

Einmal ließen wir uns abends in einer Hirtenhütte, wo wir die Pferde eingestellt hatten und wo wir übernachten sollten, ein Huhn auftischen. Der Hirte briet es uns am Spieß über einem kleinen offenen Feuer, das auf einem Stein am gestampften Erdfußboden brannte. An dem mageren Huhn war aber nichts zu essen. Es hatte nur Knochenröhren und am Feuer gedörrte Stoppelhaut zu bieten. Doch war ich von den wenigen Bissen schon übersatt. Es war, als nährte einen schon der Geruch des Feuers, der an dem dürren Huhn haftete.

Auf dem ganzen Ritt durch den Peloponnes fanden wir bis Kalamata kein europäisches Gasthaus. In der ersten Nacht kamen wir in ein Bergnest, das an einem abschüssigen Gebirgshang mühsam von unseren Pferden erklettert wurde. In der Abenddämmerung, als schon die Sonne untergegangen war, erklommen wir das wilde verwahrloste Bergstädtchen, zu welchem sich selten ein Reisender verirrte. Der Ort hieß Andritzina.

Ein paar Stunden vorher hatten wir auf einer anderen kahlen Höhe, bei einem einzelnstehenden Haus, ein Glas Wein kaufen können. Und wie wir noch dort vor der Haustüre auf- und abstampften, um die im unbequemen Holzsattel taub gewordenen Beine lebendig zu machen, kam ein Reiter, ein düsterer Kerl, auf bepacktem Pferd und stieg gleichfalls vor jener einsamen Haustüre ab.

Während er mit dem Hausherrn, der unter der Türe erschien, mit griechischer Lebendigkeit laute Worte tauschte, die wir nicht verstanden, bemerkte ich, als der fremde Reiter mit der rechten Hand den Sattel seines Pferdes rückte, daß ihm an dieser Hand neben dem kleinen Finger ein sechster lebloser Finger baumelte.

Die Sonne war eben im trüben Bergdunst untergegangen. Der schwarzbärtige, etwas verwilderte Grieche, seine Sprache, die ich nicht verstand, die düstere Abendluft, die Bergeinsamkeit, die menschenleere totstille Landschaft rund um uns, alles das brachte mich auf unheimliche Erinnerungen, auf Geschichten von griechischen Räubereien, wo man europäische Reisende in die Berge verschleppt und sie erst, nachdem man großes Lösegeld gefordert, freigelassen hatte.

Ich trieb unseren Führer zur Eile an, da es mir unangenehm schien, wenn jener Mensch mit dem seltsamen sechsten Finger an der rechten Hand uns wie ein Spuk im heranbrechenden Abend folgen würde. Ich sagte meine Befürchtungen, als wir weiter geritten waren, meinem Reisegefährten, der sich gewundert hatte, daß ich mein Pferd so eilig anspornte. Und wir trieben dann unsere beiden Pferde lebhaft vorwärts, so daß wir den Führer weit hinter uns ließen.

Wir hörten bald auch schon die klappernden Hufe des fremden Reiters, der uns folgte, auf den Steinen des ausgetrockneten Bachbettes, das wir in der Abenddämmerung eben durchquert hatten. Da es nur einen Weg nach Andritzina gab, konnten wir das Reiseziel nicht verfehlen. Immer aber, wenn ich mich umsah, bemerkte ich zwei, drei Reiter mehr, die über den kahlen Anhöhen im Halbdunkel aufgetaucht waren, und die zuletzt in einiger Entfernung hinter uns einen kleinen Trupp von acht bis zehn Reitern bildeten.

Mein Herz sagte einfach: „Das sind nur Reisende wie wir auch; Handelsleute, heimkehrend von irgendeinem weitentfernten griechischen Marktflecken.“

Aber ich sah unseren Führer nicht mehr. Er schien spurlos verschwunden zu sein. Bisher war er den ganzen Tag neben unseren Pferden mit seinem kleinen, gewandten Bedientenschritt hergegangen.

Nun wurde auch mein Reisegefährte, er, der vorher keine Angst hatte, von meinen Räubervorstellungen angesteckt. Es war zu verlockend, sich auf diesen düsteren, abgeholzten, menschenleeren Höhen, auf welchen selten ein verkümmerter Baum, ein Busch oder eine Agavenpflanze im Abenddunkel stand, Räubergeschichten hinzudenken.

Wir hörten immer in einiger Entfernung hinter uns die Steine klappern und die Reiter, die die Pferde antrieben, schnalzten mit der Zunge. Sonst war in der Weltverlorenheit des dunstigen toten Abends auf diesen kahlen Berghöhen kein Laut zu hören, keine Abendglocke, kein heimziehendes Gefährt. Von Fabriken oder Eisenbahnen war hier natürlich keine Spur.

Der vorsichtige Verstand, der Hausherr meines Körpers, erzählte mir immer lebhafter, was er über das heutige Räuberwesen Griechenlands in den Zeitungen gelesen hatte.

Mein Reisegefährte konnte unseren Führer ebenfalls nicht mehr entdecken, und sein Verschwinden gab uns die Versicherung, daß er wahrscheinlich an jenem letzten Berghaus absichtlich zurückgeblieben war. Es war mir nun klar: der Führer hatte in Olympia räuberische Landsleute von unserem Vorhaben, durch den Peloponnes reiten zu wollen, benachrichtigt. Meistens wird dieser Ritt nur von großen Gesellschaften ausgeführt und selten von einzelnen fremden Reisenden.

Die Räuber hatten wahrscheinlich verabredet, wenn der Abend des ersten Tages hereinbräche, uns einzuholen und abzufangen, um ein Lösegeld zu erpressen. Deshalb war unser Führer, der Hoteldiener, bereits zurückgeblieben, um, im Falle die Sache mißglücken würde, nicht Zeuge der räuberischen Schandtaten gewesen zu sein.

Also faselte mein Verstand ganz ernstlich, indessen mein Herz, das durch sein Gefühl immer allwissend, immer ruhig und gleichmütig war, beschwichtigend vor sich hinmurmelte: „Die friedlichen Handelsleute tun euch nichts. Achte doch auf den wunderbaren sanften dunkelnden Abend, an dem alle Hast der Welt eingeschlafen scheint. Nie mehr wirst du hier in Arkadien reiten. Nur selten kommt man zu einem so schönen Abendritt.

Sieh doch, der Geist der Frau, die dich liebt, geht jetzt an Stelle des Führers neben den Pferden her. Du fürchtest, ihr könntet von rückwärts von den harmlosen Reitern erschossen oder gefangen werden. Die Kraft der Geliebten wird jede Kugel von dir fernhalten, und kein Lasso wird dich einfangen können, weil dich die Liebe begleitet.“

„Schweig,“ befahl der Verstand dem Herzen. „In einem wildfremden Land, und in einem Land wie diesem, ist es gefährlich, im Abend zu träumen. Im Dunkel soll man Augen und Ohren doppelt offen haben.“

Unsere armen Pferde aber wußten nicht, ob sie hinstürzen oder fortjagen sollten, weil wir sie so unmäßig antrieben. Hinter uns wurden die Wege immer dunkler. Nur auf der Höhe, auf der die Pferde auf gewundenen Wegen hochkletterten und wo das Bergdorf liegen sollte, das wir aber noch nicht sahen, war noch mattes Dämmerlicht. Es war noch so hell, daß ich meinen Reisegefährten neben mir und die Straße vor mir erkennen konnte. Bergabwärts aber steckten die Reiter hinter uns bereits in Dunkelheit. Nur Stimmen und Pferdehufe folgten uns.

Die Fensterscheiben von steil auf den Bergwänden stehenden fernen Hütten blinkten auf. Unbehelligt kamen wir vorwärts, und bei den ersten Fenstern warteten wir. Ich wunderte mich eigentlich, daß wir noch nicht gefangen genommen waren. Denn jetzt war es für die Räuber zu einem Überfall zu spät, da in diesem Ort, das wußten wir, sogar eine Telegraphenstation war. Also würden wohl auch Gemeindevorsteher und andere anständige Leute da sein, die uns in Schutz nehmen konnten.

Ich hatte mir unterwegs vorgenommen, von hier gleich an den deutschen Konsul nach Kalamata zu telegraphieren und das Telegramm auffällig aufzugeben, damit man wissen sollte, daß wir dort erwartet würden, und damit man uns nicht noch in der Nacht in einer der unheimlichen Herbergen verschwinden lassen könnte.

In der späten Abendstunde gaben wir dann, umgeben von einem Haufen Leute, die zusammengelaufen waren, um uns zu sehen, das Telegramm auf dem armseligen Telegraphenamt ab.

Schon beim Eintritt in das Dorf, als uns hufeklappernd die Pferde der anderen Reiter einholten, rief uns die Stimme unseres Führers an, welcher hinter dem sechsfingrigen Reiter auf dessen Sattel mit aufgesessen war, und den wir so verdeckt in der Dunkelheit nicht mehr hatten erkennen können.

Mein Herz lachte nun mein Gehirn aus, aber der Verstand erklärte immer gesetzt und altklug: „Ehe wir nicht diese Reise durch den Peloponnes beendet haben, sollst du mich nicht verlachen.“ —

In einem elenden Zimmer in elendesten Strohbetten übernachteten wir. Der Raum lag im ersten Stocke eines schmutzigen und düsteren Hauses. Durch die breiten Spalten der geborstenen Dielen konnte man in die unteren Räume hinunter auf die Köpfe der Griechen sehen, die dort bei einer Kerze zusammensaßen.

Zu essen gab es nichts. Wir verzehrten altes Brot, das wir noch bei uns hatten, und einige Scheiben getrocknete Zervelatwurst. Dazu tranken wir ein Glas geharzten Landwein, an dessen bitteren Geschmack wir uns nicht gleich gewöhnen konnten.

Die Weinkrüge, in welchen dieser griechische Landwein aufbewahrt wurde, hatten noch die alte Form. Sie waren fast menschengroß, aus rötlicher Tonmasse, bauchig und unten spitz zulaufend, und wurden zur Hälfte in die Erde eingegraben. Wir sahen auf der Reise öfters solche Krüge in den Hausgängen der Bauernhäuser in einer Ecke lehnen, und diese geheiligten altväterlichen Krüge schienen jedes neuzeitliche Bauernhäuschen mit altgriechischem Geist zu weihen.

Das offene Reisigfeuer, das auf dem Herd unter unserem Zimmer in der Herberge im kalten Abend angezündet worden war, schickte uns beißenden Rauch durch die Dielenspalten, und hustend und mit Kopfschmerzen suchten wir unser Lager auf, wo wir bald, von Müdigkeit und Rauch betäubt, einschliefen.

Nach jenem unheimlichen Abendritt, der zwar mehr in meiner Vorstellung als in der Folge gefährlich gewesen, stiegen mir wieder neue Bedenken auf gegen ein Leben in fernen, einsamen, unbekannten Gegenden unter Volksstämmen, deren Sprache, Sitten und Gewohnheiten nicht die meinen waren.

Am Tage, als wir unter den Wiesen und Quellen, unter den Platanen und Pappeln, unter den Birken und Kastanien, bei den tausend Anemonenblumen, bei Morgen- und Mittagssonne hingeritten waren, hatten mich die altgriechischen Geister begleitet, und ihre Festlichkeit hatte mein Herz mutig und zuversichtlich gemacht, so daß ich einige Stunden geglaubt hatte, ich würde mir gern in jener hoheitsvollen arkadischen Landschaft ein einsames Bauernhaus kaufen und hier meine Lebensjahre verbringen wollen.

Aber seit dem Schreckanfall in der Abenddüsterheit, seit der Mann mit den sechs Fingern am Wege aufgetaucht war, bebte der Grund und Boden unter mir hier von Räubervorstellungen, die ich auch in den nächsten Tagen nicht mehr ganz überwinden konnte. Und niemals mehr kehrte in mir das tiefe Verlangen wieder, im Peloponnes bleiben zu wollen. Ich sah ein, wenn schon ein Mann hier auf Schreckensgedanken kommen konnte, wie unmöglich war es dann erst für eine europäische Frau, für meine Frau, mit mir hier in einem einsamen Bauernhaus zu leben und einen Haushalt zu führen.

Die arkadischen Landschaften sahen sich verlockend an, aber die Lebensbedingungen waren zu hart und waren mir auch zu unbekannt. Und ich sagte mir vom nächsten Morgen an: ich will jetzt als Vergnügungsreisender, wie mein Reisegefährte es ist, sorgenfrei über die Berge dieses Landes reiten und nicht mehr dabei an meine Zukunft denken. Ich werde bei meiner Rückkunft nach Athen, vielleicht in der Nähe der griechischen Hauptstadt, ein einfaches Weinberghaus finden, wo ich mit meiner Frau, aber doch nicht weltverlassen, leben kann.

Von diesem Entschluß an war es mir, als legte ich ein schweres Gepäck ab, das ich unsichtbar auf meinem Kopf getragen hatte. Sorgenlasten fielen von mir, mit denen ich in Delphi, in Olympia und in Arkadien bepackt, unter stetem Druck die griechischen Meilen hatte atembeklommen betrachten müssen.


Am nächsten Morgen, als wir bei Sonnenaufgang zeitig aufbrachen, war ich dem Räuberabenteuer dankbar, daß es mich wenigstens in Gedanken auf die Schatten des arkadischen Einsamkeitslebens hingewiesen hatte. Und befreit von dem Ansiedlungsplan sah ich fröhlich in die taufrische Frühhelle.

Das alte verwitterte Bergstädtchen lag rosig verklärt auf seiner wagehalsigen Höhe. Es sah aus, als bewohnten es nicht geplagte alltägliche Menschen, sondern Menschen, die fliegen könnten, wenn sie die goldglänzenden Scheiben ihrer Hütten über den Bergabhängen öffneten. Wie eilfertige Schwalben, festlich und fröhlich, schienen diese Menschen auf dieser Berghöhe zu sein, so wie es die Vögel immer im Vergleich zu erdgebundenen vierfüßigen Tieren sind.

Ferne Bergspitzen gen Süden hin, drüben über den lilablauen Abgründen des Gebirges, lagen im Morgennebel wie blaue Inseln und schienen unser Kommen in ihrer Unwirklichkeit zu erwarten.

Wenn wir auch nichts zu essen und nichts zu trinken bekamen und seit unserem Ausritt aus Olympia noch kein warmes Mahl gesehen hatten, so merkten wir doch noch nicht, daß uns irgend etwas fehlte. Mein Reisegefährte hatte sich vom Führer einen Kranz getrockneter Feigen kaufen lassen, und diesen hängte er über den Arm. So zum Morgenimbiß Feigen kauend, ritten wir auf neuen Bergwegen weiter. Die Bäume wurden immer spärlicher, und die Steinblöcke wuchsen immer reicher in die Luft.

Wir hatten jetzt außer dem Hotelführer noch einen jungen griechischen Hirten als Führer dabei, der mit seinem langen Holzstab in der Hand — an welchen oben eine Muschel geschnitzt war — vor unseren Pferden aufrecht und wegkundig einherschritt und uns über die Bergpässe führte.

Kein Haus, kein Dorf, keine Menschenansiedelung war auf viele Meilen zu finden. Gegen Mittag trafen wir nur im Gestein an einer altgriechischen Quellenfassung, wo das Wasser aus einem weißen marmornen Löwenkopf sprudelte, zwei Hirten bei großen Hammelherden. Diese arkadischen Hirten hatten keine andere Kleider an als die Felle ihrer Hammel, die sie mit Hanfstricken um die Brust und um die Beine umbunden trugen.

Sie hatten aus Rohren selbstgefertigte griechische Panflöten in der Hand, und sie verwunderten sich so wenig über unser Erscheinen, so wenig wie die Steine und die Quelle es taten, für die sie ihre Flöten spielten. Diese jungen Hirten trugen dieselbe allwissende Geste zur Schau, so wie sie das Wild im Walde, der Vogel in der Luft, der Fisch im Wasser zeigten, die sich nicht vom natürlichfestlichen Weltallzusammenleben getrennt haben.

Der Mensch der Städte, der da, nur mit seinesgleichen beschäftigt, auch nur seinesgleichen als lebenswürdig betrachtet, hat diese Geste verloren. Diese beiden in Schaffelle gewickelten Gestalten aber lebten mit der Sonne, mit dem Regen, mit ihren Tieren auf du und du. Und unser Erscheinen bei ihnen, jenen reichsten Armen, die sich Besitzer des Weltallgebäudes nennen könnten, die mit mehr Welt leben als jeder Städter, brachte kein Überraschtsein, keine Verwunderung hervor.

Sie machten uns, sich ruhig erhebend, auf ihren Steinen an der Quelle Platz, und sie setzten sich, einen Gruß murmelnd, ein wenig weiter fort in die Sonne, ohne uns neugierig zu betrachten.

Nach einer Weile, während wir den alten tausendjährigen Löwenkopf an der schön umfaßten Quelle bewunderten und uns am eisigen Wasser erquickten, waren die beiden Hirten, als wir uns wieder aufrichteten, spurlos aus den Steinfeldern verschwunden. Wir hörten nur noch die Hammelherde über eine ferne Geröllböschung fortziehen, deren Steine unter den vielen Füßen rasselten.

Einige hundert Schritte von jener Quelle stand auf der steinigen Höhe eine einsame prächtige Tempelruine. Sie wurde der Tempel von Bassä genannt. In der Nähe des Tempels ragte hier und da ein uralter Eichenstumpf auf. Es waren das nur hohe Stammstummeln ohne Äste, und sie bildeten wahrscheinlich in alter Zeit, als jener Tempel noch jung war, den Eichenhain um das Heiligtum.

Hier mag auch am Steinboden einst Rasen und Erde gewesen sein, aber die Stürme der Jahrhunderte hatten die Felsenplatten von Erde reingewaschen, und der Berg schien wie mit nackten Knochen bedeckt. Und wie ein zerbrochenes Knochengerüst stand die Tempelruine, von der Sonne silbrig gebleicht und dachlos, auf der Gebirgshöhe.

Die Säulenreihen zeigten noch starke klare Form und waren noch jung und stolz in ihren Linien. Hinter den Säulen aber, im Tempel, lag ein wüstes Durcheinander von kantigen und brüchigen Blöcken, die einst der Giebel und die Dachplatten gewesen sind.

Von der Tempelschwelle aus hatten wir eine mächtige Fernsicht gegen Süden bis zu den letzten Ausläufern des Peloponnes und bis zum Mittelmeer hin. Da drunten in mächtigen Tälern, wo üppige Pappelgruppen, Platanenwälder und Wiesenflächen mit blaudunklem Grün und goldgelbem Grün wechselten, ging im Morgenlicht ein ferner Regen, mit herrlicher lila Bestrahlung der Bergwellen, über dem weiten Peloponnes nieder. Und wir freuten uns auf den Abstieg zu den laubreichen Tälern.

Über einem fernen Stein tauchten die Gesichter der beiden Hirten nochmals auf, und der eine blies auf seiner Panflöte. Die Morgenluft brachte uns, als wir fortzogen, kleine Stücke einer lieblichen weltvergessenen Melodie noch lange über die Höhe nach.


Von nun an änderte sich nach einigen Meilen beim Hinunterklettern der Weg. Wir verließen die Kahlheit und kamen in erdreicheres, belaubteres Gebiet. Manchmal erschien an den Abhängen, hinter üppigen, gelbblühenden Ginsterbüschen, der neugierige Kopf eines langbärtigen Ziegenbockes, der zum jungen Birkengrün über die Büsche hinaufschnupperte. Es war, als sähe uns ein behaarter Faun mit spitzen Ohren und schlauem Auge, halb von den Büschen verdeckt, an. Dann verschwand das neugierige zottige Bocksgesicht wieder hinter gelben Ginsterblüten.

Zugleich trafen wir hier und da einen Hirten auf seinen Stab gestützt am Wege oder eine Hütte. Und beide, Haus und Mensch, standen totenstill. Nur ihr fortrückender Schatten lag neben ihnen am Wege in der Sonne als einzige Bewegung ihres Lebens.

Der Tempel von Bassä ist die bedeutendste Ruine, die zwischen Olympia und Kalamata den Landschaftsweg schmückt. Auch die alten Stadtmauern von Messaene besuchten wir von Kalamata aus, aber sie geben nicht denselben entzückenden Eindruck wie der in der Verschollenheit einer kahlen silbrigen Gebirgshöhe unerwartet dastehende silbrige Tempel von Bassä.

Wir kamen am gleichen Abend zu einer Hirtenhütte, die auf dem Trümmerfeld einer verlassenen Stadt bei ein paar kümmerlichen Ölbäumen stand. Hier sollten wir übernachten. Hier war es, wo man uns das dürftige Huhn briet, das nach zwei anstrengenden Reisetagen der erste warme Bissen war, den wir zu uns nahmen.

Die Hütte bestand aus zwei höhlenartigen Räumen. In dem einen Raum kauerte die Hirtenfamilie in der Nähe des Feuers. Nur ein Stein am Fußboden war der einfache Herd. Der Rauch zog zum Fensterloch oder zum Türloch ins Freie.

In dem hinteren fensterlosen Raum wurden uns zum Schlafen Pferdedecken auf den gestampften Erdboden gelegt. An einem Holzspan, der zwischen die Mauersteine gesteckt war, hing ein ölgefülltes Eisennäpfchen. Darinnen brannte mit dünnem Rauchflämmchen ein Docht. In den Winkeln standen ein paar alte Ziegenkrippen und einige Futtersäcke.

Die Einfachheit gefiel mir außerordentlich. Der harte gestampfte Fußboden unter den Pferdedecken war zwar für die vom Ritt müden Glieder nicht verlockend. Doch lag eine Weihe, ein göttlicher Armuternst in dem Häuschen, in dem es keinen Tisch, keinen Stuhl und kein Gerät gab.

Der armen Hirtenfamilie war die Mutter Erde im wahrsten Sinne Mutter vom Geburtstage an bis zum Sterbetage. Die Leute hockten bei der Erde, sie aßen bei der Erde, sie kochten bei der Erde und schliefen bei der Erde. In einem Haus, in dem man nichts besaß als das Leben und die Erde, hatte ich bisher noch nie übernachtet.

Es war Friede und leises Plaudern am Abend bei den Leuten, die da im Herdrauch auf ihrer Türschwelle hockten und unserem Führer zuhörten. Von der toten Stadt, die draußen rund um die Hütte lag, stand keine Säule mehr aufrecht, stand keine Mauer mehr, und die tausendjährige Sonnenhitze und die kalten Nachtfröste hatten die Stadtreste längst wie mit Hämmern zu Steingeröll zermürbt. Hier und da ragte am Rand eines Steinfeldes ein kümmerlicher Baum auf, oder es lag da eine andere Hirtenhütte ebenso arm wie die, welche uns aufgenommen hatte.

Ich habe den Namen jener staubgewordenen Stadt vergessen und will nicht in Büchern nachschlagen. Ich will nur das, was noch von dieser Reise in meiner Erinnerung lebend haftet, wiedergeben und nicht mehr.

Die Pferdedecken, in die wir uns nachts zum Schlafen eingewickelt hatten, kratzten uns. Und auch die Erdmutter, die wir immer mit unseren Stiefelabsätzen getreten hatten, wollte uns auf dem Fußboden nicht so ruhig schlafen lassen wie die Hirten, die die Erde zeitlebens barfuß mit weichem Schritt gestreichelt hatten. Es war mir beim Liegen auf dem Fußboden, als teile die Erde meinen vom Ritt müden Knochen harte Püffe aus.

Vorher waren in diesem Raum die Hühner eingesperrt gewesen, und die zurückgebliebenen Hühnerflöhe machten sich nun mit blutdürstigem Vergnügen über uns Fremdlinge her.

Dazu rauchte das Öllicht so schrecklich, daß wir Kopfschmerzen bekamen und zu ersticken meinten. Wir waren noch zu ungöttlich für diese göttliche Armut, in die wir so plötzlich aufgenommen worden waren. Und der Körper, der immer langsamer als der Geist ist, wollte die Kasteiungen dieser Nacht nicht willig ertragen und wurde störrisch.

Ich hatte meine Taschenuhr neben dem Reisebündel, das mein Kopfkissen war, auf den Fußboden gelegt, aber in dieser Hütte schienen die Stunden nicht wandern zu wollen. Sie blieben hocken, und die Uhrzeiger vergaßen fortzurücken. In dieser Armut war ein ewiger Stillstand an Stelle der Zeit zu spüren.

So wie es kein Hausgerät gab, schien auch hier keine Uhr nötig zu sein. Die Nacht war eine einzige große Stunde und der Tag eine einzige große Stunde, die saß bei der Armut, auf dem leeren gestampften Erdboden, beharrlich zwischen den vier leeren Wänden der Hütte. Und deshalb war es gleich, was man in dieser Zeitlosigkeit erlebte.

Und da wir nicht schlafen konnten und einer den anderen sich in seinem Hüttenwinkel herumwälzen hörte, riefen wir uns zu, daß es vernünftiger wäre, in der Mondnacht weiterzureiten. Lieber wollten wir am Tage versuchen, ungeplagt von Rauch und Hühnerflöhen, auf einer weichen Wiese in frischer Luft zu schlafen und die Nachtruhe nachzuholen.

Die Hirten, die noch nicht ihr Lager aufgesucht hatten, staunten nicht, als wir im schönen Mondschein weiterreiten wollten. Nur unser Führer, der eben schlafen gehen wollte, brummte ein wenig.

Wir ritten um Mitternacht von der Hütte fort. Die schöne erfrischende Nacht machte uns eine Weile munter, aber das Mondlicht schläferte die Augen bald wieder ein. Und als wir das Steinfeld der untergegangenen Stadt verlassen hatten und unter Baumschatten an einem Bergabhang ritten, wußte ich bald nicht mehr, wie ich meine Augen vor Müdigkeit offen halten sollte.

Der Mond schien den Schlaf durch die Baumblätter zu schicken. Die weißen Milchflecken des Mondlichtes am Weg, durch die wir ritten, waren wie ein über uns ausgegossener Schlaftrunk. Und der Schlaf duftete aus den Büschen und sank aus den ruhenden Bäumen herab auf uns, und zeitweise fürchtete ich, vom Pferde zu fallen, denn der wiegende Gang des Tieres erhöhte die Schlaflust.

Wir hörten aus einer Schlucht herauf, an der wir entlang ritten, ein ununterbrochenes Rauschen. Ich wußte nicht, kam das Geräusch von einem Wasser oder vom Wind im Laub. Es war da im Finstern ein Lärm in einem Tal, der ununterbrochen neben uns lebte. Der Weg senkte sich mehr und mehr, und bald sah ich durch die Zweige ein breites Bachbett; das andere Ufer lag in Finsternis, unbeleuchtet vom Mond.

Das Wasser vor mir schien endlos breit zu sein. Das schnelle Wasser sprang über Felsenblöcke und zeigte viele buckelige Strudel, die im Mondlicht silberschäumend kreiselten.

Die Luft wurde immer frischer und feuchter, und dann stand mein Pferd still. Der Weg endete vor dem wilden Wasser. Der Führer, der hinter uns zurückgeblieben und wahrscheinlich auch im Gehen halb eingeschlafen war, kam auf mein Rufen herabgerannt und sagte, daß wir das Wasser durchqueren müßten.

Dann rief er durch die hohlen Hände über das Wasser hinüber: „Compatriot!“ Drüben sah ich bald Feuerschein aufleuchten, als wenn man die Türe eines im Innern brennenden Hauses öffnete.

„Dort ist eine Mühle,“ erklärte der Führer, „und die Müllerknechte werden uns hinüberholen.“

Es war nicht gerade behaglich, mitten in der Nacht durch ein angeschwollenes, unbekanntes Frühlingswasser reiten zu müssen, wenn man den Weg am Tage noch nie gesehen hatte.

Unsere Rufe waren beantwortet worden, und nachdem sich die Stimmen eine Weile gegenseitig, über das Wasserbrausen weg, zugeschrieen hatten, erschienen Männer im Mondschein, bis zu den Hüften mitten im Wasserschaum stehend, und sie winkten und schrieen von neuem.

Wir ritten vorwärts, den Pferden die Zügel freigebend, da die Tiere die Furt suchten und behutsam die unter den Schaumstrudeln liegenden Übergangssteine mit den Hufen fanden. Indessen schrieen die Müllerknechte, und die Felsen echoten, und die Wasserwirbel johlten und zischten betäubend. Es war als ritten wir durch einen überkochenden Hexenkessel.

An den mondhellen Stellen sah ich neben mir die rasende Flut vorbeischießen. Dann empfingen uns die Müllerknechte bei den tiefsten Strudeln und stemmten sich gegen die Pferde und schoben diese und uns, die wir mit hochgezogenen Beinen im Sattel saßen, da das Wasser bis an den Sattel reichte, durch die nächtige Wasserwildnis.

Drüben empfing uns die vorweltlichste Mühle. Die Mühlenhütte war niedrig, aus mächtigen Eichenstämmen roh zusammengefügt, und drinnen im einzigen Raum prasselte ein mächtiges Feuer und brannte lichterloh. Um die Flammen saßen Männer, die uns zunickten.

Diese Mühle mit dem brüllenden Wasser vor der Tür, am gestampften Boden das hochwallende prunkvolle Feuer darinnen, das mit ungeheurem Leben den Raum füllte, die alten verwitterten Müllerknechte, alles zusammen erinnerte mich mit einem Male an Odysseus Abenteuer bei den Zyklopen.

Die Nacht draußen unter der offenen Tür, mit dem hochgehängten Mond, mit der johlenden Wasserstimme, schien einer der einäugigen Zyklopen zu sein, der jeden Augenblick hereinkommen konnte, um am Feuer niederzusitzen und einen von uns Menschen, die wir hier als Gefährten des Odysseus Unterkunft nahmen, zu verzehren.

Nachdem wir unsere Kleider an der Feuerwärme getrocknet hatten, war die Nacht schon am Verschwinden. Und als wir in die Morgendämmerung hinaustraten, um wieder auf den Pferden aufzusitzen, da war alles verwandelt und alltäglich. Da war nichts Besonderes ringsum, als ein mit gurgelndem Hochwasser angeschwollenes Bachbett, ein plumpes hölzernes Mühlenhaus und stumme schattige Baumgruppen davor, die sich vom morgengrauen Himmel abhoben.

Der Zyklopenspuk war verschwunden, das Feuer fortgeflogen, und wir ritten gemächlich auf einer breiteren Straße unter den Bäumen wieder weiter in die Berghöhen hinauf.


Am Spätnachmittag desselben Tages kamen wir noch nach dem Hafenort Kalamata am Mittelmeer. Hier waren dunkle Orangengärten am Meerufer, voll reifer Früchte, reichbeladen wie Apfelbäume im August.

Nach zwei Ruhetagen ritten wir über einen hohen Gebirgspaß, an Abgründen vorbei, in das düstere und kühle Tal von Sparta. Den Spartanern war wenig Sonne gegönnt. Ganz nahe der neuen Stadt, die hauptsächlich aus Kasernen besteht, erhebt sich im Osten und Westen ein mächtiger Bergwall. Die Sonne kommt spät in das Tal hinunter und geht am hohen Nachmittag schon zeitig aus dem Tal fort. Sparta liegt dem heißen Wind von Süden und dem eisigen Wind von Norden offen.

Lachendes Licht und von allen Windrichtungen spielende Lüfte umgeben das Auge Hellas’: Athen. Aber wie menschenunfreundlich dagegen das düstere Tal um Sparta.

Die Ritte vorher durch Arkadien und von Kalamata bis Sparta waren mir wertvoller als die anderen Wege nachher, die wir teils im zweispännigen Wagen, teils mit der Eisenbahn zurücklegen mußten.

Der Weg durch Arkadien an den Wiesentälern und dem Strahl der rauschenden Quellen vorbei, und der Aufenthalt bei weltabgeschiedenen Hirten auf den Berghöhen blieben mir so festlich in Erinnerung wie einst Jahre vorher die Frühlingstage und Segelfahrten an der Westküste Schwedens, in Bohuslän, und wie die einsamen Ritte und Wege zu den Aztekenpyramiden und Vulkantälern Mexikos.

Als wir Arkadien verlassen und später von Sparta einen Wagen genommen hatten, um die berühmten Ruinen von Thyrinx, Epidaurus und Mykene zu erreichen, fühlte ich mich wieder den gutbürgerlichen Menschen zurückgegeben, nachdem wir bisher in Arkadien von den edlen Armutgöttern der Hirten mit nur Luft und Sonnenschein genährt worden waren.

Wir wohnten von nun ab wieder in kleinen griechisch-europäischen Gasthäusern, wanderten in Tripolitza, dem gewerbetreibenden Provinzstädtchen, durch die lange Gasse der Leinwandhändler, durch die Gasse der Kupferschmiede, durch die Gasse der Töpfer und durch die Gasse der Seiler. Jede Gasse war von einem Handwerk bewohnt, und die Meister jeder Gasse, die da in ihren kleinen offenen Werkstätten arbeiteten, waren sich gute Nachbarn.

Sie saßen wie eine Gemeinde in ihrer Gasse, und jede Gasse hatte einen anderen Handwerkergott über sich, für den die Meister und Gesellen in Ehre und in Zucht arbeiteten, und der ihnen Käufer und tägliches Brot ins Haus schickte.

Hier lebten die Menschen für die Menschen, wie Würmer bei den Würmern. Ihre Arbeit adelte sie, ihre Herzen waren gut, aber sie waren lebensgeängstigter und lebensgeknechteter als die Herzen jener weltfernen Hirten in Arkadien, die sich mit der Mutter Erde begnügten ihr Leben lang und der Erde nichts gaben und ihr nichts nahmen als den menschlichen Herzschlag vom ersten Lebenstag bis zum letzten.

In bedürfnisloser Seligkeit waren die Hirten Arkadiens freie Männer in ihrer Armut, während die Handwerker in Tripolitza, die mit einem Auge nach den Käufern spähen mußten und die nur mit dem anderen bei der Arbeit blieben, in ihren Gassen nur mit halbem Herzschlag, nur mit halber Ruhe an der Erde saßen.

Mein Herz sehnte sich bald nach der feierlichen Armutsstille, nach der sorglosen Bedürfnislosigkeit Arkadiens zurück. Aber dann wurde es von großen Ruinen getröstet, die es auf der Weiterreise mit alter festlicher Vergangenheit unterhielten.

Bei dem Städtchen Nauplia, in dessen Nähe einst die alte Burg von Thyrinx gelegen, bestiegen wir die Reste der grimmigen Feste, deren Mauern aus so ungeheuren Felsblöcken gebildet sind, daß man heute noch nicht versteht, wie jene Zyklopenmauern haben entstehen können. Hier waren keine Säulen, keine schönbehauenen Bildwerke. Hier war nur die irdische Kraft, der Männer Trotz und der Männer Stärke vergangener Zeiten zu bewundern.

Und auch in Mykene, wo noch das Löwentor an der Burg des Agamemnon steht und die Grundmauern der Säle und Kammern auf leichter Anhöhe bei einer sonnigen sandigen Ebene lagen, war Trotz und Kraft in den Steinmauern, die von unendlichem Machtbewußtsein der Menschen sprachen, die zu allen Tagen sich untereinander das Leben abtrotzen mußten, und die sich immer leichter gegen die Elemente und gegen wilde Tiere wehren konnten als gegen das Raubtier Mensch.

Von Nauplia ritten wir in zwei Tagereisen nach Epidaurus hin und zurück. In einem lieblichen Hügelwinkel lagen noch die schönen weißen marmornen Mauern der Hallen und Säulengänge und die Badebecken des alten Heil- und Badeortes der Griechen. Der Gott der Ärzte, der Gott Äskulap, hatte hier seinen Weiheort, wo einst warme Quellen die Kranken Griechenlands herbeilockten.

Der kleine Bergwinkel war mit weißem Marmor bepflastert. Die Ruinen leuchteten, wie aus Schnee gebildet, unter dem jungen Grün vieler Bäume, die den Ruinenplatz umgaben.

Da waren noch die Wandelgänge für die Genesenden; die Säulen waren zwar umgestürzt, aber die Pflasterplatten noch gut erhalten. In den Nischen standen noch die marmornen Halbrundbänke, auf denen die Kranken geruht haben. Und jeder Bank gegenüber stand ein mächtiger Marmorsockel, darauf sich einst eine Bildergruppe aus Marmor befunden hat, deren Anblick die Sterbenden und die Genesenden erquicken konnte.

Immer gingen in diesem Lande die Künstler als oberste Herren allen Lebensbetätigungen zur Seite. Dem Menschen, der in Delphi seelische Erhebung gesucht hatte und Heilung von seinen Sorgen, waren die Kunstwerke dort am Wege vom Meer zur Parnaßhöhe, so wie die Kunstwerke hier in Epidaurus, wo die Körperkranken am warmen Erdenatem Linderung der Körperschmerzen suchten, Tröster und Beglücker des Menschenherzens gewesen.

Die Festlichkeit, die jedes Künstlerherz angeboren mit auf die Welt bringt, umgab feierlich nicht bloß Athen, die Hauptstadt des Geistes, sondern auch die nationalen Wallfahrtsorte Griechenlands, Delphi, Olympia und Epidaurus.

In den Bäderanlagen in Epidaurus waren noch die Röhrenleitungen und auch die großen gemauerten Wasserbecken sichtbar und gut erhalten, in denen viele Kranke zugleich hatten baden können. Es standen da noch Steine mit Inschriften, sowie Altäre.

Aus Fürsorglichkeit für die Kranken waren da keine Treppenstufen bei den Tempeleingängen angebracht. Damit die Bahrenträger die Schwerkranken, ohne sie zu stoßen, auf ihren Betten in den Tempel bringen konnten, waren, statt der sonst üblichen vier, fünf Tempelstufen, schräg gelegte Steinplatten aus Marmor da, die sanft zur Höhe der Tempeleingänge anstiegen.

Unter einigen Bäumen nahe der Anlage befand sich noch das herrliche, besterhaltenste Theater Griechenlands, dessen Sitzreihen, kühl und vor der Sonne geschützt, hier im Bergwinkel in lauschigem grünen Hügelversteck zu beträchtlicher Höhe anstiegen.

Dieses Theater sah wie neu aus, als hätten die Zuschauer gestern erst ihre Plätze nach einer Vorstellung verlassen. Und doch weilten zweitausend Jahre hier im Halbrund bei mir, als ich dort auf den Marmorstufen saß. Diese Sitzreihen hatten viele Menschengeschlechter in der Ferne vorüberwandern fühlen, seit das letzte Wort von dem Altar gesprochen wurde, der da unten, festlich gebildet von Künstlerhand, in der Mitte der marmornen Bühne stand.

Wo ist das Gebäude, dachte ich, das Theater, in Berlin, in London, in Petersburg, in Paris, in Neuyork, das nach zweitausend Jahren noch wie neu wirken würde? Das so edel, einfach und erhaben in seiner Einteilung, in der Vereinigung von Zuschauerwelt und Darstellerwelt ist, daß es noch ein Vorbild sein kann künftigen Theatern?

Mein Reisegefährte sprach unten auf dem Steinplatz der Bühne bei dem Altar einige Sätze, und ich verstand oben auf der fernsten Sitzreihe in dem muschelförmigen Halbrund auch das schwach geflüsterte Wort.

Ich glaube, daß die Einheit des angewendeten Materials im griechischen Theaterrund — denn es ist zum Bau nur Stein verwendet worden — den Klang melodisch und ungestört zu einem einzigen Hall für das Menschenohr sammelt. Auch der einheitliche Holzbau in chinesischen und japanischen Theatern fördert den Schall, der nicht zerstückelt und zerstört klingt. Während unsere Theater, die eine Zusammensetzung aus Eisen, Holz, Stein, Kalkbewurf bilden, den Schall, der von der Bühne kommt, nicht einheitlich weiterschwingen können.

Ich glaube, daß diese Einheit des Materials wichtiger ist als alle akustischen Berechnungen. Man stelle sich vor, daß wir uns eine Ohrmuschel zusammensetzen würden aus Steinchen, Eisenteilen, Ton und Holzstückchen. Wie unmöglich würde der Klang in diesem Ohr einheitlich gefaßt werden können!

Als ein großes Ohr ist aber der muschelartige Zuschauerraum jedes griechischen Theaters gedacht, dessen Halbrundform ganz unerläßlich ist unter freiem Himmel, wo die Geräusche der Bäume, der Winde und des Naturlebens das Bühnengespräch noch besonders beim Auffangen des Schalls stören können. Unsere menschliche Ohrmuschel aber ist auch nichts anderes als ein amphitheaterartiges Halbrund aus einheitlichem Material, das vom Lebensdrama den Schall aufnimmt.

An dieses mußte ich immer denken, so oft ich in Griechenland, in Delphi, in Olympia, in Epidaurus und in Athen eines der großen alten Theater besuchte und mich die gute Schallverteilung in dem weiten steinernen Halbrund unter offenem Himmel immer wieder zum Staunen brachte und zum Vergleichen aufforderte mit heutigen europäischen Theatern. —

Wir ritten von den Bäderanlagen noch einige Stunden weiter fort in ein Fischerdorf am Meer, wo wir übernachteten. Als wir gegen Abend in den Ort kamen, hing an einigen Türpfosten an einem Nagel ein frischgeschlachtetes Lamm. In der Hauptgasse an mancher Tür stand der ländliche Hausherr bei seinem Osterlamm. Es war Karfreitag, und der Lammbraten für das Osterfest wurde überall vorbereitet, und die Familie, die Kinder und die Frauen, stand andächtig und spielend und plaudernd um den Vater, der das geschlachtete Tier abhäutete.

Unser Reiseführer, der neben den Pferden herlief, erklärte uns, daß die Landleute hier nur einmal im Jahr Fleisch zu sehen bekämen, zum Osterfest. Man kann sich leicht die Erwartung vorstellen, mit der die Augen der Familienmitglieder das geschlachtete Lamm am Türpfosten betrachteten.

In Einfachheit lebten die Menschen hier friedlich, und die unbewußte Bedürfnislosigkeit machte ihre Gebärden schlicht und frei von Begierde. Das Meer vor der Türe speiste sie täglich, ebenso der Feigenbaum und das kleine Kornfeld hinter dem Haus.

Außer einigen Holzhockern fand sich fast kein Hausrat bei den meisten Leuten. Der Herdstein am gestampften Fußboden in einer Zimmerecke gab dem Haus das natürlichste Gerät. Ruhe und Wärme kamen von diesem edlen Stein, der in schlichter Nützlichkeit nur eine Aschenhöhlung zeigte, und der seit Homers Zeiten keine andere Form angenommen hatte.

Wie in den japanischen leeren Zimmern, wo nur eine Blumenvase in einem Winkel oder ein Bild der einzige Schmuck sind und nirgends ein Gerät zu finden ist, so war es hier bei den griechischen Landleuten. Eine wohltuende Leere herrschte in den Häusern. Der Sinn der Frauen richtete sich nur auf das Notwendigste, ebenso der Sinn der Männer. Und ihr Auftreten und ihre Rede blieben in dieser Bedürfnislosigkeit würdevoll und einheitlich.

Und diese Griechen im Peloponnes gingen auch, von alter Vergangenheit geadelt, so würdevoll frei und gesittet aufrecht, köstlich harmonisch im Geist und im Herzen, viel edler als das Landvolk in Italien, das erhitzter, begierdevoller und unklarer hinlebt. Unendliche unvergängliche Hoheit sprach aus der Haltung der griechischen Landleute, die ich da am Wege und auf den Türschwellen bei einsamen Bauernhäusern antraf.

Nur einmal fand ich im Gebirge flüchtige Unbescheidenheit, das war auf dem Wege nach Kalamata. Es war in früher Morgendämmerung, nachdem wir die Mühle verlassen hatten, hoch im Gebirge, als wir auf eine Hirtengesellschaft stießen. Mehrere Hirten hausten dort mit ihren Weibern und Kindern in Zelten. Es war noch grauer Morgen vor Sonnenaufgang, als wir, nach einem mühevollen Aufstieg, auf einem öden Geröllplatz jenen Menschen begegneten. Wir hätten gern ein wenig Milch getrunken und beauftragten unseren Führer, bei den Hirten zu fragen, ob sie uns Milch verkaufen wollten.

Es war aber noch nicht gemolken worden, da die Herde noch abseits zerstreut im Gestein schlief. Unser plötzliches Erscheinen machte die Hirten starr. Daß wir vor Sonnenaufgang erschienen, das hat die dürftigen Leute so verwundert, daß sie zum mindesten glaubten, der König von Griechenland wäre mit seinem Gefolge unterwegs. Sie redeten uns mit „Fürst“ und „Prinz“ an, und sie glaubten dabei, es würde über ihre Zelte Gold regnen.

Sie forderten für eine kleine Schale Milch, die sie endlich herbeibrachten, Gold und Gold und wieder Gold. Schließlich mußten wir die Leute durch den Führer zurechtweisen und ihnen Vernunft zureden lassen. Sie meinten aber, wenn man aus Athen käme, müsse man vom König kommen, und der König sei Besitzer von goldenen Schlössern, und wohin der König gehe oder ein Königlicher, müsse er auch Gold mitbringen.

Und die Frauen der Hirten, die nur ihre Köpfe aus den Zeltfalten heraussteckten, und die Kinder, die unter dem Zeltsaum herauskrabbelten, alle begehrten Gold für den Napf Milch. Ich glaube heute, da sie eben aus dem Schlaf aufgewacht, waren sie noch nicht ganz von der Unwirklichkeit zur Wirklichkeit zurückgekehrt.

Denn so lange diese Einsamen lebten, ist sicher noch nie jemand vor Sonnenaufgang, wie aus der Erde gewachsen, vor ihrem Zelte erschienen, geradenwegs aus Athen kommend. Sie begnügten sich jedoch endlich mit einigen Frankenstücken, die sie gern annahmen, wobei sie immer noch das Wort „Gold“ murmelten und sich zurückgesetzt fühlten, weil von dem vom Himmel gefallenen Morgenbesuch nur Silber und kein Gold kam.

Aber dann, als wir weiter ritten, und je weiter wir uns von ihnen entfernten, desto fröhlicher dankten sie uns, und ehe wir ganz verschwanden, riefen sie uns lange Danksprüche nach. So kindlich handelten diese Leute, wenn in ihnen unerwartet Begierden erweckt wurden, denen ihr Herz nicht gewachsen war, und die eigentlich nicht ernst gemeint waren. Denn nur ihre Träume schrieen nach Gold.

Wir Fremde aber sind für diese weltfremden Hirten keine richtigen Fremden aus dem königlichen Athen gewesen, da wir nicht königliches Gold auf unsere Wege regnen ließen. Jene Hirten wollten ihre Träume erleben.

Es war nur dieses eine Mal hoch im Gebirge, daß wir dem ausgesprochenen Goldverlangen begegneten. Gewöhnlich waren die Anforderungen zufriedengestellt bei landesüblicher Preiseinhaltung.

Noch heute sehe ich gern im Geist die einfachen ländlichen Häuslichkeiten, in die wir in Griechenland am Wege kurze Einblicke bekamen.

Bei Epidaurus saß an einer Landstraße auf der Hausschwelle eine Frau, die von einer mit Hanf umwickelten Kunkel, die sie auf ihre eine Hüfte stützte, den Garnfaden drehte. Auf einer Böschung seitlich vom Hause, unter einem großen Platanenbaum, stand aufrecht eine andere Frau; sie hielt auch eine Kunkel im Arm und arbeitete wie die erste.

Und am Rande eines großen steinernen Brunnentroges, aus dem unsere Pferde getränkt wurden und in den das Wasser aus dem Felsen sickerte, saß eine dritte Frau und hielt gleichfalls eine hanfumwickelte Kunkel und arbeitete. Über den drei Frauen stand der Frühlingshimmel, und der Frühlingssonnenschein machte den Himmel hinter dem Haus und durch die Blätter des Platanenbaumes leuchten, als wäre dort ein gläsernes Fenster, das ins Weltall hinaussah.

Von dem hellen Weltraum draußen kam seligste Einfachheit, weise Lebensfreude, Lebensernst und Lebensruhe; und nicht das Licht allein, sondern diese dreifache Seligkeit beschien und bewachte die drei stillen, ihre Hanffäden drehenden Frauen.

Da war keine Hast, keine Unruhe, kein wild erwartetes Morgen, keine sinnlose Eile um den Brunnen, um den Platanenbaum und um das Haus. Und solche, von unbewußter Menschenweisheit geschmückte, natürlich festliche Landschaftsbilder, fand ich viele auf jener Reise durch den Peloponnes. Sie erquickten den Wandernden mehr als ein erfrischender Schluck Wasser aus der klarsten Quelle.

Wo die Quellen des Weltalls ungestört, fern von gepeitschter Lebensjagd und frei von sinnlosen Bedürfnissen, friedlich rinnen dürfen, dort ist immer für das künstlerische Herz das Weltallfest vollkommen. Denn der Künstler trägt in sich das ursprünglichste Herz und sehnt sich nach harmonischer Ursprünglichkeit auf allen Lebenswegen.

Während ich reitend, von meinem Bergpferdchen herab, solche Bilder, die in Weltallruhe eingerahmt waren, in mich aufnahm, wurde mir zugleich die Sehnsucht nach der Heimat und nicht nach der Fremde von solchen Blicken gestärkt. Ich sah mit Neid, wie die einfachen Landleute alle, ebenso wie die Handwerksleute der Städte, an ihrem Stück Erde hingen, und mit Frieden an der ihnen angeborenen Erdscholle ihr Stück Brot aßen und ihre Hände still bei der Arbeit rührten.

Je mehr ich Einblick bekam in die fremden Häuslichkeiten am fremden Wege, desto mehr wurde in mir der Glaube bestärkt, daß auch mir als Künstler nur die Heimat fortgesetzt Frieden und Kraft geben konnte.

Ich erinnerte mich daran, daß ich auch auf den fränkischen Landstraßen und auch bei den bayrischen Bergen und Seen und auf deutscher Heimaterde überall dieselbe edle Einfachheit der Sitten, dieselbe Arbeitsvertiefung beim Volk, dieselbe Schlichtheit der Gebärden, die Helligkeit alter vergangener Gebräuche und auch edle Bedürfnislosigkeit finden könnte.

Es gibt bei uns auch genug künstlerische Bilder am Wege und ebenso genug unbewußtes Verschmelzen mit dem Weltall. „Du findest es daheim in den Bauernstuben, in den Handwerkerstuben, in den Studierstuben“, sagte mein Herz ernst zu mir und zeigte meinen Gedanken warme runde Heimatsbilder, viele und freundliche, buntfarbig wie die verschiedenen Anemonenblumen auf den griechischen Wiesen.

Aber noch schämte ich mich vor mir selbst und vor meinem Reisegefährten, der mich bei jedem Aufenthalt in den griechischen Landschaften, in den Bergen, bei den Ruinen, in den Tälern und am Meere immer gefragt hatte, wo ich mich denn jetzt im Peloponnes niederlassen wollte. Und immer wieder hatte ich antworten müssen: „Hier nicht.“

Und dann waren wir wieder weiter geritten. Ich glaubte zuletzt, da ich schon vorher in Mexiko keine Heimat gefunden hatte, und ich nun einmal in Griechenland war, ich müßte wenigstens eine lange Zeit hier in diesem Lande ausharren, um mich nicht vor mir und meinen Freunden qualvoll lächerlich zu fühlen.

Als wir im Eisenbahnzug am Tag vor dem Ostersonntag nach Athen fuhren, und ich erklärt hatte, nirgends im Peloponnes bleiben zu wollen, sagte ich deshalb, noch einmal mein Herz verleugnend, ich wollte mir in der Nähe von Athen ein Weinberghaus suchen.


In Athen wurde uns dann bekannt, daß draußen ein einsames verlassenes kleines Klostergebäude am Fuße des Hymättos liege. Dieses hieß Cäsaria. Jenes Haus war einmal in ältester Zeit unter Kaiser Hadrian ein Lustschlößchen gewesen. Später ist es ein Kloster geworden. Das Gebäude war jetzt noch Eigentum eines großen Klosters in Athen. Wir mußten in jenem Kloster die Schlüssel für Cäsaria holen. Wir wollten das Haus besichtigen, das man mir verpachten sollte.

Der kurze Augenblick in jenem großen griechischen Kloster, in dem wir die Schlüssel verlangten, ist mir unvergeßlich.

Nach einem viereckigen sonnigen Hof hin lagen die offenen Zellen der Mönche. Große schattige Bäume standen mächtig und ruhig bei den Zellentüren. Die dicken Stämme der Bäume waren wie große Urnen anzusehen. Aus diesen quollen die Blätterkronen, als wüchse der Friede hier Blatt an Blatt aus der Erde.

Die Zellentüren standen offen, und ich sah in jedem kleinen weißgetünchten viereckigen Raum einen Betpult und ein schmales Bett. An der Wand hing ein Holzkreuz, und in einer Nische stand ein Wasserkrug. Köstliche heilige Einfachheit herrschte hier.

Einige Mönche mit langen grauen Bärten saßen im Hof unter den Bäumen und lasen, und ein alter stattlicher Mönch mit weißem Haupthaar und weißem Bart gab uns vertrauensvoll die Schlüssel.

Wie schade ist es, dachte ich, daß wir Künstler nicht in solcher Einfachheit mit unseren Frauen leben wie die Mönche hier. Diese leben wie jene drei Frauen, die ich im Peloponnes mit ihren Flachskunkeln in der Hand, im Frühlingstag arbeitend, unter einem Ahornbaum, in der Haustür und am Brunnen fand, und die mir wie an den Quellen der Ewigkeit sitzend sind erschienen.

So müßten wir Männer, in äußerer Einfachheit den Mönchen ähnlich, und unsere Frauen, jenen drei Wockenspinnerinnen ähnlich, im herrlichsten Frieden leben können, zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit, den Vorbildern aller Götterbegriffe ähnlich, wenn wir uns zur edelsten Bedürfnislosigkeit entschließen könnten.

Sauberkeit und Ordnung am Körper, in der Kleidung und im Hause müßten die Grundbedürfnisse bleiben bei täglicher Arbeit. Und die Quellen des Weltallfriedens und der künstlerischen Freuden wären dann unerschöpflich.

Welche festliche künstlerische Beobachtung des Weltalls, welch festliches Miterleben mit Pflanzen, Tieren und Menschen wäre jenen Menschenherzen möglich, jenem Mann und jener Frau, die in solch äußerster Schlichtheit ihr tägliches Leben führen wollten!

Später, auf meiner Weltreise, traf ich diese Schlichtheit in Asien bei Millionen Menschen, sowohl im warmen Indien, als in dem in gemäßigter Zone liegenden Japan. Überall fand ich diese möbelleeren, aber von künstlerischen Gedanken erfüllten, kleinen Wohnungen, in welchen als erster Schmuck die peinlichste Sauberkeit herrschte und die feinfühligste Lebensordnung.

Zwischen leeren Wänden saßen in jenen Ländern gefühlvoll fleißige und allem Weltalleben klug nachfühlende Menschen. Und die Leere der japanischen Zimmer war so reich wie die Leere des blauen Himmels es ist, die nie langweilt.

Die Japaner hatten die Maße der Höhe, Breite und Tiefe ihres Hauses klug und fühlend um die Menschenfigur ausgedacht, so daß das Zimmer wie eine Schachtel zum Verpacken eines köstlichen Kunstwerkes wurde, eine Schachtel, die gerade so viel Raum bietet, als der Gegenstand Schutz braucht.

Das kleine Gebäude von Cäsaria lag bei einer winzigen Kapelle. Die stammte noch aus den ersten Jahren des Christentums. Die Kreuze und die Bilder darinnen waren ungemein liebevoll, einfältig und rührend kindlich gläubig gearbeitet. Das einstöckige Haus neben der Kapelle wurde von einigen Hirtenfamilien bewohnt. Aber hier herrschte Verwahrlosung überall. Die Dielen waren so zerrissen, daß man durch die Stockwerke hindurchsehen konnte, und das Gesindel, das da hauste, war nicht vertrauenerweckend. Die Hirten beim Hause trugen Gewehre über den Schultern, Revolver und Dolche in den Gürteln. So standen sie zwischen ihren Herden und schossen nach Vögeln und Feldmäusen und benahmen sich bei unserem Erscheinen, als müßten sie uns mit ihren Büchsen das Echo vom Hymättosgebirge hören lassen.

Hinter dem Haus zog ein ungeheuerer Bergabhang hinauf, der seit Jahrhunderten schon abgeholzt war und kahl und sonnenverbrannt in die Lüfte starrte.

Einige Schritte von der Türschwelle fort, unter dürftigen Laubbäumen, sickerte aus einem alten marmornen Widderkopf eine Quelle. Dort bei einem großen alten Trog knieten Weiber, alte Männer und Kinder; die wuschen unter viel Geschnatter und Geschimpf ihre Wäsche.

Es führte kein eigentlicher Weg zu diesem Haus. Wir hatten von der großen Landstraße quer durch Felder einen Pfad suchen müssen. Ich hatte geglaubt, ein einsames einfaches leeres Klosterhaus zu finden, und war erstaunt über die uns mißtrauisch begrüßende, verwilderte Hirtengesellschaft, die da, büchsenknallend und freche Reden führend, das verwahrloste Haus wie eine Räuberhöhle erscheinen ließ.

Da war kein Garten, kein Wald in der Nähe, nur dürftiges Buschwerk war da und ein heißer steinerner Bergabhang und flache Felder davor. „Wollen Sie hier auch nicht bleiben?“ fragte mich mein Reisegefährte. „Nein,“ sagte ich, „hier erst recht nicht.“ „Was wollen Sie dann tun?“ —

Die Frage war leicht gestellt, aber ich mußte in meiner Brust einen schweren Kampf kämpfen, um die Antwort zu finden, die ich mir selbst geben sollte. Ich kam mir gedemütigt vor, weil ich so viele Pläne gemacht hatte, und weil nun alle meine Gefühle und Gedanken, wenn ich aufrichtig zu mir war, nichts mehr von jenen Plänen wissen wollten. Mein Herz drängte nur heftig nach der Vereinigung mit meiner Frau und mit meiner Heimat.

Wir gaben die Schlüssel von Cäsaria dann wieder im Kloster ab. Der weißbärtige Mönch nickte, als er hörte, daß ich nicht daran denken wollte, dort zu wohnen, und er fand es ganz in der Ordnung, daß ich wieder nach Hause reisen wollte. Herrlich friedlich war es in mir nach diesem Entschluß. Auf dem Rückweg vom Kloster nach Athen beleuchtete die Abendsonne vor uns den fernen Akropolishügel. Der lag goldrötlich über den blauschattigen Feldern und verdunkelte sich mehr und mehr, als wollte er vor meinen Augen verschwinden und wollte sich in einen fränkischen Hügel, in den Marienberg, der das Schloß über der Stadt in Würzburg trägt, verwandeln.

Von den Bergwänden des Hymättos hallten Käuzchenschreie und Eulenrufe in der Abenddämmerung.

„Eulen nach Athen tragen“, fuhr es mir durch den Sinn. Ich hatte, wie das Sprichwort sagt, gehandelt. Die Eulen waren meine unruhig flatternden Pläne gewesen, die ich umsonst nach Athen getragen. Ich ließ sie jetzt für immer fortfliegen, und sie riefen mir von Cäsaria zum letztenmal nach. Aber ich kehrte ihnen den Rücken und ging im weichen Staub der Landstraße weiter.

Dabei machte ich in meiner Zufriedenheit die Wahrnehmung, daß jener alte Staub der athenischen Straßen einen wunderbar süßen Geruch hat. Wie Wohlgeruch aus alten Räucherurnen, so stieg ein Duft von der Erde hier auf. Ich fragte mich, ob sich der Staub am Boden hier noch an jene Abende erinnert, da die Griechen köstliche Rauchopfer vor den edlen Menschengestalten ihrer Heimatgötter auf den Hausaltären anbrannten. Nirgends auf der Welt fand ich wieder, daß der Erdstaub so süß, getrockneten Blumen ähnlich, duftete wie hier auf den Landstraßen um Athen.

Befreit vom Ballast unmöglicher Pläne, kam ich jetzt nach Athen reicher zurück, als ich fortgegangen war. Ich nahm mir nun vor, nur noch einige Tage die Schönheiten Athens zu sehen, und dann auf kürzestem Weg nach meiner fränkischen Heimat, nach Deutschland zurückzukehren. Dort wollte ich meine Frau erwarten, und dann würden wir endlich in der Heimat unsere Heimat finden.

Ich besuchte am nächsten Nachmittag noch Eleusis, denn dort waren alljährlich zum Osterfest alte Ostertänze auf dem Marktplatz zu sehen. Eleusis ist nach einer kurzen Bahnfahrt von Athen aus erreichbar. Die Bahn läuft am Meer entlang neben der alten heiligen Straße der Pilger.

Als wir nachmittags durch die kleine Provinzstadt wanderten, hing an verschiedenen Häusern das gebratene Osterlamm an einem Nagel am Türpfosten. Der Hausherr stand daneben mit einem Messer und schnitt Bratenstreifen ab, die er unter seiner Familie austeilte.

Aus einer Türe trat ein Hausvater freundlich lachend auch an uns Fremdlinge heran und reichte jedem von uns ein Stückchen Lammbraten zum Ostergruß. Wir mußten es aus seinen Händen annehmen und es mit den Händen zum Munde führend verzehren, wie es nach uraltem Brauch die Landbewohner in Griechenland tun, die keine Tischgeräte anwenden, ähnlich wie es bei uns einst im Mittelalter noch Sitte war.

Vor allen Türen saßen die Leute in Gruppen und aßen fröhlich das Osterfleisch. Es hatte sie alle das festliche Osterlicht auf die Straßen gelockt. Munter und unterhaltend lachten, plauderten und grüßten sich die Nachbarn vor den kleinen Häusern.

Gegen zwei Uhr versammelten sich auf der einen Seite des Marktplatzes die jungen Mädchen der Stadt, auf der anderen Marktseite die jungen Männer. Die Mädchen hatten die Haare in zwei lange Zöpfe geflochten, und die bänderdurchflochtenen Zöpfe reichten ihnen bis auf die Fersen. Viele bunte Seidenbänder waren in die Zöpfe geschlungen, und mit eingeflochtenen schwarzen Roßschweifen waren die Zöpfe auch künstlich verlängert worden.

Jedes Mädchen faßte mit gekreuzten Händen nach den Händen ihrer beiden Nachbarinnen, und ebenso taten die Burschen. Und nach einer uralten Melodie, die die Mädchen und die Burschen sich zusangen und beantworteten, bewegten sich die beiden breiten Reihen von jeder Seite des Marktplatzes einander entgegen, und die vielen Füße tanzten langsam, rhythmisch vor und zurück, je nach dem Takte des einfachen Liedes.

Das Lied war feierlich und leicht klagend, und seine Melodie bewegte sich nur in ein paar Tönen. Aber die wunderbare Einförmigkeit und Einfachheit des uralten Tanzes und des Osterliedes, das schon die Väter und Vorväter bei der Wiederkehr des Frühlings hier auf dem Marktplatz getanzt und gesungen hatten, war unergründlich festlich stimmend auch für die Ohren eines Fremden.

Ich nahm das Lied als Abschiedsgruß von Griechenland in meinen Ohren mit nach Deutschland. Und ich summte es noch lange gern vor mich hin auf den Feldwegen daheim, als meine Frau und ich uns wieder zusammengefunden hatten und auf dem Gut bei Würzburg wohnten, am Nikolausberg, wo einst meine Mutter gestorben ist.


Es war im Mai 1898, als ich dann nach langen Irrfahrten in der mir angeborenen Heimat gelandet bin. Zwei Jahre waren wir, meine Frau und ich, von Hotel zu Hotel und von Land zu Land gezogen und hatten es noch nie zusammen erlebt, auf altem Erinnerungsboden zu wohnen, in eigener Küche ein nach persönlichem Geschmack hergerichtetes Mahl auf dem Feuer zu haben, am häuslich gedeckten Tisch zu essen und vor den Türen Wege zu gehen, die nicht ins Unbekannte, ins Unklare führten.

Hier kannte ich die Ziele eines jeden Feldwegs und jeder Landstraße. Ich konnte meiner Frau unterwegs berichten, was uns erwartete, wenn wir vom Haus am Berg aus nach Osten, nach Westen, nach Norden oder Süden gingen.

Die Hähne, die im Gutshof krähten, waren Heimathähne, deren Laute ich mit mir in der Fremde herumgetragen hatte. Und immer, wo ich auf den Reisen in den Wanderjahren einen Hahn hatte krähen hören, war das Bild jenes Gutshofes in mir aufgestiegen. Und Hahnenschreie, wo ich sie auch hörte, hatten mir immer zugerufen, heimzukommen in die Vaterstadt, dorthin, wo ich einst sprechen, gehen, denken, handeln und träumen gelernt hatte. Die Häuser kannten mich alle noch, sie, die mit ihren Fensterscheiben immer am gleichen Fleck standen und die Menschen betrachteten, die in ihnen heranwuchsen und von ihnen fortgingen.

Wenige von den Fortgehenden aber waren wiedergekommen, und wenige nickten ihnen zu.

Ich fühlte bei meinen Wegen durch die Stadt, daß diese Häuser, die mir bei meinem Kinderspiel und bei meinem Schulweg zugesehen hatten, die meine Jünglingsgedanken mitgedacht hatten, und die mich nun mit meiner Frau zusammen übers Pflaster wandern sahen, daß diese Häuser mein Besitz waren. Sie waren durchdrungen und in Besitz genommen von den Gedanken meiner früher hier verlebten Jahre.

Und als ich nun so hinging, war mir, als steckten die verschiedenen Häuser an ihren Ecken, Türen, Gesimsen, Dächern, Hauswinkeln, Dachrinnen, Fähnchen heraus, beschrieben mit bunten Sätzen, alten Gesprächsresten, alten Gedankensätzen und alten Vorsätzen.

Pflichten und Erinnerungen standen dort bunt, mal rot, mal gelb, mal blau hingeschrieben auf die beweglichen Wimpeln, die da, nur für mein inneres Auge sichtbar, die ganze alte Stadt reich und lustig schmückten. Da war Kindertorheit und Jünglingsernst, Jünglingstorheit und Mannesernst, Mannestorheit und der Ernst lieber Toten für mich durch alle Gassen verbreitet.

Grundzufrieden war ich dann, wenn ich hinaus vor die Stadt zum Berg zurückkehrte und in der Ferne am Hügelabhang den Giebel des Hauses sah, unter dem meine Frau und ich jetzt lebten. Die Sonne, die wir dort oben auf- und untergehen sahen, kam nicht mehr aus dem Unbekannten, denn auch die Landschaft hier war mein Besitz, sowie es die Gassen der Stadt und die Häuser waren.

Wo überm Maintal, auf fernen Äckern, morgens die Sonne in der Frühdämmerung hergewandert kam, da war ich oft mit meinen Füßen selbst gewandert, und ich kannte die Ortschaften und die Waldstrecken und die Namen der Orte und der Berge so gut wie die Namen meiner Familienangehörigen. Die Sonne kam also nicht aus dem Grenzlosen, Atemlosen, Namenlosen jeden Morgen zu mir.

Ich kannte auch ihren Tagesweg. So weit mein Auge nach Süden und Westen sehen konnte, kannte ich von mittags und bis zum Abend, und bis zu ihrer Untergangsstunde, die Landwege, die Waldwege, die das Himmelsfeuer durchwanderte, so genau wie die Sonne selbst. Und ich wußte, was ihr Licht rundum tagsüber zu arbeiten hatte. Ich kannte die großen Kornstrecken, die verschiedenen Weinlagen, die Obstpflanzungen und die Baumschulen, wo die Sonne überall tüchtig zu tun bekam, um Frucht reifen zu lassen.

Und die arbeitende Stadt im Tal, wo gefahren und gebaut, geboren, geliebt und gestorben wurde, kannte ich innen und außen und wußte, wie die Sonne dort die verschiedenen Straßen zu den verschiedenen Tagesstunden beleuchtete und erwärmte oder mit kühlen Schatten bedeckte.

Ich sah auch über den Bergen dem Mainfluß nach, der, in Windungen fließend, die Sonne auf seinem Wasserrücken spiegelnd, weit bis nach Norden strahlte. Und ich saß stundenlang auf dem Gutshof an der Terrassenecke bei der Fahnenstange, wo ich vor vielen Jahren mit meinem Freunde gestanden, und wo wir wunderlustig gewesen, und freute mich jetzt, heimgekommen zu sein aus der Unendlichkeit. Denn ich hatte damals nicht die Liebe gekannt, nur Lebenspläne und noch keinen Lebensbau. Und hier an dieser Terrassenecke, wo ich damals meinen Freund zum Wunderwirken an jenem Augustnachmittag erwartet hatte, wurde mir jetzt klar, daß ich auch körperlich und nicht bloß geistig in meine festliche Weltanschauung hineingewachsen war.

Jeder Morgen, der über der Stadt im Tal aufging, der den Tau auf den Kleefeldern vor dieser Terrasse bläulich aufblitzen ließ, redete nicht mehr vom Gedanklichen des Lebens, nicht mehr von Hoffnungen und Plänen, sondern von der innerlichsten Innigkeit jedes Tages.

Wenn die Giebelfenster des Gutshauses in den Morgenstunden blitzten, wenn die Fliederbäume, die altgekrümmten, an der Terrassenmauer blühten oder abblühten; wenn das Finkenpärchen, das in der großen Kastanie nistete, sein Nest bauend, ab- und zuflog, wenn die Pfauenhenne oben am Berg, unter einem Busch versteckt, wochenlang brütete und der Pfau einsam auf der Terrassenmauer stolzierte und schrie, da er Regen erwartete; wenn Türen im Hause zuschlugen, Ketten der Pferde und der Kühe in den Ställen rasselten; wenn nur ein Strohhalm der vom Einfahren, der letzten Ernte vom Vorjahr draußen am Weg an den wilden Rosenbüschen hängen geblieben war, dem Vorübergehenden zuwinkte, — dann war alles das nicht ein zwischen Himmel und Erde geborener vorüberflatternder flüchtiger Augenblick.

Sondern: das Licht und die Schatten, die Geräusche und die Ruhe, die Tagesfarben und die Dunkelheit der Nacht, die Gerüche, die Kälte und die Wärme kamen mir wie Rhythmen der Zufriedenheit meines Herzens vor und kamen mir künstlerisch zum Bewußtsein. Jeder Augenblick brachte die Anfänge von Gedichten, Liedern und Geschichten mit.

Und wenn ich mir nur ein wenig Zeit nahm und in mich hineinhorchte, dann konnte ich ein neues Liebeslied singen und konnte es ihr, der geliebten Frau, bringen, die, ohne daß sie mit den Lippen oder mit den Augen danach fragte, mit dem Herzen darauf wartete.

Ein wenig am Berg hinauf, vom Haus fort, steht ein großer stattlicher Nußbaum. Unter diesem Baum saß ich jetzt oft in den Vormittagstunden und schrieb mir manches Lied auf, und dann kam meine Frau vom Hause her mit einem Körbchen und brachte mir, wie eine Maurerfrau ihrem Maurer, Frühstück auf meinen Arbeitsplatz und setzte sich zu mir unter den Schatten des Nußbaums. Dann aber glaubte ich erst recht nicht mehr, daß irgendein Mensch das Leben anders als festlich ansehen konnte.

In jenen Jahren, die ich im Sommer auf jenem Gut und im Winter in meiner Landeshauptstadt, in München, mit meiner Frau verbrachte, schrieb ich zwei Liedersammlungen, die ich dann als mein erstes reifes Gedichtbuch unter den Titeln „Die ewige Hochzeit“ und „Der brennende Kalender“ erscheinen ließ. Mit diesem Buch beginnt die Dichtungsarbeit meiner Mannesjahre. Die vorbereitende Zeit der suchenden Jahre war für meine Dichtung beendet, als man das neue Jahrhundert schrieb.

Wenn ich auch noch manche Reise im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts und die Weltreise im Jahr 1905–1906 rund um die Erde machte, so ist doch nie mehr in mir der Gedanke oder der Wunsch aufgestiegen, mich irgendwo für immer in der Fremde fest niederzulassen. Alle weiteren Reisen unternahm ich aus dem Bedürfnis, Länder und Völker zu sehen. Aber die Heimat stand mir bei allen Reisen immer wieder als Endziel vor Augen.

Und die Heimat gab mir die Verinnerlichung und die rechte Lebensandacht. Nur auf den Wegen, auf denen man in der Jugend gewandert, kann man im Mannesalter aus dem Chaos der Eindrücke das Hauptsächliche vom Nebensächlichen trennen, das Wichtige vom Unwichtigen und die künstlerische Linie eines jeden in der Fremde erlebten Eindruckes finden. Die Heimat mit ihrer ernsten und von den besten jugendlichen Vorsätzen durchwärmten Sonnenluft verbrennt die unnützen Stoffe, deren Wichtigkeit und Unwichtigkeit man in der Fremde nur schwer unterscheiden kann.

Man baut auf dem Jugendboden, auf dem man geboren, auf dem man aus dem Unergründlichen, aus dem Unendlichen zur Endlichkeit, sich einst selbst geschaffen hat, am fruchtbringendsten und sichersten das weitere Leben auf, nachdem man sich aus der Fremde genügend Weisheit geholt hat.

Ich erinnere mich noch eines Morgens, da ich mit meiner Frau in dem Atelier in der Rue Boissonade, eben jung verheiratet, in Paris wohnte, als zum erstenmal die Heimatsehnsucht in mir ausbrach. Es war an jenem Hochsommermorgen, an dem ich, früh aufgestanden, allein durch mein stilles Stadtviertel zum Park Montsouris ging, zu jenem Park, in dem ich die beiden vornehmen Japanerinnen eines Morgens antraf.

Auf dem Hinweg beim Bronzedenkmal des mächtigen Löwen von Belfort war an einer Straßenecke in der frühen Morgenstunde ein Geflügelmarkt. In Holzkäfigen eingepfercht, steckten die Hähne und die Hennen ihre roten Kämme zwischen den Gitterstäbchen durch, und einige Hähne krähten im Sonnenschein.

Beim Anblick und bei dem Geruch der Hühner und beim gewaltigen und doch melodischen Krähen der Hähne tauchten die würzburger Heimatberge vor mir auf.

Und es war mir, als müßte um die Straßenecke der Weg nicht zum Park Montsouris, sondern zu jenem Gutshof führen, wo ich in meiner Kindheit mit meiner Mutter zusammen die ersten Hahnenschreie gehört hatte, wo ich zum erstenmal Korn und Klee hatte wachsen sehen, wo meine Mutter dann gestorben war und mir die Mutter Erde als ihre Stellvertreterin hinterlassen hatte.

Dort in der Ferne bei den Hecken, dort bei Steinbruch und Hügeln, am Kleeacker und am Kornfeld, wo ich als mutterloses Kind gewandert war, fehlte mir meine gestorbene Mutter nie.

Die warme Güte der Äcker, die immer am selben Fleck stillstehenden alten Bäume, die nur ihren Schatten ein wenig wandern ließen, weiche taumelnde Schmetterlinge und summend arbeitende Bienen, gütig duftende Kräutlein, reifende kleine Erdbeeren und reifende Brombeeren, die Lerchen im blauen Himmel, die Finken und Ammern im Gebüsch, die Schnecken am Weg und die weißen Sommerwolken über den Baumkronen am Himmel, die Ameisen, die über meine Stiefelspitzen liefen, die knallende Peitsche des pflügenden Bauers, die wiehernden Pferde im Acker — sie alle waren mir Liebkosungen der Mutter Erde. Sie waren meinem Lebenssinn erquickend und festlich. Im Sonnenschein, im Regen, im Wind, im Gewitter, in allen Stunden und in allen Wandlungen aller Jahreszeiten, war es mir auf dem Heimatberg, als hätte ich in allen Natureindrücken Hunderte von Müttern gefunden, die lieb und zutraulich mit mir plauderten, mit mir spielten, mich belehrten, mir die Zeit vertrieben und mir Lebenslust gaben.

Und bei jenem Hahnenschrei, dem ich in Paris an jenem Morgen bei den hohen Weltstadthäusern nachhorchte, riefen jetzt alle diese hundert Mütter vom Heimatberg aus der Ferne her. Deutlich wie die Sonne in jenem Augenblick über Paris und Würzburg zugleich leuchtete, so deutlich sah ich durch jenen Hahnenschrei von Paris nach Würzburg, von meinen Mannesjahren zu meinen Jugendjahren zurück.

Und ein tiefes Heimweh wurde mir zum erstenmal bewußt. Dieses Heimweh war schon lange irgendwo in meinem Dasein wie eine offene blutende Wunde gewesen. Es war mir, als hätte ich plötzlich Blut an meinen Fingern entdeckt, und wußte jetzt erst, daß ich verwundet war. Und ich erschrak. Seit jenem Hahnenschrei habe ich die Wunde des Heimwehs nie mehr aus den Augen gelassen.

Noch einmal später, auf der Rückreise von Mexiko, als wir bei einem vierwöchigen Orkan die ungeheuren einsamen Wasser des atlantischen Ozeans kreuzten, riefen mir, wenn der Sturm sich mittags für einige Stunden etwas legte, um am Abend mit doppelter Wildheit einzusetzen, einige Hähne, die bei der Schiffsküche in Käfigen als lebender Mundvorrat eingesperrt waren, mit heiligem Krähen die Heimathügel der Vaterstadt über die Wasserberge her.

Und es war mir, als läge mitten im Urweltgebrause des Ozeans irgendwo ganz nah das freundliche sonnenbeleuchtete Maintal mit den Türmen der Vaterstadt und mit den Weinbergen. Ich glaubte bei den Hahnenschreien, das Schiff könne mitten im Sturm jeden Augenblick friedlich zu Hause landen.

Ich vergaß immer wieder die ungeheuren Meilenstrecken, die zwischen mir und Europa lagen, und ich und die Heimat waren einander so nah, wie es mir meine Hand vor meinen Augen war, sobald mitten im Sturmtag jene Schiffshähne krähten.

Süße Zuversicht erfüllt den, für den es kein anderes Weltall gibt als das Herz. Im Herzen gibt es nicht Raum und nicht Zeit, sondern nur herznahes Gefühl. Über Raum und Zeit fort zeigt dir dein Herz deinen ewigen Besitz.

Als ich in späteren Jahren einsam um die Erde reiste und meine Frau in Europa zurücklassen mußte, da war nicht ein Tag, nicht eine Stunde in den sieben Reisemonaten und auf den sieben Meeren bei allen Wundern der Welt, an denen mir nicht mein Herz überall das Gesicht und die Gestalt von ihr zeigte, die ich vermißte.

Überall in der Fremde deutete das Herz zuerst auf seinen Besitz, und dann ließ es erst meine Augen die Bilder der Fremde wie mit vier Augen genießen, mit den Augen von ihr, die in der Heimat zurückgeblieben, und mit meinen reisenden Augen. —


Wenn ich jetzt morgens oder abends auf meinem Berg stehe, kann mir die Sonne keine entwurzelnde Sehnsucht mehr von Osten herbringen, und sie zieht meine Augen abends nicht nach Westen über unbekannte Grenzen in die Leere fort. Ich bin zufrieden, endlich in der Heimat angekommen zu sein.

Ich sehe gern in mich hinein, wie in einen Brunnen, auf dessen Spiegel ganz unten das Bild der Sonne wie eine Mondscheibe tanzt. Und neben ihr tanzen auch am Tage alle Sterne. Und ich kann in meinem Innern nicht mehr Tag und Nacht voneinander trennen. Es sind alle Zeiten und alle Räume in der Lebensseligkeit des Heimgekehrten.

Die Nachtstunde, die den Fluß unter meinen Fenstern lauter rauschen läßt, ist nicht dunkler als die Mittagsstunde, die die Glocken über der Stadt läuten läßt. Der Wintertag, der den Schnee ans Fenster treibt, ist dir nicht kälter als der Sommertag, der das Kornfeld gilbt, sobald du angekommen bist beim innersten Wesen aller Dinge, bei der Schöpferkraft des Liebesgefühls, das die Krone aller Gefühle ist.

Du dachtest zum Beispiel, die Sonne scheint, und du und deine Geliebte, ihr möchtet in das Grüne unter die Bäume gehen. Aber es regnet im nächsten Augenblick, und, unter der Türe stehend, streckst du die Hand aus und fühlst die Regentropfen. Du weißt aber bald nicht mehr, daß du den Wunsch hattest, unter die Bäume zu gehen, weil die Wolken den Wunsch hatten zu regnen, und die Sonne den Wunsch hatte auszuruhen, und weil du nichts Lieberes unter den Bäumen gesehen hättest als die Augen jener, die du liebst, und die mit dir auf der Türschwelle steht.

Aug’ in Aug’ mit ihr quält dich nichts. Und ihr laßt beide wunschlos den Regen fallen, denn keine anderen Wege sind von Wichtigkeit und von äußerstem Wert als der Weg von Blut zu Blut bei Zweien, die sich lieben.

Diese Wunschlosigkeit in der Liebeslust und in der Heimatlust zu erkennen, zu pflegen, zu erhalten, das hat Lebenssinn.

Wenn zwei Liebende sich befriedigen, werden ihre Sinne überall allgegenwärtig im Weltall. Auch wenn die beiden ihr Haus nicht verlassen, auch wenn sie an dem kleinsten Erdfleck Seite an Seite leben. Sie sind überall allgegenwärtig und allklug, weil sie Besitzer der Urkraft des Lebens sind, der Liebeskraft, aus welcher das Weltall entsprungen und aus welcher alle Leben immer wieder entspringen.


Seit ich diese süße Weisheit erfahren, wendete sich mein Sinn in der Dichtung dem Besingen und Preisen dieses edelsten und schöpferischsten Gefühles aller Gefühle zu.

Die mir liebsten Gedichte, die ich von anderen Dichtern lese, sind die Gedichte, die das erhöhte Gefühl, das Liebesgefühl, mit seinen tausend und abertausend Stimmungen, gesteigert aus Sehnsucht, Zweifel und Erfüllung verkünden und die zugleich die Natur besingen.

Als ich von Griechenland zurückgekehrt war, kam mir eine kleine neue Ausgabe der Geschichten von „Tausendundeine Nacht“ in die Hände. Ich hatte einige der Geschichten früher schon in Sammelbänden gelesen, aber niemals gewußt, daß in diese Geschichten die schönsten Liebeslieder eingestreut sind. Denn man hatte in den früheren Ausgaben jene kurzen Lieder nicht mitgedruckt.

Diese kleinen arabischen Lieder aus „Tausendundeine Nacht“ wurden dann meine Lehrer. Ich mußte sie lesen und immer wieder lesen und sie ihr, die ich liebe, immer wieder vorlesen. Und dann wurden die Verse noch schöner, wenn ich sie von Herz zu Herz hinsagte. Dann waren sie nicht bloß geistvoll, rhythmisch und innig. Dann waren sie wie von ihr und mir geboren. Dann hatten sie ihre und meine Augen und hatten Menschenhände und Menschenstimme und waren nicht mehr kleine gedruckte Gedichte, sondern wurden lebende Wesen.

Wie die Amsel, die auf die Fensterbank geflogen kommt, die vorher irgendwo unsichtbar gesungen hatte, und die von der Fensterbank sich einsingt in die Menschenbrust, wo ihr Lied wohnen bleibt, so zahm wurden die kleinen Gedichte, und so wunderbar verschwanden sie in uns und sangen dort fort und fort.

Aus den kleinen Reclambänden von „Tausendundeine Nacht“, in welchen ich diese schönsten, nur den Liebenden verständlichen Lieder, die mit der Liebe leiden und jubeln können, gefunden hatte, schnitt ich alle diese Gedichte heraus und klebte sie in ein dauerhaftes, in Leder gebundenes Buch.

Und diese Gedichte, deren Dichter tot und verschollen sind, deren Namen ich nicht kenne, deren Lebenszeiten ich nicht kenne, waren meine Lieblingsgedichte in jenen Jahren. Jene toten Dichter und die von ihnen geliebten Frauen gingen als gute Freunde bei uns umher, und ich versuchte ihnen nachzutun und zu dichten in ihrem Sinn kurz und eindringlich. —


In Japan gilt ein gutes Gedicht als höchste nationale Leistung in Friedenszeiten. Von Japan, wo der Kaiser und die Kaiserin jährlich mit dem Volk sich um einen Preis in der Dichtung bewerben, von Japan, das unsere Maschinenkunst und unsere Kriegskunst angenommen hat, können wir Europäer diese Friedenskunst erlernen.

Kunstwerke bedeuten dort Heldentaten in Friedenszeiten. Mit möglichst wenig Worten in der Dichtung eindringlich viel sagen, mit möglichst wenig Linien und Farben viel in der Malerei ausdrücken, mit wenig Tönen in der Musik Unendliches geben — dieses hätten wir in der nächsten Zukunft von den Künstlern des Ostens zu lernen.

Auch die Art, wie Kunstwerke zu genießen sind, und daß sie nur in einer Art genossen werden können, dies wollen wir von jenen lernen, die seit Hunderten von Jahren die Künste inniger pflegten als wir.

Ein Gedicht des Kaisers wird in Japan fünfmal vorgelesen, ein Gedicht der Kaiserin dreimal, ein Gedicht eines Bürgerlichen zweimal.

Wenn ich dieses berichte, so bin ich nicht der Meinung, daß gerade diese Unterschiede nachahmenswert sind. Sondern ich will nur darauf hinweisen, daß ein Gedicht nicht vom einmaligen Vorlesen, wie es bei unseren öffentlichen Vorlesungen geschieht, verstanden oder voll aufgenommen werden kann. Wie man den edlen Wein langsam auf der Zunge kosten muß, um seine Blume festzustellen, so ist es mit einem edlen Gedicht, es will langsam und nachdenklich aufgenommen sein. Und zum langsamen Kunstgenießen muß das europäische Publikum erst erzogen werden.

Zweimal und mehr muß jedes gute Gedicht gelesen werden, ehe sein Sinn und seine Schönheit im Herzen des Zuhörers keimen können. Ein gutes Gedicht kann immer wieder anders und neu, innerlich und äußerlich, im Gefühlssinn und im Wortlaut, genossen werden. Ein Gedicht ist unerschöpflich, unergründlich wie das Himmelsblau, wie das Meerblau, wie ein Menschenauge, wie ein Sternhimmel. Bei allen diesen Leben können wir von unendlichen Lebenswerten träumen, so auch bei dem Gedicht und bei jedem Kunstwerk, wenn wir es langsam und öfters auf uns wirken lassen. —

Ich erinnere, daß man mir einmal, als ich Kind war, kleine Holzformen geschenkt hatte, die, in feuchtem Sand gepreßt, hübsche Sandkuchen gaben. Diese Sandkuchen bereitete ich auf einem Brett und freute mich ihrer Figuren. Aber wie erstaunt war ich, daß die Figuren, sobald die Sonne das Brett beschien, in kleine Sandhäufchen zerfielen.

Ich fand diesen Zerfall unerhört, und er grämte mich jedesmal bitterlich. Wenn die Figuren noch so schön scharf geschnitten in Schneckenform und Sternform vor mir lagen, nach ein paar Stunden waren sie in formlose Sandhäufchen zerkrümelt.

Ich sann damals vergebens darüber nach, wie ich die Form im Sand festhalten könnte. Meine Lust und meine Kraft waren gründlich beleidigt von der unüberwindlichen Vergänglichkeit, die mir da beim Spiel entgegenarbeitete, ohne daß ich sie hindern konnte.

Und ich grübelte nach und meinte, es müßte da doch etwas geben, was nie zerfallen dürfte, etwas, das ewig seine Form behalten müßte. Und ich sagte mir, daß ich, wenn ich groß sein würde, keine Arbeit tun möchte, die zerfallen könnte. Ich wollte mich nicht von der Vergänglichkeit kränken lassen. Wenn meine Arbeit, die ich mit aller Lust getan, spurlos verschwinden sollte, so würde mir das Leben keinen Spaß machen.

Derart grübelte ich als Kind betrübt vor den kleinen Sandhäufchen, aber ich wußte nicht, was ich tun müßte und was von allem auf Erden immer unzerstört fortdauern könnte.

Als ich erwachsen war, fand ich, daß von allem das Liebesgefühl das Unvergänglichste und Ursprünglichste ist und bleibt. Das Weltall verjüngt sich immer wieder durch Liebe. Liebe ist die Schöpferkraft des Alls. Wenn du von Liebe singst, können die Menschen der kommenden Zeiten dein Lied miterleben, und das Lied wird nicht veralten, sobald du es vom tiefsten Gefühl durchdrungen dichtetest.

So wie du ein vielhundertjähriges kleines Liebeslied von Walter von der Vogelweide, das Lied „Tantaradei“, heute noch beim Lesen erlebst, als dichtete es nicht ein Toter, sondern dein Herz, so werden alle Lieder, die das tiefe Liebesgefühl besingen, warm bleiben wie ein lebender Körper, auch wenn das Herz, das das Lied gesungen, längst ein Häufchen zerkrümelter Staub ist.


Solche Erkenntnisse waren in anderen Zeiten unnötig, weil sie Selbstverständlichkeiten gewesen sind. Die Menschen anderer Jahrhunderte haben sich nie über die Liebeskraft Gedanken machen müssen und nie der Liebe Schöpferkraft betonen müssen.

Aber dieses war anders im letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts, wo man achselzuckend von Liebesdichtern, Liebesliedern und von jeder selbstverständlichen Liebesinnigkeit sprach. Die Menschen damals und viele auch heute noch meinten, das Liebesgefühl wäre dichterisch so gründlich ausgebeutet worden, daß man nicht mehr darüber dichten, nichts mehr darüber sagen könne.

Denn viele schlechte seichte Romane und weichliche, aber nicht leidenschaftsstarke Liebeslieder waren in der letzten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts so reichlich verbreitet worden, daß man derartige Bücher und Gedichte gut genug für schwache Frauen fand, aber nicht ausreichend zur Erquickung für den Mann.

Der Wert jener schwächlichen Liebesliteratur war aber im letzten Grunde für Männer wie für Frauen, welche vom Gedicht echte Empfindung und keine Empfindsamkeit erwarteten, gleich Null. Und so verbreitete sich die irrtümliche Ansicht, daß die Liebesdichtung sich ausgelebt habe.

Und man meinte, daß die Liebesdichter nur Sonne — Wonne und Herz — Schmerz reimen könnten. Diese Ansicht wäre wohl zutreffend gewesen, wenn die Dichter schwache, idealistisch empfindsame Naturen geblieben wären, deren es so viele vor dem Umwerten aller Werte gab, ehe in den achtziger Jahren künstlerische Selbstzucht einsetzte, die sowohl die Musiker und die Maler, wie die Dichter packte und allen europäischen Ländern neues Kunstleben gab. In Deutschland waren es Liliencron, Dehmel, Stefan George, Wedekind, die die Liebe in neuer Weise verkündeten, teils in gesteigerter Leidenschaft, teils in überraschenderer Ausdrucksweise, mit treffenderem und gewagterem neuen Bilderreichtum und mit neuen Vergleichen.

Aber erst dem neuen Jahrhundert blieb es vorbehalten, die neue Liebesnote dieser Dichter und ihre künstlerische Schönheit anzuerkennen. In den zehn Jahren von 1890–1900, in welche Zeitspanne meine Wanderjahre fallen, und über die ich hier meine Gedanken niederlegte, kämpften jene Dichtergeister noch um ihren Lorbeer. Die Kritik und die Volksmeinung schlug damals mit Disteln nach denen, die das Liebesfeuer in der Dichtung nicht untergehen lassen wollten, und die die Verkünder der herzlichen Leidenschaft blieben.

Spätere Jahrzehnte werden sich kaum vorstellen können, welches Kämpfen um die selbstverständlichsten Gefühle die Dichter und alle Künstler der neunziger Jahre durchmachen mußten.

Denn unter den Bürgern herrschte damals eine allgemeine Abkehr in der Kunst von den Liebesempfindungen fort. Man wollte nur Tagesfragen bedichtet wissen, Soziales, Politisches, Philosophisches. Und dasselbe forderte man von Roman und Drama, in denen es sich immer um Entwicklung von Problemen und nicht um das Aufeinanderprallen von leidenschaftlichen Gefühlen handeln sollte.

Jetzt neigt die Zeit wieder dem Gedichtelesen zu und dem Leidenschaftlichen in der Dichtung. Die verschiedenen neuen Dichter haben ihre verschiedenen neuen Formen gefunden, und das bedichtete Liebesgefühl darf wieder seinen selbstverständlichen ersten Platz einnehmen, und der bedichtete Gedanke erhält den zweiten Platz, wie es zu allen Zeiten früher selbstverständlich war.

Wäre die Welt immer in harmonischem Gleichgewicht erlebt worden, hätte man nicht Götterlehren über Götterlehren seit Tausenden von Jahren gegründet und eingerissen, dann würde das Menschengeschlecht in festlicher Selbstverständlichkeit das Dasein erleben und immer wieder erlebt haben. Aber Götterfurcht und Menschenfurcht haben das, dem Menschen ebenso wie allen Leben, angeborene Weltfestlichkeitsgefühl getrübt.

Die Menschen haben ergründen wollen, anbeten wollen, hinein geheimnissen wollen, da wo nichts anderes herrscht als das geheimnislose, freie und in sich selbst andächtige Weltalleben, bei dessen Festlichkeit wir alle zusammen Anbeter und Angebetete, Schöpfer und Geschöpf zugleich sind. So wie im Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau jeder Anbeter und Angebeteter zugleich ist.

Alle Leben, die ihr um euch seht, die Leben der großen Sterne und der kleinsten Atome, sie schreiben ihre Lebenszeile. Und die Weltallrune, an der alle Leben schreiben, an der wir alle leidenschaftlich mitschreiben, sie zu entziffern, braucht es keiner Wissenschaft — nur Liebesgefühl.

Wer das Liebesgefühl erkannt hat, wer sich als Mann mit seiner Frau als Angebeteter und Anbeter zugleich fühlt, dem offenbart sich die Weltallgeheimschrift in ihrer unendlichen Klarheit, ohne Wissen und ohne Denken, im einfachen herzlichen Festlichkeitsgefühl.

Und die Frau wie der Mann sind in diesem Gefühl gleichwertig klug, gleichwertig weise, und sie gewinnen in der Liebeserkenntnis alles Wissen aller Unendlichkeiten ohne Grübeln.

Die Furcht vor Göttern und die Furcht vor Menschen wird auf der Welt für alle Zeiten überwunden sein, sobald die Menschheit wieder die Weisheit der Weltallfestlichkeit annimmt, die den Völkern im Urzustand bereits Eigentum war. Bei selbstverständlichem Welternst und selbstverständlicher Weltfestlichkeit wird die im Liebesgefühl selbstbewußt gewordene Menschheit nie mehr verarmen.


Ich will in einigen Sätzen noch einen Überblick geben zum Verständnis jener Weltanschauung, die ich für die kommende halte:

Die Anschauung von der Weltfestlichkeit befiehlt dir nichts. Sie läßt dich als freigeborener Mensch, nur der eigenen Verantwortung unterworfen, frei handeln, nachdem sie dir festgestellt hat, wer du bist, und gesagt hat: du bist der Besitz aller, und du selbst besitzt alles.

Daraus ziehe dann jeder ernste Mensch selbst die Schlüsse für seine Verpflichtungen und seine Ansprüche an die Lebensfestlichkeit.

Die lebensfestliche Weltanschauung sagt dir: dein Lebensheil liegt in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Dein Heil erwartet dich nicht erst nach dem Tode. Denn du warst, du bist und du wirst ewiger Mitgenießer, Miterleber und Mitschöpfer des Weltalls sein. Du trägst die Ewigkeit in dir. Du bist kein schwaches Geschöpf. Du bist Schöpfer und Geschöpf immer zugleich gewesen und wirst es bleiben in Unendlichkeit.

Du brauchst nicht auf deine Erlösung zu warten. Du hast dich mit allen Leben zugleich selbst geschaffen, und du erlöst dich von Leben zu Leben selbst, von tätigem Fest zu tätigem Fest.

Dein Wesen ist Schöpferkraft; Ewigkeit ist dein Weg; und Seligkeit ist dein Urzustand.

Du nimmst Strafe und Lob von dir selbst und von allen, die mit dir leben, in Empfang. Aber deine Strafe und dein Lob, beide sind nicht ewig, so wie es deine Gestalt nicht ist, in der du Strafe und Lob erlebst.

Du verwandelst dich von Leben zu Leben, denn du willst immer schaffen, und dieses ist deine Lust und deine Seligkeit.

Sind jemals unter früheren Weltanschauungen Verbrechen, Schlechtigkeiten, Kriege und Kämpfe abgeschafft worden? Nein. — Und so wird auch diese Weltanschauung nicht die notwendigen Verwandlungen, nicht den Lebenswechsel, abschaffen können oder abschaffen wollen. Begierden, gute und böse, werden mit jedem neuen Menschen, mit jedem neuen Tier, mit jedem neuen Lebewesen neu geboren.

Das Wasser, das vom Himmel regnet, verdampft wieder in den Himmel zurück. Es stirbt mit jedem Lebewesen aus dem Leben ein Herd von Begierden. Aber mit jedem Neugeborenen kommt ein neuer Begierdeherd ins Leben.

Das Leben wird nicht besser und nicht schlechter, denn es war seit Ewigkeit festlich in seinem Wechsel von Licht und Schatten, in seinem Wechsel von Schuld und Unschuld eine Festlichkeit.

Aber, wenn ihr Menschen die Verantwortlichkeit des Lebens in Zukunft auf euch selbst nehmt, wenn ihr wißt, daß ihr euch schafft, daß ihr eure Leiden wollt wie eure Freuden; daß es nichts Besseres für euch gibt als das, was ihr schon besitzt, — diese Erkenntnis von der Weltfestlichkeit wird euch das Leben aufmerksamer, inniger, teilnehmender aber auch sanfter, ruhiger und verzichtender im Wandel von Leben zu Leben genießen machen. Diese Erkenntnis wird euch aufrichten. Denn ihr wißt nun, ihr seid im tiefsten Grund allwissend und allgegenwärtig. Ihr seid der Herr eures Glückes und eures Unglücks. Ihr seid Schöpfer und Geschöpf der Weltschöpfung. Und alle, die ihr um euch seht und hört und fühlt, sind es mit euch.

Welch eine Feststimmung bringt euch dieses Bewußtsein, daß ihr Herr und Genosse der Ewigkeit und aller Leben seid!

Keine tote Welt, keine toten Dinge, keine Einsamkeiten bedrücken euch mehr. Ihr wißt, euer Leben liegt von euch gewünscht, erschaffen und erhalten auf dem Weg der Tätigkeit, der Liebe und der Weisheit, von Leben zu Leben, ewig vor euch.

Wenn ihr nun in euren Zimmern und auf allen Wegen, wo ihr unterm Himmel weilt, wißt, daß ihr sogar mit allen Gegenständen Gedanken, Eingebungen und Erhebungen, unbewußt und bewußt, austauschen könnt und zugleich wißt, ihr seid von allen Leben, auch von den sogenannten toten Dingen, verstanden und gefühlt, und es wird euch von ihnen geantwortet, — so werdet ihr mehr von euch sehen als je, mehr fühlen und mehr erleben als je, und ihr werdet der Welt mehr Augen, mehr Hände, mehr Ohren und mehr Herzen geben, und auch der sogenannten toten Welt um euch, der ihr früher aus Unverständnis das Leben abgesprochen habt. Und dieses bewußte oder unbewußte Verstehen- und Sprechenlernen mit allen Dingen bedeutet sowohl eine nützliche als eine künstlerische Bereicherung eures Daseins. Unerschöpfliche Lebenseindrücke und Lebenserregungen sind euch damit erschlossen, wenn ihr euch als den Besitz aller fühlt und zugleich wißt, daß ihr alles besitzt.

Jetzt sind es bald dreiundzwanzig Jahre, daß ich diese Erkenntnis mit mir trage. Aus meinen Wanderjahren wird jeder ersehen, wie schwer es mir war, mich an das neue Licht zu gewöhnen, und wie ich das Festlichkeitsgefühl noch nicht besaß, als ich es nur im Geiste aufgenommen hatte, und wie die Erkenntnis vom Fest des Lebens erst allmählich von meinem Körper Besitz ergriff. Mir war es zuerst, wie es Aladdin ergangen ist in jenem Märchen, als der Berg Sesam sich öffnete, und der junge Mann die Haufen von kopfgroßen Edelsteinen vor sich im Dunkeln leuchten sah. Ich wußte nicht, wo ich zuerst zugreifen sollte, bis die Weltanschauung selbst von mir Besitz nahm.

Die da glauben, der Mensch allein führe ein inneres Leben, nur er sei fühlend, nur er sei klug und gerecht, denen erwächst ein Stolz, der blind und unzugänglich gegen die anderen Leben im Weltall macht. Wer sich dünkt, mehr und besser zu sein, edler als die Tiere und die Pflanzen und die Erde und alle Dinge, weil er ein Mensch ist, dieser Mensch hat dadurch, daß er so denkt, den Anschluß an die Welt und an sich selbst an seinen eigenen Urzustand eingebüßt.

Als Kinder haben wir den Anschluß an die Welt unbewußt mitgebracht. Aber mit zu kurzem Weltverstehen schneiden wir später den Anschluß ab an unsere eigene angeborene Ewigkeit, den Anschluß an die angeborene Weltallfestlichkeit, den feierlichen Anschluß zum Verständnis aller Leben, die außerhalb der Menschheit liegen.

Nichts weiter als den uns angeborenen und nur zeitweise verloren gegangenen Anschluß an das Weltall, an des Weltalls festliches Leben, will ich mit meinem „Gedankengut aus meinen Wanderjahren“ in den Lesern dieses Buches erwecken und ins Bewußtsein zurückrufen.


In den siebzig Tagen und Nächten, während ich das Zimmer nicht verlassen konnte und ich dieses Buch bedacht und geschrieben habe, kam täglich nach Sonnenuntergang der Venusstern, der in diesem Winter ungewöhnlich stark leuchtend war, in das dunkle Fensterviereck meines Zimmers. Der Stern hat mit seinem begeisterten Licht treu zu meinen Gedanken gehalten und mir Kraft und Ausdauer gegeben, sie niederzuschreiben. Der Stern stand wie ein geschliffener Stein im Dunkeln, funkelnd wie das Ziel meiner Gedanken.

Ich stelle mir vor, ich hätte den blitzenden Punkt in einen Ring fassen können und hätte diesen der Frau an den Finger gesteckt, die mit ihrem Leben mein Herz in der Hand hält, dann würde sie nun ans Ende der letzten Zeile dieses Buches den Ringstein, den Venusstern, als Siegel aufdrücken, als Bestätigung der erlebten Wahrheiten meiner Worte.

Möge der Liebesgeist und der lebensstärkende Glanz dieses Sternes durch diese Blätter leuchten und im Namen aller Leben, aller Sterne und im Namen unserer Erde diesem Buch das Geleit geben.

Würzburg, Ostern 1913

Max Dauthendey

Werke von Max Dauthendey

Der Geist meines Vaters

Aufzeichnungen aus einem begrabenen Jahrhundert

Geheftet 4 Mark 50 Pf., gebunden 6 Mark

Raubmenschen

Roman

Geheftet 5 M. 50 Pf., geb. in Leinen 7 M., in Halbfranz 9 M.

Die acht Gesichter am Biwasee

Japanische Liebesgeschichten

Geh. 3 M. 50 Pf., in Pappband 5 M., in Halbfranz 6 M. 50 Pf.

Lingam

Japanische Novellen

Geh. 2 M. 50 Pf., geb. in Leinen 3 M. 50 Pf., in Halbfz., 5 M. 50 Pf.

Die geflügelte Erde

Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere

Geheftet 10 Mark, in Leinen 12 Mark 50 Pf.

Weltspuk

Lieder der Vergänglichkeit

2. Auflage

Geheftet 2 M., gebunden 3 M. 50 Pf., in Halbfranz 5 M.

In sich versunkene Lieder im Laub

2. Auflage

Geheftet 2 Mark 50 Pf., gebunden 3 Mark 50 Pf.

Lusamgärtlein

Frühlingslieder aus Franken

Geheftet 2 Mark 50 Pf., gebunden 3 Mark 50 Pf.

Die ewige Hochzeit — Der brennende Kalender

2. Auflage

Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Der weiße Schlaf

Lieder der langen Nächte

Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Bänkelsang vom Balzer auf der Balz

Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark, auf Bütten 10 Mark

Die Spielereien einer Kaiserin

Drama in vier Akten, einem Vorspiel und einem Epilog

2. Auflage. Geheftet 3 Mark, gebunden 4 Mark 50 Pf.

Der Drache Grauli

Drama

Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Die Heidin Geilane

Tragödie

Geheftet 2 Mark, gebunden 3 Mark

Wir bitten, den Sonderprospekt (mit dem Bild des Dichters und mit Abdruck der Besprechungen) zu verlangen

Albert Langen, Verlag, München

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Offensichtliche typografische Fehler sowie Zeichensetzungsfehler wurden korrigiert.






End of the Project Gutenberg EBook of Gedankengut aus meinen Wanderjahren.
Zweiter Band, by Max Dauthendey

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