The Project Gutenberg EBook of Gedankengut aus meinen Wanderjahren. Erster
Band, by Max Dauthendey

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Title: Gedankengut aus meinen Wanderjahren. Erster Band

Author: Max Dauthendey

Release Date: August 16, 2014 [EBook #46593]

Language: German

Character set encoding: UTF-8

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK GEDANKENGUT AUS MEINEN ***




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Gedankengut
aus meinen Wanderjahren

Erster Band

Ein vollständiges Verzeichnis der Schriften
Max Dauthendeys
findet man am Schlusse des Bandes

Max Dauthendey

Gedankengut
aus meinen Wanderjahren

Erster Band

Signet

Albert Langen, München

Copyright 1913 by Albert Langen, Munich

Vor ein paar Tagen sagte ich zu meiner Frau: „Ich fühle noch nicht die nötige Andacht zu dem neuen Buche, das ich schreiben will.“

Und während ich dies sagte, erinnerte ich mich dabei an jene japanische Dichterin, die, um die nötige Weihe für ein großes Werk zu empfangen, sich in einen Tempel einschließen ließ und nachts in dem einsamen Tempelraum auf dem Deckel eines Gebetbuches die Niederschrift ihrer dichterischen Eingebungen begann.

Der deutsche Übersetzer ihres Buches, der diesen Vorfall in der Einleitung berichtet, fügte hinzu: „Wo wäre heutzutage in Europa der Dichter zu finden, der eine ähnliche Vorbereitung für ein Buch nötig fände?“

Wie wenig kannte doch der Mann die Dichterherzen aller Zeiten!

Wo große Werke entstanden, sind auch die Männer, die diese schufen, immer mit herzklopfender Andacht an ihr Schaffen herangetreten.

Wenn sich die Dichter auch nicht in die Sakristeien der Kirchen zurückgezogen haben, so ist doch immer jeder ihrer geistigen und ernsten Arbeiten eine seelische und körperliche Kasteiung vorausgegangen.

Jeder künstlerische Schöpfungsakt wird durch Entsagungsakte vorbereitet. Der Beispiele sind viele, und wer die Geschichte der Zeiten verfolgt, wird immer wieder auf diese Vorbereitungen stoßen, Vorbereitungen voll innerster Andacht, die jedem bleibenden Werk vorangehen müssen.

Als ich nun meiner Frau neulich gestehen mußte, daß ich mich noch nicht andächtig genug fühle, das neue Buch zu beginnen, das meine Kameraden und mich in der Zeit der neunziger Jahre (1890–1900) in unseren Begegnungen und im Ringen um neue Ideale schildern soll, und als ich sagte, daß ich noch nicht die Weihe zur Mitteilung dieses Lebensabschnittes hätte — dessen Aufzeichnungen eine Art Fortsetzung meines letzten Buches „der Geist meines Vaters“ werden sollten —, da ahnte ich in meiner Niedergeschlagenheit nicht, auf welche seltsame Weise mir mein Schicksal die Weihe zu dieser Arbeit erteilen würde.

Seit zwei Jahren ungefähr trage ich den Wunsch, dieses Buch zu schreiben, mit mir herum.

Seit das erste Jahrzehnt unseres neuen Jahrhunderts vollendet war und ich bei mir bemerkte, wie schnell wir uns von einem vergangenen Jahrhundert entfernen, und wie viele Lebensäußerungen in die Vergessenheit sinken und verloren gehen können, wenn sie nicht in schriftlicher Erinnerung aufgespeichert und damit der Nachwelt wieder zugänglich gemacht werden, — seit ich also wahrnahm, daß auch das letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts bereits in meiner Erinnerung zu verblassen begann, drängte es mich, das starke Dichterleben dieser neunziger Jahre, das reich an neuen Idealen, reich an großen Geistern war, in Aufzeichnungen für mich festzulegen.

Ich kann in diesem Buche, sagte ich mir, nur den bescheidenen Teil, der vom Jahrhundertende mit meiner Person zusammenhängt, wiedergeben. Aber es werden sich daraus für den Leser von selbst anziehende Fernblicke auf die ganze Dichterwelt der neunziger Jahre öffnen, und mancher junge Dichter findet vielleicht dann ein besseres Verständnis für seine eigene Zeit, wenn er einen Ausschnitt aus jener, die deutsche Dichtung so umwälzenden Vergangenheit nacherlebt.

Aber nicht bloß den jungen Dichtern und Denkern sei dies Buch gewidmet, das ihnen einiges von ihren Kameraden erzählen will, — vor allem dem deutschen Volk, das einen kleinen Einblick gewinnen soll in die Arbeitsernsthaftigkeit, in das märtyrerhafte Leiden und in die weltfernen Freuden, zwischen denen sich das Leben der oft verkanntesten Söhne des Volkes, das Leben der jungen Dichter und Denker, bewegt.

Den Wunsch, Andacht zu diesem Buche zu bekommen, trug ich besonders heftig nach der Drucklegung meines letzten Buches, im Herbst 1912, mit mir herum.

Aber ich war, teils zu zerstreut von alltäglichen Sorgen, teils fortgerissen vom äußerlichen Leben und vom Krieg, der im Balkan sich abspielte, unaufmerksam für meine Vergangenheit geworden, da mir stündlich blutende Wirklichkeit vor Augen stand.

Ich hatte mir gewünscht, dieses Buch in den zum Niederschreiben von Erinnerungen so angenehmen Wintertagen zu beginnen und es bis Frühjahr vielleicht vollendet zu haben.

Und nun war schon die Weihnachtszeit gekommen, und ich stand unzufrieden am Fenster und fütterte hungernde Vögel, und unter den Hungernden sah ich auch als grauen Vogel meine Seele hin und her fliegen.

Aber sie war scheu. Fürchtete sie den Wirklichkeitsblick meiner Augen? Sie wollte sich nicht in mir niederlassen und mir nicht von der Vergangenheit vorsingen.

Die Sperlinge, Amseln und Finken, die auf die Fensterbank kamen, wurden satt, aber meine Seele blieb hungrig, und meine Hände nahmen täglich unruhigere Bewegungen an, und meine Augen lasen nur die hastigen Kriegsnachrichten der Zeitungen und nahmen sich nicht die Ruhe, in mir selbst zu lesen.

So feierte ich ein unglückliches Weihnachtsfest. Ich war so viel zwischen dem fernen Balkan, dem Kriegsschauplatz, und meinem Zimmer hin und her geflogen, daß ich den Fluß unter den Fenstern, den alten Main, nicht mehr rauschen hörte, dessen Rauschen mir sonst in wachen Nachtstunden viele Betrachtungen aus der Stille der Vergangenheit herbeigeholt hatte.

Ich fragte mich oft: ist meine Heimat vor den Fenstern verschwunden? Es war, als stünde mein Zimmer irgendwo in einer seelenlosen Fremde.

Viel zu viel hatte ich bei den Zeitungen meine Stunden verbracht, und Wirklichkeitslärm hatte sich in meine vier Wände eingenistet, so daß das Buch, das ich der Vergangenheit widmen wollte, unmöglich in dieser seelenlosen Umgebung aufwachsen konnte.

Oft trug ich mich mit dem Gedanken, fortwandern zu müssen in ein abgeschiedenes Gebirgsdorf, in ein Berghaus in tiefem Schnee, wohin keine Zeitung und kein Briefbote kommen konnte, in Einsamkeit, wo die Gegenwart sich leicht in Vergangenheit umwandeln kann.

Aber nein, sagte ich mir, ich will noch das neue Jahr erwarten. Die Heimatluft ist mir noch nie untreu gewesen. Immer gab sie mir Arbeitsfrieden, wenn ich nur recht eindringlich danach verlangte. Warum sollte ich dieses Mal auswandern müssen?

Und ich blieb und fütterte weiter die Vögel an meinem Fenster und sah in die schönen blauen Wintertage, die zu dieser Weihnachtszeit mild wie Märztage waren.

Drei Tage vor Neujahr wanderte ich am letzten Sonntagnachmittag des alten Jahres mit meiner Frau über die Nordseite des Nikolausberges, um über dem Berg fort das kleine Haus im Guckelsgraben aufzusuchen, das ich mir in diesem Jahr hatte bauen lassen, und das im Frühjahr meine Wohnung werden sollte.

Viele Leute sagen, im Winter sei in der Natur draußen nicht viel zu sehen. Aber ist denn nicht der Winter zu sehen? Auch wenn kein Schnee liegt, so ist das Winterbild doch erschütternd und die Tragik des scheinbaren Weltstillstandes.

Ich habe einen gelben Hund. Er ist nicht klein und nicht groß. Er hat auch keine bestimmte Rasse. Es ist ein gelber kurzhaariger Pintscher, mit schöner weißer Zeichnung. Jeder aber, der ihn sieht, ruft unwillkürlich aus: „Ach, der Bauernhund!“

Man soll sich nicht wundern, daß ich von der Landschaft plötzlich auf meinen Hund überspringe. Man wird bald den Zusammenhang verstehen.

Meine Frau weiß, wie gern ich mit allen Sinnen die Landschaftsbilder genieße, wenn wir spazieren gehen. Ehe wir nun an diesem Nachmittag ausgingen, riet sie, den Hund zu Hause zu lassen, denn sie bedachte, wie sehr mich das Tier stören würde, da dieser Bauernhund immer Hasen jagen will.

Er hatte uns schon auf manchem Spaziergang geärgert, wenn er fortstürzte, „Has, Has“ bellend und auf kein Rufen und Pfeifen und Schelten hörend.

Es tat mir aber an diesem Tag leid, den Hund zu Hause zu lassen, und so hatten wir ihn bei uns. Meine Frau nennt ihn Sudel, ich nenne ihn Dusel, woraus man ungefähr seine Art erraten kann.

Er hat nämlich den Glücksdusel, dieser Hund. Es gelingt ihm alles, was er will, und ich habe oft scherzend gesagt, daß er bei den Göttern besser angeschrieben steht als mancher Mensch.

Bis auf die Berghöhe folgte Dusel heute meinem zurechtweisenden Ruf „Zurück“ und hielt sich dicht in der Nähe meines linken Fußes. Als wir auf die Bergfläche kamen, die wir überschreiten sollten, um nach dem Guckelsgraben hinunterzugelangen, da ging Dusel mit hochgehobener witternder Schnauze, weil der Westwind uns entgegenstand und wahrscheinlich dem wildgierigen Köter ganze Ladungen von Hasenwitterung in die Nasenlöcher trieb.

Ich konnte es endlich nicht mehr mitansehen, wie das Tier, gleichsam geblendet vom Wildgeruch, mit zwinkernden Augen schnuppernd in die Luft blinzelte und der Atem ihm erschauerte und stockte. Mit den Vorderpfoten ging er wie blind tastend und stieg immer viel zu hoch durch die Luft, weil sein Hundegeist schon weit fortsprang hinter den Hasenvorstellungen her.

Ich sagte zu meiner Frau, daß ich den Hund am liebsten querfeldein laufen lassen möchte. Ich konnte es nicht mehr mit ansehen, wie das Tier seine gesunden Naturinstinkte bei meinem barschen Zurufen „Zurück“ unterdrücken mußte.

„Ach,“ meinte meine Frau, „wenn du den Hund jetzt laufen läßt, sehen wir ihn heute nicht wieder. Dann kommt er vor Abend nicht heim.“

Aber wie wir noch sprachen, hatte der Hund sich schon von uns entfernt und stand, eine Fährte aufstöbernd, kräftig schnuppernd zwanzig Schritte querfeldein bei einer Dornenhecke.

Ich rief ihm zu. Da sah sich Dusel lachend um, wedelte lustig mit seinem geringelten Schweif und fuhr wieder mit der Nase eine Erdfurche ab.

Daß der Hund mich anlachte und nicht kam, ärgerte mich. Und die Vorstellung, daß er vielleicht jetzt in nächster Sekunde fortstürzen würde und dann erst in unabsehbarer Zeit heimfinden wollte, dieser Gedanke machte mich heftig.

Ich wollte dem Tier zeigen, daß ein Hund vom Menschen abhängig ist, und daß es nicht umgekehrt ist. Und ich dachte, wenn ich ihm einen Schlag mit meinem Spazierstock gäbe, so würde er, zahm gemacht, auch den Rest des Weges hinter mir hergehen.

Ich rief und rief nochmals aus Leibeskräften und hob drohend den Stock. Da gehorchte Sudel auch endlich und kam in weitem Bogen herangesprungen. Nun hätte ich ihn nicht schlagen sollen.

Aber ich dachte: ein Denkzettel wird dir und mir nützen, und dann schließen wir Frieden. Wie nun mein zuschlagender Stock durch die Luft fuhr, wich der Hund geschmeidig aus, und da ich ihn nicht traf und mein Körpergewicht in den Schlag gelegt hatte, so wankte ich bei dem verfehlten Stockhiebe.

Aber die Drehung meines Armes beim heftigen Zuschlagen riß mich, als ich in die Luft haute, so unglücklich herum, daß ich mir mein rechtes Bein im Kniegelenk blitzschnell ausrenkte.

Der gewaltige Schmerz dieser plötzlichen Verrenkung und die Angst, daß ich das Bein vielleicht gebrochen hätte, durchfuhren mich jählings. Auch konnte ich auf dem sehr schmerzenden Bein nicht mehr stehen, und ich sank im Feld zusammen, als wenn man mich niedergeschossen hätte.

Dann folgte viel Aufregung. Meine Frau, die glaubte, daß ich mein Bein gebrochen hätte, weil ich blaß und schmerzverzerrt am Boden lag, zerschlug ihren Regenschirm an dem Hund und jammerte über den frechen Sudel, der ebenfalls bei den Schirmschlägen heulte.

Dieses geschah ungefähr um drei Uhr nachmittags. Zwei Stunden brauchten wir, bis wir in die Nähe des nächsten Hauses kamen. Auf meinen Stock und auf meine Frau gestützt, arbeitete ich mich mühsam auf einem Bein bergab. Das rechte Bein war ganz unbrauchbar geworden, auch nachdem ich es wieder selbst eingerenkt hatte.

Das Bein war wie eine tote Masse, tot insofern, als ich es nicht bewegen konnte. Es schmerzte brennend. In den steinigen Hohlwegen des Berges war jeder Schritt eine Marter. Den Weg hätte man mit gesunden Füßen gut in zehn Minuten bergab zurückgehen können.

Wir kamen erst nach zwei Stunden zu jenem Gutshof, auf welchem ich viele Tage meiner Jugendzeit verlebt hatte, und welchen ich im Buch „Der Geist meines Vaters“ genau beschrieben habe.

Mein gelber Dusel, welcher nur einen Augenblick zu mir gekommen war, als ich hingestürzt, war dann blindlings der nächsten Hasenfährte nachgejagt und spurlos verschwunden. Wir hörten ihn manchmal noch in der Ferne „Has, Has“ kläffen. Während der zwei Stunden, die wir zum Abstieg des verhältnismäßig kleinen Weges brauchten, hetzte der Hund die Hasen kilometerweit hin und her, unbekümmert um die Menschenwelt.

Da ich kaum noch weitergehen, meine Frau mich aber kaum mehr stützen konnte, so wurde beschlossen in den Gutshof am Berg einzutreten und dort eine Droschke abzuwarten, die aus der Stadt heraufgeholt werden sollte.

So lag ich denn bald auf einem Liegestuhl, den man in den Gartensaal gerückt hatte, dicht bei dem großen Weihnachtsbaum. Ich war seit drei Jahren nicht mehr in dem Gutshause gewesen, und während ich auf den Wagen wartete und die Frau des Hauses meiner Frau und mir zur Unterhaltung die Lichter des Weihnachtsbaumes anzündete, fielen mir Stunden ein, die ich vor dreiundzwanzig Jahren an diesem Ort erlebt hatte.

Auf einem Regal bei der Tür stand eine Photographie von mir, und als eine der Damen sich erhob, stieß sie zufällig an mein Bild, das dort auf einer kleinen Staffelei stand. Die Photographie rutschte zur Seite und zeigte eine andere, die auch auf derselben Staffelei Platz hatte.

Es war das Bild eines jungen Philosophen, eines Freundes von mir. Ein junger Mann, der die blasse Stirn in die Hand stützt. Diese Aufnahme hatte ich vor dreiundzwanzig Jahren selbst gemacht. Und es war mir nun, als seien die dreiundzwanzig Jahre, die zwischen jetzt und damals lagen, wie dreiundzwanzig Sekunden vorübergegangen.

In dem Gartensaal hatte sich seitdem fast nichts geändert. Menschen waren zwar im Hause gestorben, Junge waren erwachsen, und Erwachsene waren alt geworden. Aber die Luft des Saales war dieselbe geblieben. Die Fenster, die Türen, die Lampe, die Gartenterrasse draußen und die Aussicht auf die Stadt Würzburg, — dies alles wollte mir sagen, daß es Lebendes gibt, das nicht Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft kennt.

Ich hatte das schmerzende Bein auf den Liegestuhl legen müssen und spürte einstweilen in dieser Lage keine Schmerzen mehr. Ich wußte zwar, ich hatte ein Bein, das schmerzte, sobald ich aufstehen würde. Aber augenblicklich war mein Bein unwirklich, und es schien mir nicht zu gehören.

Und so war es auch mit meiner Gegenwart in diesem Gartensaal. Sie schien mir nicht zu gehören. Dieses Zimmer gehörte nur der Zeit vor dreiundzwanzig Jahren.

Dann kam der Wagen. Der fuhr meine Frau und mich und mein Bein in die Stadt. Dusel hatten wir verloren.

Aber dafür hatten wir eine andere dritte Persönlichkeit mitbekommen, und das war mein krankes Bein, dessen Kniesehnen verzerrt und zerrissen waren, und das bei mir lebte hochgeschwollen, steif, schmerzhaft brennend und das mir die Freude am Gegenwartsleben störte, so daß ich, um nicht an das Bein denken zu müssen, zu Hause gern in die Vergangenheit flüchtete.

Am Tag nach dem Sturz sagte ich vom Bett aus, darin ich liegen mußte, zu meiner Frau: „Die Schmerzen haben mich andächtig gemacht. Ich kann dir jetzt das neue Buch diktieren.“

Da nickte meine Frau und meinte: „Das war mein erster Gedanke, als ich dich so schlimm hinstürzen sah und dir ansah, daß du dich schwer verletzt hattest. Wenn er für nichts anderes gut ist, dieser Sturz, dachte ich mir, so ist er vielleicht dafür gut, daß er dir die rechte Andacht zu dem neuen Buch gibt, die du so sehr herbeisehntest.

Denn ich mußte mich mitten in meinem Schrecken blitzschnell erinnern, daß du vor ein paar Tagen sagtest: ‚Ich habe noch nicht die rechte Andacht zum Schreiben!‘“ —

Und so war es auch. Ich mußte nun wochenlang das Bett hüten und Eisbeutel auf das kranke Bein legen. Gleich am ersten Mittag, als alle Glocken der Stadt an mein Fenster kamen, sie die seit Wochen zur Mittagsstunde das Trauergeläut für unseren verschiedenen Regenten Luitpold von Bayern besorgten, sagten diese:

„Hast du es jetzt endlich begriffen, daß wir jeden Mittag nicht bloß zum Trauergeläut ausgeschickt waren? — Jahresringe, wie solche jedes Jahr den Bäumen wachsen, Jahresringe wachsen auch uns Glocken in unserm Erz. Wenn wir läuten, können wir alle vergangenen Jahre herläuten. Wir versuchten es, dir jeden Mittag zum Vergangenheitsrausch, in den du versinken wolltest, die Einleitung zu singen. Du warst aber immer auf Kriegsschauplätzen und wer weiß wo. Jetzt bist du endlich heimgekehrt. Liege nun still, dann wollen wir dich hineintragen in das vergangene Jahrhundert, in die neunziger Jahre, die du wiedersehen möchtest.“

Ich nickte nur und nicke den Glocken jeden Mittag zu, wenn sie um zwölf Uhr kommen und um ein Uhr gehen. Die uralten Glocken aus den uralten Türmen meiner Heimatstadt Würzburg berauschen mich, wenn sie in großem Schwarm die Stadt umkreisen. Bei ihrem Geläute wogt mein Blut, die Gegenwart löst sich auf, und ich sehe die versunkenen Stunden meiner Jünglingsjahre, als schaute ich durch die Fenster versunkener Städte in Räume, die einmal auf der Oberfläche der Erde standen und die fortgeschwemmt wurden samt ihren Bewohnern von der Flut der Zeit.

Mein krankes Bein, das mich ans Bett verankert hat, zwingt nun nicht bloß mich, sondern auch die Zeit um mich, die immer wie in Nebeln entgleiten will, zum Stillstand. Ich kann jetzt mit Muße und Andacht die Vergangenheit, die einmal lebendig war, wie es mein Fleisch und Blut sind, betrachten. Und ich will den Schemen, die mich locken, nachgehen und sie anreden. Sie sollen die Gespräche wiederholen, die schönen, die ernsten, die jugendbetörten, die einsam traurigen und die weltumarmenden meiner Jünglingsjahre.


Da ist ein Augustnachmittag, der sich zuerst an mich herandrängt, und der wegen einer Stunde, deren Gedanken die Welt des Unmöglichen erstürmen wollten, sich bedeutungsvoll aus der Reihe der Jahre vorschiebt. Aber voraus springen noch ein paar starke Augenblicke, die der seltsamen Stunde Vorläufer waren.


Es war in jener Zeit, als ich gegen meinen Vater noch nicht auszusprechen wagte, daß ich Schriftsteller werden wollte, teils aus Scham, diesem allerpersönlichsten Wunsch laute Worte geben zu müssen, teils aus Verlegenheit, weil ich nicht wußte, wie man Schriftsteller oder gar Dichter werden sollte.

Denn die Weltordnung will es, daß keiner das Dichten erlernen kann. Und es wird auch nirgends, auf keiner Schule der Welt, versucht, diese Kunst zu lehren.

Wohl bedarf der Dichter der Schulung, aber die muß er sich selbst erringen und selbst geben. Seine Hochschule und Werkstatt, in der er arbeitet, ist sein Herz.

Keine von den anderen Künsten erfordert so sehr die Hochschule des Herzens wie das Dichtertum. Und ich behaupte, daß dem jungen Dichter in seinen Entwicklungsjahren das schwerste Los der Welt zuteil wird.

Er ist da wie eine Raupe, die unter Würmern kriecht. Während die Würmer aber Würmer bleiben, soll die Raupe ein Schmetterling werden.

Und wenn der junge Dichter auch ahnt, daß ihm Flügel wachsen, — sein Herz, das keine Beweise hat, muß schweigen, muß zweifeln, muß in die Einsamkeit flüchten, muß der Familie, den Freunden, die seine Ahnungen, seine Hoffnungen, seine Pläne nie ganz teilen, entfliehen. Er muß sich dem Rufe der Undankbarkeit, der Untreue, der Wetterwendigkeit aussetzen, wehrlos gefoltert von den Anklagen, die er zu Wäldern von Dornen anwachsen sieht, durch die er hindurch soll.

Den jungen Dichter können keine Lehrer zur Dichtung leiten, keine Bücher, keine weisen Männer, keine klugen Frauen, kein Zorn der Welt, kein Haß der Welt. Er erreicht in seiner Kunst nichts durch Verbindungen, durch Empfehlungen, nichts durch das Erbe seiner Väter, nichts durch das Vermögen oder den Rang der Familie, — er ist bloßgestellt, auf sich angewiesen, auf sich selbst beruhen müssend, aus seiner Unerfahrenheit heraus immer an sich selbst glauben müssend, immer ein einzelner, ein in und über den Dingen stehend Geborener, — ein weltferner Kamerad.

Er muß drei Welten bewältigen: die Welt des äußeren Miterlebens, die Welt der inneren Beschaulichkeit und die Welt seiner geistigen Schöpfungen und soll sich immer in und über den Dingen behaupten.

Und aus diesem ewigen „Von Natur aus anders sein müssen“ als die anderen, daraus erwachsen dem jungen Dichter die Berge voll Dornen, und die Kammern des Lebens scheinen ihm oft mit Folterwerkzeugen angefüllt.

Der Dichter ist auch nie alt und nie jung zu nennen. Er ist, so lange er lebt, Kind, Mann und Greis in einer Person.

Die Kindesnatur gibt ihm immer wieder neues Vertrauen zum Miterleben. Das Weltbetrachten und das „Über den Dingen stehen“, das ihm angeboren ist, gibt ihm schon in jungen Jahren die Ruhe, die Tiefe und die Weisheit des Greises. Und seine Schöpfungen machen ihn zum tatkräftigen Mann, zum Erzeuger hoher ewiger Werte.

Der Dichter wird innerlich fertig geboren. Er entwickelt sich innerlich nie. Sein Herz ist ein Diamant, der nicht feuriger und nicht blinder wird.

Er ist von allen Menschen der Mensch, der im Gleichgewicht geboren wurde; in jenem Gleichgewicht, das die anderen erst durch Leben und Alter erlangen, oder es nie erlangen, aber diesem Gleichgewicht bewußt oder unbewußt zustreben. Denn jedes echte Gedicht muß aus einer Herzensmelodie geboren werden, und eine Melodie ist nur entstehungsmöglich dort, wo Harmonie, das ist Gleichgewicht, herrscht.

Ein Dichterherz ist das harmonischste Herz der Welt. Und deshalb können im letzten Grunde die Wälder und Berge aus Dornen, die Lebenskammern, die voll Folterwerkzeuge starren, dem jungen Dichter nichts anhaben. Er ist der Mann im Feuerofen, er ist der Mann in der Löwengrube, er kann wie Dante die Kreise der Hölle und die Kreise des Himmels durchwandern. Er ist der Unverletzbare, er ist der Prophet, der auf dem Feuerwagen in den Himmel fährt. Er ist der Gesetzgeber, der die Lebensgesetze aus erster Hand der Schöpfung empfängt. Er muß sich plündern lassen wie Hiob und wird doch sein hohes Lied anstimmen und über seinen Tod noch weitersingen ohne Mund, über die Jahrtausende wie Homer.

Seht dagegen die anderen Menschensöhne an! Allen, die auf den Erdstraßen arbeiten, ist ihr Weg bekannt. Alle erhielten Schulen und Führer, Lehrer und Gesetze für ihren Beruf, nach denen sie sich richten konnten, um rechtschaffene Meister zu werden.

Der Handwerker hat seine Lehrjahre und seine Meister, die ihn unterweisen. Der Geschäftsmann hat seine Handelsschule und das Geschäft, die ihn zur Selbständigkeit vorbereiten. Die Ingeniöre und die Architekten haben ihre Hochschulen, die Ärzte, die Richter, die Geistlichen, die Lehrer finden ihren Bildungsweg an Lehrschulen und Universitäten. Den Offizieren, den Diplomaten, — allen ist ihr Lebensplan vom Staate und im Staate eingerichtet.

Ja, selbst den anderen Künstlern, den Bildhauern, Malern, Musikern, stellt der Staat heute Akademien und Konservatorien zur Verfügung. Er erteilt ihnen Titel und Ränge. — Für alle geistigen Arbeiter, die sich dem Gesamtwohl der Nation widmen, hat der Staat einen Platz, ein Auge, eine freigiebige Hand, eine Würde übrig. Nicht so für den jungen Dichter.

Die einen stört das Kindliche an der Dichternatur, das alles miterleben möchte. Die anderen stört das Greisenhafte an der Dichternatur, das tiefe und aufrichtige Betrachten und Sichversenken in die Lebenszustände. Und die Dritten macht das kühne Männliche kopfscheu, das in der Dichternatur unerschöpflich sprudelt, und von dem man keinen Weg voraussehen kann, und das die Bürgerruhe verblüfft, schwindlig macht und abschreckt. Die Vorsichtigen sehen den Dichter unvorsichtig auf einem geflügelten Rosse reiten. Während der Bürger Pferde artig auf der Erde rennen und am Abend müde sind, rauscht über sie fort, noch unter den Sternen, der Dichter als unermüdlicher Sehnsuchtsreiter. —


Um das Jahr 1890 hatte ich heimlich angefangen, manches kleine Gedicht zu schreiben, kleine balladenartige Gedichte, Empfindungsergüsse, die sich in nichts unterschieden von den tausend Reimereien, die jeder ein wenig gebildete, schreib- und lesefähige Mensch zustande bringen kann, und die man nicht Gedichte nennen darf, nicht Dichtungen. Reimverfasser dieser Art sind vom wirklichen Dichter, der den Namen Dichter mit Würde tragen darf, so weit entfernt, wie es ein Schaukelpferd, ein Spielzeug, vom Schulpferd und Rennpferd ist.

Ich wußte, daß mir viel fehlte, aber wußte keine Richtung zu finden. Da lernte ich in dieser Zeit einen jungen Studenten kennen, mit welchem ich nach der Tanzstunde, die wir damals besuchten, manche Stunde nachts plaudernd in den Straßen der Stadt spazieren ging oder in einem Kaffeehause saß.

Unsere Bekanntschaft war dadurch entstanden, daß jener junge Mann, der Medizin studierte, mich ganz unvermittelt gefragt hatte, ob ich schreibe. Die Frage erstaunte und verblüffte mich. Und der Frager sagte, als ich zustimmte, er habe an meiner Kopfform erkannt, daß ich künstlerisch tätig sein müsse, daß ich mich mit Phantasiearbeit beschäftigen müsse.

Ich vertraute ihm an, daß ich einige Verse geschrieben hätte, aber daß ich das noch keine Dichtung, keine Phantasiearbeit nennen könne. Aber seit dieser Frage unterhielten wir uns öfters, und er versuchte mich, da er zum Philosophieren neigte, für die Gedankenwelten der verschiedenen Philosophien zu begeistern.

Meine Empfindungswelt kam mir zwar reicher vor als alte Gedanken, über die wir zusammen sprachen. Aber ich hörte doch gerne seiner mir fremden Welt zu, ließ mir von ihm Schopenhauer vorlesen und hörte seine Erörterungen an, in denen er manches Mal die Wortfechterei der ganzen Philosophie verhöhnte. Ich las ihm dagegen den Schriftsteller, den ich damals mir als Vorbild gewählt hatte, den Dänen J. P. Jacobsen, vor, und ich war erfreut, daß jener junge Philosoph meiner Begeisterung für Jacobsens „Niels Lyhne“ beistimmte und auch auf meine Gedanken einging, so wie es sich für richtige Freunde gehört. Jeder von uns hatte ein waches Ohr für die Empfindungswelt des anderen, ohne seine eigene Welt zu verleugnen oder zu verlassen.

Bei einem Abendspaziergang dann auf dem Steinberg erinnere ich mich deutlich der Augenblicke eines großen Umsturzes, den ein einziger Satz aus dem Munde meines neuen Freundes in mir hervorbrachte. Ich war bisher nicht mehr und nicht weniger fromm und religiös gewesen als andere junge Leute meiner Zeit. Ich war naturehrfürchtig und liebte außerdem die heiligen Personen des Alten und Neuen Testamentes, so wie man alte Familienüberlieferungen liebt, deren Echtheit man nicht bezweifelt.

Ich liebte die Weihnachtsheimlichkeit mit ihrer Mettenstunde, mit ihren Krippenliedern und ihrem Krippenspiel. Ich liebte die Karwoche mit ihrem wehmütigen Karfreitagsleid und wandelte so mit den Festtagen durchs Jahr, denn nur die Kirchenfeste erinnerten mich noch an die Religion, die man mich in der Schule gelehrt hatte.

Gott konnte für mich ebensogut Wirklichkeit wie eine schöne Vorstellung sein. Niemand konnte ergründen, wohin die Toten gehen, niemand konnte ergründen, woher das Leben gekommen war.

Warum sollte es mir daher einfallen, über Gott, der eine uralte Überlieferung war, nachzugrübeln, oder gar diesen Gott abzusetzen. Fragte mich denn jemand, ob ich die Welt haben wollte, wie sie war? Fragte mich denn jemand, ob ich meinen Vater haben wollte, wie er war? Warum sollte ich nicht ebensogut Gott bestehen lassen, da ihn doch die Väter hatten bestehen lassen und deren Väter?!

Auf jenem Abendspaziergang aber auf dem Steinberge, als die Sterne am Nachthimmel wie ein Silberregen glitzerten, kam mir in der Nähe meines immer gedankenvollen Freundes der leichte Ausruf auf die Lippen: „Schade, daß man sterben wird und niemals erfahren wird, wer diese Haufen Sterne geschaffen hat.“

Es war jene Frage, die man so oft nachts an den Himmel richtet, die jeder junge Mensch einmal fragen muß. Eine Frage, die mehr einen leisen Stoßseufzer bedeutet, der aus dem angenehmen Unterbewußtsein kommt, daß das Unerklärliche an der Welt das Köstlichste ist, daß es süß ist, sich in dieser Unerklärlichkeit nur als eine Krume auf dem ungeheueren Welttisch zu fühlen, als eine Wenigkeit, die im Verhältnis zu den riesenhaften Welträumen gar nicht in Frage zu kommen scheint.

Man genießt bei diesem Seufzen in einem Atemzug des Himmels Riesenräume, in denen keine Menschenmacht mitzureden hat. Man genießt sie als eine Freiheit, als ein Aufatmen vom Menschendruck unserer menschenvollen Erde.

Der junge Philosoph antwortete mir, und ich hörte in seiner Stimme ein spöttisches Verachten:

„Wer sagt Ihnen denn, daß die Sterne einen Schöpfer brauchten? Die Sterne sind Atome, die immer waren. Wir können das jedenfalls geradesogut annehmen, wie wir annehmen, daß sie einen Schöpfer haben sollten. Beweise haben wir weder für das eine noch für das andere Vorstellungsbild.

Die Vorstellung von einem Schöpfer kennt keine Freiheit des persönlichen Ich-Bewußtseins. Während, wenn ich mir vorstelle, daß alles sich selbst schafft und sich selbst vernichtet, das Ich-Bewußtsein gewahrt und erhöht wird.

Es bleibt jedem natürlich überlassen, sich einen Schöpfer vorstellen zu wollen oder nicht. Nur wird der Klügere, der schöpferische Mensch, sich gegen eine solche Vorstellung sträuben, die sein Ichbewußtsein von einem Schöpfer abhängig macht. Ich, für meinen Teil, stelle mir lieber vor, daß die Welten sich selbst schufen; da mir scheint, daß diese Vorstellung dem Verstand des Zeitgeistes, in dem ich aufgewachsen bin, mehr zusagt.“ — So sprach mein Freund zu mir.

Ich weiß heute nicht mehr, was ich ihm antwortete. Ich weiß nur, daß ich mich zuerst heftig sträubte, auf die uralte Vorstellung von Gott und dem Schöpfer oder Weltgeist, wie mein Vater immer gesagt hatte, kurzerhand zu verzichten und jedem Wesen eigene Schöpferkraft zuzusprechen.

Mein Freund lachte nur und sagte: „Ich nehme Ihnen ja nichts, wenn ich Ihnen zumute, den Schöpfer wegzudenken und an seine Stelle allgemeine Schöpferkraft zu setzen. Ihr Schöpfer ist so unbeweisbar wie meine Atomkraft. Ich setze nur an Stelle des Nichts, an das Sie glauben, ein anderes Nichts.

Ihr Bild vom Schöpfer verhält sich übrigens zu meiner Atomkraft, die ich mir als Urkraft vorstelle, wie ein Ölporträt zu einem Photographieporträt. Das Ölbild ist das künstlerische, aber auch das ungenauere Bild. Die Photographie ist das unkünstlerische, aber das realistisch genauere Bild.“

In den nächsten Tagen war es mir schwer, mit meinem Freunde weiterzusprechen. Ich litt unter dem Verlust, den er mir zumutete, indem ich das künstlerische Bild von Gott und der Schöpfung aus meinem Herzen ausrotten, und an Stelle der alten Überlieferungen mechanische Vorgänge der Atome annehmen sollte, die mir zwar glaubhaft schienen, aber mich stimmungs- und vorstellungsarm machten.

So weh ums Herz, dachte ich, muß es den letzten Griechen und Römern gewesen sein, als sie die Tempel schließen und Abschied nehmen sollten von den schönen und vertrauten Bildsäulen ihrer erdachten Göttergestalten und von den Zeremonien, den gewohnten, mit denen sie die Feste dieser Götter feierten, die ihnen von ihren Vätern und Vorfahren seit Jahrhunderten überliefert waren und Familieneigentum geworden waren und persönliches Eigentum und Welteigentum, beinahe wie die Bäume, wie der Himmel, wie der Regen und die Sonne, ohne die sie sich ihre Lebensjahre nicht vorstellen konnten.

Ich hatte in jener Sternennacht, da mein philosophischer Freund meinem Herzen den Umtausch vorschlug, an Stelle des Schöpfers, an Stelle des persönlichen Gottes die verallgemeinerte und wissenschaftliche Atomkraft zu setzen, im bläulichen Zwielicht der Sterne auf die türmereiche Stadt Würzburg vom Steinberg hinuntergesehen, über meine kirchenüppige Vaterstadt hin, und ich trug dieses Bild der vielen Kirchen noch in den nächsten Tagen neben meinen verwirrten Gedanken mit mir.

Und so wie die letzten Griechen und Römer gefragt haben werden, als man an Stelle ihrer Götterreligion den einfachen alleinigen Gott der Christen, den einzigen Weltregenten, setzen sollte: „Wozu waren also alle die Tempel, die da Jahrhunderte gebaut waren, gut? Haben wirklich unsere Väter durch Jahrhunderte nur einem schönen Schein gehuldigt?“ So fragte ich mich, wenn ich im Geist das prunkreiche Bild der Kirchenstadt Würzburg vor mich hinstellte und es mit der Öde des Wortes Atom verglich.

Meinen Freund, welchen ich absichtlich in den nächsten Tagen mied, und der, wenn ich ihn traf, es ebenfalls vermied, von neuem das Gespräch der Entgötterung meines alten Himmels aufzunehmen, er konnte endlich die Verstimmung, die so sichtlich zwischen uns getreten war, nicht länger unbekämpft lassen.

Zur Abendstunde zwischen sechs und sieben Uhr holte er mich meistens in der Wohnung meines Vaters ab, und wir gingen durch die Stadtanlagen rund um den Ring der Stadt und am Main entlang, bis wir, wieder an dem Ausgangspunkt zurückgekommen, uns voneinander verabschiedeten, — wenn der junge Student nicht zum Vorlesen und Klavierspielen für den Abend bei mir eintrat und zu Besuch blieb. Er spielte auch manches Mal mit meinem Vater Schach oder plauderte mit meiner jüngsten Stiefschwester.

Aber in diesen Tagen der Umwälzung der Gottbegriffe in mir forderte ich ihn nicht mehr auf, nach dem Spaziergang zu uns in die Familie zu kommen. Er war für mich jetzt nicht mehr bloß Mensch und Freund, sondern er schien mir ein weltfernes Wesen geworden, ähnlich einem jener Atome voll Atomkraft, das selbstschöpferisch walten konnte. Ich war aber mit dieser persönlichen Atomgöttlichkeit noch zu wenig vertraut, um ihr zu vertrauen.

Und gegenüber den altgeweihten menschlichen Gottesvorstellungen erschien mir mein Freund mit seiner selbstherrlichen Atomkraft wie eine Dynamitpatrone, mit der ich noch nicht umzugehen verstand, und die ich meinem Vater nicht ins Haus bringen wollte. Jedenfalls wollte ich selbst erst über den Ersatz der Atomkraft, die den persönlichen Weltschöpfer verdrängen sollte, klar werden, ehe der junge Philosoph, vielleicht nach einer Schachpartie, meinen Vater oder meine Schwester in die Atommächte einweihen würde.

Denn, wenn auch mein Vater mir immer an Stelle des persönlichen, alttestamentarischen Gottes einen neutestamentarischen geistigen Gott, einen Weltgeist, gesetzt hatte, so war doch diese Vorstellung für mich immer noch poetischer Natur gewesen. Der Weltgeist, der über allem schweben sollte, alles durchdringen sollte, war wie ein Riesenweltadler, der mit seinem Flügelschlag das Leben anfachte, und dessen Flügelschlag man aus dem Leben aller Dinge spüren konnte.

Die Weltgeistvorstellung war für mich bis dahin immer noch eine Einheit gewesen, zu der man aufschauen konnte, die über dem Weltall schwebte und atmete, wie ein großes Welt-Ich. Jetzt sollte aber auf einmal dieser Weltgeist so wenig da sein wie der alttestamentarische, persönliche, menschenähnliche Gott und so wenig wie die griechischen, ägyptischen oder assyrischen Götter.

Jedes Stäubchen, das in der Sonne flog, sollte ein schöpferisches Ich sein und nichts Mächtigeres über sich kennen. Es sollte es selbst sein, es sollte Urkraft sein. Alle Legenden des Weihnachtsfestes, des Oster- und Pfingstfestes, die Poesie der Bibel und der Kirchen sollte ich verlassen und gegen Atomleben eintauschen!

Fast haßte ich diesen Entgötterer, der mir in diesem jungen Philosophen zum Freund geworden war. Es war, als kehrte er meine uralte Vaterstadt aus und kehrte mit den Kirchen die traulichen Winkel, Häuser und Gassen fort, und statt der türmereichen Stadt lag nun am Main eine leere Atomwüste.

Nicht einmal mehr das Bild eines grünen gras- und baumreichen Tales, wie es vor der Entstehung der Stadt am Main gewesen war, konnte ich jetzt dort vor mir sehen. Denn auch die Wälder, die da früher waren, die Gräser, die unschuldigen blumigen Mainwiesen, die vor zweitausend Jahren die Ufer säumten, auch sie wurden ein Atommehl, farblos, formlos.

Und eine grenzenlose Verlassenheit befiel mich bei diesen ersten Anfängen meiner Atomkraftvorstellung, die ich an Stelle der bilderreichen Bibelereignisse und der Schöpfung setzen sollte.

Es war an einem hellen Frühlingsabend, als mich mein Freund wieder einmal abholte. Und auf dem Wege durch die Stadtanlagen sagte ich seufzend zu ihm: „Ich glaube nicht, daß wir uns weiter verstehen.“ Er hatte mich nämlich gefragt, warum ich in letzter Zeit so schweigsam sei, ob ich Ärger in der Familie hätte.

„Es ist vielmehr,“ klagte ich, „ich habe Ärger mit allem, was Sie neulich abends auf jenem Berge mir erklärten. Ich streite in mir hin und her. Wenn ich nachts am Fenster stehe und den mir sonst so altlieben Sternhimmel bewundern will, fällt mir ein, daß das nur ein Haufen Atome sein soll, über dem kein Weltgeist waltet, kein Gottgeist, der versöhnlich dem Ganzen seinen Willen gibt, den Stempel des Guten und des Bösen.

Diese verantwortungslose Atommasse, die ich vor mir sehen soll, stört mich sehr. Bei den Frühlingsblüten der Stadtanlagen sehe ich bald nicht mehr die fröhlichen Farben, das Lila des Flieders, das Goldgelb des Löwenzahns, die weißen Sterne des Schlehdorns, sondern ein gleichgültiges Atommeer arbeitet da rund um mich, dessen Farben keinen Sinn haben, dessen Düfte keine Wollust mehr ausströmen.

Denn wenn der Duft aus den Frühlingsbüschen zu mir kommt, so sind das nur wieder Atome, die meine Atome anrühren. Das ganze Leben wird öde bei dieser wissenschaftlichen Atombetrachtung.“

Mein Freund lachte kurz auf. „Aber das ist ja ein großes Mißverständnis,“ erklärte er eifrig. „Sie dürfen sich die Atome nicht als Punktmasse vorstellen, die ziellose Kräfte hat. Jedes Atom ist ein Lebewesen und erlebt Freude, jedes Atom erlebt Leid.

Wenn vorher nur ein einziger großer Schöpfer über all den Dingen dastand — die die Menschen fälschlich die toten Dinge nennen —, so tauschen die, die den Schöpfer ausschalten und allen Dingen eigene Schöpferkraft, eigene Verantwortung, eigene Freude, eigenes Leid zusprechen, dadurch eine Welt von Leben ein gegen die Welt der toten Dinge, die vorher den Menschen umgeben sollte.

Vorher, bei der Vorstellung des fernen Schöpfers, den wir überhaupt nie zu sehen bekommen sollten, da waren die Menschen unendlich einsam und sahen sich durch den sogenannten Weltgeist, der über den Dingen schweben sollte, von der Schöpfung unendlich getrennt und lebten in einer eiteln Einsamkeit. Denn die Menschen kamen sich fälschlich unter allen Geschöpfen als die einzigen Erleuchteten vor, da sie ganz allein einen Funken vom Weltgeist, den sie die menschliche Seele nannten, zu besitzen glaubten.

Doch mit der Annahme, daß alle Dinge Selbstschöpfer sind, daß die Atome der sogenannten toten Dinge, die Atome der Pflanzen, die Atome der Tiere, die Atome der Berge, der Meere, der Wolken, die Atome des Lichtes, eben solche beseelten Wesen sind wie die beseelten Atome des Menschen, — bei dieser Annahme ist der Mensch stündlich und täglich von ewigem Leben umringt und braucht nicht erst auf seinen Tod zu warten, um als Seele in ein ewiges Seelenleben überzugehen.

Jedes Atom ist ein ewiges Ich mit Verstand und Gefühl. Tote, leblose, gefühllose Dinge gibt es im Weltall des ewigen Lebens, in dem sich unser Leben abspielt, nicht. Alle Dinge kennen sich, alle Dinge fühlen sich, alle Dinge verstehen sich.

„Aber“ entgegnete ich, „das haben die Dichter schon längst in den Märchen gesagt, in den Märchen, wo die Schneeflocke redet, wo der Frosch am Brunnenrand mit der Königstochter spricht, wo die Vögel im Walde mit den Menschen reden. Der Bach und der Regen und der Wind und der Baum, — alle reden dort. Und dieses Märchen der Dichter, das soll Wahrheit sein?“ unterbrach ich den jungen Philosophen.

„Jawohl,“ sagte er. „Die Dichter sind die einzigen, die von jeher das Weltall in seinem Urbau erkannt haben. Sie fühlten immer die Einheit und Beseeltheit aller Dinge, der lebenden und ‚toten‘ Dinge persönliches Leben.“

Wir waren an das Mainufer gekommen, wo die Sonne hinter fernen Waldbergen untergegangen war. Die Hügel lagen da wie Haufen blaugrauer Asche, und die roten Abendwolken standen darüber wie Feuerbrände über Opferaltären.

Noch einmal machte mein Herz, den alten Überlieferungen treu geblieben, einen Anlauf, und es verteidigte die Bilder der Engelschöre, die wir Menschen uns in die Wolken versetzen und das Bild des großen alttestamentarischen Gottes mit dem weißen wehenden Bart, der in den Sternenmantel der Jahrtausende gehüllt, immer weise richtend, über den Chören der Engel thronen soll, das Gute zu sich ziehend und belohnend, das Böse fortstoßend und verdammend.

Und die Abendglocken der dunkelbeschatteten Stadt, die zu den feurigen Wolken hinaufläuteten, schienen mir recht geben zu wollen. Der schwere Glockenklang, der mit unseren Schritten auch von den Pflastersteinen widerhallte, ging durch meinen Körper und wühlte in meinem Blut alle alten Überlieferungen der Bibelgeschichte auf.

Da wurde meine Stimme ein wenig pathetisch, als ich zu dem jungen Mann an meiner Seite sagte: „Nein, ich kann ihn nicht absetzen, den alten großen Gott. Ich kann mir den Himmel nicht leer denken, nur mit den Atomen der Wolken angefüllt. Ich will Dichter werden, und es muß mein Dichterrecht sein, mir beliebig die Welt mit Gestalten ausfüllen zu dürfen.

Mit Atomkräften — und auch wenn die Atome beseelt sein sollen — kann ich künstlerisch nichts anfangen. Es ist, als rauben Sie, Philosoph, mir aus meinem Puppentheater die Puppen, und als sollte ich nun auf leerer Szene nur mit der Leere der vier Windrichtungen ein Stück aufführen.“

Wieder lachte der junge Philosoph auf, und seine Stimme wurde plötzlich nicht mehr von Gedanken getragen. Sie klang ganz irdisch nüchtern und knapp, wie die Stimme eines Arztes, der einen phantasierenden Fieberkranken anredet.

„Ja, können Sie sich denn nicht selbst genügen? Warum müssen denn die Wolken Arme und Beine haben und Engel tragen? Warum muß denn überall der Mensch den Menschen hindenken in Regionen, wo es keine Menschen geben kann? Warum sollen die Dinge rundum nicht ihr eigenes Leben leben dürfen?

Lassen Sie doch das Leben aller Dinge einmal zu sich herankommen! Diese Geduld hatte bis jetzt noch keiner von euch Dichtern. Immer müßt ihr gleich alles ins Menschliche verwandeln. Das Weltalleben aber liegt voll von unaufgedeckten Poesien.

Sobald man den Schöpfer absetzt und jedes Geschöpf als seinen eigenen Schöpfer einsetzt, dann wird eine große Fülle von lebenbejahenden, lebenbejubelnden und lebengründenden Dichtungen entstehen.

In den Märchen ließet ihr bis jetzt die Mäuse nur Hochzeit machen wie die Menschen. Ihr stelltet euch dann dabei einen Mäusepfarrer vor, der das Pärchen zusammentat.

Um die Blumen leben zu lassen, müßt ihr ihre Lebensgeister in menschengestaltige Elfen verwandeln. Und über Riesen und Zwerge kommt ihr immer noch nicht hinaus. Immer muß eure Phantasie von kronentragenden Königen, hochzeitmachenden Prinzessinnen und verwunschenen Prinzen handeln.

Dieser abgenützte Plunder mittelalterlicher Lebensbefangenheit, dem wir keine neuen Seiten abgewinnen können, wird von selbst fortfallen, sobald die Weltschönheit, das Weltgefühl und das Weltleben mit dem kleinsten Grashalm, mit dem Schatten eines Blattes, mit dem geringfügigsten Leben, so wie es ist und nicht anders, zu euch reden darf.

Verwandelt nicht immer die Gestalten der Dinge, die an sich selbst jede ihre Schönheit haben. Die Muschel, der Stein, der Staub und ihre Figuren, ihre Lebensbewegungen, wenn sie im Licht aufblinken — alle die Weltalleben an sich selbst sind schön und bieten eine Fülle von Poesie, wenn der Mensch ihre Rhythmen auf sich wirken läßt. Lernt die Abendwolke genießen, so wie sie ist, als ein schwebendes Leben und seht sie nicht als eine erhöhte Kirchenbank für Engel an.

Der Dichter der Zukunft, der dieses fertig bringt, das Weltalleben in seinen wahren Schönheiten, in seinen erregten Lebensäußerungen unverwandelt wiederzugeben, dieses wird der Dichter der neuen Zeit werden, die jetzt anbricht, und die die alte Zeit abstoßen wird, wie ein altes abgetragenes Kleid.“

Ich begann aufzuhorchen. Das war ein Ausspruch! Meine Lust, ein Dichter zu werden, fühlte sich nun in Mitleidenschaft gezogen, und es war mir klar: das, was ich vorher an Versen geschrieben hatte, war nur eine weiche Schwärmerei und eine Schwelgerei auf altromantischen ausgetretenen Wegen gewesen.

Ich wußte zwar noch nicht, wohin mich ein Glaubenswechsel führen würde, und ob er mir wirklich einen Ersatz bieten würde. Aber ich war jung genug, um mich von der Lust anlocken zu lassen, alle bisherigen Wege, welche die Dichtkunst der christlichen Zeitspanne überliefert hatte, kühn zu verlassen und einen Sprung ins Unbekannte tun zu wollen.

Götter- und Ritterromantik sollte weit zurückbleiben. Dafür wollte ich die Romantik des bisher unentdeckten Landschaftslebens, das Reden der Dinge an sich, ohne daß sie menschliche Verkörperungen eingingen, ohne daß sie Märchengestalten annehmen sollten, begeistert aufdecken in ganz neuen Dichtungen.

So sicher und bestimmt, wie ich es heute in Worten niederschreibe, kam natürlich nicht jene Eingebung durch meinen Freund über mich. Mein waches äußeres Auge war noch hilflos, aber innere unbewußte Blicke redeten zu meinem Herzen, ungefähr so, wie in früheren Zeiten ein ferner unentdeckter Weltteil einem Kolumbus Unruhe bereitet haben mag und ihn innerlich gerufen hat, zu ihm zu kommen und unbekanntes Land zu suchen, zu finden und der bekannten Welt anzugliedern.

Wir waren am Main entlang gegangen, die Stadt zur Linken, den Main zur Rechten. Und drüben über dem Fluß, aus dem Tal, das der Marienberg, auf dem die alte Festungsburg steht, mit dem Nikolausberg bildet, aus diesem zu fernen Waldhöhen eilenden Tal kam eine Flut von gelbem Abendlicht. Und die Südfenster des Festungsschlosses und die goldenen Kreuze der Kapelle auf dem Nikolausberge gegenüber und der sanfte Mainspiegel darunter schienen zu brennen, als wären dort überall Freudenfeuer angezündet. Und die roten Wolken am Himmel standen zerpflückt über der Stadt wie große rote Blumensträuße, die auf die Dächer niederregneten.

War all das Licht umher meine Feststimmung, die aus meinem Herzen in den Raum hinausgetreten war? — Jedenfalls fühlte ich mich wie ein König, gekrönt von dem Entschluß, Herr über ein großes unbekanntes Reich zu werden. Und so wie der Abendstrahl dort aus dem Tal die mir so altgewohnte Stadtumgebung verwandelte und in zündendem Licht zeigte, so daß ich für einen Augenblick kaum das alte Heimatpflaster mehr erkannte, so durchstrahlte mich der zündende Gedanke einer geistigen Umwandlung, die jetzt in mein Empfindungsleben einziehen sollte, vom Scheitel bis zur Sohle, als brächte dieser Augenblick mir neues Blut.

Der junge Philosoph an meiner Seite glaubte, daß mich neue Zweifel bestürmten, und seine Stimme schlug plötzlich wie in volle Verachtung um, als er kurz zu mir sagte:

„Und übrigens ist es gar nicht wahr, daß, ehe wir in jener Sternennacht auf dem Steinberg auf Atomkraft zu sprechen kamen, Sie sich noch immer einen Gottvater mit einem weißen Bart vorstellten oder Engelsscharen auf den Wolken oder Ähnliches.

Sie haben längst nicht mehr glauben können, daß menschenähnliche Wesen den luftleeren Weltraum bevölkern können. Sie leisten mir nur jetzt Widerstand, weil Sie sich noch nicht in den Reichtum der neuen Welt, die sich Ihnen darbietet und in die Verantwortung, die Ihr Ich als eigener Schöpfer auf sich nehmen soll, hineinfinden können.

Das ist aber nur Gewohnheitssache. Die neue Welt, in welcher jedes Geschöpf Selbstschöpfer ist und keinen anderen Übersichstehenden anerkennt als sein eigenes Gefühl und seinen eigenen Verstand und als Richtschnur die Erfahrungen, die es aus den Widerständen des Lebens sammelt — diese Welt scheint einem zuerst etwas schwieriger zu sein, weil sie verantwortungsreicher ist.

Man muß seine eigene Schuld auf sich nehmen, aber auch die Freuden werden nicht mehr Geschenke, sondern eigene Errungenschaften. Man ist nicht mehr Geschöpf, das auf Gnade und Ungnade Knecht eines Herrn ist, sondern man ist Herr geworden, eigener Herr seines Lebens und aller zukünftiger Leben.

Niemand, der die neue Weltanschauung annimmt, kann sich mehr mit Schwäche entschuldigen, denn jeder glaubt dann an die unendlichen Schöpferkräfte, die er in sich hat, die wir aber bisher nur dem einen Schöpfer zusprachen.

Sehen Sie die anbrechende Nacht! Sie verhüllt Ihnen nichts mehr vom Augenblick an, wo Sie die Sonnen nicht höher setzen, als sich selbst. Die Nacht birgt in ihrem Dunkel keine anderen Schrecken, als die, die Sie in sich selbst tragen.

Die Nacht ist nicht besser und nicht schlechter als alles Licht. So wie Sie, im Urbegriff genommen, nicht besser und nicht schlechter sind als ich und alle anderen Menschen. Niemand ist Herr und niemand ist Knecht.

Wir bieten jeder dem Leben schwache und starke Kräfte an, je nachdem wir müde oder weniger müde, krank oder gesund sind. Jeder schafft sich, angemessen den Kräften, die er verbraucht, seine eigene Welt. Jeder ist Schöpfer seiner eigenen Freuden und seiner eigenen Sorgen.

Die Kräfte rundum antworten nur auf Kräfte, die zu erwecken jeder ein eigener Schöpfer sein muß. Wir sind nicht Sklaven, nicht Gut und Besitz eines einzigen höheren Wesens. Wir besitzen alles und uns besitzen alle.“ —

Wären Lawinen von den Bergen mit Donner heruntergekommen, hätten die Berge zu wandern begonnen, und hätte der Mainfluß, an dessen Ufer wir gingen, sich senkrecht aus seinem Bett aufgerichtet und wäre als heißer Geiser in den Himmel gerauscht — ich hätte mich nicht betäubter fühlen können als jetzt von den Erkenntnisworten, die da mein Herz anredeten.

Mein vom Altgewohnten fast gedankentot gemachtes Herz, das da in den wuchernden Überlieferungen wie in Bergen von Efeu eingesponnen gelegen, erwachte aus einer Finsternis, die ihm liebgeworden war. Vorher war es wie in Dornen eingewickelt gewesen, die es nie ganz hatten aufatmen lassen.

Und nun war ein Brand in mich hineingefallen. Und die alten staubigen liebgewordenen Lasten des Gedankengestrüppes der Jahrhunderte flogen wie leichte Asche fort, und durch den Aschenregen ahnte ich bereits, daß nun ein ewiger Tag anbrechen würde, ein Tag ewiger Kräfte, ein Tag von befriedigendem, ewigem Wechsel, begleitet von einer Unermüdlichkeit und fern aller Wehleidigkeit.

Große handelnde Freuden und große handelnde Schmerzen würden über mich kommen, und nicht mehr jene verschleierten mitleiddurchtönten Augenblicke, nicht mehr jene Unluststunden, die mich bisher ein willenloses Werkzeug nennen durften eines höheren Willens über mir.

Wir besitzen alles, und uns besitzen alle.“ Dieses war das Wort, mit dem man Herzen und Berge öffnen konnte. Keine Angst vor dem Tode, kein Drang nach Reichtum und Gold, keine Angst vor Armut und keinen Drang nach Eitelkeiten läßt dieser Ausspruch mehr aufkommen bei dem, der ihn voll erfaßt: „Wir besitzen alles, und uns besitzen alle.

Man arbeitet für alle, und alle arbeiten für einen. Unter diesem Losungswort lebten seit Jahrtausenden alle Weltatome und waren alle zusammen Schöpfer dieser Schöpfung, und auch ich war nur im Leben, um Mitschöpfer an der Schöpfung zu sein.

Und mit mir war es der Hügel dort über dem Fluß, die Wolke am Himmel, der Fluß, die Stadt mit ihren Gassen, die Menschen und die Tiere, die Schwalben, die jetzt da im Abend pfeifend in den Äther schossen, die Wälder in der Ferne, in denen die Sonne fortgewandert war, meine Hand, das Holz meines Spazierstockes in der Hand, der Pflasterstein, über den ich ging, die Blütenblätter der Linden, die vor mir im Winde von den Bäumen flogen, — sie alle mit ihren Atomen sind mit mir Schöpfer und Geschöpfe, sagte ich zu mir.

Der verdammende Bibelspruch: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du arbeiten, und dein Acker wird Dornen tragen,“ — dieses Spruches Fluch wird ohnmächtig werden auf den Äckern derer, die sich nicht mehr zu Sklaven und zu aus dem Paradies Verstoßenen stempeln wollen, die sich der Erde Mitschöpfer nennen, Mitschöpfer an der Weltallarbeit und an der Weltallfreude. Denn nicht mehr Knechte sind nach dieser Erkenntnis an der Arbeit, sondern Herren ihrer Lust, Herren ihrer Sorge. —

Ich war still stehen geblieben und hatte über den Main gestarrt und hatte meinen Freund neben mir vergessen. Und wie ich meine Blicke hob, stand in der Richtung nach dem Steinbachstal, wo auf Meilen sich der Guttenbergerwald hinstreckt, ein großer funkelnder Stern, die Venus.

Und die Liebe? Wird deine neue Weltanschauung auch der Liebe den richtigen Wert geben? Es war mir, als spräche das eine feine Stimme aus dem blitzenden Punkt dort vom Himmel herab.

Ich wußte damals noch nichts von der Liebe und konnte mir nicht sogleich antworten.

Leben allein ist wenig, wenn es nur dem Erhaltungstrieb zuliebe geschieht! Ich hatte mir aber, solange ich zurückdenken kann, immer vorgestellt, daß das Liebesgefühl zu erleben das Lebenswerteste sein müßte.

Nicht die Sättigung des Magens, nicht das Wettrennen um das tägliche Brot, nicht einmal den Dichterruhm und nicht die Dichterunsterblichkeit wünschte ich zu erreichen, wenn ich dabei auf das Erleben des Liebesgefühls verzichten müßte.

„Alles wirst du stärker erleben, als es je eine Zeit erlebt hat. Verstehst du denn nicht: vom Augenblicke an, wo du keinem Weltphantom huldigen mußt, wirst du deine Huldigungen allen Lebensregungen unverkürzt zukommen lassen. Die Anbetungsstunden und Andachtsstunden, die dich aus deinem eigenen Ich entfernten, wirst du nun zu Anbetungsstunden und Andachtsstunden aller Lebensgefühle machen.

Und auch das Liebesgefühl wird dann von dir reicher bedacht. Du wirst keinen Gott höher stellen als das Herz der Frau, die du auserwählen wirst, und du wirst auch in ihr, der Geliebten, eine Schöpferin begrüßen, wie sie dich als einen Schöpfer begrüßen muß.

Die Frau hat wie der Mann ihre bestimmte Tätigkeit, in der sie am Weltall mitarbeitet, die, wenn sie auch nicht deiner Tätigkeit gleicht, doch ebenso wertvoll und dem Weltbau unentbehrlich notwendig ist, wie das, was du leistest.“ — So redete ich mit mir.

„Sind Sie nun beruhigt?“ fuhr mein Freund fort, als ich ihn lächelnd ansah und in meinem Innern keine Abweisung mehr fand für die neue Empfindungswelt, die er mir anbot.

„Es leuchtet mir ein,“ sagte ich, „daß die alte Welt, die Bilderwelt der Kirchen und Bibelideale, von den Künstlern so ausgeschöpft ist wie ein Jahr, das ausgereift und längst abgeerntet worden ist. Ich ahnte aber vor unserer Aussprache noch nicht, woher neue Ideale kommen sollten, neue Felder der Phantasie.

Aber noch stehe ich bei Ihren Worten auf keinem sicheren Boden. Ich muß mich zuerst einleben in das, was Sie mir enthüllten.

Ich wünschte, daß die Begeisterung, die vorhin sich meiner beim letzten Sonnenstrahl, der dort aus dem Tal kam, bemächtigte, anhalten möchte. Ich fürchte aber, wenn ich Ihnen heute ‚gute Nacht‘ gesagt habe, werden in den nächsten vierundzwanzig Stunden aus der alten noch nicht abgestorbenen Kirchenwelt alle Zweifel wieder auf mich einstürmen.“

„Das macht nichts,“ sagte der junge Philosoph. „Sie werden noch oft zweifeln müssen. Ich glaube aber, ich kann alle Ihre Zweifel verjagen. Übrigens wird das nicht einmal nötig sein. Ich glaube, Sie selbst werden sie verjagen. Denn da Sie Dichter werden wollen und nicht auf abgeleierten Wegen gehen wollen, wird die Sehnsucht, einen neuen Weg zu finden, Sie von selbst der neuen Weltanschauung entgegentreiben.

Dafür ist mir gar nicht bang. Jeder, der vorwärts will, muß jetzt diesen Weg gehen. Und da die Welt nicht stehen bleibt und auch nicht rückwärts geht, werden alle Menschen von morgen diesen neuen Weg gehen müssen, da es für das Menschengeschlecht keinen anderen Weg gibt, als den Weg fortgesetzter Aufklärung.

Auch die Dümmsten werden zuletzt mit fortgerissen werden und werden mitgehen müssen, da die jetzt kommende Zeit der Menschheit einfach keinen andern Weg zum Vorwärtsgehen übrig läßt, als diesen einen Erkenntnisweg, der da heißt: wir alle sind Schöpfer an der stets fortschreitenden Schöpfung, die wir Leben nennen. Über dem Einzelnen gibt es keinen einzelnen Schöpfer, sondern wir selbst besitzen alles, und alle besitzen uns.“


Diese Spaziergangsstunden waren dem August-Nachmittag vorausgegangen, von dem ich jetzt weiterfort erzählen will, und der dann zur Folge hatte, daß ich mich dann äußerlich beinahe von meinem Freunde lossagte, obgleich ich ihm innerlich ein treuer Freund war.

Man muß bedenken, daß wir beide blutjung waren, er nur einundzwanzig Jahre alt, ich nur dreiundzwanzig.

Es ist gerade dieses Alter, in dem man als Jüngling die meiste Zeit und den größten Drang hat, eine Weltanschauung zu suchen, die einem ein Leitfaden durch das Labyrinth des Lebens werden soll.

Diese Jahre sind die Brutjahre der Ideale, da man noch von keiner Meisterschaft in irgend welcher Tätigkeit in Beschlag genommen worden ist. Man läßt sich leicht von Menschen anziehen und leicht abstoßen. Man ist noch nirgends für immer fest verkettet, man ist in jenen Jugendjahren wie ein Samenkorn im Wind, das weiterfliegt und noch keinen Wurzelplatz gefunden hat.


Man sollte nun meinen: nach jener Aufklärung, bei der wir uns beide zu unseren äußersten Geistesgrenzen erhoben hatten und gleichsam über der Erde im Äther des Weltraums gesprochen hatten, hätte es nie mehr für uns möglich sein können, in alltäglichen Dunkelheiten unterzutauchen.

Aber so, wie ich das Gespräch jenes Abendspazierganges hier niederschrieb, ist dasselbe nicht in Wirklichkeit gesprochen worden. Sein Sinn und seine Bedeutung waren wohl dieselben. Aber die Einheit des Gedankenganges stand nicht so geradlinig vor uns. Alles wurde schwankender, im unklaren Plauderton, ausgedrückt, und ich gebe heute, nach dreiundzwanzig Jahren, mehr das Gespräch unserer Geister wieder als das ungelenke und unbeholfenere Gespräch unserer Lippen, das ich natürlich nicht behalten konnte.

Das Endergebnis jenes Abends war, daß ich den neuen Aufklärungen meines Freundes keinen hartnäckigen Widerstand oder eigensinnige Taubheit, welche gleichbedeutend mit Dummheit gewesen wäre, mehr entgegensetzen konnte oder wollte. Im Gegenteil: ich verfiel in einen neugläubigen Übereifer, und diesem allein schreibe ich auch jene verhängnisvolle Probe zu, mit der wir die neue Weltanschauung, ganz unsinnig, äußerlich prüfen wollten.

Wie eine Belastungsprobe bei einer neuen Brücke gemacht wird, so derb gedachten wir auch einen raschen äußerlichen Beweis von der Macht der neuen Weltanschauung liefern zu können.

Ich hatte meinem Freund gesagt: „Angenommen, daß der Mensch gleiche Schöpferkraft hat wie der Schöpfer, den wir uns früher über das Weltall gesetzt vorstellten, dann kann ich recht gut verstehen, daß die Wunder, die Christus tat, wenn er lebenden Leibes zum Himmel gestiegen ist, Wasser in Wein verwandelte, Lahme gehen machte, Blinde sehend und Tote auferstehend, — daß eigentlich diese Wunder von jedem Sterblichen geleistet werden könnten.“

Diese Frage warf ich Monate nach jenem Frühlingsabend auf, nachdem ich, losgetrennt von meinen alten Überlieferungen, sozusagen zwischen der alten und neuen Welt vagabondierte. Denn, wenn auch der Geist rasch an der Schwelle einer neuen Erkenntnis steht und blitzartige Aufhellungen genossen hat, — bis der Leib sich an das neue Licht gewöhnt, hat es noch gute Weile.

Alles, was ich an Dichtungen zu schreiben anfangen wollte, neigte noch nach der alten Seite hin, und mein Geist sagte mir, daß ich noch nicht in den Sinnen reif sei, um schon sofort ein Gedicht oder eine Dichtung auf dem Weg der neuen Weltanschauung zu schaffen.

Darüber war ich unglücklich, denn nichts war mir von jeher widerlicher gewesen als Tatenlosigkeit. Seufzer stiegen in mir auf und heimliche Vorwürfe gegen meinen Freund, der mir alles, was jahrhundertelang niet- und nagelfest gewesen war, gelockert hatte.

Ging ich an den schönen alten ehrwürdigen Kirchen vorbei, so sagte ich mir jetzt: es wohnt gar kein Gott darin. Und die Priester dort und die Andächtigen schauen zu einer Leere auf, als ob sie ein leeres Loch in der Luft anbeten.

Und ich bemitleidete alle Menschen, alle, die mir begegneten, von meiner Familie angefangen bis zur Obrigkeit des Landes. Sie alle schienen mir bedauerlich, da sie eine große Null als ihren Herrscher ausgerufen hatten.

Es ging mir wie in jenem Märchen, in dem es heißt, daß ein König bei einem Festzug im Hemd durch die Straßen gegangen ist und es allen Leuten bei Todesstrafe verboten war, zu sehen und zu sagen, daß der König nur ein Hemd anhabe. Denn der König behauptete, ein kostbares Gewand anzuhaben, und niemand durfte dieser Behauptung widersprechen. Bis endlich aus der schweigenden Menge ein kleines unschuldiges Kind, das einen Königsmantel sehen sollte, wo keiner war, harmlos ausgerufen hat: „Aber der König hat nur ein Hemd an. Er hat ja gar keinen Mantel an!“ —

So ging es mir jetzt den Menschen und den Kirchen gegenüber. Ich hätte gern in alle Kirchentüren hineingerufen: „Ihr guten Leute, die ihr da kniet, steht doch auf und geht heim und versäumt die Zeit zur Arbeit nicht und versäumt die Zeit zur Liebe eurer Frauen nicht und versäumt nicht die Zeit zur Bewunderung der Welt, von der ihr Mitschöpfer seid. Es ist gar kein Gott im Himmel, nur Luft und Leere; jeder von euch ist sein eigener Gott.“

So vereinsamt, alleinstehend, einer neuen Weltanschauung verfallen, die nur jener Freund mit mir teilte, fühlte ich mich aber nicht wohl, ich, der ich gerne gesellig sein und die Menschen lieben und achten wollte. Und daß mir von allen Menschen niemand übrig blieb als dieser junge Philosoph — mit dem ich mich plötzlich allein, wie von der ganzen Menschheit getrennt sah, nachdem ich auf seine Gedankengänge eingegangen war —, das plagte mich. Denn ich war jung und wollte gern durch die Menschenschwärme gehen, die Menschheit erlebend und liebend, und wollte ein einfacher Mensch unter Menschen sein und keinen Sonderling vorstellen.

Der junge Student hatte seine Eltern und seine Heimat in einer andern süddeutschen Stadt, und in meiner Stadt kannte er, mit Ausnahme von einigen Mitstudierenden, denen er sich aber wenig anschloß, fast niemanden.

Er arbeitete in seinen Mußestunden an der Atomkraftlehre, die er später niederschreiben wollte, und deren vertieftes Durchdenken und Klarlegen ihm bereits zur Lebensaufgabe geworden war.

Zu Anfang war es wohl wunderschön, wenn wir uns abends trafen und als zwei verkappte Weltumstürzler an den Provinzlern und Kleinstadtleuten vorübergingen. Diese fanden an uns beiden vielleicht nichts anderes merkwürdig, als daß der junge Philosoph untersetzt war, aber im Gesicht eine kluge regelmäßige Linie zeigte, außerdem ein Augenglas trug und auf der Oberlippe einen kaum beginnenden Bartflaum. Und an mir fiel auch nichts auf als der überstarke Haarwuchs auf meinem Kopf. Auch an unserer Kleidung war nichts Aufrührerisches. Mein Freund trug, solange ich ihn kannte, hechtgraue Kleider von einfachstem Schnitt, während ich meistens schwarze Stoffe trug und mich höchstens durch eine etwas gewähltere Krawatte auszeichnete.

Der junge Philosoph war von Haus aus Katholik, ich Protestant. Aber es war selbstverständlich, daß Religionsunterschiede nie zwischen uns zu Tage traten, da wir uns über jede Religion erheben wollten.

So dachten wir auch, als ein dritter junger Mann, welcher Jude war, sich zu uns gesellte, keinen Augenblick über seine Religion nach und fühlten ihn, nachdem er von dem jungen Philosophen in die neue Weltanschauung eingeweiht worden war, als einen geistesfreien Menschen uns zugehörig. Wenn wir von den neuen Gedankenwegen sprachen, waren wir alle drei wie ein einziger Mensch, der da denkt, fragt und sich Fragen beantwortet.

Das Seltsame war aber, daß jeder von uns dreien aus einer strenggläubigen Familie stammte. Meine Mutter hatte der strengprotestantischen Sekte der Herrnhuter angehört, und in meines Vaters Familie waren viele Oberprediger unter meinen Vorfahren gewesen.

Der junge Philosoph hatte eine äußerst strenge Mutter, die jeden Morgen, Sommer und Winter, ihn und seine Brüder vor dem Schulbesuch in die Frühmesse geschickt hatte. Und jeden Sonntag hatte er die Kirche zweimal besuchen müssen, morgens und nachmittags. Ebenso mußte er jeden Monat zur Beichte gehen, und die äußerst scharfe Mutter, die nie mit schweren Strafen gegeizt, sammelte eifrig die Beichtzettel, die ihr den Beweis des Gehorsams geben sollten, den sie blindlings bei allem, was die Kirche betraf, von ihren Söhnen forderte.

Auch später noch, als mein Freund auf dem Gymnasium war, war sie eben so streng zu ihm gewesen. Und nachher hatte sie ihn dann erst zum Studium auf die fremde Universität gehen lassen, als er ihr versprochen hatte, den Kirchenbesuch dort fortzusetzen. Und dieser junge Mann, der so aufklärend und auf meine alten religiösen Überlieferungen vernichtend wirkte, er besuchte regelmäßig — um seine Mutter nicht belügen zu müssen, wenn er in den Ferien heimkam und über den Kirchenbesuch ausgefragt wurde — jeden Sonntag vormittag eine katholische Kirche der Universitätsstadt.

Als ich ihn fragte, wie er das fertig brächte, in die Kirche zu gehen, sagte er: „Es ist mir ganz gleich, ob ich zu Hause auf meinem Zimmer oder in der Kirche über meine Atomlehre nachgrüble. Meine Mutter belügen mag ich nicht, das ist mir unbequem. Und würde ich nicht in die Kirche gehen, so ist diese Frau so stark, daß sie mich nicht weiterstudieren lassen würde. Also tue ich ihr den Gefallen. Ich bin das Nachdenken in den Kirchen schon von Jugend an gewöhnt und habe meine ganze Weltanschauung seit Jahren im Schutz der Kirchengewölbe und der Kirchenstille durchgearbeitet. Ich habe meiner Mutter nur versprochen, in die Kirche zu gehen. Für meine Gedanken in der Kirche aber hat sie mir kein Versprechen abgenommen, und dafür hätte ich ihr auch keines geben können.“

Der Vater meines Freundes, welcher als Direktor einer Fabrik, die auf dem Lande lag, nur des Sonntags zur Familie in die Stadt kam, hatte die Erziehung seiner Söhne dieser etwas gewalttätigen Mutter ganz überlassen und war zufrieden, wenn er Ruhe zu Hause fand, und wollte von keinem Streit und keinen Erziehungsangelegenheiten hören. Es hätte dem jungen Mann also nicht geholfen, wenn er in der Kirchenfrage sich an seinen Vater gewendet hätte.

Und so oft ich, der von Haus aus keinen Kirchenzwang kannte, den Freund, wenn er mich Sonntag nachmittag besuchte, fragte: „Warst du heute vormittag spazieren?“, da war seine stete und mich immer wieder verwundernde Antwort: „Ich? Nein. Ich war in der Kirche. Das mußt du doch endlich behalten. Ich bin wahrscheinlich unter allen Medizinstudierenden der beste Kirchengänger der ganzen Universität.“

Er sagte das lachend. Und ich schüttelte den Kopf und erstaunte immer wieder. Ich hätte ein solches Gleichgewicht von Beherrschung und Willen nicht aufbringen können, so glaubte ich immer und äußerte das zu ihm.

Da sagte er zu mir: „Tust denn du nicht dasselbe? Du lebst im Hause deines Vaters, bei ihm, der dich nicht Künstler werden lassen will. Und du beugst dich mit Beherrschung seinem Willen und lebst und arbeitest in seinem Geschäft und denkst dabei deine eigenen Gedanken, von denen dein Vater keine Ahnung hat.

Du gehst folgsam in sein Geschäft, aber deine Gedanken sind nicht dort, denn du willst Schriftsteller und Dichter werden. Ich tue meiner Mutter den Willen und gehe in die Kirche, und du tust deinem Vater den Willen und übst einen Beruf aus, bei dem du, so wie ich in der Kirche, ganz anderen Gedanken nachhängst.“ —

Der Dritte von uns gehörte einer strengjüdischen Familie an und war aus einer der jüdischsten Provinzen Ostdeutschlands nach Würzburg gezogen. Er studierte ebenfalls Medizin, und der junge Philosoph hatte ihn in einem Kolleg, das sie beide besuchten, und wo sie nebeneinander saßen, kennen gelernt. Er hatte ihn mir gelegentlich vorgestellt, und seltsamerweise geschah dieses gerade in dem Augenblick, als ich es etwas eintönig empfand, mit dem jungen Philosophen immer von der Entwicklung seiner Atomlehre zu sprechen.

Denn geleitet vom Studium der Physik und der Chemie, die er eifrig betrieb, da er sie zum Physikum-Examen benötigte, hatte der Philosoph jetzt eine Atomlehre aufgebaut. Er behauptete, die Atome aller Dinge, im Eisen, im Holz und so weiter, kreisen ebenso untereinander wie die Planeten um die Sonne und leben wie die Sonnensysteme kreisend.

Überall, wo Leben herrsche, sei dieselbe kreisende Bewegung in den Dingen wie im Sternenhimmel, so behauptete er. Die Weltkörper seien für den Weltraum nichts als Atome von ungeheurem Umfang. Und mit der Annahme vom Kreisen der Atome wäre auch der Magnetismus und die Elektrizität, deren fernwirkende Kraft bisher unerklärlich war, leicht erklärbar. Ebenso wären die Macht der wirbelnden Dampfkraft, das Schwergewicht und die Ausdehnung der Gase durch das Kreisen der Atome verständlich.

Und der junge Denker wollte die Vorgänge der Chemie und Physik nun auf die einfachste Weise erläutern und ein Buch ausarbeiten, das von nichts weniger als „vom Wesen aller Dinge“ handeln sollte.

Bei diesen, auf die Einzelheiten des mechanischen Lebens eingehenden Übertragungen der neuen Weltanschauung wurde ich unaufmerksam und konnte nicht genau mitfolgen, da sie fern von meinem Gebiet lagen: der neuen Dichtung, der ich zustreben wollte. Und so war mir der andere neue Kamerad willkommen, der als Student dem jungen Philosophen kritischere Einwände machen konnte als ich. Ich war schon ganz überanstrengt von den chemischen und physikalischen Vorträgen, die mir der junge Denker auf allen Spaziergängen gehalten hatte.

Auch war ich, um mir eine persönliche Schriftsprache anzueignen und mir das eingedrillte aufsatzartige Deutsch der Schuljahre abzugewöhnen, auf den Gedanken gekommen, alle Spaziergänge und alle Beobachtungen an Menschen und alle Gespräche mit Menschen aufs knappste zu Hause in Notizbüchern niederzulegen. Und da hatte ich viel zu tun, denn ich sah bald ein, wieviele wichtige Beobachtungen aus der Augenblickswelt, wieviele feine, unauffällige und doch wichtige Menschenzüge und wieviele vorüberflatternde Ausdrücke in der Sprechweise der Menschen mir bisher entgangen waren. Denn so, wie in der Landschaft mir jetzt nichts zu klein war und zu unbedeutend, als daß es nicht eindrucksvoll gewesen wäre, so erging es mir bei den Menschen und ihren Gesprächen.

Bald häuften sich Stöße von dicken Notizheften bei mir an, und wenn ich manchmal darin blätterte, war ich erstaunt, wie lebensfrisch jedes Erlebnis noch nach Wochen wirken konnte, wenn es in treffenden Worten und mit genauer Beobachtung festgehalten worden war. In diesen Notizbüchern standen natürlich ganz unzusammenhängende Beobachtungen, herausgerissen und niedergeschrieben aus dem Tagesleben.

Es waren das meistens Übungen, wie ungefähr Kinder in der Fibel zuerst Silben lesen und Silben schreiben lernen, ehe sie ganze Worte, Sätze oder Aufsätze bilden dürfen. Ich schulte dabei mein Gedächtnis für die Vorgänge um mich, und zugleich eignete ich mir ein schnelles Fühlen, Auffassen und ein schnelles Bezeichnen jener Vorgänge durch solch tägliches Niederschreiben an.

Diese Notizbücher hatten aber nichts mit einem Tagebuch gemeinsam. Es handelte sich darin nicht um zusammenhängende, fortlaufende Geschehnisse. Ich beschrieb manchmal nur den Gang eines Menschen, der mir zufällig aufgefallen war, oder Gewohnheitsgesten eines Sprechenden, oder nur ein paar Bäume im Regen, das Abendlicht über den Dächern der Stadt, das Windgeräusch in der Nacht in einem Garten und so weiter. Vielleicht manches Mal nur das Gefühl, den der Händedruck eines bestimmten Menschen mir gab, das Gefühl eines Kopfnickens nur oder das eines flüchtigen Blickes, den ich von Vorübergehenden auffing, und der mir tiefe Seelenzustände zu enthüllen schien.

Ich übte mich so in der Kunst, Kleinstes und Flüchtiges in bezeichnenden, nachdrücklichen Worten festzuhalten. Und deshalb wurde es mir allmählich auf den Spaziergängen schwerer, dem jungen Philosophen in allen seinen Gedankengängen über Chemie und Physik zu folgen.

Der neue Freund, den mir der Denker zugeführt hatte, und den ich zum Unterschied von uns beiden Sprechenden und Erörternden, da er wenig sprach, aber mitempfindend nickte und meist zuhörend war, den Schweigsamen nennen will, — dieser neue Freund war mir jetzt eine wahre Wohltat. Nach den ununterbrochenen Gedankengesprächen der vorausgegangenen Zeit wirkte er durch seine Ruhe und sein teilnehmendes Nicken wie jemand, der da war und doch nicht da war. Und man konnte sich vorstellen, daß, wo er in Gedanken war, es friedlich sein mußte, da er immer irgendeine Melodie leise vor sich hinsummte oder leise pfiff. Der Schweigsame setzte sich auch oft ans Klavier und spielte Chopin oder Grieg, während der Denker, wenn er sich ans Klavier setzte, nicht ohne Beethoven gespielt zu haben wieder aufstehen konnte.

So war der Sommer herangekommen, und nun komme ich in meiner Erlebnisschilderung bald zu jenem seltsamen Augustnachmittag.

Es war notwendig, den Leser mit der Entstehung jenes lebensbestimmenden Grundgedankens bekannt zu machen, der mir von jenem Freund, dem jungen Philosophen, gegeben wurde, da diese neue Weltanschauung, die sich mit der Zeit in mir festwurzelte, dann auch wirklich der Grundton aller meiner Liederbücher und Prosabücher wurde, die in den letzten zweiundzwanzig Jahren entstanden sind. Auch der Binnenreim und meine, die Kritiker immer wieder verwundernde, Heranziehung von wechselnden Vergleichen und Bildern des Naturlebens ist die Folge jenes befreiten Weltblickes und hat den Ursprung in einem Herzen, das sich Schöpfer und Geschöpf fühlt und nicht bloß sklavische Unterordnung unter überlieferte Begriffe kennt.

Viele Kritiker sagten Jahre hindurch, meine Bücher und ich selbst seien nirgends einzureihen. Dieses ist wahr, sie haben recht, da ich jetzt, wenn ich auf meine Bücher zurückblicke, mich, ohne mir schmeicheln zu wollen, den dichterischen Verkünder einer neuen menschenbefreienden Weltanschauung nennen kann.

Meine Gedichte werden oft mit den kurzen gedrungenen Liedern der Asiaten verglichen. Ich habe aber niemals weder chinesische noch japanische Literatur studiert. Ich kenne von diesen Literaturen nur einige wenige Gedichte, die in den letzten Jahren in Übersetzungen zu uns gekommen sind.

Ich erhielt öfters Aufforderungen von Literaturprofessoren, ihnen die Quellen zu nennen, aus welchen ich die japanischen Novellen und Liebesgeschichten entnommen, die ich nach meiner Reise um die Erde 1911 herausgab. Ich muß aber immer wieder und diesmal öffentlich erklären: ich kenne nichts von japanischen oder chinesischen Urtexten. Nur ein weniges, was in Übersetzungen zu uns kam, und das jene Herren viel aufmerksamer studiert haben werden als ich, kenne ich. Auf meiner Reise um die Erde, durch ganz Asien, von Bombay bis Yokohama, war es die vorher vor dem Leser ausgebreitete Weltanschauung, die mich der Seele der Asiaten sozusagen zum Zwillingsbruder machte. Und fühlt man seine Seele mit der Seele eines Volkes verwandt, und decken sich die Weltanschauungen, oder sind sie sich wenigstens sehr ähnlich, so ist es ein leichtes, das ganze Gebärdenspiel einer fremden Rasse, ihre Wünsche, Bedürfnisse und Begierden, auch die Wallungen ihrer Leidenschaften zu verstehen und miterleben zu können, so wie man es zu Hause bei dem vaterländischen Volk tut.

Durch Beobachtungsgabe und Rhythmusverständnis, die mir im Ohr und im Blut von meinen Eltern ins Leben mitgegeben wurden, die ich aber beide durch die Erfassung jener neuen Weltanschauung viel freier schulen und üben konnte, als wenn ich alten Überlieferungen und ausgetretenen Gefühlswegen nachgegangen wäre, sind mir auf meiner kurzen Reise durch Asien die Kulturen der morgenländischen Völker leicht vertraut geworden, so daß viele Kritiker behaupteten, ich müßte jahrelang asiatische Studien betrieben haben vor, während oder nach meiner Reise.

Und das ganze Geheimnis, warum ich Asien nahe kam, liegt doch nur in dem Weltallverständnis, das in jenem Satze enthalten ist: wir besitzen alles, und uns besitzen alle, und über uns ist kein anderer Besitzer. Dieser Satz, der der neuen Weltanschauung voransteht, macht einen jeden Menschen zum natürlichen Besitzer aller Lebensregungen, die der Erdball und der Himmel hervorbringen.

Wenn ein Dichter sich von alten beengten Überlieferungen befreit hat und die Freuden und Leiden der ganzen Erde gleich hält seinen eigenen und sich mitbeteiligt fühlt am Lebenszustand aller Rassen, ausgegangen von der engsten Heimat bis zur weitesten Ferne und zurückkehrend zur engsten Heimat, so ist es nicht mehr erstaunlich, wenn demselben dann Gedanken und Gedichte in Fülle zufliegen.

Die meisten Gebildeten heutzutage, die den Schöpfer über sich nicht mehr anerkennen, werden planlos vom Weltgetriebe umhergeschaukelt; die meisten, die die alten Überlieferungen ablegten, gehen ziellos umher, als einziges Ziel nur die Jagd nach ihrem Glück anerkennend. Die Einsicht aber, daß der Wert aller und ihr eigener Wert unzertrennbar von einander sind und ebenso das Glück aller und ihr eigenes Glück zusammengehören, diese Einsicht haben wohl viele, aber danach zu leben, wird ihnen schwer, weil sie nicht alle Leben als ihren festlichen Besitz und nicht sich als den festlichen Besitz aller Leben anerkennen wollen.

Dieser Besitz beschränkt sich nicht bloß auf die kurzen Menschenjahre, sondern es ist gemeint, daß der Besitz sich auch erstreckt auf alle Zeiten, auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das heißt, auf alles Leben, dem wir immer angehört haben, angehören und angehören werden, und auf alle Schöpferkraft im Weltall.

Jedes Menschenleben ist ähnlich einem Künstler. Dieser verfertigt ein Buch, ein Bild, eine Statue, ein Musikstück; und ist eines seiner Werke beendet, so ist damit doch nicht sein Leben beendet. Er beginnt ein neues Werk, aber sein Leben steht hinter allen seinen einzelnen Werken.

So leben wir durch alle Zeiten neue Leben, und hinter allen diesen Leben steht unser eigenes ewiges Leben, das ewige Leben des Weltalls, von dem wir im Innersten Besitzer sind. Aber kein Leben steht über uns, kein Schöpfer und kein Richter; wir selbst sind unser Schöpfer und unser Richter. Diese Anschauung macht frei und verantwortlich zugleich.

Vielleicht wird mir einer zurufen: ach, das ist die Seelenwanderungslehre! Das ist altbekannt und nichts Neues!

Nein, es ist nicht die Seelenwanderung allein, die ich meine. Ich erkläre: wir alle sind längst Besitzer der göttlichsten Seelenruhe, des Nichtseins, des Nirwana, wie es die Asiaten nennen. Wir sind aber auch zugleich Besitzer des Seins. Beide Zustände sind untrennbar von einander in uns verschmolzen. Wir wandern nicht anders von Leben zu Leben, als der Künstler es tut, wenn er ein Werk nach dem andern vollbringt. Der Geist jedes Schaffenden steht hinter allen seinen Werken in göttlicher Ruhe und Betrachtung. So stehen wir hinter unseren Leben.

Wir sind von Leben zu Leben durch die Jahrtausende wandernd, die Jahrtausende erlebend gegangen, so wie ein Meister von Werk zu Werk tätig ist und doch hinter seinen Werken, Ruhe bewahrend und mit göttlichem Geist die Werke betrachtend, unsterblich lebt.

Und nun will ich an Stelle des Wortes Werk das Wort Fest setzen. Der Elendste unter uns Menschen, das Elendste unter den Tieren und das Elendste unter allen Atomen feiert das Fest seines Werkes, so lange es sein Leben liebt. Wenn ihm das Werk nicht mehr genügt, ihn das Fest seines Lebens nicht befriedigt, so legt er dieses Leben fort und wird ein neues beginnen, ein neues Werk, ein neues Fest.

Das heißt, jedes Lebewesen kann sich unbewußt oder bewußt sterben lassen, mit oder ohne Gewalt. Aus der Ruhe seines urewigen Lebensatoms heraus wird dieses Lebewesen die Gestalt, in der es Schöpfer war, z. B. den Körper Mensch, Tier, Pflanze eingehen lassen und sich mit neuer unerschöpflicher Werk- und Festlust, die wir Lebenslust oder Schöpferlust nennen, neue Gestalt geben.

Jeder wird nach dieser Ausführung verstehen, daß diese Art Seelenwanderung, wenn man sie so nennen kann, zwar ähnlich jener bekannten Annahme von der Seelenwanderung ist, aber da sie aus Schöpferlust geschieht und keinen Zwang bedeutet, ist sie mehr, sie ist festlich. Dieser Gedanke ist eine Verschmelzung von christlicher Anschauung und buddhistischer Anschauung.

Jede Halbkugel der Erde gab ihren Geist zum Aufbau dieses Ideales, dieser neuen Weltanschauung. Die Asiaten behaupteten, daß wir gezwungen von Leben zu Leben gehen müssen, wenn wir uns nicht durch steten Lebensverzicht von der Lebenswiederkehr bewahren und so durch fortgesetzte Abtötung des Lebenswillens uns zum Nirwana, zur höchsten Seelenruhe bringen. Der Asiate sieht also die Seelenwanderung, das Weiterleben, wie eine Strafe an und das Leben wie eine Plage, aber die Seelenruhe, das Nichtsein als das einzig lebenswerte Ideal.

Der Geist des Abendländers dagegen gibt die Lebenslust nicht auf. Er findet es feig, auf das Leben zu verzichten. Er sieht das Leben als eine Aufgabe an, als ein Werk, an dem er arbeitet, und jene träumende Seelenruhe des Asiaten erscheint seinem europäischen Lebenswillen unbehaglich. Und der neuzeitliche Abendländer kann sich unter der Seelenruhe nach dem Tode und ihrer Seligkeit gar nichts mehr vorstellen, da er immer kräftig lebenstätig ist und unermüdliche Lebenstätigkeit über unendliche Ruhe setzt.

Das neue Ideal aber oder die Weltanschauung, die sich ergibt, wenn wir die edelsten Regungen des morgenländischen Geistes und die des abendländischen Geistes zu einer einzigen Lebenserklärung zusammenstellen, dieses Ideal, oder diese Weltanschauung sagt: Wir sind immer ungezwungen Schöpfer und Geschöpfe gewesen und werden es immer sein, das heißt: wir sind immer im Besitz ewiger und endlicher Kräfte gewesen. Jedes neue Leben, das wir erleben, ist uns ein festlich stimmendes Werk, hinter dessen Endlichkeit unsere eigene Unendlichkeit weiterlebt und stets mit Schöpferlust nach neuen Werken und Festen greift.

Wir sind ewige Besitzer der Schöpferkraft seit allen Zeiten. Wir und alle kleinsten und größten Lebewesen sind immer ewige Besitzer einer ewigen Ruhe, die wir nicht erst in einem fernen Nirwana oder Himmel zu erreichen brauchen. Und wir sind außerdem die ewigen Besitzer des Lebens, des festlichen Wechsels in der Ruhe, dessen Gestaltung wir selbst bestimmen aus unserer unendlichen Schöpferlust heraus.

Christus, der große Weise und große Mensch der weißen Halbkugel, sagte: „Ihr sollt nicht sorgen für den morgigen Tag, das heißt, euch nicht zu viel Unruhe machen. Der Vater im Himmel sorgt für euch wie für die Lilien auf dem Felde.“

Jener Vater im Himmel ist unsere eigene, ewig in uns wohnende und uns gehörende unsterbliche Schöpferlust, die Atomkraft, wie mein Freund, der Philosoph, sagte, deren Ruhe unerschütterlich ist, vor der unser jeweiliges endliches Leben weniger als den millionsten Teil eines Atoms bedeutet. Diese Schöpferkraft wohnt in uns wie in allen, die mit uns in die Weltallerscheinung treten und am Weltallwerke und Weltallfeste mitarbeiten und mitfeiern. Dieser unserer Schöpferkraft müssen wir uns bewußt werden, um uns nicht bloß als die schwachen Geschöpfe und als Sklaven eines endlichen Lebens oder einer ewigen Seelenwanderung zu fühlen.

Wir streben weder einem Himmel noch einem Nichtsein oder einem Nirwana zu. Das Nichtsein ist uns so gut angeboren wie das Sein.

In unseren tiefsten, erhabensten Augenblicken kehren wir bei unserem Nichtsein ein. Wir fühlen uns dann weltfern. Wir kehren dann in unsere Weltferne zurück, in das Apogäum, wie die Griechen sagten, in das Nirwana, wie es die Asiaten nennen.

Aber wenn wir dann zum Lebensfest und zum Lebenswerk zurückkehren, zum irdischen Atmen, zum Tätigsein und Handeln in irgendwelcher Gestalt, in der wir eben unser Lebensfest feiern, dann hat uns auch stets die Rückkehr entzückt, die Rückkehr von der Weltferne in die Weltnähe.

Denn beides ist unser ewiger Besitz, und keines von beiden wollen wir missen. Die Weltferne ist das ewig festlich Unabänderliche in uns, die Weltnähe das ewig sich festlich Verändernwollende in uns.


Und nun, ehe ich endlich jenen seltsamen Augustnachmittag beschreibe, muß ich noch eine Erklärung abgeben.

Jeder Mensch hat nur zwei Hände bekommen, zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nasenlöcher und im Halse zwei Röhren, eine für die Luft- und eine für die Speiseaufnahme. Alle diese Zugänge zum Körper bedingen ein bestimmtes Körperleben, ein bestimmtes Sinnesleben, das, solange wir als Menschen leben, unverrückbar der Ausführung unseres Lebenswerkes und unseres Lebensfestes bestimmte Grenzen setzt.

Das Lebenswerk und das Lebensfest würde natürlich anders ausfallen, anderen Erlebnissen unterworfen sein, wenn wir zum Beispiel mit dem Leib eines Vogels, mit Flügeln, Schnabel und Fußkrallen geboren wären. Ebenso wären wir, als Blume oder Baum festgewurzelt, als Stein festliegend oder als Wasser fortfließend, als Feuer auflodernd oder als Rauch fortschwebend, einer anderen Lebensbewegung, einer anderen Lebenstätigkeit, einem anderen Lebenswerk und einem anderen Lebensfest hingegeben.

Da aber jedes Lebewesen nicht bloß der Weltnähe, sondern auch der Weltferne angehört, da unzertrennbar von einander das Gefühl der Weltnähe und das Gefühl der Weltferne in jedem Atom vereint wohnen, sowohl im Rauchatom, als im Feuer, als im Wasser, wie in der Blume und im Baum, ebenso wie in der Menschengestalt, so sind im Grunde alle Lebewesen eine Kraft, eine Schöpfung.

Festliche Ruhe, festliche Tätigkeit, an ihnen hat jedes Atom teil, ebenso an der Lust der Weltferne wie an der Lust der Weltnähe. Die Gestalten des Lebens gehören sowohl der Weltnähe, welche Tätigkeit bedeutet, und zugleich der Weltferne, welche eine Erhebung über das Leben bedeutet, an.

Die Gestalten sind die Geschöpfe, das Gefühl der Weltferne in den Gestalten ist der Schöpfertrieb, das ewige Leben.

Mit unseren jeweiligen Sinnen können wir immer nur ein Leben leben, ein Fest feiern, das sich in der Weltnähe abspielt. Aber von der Weltferne aus, zu der wir uns stündlich über unser endliches Leben erheben können, weil wir im letzten Urgrund bei ihr untrennbar wohnen, können wir bei gründlicher Vertiefung alle endlichen Leben überschauen oder uns in sie hineinversetzen, ohne unsere eigene Gestalt, in der wir augenblicklich arbeiten und Feste erleben, sterben lassen zu müssen.

Wenn es in der Bibel heißt: siehe, die Stimme Gottes sprach zu ihm im Traum, oder wenn Buddha sagt: ich ging in einem Traum von Leben zu Leben, so ist das nicht ein außer uns stehender Gott und Schöpfer, dessen Stimme wir gehört haben wollen, oder der uns im Traum von Leben zu Leben geführt hat, sondern: es ist die Weltferne in uns, die zur Weltnähe in uns spricht.

Wir sind es, die im Traum zu uns selbst sprechen. Wir sind es, die uns im Traum und in der wachen Ahnung Bilder, gewesenes und kommendes Leben zeigen können.

Wir selbst, vermöge der Schöpferkraft in uns, die von der Weltferne aus zur Weltnähe spricht, sind allwissend.

Unsere Weltferne steht nicht bloß über uns, sondern sie lebt im Mittelpunkt aller Weltleben überhaupt.

Wir fühlen, wie die Radien eines Lebens tun, den Mittelpunkt und die Peripherie des Kreises zugleich. Alle Leben finden sich zusammen in der Weltferne auf einem Punkt, sowie alle Radien sich im Mittelpunkt des Kreises treffen. Auf der Peripherie, in der Weltnähe, leben alle Leben voneinander getrennt in der Welt der tätigen Erscheinungen.

Im Mittelpunkt, in der Weltferne, zu der wir uns in jedem Augenblick erheben können, sind wir Besitzer und Überschauer des ganzen Weltalls, gleichwie der Kreismittelpunkt mit allen Radien Fühlung hat. Auf der Peripherie aber, wo sich unser Gestaltenleben abspielt, dort entsteht die körperliche Weltnähe, das Fest des endlichen Lebens, während zugleich unsere Weltferne in ewiger Ruhe, im Mittelpunkt des Lebens, die Erscheinung aller Leben, die wir im Augenblick oder nach Jahrhunderten erleben, immer um sich kreisen läßt, betrachtet und das Fest der Ewigkeitsruhe genießt.

Wir sind also in jedem Lebensaugenblick da und fort von uns. Und wenn unser endliches Leben aufhört, so hört doch nie unser Mittelpunktsleben im Weltall auf. Wir nehmen vom Mittelpunkt aus sofort neue Fühlung mit einem neuen Punkt auf der Peripherie.

Unerschöpflich ist das Leben in der Peripherie, unerschöpflich die Schöpferkraft unseres gemeinsamen Mittelpunktes im Weltall. Da wir immer Weltnähe und Weltferne, Peripherie und Mittelpunkt in jeder Sekunde zugleich erleben, so sind wir alle allwissend, allgegenwärtig, allfühlend.

Wir tragen immer in uns alle jene göttlichen Eigenschaften, die wir, früher unaufgeklärt, immer nur einem Schöpfer über uns zusprachen.

Wir Menschen waren bisher nicht mutig genug, uns unseren gewaltigen Lebensinhalt, den, daß wir Mitbesitzer der Weltallschöpfung, der Weltallgedanken, der Weltkraft sind, klar zu machen.

Wir hielten uns nur für ohnmächtige Peripheriewesen, nur von der Weltnähe lebend. Wir trennten uns, unaufgeklärt, in unseren Worten und Gedanken vom großen Schöpfungsfest. Wir wollten nie verantwortlich, nie gründlich den Anlauf zur Selbsterkenntnis unseres ewigen Daseins nehmen.

Es war uns so wie einem, der nur immer seine Füße sieht und seine Hände und seinen Unterleib, der sich aber nicht einzugestehen wagt, daß er auch einen Kopf besitzt, weil er diesen Kopf bisher nicht sehen konnte und deshalb nicht an das Empfinden glaubte, das ihm sagte, er besitze einen ihm unsichtbaren Kopf, der für ihn denkt, riecht, schmeckt, hört, sieht, das heißt wahrnimmt.

Aber nun haben wir den Mut, wir Menschen von heute, zur Erkenntnis.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als endlich zu erkennen, daß der Weltkopf, den wir fühlen, aber nicht sehen, nicht einem Schöpfer über uns gehört, sondern uns selbst.

Wir haben bei der neuen Erkenntnis nichts getan, als endlich vollständig unsere Weltallgestalt festgestellt.

Wir glauben jetzt ganz unserem Gefühl, das uns schon im Christentum als Mitbesitzer der Weltferne, des Weltkopfes, erklärte, indem es uns den vagen Begriff Seele einräumte. Aber man setzte über diese Seele damals noch eine Weltseele, einen Weltschöpfer. Die Seele aber ist unsere Weltferne, die nichts über sich erlebt, auch keinen Weltschöpfer. Denn sie selbst ist schon im Vollbesitz der Ursprungskraft, der Weltallruhe und der Schöpferkraft.

Wir Menschen sind, wie alle Leben, Schöpfer und Geschöpf, von uns geschaffen und von allen und jedem Leben des Weltalls. Und wir sind zugleich Mitschöpfer von allen und jedem Leben des Weltalls.

Mancher wird nun vielleicht nach den vorangegangenen Erklärungen töricht sagen: wenn wir behaupten, die Schöpferkraft eines Weltschöpfers zu besitzen, müßten wir dann nicht unser Leben fortwährend bewußt ändern können? Es müßte uns ein kleines sein, aus Steinen dann Brot zu machen oder uns im Magen satt zu fühlen, wenn wir es nicht sind, oder Berge fortwandern heißen, Wasser in Feuer verwandeln usw. Es müßte uns leicht sein, so könnte ein Tor sagen, ein willkürliches Spiel mit den Lebensgestalten und Lebenserscheinungen zu spielen.

Wer so fragt und so spricht, hat aber nicht begriffen, daß die Weltferne und die Weltnähe sich in uns ewig das Gleichgewicht halten. Das heißt, ein unsinniges Spiel mit sinnlosen Verwandlungen in der Welt der sinnvollen Erscheinungen, in der Welt der sinnvollen Weltnähe, ist durch das Gegengewicht der ewig weisen und ewig ruhenden Weltferne in uns unmöglich gemacht. Die Weltferne in uns läßt die Weltnähe keine chaotischen Zuckungen machen. Wir selbst stehen ewig weise über der Torheit.

Das ewige Wechselleben in der Weltnähe wird in Zucht und Gleichgewicht gehalten durch die unerschütterlichste Ruhe der Weltferne in uns.

Denn als Schöpferkraft wirken immer zwei Regungen: erstens die verankerte Ruhe und Betrachtung, die das Überschauen vermittelt, und zweitens die Tätigkeit, geleitet von jenem Überschauen, die das Lebenswerk oder Lebensfest gestaltet und in Szene setzt.

Aber wenn Ruhe und Weisheit an unserer Tätigkeit beim Lebenswerk teilnehmen, — wie kann dann überhaupt Böses geschehen, da doch die weise waltende Weltferne in uns von unserer Weltnähe unzertrennlich ist? Man sollte meinen, Böses könnte nie möglich sein.

Nun müßt ihr, die ihr das fragt, einen Standpunkt so hoch einnehmen, daß ihr auch die hohe Antwort auf diese Frage verstehen lernt.

Bis jetzt nahmt ihr Menschen meistens alle an, daß das Leben eine Plage ist. Die Asiaten sprechen von der Lebensqual und von dem Fluch aller Leben. Die Abendländer sprechen vom Jammertal, von der Hoffnung auf Erlösung und, wenn es hoch kommt, von der Lebensaufgabe, die man zu vollenden habe.

Darüber hinaus hat sich noch kaum eine Lehre erhoben, keine Lehre der beiden Erdhälften.

Das Leben ist aber ein Fest und soll ein Fest sein. Das Leben ist auch dem Elendsten immer festlich gewesen.

Bedenkt doch, daß die Süße des Lebens in euerer Vorstellung das Paradies hat entstehen lassen, daß sie den Mohammedanern lustige Gärten vorgaukelt voll sinnenfroher Frauen, den Christen einen melodischen Himmel voll singender Harmonien und den Asiaten das große selige Ruhebett des Nirwana.

Wie festlich teuer ist uns Menschen alles Erleben, wie köstlich festlich! Wir schaffen uns Bilder vom Leben noch über den Tod hinaus, um das Erleben nie zu entbehren.

Das Leben ist ein so gewaltiges Fest, daß nur, wenn wir uns bereitwillig die höchste Schöpferkraft und damit zugleich die höchste Verantwortung zuerkennen, wir das ganze Fest genießen können. Sonst wird es uns gehen wie einem Dörfler, der nie Musik, nie Bilder, nie Tanz, nie Geist und Anmut gesehen hat und der beim Eintritt in einen festlichen Gesellschaftssaal alle für Narren halten würde, die sich dort rhythmisch bewegen. Er wäre zuerst geblendet vom Fest und würde nichts als einen Wirrwarr sehen. Er würde an der Schwelle stehen bleiben und höchstens ausrechnen, wieviel Umstände das ganze Fest dem Wirt und den Eingeladenen gemacht hat.

Und derselbe Dörfler, in ein Theater geführt, würde, wenn er auf der Bühne mitspielen sollte, linkisch oder frech werden. Und da ihm der Überblick über das Stück fehlte, das zu spielen wäre, und über die Gestalt, die er darin zu verkörpern hätte, würde er sich geärgert fühlen, wenn er sich nicht einzufügen gelernt hat, wenn er keine Lust zum Spielen mitgebracht hat.

Und er würde die Festvorstellung, bei der er mitwirken sollte und bei der er Freude geben und Freude ernten sollte, verwünschen und sie als eine Plage verfluchen. Und er würde vielleicht seine Gestalt und seine Rolle wegwerfen aus Unverstand, und weil er keine Ahnung hat, daß er zu einem Fest, zu einer Lust beitragen soll.

Er würde jammern, unglücklich sein. Und wenn er ein ernster Mann ist und ein entschlossener Mann, so wird er höchstens die Rolle auf Zureden aufnehmen und weiterspielen und immer von seiner Aufgabe sprechen, aber nicht von einem fröhlichen Werk oder gar von einem Fest.

Mit dieser Erklärung ist aber noch nicht erklärt, warum Gutes und Böses da sein können, wenn Weltferne und Weltnähe immer weise herrschen. Der eigenen Schöpferkraft Weisheit in uns ist so hoch, daß sie versteht, daß alle Geschöpfe, alle Handlungen, gute und böse, notwendig sind, um Erscheinungen zu schaffen und Lebenswechsel.

Dem Guten wird deshalb ewig das Böse gegenüberstehen müssen, dem Tag die Nacht, dem Frieden der Krieg, dem Aufbau der Verfall, dem Anfang das Ende. Diese Notwendigkeit sieht die Weisheit der Weltferne in uns ein, und es wird ihr deshalb nicht einfallen, dem Wechsel dieser Gegensätze, der sich in unserer Weltnähe gestaltend und vernichtend ausdrückt, einseitigen Einhalt zu tun und nur Gutes zu schaffen und zu verlangen.

Träte im Peripherieleben, im Leben der Weltnähe, im Leben der Erscheinungen, ewiger Tag ein, ewig Gutes, ewige Freude ohne Schmerz, ewiger Frieden, so würde das den Stillstand des Festes bedeuten, das wir so sehr lieben, und dessen Stillstand ganz unmöglich ist, da unsere ewige Schöpferkraft am ewigen Werke ist.

Ohne Weltnähe wäre keine Weltferne möglich, und beide sind undenkbar ohne die unerschöpfliche Kraft, die jedem Atom innewohnt. Wir sind Besitzer der Allmacht und der Ohnmacht. In diesem Wechsel von Ewigkeit und Endlichkeit befindet sich unser endliches und ewiges Leben in jedem Augenblick.

Wir sind die Weisheit und das Verbrechen an der Weisheit. Wir sind das Gute und das Böse, wir sind der Tag und die Nacht, der Frieden und der Krieg. Alles das besitzen wir, mit all dem handeln wir, und alles das handelt mit uns.

Wir spielen alle diese Kräfte aus, wie der Kartenspieler all seine verschiedenen Karten ausspielt. Jedem Spiel aber liegen Regeln zugrunde. So auch schreibt die Weltferne der Weltnähe ihre Regeln vor, damit das Spiel in Ruhe geführt werden kann. Da die Karten immer wechseln, das heißt, aufs Leben übertragen, der eine mal die, der andere andere Eigenschaften seiner jeweiligen Lebensgestalt einsetzen kann, so wird das Lebensspiel, so wie jedes Kartenspiel, immer wieder anders ausfallen, trotz der feststehenden Grundregeln, die das Spiel regieren.

Wir selbst haben das Schöpfungsspiel erfunden und spielen es, da es unendlichen Wechsel bietet, unendlich weiter. Manche ähnliche Kartenzusammenstellungen kehren zufällig wieder. Das erweckt dann den Schein, als ob ein Spiel wiederkehre. Aber es ist kein Spiel gleich dem andern, kein Leben, das wiederkehrt, ist gleich dem andern.

Um die urewigen Gesetze des Spieles dreht sich der urewige Wechsel des Spieles, und das Ganze ist von der Feststimmung der Spielenden durchdrungen. Wie ein Spiel Scharfsinn fordert, Übung, Ausdauer, Glück, so fordert das jedes Leben.

Der Elendeste aber fühlt noch im elendsten Augenblick, wenn er vielleicht vom endlichen Leben gewalttätig scheidet, die Feststimmung, die auch das endliche Leben der Weltnähe und nicht bloß das unendliche Leben der Weltferne durchschwingt. —

Glaubt mir, ich habe fünfundvierzig Jahre jetzt nicht nur ein Leben auf Rosen gelebt. Ich habe gelitten, gezagt, den Tod gewünscht und selbst durch den Haß und durch das Verfluchen des Lebens hindurch immer noch die Köstlichkeit und die Feststimmung des Lebens schimmern sehen.

Ich habe gehungert und gedarbt. Ich habe gestritten und habe geweint. Ich habe mich ohnmächtig, gedemütigt, in den Schmutz gezogen, verlassen und verloren gefühlt, aber ich müßte mich unehrlich, taub, blind und gefühllos nennen, wenn ich das Leben nicht trotzdem, im Rückblick und im Vorwärtsschauen, in jedem Augenblick als ein Fest ansehen müßte.

Alles dieses hatte ich nötig zu sagen, und es überkam mich die Lust zu dieser Aussprache.

Ehe ich die Geschehnisse aus meiner eigenen Weltnähe weitererzähle, wollte noch einmal meine Weltferne dazwischen reden, und ich mußte ihr das Wort geben.

Noch ein Schlußwort über die Einführung in diese neue Weltanschauung, die sagt, daß das Leben ein Fest ist und ein Fest sein will.

Ihr erinnert euch wohl alle noch der Zeit, als ihr in der Kindheit noch nichts von Gott oder dem Schöpfer wußtet, von dem man euch später erzählte.

Ich glaube mich noch genau zu erinnern, wie bestürzt ich war, als man mir sagte, daß etwas Stärkeres im Unsichtbaren existieren sollte, ein stärkerer Herr als mein Vater es war, eine stärkere Macht als meine beiden Eltern mir waren. Wie frei war es vorher um mich im Hause gewesen, ehe diese Erklärung der Elternohnmacht über mich kam! Und wie seltsam wurde es mir bei dem Gedanken, daß, wenn ich einmal groß sein würde, vom Vater fortkäme und meine eigene Frau haben würde, ein Gottherr, der schon über meinen Vater regiert hatte, immer noch da wäre, auch wenn meine Eltern tot wären, und daß er ewig wie ein Aufpasser über mir und meiner Frau sitzen sollte, ebenso wie über allen Menschen.

Ich empfand das demütigend. Das Erhabenste in mir fühlte sich gedemütigt; das Erhabenste in mir wollte allein regieren. Das Erhabenste dünkte sich nicht erhaben zu sein, wenn man ihm nicht vertraute, daß es unantastbar wäre. Es fühlte sich beleidigt und erniedrigt, einen Aufpasser über sich haben zu müssen. Es war mir, als dürfte ich mich keinen freien unendlichen Gefühlen mehr hingeben, da meine Unendlichkeit nicht anerkannt wurde, da immer nur von meiner „niedrigen“ Endlichkeit gesprochen wurde.

Es war mir wirklich unbequem beim Abend-, Morgen- und Mittagsgebet mit der Bitte um tägliches Brot immer zu einem Herrn, der an einem aller Vorstellung entrückten Ort wohnen sollte, aufzuschauen; einen Fremden aufsuchen zu müssen, ich, der ich so voller Vertrauen geglaubt hatte, was ich nötig habe, schenke mir mein Vater, und dafür schenke ich ihm meine Liebe und werde leben, wie er es wünscht und werde später mir selber helfen können.

Für das Brot, für den Rock, für die Wohnung, für Gesundheit und Wohlergehen, für die meine Eltern sorgten, dankte ich bereits meinen Eltern. Nun sollte ich jeden Abend noch einmal danken und ebenso morgens und mittags, einem Herrn, von dem man sagte, daß er alles, was ich von meinen Eltern erhielt, diesen gegeben hatte. Diese waren also Schwächlinge und konnten sich nicht helfen, so dachte das Kind für sich.

Meinen Eltern zu danken, erschien mir selbstverständlich, und ich tat es gern. Aber wenn meine Eltern von einem fremden Herrn und Schöpfer etwas angenommen hatten, so hatten sie bereits gedankt. Die ganze Beterei war mir zu viel Dankerei und zu viel Bitten und Bettelei.

Warum schaffte mein Vater nicht alles selbst an, was er brauchte? Warum mußte er immer alles von einem Gottherrn annehmen, und ebenso meine Mutter, da doch beide arbeiteten? Und warum zeigte der fremde Herr sich mir nicht? Es war mir unverständlich, was seine ewige Unsichtbarkeit für einen Sinn haben sollte.

Es hieß, er könne mich fortwährend sehen, nur ich könne ihn nicht sehen. Ich gewöhnte mir danach an, mich blitzschnell im Zimmer umzusehen, um zu erfahren, ob jener Herr nicht hinter mir stünde und ich ihn ertappen könnte.

Und als meine Mutter, wie ich fünf Jahre alt war, starb und man mir sagte, sie wäre jetzt zu dem fremden Herrn gegangen und sie hätte es dort viel schöner, da konnte ich das gar nicht fassen. Was tat sie denn bei ihm, da doch mein Vater und ich sie so nötig hatten?

Und als man mir antwortete: nichts ist beständig, nichts ist wirklich, da hatte ich oft das Gefühl: vielleicht ist das Nebenzimmer schon verschwunden, während ich mich im anderen Zimmer befinde. Und ich sah vorsichtig durchs Schlüsselloch, ob das Nebenzimmer noch da wäre. Denn das verstand ich: seit meine Mutter verschwunden war und weder zum Frühling noch zum Sommer, noch zum Herbst, noch zum Winter wiederkehrte und ihr Bett leer blieb am Morgen und am Abend, und ihr Platz am Eßtisch leer blieb am Mittag und Abend, und ihr Platz am Nähtisch am Nachmittag, und ihr Platz am Klavier leer blieb in der Dämmerstunde, und ihr Platz in der Küche leer war am Herd und im Flur am Wäscheschrank und im Sommer unter dem großen Nußbaum und auf der Gartenterrasse, — da sah ich ein, es hatte sich etwas Unfaßbares ereignet.

Und ich dachte: jener unsichtbare Herr ist doch mächtiger als mein Vater. Sonst hätte mein Vater meine Mutter von ihm zurückgefordert, und es würden ihre Plätze nicht alle leer geblieben sein. Und diesem Herrn, der die Mutter mir und die Frau meinem Vater genommen hatte, dem sollte ich morgens, mittags und abends weiter danken! Das war die reine Heuchelei, die man mich da lehrte.

Es steckte danach eine tiefe Furcht in mir vor dem unsichtbaren Ort, an dem jener fremde Herr wohnen sollte und Furcht vor dem Unsichtbaren selbst. War es wirklich so schön dort bei ihm, wie es alle sagten? Ja, warum blieben wir denn dann alle hier? Warum folgten wir denn nicht sofort meiner Mutter nach?

Und wie konnte man sagen, daß sie es jetzt schöner habe, wenn sie meinen Vater nicht hatte und uns Kinder, die sie liebte? Konnte sie es dann wirklich bei dem Fremden schöner haben und glücklich sein? Meine Mutter war für mich bei diesen Gedanken auf einmal nicht mehr meine Mutter, sondern eine kühle, fremde Dame, die dort hingegangen war, wo man sich besser unterhielt, und die wahrscheinlich meinen Vater und uns Kinder über besserer Unterhaltung vergessen hatte.

Aber das glaubte ich nicht. Ich stampfte auf und weinte zornig und warf mich schreiend auf den Zimmerboden und wollte zu meiner Mutter gebracht werden. Und als mein Vater gerufen wurde und er mich aufhob und mich auf seinen Schoß nahm und mir mit Tränen in den Augen versicherte: „Deine Mutter hat uns nicht vergessen,“ da stieß ich unter Schluchzen hervor: „Warum holst du sie denn nicht endlich?“ Und mein großer starker Vater mußte wimmernd zugeben, daß es einen Stärkeren und Größeren gäbe als ihn, der die, die er einmal zu sich gerufen habe, nicht mehr hergeben wollte.

Für einen Augenblick sank da die Hochachtung für meinen Vater in meiner Kinderbrust von tausend auf null Grad. Eigentlich wollte ich meinem Vater nun nicht mehr gehorchen. Der Unsichtbare war stärker als er, und meine Mutter war bei dem Stärkeren. Ich wollte mich nur an den Unsichtbaren halten, weil auch meine Mutter zu ihm hielt.

Aber nun geschah das noch viel Unverständlichere, etwas, das mich ganz verwirrte, das alle meine Begriffe auf den Kopf stellte: mein Vater, der doch jenen Unsichtbaren, der ihm die Frau genommen hatte, hätte hassen müssen, wie ich folgerte — er faltete meine kleinen Hände in seinen großen Händen und sagte: „Laß uns zusammen zum Herrn beten. Dann kommen wir der Mutter näher.“

Ich ließ ihn beten und ließ ihn meine Hände falten und sah ihm mit offenem Munde zu, wie er sich demütig gegen jenen unsichtbaren, gewalttätigen Herrn benahm. Und wenn ich damals schon gewußt hätte, was Narren und ein Narrenhaus sind, so würde ich vielleicht gedacht haben: wir sind vor jenem Herrn alle zu Narren geworden. Und unser Haus, in welchem früher mein Vater und meine Mutter emsig und klug gewaltet hatten, das ist jetzt ein Narrenhaus geworden. —

Aber wie einfach, glückselig und menschenwürdig wäre mir die Welt erschienen, wenn man dem Kind, auf die Frage, woher alles kommt — die jedes Kind einmal an seine Eltern stellt — die tiefnatürliche Erklärung gegeben hätte: „Liebes Kind, alles ist seit Ewigkeit da. Nicht bloß wir sind deine Eltern, alle Dinge sind deine Eltern, so lange du klein und unbeholfen bist. Achte gut auf alle Dinge. Alle haben dir etwas zu sagen, alle können dir irgendwie helfen. Wir, die du deinen Vater und deine Mutter jetzt nennst, wir, wenn wir scheinbar von dir fortgehen und du uns eine lange Zeit nicht sehen solltest, wir bleiben doch in allen Dingen, die du siehst, um dich.

Wir Menschen alle und alles Leben können die Gestalten verändern, wenn wir es müde sind, Menschen, Tiere oder Pflanzen gewesen zu sein. Aber wir gehen niemals fort, niemals ganz fort von dir, von der Welt. Vielleicht wird deine Mutter eine Wolke, vielleicht wird dein Vater ein Blitz, vielleicht werden wir Singvögel, vielleicht werden wir zusammen eine Blume in einem Blumentopf an deinem Fenster. Vielleicht werden wir ein paar Mondstrahlen, vielleicht ein paar Sonnenstrahlen. Vielleicht sind wir ein Stück Brot, das du ißt, vielleicht ein Schluck Wasser, den du trinkst, vielleicht eine Uhr, die neben dir tickt, vielleicht ein Haus und ein Garten, in dem du wohnen wirst.

Denn sieh, es wird nichts um dich geben, was wir nicht werden können, und es gibt nichts um dich, was nicht so innig, so gut und lieb Freund zu dir sein kann, wie wir es jetzt zu dir sind, während wir am Tisch und am Bett bei dir sitzen.

Und du kannst überall zu uns kommen und nah bei uns sein. Denn, sieh, du bist so gut wie wir in und bei allen Dingen zu Hause und sollst dich darum vor keinem Leben fürchten. Und kommt eine giftige Schlange in den Garten, und sie beißt dich, und du willst nicht sterben, du willst noch Mensch bleiben, dann wird die Schlange keine Macht über dich haben, und jemand wird dir von dem Gifte helfen können, vielleicht dein Vater, vielleicht ein Freund, vielleicht du selbst.

Bist du aber wirklich der Menschengestalt müde, vielleicht durch eine tiefe Trauer, vielleicht durch ein so tiefes Unglück, daß du dein Unglück in anderer Gestalt vergessen möchtest oder durch das Alter deiner Gestalt müde gemacht, dann wirst du von selbst die Gestalt ablegen können, ohne dir Gewalt antun zu müssen. Und dann werden alle Dinge ringsum dir wieder helfen, eine neue Gestalt anzunehmen, die dir gut behagt. Aber ein Kind, wie du, wird noch kaum den Wunsch bekommen können, die Gestalt schon zu wechseln. Denn sieh, so wie alle mit dir festlich sein wollen, so wirst du auch erst in Menschengestalt festlich gewesen sein wollen, ehe du dich danach sehnen willst, zu verschwinden und neu zu erscheinen.

Deine Menschengestalt haben du und wir alle mit Fleiß und Sorgfalt aufgebaut. Das Licht hat deine Augen ausgedacht, der Schall, die Musik und die Menschenstimmen und alle Stimmen überhaupt haben deine Ohren ausgedacht. Und es ist kein Ding in der Welt, das nicht teil hat, irgend etwas an deinem Leibe ausgedacht zu haben.

Wir, dein Vater und deine Mutter, wir legten unser Fleisch und Blut zusammen und die Wollust unseres Atems und unsere Freude am Leben. Und ich, dein Vater, gab dir von meinem Mark, von meiner Lebenskraft, und deine Mutter gab dir von ihrer Lebensdemut und ihrer Lebenswärme.

Und als du fertiggebildet warst im Schoße deiner Mutter, da hatte dich deine Mutter neun Monate unter ihrem Herzen getragen. Neun Monate litt sie Beschwerden und neun Monate wünschte sie Tag und Nacht, daß du gut, stark und tätig werden solltest, so wie sie selbst es ist, und dein Vater und deine Brüder und deine Schwestern und alle Dinge, die um dich leben, es sind.

Denn, wenn auch einmal ein Ding dir weh zu tun scheint und dir Trauer oder Schmerz bereiten muß, so mußt du bedenken, daß du auch manchen Dingen weh tun mußt und manchen Trauer bereiten mußt, denn das Leben besteht nicht aus Freude allein, aber auch nicht aus Schmerzen allein.

Das Leben besteht aus dem Wechsel von Freude und Leid, aus Lachen und Weinen, aus Erhebung und Erniedrigung. Und nur durch diesen Wechsel kann es festlich bestehen.

Aber es ist noch eine andere Welt in der Welt, mein Kind. Alle Dinge, zu denen du mit den Händen und Füßen, mit den Augen und Ohren, mit deiner Menschengestalt kommen kannst, alle diese, denen du so dich nähern kannst auf der Erde, sie und du selbst leben noch in einer andern Welt, in einer weltfernen Welt. Und du und wir alle schicken unsere Gestalt auf die Erde, so wie du deine Stimme über den Fluß hinüberschicken kannst, so wie du einen Brief in die Ferne schicken kannst, oder so wie dein Schatten vor dir eilen kann oder so wie der Schatten einer Wolke, die oben am Himmel steht, unten über die Äcker der Erde gehen kann.

Oder wie das Licht der Sonne und des Mondes durch das Zimmer gehen kann, ohne daß die Sonnenkugel oder die Mondkugel selbst durch die Tür in das Zimmer kommen. Oder wie du eine Blume, die stark duftet, im Dunkel riechen kannst und sie also bemerken kannst, ohne sie zu sehen, so leben wir alle in zwei Welten zugleich.

Dort in der weltfernen inneren Welt, dort wohnt die Kraft aller Dinge. Dort wohnt alle unsere Kraft zusammen. Dort gibt es dann nicht Vater, nicht Mutter, nicht Kinder. Dort sind wir dann eine Stärke. Dort sind tausend Männer wie ein Mann, tausend Frauen wie eine Frau, und dort sind Mann und Frau so eng umarmt, daß sie eine Kraft sind, ohne Anfang und ohne Ende, eine starke Schöpfer- und Liebeskraft. Und dort in der Weltferne sind wir in jedem Augenblick, wenn wir uns in uns versenken, wenn wir uns in hohen Gefühlen erheben und erhaben fühlen.

Dieses aber, mein Kind, zu verstehen und zu erfassen, dazu bist du noch zu klein und mußt erst in die Welt der nahen Dinge hineinwachsen, in die Weltnähe. Und bis dahin sollst du bei Vater und Mutter bleiben, bis deine Menschengestalt so kräftig fertig geworden ist, daß du den Weg zu deiner inneren und weltfernen Welt allein finden kannst.

Aber ganz allein brauchst du dann auch diesen Weg nicht zu gehen. Irgendwo auf der Welt ist heute schon oder wird eine Lebensgefährtin jenes Weges zur inneren Welt für dich von ihren Eltern geboren und auferzogen.

Ihr wirst du, wenn du willst, begegnen, sobald du groß genug bist und du tätig genug bist, um sie von ihren Eltern empfangen zu können, und wenn du weise und kräftig genug bist, um deinen Ernst mit ihrem Ernst und deine Lebensfreude mit ihrer Lebensfreude und dein Lebensmark mit ihrer Lebenswärme zusammenlegen zu können. Dann wirst du mit ihr das Lebensfest feiern und mit ihr ein Menschenkind erschaffen, wie wir dich geschaffen haben, damit das Fest sich fortsetzt.“ —

Hätte man mir als Kind, aus einer befreiten Weltanschauung heraus, auf meine Frage, woher das Leben kommt, woher die Dinge und die Menschen kommen und gehen, natürlich und mich zum Leben vorbereitend, also geantwortet, dann wären mir schreckliche Stunden der Qual, schauerliche Mißklänge, unheimliche Dumpfheiten und dornige Verirrungswege erspart geblieben.

Und hätte man noch betont: Das Leben ist ein weises Fest. Du sollst es klug zu feiern lernen, du sollst es aufmerksam festlich erleben lernen; du wirst an dem Fest beschaulich und tätig, Freude aufnehmend und Freude spendend, gern teilnehmen; du wirst verstehen lernen, daß das Weltfest so mächtig ist, daß es in seinem Wechsel von Freude und Leid ein Spiel von Erscheinungen bedeutet, und daß es deine größten Schmerzen immer in tiefste Freuden verwandeln kann.

Siehe, oft ist das Leben wie eine Schlacht, in der du fallen mußt, um in einer anderen Gestalt wieder aufspringen zu können, um weiterkämpfen zu können. Denn auch eine Schlacht ist ein Fest!

Festlich ist das Leben immer, ob du gehen lernen darfst oder schreiben und lesen lernen sollst. Und wenn du krank liegen mußt, zwischen Schmerzen und Genesungshoffnung, in den Nächten wach liegen mußt, mache dich geduldig, mache dich demütig. Hasse deine Schmerzen nicht. Lerne sie verstehen, denn sie wollen wie die Freuden dir helfen zu einer Verjüngung deines Körpers, helfen zu einer Verjüngung deiner Schöpferkraft.

Sei darum gütig zu deinem Leib, wenn er dich auch plagt, weil er dich verjüngen will. Sei verständig und gehorsam seinen Mahnungen zur Verjüngung. Dann wird dir auch die Krankheit zum Fest, verklärt von der Hoffnung der Verjüngung und Genesung.

Horche immer auf alle Lebensregungen um dich. Denn die Kräfte aller Leben sind in dir. Du kannst alle Leben verstehen, wenn du willst, und alle Leben verstehen dich.

Denn es ist nur ein Schein, daß du getrennt, scheinbar einsam oder verlassen umhergehst. Du bist nicht bloß der Mensch, den du im Spiegel siehst. Du bist zugleich mit deiner inneren Welt in allem Leben, und alle Erscheinungen und Gestalten sind in dir.

Bedenke immer: du hast die größte Macht, und hattest sie seit Tausenden und Tausenden von Jahren, das Fest des Lebens zu feiern, und wirst dein Schöpferfest weiterfeiern, Tausende und Tausende von Jahren ohne Ende.

Durch deine äußere Welt bist du wirklich, durch deine innere Welt unwirklich zugleich. Und durch deine Schöpferkraft verwandelst du die äußere Welt und bleibst doch unverwandelbar in deiner inneren Welt ewig leben.

Und dieses, o Mensch, genießend und festlich zu verstehen, dazu wird dir jeder Augenblick auf Erden Erkenntnis geben, und du wirst es an allen, die mit dir festlich lebend sind, ebenso erkennen, wie an dir, daß du wirklich und unwirklich zugleich bist.

Und wenn dich die Wirklichkeit ermüdet, wirst du an der Unwirklichkeit ausruhen können. Und wenn dich die Unwirklichkeit ermüdet, wirst du zur Wirklichkeit zurückkehren können.

Aber du brauchst nicht zu fürchten, daß du die Menschengestalt, die du augenblicklich angenommen hast, und die dein augenblickliches Kleid im Weltfest ist, daß du diese immer ablegen sollst und sterben sollst, wenn du dich nach Unwirklichkeit sehnst.

Sieh, an jedem Abend legst du mit deinen Kleidern auch deine Gestalt hin auf die Erde und läßt beide ausruhen, damit sie sich nicht so schnell abnützen. Denn du hast beide lieb und gönnst ihnen, Kräfte zu sammeln.

Und wenn du einmal groß bist und größere Tätigkeit hast, als ein Kind sie hat, und größere Kräfte hergeben mußt und deshalb auch wieder größere Kräfte und größere Ruhe sammeln mußt, ob du nun als Mann oder als Weib geboren bist, sieh, die Nächte können dann nicht länger gemacht werden, um dir größere Erholung zu geben. Aber die Ruhe um dich kann tiefer gemacht werden.

Dann wirst du, um tiefste Ruhe zu finden für deine männlichen Kräfte, oder ein Weib wird, um tiefste Ruhe zu finden für ihre weiblichen Kräfte, die Arme ausbreiten, und Mann und Weib, die sich lieben, werden sich im Dunkeln umarmt niederlegen, und ihre Körper werden sich einander wie ihre Lippen den tiefen Kuß der Liebe geben, und sie werden das Lebensfest der Liebe feiern.

Und sie werden für Augenblicke tiefer ausruhen können als je, so tief, als hätten sie ihre Gestalt wie im Tod abgelegt.

Dann in der Liebesumarmung finden sie sich nicht bloß in der Weltnähe wieder und nicht bloß in der Weltferne, sondern sie sind in ihrer Schöpferkraft eins geworden, in der Schöpferkraft, in der sie am Tage getrennt gearbeitet hatten auf Erden.

Und das ist der tiefste Augenblick des Weltallfestes jedes Lebens und der höchste eines ganzen Lebens zugleich. Dann, in diesem Liebesaugenblick, ist in beiden, im Mann und in der Frau, tiefste Ruhe der Ewigkeit und höchstes Schaffen der Ewigkeit tätig.

Aber sieh, es ist noch ein Ausruhen möglich und eine Einkehr in deine Unwirklichkeit, wenn dich die Wirklichkeit ermüdet, ohne daß du sterben mußt und die Gestalt wechseln sollst.

Wenn der Mann das Weib nicht gefunden, noch nicht gefunden oder wieder verloren hat, oder wenn beide sich vorbereiten wollen, die sich gefunden haben, zum Liebesfest, dann sind Leben da, Schöpfungen, die jeden an die Schwelle der inneren Welt führen können.

Das sind die Werke der Künstler, Lied und Gedicht, ein Bild, eine Bildsäule und die Musik, Aussprüche der Weisheit und stille Betrachtungen, die du mit offenen Augen, offenen Ohren, offenem Herzen empfangen sollst.

Ein Gedicht, ein Gemälde, eine Bildsäule, ein Musikstück — das sind Leben, die sich dir zum Wechsel bieten, zum Ausruhen von der Wirklichkeit und zum Vorbereiten für dein Fest der Lebenstätigkeit und für das Fest der Liebe.

Diese künstlerischen Schöpfungen sind in die Tagestätigkeit gestreut wie die Träume in die Nachtruhe. Alle Kunstwerke erinnern dich am Tage an dein inneres Leben, sie sind in den Tag gestreute Ewigkeitsbilder des inneren Lebens, während deine Nachtträume Augenblicksbilder deines äußeren Lebens sind, in die Nachtruhe gegeben.

Kunstwerke und Träume, beide sind Echos zweier entgegengesetzter Welten; Kunstwerke sind Echos der inneren Welt; Träume sind Echos der äußeren Welt. —

Nun geh, mein Kind, lerne zuerst die Regeln und die Festregeln. Denn jeder Gestalt auf Erden sind andere Festregeln geboten, damit das ganze Weltspiel ein Fest bleibe und kein Chaos werde.

Lerne die Regeln des äußeren Lebens, das sind die Staats- und Gesellschaftsgesetze deiner Zeit, kennen, und die Ahnungen der Regeln des inneren Lebens werden bereits in dir dämmern, bis du erwachsen bist und dich dann in die Gesetze des inneren Liebeslebens vertiefen kannst und Überblick erhältst über das große herrliche Fest, das wir alle im Weltall feiern, in dem wir alle zusammen Schöpfer und Geschöpfe bedeuten, und neue Gesetze und Wandel schaffen, wenn wir reif geworden sind. —


Einem Kind, dem also von der ersten Frage an bis zum Verlassen des Elternhauses verkündet wird, daß es unwirkliche und wirkliche Kräfte besitzt, daß sein Wesen das Wesen aller Dinge ist, daß es festlich an der Seite der Eltern das Fest der Tätigkeit, das Fest des Wachsens zu allen Dingen hin erleben wird, dem man sagt, auch wenn Vater und Mutter sterben, sind sie in aller Gestalt immer da, sie sind nicht zu einem fremden Mann gegangen, nicht in ein fremdes unfaßbares Reich eingegangen, wo es schöner ist, und haben nicht ihr Kind in einer häßlicheren Welt zurückgelassen, sie sind immer dagewesen und werden immer da sein in des Kindes eigener Schöpferkraft und in der Kraft seiner Lebensgespielen um ihn — für dieses Kind, dem das Leben als ein ewiges weises Fest erklärt wurde, gibt es keinen Tod, für dieses Kind gibt es keine Zeit und kein Alter; für dieses Kind gibt es keine Häßlichkeit ohne Schönheit.

Für dieses Kind gibt es keinen Schmerz ohne Freude. Im Gleichgewicht seiner wirklichen und unwirklichen Welten und im Bewußtsein seiner unerschöpflichen Schöpferkraft und in der Erkenntnis seines ewigen Daseins, im Wissen, daß es vor tausend Jahren war, schöpferisch wie heute, festlich wie heute, und daß es in Tausenden von Jahren immer noch sein wird, festlich wie heute, wird es, wenn es dies alles täglich gehört hat, geduldig, demütig und lächelnd, stolz, frisch und fröhlich, mutig und todesverachtend und weltallfestlich aufs Leben und auf die Liebe sehen.

Die Naturunschuld, die Naturweisheit und die Naturlust werden in ihm bis an sein Lebensende ungebrochen bleiben und werden seine Menschengestalt festlich auf Erden führen und aus ihm festlich wirken.

Welch ein unerschöpflicher, unentdeckter und noch unangetasteter Reichtum dem Menschenleben dargeboten wird, wenn es sich nicht mehr von einem sogenannten höheren Wesen unterjocht fühlen wird und von keiner Erbsünde belastet, wenn es seine Kraft frei auf sein Ich, auf das Wohl der mit ihm Lebenden richtet — das zu ermessen, bleibt jedem Herzen gegeben, das sich aufmacht und sich als Schöpfer und Geschöpf fühlen will und das Leben als eine Festlichkeit ansehen will, — eine Feier von wirklicher und unwirklicher Welt, eine Feier der Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit, ein unerschöpfliches Fest, bei dem jeder zugleich Festgeber und Gast ist, jeder in anderer Gestalt, jeder mit anderen Tätigkeiten und Genußfähigkeiten, jeder in anderen Würden und anderen Wirkungskreisen, jeder den anderen feiernd und ihn als Kraft von seiner Kraft anerkennend, Menschen, Tier, Pflanzen und alle Dinge.

Der Schauspieler, der bei der Festvorstellung des Lebens den König spielt, und der andere Schauspieler, der bei derselben Festvorstellung den Bettler machen muß, und der, der den Gesunden und der, der den Kranken darstellen muß, und der, der den Witzigen und der, der den Dummen spielen soll — die sollen verstehen, daß hinter jeder Rolle ihre Schöpferkraft steht, die sich in der nächsten Festvorstellung sofort in eine andere Gestalt verwandeln kann. Sie werden verstehen, daß sie nur als augenblickliches Geschöpf die Rolle im Feste spielen. Und daß sie dem Fest gerecht werden sollen und keine Spiel- und Festverderber werden sollen, das fordern alle Leben auf Erden von ihnen. Das fordert, wenn sie sich ehrlich fragen, ihr eigener Schöpfertrieb. Und nichts anderes haben sie auf der Erde zu erfüllen, als festlich tätig zu sein, um festlich feiern zu können.

Wo und wie soll ich anfangen, so festlich zu werden? — Wenn mich das ein Erwachsener fragen würde, einer, dem man nicht als Kind vom Lebensfest erzählt hätte, so würde ich ihm sagen: „Du brauchst nicht erst anzufangen, anders zu werden. Du bist es schon, was du sein willst. Du bist in diesem Festglauben geboren. Sage mir nicht, daß du es nicht fühltest, daß du festlich geboren bist, festlich auch in den tiefsten Sorgen, festlich auch bei dem größten körperlichen Leid.

Du bist nie anders gewesen als festlich, du konntest auch nie anders sein. Was dir aber gefehlt hat, das war das Bewußtsein deiner Festlichkeit und deiner Schöpferallmacht. Mache dir deine Weltallkraft bewußt, macht es euch alle bewußt, daß Geburt, Liebe und Tod zusammen eure wirkliche festliche und eure unwirkliche festliche Welt bedeuten, daß ihr ewig und unerschöpflich die unsterbliche Schöpferkraft selbst seid.“

Macht dieses euch bewußt, sagt es einer dem andern; macht es den Kindern bewußt, ruft es den Leidenden und den Kranken in die Erinnerung; sagt es euch selbst, wenn ihr die Liebsten um euch sterben seht, wenn ihr selber leidet und sterben wollt; sagt es in eurer Todesstunde euch und denen, die ihr beim Sterben verlassen müßt.

Sagt dieses auch den Hochmütigen, den Tyrannischen, den sich übermächtig Aufmachenden; sagt es den Gedemütigten, den Erniedrigten, den Lebensmüden: Alles gehört ihnen im Weltall und nichts. Alles sollen sie als Gast genießen und alles als Gastgeber hergeben beim unerschöpflichen Fest ihrer Schöpferkraft.

Wenn ihr euch umseht in der Welt, — in jeder Handlung, in jeder Lebensgestalt fühlt ihr überall Schöpferkraft, nicht bloß in den Menschen. Alle Gestalten sind gestaltgewordene Schöpferkraft. Ihr müßt die Tiere nicht dumm nennen, die Steine nicht gefühllos nennen, die Bäume und Pflanzen nicht als unverständige Wesen ansehen.

Ja, selbst die Dinge, die ihr aus eurer Schöpferkraft, aus eurem Geist, aus den Gestalten der Erde zusammenfügt, den Tisch und den Stuhl, den ihr euch gezimmert habt, das Bett und den Schrank, eure Werkzeuge und eure Maschinen, — vom Augenblick, wo ihr sie schuft und sie benennt, sind es Wesen von eurem Geist geworden, lebende Gebilde eurer ewigen Schöpferkraft.

Denn auch die toten Dinge haben durch euch äußeres Leben und innerstes Leben erhalten. Ihre Gestalt wird wie eure Gestalt abgenützt und abgelegt, aber ihre Schöpferkraft geht nicht verloren, und diese Dinge werden sich aus euch wiedergestalten.

Denn auch die toten Dinge sind zum Feste gekommen, auch sie leben festlich. Auch sie werden krank, auch sie werden müde, denn auch sie arbeiten für euch, indem sie euch nützen, auch sie werden alt wie ihr, auch sie haben ihre bestimmten Festgesetze, die aber natürlich grundverschieden von denen der Menschengestalt sind.

Wenn ihr euch tief zu eurer inneren Welt zurückzieht oder euch zu ihr erhebt, so könnt ihr das Lebensgesetz, die Schöpfungsidee, den Schöpfungsgenuß, die jeder Gestalt zugrunde liegen, verstehen, denn ihr wißt im Grunde alles.

Ihr dürft aber die Dinge um euch nicht mit euren Menschengesetzen messen. Ihr sollt nicht sagen: „Schrank, sprich Menschenworte, wenn du lebst, wie ich. Dann will ich dir dein Leben glauben.“

Ihr könnt nicht sagen: „Tisch, bewege dich mit deinen Beinen vorwärts wie ein Tier. Dann werde ich dir glauben, daß du lebst.“

Ihr sollt nicht sagen: „Stuhl, verneige dich vor mir. Dann will ich dir glauben, daß du lebst.“

So sollt ihr auch nicht zum Stein sprechen: „Friß Fleisch und weine Tränen!“ Und da er das nicht kann, verachtet ihr ihn und nennt ihn leblos.

So könnt ihr nicht zum Baume sagen: „Trage beliebige Früchte, wenn ich es befehle, damit ich erfahre, ob du meine Menschenstimme hörst und dich mir verständlich machen willst.“ Oder: „Baum, fliege fort wie ein Vogel und komme aus dem Tal auf den Berg.“

Ihr werdet nicht zum Pferde sagen können: „Wenn du menschenähnlich bist, dann gehe aufrecht wie wir Menschen auf zwei Füßen dein Leben lang.“

Und zum Vogel dürft ihr nicht sagen: „Du kannst nicht so klug und so festlich sein wie wir, weil du nicht in Häusern mit vielen Zimmern wohnst, weil du keine Menschengenüsse kennst, keine Menschenbücher, keine Menschenbilder, keine Menschenmusik verstehst.“

Darauf muß euch euer Weltallverstand antworten, der ebenso im Vogel, zu dem ihr sprecht, wie in euch regiert: „Wenn du fliegen könntest, Mensch, von Ast zu Ast, so würdest du zwischen Blüten erfahren, in welch herrlicher Welt ich lebe. Die Blüten, die für dich, Mensch, klein sind, sind für mich, den kleinen Vogel, so groß, daß, wenn sie in deiner Welt wären, sie im Verhältnis zu dir so groß wie dein Kopf sein würden und noch größer, ja, manche Blumen wären so groß wie du selbst.

Denke dir, in diesem wunderbaren Reich zu fliegen unter Millionen mühlsteingroßer Blüten! Wenn du dann fliegen dürftest; wenn du in den Äther hinaufsteigen könntest, wie ich, kleine Lerche, nur getragen von dir selbst, so wie dich deine Füße über die Erde tragen, aber nicht getragen von Flugmaschinen, von Motoren; getragen von dem Drang in deiner Brust. Stelle dir vor, dich hoch, hoch von aller Welt und Wirklichkeit entfernen zu können, getragen von dem Liebesdrang im Äther ein Liebeslied zu jauchzen, um der Geliebten zu zeigen, wie hoch deine Liebe auch deinen Körper über alle Dinge erhebt.

Welch ein Fest, Mensch, würdest du dann fühlen! Würdest du nicht gerne die Bücher, die Säle, die Bilder und deine Menschenkunst verlassen?

Tu es, und nimm im nächsten Leben die Gestalt einer Lerche oder die einer Nachtigall an; denn es ist dir ja ein kleines, dieses zu tun, wie es mir ein kleines sein wird, Mensch zu werden, wenn mich mein Vogeldasein ermüden sollte und mich ein innerer Wunsch zur Menschengestalt hindrängen sollte.

Meine Schöpferkraft ist auch deine Schöpferkraft. Du kannst mir nachfühlen, auch ich kann dir nachfühlen. Wir sind verschieden und doch nicht verschieden voneinander, da wir beide wirklich und unwirklich leben, da wir beide im äußeren Leben scheinbar getrennt sind, im inneren Leben aber unzertrennlich dasselbe sind, Besitzer einer und derselben ewigen Schöpferkraft.“

So würde der Verstand des Vogels zu dir sprechen, o Mensch, wenn dein Verstand ihn fragen würde. Und so wird jede Gestalt des Lebens, jedes Lebewesen, wenn du willst, dir ihr äußeres Leben verschieden von deinem erklären, aber im inneren Leben seid ihr ein und dasselbe, ihr Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine und Dinge.

Ihr steht alle zusammen in Fühlung, in Verstandes- und Gefühlsfühlung, geboren unter verschiedenen Gesetzen, aber alle seid ihr dasselbe, die eine einheitliche Schöpferkraft, die im äußeren und inneren Leben das ewige Schöpfungsfest feiert.

Keine Schöpferkraft steht über euch; die Kraft liegt in euch. Alle Gestalten haben sich zusammen ausgedacht, und es wohnen alle Gestalten deshalb auch in jedem einzelnen von euch. Das große Fest zerfällt in viele kleine Feste, und alle Feste zusammen bilden das Schöpfungsfest, das immer war und immer sein wird, und bei dem ihr immer anwesend wart und anwesend sein werdet, und bei dem ihr mitgeschöpft habt und immer mitschöpfen werdet.

Kommt aber da einer und sagt mir: Was hat es für einen Sinn, dieses ewige Sichverwandeln, dieses ewige Schaffen ohne Ende? Wo will das Schaffen hin? Wenn auch Schaffen Genuß ist, wird dieser Genuß nicht eintönig?

So frage ich dich zurück: Hat dein Herz in den neunzig Jahren, die du vielleicht gelebt, eine einzige Stunde stillgestanden? Hat nicht dieser kleine Muskel eine Titanenaufgabe erfüllt? Wie kannst du denn da mit dem Hauch einer Sekunde zweifeln wollen an der unerschöpflichen Lust der Schöpfungskraft, wenn dein eigenes Herz dich Lügen straft?

Dieses soll dir aber nicht genug Erklärung sein. Ich will dich gar nicht erinnern, wie sehr du als Kind nach dem Leben verlangtest und dich sehntest, mithelfen, mitleben, mitfeiern zu dürfen. Ich will dir nur sagen, wenn du ein alter Mann oder eine alte Frau bist, die mich so fragt: erinnere dich, als du in der Mitte deines Lebens standest, auf der Höhe deiner Schöpferkraft, als du dir vorkamst, als wenn alles dir gelingen würde und dein Körper noch stolz war, dein Blut spielend durch deine Adern lief, dein Rücken, dein Knie, deine Ellenbogen, deine Gelenke alle herrlich elastisch waren, dein Geist mutig und dein Herz voll Wohlbehagen — würdest du da gesagt haben: Es ist eintönig, ein Mensch zu sein?

Und wenn dir in der Fülle deiner Kraft, dir, Mann, das Weib gegenüberstand, das du liebtest und das dich wiederliebte, und nach dem du vor Sehnsucht branntest, sobald sie dich ansah, und sie vor Sehnsucht herrlich demütig wurde, wenn du sie ansahst; oder wenn dir, Weib, der Mann, nach dem du verlangtest, begegnete, glaubst du, Mensch, daß dann dieser Augenblick eintönig war?

Glaube mir auch, daß, wenn du diesen Augenblick wieder erleben würdest, in anderer Gestalt, wieder auf dem Gipfel deiner Kraft, glaube mir, er wäre in keiner Lebensgestalt eintönig. Der Liebesaugenblick ist bei allen Gestalten ein Augenblick von unerschöpflichster Seligkeit und Lebenslust und höchster Lebenshöhe.

Ob du in einer Blüte bist mit deinem Weibe und der eine von euch ist Stempel und der andere ist Staubfaden, oder ob du ein Tiermännchen bist und dein Weib ein Tierweibchen irgendwelcher Tiergestalt, oder ob du als Atom in den Steinen liegst, zusammengepreßt in Kalk- oder Sauerstoffverbindung, — wo und wie du dich auch mit deinem Weib gestaltet hast, überall wirst du den Lebenshöhepunkt auf dem Gipfel deiner Kraft im Liebesaugenblick finden, in der Liebesumarmung, wobei du, Mann, und du, Weib, euer inneres Leben und euer äußeres so dicht zusammenlegt, daß ihr in der Schöpferkraft eins seid.

Und in diesem Augenblick erkennt sich die Schöpferkraft selbst. In diesem letzten Augenblick der höchsten Liebesvereinigung, des tiefsten Ineinandersinkens erlebt ihr ein größeres Sichselbstvergessen als im Tod und zugleich ein höchstes Sichselbstbetätigen, einen stärkeren Augenblick, als der war, da ihr ins Leben tratet, stärker, als es eure eigene Geburt für euch war und alles, was ihr im Leben tatet.

Und aus dem fortpflanzenden Liebesaugenblick heraus, der aller Lebewesen höchstes Fest ist, höher als das Geburtsfest und höher als das Todesfest, der das Fest der neuen Verwandlung ist, könnt ihr, wenn auch eure Lebensgesetze euch von allen anderen Leben trennen, den Weg zur Verständigung mit allen anderen Gestalten finden. Denn in der Liebeslust gipfelt die Lust aller Leben, — der Liebe streben alle Leben im Weltall zu.


Außer der Liebe gibt es im ganzen Weltall keine höhere Seligkeit, für jede Gestalt bedeutet die Liebe die höchste Lebenshöhe, sie ist für alle Leben das einzige Lebensziel, die höchste Lebensfestlichkeit, die das Weltall kennt.

Aber ihr werdet mir sagen: der Schrank gebiert doch keine Schränke, der Tisch und der Stuhl doch keine Tische und Stühle! Wo ist das Liebesfest und der Schöpfungsakt bei den toten Dingen?

Der Schreiner, der den Schrank ausgedacht hat, ist Vater und Mutter des Schrankes. Ihr habt doch gehört, daß alle Dinge zu euch Vater und Mutter sein können. Alle haben etwas an euch geboren. Und da der Schrank ein zugehöriges Stück zum Menschen ist, so mußte er auch von einem Menschen zuerst für das Menschenleben geboren werden.

Denn, seht, Wünsche sind so gut Lebewesen, wie es Gedanken sind. Der Leib des Menschen sprach zum Kopf des Menschen: Bau mir einen Behälter für meine Kleider. Und der Kopf des Menschen sprach: Du, Leib, dem ich diene, so wie du mir, Kopf, dienst, schicke deinen Wunsch tief ins Herz, so daß er ein Herzenswunsch wird. Dort laß ihn rufen und sich sehnen nach Vereinigung mit einem Gedanken in mir, Kopf.

Und seht, der Leib tat so und schickte den Wunsch zum Herzen, wie er es mit allen Wünschen tun muß, wenn sie etwas erreichen wollen.

Und im Kopf machte sich der Gedanke auf, der längst für diesen Wunsch vorbereitet war, so wie ein Mann geboren ist für eine Frau. Und Gedanke und Wunsch kamen zum Herzen und umarmten sich im Herzen. Und die Schöpferkraft, die sie erzeugten, setzte den Menschen in Bewegung.

Und der Mensch nahm die Bretter, die er aus einem Baumstamm gesägt hatte, und seine Hände setzten die Bretter zum Schrank zusammen. Und siehe, Wunsch und Gedanken, vereinigt im Herzen, freuten sich über ihr Geschöpf, den Schrank, den sie geschaffen.

Und als der Leib seine Kleider dann in den Schrank legte, war der Wunsch befriedigt, und auch der Gedanke war befriedigt. Und der Kopf nickte auf dem Leib, und Wunsch und Gedanke, beide sahen ihr Werk, den Schrank, an und freuten sich festlich.

Und so, aus Wunsch und Gedanken, aus dem Liebesakt von beiden im Herzen des Menschen, wurden alle Dinge geboren, die der Menschenleib nicht vorfand, und die der Wunsch und der Gedanke für das Menschenleben schaffen mußten. Doch das Leben solcher geschaffenen Dinge kann natürlich nicht seinen Zweck ändern, und es endet, wie alle Leben, bei der Zweckerfüllung. Wir können nicht zum Schrank sagen: „Sei du heute die Treppe des Hauses oder gib uns heute Licht wie die Lampe.“

Erfüllen die Dinge ihren Zweck gut, so sind sie gutgeratene Dinge und können lange leben.

Der Zweck eines Gegenstandes ist sozusagen das innere Leben des Gegenstandes. Der Zweck bedingt die Gesetze des Gegenstandes, unter denen derselbe leben soll, und von denen seine äußere Gestalt bedingt ist. Die Gegenstände leben darum innerlich und äußerlich, wie die Menschen, die auch für ihre Menschengestalt ihre Gesetze und ihren Zweck von ihrer Weltferne für ihre Weltnähe vorgeschrieben bekommen haben.

Da der Schrank sozusagen ein Glied ist am Menschenleben, so kann er nicht sich selbst und keine neuen Schränke erzeugen; denn dein Arm an dir bringt auch keine neuen Arme hervor, dein Kopf setzt keine neuen Köpfe zwischen deine Schultern, weil er ein Glied an dir ist; die Glieder selbst pflanzen sich nicht an dir fort. So pflanzt sich auch kein Schrank fort, der ein Glied deines Menschenlebens bedeutet, da du ihn dir für deinen Leib geschaffen hast.

Und Glieder des Menschenlebens sind alle Gegenstände, die du dir zum Leben schaffst, wie der Schrank, wie der Stuhl, wie der Tisch, wie die Lampe, wie dein Haus, wie dein Kleid, wie alle Maschinen und alle Kunstwerke, die du dir zur Erhaltung deines Leibes und deines Geistes erschaffen hast, das heißt, zum Fest deines Menschenlebens, deines inneren und äußeren Daseins.

Du wirst jedoch, wenn dein Arm seinen Zweck erfüllt, aber sich nicht an dir fortpflanzt, nicht behaupten wollen, dein Arm sei kein lebendes Wesen, er sei ein totes Ding. Er besteht aus lebenden Schöpferatomen so gut wie die Bretter des Schrankes. Sie sind ja gewachsen, die Bretter, als der Baum wuchs, dem sie angehörten.

So ist dein Arm gewachsen vom Mutterleibe an bis zum Tage, wo dein Wachstum stillstand. Aber da er jetzt nicht mehr weiterwächst, dein Arm, und da die Bretter des Schrankes nicht mehr weiterwachsen, sind sie deshalb doch nicht tot.

Frage nur den Schreiner, ob der Schrank nicht lebt. Wenn er neu und das Holz zu grün ist, werfen und spannen sich die Bretter. So wie das Fleisch deines Armes für Wärme und Kälte empfindlich ist, so ist das Fleisch des Schrankes, das heißt, seine Bretter sind für Wärme und Kälte empfindlich und leben. Und so wie dein Arm im Alter mürbe wird und lahm und müde und die Frische und die Lebenslust einbüßt, so geht es mit dem Schrank. Sein Holz wird mürbe, und das Holz kann Krankheiten bekommen durch Feuchtigkeit und Nässe. Wucherungen entstehen, so wie in deinem Fleisch, so auch im Holz.

Und nicht bloß dem Holz und deinem Arm ergeht es so. Frage die Baumeister, die sich auf Eisen und Stein verstehen. Frage die Gärtner, die sich auf Erde verstehen. Eisen, Stein, Erde, wenn sie lange gelebt haben und dem Weltfest dienten und genug mitgefeiert haben, Stein, Eisen und Erde können krank, müde, mürbe und untauglich werden. Und wenn sie von den Menschen zu Gegenständen verarbeitet waren, dann können sie, wenn sie müde werden, auch nicht mehr ihr inneres Leben, nicht ihren Zweck mehr erfüllen.

Da aber mit den Gegenständen — die wir nur mit erweiterten Gliedern unseres Menschenlebens vergleichen können, wenn wir sie in ihrer Gestalt betrachten und verstehen wollen — also nur ein Teil von uns, ein Glied von unserem Leib stirbt, sind wir auch nicht so traurig, wenn wir diese Gegenstände sterben sehen, als wenn wir ganze Menschen sterben sehen. Denn der Verlust eines Armes, eines Zahnes, eines Ohres, eines Beines ist uns wohl sehr wichtig, aber doch nicht so wichtig als der Verlust einer ganzen Menschengestalt.

Sehen wir aber von der Gestalt ab und denken, daß Lebensatome, Lebenskräfte, mit den Gegenständen oder mit den Gliedern, die wir verlieren, um uns verschwinden, so können wir, wenn wir uns auf einen höheren Empfindungsstandpunkt stellen, uns sagen: die Atome und Kräfte dieser Gegenstände oder Glieder sind ebensowenig wie die Menschenatome und ihre Atomkräfte, die mit dem einzelnen Menschenleben scheinbar aufhören, verschwunden. Sie wirken seit Ewigkeit und wirken in Ewigkeit fort. Die Schöpferkraft in uns, die den Schrank gebaut hat, und die den Menschenarm zum Menschenleib aus Wunsch und Gedanken geschaffen hat, diese gibt dem Schrank ähnlich ewiges Leben, wie sie dem Menschenarm es gegeben hat.

Ich will damit sagen: die Entstehung des Schrankes aus Wunsch und Gedanke gehört wie der Mensch im letzten Grunde der Urschöpferkraft aller Leben an. Und die ist nicht weniger ewig zu nennen, ob sie nun Glieder des Leibes, wie Arme, oder sogenannte tote Dinge, wie Schränke, ausdenkt.

Mit dieser Auseinandersetzung habe ich darauf hinweisen wollen, daß nicht bloß der Mensch zum Menschen reden soll und kann. Sondern Tiere, Pflanzen, Bäume, Steine, Erde, Holz, da sie mit dem Menschen Wesen und Glieder desselben ewigen Lebens sind, so können sie und auch die „toten“ Dinge ihr Leben einander und den Menschen mitteilen. So gut wie der Vogel den Menschen überzeugen kann, wenn letzterer sich in des Vogels Leben vertieft, wie schön es dieser in der Luft hat, so können auch die Gegenstände im Zimmer zum Menschen überzeugend reden und können von ihrer Zufriedenheit, von ihrer Frische, von ihrem Alter, ihren Krankheiten und ihren Erinnerungen zu dir, Mensch, reden.

Und diese Gedanken und Gefühle, die dir, Mensch, beim Anblick toter Dinge im Herzen zu reden beginnen, das ist die Sprache der stummen Dinge. Höre darum deinen Gedanken und Gefühlen zu, wenn du vor der Welt und ihren Dingen sitzt. Die Gedankensprache und Gefühlssprache ist die Weltallsprache.

Der Gedanke und das Gefühl sind die Stimme, mit denen die Gestalten des Lebens, die Lebewesen und die von den Menschen geschaffenen Gegenstände, sich deinem Herzen und seiner Schöpferkraft verständlich machen wollen.

Mal wollen sie dich mit Gedankensendungen unterhalten, mit Gefühlserinnerungen; mal wollen sie dich durch Gedankeneingabe um Hilfe bitten, daß du tätig wirst und ihnen beispringst; mal wollen sie dir selbst helfen, daß du aufmerksam wirst und nach einer Gefahr, die dir droht, dich umsiehst. Mal wollen sie dir klagen, daß sie müde sind und sterben wollen und die Gestalt wechseln möchten. Mal wollen sie dir in ihrer Tätigkeit gefallen und deinem Gefühl mit ihrer Farbe und mit ihrer Linie mitteilen, wie schön, stark und ewig das Lebensfest ist.

Sage darum niemand, daß nicht im Menschenleben die ganze Welt zu uns kommen kann und wir nicht zur ganzen Welt kommen können. Die Gedanken sind die Klänge und Worte der Festlichkeit, und das Gefühl gibt die Rhythmen und den Takt an, mit dem uns das Weltallfest jeden Augenblick anders umgibt.

Gedanken und Gefühle sind die Sprache, die die Weltalleben untereinander verbindet. Glaubt nicht, daß nicht jedes Tier denken und fühlen kann. Jedes Gras denkt und fühlt; jeder Baum, jeder Stein, die Berge, die Wolken, der Fluß, die Sterne, Sonne, Mond und Erde denken und fühlen. Alles Leben schickt sich Gedanken und Gefühle zu, alles steht untereinander immer in ewiger Fühlung, denn alles Leben ist eine und dieselbe Schöpferkraft, alles besitzt eine und dieselbe äußere und innere Welt.

Eine große unendliche Lebensfühlung waltet im Weltall, und die äußersten Sterne der Milchstraße sprechen ebenso deutlich zur Erde, wie deine Freunde in Amerika oder China, nicht bloß mit Telephon, Telegraph oder Brief, nein, mit den Gedanken und Gefühlen, mit dir sprechen.

Wir wissen jetzt, daß wir ohne Draht von einem Meeresschiff auf dem Ozean zu einem anderen Meeresschiff, das wir weder sehen, hören, noch von dessen Dasein wir eine Ahnung haben, durch die „Telegraphie ohne Draht“ Gedanken aufnehmen und Gedanken, also auch Gefühle, hinleiten können. Und, stellt euch nun vor: jedes Atom im Weltall ist Besitzer eines solchen Gedankenübertragungsapparates, da es Besitzer der Schöpferkraft ist, die seit Millionen Jahren unausgesetzt denkt, handelt und empfindet.

Ihr werdet mir sagen: zum Denken gehört ein Gehirn.

Wer an die Schöpferkraft des Atomes glaubt, kann sich leicht vorstellen, daß jedes Atom ein Gehirn besitzt. Denn im Weltraume gibt es eigentlich kein groß und klein und auch keine Zeit. Es gibt nur Unendlichkeit in den Größenbegriffen dort und Ewigkeit in Zeitbegriffen. Also, welche Welt kann nicht in jedem Atom vorhanden sein!

In jedem Atom können auch Sonnensysteme sein und kann auch ein Weltraum sein, da des Atomes Kleinheit nur im Verhältnis zum Menschen die letzte Kleinheit bedeutet. Aber im Verhältnis zur Ewigkeit ist das Atom noch ein Weltraum, noch ein Weltraum voll Weltkräften, voll Weltempfinden, eine Weltschöpfung, eine Unendlichkeit in der Unendlichkeit.


Wer Frieden im Ohr mitbringt und die Sehnsucht im Willen, sich aufzuklären, der wird klärende Worte wie Öltropfen in seinem unruhigen Welttasten empfinden. Und diese Worte werden wie Inseln in ihm werden, auf denen seine Sehnsucht nach Ruhe und Überblick Fuß fassen kann.

Wer aber noch Unruhe mitbringt beim Lesen dieser Zeilen, den wird die Unruhe nicht Fuß fassen lassen. Der wird in einem Chaos zwischen Dämmerungen und zwischen grellen Lichtblitzen und bei plumper Erdendumpfheit und bei Gedankendunkelheit herumtappen, von früheren falschen Idealen unbefriedigt, von früheren halben Lösungen angewidert; der wird wie einer sein, dessen Haar verwirrt ist, und der nicht die Geduld besitzt, es in Ruhe auszukämmen. Und er wird sich Schmerzen bereiten aus einer unnötigen Ungeduld heraus. Darum gönnt euch Geduld, diesem Buch zuzuhören.

Ich habe keinen Vorteil davon, den Menschen diese Aufklärung, die sich in mir bald dreiundzwanzig Jahre ununterbrochen aufgebaut hat, vorzuschlagen. Den einen Vorteil vielleicht hätte ich, daß ich weniger Unruhe begegnen würde, weniger Hast und Unzufriedenheit und mehr weisem, festlichem Sichversenken in den Reichtum der Welt rundum. Ich möchte, daß es in Europa so werde wie im fernen Osten, wo mehr Verinnerlichung und mehr Verständnis für die Weltleben, für Naturleben und für Freude am Weltall herrscht, und wo mehr Nutzen und Freude vom Lebensfest geerntet wird.

Der Kapitän des Schiffes, auf dem ich in Japan ankam, sagte zu mir, als die Anker in Nagasaki Grund faßten: „Herr Dauthendey, so lange Sie jetzt in diesem Land, in Japan, sein werden, werden Sie niemals ein Kind schreien hören und niemals sehen, daß ein Tier geschlagen wird.“

Kinder und Tiere werden in Asien nur mit Milde und mit Freundlichkeit behandelt. Denn der Asiate sagt, es ist die erste Pflicht der Eltern, unendliche Geduld zu üben gegen alle Unarten eines Kindes. Und es ist Pflicht des Menschen, wenn er sich mit Tieren verständigen will, unendliche Geduld zu üben. Die Freundlichkeit erreicht alles, sowohl beim Kind als beim Tier. Und für alle Leben, mit denen man in Beziehung treten will, sind Geduld und Freundlichkeit die einzig möglichen Verkehrsmittel, die angewendet werden müssen, weil sonst überhaupt keine Verständigung möglich ist, keine Übertragung von Gedanken und Gefühlen dieser lautlosen, aber überall den Verkehr ermöglichenden Weltsprache.

Denkt euch einem Franzosen oder einem Engländer gegenüber, dessen Sprachen ihr noch nicht geläufig versteht, so könnt ihr doch bei Geduld und Freundlichkeit die Gedanken des Fremden empfinden und verstehen. Denn es ist durchaus nicht nötig, die Sprache der verschiedenen Völker oder der Tiere, der Vögel oder aller Dinge in ihren Lauten auszuklügeln.

Es ist auch nicht nötig, die Zeichensprache der windbewegten Bäume, der Gräser in ihren Rhythmen und in ihrem Linienwuchs zu ergründen. Es ist auch nicht nötig, die Sprache der Steine, die, mit Licht und Schatten bekleidet, eine Sprache von Farbenwirkungen sprechen, sich zu deuten.

Dieses Deuten überlaßt denen, die ihr Leben dem Sprachdeuten des Weltallebens widmen wollen.

Ihr alle aber könnt alle Leben verstehen ohne besonderen Scharfsinn, ohne langwieriges Beobachten, wenn ihr nur Geduld und Freundlichkeit über euch selbst breitet und den Gedanken und Gefühlen so den Zutritt laßt, die jedes Ding dem anderen zuschickt, jedes Lebewesen dem anderen Lebewesen, jedes Atom dem anderen Atom.

Hört, wenn ihr vor ein Ding hintretet oder vor einem Lebewesen steht, hört auf die Gedanken und Gefühle, die in euch aufsteigen, die zu eurem inneren Ohr reden, so wie ihr mit dem äußeren Ohr auf die Sprache und Gesten der Menschen achtet; dann werdet ihr an euren unwillkürlichen Gedanken und Gefühlen das Leben des Gegenstandes oder des Lebewesens miterleben.

Hört auf die Gedanken, die euch übertragen werden von den euch fremden Wesen, auf die stille Gedankenwelt und Gefühlswelt, die die allgemeine Weltsprache ist, und wißt es: auch eure Gedanken und Gefühle dringen ein in die anderen Leben um euch.

Ihr braucht dabei nicht an das Wort „Gedankenlesen“ zu denken. Ihr sollt gar nichts an eurem Wesen ändern, um die Welt zu verstehen. Ihr sollt nur Geduld und Freundlichkeit und Lebensfestlichkeit unausgesetzt über euch verbreiten. Dann wird euch von allen Leben zugesprochen und dadurch geholfen, geraten, gewarnt und zugeplaudert, so wie ihr es nie erwartet habt, daß dieses möglich wäre zu erleben.

Ihr braucht euch aber nicht immer dazu still hinzusetzen und auf die Welt zu horchen. Gerade mitten in der Tätigkeit, wenn ihr euerer Beschäftigung am ernstesten nachgeht, spricht irgendein Ding oder ein Lebewesen um euch seine Gedanken zu euch aus, manchmal betreffs eurer Arbeit, manches Mal ein Urteil über eure Vergangenheit, manches Mal einen Gedanken oder einen Vorausblick in eure Zukunft.

Nur der Glaube an die Weltallsprache sei euch gegeben, denn das innere Wissen habt ihr alle längst selbst gehabt. Freunde müßt ihr sein mit allen Lebewesen, möglichst geduldige, vertrauende und liebevolle Freunde, mit allen Gegenständen um euch, mit allen Lebewesen um euch. Denn nur Freunde werden euch warnen, werden euch helfen und zusprechen.

Glaubt nicht, daß ihr euch ungestraft Menschen, Tiere und auch tote Dinge zu Feinden machen könnt. Ihr könnt euch die ganze Welt zu Feinden machen, wenn ihr ungeduldig, unfreundlich handelt und auf die Gedankensprache der Welt nicht hören wollt. Dadurch werdet ihr dann viel leiden und vielleicht zuletzt gezwungen werden, wenn ihr die ganze äußere Welt euch zu Feinden gemacht habt, die Gestalt, in der ihr gelebt habt, abzulegen, früher vielleicht abzulegen, als ihr es vorhattet, und müßt euch verwandeln, um eurem Haß und dem Haß der Welt, den ihr auf diese Gestalt geladen habt, zu entgehen.

Vielleicht gelingt es euch aber in anderer Gestalt, unter anderen Verhältnissen, friedfertiger, geduldiger und freundlicher euch die Welt zu Freunden zu machen und das Weltfest genußreicher zu feiern, als ihr es vorher tatet, denn ihr seid immer Schöpfer eurer Zustände.

Vom Tage an aber, an dem ihr annehmt, daß ihr an einem weise gefeierten Fest teilnehmt, könnt ihr vielleicht gar nicht anders als euch freundlich und geduldig und festlich benehmen. Denn welcher Mensch, wenn er Gastgeber oder Gast ist, könnte seine Lust darin finden, eine Feindschaftsfeier statt einer Freundesfeier bei einem Fest zu erleben! Wenn einer so entstellt ungeduldig und unfreundlich zu einem Fest erscheinen wollte, würde er sich bald hinausgewiesen fühlen und würde erst wiederkommen dürfen und wollen, wenn er sich in festlicher Gestalt zeigen kann.

Wohl mag es vorkommen, daß einer sich den rauhen Spaß machen will, sich Spielverderber zu nennen, und hunderte Male wiederkommt und immer als Feststörer. Auch diese wird es geben und immer wieder geben müssen, weil wir Gestalten innerer Schöpferkraft sind, weil Leben aus Licht und Schatten, Freude und Leid bestehen muß und nur der Wechsel das festliche Leben erzeugt.

Darum setze ich hinzu: die große festliche Weltallschöpfung wird nicht gebessert werden durch diese Weltanschauung, wie niemals eine Weltanschauung die Schöpfung gebessert hat. Denn die Schöpfung ist nicht zu bessern und nicht zu verschlechtern. Sie ist ein ewiger Wandel von Tag und Nacht, von innerer und äußerer Welt, von tiefster Ruhe und höchster Gestaltungsunruhe, sie ist unsere ewige Schöpferlust.

Es ist nur ein neuer Wandel, der mit der neuen Weltanschauung über die Welt kommen wird, weil die alte Weltanschauung abgetreten, ausgeleiert, nichtssagend, mürbe, alt und brüchig geworden ist, weil ihre Zeit um ist und eine neue Zeit neue Ideale, neue Weltüberblicke aus neuen Aufklärungen heraus für die Menschheit fordert, und die früheren Weltanschauungen für uns nicht weitsichtig genug, nicht mehr äußerste Weltüberblicke sind. So wie ihr alte Kleider ablegt, weil sie eng werden, weil sie sich nicht mehr erweitern lassen, weil ihr eure Formen verändert habt, sie aber ihre Formen nicht mehr bewahren können, so wechseln auch die Weltüberblicke der Menschheit, die sie sich über das Leben machen muß.

Die Götterlehre der Griechen und Römer, die Götterlehre der alten Germanen und Kelten, die Götterlehre der Egypter, die Götterlehre der Inkas und viele Weltanschauungen noch vieler Völker, die jahrhundertelang Familiensitte, Landessitte gestaltet und geleitet haben, sind vom Erdboden verschwunden. Und wir wundern uns nur, daß das damals scheinbar Unerschütterliche erschüttert werden konnte, absterben und schwinden konnte.

Der Leser wird selber verfolgen können, wenn ich ihm jetzt die Entstehungsgeschichte meiner Bücher und die Richtung meiner Lebenswege schildern werde, daß ich alle Kraft, alle Arbeit, Eigenart und Lebensbejahung dreiundzwanzig Jahre lang nur aus dem Weltfestlichkeitsgedanken und Weltfestlichkeitsgefühl schöpfen konnte.

Aber man möge mich nicht falsch verstehen und meine Rede nicht mit der Rede des Pharisäers vergleichen, der stolz auf seine Brust deutete und sagte: „Seht, bin ich nicht immer gut, immer gerecht und wohltätig gewesen.“

Keinen Stolz sollt ihr aus jenen Zeilen, die ich bis jetzt niederschrieb und keinen Stolz aus denen, die ich schreiben werde, herauslesen, keinen Übermut und keine Überhebung über alle die, welche anders denken.

Es fällt mir auch nicht ein, den dumm zu finden, der meine Worte nicht begreifen kann. Wer heute nicht in der Sonne liegen mag, weil er sich ans Dunkel gewöhnt hat, wird vielleicht morgen den sonnigen Platz, den sonnigen Lebensplatz selbst aufsuchen, wenn er sich an den Gedanken vom Dunkel zum Licht gewöhnt hat. Ich jedenfalls halte meine Weltanschauung für die wärmste unter der Sonne.

Wer das Leben bisher als eine Strafe oder als eine Notwendigkeit oder als ein Jammertal oder als eine Aufgabe oder als eine Pflicht oder nur als einen sinnreichen Mechanismus oder als ein sinnloses Chaos betrachtet hat, oder als eine blind zupackende Wollust oder als eine unheilbare Krankheit — denn alle diese Anschauungen habe ich aus dem Munde lebender Menschen gehört —, wer eine von diesen genannten Anschauungen vertritt, der möge doch wenigstens seinem heranwachsenden Kinde oder der unbefangenen Jugend den Lebenssinn als eine weise Festlichkeit auslegen.

Und der wird sicher erleben, wenn er dieses mit Geduld und Freundlichkeit unternimmt, daß er einen größeren Vorteil davon haben wird, weil er sein Kind reicher macht, befreiter, als es die früheren Kinder waren, weltverständiger und dadurch edler. Und weltverständige und reichgemachte Kinder werden ihren Erziehern mehr Glück, Ehre und Vergnügen bereiten als eingeschüchterte, verheuchelte oder in Weltunkenntnis einseitig und also arm erzogene Menschengeschöpfe.

Sagt dann euren Kindern, wenn sie euch nach Herkunft, Sinn und Ziel des Lebens fragen, sagt ihnen zuerst, daß sie Schöpfer und Geschöpfe zugleich sind seit ewigen Tagen und in ewigen Tagen, und daß ihre augenblickliche Menschengestalt wirklich und unwirklich zugleich ist, sowie alle Leben rundum, sowie das ganze Weltalleben.

Sagt ihnen dann weiter: „Wir erinnern uns nicht und könnten nicht antworten, wenn wir plötzlich gefragt werden: Was haben Sie vor zwei Jahren am letzten Januartag in der sechsten Stunde des Tages gedacht und erlebt?“ — So ist es auch mit unserem früheren Leben. Wir kennen es äußerlich nicht mehr, so wie uns die Speisen nichts mehr angeben, die wir vor zwei Jahren verdaut haben.

Nur dem inneren Leben ist alles unvergessen geblieben. Schon die Sekunde, während ihr diese Zeile lest und aussprecht, ist aus der äußeren Wirklichkeit in die Unwirklichkeit geglitten und hat einer anderen wirklichen Sekunde Platz gemacht, die auch wieder unwirklich wird, bis ihr ausgedacht habt.

Und wie die Sekunde, so ist auch unser eigenes Wesen, wirklich und unwirklich zugleich. Und wir sind immer in der Unwirklichkeit so gut zu Hause wie in der Wirklichkeit. Und mit uns sind das alle Dinge und alle Lebewesen.

Alle Leben gehören einer greifbaren und einer ungreifbaren Welt an, und deshalb ist kein Leben nur niedrig und keines nur hoch. Das niedrige Tier ist niedrig und hoch zugleich. Die niedrigste Pflanzengattung ist hoch und niedrig zugleich.

Der toteste Gegenstand ist hoch lebend und niedrig lebend zugleich, denn er ist unwirklich und wirklich zugleich. Der elendste Mensch ist hoch und niedrig zugleich, vergänglich und unvergänglich, wirklich und unwirklich.

Und sagt euren Kindern weiter: „Liebe Kinder, wenn ihr das begreift, daß alles Leben wirklich und unwirklich, hoch und niedrig, greifbar und ungreifbar, einer inneren und einer äußeren Welt angehörig zugleich ist, so müßt ihr nicht den Schluß ziehen, als wäre die Welt und das Leben ein kreisender Unsinn.

Seht, das Leben soll ein weises Spiel sein. “ Deshalb ist es wie jedes Spiel wirklich und unwirklich. Was die Puppe für das Mädchen und das Schaukelpferd für den Knaben, das ist das Leben den Erwachsenen: ein anregendes, aber zugleich auch ein verantwortungsvolles Spiel. Und wenn ihr spielt, eifrig, glücklich und lebensvoll, dann fühlt ihr euch festlich.

Das ganze Leben ist deshalb im Grunde ein feinsinniges mächtiges Fest, das wir alle zusammen seit ewigen Tagen begehen und ewig weiter festlich erleben wollen. Die verschiedenen Gestalten des Lebens, Menschen, Tiere, Pflanzen, Steine, Gegenstände, Lichtstrahlen und Schatten, alle sind Millionen festlicher Kleider, in denen die Schöpferkraft, die in jedem Leben wohnt, zur Festfeier erscheint.

Alle kommen, um Freude und Leiden zu erleben und Freuden und Leiden erleben zu lassen. Das Freudeerleben und Leiderleben ist unser wechselndes Erleben bei diesem Feste.

Und in jeder Gestalt sind drei große Hauptfreuden zu erleben möglich, und alle drei Freuden gehören wie die Geschöpfe, wie die Schöpferkraft auch, zugleich der wirklichen und unwirklichen Welt an.

Die erste Freude, die dir in der Jugend begegnet, wenn du ins Leben trittst, das ist die Tätigkeit, körperliche und geistige Tätigkeit.

Die Tätigkeit ist kein Fluch, keine schwitzende Not, keine bloße Aufgabe, keine nackte Notwendigkeit. Tätigkeit, geistige und körperliche, ist die erste Freude, die dem aufwachsenden Leben zuteil wird; und diese Freude täglich zu vergrößern, wird jedem eine Lust sein.

Denn die Tätigkeit kann jedem wohltun wie Essen und Trinken, wie Atmen und Schlafen, wie Gehen und Liegen. Die Tätigkeit anderer betrachten und die Tätigkeit nachahmen, das ist das Lebensfest des Kindes.

Wenn ihr dann erwachsen werdet, wird euch eine zweite große Festfreude begegnen: die Liebe, wie Vater und Mutter sie zu einander hegen. Auch die Liebe gehört einer wirklichen und einer unwirklichen Welt an, so wie die Tätigkeit einer geistigen und körperlichen Welt angehört. Tätigkeit und Liebe sind dann die beiden großen Freuden im Lebensfest des Erwachsenen, im Lebensfest des Mannes und der Frau.

Und wenn das Alter kommt und mit ihm der Abschied vom Lebensfest, nicht der Abschied vom ewigen Fest, nur der Abschied von der Gestalt, von dem Kleid, das wir wechseln sollen, und das vertragen ist, dann kommt eine Verklärung über euch, ein Rückblick über das Sattgewordensein in diesem Kleid, das ihr tragt, ein Dankblick auf diese Gestalt, in der ihr tätig wart und geliebt habt, und es kommt ein leichter Ruhegenuß über euch.

Doch auch dieser ist wirklich und unwirklich zugleich. Und es kommt die dritte Freude, die letzte große Festfreude über euch: das ist die Freude an der Weisheit. Wissend und weise werdet ihr über das Fest zurückschauen, ehe ihr eine Pause macht und die alte Gestalt ablegt und nach einem neuen Kleide greift und euch verjüngt.

Und auch die Weisheit ist wirklich und unwirklich zugleich, und darum werdet ihr nicht bei ihr verweilen. Die Weisheit ist eine hohe Kraft, die wir weder als Kind noch in den mittleren Jahren im höchsten Grade besitzen konnten, die erst beim Lebensabschied errungen wird. Die Weisheit ist die Freude des satten Alters.

Aber über eurem äußeren und eurem inneren Leben, die wirklich und unwirklich zugleich sind, ist wirklich allein eure Schöpferkraft. Sie ist ewig und unendlich wirkend, sie war seit ewigen Tagen euer Eigentum. Sie führt euch durch die drei Festzeiten jedes Lebens. Sie erschafft euch Lebensgestalt um Lebensgestalt. Sie erschuf und vernichtet eure Gestalt und alle Gestalten um euch. Sie macht euch zum Geschöpf und Schöpfer. Sie kann euch nie genommen werden. Sie ist euer unendlicher Besitz und läßt euch ein unendliches Fest feiern, ohne Müdigkeit, ohne Eintönigkeit, ein unendliches Schöpferfest.

Und seht noch einmal um euch! Alles, was ihr um euch empfindet, das seid ihr selbst. Nicht bloß euer Kleid schuft ihr euch, eure Schöpferkraft durchströmt alles und alle Leben, alle lebenden und toten Dinge um euch. Nie seid ihr allein, nie einsam. Nie sollt ihr ängstlich sein.

Was immer ihr empfindet, ist euer festlicher Besitz. Ihr braucht nicht danach zu greifen. So wie ihr es empfindet, ist es euer Besitz. Eure Schöpferkraft umschließt es, auch wenn ihr es nicht in den Taschen und in den Händen haltet.

Denn eure jeweilige Gestalt ist auch mit allen Leben verkettet. Wie euer Leib einen Kopf besitzt und ein Herz, und wie der Kopf eine Stirn besitzt, und wie das Herz im Besitz von Herzkammern ist, so ist euere Gestalt eingegliedert als Teil, als Geschöpf in die Welt. Und euere Gestalt ist Besitz der Welt, wie die Welt Besitz eurer Schöpferkraft ist. Das heißt: Ihr seid der Besitz aller, und ihr besitzt alle, — ihr seid Geschöpf und Schöpfer zugleich.


Nun habe ich die Weltanschauung, die sich von 1890 bis 1913 in mir ganz langsam ausbaute, mit diesen Zeilen dem Leser erklärt. Bewußt und unbewußt wuchsen die Gedanken in all diesen Jahren in mir auf. Jetzt, in meinem sechsundvierzigsten Jahr, da das Leben sich bald dem Abstieg zuneigt, wollte ich dieses Gedankengut, wie es heute in mir lebt, vor mir feststellen.

Seit jenem Abendspaziergang mit meinem Freund, dem jungen Philosophen, der mir im Frühling 1890 bei untergehender Sonne, am Main entlang, jene mir so wichtige Aussprache gab, habe ich diese Weltanschauung zuerst wie einen Keim wachsen gefühlt, und jetzt überragt sie mich wie eine Weltenesche, und ich sitze unter schützenden Gedanken, gelehnt an den festen Stamm meines gefestigten Schöpfungsbaumes und fühle mich im innersten Leben wohl und zufrieden, ruhig und reich.

Aber erst war ich nicht gleich zufrieden, als ich noch die Reste der Spinnweben, der alten unfruchtbaren Weltanschauung, in meinen Taschen und vor Augen hatte, und ich will erzählen, wie es mir da erging.

Auf jenem Abendspaziergang, im Frühling 1890, gab mir mein Freund mit den neuen Weltgedanken sozusagen das erste Goldstück meines heutigen Reichseins, und es hatte die Eigenschaft, daß es sich durch fast dreiundzwanzig Jahre ganz von selbst in meiner Tasche vermehrte.

Als ich in den ersten Wochen damals die Entdeckung machte, daß sich das Goldstück von selbst, ohne daß ich damit wucherte, zu vermehren begann, und ich merkte, daß das Gold, wenn ich in meine Tasche griff, meine Hand mehr und mehr anfüllte, da kam die lächerliche Gier über mich, das Reichwerden beschleunigen zu wollen. Und mit Jugendhast und Jugendfrevel verlockte ich meinen Freund, der bisher ruhig war und dem selbstverständlichen Wachsen des geistigen Goldes mit Selbstverständlichkeit zusah, meine Gier zu teilen und die Macht, die wir mit dem neuen Weltgedanken in uns trugen, zu versuchen und zu stürmischer Bereicherung anzufeuern.

Und das geschah an jenem Augustnachmittag, dessen Schilderung ich nun dem Leser so lange schuldig bin, daß er längst das Recht hat, sie ungeduldig von mir zu fordern.

Mein Vater wohnte im Sommer 1890 einige Wochen zu seiner Erholung auf jenem Gutshof am Nikolausberg. Es ist dies derselbe Hof, wo ich nach jenem Sturz verweilte und im Gartenzimmer einen Augenblick, an dem Weihnachtsbaum vorbei auf die Gartenterrasse schauend, mächtig an törichte Wunderversuche erinnert wurde, die ich damals mit meinem Freunde im Angesicht der Stadt Würzburg durchlebte.


Ich stand an jenem Augustnachmittag im Jahre 1890 an der Terrassenecke, halb auf der Mauerbrüstung sitzend und an die Fahnenstange angelehnt, die dort in der Ecke im Boden eingerammt ist. Ich war an diesem Samstagnachmittag auf jenes Gut gekommen, um meinen Vater zu besuchen, und sollte über den Sonntag bleiben.

Zwei Wege führen von der Stadt zum Gut herauf, und ich erwartete, auf einem derselben den Kopf meines Freundes auftauchen zu sehen, der zum Spätnachmittag heraufkommen wollte und bei mir sitzen wollte, während ich mich im Landschaftszeichnen üben würde.

Am Abhang vor der Terrasse lagen die Felder, hohes Korn und saftiger Klee, windstill. Die Hitze des Tages lastete auch noch spät in der Nachmittagsstunde drückend auf jedem Halm, und im Westen hatten sich dunkle Gewitterwolken angesammelt. Aber die Täler und die Stadt im Tal lagen noch breit im glühenden Nachmittagsonnenschein.

Die Gartenterrasse, die sich haushoch an jener Ecke, wo ich stand, über den Bergabhang erhebt, war ein guter Aussichtsplatz, und man konnte sich hier leicht Herr der ganzen Welt fühlen.

Ich wurde endlich ungeduldig, weil ich zum Landschaftszeichnen von der Terrasse auf den Berg gehen wollte und mein Freund nicht kam. Ich hatte einige Tage vorher zu dem jungen Philosophen gesagt: „Ich finde, wir nützen deine neuen Weltallgedanken viel zu wenig aus. Du willst diese Gedanken nur auf die Chemie und auf die Physik anwenden, und ich soll sie nur auf die Dichtung anwenden. Wäre es nicht einfacher, wenn wir, um jene Gedanken einmal auf ihre Echtheit zu prüfen, — ich meine von ihnen besonders den Gedanken, daß wir Schöpfer und Geschöpf zugleich sind und keinen einzelnen Schöpfer über uns haben, — wäre es nicht möglich, wenn dieser Gedanke wahr ist, daß wir uns dann auch im alltäglichen Leben als Schöpfer gebärden müßten, so daß man alle diese Wunder spielend vollbringen könnte, welche zum Beispiel Christus vollbracht haben soll?“

So vermessen fragte ich, da ich den Begriff Schöpfer nicht im weitesten und nicht im tiefsten Sinne nahm und nicht begriff, daß ein weiser Schöpfer seine Schöpfung klug empfunden und erdacht hat und sich nicht willkürlichem Wunderwirken ergehen wird, nachdem er weise und mit Liebe an seinen Werken tätig war.

Es wird keinem Bildhauer, wenn er ein Meisterwerk vollendet hat, einfallen, sich noch mehr Beweise seiner Schöpfungskraft geben zu wollen, indem er ganz unnütze und unnötige Änderungen an dem vollendeten Meisterwerke vornimmt. Indem er zum Beispiel Willkür walten läßt und plötzlich einem herrlichen Menschenbild, das er geschaffen hat, Ohr und Nase abhackt und das Ohr dorthin setzt, wo vorher die Nase war, und die Nase an Stelle des Ohres anbringt, und dieses nur, um sich zu beweisen, daß er tun kann, was er will, weil er Schöpfer ist. So unsinnig wird kein weiser Meister handeln.

So unsinnig aber forderte ich jetzt Verwandlungswunder, die mein Freund ausführen sollte als sichtbare Beweise für die neue Weltanschauung, weil diese sagt, daß wir Schöpfer und Geschöpf zugleich sind.

„Daß ich Geschöpf bin, habe ich immer gewußt. Nun will ich auch an mir erfahren, daß ich Schöpfer bin,“ so hatte ich zu ihm gesprochen. „Wenn du keine Wunder vollbringen kannst, dann bist du nur Geschöpf, und der Schöpfer lebt dann doch über dir. Beweise mir einmal deine Macht, oder beweise dir selbst deine Ohnmacht.“

Von dieser Sprache wurde der junge Philosoph gereizt. Es war ihm etwas ganz Unfaßbares — das sah ich ihm an —, daß ich mich nicht reich genug fühlte durch die Gedanken, die er in mir angeregt hatte, und die allmählich auf meine Lebensumwandlung und auf meinen Dichterberuf, dem ich im Innersten zustrebte, schöpferisch wirken sollten.

„Du wirst das Schöpferische an dir erleben. Warte nur, warte nur! So geht das nicht, wie du es dir denkst. Es kommt nicht auf Wunder im Leben an, sondern auf Bereicherung des Lebensfeldes, Bereicherung an Lebensverständnis. Mit Wunderwirken hat die neue Weltanschauung nichts zu tun. Wunder sind billige Verblüffungen für das gedankenlose Volk und nicht nötig für den Denker.“

„Gut,“ sagte ich ungeduldig, „dann rechne ich mich zum gedankenlosen Volk. Denn, was heißt unumschränkte Schöpferkraft anderes, als daß du tun und lassen kannst, was du magst. Christus ist übers Wasser gegangen, Christus ist in den Himmel gestiegen, Christus hat Wasser in Wein verwandelt. Und dieses vollbrachte er alles vor den Augen seiner Jünger, so sagt man. Und er tat dies, um sie gläubig für seine Weltanschauung zu machen und ihnen seine Macht zu beweisen.

Du willst, daß ich meine alte Vorstellungsmacht vom Schöpfer beiseite legen soll und jeden Menschen als Teilhaber an der Schöpfungskraft erklären soll. Beweise mir dieses, daß wir Mitschöpfer sind, durch Wunder. Steige vor mir zum Mond auf oder laß die Wolken, die da weiterziehen, plötzlich stillstehen. Tue irgend etwas Außergewöhnliches, und ich werde nie mehr an deiner Weltanschauung zweifeln und will ihr erster Jünger und erster Verkünder werden.“

Mein Freund sah mich bei dieser Aufforderung an, halb gekränkt, halb beleidigt und zuletzt ärgerlich. Dann aber änderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, und er lachte sein altes Lachen wieder, ein wenig spöttisch und klug.

„Darauf war ich wirklich nicht gefaßt,“ meinte er immer noch lachend, „daß du darauf verfallen könntest, Wunder zu fordern. Ich habe mir noch nie überlegt, ob Wunder nötig sind, um die neue Weltanschauung, die die Mündigsprechung der Menschheit umfaßt, zu beweisen. Laß mich überlegen bis morgen, dann werde ich dir Antwort sagen.“

Und er schnitt kurz das Gespräch ab und sprach von etwas anderem, als wenn er meine Frage vergessen wollte.

Ich sagte ihm aber noch einmal eindringlich, daß ich es lächerlich fände, einen solchen Ausspruch in die Welt zu setzen, sich Schöpfer zu nennen, wenn man dann doch nicht mehr tun kann, als man bisher geleistet hat.

„Du bist noch nicht tief genug in die neue Weltauffassung eingedrungen,“ antwortete er mir kurz. „Die schöpferischen Leistungen werden sich ganz von selbst einstellen, aber nicht so, wie du sie erwartest, nicht als Wunder, sondern als neue Leistungen in der Weltvertiefung.

Deine Gedichte werden zum Beispiel ganz anders werden müssen, einen neuen Rhythmus, einen neuen Bilderreichtum und größere Verinnerlichung aufweisen als die Dichtungen jener Zeit, die sich auf den Standpunkt stellten, daß nur der Mensch ein gottähnliches Geschöpf sei, Tiere aber unvernünftige Wesen wären und nicht gottähnliche Geschöpfe, und daß Pflanzen und Steine und alle Gegenstände und Wolken und Licht für den Menschen tote Dinge bedeuten.

Diese Einseitigkeit der alten Anschauung, die immer nur von der Menschenseele sprach, aber die die Schöpfung rundum als seelenlos behandelte, als verstandlos und geistlos, dieser Auffassung wirst du jetzt als Dichter in deinen Gedichten die Kameradschaft aller Lebewesen gegenüberstellen.

Tote Dinge gibt es nicht mehr. Wie ich dir erklärt habe, ist alles von Schöpferkraft durchdrungen, alles aus äußerem und innerem Leben entstanden, und alles lebt ein äußeres und ein inneres Leben, das heißt, alles ist Geschöpf und Schöpfer zugleich und lebt so seit Unendlichkeit und in Unendlichkeit.

Dieser Friedensspruch, den die Versöhnung aller Leben mit sich bringt, die Gleichstellung aller Kräfte, die Aufstellung, daß jedes Ding dich besitzt und du wiederum auch alles besitzt, diese Erhellung und Bereicherung des menschlichen Daseins, die bisher noch nicht ausgesprochen und nicht bewußt erlebt wurde, diese Weltanschauung wird gegen die frühere Auffassung bei den Menschen Wunder wirken.

Das Leben wird reicher und festlicher werden nach der Befreiung von den alten unfreien Gedanken.

Die neue Weltauffassung, sie befiehlt dir nichts. Sie erklärt dir nur, wer du bist. Sie erklärt, daß du Schöpfer und Geschöpf bist, das heißt, daß du von dir abhängig bist, von dir und deiner Schöpfung. Sie sagt dir noch: du bist der Besitz aller, und du besitzt alles, das heißt, du bist den Gesetzen deiner eigenen Gesetze unterworfen, denn nur aus Gesetzen entsteht eine Schöpfung. Und als Geschöpf bist du abhängig von dir selbst als Schöpfer, und es ist selbstverständlich, daß du als Schöpfer deine Schöpfung liebst, wie du dich selbst liebst. Ohne Drohung, ohne daß ein ‚du sollst‘ und du ‚mußt‘ einer fremden Macht über dir lastet, sondern in weiser Freiheit, bist du dein eigener Herr, erkennst dich mitarbeitend am ewigen Leben und erkennst dich als das ewige Leben selbst. Du nimmst dann von selbst die natürlichen Verpflichtungen, die sich bieten, auf dich, zugleich mit deinen natürlichen Ansprüchen am Lebensfest.

Die alte Weltanschauung verlegte dein Heil in ein künftiges Leben nach dem Tode. Die neue Weltauffassung von morgen ruft dir ein ewiges Heil in jedem Augenblick zu. Du bist in einer Seligkeit geboren, sagt sie dir, du erlebst diese heute mit wie vor tausenden Jahren und wie in allen kommenden Jahrhunderten. Sie erklärt dir: du warst, du bist und wirst sein Mitgenießer und Mitschöpfer.

Du brauchst nicht auf ein Heil zu warten. Du, Schöpferkraft, hast dich, Geschöpf, selbst festlich geschaffen, dich und die Schöpfung. Und müssen dich, Geschöpf, Sorgen bedrängen oder Leiden oder Strafen, weil du die Schöpfung nur aus Leiden und Freuden schaffen konntest, dann erlöst du dich als Schöpfer selbst, indem du die Gestalten wechselst, indem du dich, Geschöpf, verschwinden läßt und dich in einer andern Gestalt aufleben läßt. Von tätiger Freude zu tätiger Freude wanderst du. Dein Wesen ist die unerschöpfliche Schöpferlust und Schöpferkraft, dein Wesen ist die Ewigkeit, und deine Seligkeit heißt: Tätigkeit, Liebe und Weisheit in Unendlichkeit.“

So, nicht im Wortlaut, aber im Sinn, sprach mein Freund, der junge Philosoph, heftig auf mich ein. Ich ließ ihn reden und hörte nur verstockt zu, immer von der Gier nach den Wundern besessen, und ich war ein Tor, dessen Schatten erst über die Schwelle der Erkenntnis gefallen war, aber ich selbst stand noch draußen vor der Erkenntnisschwelle.

In meiner Jugendhitze wollte ich schnelle Taten sehen. Das Wort Schöpfer reizte mich. Ich wollte die Macht, die in diesem Worte lag, äußerlich vor mir aufleben lassen.

Und ich sagte plump zu meinem Freund: „Du verschanzt dich hinter vielen Worten, weil du ohnmächtig bist. Du redest von dem Wort Schöpfer und bist nichts als ein ohnmächtiges Geschöpf. Ich glaube dir nicht mehr. Es kann manches gut an deinen Erklärungen sein, aber seit Wochen hast du mich jetzt totmüde gemacht mit deinen immerwährenden Wiederholungen von Schöpfer, Geschöpf und Schöpferkraft.

Ich will und muß von der Kraft etwas erleben. Von deiner inneren Kraft bin ich überzeugt. Zeige mir jetzt auch äußere Kraft.“ Und ich fügte noch, ihn reizen wollend, hinzu: „Der neue Freund, den du mir neulich vorgestellt hast, der Schweigende, er sagte auch, solange du dich nicht als Schöpfer beweisen kannst, bleibst du ein weltabhängiges Geschöpf.“

Im selben Augenblick fuhr es mir durch den Kopf: Hat sich denn der junge Philosoph nicht längst als Schöpfer bewiesen, indem er die „Weltauffassung von morgen“ ausdachte; so nannte ich die neue Weltauffassung jetzt.

Aber ich übersprang diesen Gedanken rasch, immer auf die Wunder begierig, die mein Freund als Beweis seiner Macht vollbringen sollte.

„Du willst mich vielleicht gar nicht mehr als Freund anerkennen wollen,“ sagte er scherzend, als er sich verabschiedete, „wenn ich dir nicht ein Wunder zeige.“

„Nein,“ entgegnete ich, „ich werde mich für irregeführt halten, wenn du kein Wunder vollbringen kannst.“

Da sah er mich rasch an, und es war mir, als hätte ich ihn aufs Äußerste gereizt.

„Also,“ sagte er plötzlich unvermittelt, „ich werde es mir nochmals überlegen. Vielleicht kann ich, wenn ich nächstens wiederkomme, doch einige Wunder vollbringen.“

Diese Entscheidung setzte ihn wieder in meine Achtung ein. Wir trennten uns mit einem kurzen Kopfnicken.

Nach dieser Aussprache waren einige Tage vergangen.

Nun saß ich auf der Terrassenecke und wartete. Beinahe bereute ich schon, daß ich den an äußerer Ruhe, Geduld und Weisheit mir so überlegenen Freund mit den heftigen Wünschen nach Wundern in die Enge getrieben hatte. Denn es waren bereits zwei Tage vergangen, oder war es eine ganze Woche — ich erinnere mich heute nicht mehr so genau, — seit er sich nicht mehr hatte sehen lassen. Er war öfters am Spätnachmittag auf das Gut gekommen, wo ich meinen Vater täglich besuchte und hatte mir beim Zeichnen zugesehen und geplaudert oder mit meinem Vater Schach gespielt.

Mit Spannung sah ich über die Äcker hinunter, ob ich nicht seinen Kopf bei der Buchenhecke am oberen Weg oder unter den Obstbäumen am unteren Weg auftauchen sehen würde. Der andere Freund, der Schweigende, hatte mir erzählt, daß er ihn lange nicht mehr in den Kollegs gesehen hatte, und hatte mich an diesem Morgen gefragt, ob der Philosoph krank sei. Diese Anfrage war am Telephon geschehen, und der Schweigende hatte gesagt, er wollte heute gegen Abend kommen und mir Nachricht über unseren Freund bringen.

Da hörte ich unterhalb der Terrasse den Kies des Weges knirschen, und als ich mich über die Mauerbrüstung bog, sah ich, bereits dicht am Gut angekommen, den jungen Philosophen. Aber sofort erkannte ich auch, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. Sein Gang war fahrig, sein Gesichtsausdruck war, als er mir jetzt zunickte, lebhafter als sonst. Er hielt ein weißes Taschentuch in der Hand, mit dem er sich unausgesetzt die Handflächen rieb.

Ein leichtes Gefühl von Schuld verdunkelte meine Gedanken. Ein Gefühl von Bedauern und Ratlosigkeit begann mich zu quälen, denn ich hatte blitzschnell begriffen, daß der Wunsch, Wunder zu wirken, in meinem Freund jetzt stärker Fuß gefaßt hatte als in mir vorher; das sah ich seiner Veränderung an.

Ich sagte mir dann rasch, daß ich alles wieder rückgängig machen müsse. Es war, als hätte ich den klugen Freund mit der Wunderforderung kindisch gemacht. Und ich wollte ihm sogleich Abbitte tun und gern auf alle Wunder verzichten, damit er seine ruhige gelassene Haltung bei blindem Vertrauen in seine Weltanschauung zurückgewänne.

Ich sah auf einmal ein, daß er recht hatte, wenn er behauptete, daß seine Weltanschauung genug innere Wunder wirken würde, und daß man nicht äußerliche Verblüffungswunder von ihr verlangen sollte.

Unheimlich war mir das Taschentuch, mit dem er sich immer die Handflächen rieb, während er den letzten Rest der Wegstrecke am Bergabhang heraufstieg. Dann kam er herein in den Garten. Ich hatte ihm entgegengehen wollen, war aber an der Terrassenecke sitzen geblieben, um ihn beobachten zu können, und ich wurde mehr und mehr erschüttert.

Er nahm sein Augenglas ab und putzte die Gläser mit dem Taschentuch, und ich sah, daß seine Augen fieberten.

Er kam näher; er zwang sich zu lächeln, als wir uns begrüßten, aber sein Blick war nicht mehr ruhig und nicht in sich gekehrt wie sonst, nicht gefestigt und unerschütterlich. Seine Augen flackerten, als wären sie von einem Fieber entzündet.

Wir standen eine Weile nebeneinander, und jeder von uns überlegte, so schien es mir, um eine Gesprächseinleitung zu finden. Aber das Taschentuch blieb dabei nicht still in den Händen des jungen Philosophen. Es glitt von seiner einen Hand in die andere, und wenn er nicht seine Augengläser putzte, so rieb er sich die Handflächen. Und dabei konnte er nicht ruhig auf beiden Füßen stehen. Er stand bald auf dem linken, bald auf dem rechten Fuß, und ich fühlte mich immer schuldbewußter werden.

Plötzlich meckerte er ein Lachen, schielte mich ein wenig von der Seite an und sagte: „Nun, welches Wunder verlangst du zuerst von mir?“

Da wurde ich wie erlöst, weil ich glaubte, er scherze, und ich sagte rasch: „Ich bitte dich, vergiß diesen Unsinn von mir. Ich verlange gar keine Wunder. Ich verlange nur, daß du derselbe Mensch wieder bist, der du früher warst.“ Und ich sah voll Angst das Taschentuch an, das da immer noch von seiner linken Hand in seine rechte wanderte und von der rechten in die linke Hand zurück.

„Du wunderst dich,“ sagte er und fing meinen Blick auf, „daß ich so unruhig bin. Aber ich habe in mir seit drei Tagen künstlich ein Fieber gesteigert. Ich habe Unmassen Tee und Kaffee getrunken und Zigarren und Zigaretten geraucht, um mich aufzurütteln.“

Während er dies sagte, befühlte er seinen Puls und stellte befriedigt fest, daß das Fieber immer noch stieg. Und er hielt mir seine rechte Hand hin, damit ich auch seinen Puls fühlen sollte. Das wollte ich aber gar nicht tun. Mein Herz klagte plötzlich, als läge es irgendwo wie ein verwundetes Wild im Dickicht. Dieser Mensch, sagte ich mir, zerstört sich, um seine Weltanschauung zu beweisen, die längst bewiesen ist. Denn sie ist dadurch bewiesen, daß sie den festlich stimmt, der sie ernst überlegt.

Ich wußte mir nicht mehr zu helfen. Er meckerte wieder ein unnatürliches Gelächter. Vielleicht ist er schon ganz von Sinnen, rief es in mir eilig und ratlos.

„Du willst ja Wunder haben, und das geht nicht nur so ohne Vorbereitung, wenn man sich mit der Sache noch nicht befaßt hat. Darum habe ich mich jetzt in diesen Tagen vorbereitet,“ fuhr er fort. „Laß uns mal eine Probe machen.

Ich will mal versuchen, ob ich vor deinen Augen fortschweben kann über die Stadt, über das ganze Maintal, hinüber auf die Berge da drüben.“ Und er deutete auf den sogenannten „Kugelfang“ hin, auf die Höhenfläche, die im Osten das Maintal abgrenzt und die Stadt Würzburg, die mit Türmen und Dächern reich im Tal ausgebreitet liegt. „Du mußt aber fest an die Möglichkeit glauben und keinen Augenblick an mir zweifeln,“ fügte er hinzu.

Ich wollte abwehren. Er sah es mir an, daß ich nicht mittun wollte, und rief aus: „Nun, das ist noch schöner! Jetzt, wo ich mich vorbereitet habe, willst du gar keine Wunder haben. Aber jetzt gibt es keinen Rückweg. Jetzt will ich die Wunder haben,“ behauptete er. „Willst du nun daran glauben oder nicht, daß ich das Wunder fertig bringe?“

Ich verstand, daß er sich fest vorgenommen hatte, mich zu überzeugen, und daß ich ihn nicht abbringen würde von seinem Vorsatz, Wunder wirken zu wollen.

„Ach,“ sagte ich, „ich glaube dir alles. An meinem Glauben soll es nicht fehlen. Sage mir aber nur, warum du fortwährend deine Handflächen mit dem Taschentuch reibst?“

„Das will ich dir gleich erklären. Das tue ich, um die Elektrizitätskraft, die ich in meinen Fingerspitzen und in meinen Handflächen sich ansammeln fühle, an die Hautoberfläche zu bringen, um vielleicht so die elektromagnetische Stromverbindung mit der Ferne herzustellen, mit jenem Berge da drüben, zu dem ich mich jetzt durch die Luft bewegen will.“

Da mußte ich ihm antworten: „Ich habe mir das Wunder eigentlich ganz anders vorgestellt. Ich habe nicht geglaubt, daß du dich in einen Fieberzustand versetzen müßtest. Auch nicht, daß du dich vermittelst Elektrizitätskräften und Magnetismus auf den Berg über das Tal hinweg versetzen willst. Sondern ich dachte, daß dein einfacher Wunsch allein im gesunden alltäglichen Körper das Wunder vollbringen würde, das du deiner Schöpferkraft zu tun befiehlst.“

Da meckerte er wieder und schielte mich von der Seite an mit einem irren Blick, aus dem ich nicht klug wurde, ob mein Freund ernst war oder ob er scherzte.

„Du bist aber anspruchsvoll,“ höhnte er ein wenig. „Ich habe noch nie Wunder vollbracht und kann natürlich nicht sofort mit dem Wunsch allein arbeiten. Vielleicht, wenn ich einmal Übung habe, wird das möglich sein. Jetzt aber kann ich noch nicht ohne Vorbereitung eine Wirkung versprechen. — Nun wollen wir eine Gedankenkette herstellen,“ fuhr er fort. „Sieh da, der Stein an der Terrassenbrüstung ist noch warm von der Sonne, die ihn vorhin beschienen hat.

Lege deine beiden Hände flach auf den warmen Stein. Ich werde dasselbe tun. Dann benützen wir die Erdkräfte. Aber du mußt stark mit mir wünschen, denn ich glaube, daß dein Wunsch nach Wundern, weil er zuerst entstand, der kräftigere ist. Ich glaube, daß dein Wunsch mich eher hinüberheben wird auf den Berg als der meinige.“

Wir taten, wie er gesagt hatte. Aber natürlich rührte sich sein Körper nicht von der Stelle, und ich war auch ganz froh darüber, denn es war alles schon so unheimlich, daß, wenn auch noch ein Wunder sich ereignet hätte, wir wahrscheinlich alle beide unseren Verstand verloren hätten.

Nachdem wir eine Weile über das Tal hinüber auf den Berg gestarrt hatten, brach ich zuerst das Schweigen, da ich sah, wie seine Hände zitterten. „Laß es doch gut sein,“ sagte ich. „Ich glaube jetzt, daß es keine Wunder gibt. Streng dich nicht weiter an.“

Da wurde er aber böse, fuhr mich heftig an und rief geärgert: „Eben habe ich mich fortbewegen wollen! Ich fühlte schon meine Hände zittern, ich fühlte schon, daß ich in die Luft aufsteigen würde. Wenn du aber ungeduldig bist und keinen Glauben in mich hast, dann allerdings sind keine Wunder möglich.“

Mir wurde immer banger um seinen Zustand, denn er begann wieder dieselben heftigen Bewegungen mit seinem Taschentuch. Da sagte ich zu ihm: „Ich will jetzt auf den Berg gehen und zeichnen. Wir können ja ein andermal einen neuen Versuch machen. Für heute finde ich es genug.“

Das Seltsame war geschehen, wir hatten unsere Naturen vertauscht. Ich hatte seine äußere Ruhe angenommen, und er trug meine Wunderbegierde zur Schau. Ich sprach fast wie ein Philosoph und er wie ein junger Dichtersmann, der Märchen in der Welt erleben möchte und Wunderbarkeiten, weil ihn die Dichtersehnsucht mehr zum Unwirklichen als zum Wirklichen lockt.

Ich nahm meine Zeichenmappe und den Bleistiftkasten, der auf der Terrassenbrüstung neben mir gelegen, an mich, setzte meinen Strohhut auf und ging langsam voraus. Ich fühlte, daß ich meinen Freund auf andere Gedanken bringen mußte, damit der Fieberzustand ihn verlassen könne.

Er folgte mir zögernd und immer das unheimliche Taschentuch zwischen den Fingern zerknitternd.

Und als ich ihm sagte, er solle seinen Hut nicht vergessen, erklärte er mir, er habe gar keinen Hut mitgebracht, damit die Elektrizität aus seinen Haaren ungehindert ausströmen könne.

Allmählich fing ich an, fast Verachtung für seinen Zustand zu empfinden. Dieser Wunderwahnwitz, der ihn ergriffen hatte, grenzte ans Lächerliche. Diese Wundersucht hatte es fertig gebracht, den jungen, sonst so gern unauffällig und schlicht daherkommenden Mann ganz zu verwandeln. Er war ohne Hut durch die Stadt aufs Land gewandert!

Eine Viertelstunde später saß ich unterhalb der Steinbrüche, die höher hinauf hinter dem Gutshof liegen, am Rande eines Akazienwäldchens, und ich zeichnete und plauderte von harmlosen Dingen, während mein Freund hinter meinem Rücken unstet umherging und kleine Steine aneinander und aufeinander klopfte. Das Gewitter, das am westlichen Himmel stand, grollte dort hinter einem Wald, immer näher herankommend.

„Hörst du,“ sagte der Unruhige, „das ist meine Elektrizität, die das Gewitter jetzt anziehen wird. Du wirst sehen, es wird sogleich über unsere Köpfe ziehen. Ich fühle, wie ich mit Elektrizität geladen bin.“

Ich ließ ihn reden, zeichnete ein wenig und sah mich dann erst nach dem Gewitter um. Aber als ich meinen Freund anblickte, erschrak ich. Er hatte sich die Stirnecken so heftig mit dem Taschentuch gerieben, daß seine sonst weiße Stirn zwei feuerrote Male zeigte. Er schien einen neuen Einfall bekommen zu haben und winkte mir.

Er hielt seine Krawattennadel in der Hand. Diese Nadel war ein Geschenk seiner Mutter. Es waren in Silber gefaßte Rheinkiesel daran, die stellten eine Rose dar. „Ich werde diese Rheinkiesel jetzt in Diamanten verwandeln,“ sagte er mit etwas geduckter Stimme, kicherte geheimnisvoll und setzte sich auf einen Feldstein.

Das Gewitter grollte jetzt dumpfer und näher. Der Himmel hatte sich verdunkelt, aber die Wolken waren noch nicht über uns angekommen.

„Ich fürchte für meinen Strohhut,“ sagte ich nachlässig, um abzulenken, und blickte zum Himmel.

Er meckerte wieder das mir so unangenehme Lachen, das er heute zum erstenmal mitgebracht hatte, und rief: „Jetzt ist der Augenblick da, wo ich dir beweisen will, daß ich ein Wunder wirken kann. Das Gewitter dort und die Elektrizität in mir treffen so günstig zusammen wie vielleicht niemals wieder. Wünsche nun mit mir, daß diese Glaskiesel sich in Diamanten verwandeln sollen.“

Ich sah ein, es war ihm nicht zu widersprechen. Ich gab ihm achselzuckend nach und wünschte, daß die Rheinkiesel, die er unausgesetzt mit seinem Taschentuch rieb, sich in Diamanten verwandeln möchten. „Du wirst sehen,“ sagte er eifrig, „dieses Mal wird ein Wunder geschehen.“

Ich wollte es gerne glauben. Da setzte er noch hinzu: „Du sollst dich nicht vor dem Gewitter fürchten. Ich habe die Macht, es abzulenken. Ich werde es nach der anderen Seite des Berges schicken.“

Im gleichen Augenblick blendete uns ein greller Blitz, den ich in den Augen meines Freundes sich widerspiegeln sah, und zugleich schien die Erde, wie lebendig geworden, sich zu schütteln und zu brüllen. Die Steine zitterten, und in den Büschen hinter uns sprang ein heulender Wind auf. Die dünnen Bäume des jungen Akazienwäldchens legten sich schräg und begannen alle laut zu pfeifen.

Mein Freund blieb bleich sitzen; er sah aus, als beleuchte der Blitz ihn noch immer. Und ich sprang fort und rief: „Wir werden hier erschlagen. Schnell fort!“

„Wie schade,“ rief er mir nach, „daß du dich so fürchtest! Das ist ja gar kein Gewitter. Das ist meine Schöpferkraft! Bleibe! Ich werde dir dann die Krawattennadel gleich verwandelt zeigen.“

Ich lief aber schon fort, während er das sagte. Und ich tat, als wären mir meine Zeichenmappe und auch mein neuer Strohhut im Augenblick wichtiger als die zweifelhafte Verwandlung der Krawattennadel. Denn es begann eben mit talergroßen Tropfen zu regnen.

Mit großen Sätzen sprang ich bergab dem Gutshof zu. Ich hatte mich nur einmal umgesehen und zufrieden bemerkt, daß mein Freund, immer das Taschentuch durch die Luft schwingend, mir eiligst folgte.

Im Gutshof unter der Haustüre erwartete ich ihn. Er kam aber nicht eilig, sondern kam gemächlich unter den großen Regentropfen dahergewandert und behauptete, er habe mit seinem Taschentuch den Regen von sich abgehalten. Und trotzdem ihm das Regenwasser von beiden Schultern lief, meinte er, er wäre gar nicht naß geworden.

Jetzt begann ich mich über all die Torheit laut zu ärgern, und ich hielt ihm seine Selbsttäuschung vor. Er aber sagte, er habe Herrlicheres erlebt, als ich mir vorstellen könne. Er sei jetzt ganz frei von der Elektrizität, die in ihm aufgespeichert gewesen, denn den Donnerschlag und den Blitz, die hätte er mit seinen Kräften hervorgebracht. Das Gewitter wäre nur Schein und Einbildung von mir gewesen.

„Jawohl,“ sagte ich, „und dein Rock, der jetzt auf den Schultern ganz naß ist, und der Regen, der dich bis auf die Haut durchnäßt hat, nennst du das auch Einbildung?“

„Das ist nur in deinen Augen so,“ entgegnete er mir. „Ich sehe keinen Regen an mir. Ich bin ganz trocken. Und dich hätte auch kein Regen eingeholt, wenn du mir vertraut hättest und nicht vorausgelaufen wärest. Denn ich ging trocken im Regen nach Hause, weil es mein Wille war, daß der Regen mich nicht berühren sollte.“

„Und die Krawattennadel ist vielleicht jetzt ein Diamant geworden,“ höhnte ich ein wenig.

„Du bist immer so ungeduldig,“ klagte er. „Wärest du nicht fortgelaufen, wäre der Kiesel längst ein Diamant. Der Stein hat sich aber wieder zurückverwandelt, weil du das Gewitter mit deiner Furcht unterbrochen hast.“

Ich wollte: „Unsinn“ sagen, schwieg jedoch und sagte, ich wollte ihm einen Regenschirm holen, damit er auf dem Heimweg nicht naß würde. Er behauptete fortgesetzt, er würde nicht naß, er würde den Schirm nicht aufspannen.

„Denn wenn man von der Weltanschauung keinen Nutzen haben soll,“ lachte er, „dann ist ja die ganze Sache langweilig.“

Ich war erschüttert über den ihn erniedrigenden Ausspruch, den er da tat, und ich hätte aufweinen mögen. Seine Rede schnitt mir ins Herz. Er sprach von Nutzen und Vorteil. Während er früher nichts als die Erhabenheit seiner Gedanken erleben wollte, wollte er die Gedankenkraft jetzt in Diamanten und in irdischen Nutzen umsetzen. Aber Schuld daran, das leugnete ich keinen Augenblick vor mir selbst, war ich.

Als ich im Hause in meinem Zimmer den Regenschirm holte, erschien mein Freund plötzlich unter der Tür, und rief aus: „Ah, du hast einen eisernen Ofen im Zimmer! Ich habe zu Hause leider nur einen Kachelofen. Und wenn ich gestern einen eisernen Ofen im Zimmer gehabt hätte, hätte ich mein Waschwasser in kölnisches Wasser verwandeln können.“

Ich wurde ganz traurig und ich ließ ihn reden. Er aber stellte einen Stuhl an den Ofen und bat mich, auf den Stuhl zu steigen. Ich sollte mit der einen Hand den Ofen berühren. Meiner anderen Hand reichte er den Zipfel seines Taschentuches hin.

Er behauptete, das Taschentuch sei jetzt mit seiner Elektrizität ganz gesättigt. Er hatte vorher Wasser in die Waschschüssel gegossen und hielt nun mit der rechten Hand das andere Ende des Taschentuches. Seine linke Hand aber tauchte er in das Waschbecken.

„Nun ist der Strom hergestellt,“ triumphierte er. „Soll ich nun das Wasser in Rosenwasser oder in kölnisches Wasser verwandeln?“

Ich mußte beinahe auflachen. Aber er bat mich inständig, meine Gedanken zusammenzufassen, und wir entschieden uns, das Waschwasser in Rosenwasser zu verwandeln.

Plötzlich rief er: „Ach, ich habe ganz vergessen; du bist nicht isoliert genug. Ziehe deine Stiefel aus!“

Dagegen sträubte ich mich, und er ließ es dabei bewenden, daß ich die Stiefel anbehalten durfte.

Unser Anblick wäre für einen plötzlich Eintretenden äußerst komisch gewesen. Feierlich schweigend bildeten wir die Stromkette vom Ofen bis zum Waschtisch, und als Verbindungsglied zwischen mir und meinem Freund schwebte das weiße Taschentuch.

Nach einer kleinen Weile sagte er: „Jetzt ist es genug. Jetzt muß die Verwandlung fertig sein.“ Und er nahm von meinem Schreibtisch ein Stück Fließpapier, tauchte es vorsichtig in das Wasser, roch dann an dem durchtränkten Papier und behauptete, daß es einen schwachen Rosengeruch habe.

„Ja,“ stimmte ich bei, „es riecht nach Rosen im Zimmer.“ Das war auch wahr, denn die Sonne war eben untergegangen, und durch das offene Zimmerfenster strömte der feine Atem der Rosenbüsche aus dem tiefgelegenen Garten herauf. Ich wollte meinen Freund aber nicht daran erinnern, daß dieser Rosenduft jeden Abend nach Sonnenuntergang ins Zimmer kam, denn ich war müde von der Narretei.

Er sagte dann ganz ernst: „Der Duft des Wassers wird wahrscheinlich nicht lange anhalten, denn es ist dies heute das dritte Wunder, an das ich meine Kräfte verschwendet habe, und die Elektrizität war nicht mehr stark genug in mir, um das Wasser bleibend in Rosenwasser verwandeln zu können. Schade, daß ich das Gewitter hinter den Berg geschickt habe. Wenn es über das Haus gezogen wäre, hätten wir seine Kraft mit zur Bereitung des Rosenwassers verwenden können.“

Ich sah hinaus. Der Himmel war klar, das Gewitter war verschwunden, und der Abend breitete sich friedlich über Felder und Gärten aus.

Sichtlich stolz auf seine Leistungen, steckte jetzt endlich mein Freund das Taschentuch in seine Brusttasche, und ich begleitete ihn zur Stadt den Berg hinunter. Ich wollte ihn in dem unklaren Zustand, in dem er war, wenigstens bis zum Stadttor folgen. Ich fürchtete, er würde unterwegs vielleicht im Felde sitzen bleiben und irgendein neues Wunder ausdenken.

Vor dem Burkardustor war damals ein großer Zimmerplatz am Mainufer. Dort lagen lange Baumstämme und Balken, zu Haufen geschichtet, auf dem Rasen. Als wir an dem Platz vorüberkamen, stand der Mond mit schwach leuchtendem Halbrund am Himmel. Es war dämmrig geworden, und das Mondlicht begann auf den glatten Stämmen des Zimmerplatzes zu glänzen.

Ich wollte mich jetzt von meinem Freund verabschieden. Da deutete er nach dem Mond und sagte: „Warte einen Augenblick! Ich will doch noch versuchen, dir noch ein ganz einfaches Wunder zu zeigen.“

Ich wollte nicht hinhören und sagte: „Mein Vater wartet mit dem Abendbrot auf mich. Ich muß eilen, um auf den Berg zurückzukommen.“

Mein Freund aber war schon auf einen Balkenhaufen geklettert. Schleunigst zog er, oben sitzend, seine Stiefel aus und stand nun da, aufgerichtet auf den Zehenspitzen, die Arme hoch zum Mond gehoben, während ich an dem Bach — der damals noch nicht überbrückt war — an einem Maulbeerbaum lehnte und dem Wundersüchtigen von weitem zusah und nun wirklich von Herzen wünschte, es möge ihm gelingen, vor mir in den Mond zu steigen, damit wir nicht mehr von den Wundern weitersprechen müßten.

Es wurde dämmeriger. Wolken schoben sich vor den Mond, und einen Augenblick schien es wirklich, als wäre mein Freund im Dunkel verschwunden. Da wurde mir bang, und ich rief mehrmals seinen Namen.

Er war aber nur hinter die aufgestapelten Balken gestiegen und hatte dort seine Stiefel wieder angezogen. Nun kam er zurück und bewegte wieder lebhaft das Taschentuch in seiner Hand. Und er sagte: „Es wird mir gelingen, ich weiß es ganz gewiß. Jetzt ist es Halbmond, aber wenn es Vollmond ist, wird der Mond kräftig genug sein, mich zu sich zu ziehen.“

Dann nahm er ganz vergnügt Abschied, und wir trennten uns. Nachher auf dem Heimweg hinauf zum Gut in der Stille des dunkelnden Heckenwegs atmete ich auf, als wäre ich einem Zauberer entronnen.

War die Welt nicht wundervoll, wie sie da im Sommerabend nach dem Gewitter in der gereinigten Luft vor mir lag auch ohne Wunder? War es nicht wundervoll, als Mensch zu wandern und sich Mensch und sich nur als Mensch zu fühlen? Warum sollte man fliegen oder Verwandlungen vornehmen?

Als wäre ich von einem Alpdruck aufgewacht aus einem quälenden Schlaf, so befreit fühlte ich mich jetzt auf dem Abendweg. In der Ferne stand der Schattenriß des Giebels vom Gutshaus am Bergabhang. Ein Lichtpunkt leuchtete auf der dunklen Terrasse. Am Himmel flimmerten ein paar vereinzelte Sterne.

War es nicht Wunder genug, zu wissen, daß man lebte?

Der Lichtpunkt auf der Terrasse und die Lichtpunkte der Sterne waren einander ähnlich, und doch wußte ich, die Lichtpunkte oben am Himmel waren riesige Weltenkörper, und auf der Terrasse unten stand nur eine kleine Petroleumlampe auf einem gedeckten Tisch, auf dem das Abendbrot wartete.

War das nicht Wunder genug, daß riesige Welten klein wie Lampen werden konnten, klein wie eine Lampe, die auf einem Menschentisch steht?

Beim feierlichen Bewundern der Lebensdinge werden alle Leben Wunder! Heute kann ich mir mein Empfinden in Worten ausdrücken. Damals genoß ich es ohne umfassendes Wort.


Einige Tage nach diesem Augustnachmittag war ich wieder in unserer Stadtwohnung, als der andere Freund, der Schweigende, zu mir kam und mich fragte, wann ich zum letztenmal den jungen Philosophen gesehen hätte. Derselbe sei nicht mehr ins Kolleg gekommen, auch wäre ihm nicht geöffnet worden, als er den Freund in dessen Wohnung aufgesucht habe.

Auf Nachfrage bei seiner Hausfrau habe diese geantwortet, ihr Mieter liege seit ein paar Tagen zu Bett, wolle aber keine Besuche empfangen, habe auch kein Essen zu sich genommen und wünsche nur in Ruhe gelassen zu sein. Sie gehe deswegen gar nicht mehr an seine Türe, da er jedesmal von drinnen herausrufe, daß er nicht gestört sein wolle.

Das, was ich da hörte, erschreckte mich gewaltig. Ich erzählte in kurzen Zügen dem Schweigenden die Vorgänge des Nachmittags: daß unser Freund mit dem Vorsatz, Wunder zu wirken, zu mir gekommen und noch im gleichen Wahn von mir fortgegangen sei.

„Er muß uns öffnen,“ sagte ich. „Er darf nicht sich selbst überlassen bleiben, sonst verfällt er in Irrsinn. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.“ Der Schweigende nickte, und dann eilten wir beide nach der Wohnung des jungen Philosophen.

Es war sechs Uhr abends, heller Sommerabend. Und als wir in das altmodische Haus traten, in welchem unser Freund ein Zimmer gemietet hatte, war es in dem großen Treppenraum still, und nur unsere Schritte hallten auf der geräumigen Holztreppe des weiten Stiegenhauses. Mit einigem Staunen sahen wir, als wir den oberen Flur, der durch keine Türe von der Treppe abgesperrt war, erreicht hatten, daß dort auf den Sandsteinfliesen viel Wasser ausgeschüttet war.

Wir dachten aber an nichts Besonderes dabei, sondern meinten, daß dieses durch die Unachtsamkeit eines Dienstmädchens geschehen wäre; denn im gleichen Flur war ein Wasserhahn an der Wand angebracht, mit einem eisernen Becken darunter. Da war es leicht möglich, daß das Wasser im Becken vielleicht übergelaufen war, wenn der Beckenabfluß verstopft und der Hahn nicht zugedreht gewesen.

Vorsichtig über die Wasserlachen steigend, kamen wir zur Zimmertür. Wir klopften, aber wir erhielten keine Antwort. Der Zimmerschlüssel steckte, also mußte unser Freund zu Hause sein. Wir klopften mehrmals und versuchten durchs Schlüsselloch zu spähen, und ich sehe uns da noch heute vor der großen weißlackierten Türe beratschlagen, immer ängstlicher werdend, weil wir nicht mehr wußten, was wir zu tun hatten.

„Vielleicht ist er eingeschlafen,“ meinten wir dann und wir beschlossen, einen Augenblick auf der Treppe zu warten, denn es ging augenscheinlich etwas Unheimliches vor. Das sagten uns immer eindringlicher die großen Wasserflecken, die, wie es mir auf einmal schien, ganz von selbst anwuchsen und sich immer mehr über die Steinfliesen ausbreiteten. Wir stiegen über die Wasserseen zurück bis zur breiten Holztreppe. Dort standen wir zaudernd und warteten, an das Geländer angelehnt. Endlich setzten wir uns auf die oberste Stufe und überlegten.

Während wir noch in die Haustiefe zur Treppe hinunterhorchten und immer hofften, der junge Philosoph möge ausgegangen sein und würde plötzlich nach Hause kommen, da fuhren wir auf einmal beide gleichzeitig in die Höhe, denn das Wasser, das wir aus dem Auge gelassen hatten, hatte uns am Treppenrand erreicht, und wir sahen staunend, daß es jetzt wie ein fließender Bach von Stufe zu Stufe hinunterlief.

Wir sahen beide unwillkürlich nach der weißen Zimmertür und verstanden nun, daß die Unmenge Wasser aus dem Zimmer unseres Freundes kam.

„Was ist das wieder für ein Streich?“ entfuhr es dem Schweigenden.

Das bewegliche Wasser, das da neben uns das einzige Leben im Treppenhause war, blickte uns an und sagte uns: „Es ist ihm nichts Schlimmes geschehen, und ihr braucht euch nicht zu ängstigen. Er macht nur neue Wunderversuche.“

Jetzt hörten wir auch, daß einige Gefäße im Zimmer, Eimer und Waschschüssel, klirrten, als würden sie zur Seite gerückt. Unsere Laune heiterte sich auf. Wir klopften nun lebhafter an die Türe und riefen lachend, daß wir eintreten wollten.

„Es ist offen,“ rief drinnen die Stimme unseres Freundes.

Rasch drückten wir die Türe auf, und nun wurden wir noch mehr erstaunt. Wir sahen eine Wasserfläche, weit ausgebreitet über den ganzen Zimmerfußboden, vor uns. Und in seinem Bett, mit dem Augenglas auf der Nase, lag der junge Mann mit feuerrotem Kopf und vergnügt lachend.

Er erklärte uns, daß er noch einmal Versuche gemacht hätte, sich und diesmal auch das ganze Zimmer vollständig zu isolieren, damit er dadurch neue Elektrizitäten in seinem Körper ansammeln könne, die er heute nacht zum Aufstieg in den Vollmond brauchen wollte. Er sagte auch, er habe tagelang nichts gegessen, sondern nur Zigaretten geraucht und sich Kaffee und Tee bereitet.

Als wir durch das Wasser hindurch zu ihm an sein Bett traten, sahen wir erst, daß er im Gesicht seltsam zerschunden war. Er hatte sich die Backenknochen, die Stirnecken, Nase und Kinn so sehr mit dem Taschentuch gerieben, daß diese Stellen wie offene rote Wunden leuchteten. Und umgeben von diesem Kranz von Röte, glänzten unheimlich funkelnd seine Augengläser.

Aber das Vergnügen, daß wir ihn lebend antrafen und auch scheinbar noch bei Verstand, überwog den Schrecken dieser Eindrücke, und wir versuchten mit Lachen und Scherzen und Plaudern seine Wundersucht ins Komische zu ziehen und sie als harmlos und spaßhaft hinzustellen, und brachten es auch fertig, ihn zu überzeugen, daß diese Nervenüberspannung, hervorgebracht durch Hungern, Rauchen und Teetrinken, ihn nur schwächer und nicht stärker mache.

Er befahl uns zwar mehrmals, ihn allein zu lassen, vorgebend, er wolle schlafen. Aber wir ließen uns nicht so leicht abweisen. Da wir nun ins Zimmer eingedrungen waren, wollten wir es nicht so bald wieder verlassen, bis wir ihn gesund und vernünftig gemacht hätten.

Wir riefen das Dienstmädchen. Ihr sagten wir, der Wasserhahn wäre offen gewesen, und das Wasser wäre von draußen hereingeflossen. Daß der junge Philosoph selber Eimer um Eimer geholt und in sein Zimmer ausgegossen hatte, das wäre ihr natürlich nie eingefallen auszudenken. Aber man sah es ihr an, daß sie auch nicht verstehen konnte, wie das Wasser von draußen hereingeflossen war.

Während viele Hände nun die Flut hinausbeförderten und der junge Mann im Bett sich ärgerte, daß man ihn nicht in Ruhe ließ, lief einer von uns fort und kaufte Essen ein, und wir überredeten den Freund, Nahrung zu sich zu nehmen, was er dann auch tat. Wenn er von Wundern reden wollte, fingen wir beide an, der Schweigsame und ich, zu schmunzeln und dann zu lachen. Und besonders der Schweigsame verstand es gut, mit gesundem Spott des andern ungesunde Wunderlust lächerlich zu machen.

Ich war froh, als der Wundermann endlich mitlachte, und als er, nachdem er gegessen und Bier getrunken hatte, wieder Schlaflust bekam, die er seit Tagen künstlich vermittelst Tee und Tabak von sich fern gehalten. Er mußte uns versprechen, zu schlafen und nicht mehr an Wunder zu denken und im Bett zu bleiben, bis wir ihn am nächsten Tag wieder besuchen würden.

Das tat er auch wirklich, und er schlief noch, als wir ihn am nächsten Mittag um zwölf Uhr wieder aufsuchten. Dann war seine Rede wieder vernünftig, und nur noch die roten Flecken in seinem Gesicht, die erst nach einigen Tagen verschwanden, erinnerten an die fieberhafte Wundersucht, die ihn beinahe um Verstand und Leben gebracht hätte.


Nach diesen Erlebnissen mit dem jungen Philosophen war mir eigentlich das Sprechen mit ihm über Atomkraft und über die neue Weltanschauung verleidet, und es war mir lieb, daß mein Freund, der erst vorhatte, den Ferienkurs in Würzburg zu besuchen, sich entschloß, zu den Ferien heimzureisen, um in der Universitätsstadt, in der er geboren war, Ferienkollegs zu belegen.

Als das Wintersemester begann und er wiederkehrte, war er wieder derselbe ruhige und stilldenkende gesetzte Mensch, als den ich ihn immer gekannt hatte. Er hatte dann auch viele Kollegs zu besuchen, und sein Studium nahm ihn derart in Anspruch, daß er nicht mehr so ausschließlich der von ihm auf Physik und Chemie angewandten Lehre der Atomkraft nachgrübeln konnte. Aber das will nicht sagen, daß er die neuen Gedanken bei Seite gelegt hatte. Er holte sie immer wieder vor und ließ sie nicht los und legte sie auch ein Jahr später in einem Manuskript nieder; nur auf plumpe Wunderversuche ließ er sich nie mehr ein.

Wenn ich ihn manchmal nach Jahren wiedersah, in dieser oder jener deutschen Stadt, wo er als Assistenzarzt weilte, und auch dann, als er später selbständiger Arzt geworden, so war seine Atomkraftlehre immer mit neuen Erklärungen chemischer und physikalischer Vorgänge weitergediehen, und er hat diese Lehre niemals aufgegeben, sondern sie immer mehr vereinfacht und ausgearbeitet.

Doch die Anwendung der neuen Weltanschauung auf das Gesellschaftsleben der Menschheit und auf das einzelne Menschenleben kam ihm als etwas so Selbstverständliches vor, daß er sich nicht weiter Mühe gab, darüber etwas niederzuschreiben.

Mir aber, in meinem Schriftstellerberuf, bildete sich die neue Weltanschauung zu einer Mündigkeitssprechung der Menschheit aus. Und die Zeit von 1890 bis heute, vor allem die Zeit von 1890 bis 1900, war für mich eine fortgesetzte Entwicklung zu einem neuen Menschentum hin auf Grund der neuen Weltauffassung, von der ich heute fest überzeugt bin, daß sie dazu da ist, die Menschheitsideale von morgen zu schaffen, denn das Weltfestlichkeitsgefühl liegt im Menschen eingeboren, es ist keine Lehre, sondern ein natürlicher Zustand, den jeder an sich erkennen kann.

Ich habe diese Weltauffassung in der Dichtung angewandt und habe sie bewußt und unbewußt bei allen Begegnungen mit Dichtern, Künstlern und geistigen Zeitgenossen aus mir sprechen lassen.

Meine festliche Weltauffassung wurde mir aber oft als Oberflächlichkeit oder Leichtsinn ausgelegt. Um nun endlich ganz verstanden zu werden, in Werken und Handlungen, will ich die Entwicklungsjahre jener Zeit weitererzählen und die Zeitspanne, in der die neue Umwandlung am auffallendsten bei mir zutage trat, im nächsten Abschnitt dieses Buches schildern.


Noch immer liege ich nach dem Sturz mit steifem, schmerzendem Bein im Bett. Aber ich bin erstaunt, wenn ich feststelle, daß ich Wochen am selben Fleck gelegen habe. Es ist mir, als hätte ich keinen Augenblick still gelegen, denn ich bin Meilen über Meilen in das Jahr 1890 zurückgewandert.

Ich erlebte nach dem Sturz in den wenigen Minuten im Gartensaal des Gutshofes, als ich meine und meines Freundes Photographie dort stehen sah, blitzartig jenen Augustnachmittag wieder und die wirren Wunderversuche des jungen Philosophen.

Die Glocken schweigen jetzt mittags, denn die Zeit des außergewöhnlichen Trauergeläutes für den verstorbenen Prinzregenten ist abgelaufen. Die Glocken haben mich gut in die alten Zeiten hineingesungen, so daß ich sie im Geiste immer weiter singen höre, auch wenn sie mittags nicht mehr läuten und nicht mehr melodisch brausend mein Zimmer umkreisen.

Kaum aber kann ich noch glauben, daß ich bereits im Jahre 1913 lebe, denn ich habe auf der Erde noch keinen Schritt in diesem Jahr getan. Nur meine Gedanken marschierten.

Dreiundzwanzig Jahre, die mich vom Jahre 1890 trennen, sind verschwunden, als wenn sie nie gewesen wären. Ist das nicht auch eine Festlichkeit, keinen Schritt mit seinen Füßen in der Gegenwart tun zu können und im Geist bei den Geistern alter Jahre Spaziergänge zu machen mit frischen Jünglingsgliedern?

Und ist das nicht auch eine Festlichkeit, daß ich bei den Erinnerungen die Schmerzen der Gegenwart ganz vergessen und mein Buch beginnen konnte?

Das ist ein großes festliches Wunder, daß die Zeit des Menschen Wunsch gehorchen muß, und daß der Mensch der Gegenwart Schmerzen in Vergessenheit verwandeln kann.

Es ist mir das eine neue Bestätigung dafür, daß das Leben in Leid und Freude ein Fest ist.

Und ich muß es immer wiederholen: Das Leben ist unter allen Umständen ein Fest.

Für den Armen und für den Reichen, für den Lebenden und für den Sterbenden ist es festlich, wenn wir es nicht bloß mit äußeren, sondern auch mit inneren Kräften erleben und uns Schöpfer und Geschöpf zugleich fühlen wollen.


Mein Lebenslauf in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war folgender:

Nachdem ich mein Vaterhaus Weihnachten 1891 verließ, flüchtete ich fort aus den Bürgerkreisen zu den „hundertjährigen“ Männern. Ich meine damit diejenigen Dichter und Denker, denen ich teils in Büchern, teils in der Wirklichkeit begegnete, jene, die reif und weise geboren sind, wenn sie auch noch einen jungen törichten Körper haben, jene, die einen bestimmten Grad von Unsterblichkeit besitzen, auch ehe sie ihr Lebenswerk vollendet haben.

Bis 1890 war ich im alten geistigen Deutschland aufgewachsen, im Deutschland von Schiller und Goethe, im Deutschland der Idealisten. Ich hatte noch keine Ahnung, daß dieses nicht mehr das heutige geistige Deutschland war, trotzdem ich empfand, daß die Gedichte, die ich bisher gelesen, wie ein alter vererbter Familienschmuck wirkten, und daß sie auf ihrem Glanz und in ihrer Sprache bereits eine dicke Patinaschicht trugen. Und auch alle die Gedichte der späteren Romantiker brachten eine süße Friedlichkeit mit, wie die alten Mahagonischränke sie ausströmten, in denen jene Bücher ihre Behausung hatten.

Körner und Kleist, Hauff und Mörike, Uhland und Rückert, Heine und Klopstock, ihre Bücher waren gütig und ehrwürdig und von der Vergangenheit geheiligt und gaben dem Zimmer, in dem sie standen, eine glückliche Ruhe und eine Weltferne. Und dieses wunderte mich nicht, denn sie waren aus alter Zeit. Aber daß die neueren Schriftsteller, die der sechziger und der siebziger Jahre, einen süßen Vergangenheitshauch in ihre Sprache legten, als wären ihre Bücher unter der Feder alt geboren, während die Worte noch tintennaß waren, das fiel mir unangenehm auf. Die Schriftsteller der achtziger Jahre dagegen, die, statt mit Tinte, mit Tier- und Menschenblut zu schreiben schienen, wirkten auf mich erlösend.

Ich hörte eines Tages zwei Herrn in Würzburg vor mir auf der Domstraße zueinander sagen: „Zola, dieses Schwein, sollte in Deutschland verboten werden.“ Und ich wurde stutzig, denn die Gesichter derer, die das sagten, waren derart empört, daß ich sofort begriff: wenn diese Bürgerleute sich so aufregten, dann würde jener Schriftsteller — dessen Name ich oft gehört, aber von dem ich noch kein Buch gelesen — sicher sehr ernsthaft sein.

In denselben Tagen war auch die Welt erfüllt vom Geschrei über Tolstois „Kreuzersonate“. Und es hatten sich, wie für und gegen Wagners Musik, Streiter für und gegen die „Kreuzersonate“ in allen geistigen Kreisen des Landes aufgemacht.

Kühler lassend, aber auch aufrührerisch, wirkte das Auftreten Björnsons, der in seinem Buch „Der Handschuh“ zum erstenmal die Forderung aufstellte, daß der junge Mann seine Keuschheit bis zum Hochzeitstage ebenso streng bewahren müsse, wie das junge Mädchen.

Die Erde schien in jenen Tagen dem geistig Miterlebenden im tiefsten Geiste stündlich zu erzittern. Dem sicheren Gesellschaftsleben war außerdem in dem noch unsicher schwankenden Geist des neue Menschenrechte fordernden Sozialismus ein Gespenst erstanden, und nur die Dichter wurden vorerst angelockt von der noch unbedichteten Zyklopenwelt des Arbeitertums.

Bei verweichlichten Gemütern mußte jedes Buch dieser neuen Gattung einen Schrecken erzeugen. Das Wohlbehagen des Bürgergeistes wurde gewaltig gestört durch die neuen Armuts- und Arbeitergestalten, die, ungewaschen und ungekämmt, verhungert und ungehobelt, in Fabrikluft schwindsüchtig und elend geworden, aber mit unverheuchelt ehrlichen Lebens- und Liebestrieben versehen, das Erbarmen und die Bewunderung der Dichter gefunden hatten.

In Deutschland konnten darum damals gute Bürger Zola auf offener Straße ein Schwein nennen! Auch Gerhart Hauptmann und Holz und Schlaf, die drei ersten deutschen Verkünder des Wirklichkeitslebens in Dramen und Romanen, waren von der sogenannten guten Gesellschaft noch geächtet, als könnten sie mit ihren Büchern die Leprakrankheit in Haus und Theater verbreiten.

Außerdem war da noch der Philosoph Nietzsche aufgetaucht. Ich sah zum erstenmal in der „Gesellschaft “ — die M. G. Conrad mit mächtigem Sturm und Drang stark und mutig begründet hatte — das Bild Nietzsches, des Dichterphilosophen, im Lesesaal der Würzburger „Harmonie“ im Jahre 1891, und zugleich war da ein begeisterter Aufsatz mit einer kurzen Angabe aller seiner Werke und mit der Nachricht, daß der große Mann geistig umnachtet bei seiner Mutter in Naumburg lebe und wahrscheinlich nie mehr die Klarheit seiner Gedanken zurückerhalten werde.

Ich eilte vom Lesesaal sogleich zur Stubertschen Buchhandlung und verlangte dort Nietzsches Werk „Also sprach Zarathustra“. Niemand in der Universitätsbuchhandlung kannte den Namen des deutschen Philosophen. Man bestritt sogar, daß ein Philosoph dieses Namens in Deutschland lebe oder gelebt habe. Man behauptete, ich müßte mich im Namen geirrt haben. Man lächelte und schrieb den Namen, den der Universitätsbuchhändler und die ihn umgebenden Herren noch nie gehört hatten, nur ungern auf.

Man wird sich das heute kaum vorstellen können, heute, wo jeder einigermaßen gebildete Student Nietzsches Namen so gut kennt, wie ein Musiker Richard Wagner kennt.

„Den Philosophen Nietzsche, den Sie verlangen, kennen wir nicht. Nehmen Sie doch die Werke eines anderen,“ so riet man mir in jener Buchhandlung. „Einen Philosophen Nietzsche gibt es gar nicht, und wir werden uns nur lächerlich machen, wenn wir nach Leipzig schreiben. Bestellen Sie doch ein Werk von Kant oder Spinoza. Bei diesen Namen sind wir sicher, daß wir Ihnen die Werke verschaffen können.“

Ich dankte für den billigen Rat und wollte gehen. Da ersuchte man mich gnädigst, den Namen noch einmal aufzuschreiben. Drei Tage später bekam ich aus Leipzig das Buch.

Nietzsche war bereits geistig gestorben, aber sein Werk stand vollendet da. Ist es dann nicht erstaunlich, daß damals bloß die geistigen oberen Zehn, die sich um M. G. Conrads „Gesellschaft“ sammelten, den Namen Nietzsche kannten und im Besitz seiner Werke waren? Während fünfzig Millionen Deutsche, die ahnungslos das Kommen und Gehen eines deutschen Geisteszyklopen miterlebt hatten, so wenig von ihrem großen Zeitgenossen wußten und so wenig an seiner Arbeit beteiligt waren, wie wenn ein fernes Sonnensystem im Weltall untergegangen wäre, von dessen Glanz und dessen Erlöschen nur einige Sternwarten der Erde Kunde hatten.

Und ich frage mich: woran liegt dieses auffallende Unbeteiligtsein der gebildeten Massen an der Entwicklung großer Männer und ihrer Geistesarbeit? Erst wenn ein Lebenswerk vollendet ist, erst wenn manche Geister irrsinnig werden vor Überanstrengung und vor Qual über den Unverstand und die Teilnahmlosigkeit, auf die sie stündlich stoßen müssen, erst dann wird die heutige Gesellschaft in breiteren Massen auf sie aufmerksam. Selten aber werden junge einsame Geisteshelden von ermutigenden Zurufen, von der Spannung und Erwartung eines ganzen Volkes durchs Leben getragen. Jene jungen Männer sind die einsamsten Söhne ihres Landes, und, wie ich schon zu Anfang dieses Buches sagte, sie müssen durch Wälder von Dornen wandern.

Heute weiß ich mir die Teilnahmlosigkeit der Nation zu erklären. Der Hauptgrund, daß das Verachten oder Übersehen starker junger Männer in einem Volke möglich ist, beruht auf einer unglücklichen Weltanschauung der Menschheit. Würden die ungeheuren Kräfte und die ungeheure Aufmerksamkeit, die die Gesellschaft graugewordenen Idealen zuwendet, dem Weltfestlichkeitsideal zugewendet, so würde eine größere Festlichkeit des Geisteslebens das Völkerleben verklären, und die Schwungkraft des Geistes aller Gesellschaftskreise würde sich erhöhen. —

Kühnheit und umwälzende Neuheit waren die Kennzeichen aller bedeutenden Bücher der achtziger und der neunziger Jahre. Diese neuen Werke wirkten, wenn man sie mit den auf einer alten Weltanschauung fußenden Werken der Klassiker verglich, wie Dynamitpatronen im Bücherschranke.

Zugleich mit dem umwälzenden Geist des Schrifttums waren in jener Zeit die Frauen teilweise der Madonnenhaltung müde geworden, und auch der Geist der Frau wollte am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Zeit gärte, und es wogten im Geistesleben jener Tage zwei Strudel auf und nieder. Künstlerbewegung und Frauenbewegung, beide von Schöpferkraft angefeuert, hielten die öffentliche Meinung in Atem.

Von der Republik Amerika kam dazu das Wort Arbeit wie ein festliches Schlagwort herüber, und Europa echote: „Arbeit,“ und der Arbeiter wurde zum Ritter in der Phantasie der Dichter. Und die Frau wollte nicht zurückbleiben und wollte zur Arbeiterin werden. Sie, die vorher nur im Hause Mutter und Dame gewesen war, sie suchte sich jetzt auch einen Wirkungskreis außer dem Hause.

Ich muß gestehen, daß ich im Jahre 1890 noch herzlich wenig von all diesen geistigen Umwälzungen, die in der Welt vorgingen, wußte. Ich hatte bis zu meinem dreiundzwanzigsten Jahr von Gefühlsfragen und von Geistesfragen, die das Weltbild von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahrhundert zu Jahrhundert und von Jahrtausend zu Jahrtausend umgestalten müssen, nur eine Ahnung bekommen aus der Geschichtsstunde der Schule oder aus den Gesprächen meines Vaters über Politik. Sonst aber war die Welt bisher für mich scheinbar vollkommen gewesen, unerschütterlich nach biblischen Vorbildern aufgebaut, die vom Staate gutgeheißen und von den Dichtern mit Phantasie durchdrungen und besungen worden waren.

In der Privatier- und Universitätsstadt Würzburg sah man nicht das Elend und den Haß der Armen gegen die Reichen, der in Fabrik- und in Bergwerksgegenden damals zuerst aufschrie. Denn die Kaufmanns- und Rentierbevölkerung, die Beamten, Professoren und Offiziere, dazu die unbekümmerte Studentenschaft gaben dem Stadtbild, bei Weinbergen und altersgrauen Kirchen, den Frieden einer Lämmerhürde.

Das Wort Streik kannte man nur aus Zeitungen. Auch von der Frauenbewegung und Dichterbewegung kamen damals nur die Echos in Zeitschriften oder Zeitungen zu den stillen Gestaden meiner Vaterstadt. —

Außer einer würzburger Zeitung hatte ich kaum einmal in einem Kaffeehause eine andere Zeitung in der Hand gehabt, bis ich von dem einen meiner beiden Freunde, von dem Schweigenden, eines Tages auf das Berliner Tageblatt aufmerksam gemacht wurde. Ich höre noch seine Worte, als er sagte: „Im Feuilleton dieser Zeitung ist immer von einer Literatur die Rede, die nichts mit der alten Zeit zu tun hat. Diese Kreise, die in einem neuen Geist schreiben, solltest du aufsuchen.“

Ich hatte jene Literatur bereits aus der Zeitschrift „Die Gesellschaft“ kennen gelernt, aber ich war wie jeder Anfänger scheu und wollte erst meine eigenen Kräfte sammeln und meine Eigenart ausgeprägt haben, ehe ich mit jenen fremden Kreisen in Verbindung trat, die mir vielleicht zumuten würden, ihre Eigenart anzunehmen. Und ich war ängstlich, mein schriftstellerisches Ich zu hüten, bis es mir soweit ausgebrütet schien, daß es eine Persönlichkeit bekommen hatte.

So ließ ich es beim Lesen und Wiederlesen von Jacobsens Niels Lyhne beruhen. An diesem Buche bildete ich zuerst meine Schreibweise, und zugleich kam mir Niels Lyhnes Weltanschauungskampf, der zwischen dem Glauben an den alten Gott und dem Glauben an die Menschenvernunft schwankte, nahverwandt vor. Denn auch ich wog, ähnlich wie Niels Lyhne, noch immer die alte und meine neue Weltanschauung stündlich ab, schwankend zwischen der qualvollen Lehre der Erbsünde, der Verdammnis und der Belohnung nach dem Tode, und jener festlichen Denkweise, die mir erlaubte, mich Schöpfer und Geschöpf eines ewigen Weltfestes zu fühlen, zurückgeführt auf die Atomkraft aller Dinge.

Und so wie die Bücher der deutschen christlichen Klassiker nicht mehr in der Mauserzeit meiner Weltanschauungen auf mich wirken konnten, da sie mir in der gärenden Zeit zu christlich gottergeben vorkamen, so konnte ich auch selbst nicht mehr den Wunsch hegen, ähnlich dichten zu wollen wie die Dichter der alten Weltanschauung, die da in Reihe und Glied die Familienbücherschränke eines jeden deutschen Hauses füllten und den eisernen Geistesbestand meiner Zeit darstellten.

Solche Bücher kamen mir damals vor wie die jahrhundertalten Festungswerke der Stadt Würzburg, die schweigend behaupteten, für alle Jahrhunderte gut und nützlich zu sein und den Feind, den Erbfeind abwehren zu können. Sie sahen auch sehr trutzig drein, diese prächtigen Wälle, die von den klügsten Geistern ihrer Zeit zur Abwehr ausgedacht waren und stattlich und unerschütterlich schienen, als könnten sie noch Jahrtausenden trotzen.

Das Stadtleben aber, das sie schützen wollten, engten sie mit der Zeit so ein, daß die Bevölkerung, die weiterwuchs und immer licht- und luftbedürftiger wurde, durch Raummangel jeden Tag verheerende Krankheiten ausbrechen sehen konnte, hervorgerufen durch Menschenanhäufungen.

Und dieselben Wälle, die dem Feind wehren sollten und ihre Bürger retten vor dem Tod durch Feindeshand, sie wären schuld geworden, daß der Tod sich von selbst in der Stadt geboren hätte, wären sie nicht niedergelegt worden. Denn sie waren jetzt nicht mehr die Verteidiger, sondern die Feinde der Bürger, deren Kindern und Kindeskindern sie den Lebensatem und die Lebensfrische unfreiwillig raubten.

Ebensolche Wälle schienen mir die vorsichtig gehüteten Geistesgüter der Vergangenheit und einer alten Weltanschauung zu sein. Die neuen Bücher dagegen, wenn sie vielleicht auch nicht bleibende Grundsteine zu neuen Mauern waren, so brachen sie doch wie Dynamitpatronen Breschen in das veraltete Geistesbollwerk der europäischen Nationen.

Die neuen Schriftsteller, die diese aufrührerischen Bücher schrieben, wurden aber zur damaligen Zeit noch vom Adel sowohl als vom Bürger und vom ganzen Volk, gleich den Geächteten, für vogelfrei erklärt. Das Wort „Schweine!“ war noch das mildeste, das man ihnen nachwarf.

Und so wie sich damals Familien und Freunde in der Musik über Richard Wagner zerkriegten, so entspannen sich in der deutschen Dichtung über Gerhart Hauptmann und die Jüngsten geistige Bürgerkriege, die in allen Gesellschaftskreisen mit heftigem Dafür und Dagegen ausgefochten wurden, — gar nicht zu sprechen von Nietzsche, dessen Name noch lange in Bürger- und Volkskreisen so unbekannt blieb, wie er es jenem Universitätsbuchhändler in Würzburg im Jahre 1890 gewesen.

Auch Nietzsches Buch „Jenseits von Gut und Böse“ schlug wie mit Keulen an die guten alten Bücherschränke. Und es war eigentlich kein Wunder, daß an der Provinzuniversität der Name eines solchen Umwerters aller Werte noch unbekannt blieb, auch nachdem der Zyklopengeist dieses Denkers bereits aufgehört hatte, dem Leib zu gehorchen.

Es war so viel Gärstoff in jener Zeit, so viele große Männer waren an der Arbeit, daß, wer sich nach Geistesnahrung sehnte, reichlich genährt wurde.

Zu jedem Weihnachtsfest gab Ibsen ein neues Drama heraus. Björnson und Tolstoi behaupteten große Wahrheiten. Und Strindberg, der damals noch an der Züchtung seiner gewaltigen Eigenart arbeitete, stand in der Mitte seines Lebens und hatte noch seine mächtigsten Arbeitsjahre vor sich.

Liliencron fing eben an seine stürmischen und weltfröhlichen Lieder zu singen. Er trat erst mit vierzig Jahren als Dichter auf.

Die meisten der Genannten haben sich aber heute auch schon in jene alten Bücherschränke eingebürgert, und sie sind die Klassiker der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts geworden; das deutsche Volk hat sie bereits in Gnaden aufgenommen, dasselbe Volk, das sich damals gegen ihren neuen Geist gewehrt hat.

Das Deutschland der blauen Ritterromantik und einer bleichsüchtigen Griechentumverehrung ist in jenen Jahren abgelöst worden von jenen Männern, die tapfer und furchtlos gegen Geistesverweichlichung weiter Bürgerkreise wie junge Ritter mit den Arbeitern Schulter an Schulter kämpften. —

Ich wollte mit diesen letzten Zeilen kurz eine Erinnerung des Geistesgesichtes jener Umsturzzeit geben. Ich habe auch nicht alle Geisteshelden jener Zeit genannt, sondern nur einige Schriftsteller und wollte nur das Zusammenwirken jener Titanen dem Leser in Erinnerung rufen, damit er Fuß fassen kann und meinen Weg leichter miterleben kann, den ich ihn jetzt durch die Jahre nach 1890 bis zur Jahrhundertwende führen will.

Ich habe im ersten Teil des Buches bereits gesagt, daß sich Stöße von Notizbüchern bei mir ansammelten, da ich die täglichen Spaziergänge, Gespräche und so weiter im Jahre 1890 niederschrieb und die Eindrücke in neuen Vergleichen festzuhalten versuchte. Es waren dies Übungen, wie ein Maler sie beim Aktmalen und der Musiker sie bei der Kompositionslehre vielleicht ähnlich vornehmen muß.

In meinen ersten Prosaversuchen hielt ich mich nicht an die alte Erzählungskunst der Klassiker, sondern an die neue Erzählungskunst, die mit Jacobsens „Nils Lyhne“ mir zum erstenmal bekannt geworden war. Diese Kunst verweilte nicht bloß am Wege, um notwendige Dinge zu schildern, die dem Fortgang der Erzählung nützlich waren. Auch vertiefte sie sich nicht in moralisierende Betrachtungen zum Beispiel beim Ansehen eines Sternhimmels, einer Blume, des Meeres und so weiter, wie es die Dichter des achtzehnten Jahrhunderts mit Vorliebe getan. Sie beschrieb auch nicht die Dinge nur der Schönheit halber, sondern es war ihr darum zu tun, künstlerisch Leben zu geben, vertieftes Weltsehen, das in den leisesten Bewegungen eines Blattes, eines Baumes, das im Summen einer Biene und in der Zeichnung eines Gesichtes festliche Erlebnisse findet. In alles Weltalleben vertiefte sich mehr als in irgendeinem Jahrhundert diese neue Schreibart. Die früheren Zeiten beschrieben ein Frauengesicht nur, um seine Schönheit zu schildern, oder um festzustellen, daß jene Frau gut oder böse sei.

Nun aber enthielt man sich jedes Urteils. Die Neuen zeichneten ihre Personen, wie ein Maler sein Modell zeichnet, das ihn anregt, und dem Schuld oder Unschuld desselben gleichmäßig künstlerisch anziehend ist. Man lud keinen Fluch mehr auf die Handlungen des Menschen und übte keine offensichtliche Belobung ihrer guten Eigenschaften.

In dieser Weise schrieb Jacobsen seinem „Niels Lyhne“, der für eine ganze Reihe von jungen Schriftstellern der neunziger Jahre gleichsam als die Schöpfungsgeschichte einer neuen Schreibkunst galt. Jacobsen, der Naturwissenschaftler, der Botaniker, faßte die Menschen so behutsam wie Pflanzen an, die Menschen seiner Bücher, und schilderte ihre leisesten Handlungen mit einem feinen Beobachten, als galt es, Pflanzensorten zu bestimmen.

Seine durchaus nie verdammende oder beschönigende Art glich der Art eines Arztes und nicht der eines Richters. Wie ein Arzt, der, seelen- und körperkundig, die Fehler nachsichtig Schwächen nennt und die Schönheiten nicht überschätzt, sondern auch diese mit Augen betrachtet, welche die Vergänglichkeit aller Lebensformen nur zu gut kennen, und der darum nicht übermäßig begeistert und nicht übermäßig verurteilend auftreten kann, so war Jacobsen als Schriftsteller.

Seine Art gewann damals rasch die Herzen vieler der jüngeren aufwachsenden Dichter. Die Seelenkunde in den neuen Büchern schien ein großer Fortschritt zu sein gegenüber der moralisierenden Schreibart der Vergangenheit und gegenüber dem einfachen Richtertum, das selten über gute und böse Helden hinausgekommen war. —

Die meisten jungen Dichter der achtziger Jahre mußten mit einem Doktortitel versehen in die Welt treten. Denn das Wort Dichter stand tief gesunken im Ansehen des Volkes, und die komische schmachtlappige Dichterfigur, die Wilhelm Busch im Dichter Bählamm geschaffen hat, spukte immerfort in den Gehirnen der Dichter, die, überfüttert von verweichlichter Lyrik, deutlich ihren Ekel und Spott zur Schau trugen, wenn man von jemandem sagte, er dichte.

Heute ist es ein wenig besser geworden. Man ahnt wieder, daß die Dichter ernste Männer sind, arbeitsame, kräftige Naturen voll Wirklichkeitssinn. Man ahnt wieder, daß das Wort „Dichter“ nicht mit dem Wort „Schmachtlappen“ verwechselt werden darf, und daß wirkliche Dichter Kraftnaturen des inneren Lebens bedeuten, so wie große Feldmarschalle, große Diplomaten und große Herrscher Kraftnaturen des äußeren Lebens darstellen.

Wenn ein Dichter leiser auftritt als ein anderer Mann, wenn er träumender umhergehen muß, so ist es, weil er das wirkliche Leben äußerlich rascher aufgenommen hat als die anderen, blitzartiger, und weil in ihm die Gedanken und Gefühle dann tosen. Diesem inneren Gewitter seiner Gedanken und Gefühle muß er nachhängen und muß äußerlich oft verstummen und sich selbst zuhören.

Jeder wirkliche Dichter wird demütig gemacht von der Wucht, Ehrlichkeit und Eindringlichkeit seiner Gedanken und Gefühle, die ihm die Melodie des Lebens schon offenbaren, wenn die andern nur erst Lärm und Wirrnis sehen. Andere werden vielleicht demütig gemacht durch Niederlagen, durch Notlagen, Enttäuschungen und durch gewaltsame Demütigungen von außen. Der Dichter wird demütig gemacht von seiner Dichterstimme, die ihn fortwährend begleitet, als trüge er die Weltorgel in sich, auf der er den Lärm der äußeren Ereignisse in innere Töne auflöst.

Die Zerstreutheit eines Dichters, seine geistige Abwesenheit, der scheinbare Hochmut, der über seiner Haltung oft unbewußt liegen kann, die Ungeduld und der scheinbare Größenwahnsinn und sein Stolz — alles sind Zustände, wie sie die andern Menschen vielleicht kaum zehnmal in ihrem Leben kennen lernen, ein Zustand, wie ihn ein Feldmarschall während einer Schlacht empfinden muß, wenn diese noch zwischen Sieg und Niederlage schwankt. Der Dichter ist in jedem Augenblick auch ähnlich einem Erfinder, der nahe daran ist, der Welt eine Entdeckung zu offenbaren, und den nur noch fünf Sekunden von dem Recht trennen, darüber aufgeklärt zu werden, ob er sich in seinen Voraussetzungen geirrt hat oder nicht.

In diesem steten Schöpferzustand, in diesem ununterbrochenen Schöpfungsfieber bewegt sich das Leben des Dichters vom ersten Gedicht bis zum letzten. Er erledigt das äußere Leben blitzartiger, vorausfühlend und vorauswissend, wo die andern erst an der Tür des äußeren Ereignisses stehen. Aber die Verinnerlichung, in der er zum zweitenmal die äußeren Erschütterungen in sich lautlos nachleben und in Worte und Rhythmen bringen muß, ist ihm wichtiger und scheinbar wirklicher.

Ein Dichter im Verkehr wirkt deshalb immer unbequem, rätselhaft und ungelenk. Er scheint nur mit dem einen Fuß mitzutanzen, während die andern mit beiden Beinen Lebensgaloppaden ausführen.

Ein ernster Dichter wird immer den Frauen und den Männern ungesellschaftlich vorkommen, denn während sie ihn noch im Gewande oder in den Melodien seiner letzten Werke sehen und ihn darüber befragen möchten, hat seine innere Welt längst neue Töne angeschlagen, und er kann den Fragenden nicht einmal mehr antworten, da er fortgerückt und tief benommen ist von dem neuen Schöpfungsfieber, das ihn gepackt hat, und das ähnlich ist dem Fieber bei einer wogenden Schlacht.

Es würde keinem vernünftigen Menschen einfallen, von einem Feldmarschall beim Höhepunkt einer Schlacht Aufmerksamkeit für andere Ereignisse als die mit der Schlacht zusammenhängenden zu verlangen. Ein anderes Verhältnis besteht aber zwischen Welt und Dichter.

Der Dichter, der nur für die Schlacht in seinem Inneren Ohr hat, wird meistens als unvernünftig angesehen, wenn er sich in seiner Hingerissenheit nicht zugleich auch in seiner äußeren Welt so fest behaupten kann wie die andern. Er gilt als dumm und blöd, wenn er sich dort nicht helfen kann, wo die anderen sich spielend helfen.

Er gilt der Welt als frech und anmaßend, wenn er Ansprüche an die Mitwelt stellt, die ihm vom Standpunkt seiner Schöpferkraft aus klein scheinen, während die anderen den scheinbar Lebensunbeholfenen und scheinbar Lebensblöden bescheiden und anspruchslos und möglichst verzichtend haben wollen, da er von seiner inneren Welt reichlich entschädigt sei, wie sie triumphierend behaupten.

Als ob jeder Künstler die äußere Welt nicht immer reichlich nötig hat, um zur inneren zu kommen!

Der Gedanke, daß ein Dichter nur eine Dachkammer benötige, und daß nur die Not ihm Dichterträume gibt, lebte besonders zur Blütezeit der alten Weltanschauung eingewurzelt im deutschen Volke. Heute ist es aber bereits besser geworden, wenn auch die Dichter noch lange nicht vom Staat Pfründen beziehen wie die Kirchenbeamten oder Gehälter wie die hohen Staatsbeamten. Und doch wäre dieses eigentlich selbstverständlich, denn der Dichter, der Maler, Bildhauer und Musiker, sie sind die höchststehenden geistigen Beamten des Staates, und sie sind durch ihr Schaffen neuer geistiger Güter höher an Würde und Rang als die größten politischen Führer jedes Volkes. Die Künstler sind die reichsten Festgeber des festlichen Daseins der Menschheit, und dafür hat ihnen jeder Staat zu danken.

Ich setze diese Erklärung und Verteidigung der Künstler hierher, weil ich eben jene Zeiten erlebt habe, in denen Gedicht und junge Dichter bei der menschlichen Gesellschaft niedriger im Wert standen als im Mittelalter die Scharfrichter und ihr Handwerk. Aber wer gründlich verachtet wird wie der Henker, dem wird doch noch von den anderen ein volles Gefühl zuteil, das Gefühl des Abscheus.

Aber in jener Zeit, die ich meine, hatte man für den jungen Dichter in den Gesellschaftskreisen entweder ein mitleidiges Achselzucken, oder ein solch junger Geist wurde kurzweg als eine Lächerlichkeit angesehen, die nicht einmal mit ernstem Spott verfolgt wurde; er war für die Gesellschaft Luft und hatte kaum Daseinsberechtigung. —


Durch die neue Weltanschauung war ich aus dem Gleichgewicht der griechischen Rhythmen und einlullenden gutmütigen Melodien der alten Dichterwelt aufgerüttelt worden, und die Trochäen und die Jamben und der Hexameter, alle die uns von den Griechen überkommenen Versmaße, schienen mir undeutsch, zu feierlich und nicht auf die heutigen Lebensäußerungen und Lebenszerrissenheiten anwendbar, mit denen der Arbeitsgeist uns Menschen einer neuen Welt umgibt.

Ich sagte mir: unter dem herrlichen blauen Himmel Griechenlands wurden alle jene Versmaße aus dem Sinn eines angeborenen Gleichgewichts geboren. Die Südsonne und das Südblut des Mittelmeervolkes mußten dem inneren Leben der Dichter dort einen mächtigeren Rausch und Schwung geben, ein höheres Pathos, welches zu uns gebracht, in unser deutsches Klima und bei unserer kühleren Rasse ewig unnatürlich wirken wird und unwahr.

Unser Leben in Deutschland, das fast ein halbes Jahr Winter kennt, den kurzatmigen Sommer hat, und das zugleich von einer neuzeitlichen Emsigkeit durchdrungen ist und die Aufmerksamkeit auf ganz andere Lebensgesetze richten muß, als es die Griechen vor zweitausend Jahren taten, dieses Land muß ein eigenes Versmaß, seine eigenen Rhythmen haben. Dieses Versmaß muß sich dem inneren Leben, den zarteren Menschen, dem bewölkteren Himmel und den grübelnden Träumen, den rauschenden Laubwäldern unseres Landes anpassen.

Die Natur jedes Landes — Landschaft, Himmelsstrich und Sprache — gibt ihren Dichtern ein bestimmtes Versmaß ein.

Die Länder der Zypressen und Pinien, die Länder des heißen Südweines, die südlichen Länder, wo keine Singvögel nisten, können nicht in demselben Verstakt dichten wie deutsche Haine, deutsche Wiesen und Buschlandschaften voll fliegender Sänger und kühler lauschiger Grashügel.

Nach dieser Erkenntnis war es mir vorerst unmöglich, daran zu denken, Gedichte zu schreiben, da ich nicht im alten Versmaß schreiben wollte und zur Eingebung des neuen noch nicht gekommen war. Außerdem lag nichts zur Dichtung Aufmunterndes in der Haltung des damaligen Zeitgeistes, wie ich es vorher erklärt habe.

Und so stellte ich mich auf den Standpunkt, daß es vorläufig unmöglich sei, Gedichte zu schreiben in einer Zeit, die voll Maschinenlärm und Reiselärm war und mit Triumphen und neuen Wahrheiten der Naturwissenschaft protzte.

Ich wollte mich deshalb zuerst nur in einer neuen Erzählerkunst ausbilden, ausgehend von haarscharfster Beobachtung und genauester Wiedergabe der zartesten Lebenseindrücke. Dann hoffte ich, es würde sich vielleicht mit der Zeit die Sehnsucht und die Kraft zum Dichten in mir wieder verstärken und Dichterlust eines Tages von selbst hervorbrechen. Was ich aber im Lärm aller Neuheiten, die jetzt auf mich einstürmten, vorläufig stark bezweifelte.

Ja, ich ging damals so weit in meinem Urteil, und war darin nicht der einzige meiner Zeit, Dichtung und Dichten für eine Unmännlichkeit zu erklären. Dichtung schien mir, war heutzutage nur noch möglich für junge Mädchen, Schüler, ältere Tanten und Greise.

Der zeitgemäße Mann sollte auf die altmodische Süßigkeit gedichteter Gedanken verzichten und das Prosawort handhaben lernen und seine Gedanken durch die Kraft einer neuen Prosa vermitteln. —

Aber dieselbe Sehnsucht, sich von einer alten überlebten Welt zu trennen, die damals die Dichter erfaßt hatte, die hatte alle Künstler erfaßt.

Die Musiker, unter Wagners Führung, sagten sich von der alten Lehre des Kontrapunktes frei. Und die deutschen Maler packte die Sehnsucht, die Heimat in Licht und Farben wiederzugeben. Und die Dunkelmalerei der alten Schule und das Sichbrüsten mit dem Malen von sogenannten Charakterköpfen und Ideallandschaften wurde ebenfalls mehr und mehr beiseite gelassen, und die Freilichtmalerei feierte ihre ersten stürmischen Feste.

Man malte mit Weiß in Weiß, wo man vorher nur Braun in Braun gegeben hatte, und man malte Bunt in Bunt, lustig befreit von den schematischen Farbenlehren akademischer Abtönungen.

Und man malte das Häßlichste und das Eintönigste, sowie man auf der Bühne den Armeleutestand und auch das Häßliche zu Wort kommen ließ und sich bemühte, Pathos und Pose möglichst von den Brettern zu verbannen.

Die Schauspieler fingen an das Versesprechen zu verachten, weil der geistige Zuschauer den Versstücken nicht mehr zuhören wollte und übersättigt von Pathos und Pose war und einen Wirklichkeitshunger abends ins Theater brachte, der entstanden war aus dem neuen wachsenden Großstadtlärm und aus dem Bedürfnis nach Kraftbetätigung und Wirklichkeitslust.

Die ganze Kunstwelt war in jenen Jahren vielleicht mit einem Maskenball zu vergleichen, bei welchem plötzlich das Zeichen zur Maskenabnahme gegeben wird. Und wo vorher sich nur Larven angesehen hatten, sah man plötzlich wirkliche lebende Gesichter wieder, lebende Gesichter in den Büchern, auf den Bildern und auf der Bühne.

Die Künstler begrüßten fröhlich diese Umwandlung, die Rückkehr zum Leben ohne Larve, während die breite Bürgermasse sich nicht recht an die entlarvten Gesichter gewöhnen wollte und nur seufzend, rückwärtsschauend, schwerfällig und gezwungen dem neuen Zug der Zeit Folge leistete.

Viele äußere Umstände trafen da noch zusammen, die den Wirklichkeitssinn bei den Künstlern wachriefen und die auch die Bürger mitrissen. Das neue ungewohnte schnelle Reisen und Orte wechseln können, durch das damals ausgebaute Eisenbahnnetz über ganz Europa, machte die Menschen wirklichkeitsfroh, und ebenso die Erfindung und Anwendung des reinlichen und verblüffend hellen elektrischen Lichtes; dessen alle Winkel ausleuchtende Klarheit ließ nachts keine Gespensterfurcht und keine überflüssig wuchernde Romantik mehr aufkommen.

In der Wissenschaft legte die Bakterienlehre die Ohnmacht und Macht des Menschen klar, dem winzigsten und dem Auge unsichtbaren Lebewesen gegenüber. Und weiter kamen dazu die aufsehenerregenden ersten Versuche der Hypnose, die in allen Gesellschaftskreisen mit Eifer besprochen und begutachtet wurden. Die bei diesen Versuchen sich befestigende Überzeugung, daß der Mensch keine ihn durch Gut und Böse leitende Seele habe, sondern daß durch den Willen eines stärkeren Menschen der Wille des Schwächeren so ausgeschaltet werden kann, daß dem besten Menschen in der Hypnose Böses zu tun befohlen werden kann, dieses alles half mit am Aufbau einer neuen Weltauffassung.

Auch ein amerikanisches Buch muß ich noch erwähnen, das in jenen Jahren in hunderttausend Exemplaren von Hand zu Hand ging. Das war Bellamys „Rückblick aus dem Jahr 2000“. Es war ein Buch, das erstaunlich den Wünschen und Sehnsüchten der Zeit entgegenkam, indem es scheinbar alle Wünsche des letzten Standes mit den Wünschen der höheren Stände so verschmolz, daß ein Idealstaat dem Leser des Buches gar nicht so unmöglich erschien und es manche Ungeduldige für möglich hielten, im neuen Jahrhundert diesen Staat noch zu erleben.

Ich will und kann hier nicht alles aufzählen, was in jenen Jahren bei der Neuheit des Maschinenlebens, bei der Neuheit des naturwissenschaftlichen Denkens, bei der Neuheit des raschen Reisens und des plötzlich sich schnell Verständigenkönnens durch Telegraph und Telephon mit nie dagewesener Macht die Menschen von alten Vorurteilen entkettete, das abgezirkelte Gesellschaftsleben entkräftete und Bewegung und Denkfreiheit in Kunst und Leben herstellte. Diesem neuen Zeitgeist, den zuerst die Künstler erfaßt hatten, arbeitete aber der altmodische Bürgergeschmack entgegen.

Die Bürgerkreise sehnten sich, kaum ein wenig aufgerüttelt vom neuen Zeitgeist, scheinbar nach den Dunkelheiten des Mittelalters, so wie einer, den durch eine aufgerissene Tür die Sonne blendet, die Hand zum Schutz über die Augen legt oder sich nach dem Zimmerdunkel umsieht und sich erst allmählich an die plötzliche krasse Helle gewöhnen will.

Es blühte und wuchs bei den Bürgern in jenen Tagen in Deutschland allgemein die kindische Lust nach sogenannten altdeutschen Stuben mit Butzenscheiben, diese Lust, die man später höhnend Butzenscheibenromantik nannte. Bei jeder Gelegenheit wurden in den Städten altdeutsche Festzüge veranstaltet, wo die Leute, die im Zeitalter der Zeitungen, Eisenbahnen und der Sozialdemokratie aufgewachsen waren, plötzlich als Faustritter, Zunftmeister, Ritterfräulein und Ehrenjungfrauen sich gebärdeten. Als sei die Gegenwart nicht Maskenspiel genug, wollte man auch noch am hellen Tage die Gegenwart mit der Vergangenheit maskieren.

Jedes neue Haus mußte damals wenigstens einen altdeutschen Turm bekommen oder ganz unnötige Zinnen, und die Mode des Altdeutschen tobte sich auch bei allen Gebrauchsgegenständen in der lebhaftesten Weise aus. Es ist übrigens heute noch nicht viel anders. Nur ist die Maskerade der Butzenscheiben von der Maskerade der Biedermeierei verdrängt worden.

Die Bühnen- und Romanschriftsteller hatten sich noch zu Anfang der achtziger Jahre so romantisch altdeutsch benommen, daß schon deshalb Gerhart Hauptmann für jeden ernster empfindenden Deutschen nicht bloß als Geist einer neuen Zeit, sondern auch als Erlöser vom altdeutschen Massenwahnsinn begrüßt werden mußte. —

So lagen die Dinge der geistigen Welt, als ich im Frühjahr 1892 nach München kam, wo die großen Brauereien eben ihre prunkenden Bierpaläste zu bauen begannen. Da las ich im gleichen Frühjahr in den Zeitungen, daß sich vom Glaspalast, dem großen Ausstellungspalast der Maler, eine Malergruppe trennen wolle, die nichts mehr zu tun haben wollte mit akademischen Grundsätzen. Dieser Gruppe Mitglieder strebten die Freilichtmalerei und die Freiheit für jede Eigenart fern aller Schablone an. Auf Wunsch des Prinzregenten hatte man sich aber noch einmal geeinigt und wollte sich noch nicht vom Glaspalast trennen, sondern die neue Malergruppe, die sich Sezession nannte, sollte im Glaspalast einige Säle für sich erhalten.

Wenn ein Bienenvolk schwärmen will, beginnt es im Bienenkorb laut zu summen, also summte es damals wütend in allen Bierlokalen der Stadt München. Man ereiferte sich für und wider den Streit, der unter den Malern im Glaspalast ausgebrochen war. So wie man vorher für und gegen Wagner gewesen, so stritt man jetzt für und gegen die Sezessionisten.

Das Kaffeehaus Luitpold war eben erst eröffnet worden und galt als das prächtigste Großstadtkaffeehaus Deutschlands. Das Leben in prunkhaften Kaffeehäusern hatte damit für München seinen Anfang genommen, und die Bürger wollten wichtiger genommen sein, seit sie ihren Kaffee mit ihren Frauen auf rotem Samtsofa bei vergoldeten Säulen und in Oberlichträumen einnehmen durften. Überhaupt, das Bürgerleben wurde täglich feister, und das Sprichwort „nur Lumpen sind bescheiden“ wurde in Bürgerkreisen zum Erziehungswort.

Bahnbrechend im Geistesleben in München war aber damals nicht bloß die Sezession, sondern ebenso ein Häufchen Schriftsteller, die wie weltferne Kameraden dem, in altdeutscher Maskerade protzenden Bürgertum die maskenlose, ehrliche und erschütternde Wirklichkeit in Romanen und Dramen darbieten wollten.

Ich erinnere mich besonders gut an einen literarischen Abend auf der Isarinsel in dem Gasthaus „Isarlust“, das, wenn ich nicht irre, ein paar Jahre vorher zur Zeit der ersten Elektrizitätsausstellung gebaut worden war. Dort in einem Saal war von jener Schriftstellergruppe ein Vorleseabend veranstaltet worden, der mich zum erstenmal in die Nähe von wirklichen Dichtergeistern brachte.

Ich kann kaum ausdrücken, mit welcher heiligen Scheu und mit welcher höchsten Seelenspannung ich mich auf den Weg zu jener Vorlesung machte, und wie geweiht ich mir vorkam, die Gesichter neuzeitlicher Schriftsteller sehen zu dürfen, ich, der bis dahin nur in Würzburg in engster Familie, fern von allem öffentlichen Leben, aufgewachsen war.

Mir war, als sollte ich einen neuen Olymp kennen lernen. Ich hatte bis jetzt nur Bücher aus jener neuen geistigen Welt zu Freunden gehabt, nur Geschöpfe, aber keine Schöpfer. Außer mit meinen beiden studierenden Freunden hatte ich bisher mit niemandem einen Gedankenaustausch erlebt, abgesehen natürlich von den Gesprächen meines Vaters, dessen Geist mir bis dahin die Unterhaltung von hundert Leuten hatte ersetzen können.

Als ich in jenen Vortragssaal eintrat, ließ ich mich scheu und beklommen auf der letzten Sitzreihe nieder, reich beglückt, dort sein zu dürfen, wo Frische und neue Geisteslust die Luft, wie mir vorkam, leichter und zum Atmen selbstverständlicher machte.

Der Saal war ungefähr zu dreiviertel von Zuhörern gefüllt. Max Halbe las sein Drama „Jugend“ aus der Handschrift vor. Dasselbe war noch nicht aufgeführt. Nach ihm lasen Johannes Schlaf, Ludwig Scharf und noch andere, deren Namen ich mich heute nicht mehr entsinne.

Ich hatte von dem, was vorgetragen wurde, da die Schallkraft des Saales schlecht war, auf meiner letzten Sitzreihe, wo ich einsam saß, zwar nur halbe Sätze und halben Sinn aufgefaßt, aber ich war doch ehrfürchtig gestimmt worden, als hätte ich Stimmen aus einer anderen Welt sprechen hören. Und deshalb blieb mir jener Abend für immer unauslöschlich in der Erinnerung.

Doch eigentümlicherweise kam in mir nicht die Kraft auf, an einen jener Dichterkameraden heranzutreten, mich vorzustellen und die Hand zum Gruß zu reichen. Wohl war der Wunsch da, mich unter jene Männer zu mischen und mich mit und bei ihnen frei und fern der Bürgerwelt zu bewegen.

Aber, wie ich schon vorher sagte, war es in jenen Tagen allgemein, daß jeder Dichter in jenen Jahren entweder den Doktortitel führte und auf eine Universitätsbildung zurücksehen konnte oder daß er doch das Abiturientenexamen gemacht hatte. Ich aber, da ich Maler hatte werden wollen, hatte nur eine Realschule besucht und nur mit Mühe und Not das Zeugnis zum Einjährigfreiwilligendienst erlangt.

Dem geistigen Wissen meiner besten Freunde, dem Denker und dem Schweigenden, die Studierende der Universität waren, konnte ich meine künstlerischen Veranlagungen entgegenstellen, und es konnte dadurch gleiche Wertstellung im Verkehr herrschen.

Den Dichtern aber, denen ich in jener Vorlesung zum erstenmal begegnet war, hätte ich nur künstlerische Anfänge bieten können. Es waren von mir bisher nur in der „Gesellschaft“ und in der „Wiener modernen Rundschau“, den beiden damals einzigen Blättern des neuzeitlichen Schrifttums, ein paar Novellen erschienen. Mein erster Roman „Josa Gerth“ lag nur in der Handschrift fertig und sollte erst zum Herbst 1892 erscheinen.

Ich hatte also noch kein Buch aufzuweisen, um mich vor den bereits anerkannten jungen Dichtern als Geisteskamerad auszuweisen.

Meine Familienangehörigen hatten mir außerdem, wenn ich davon gesprochen, Schriftsteller zu werden, oft vorgehalten, daß ich nicht die nötigen Vorkenntnisse zu diesem Beruf besäße, und daß der künstlerische Drang zwar gut und schön sei, aber daß er kein überzeugender Beweis dafür wäre, daß ich im Schriftstellerberuf vorwärts kommen könne.

Auch war ich in einer Universitätsstadt aufgewachsen, in welcher der junge Studierende alle Hochachtung genoß und dagegen der künstlerisch Begabte herzlich wenig beachtet wurde. Wenn man noch keine großen Werke aufweisen konnte, erschien man dort als anfangender Dichter mehr als lächerlich und wurde ohne Universitätsbildung nicht ernst genommen.

„Glauben denn diese Leute,“ so mußte ich manchmal zu meinen Freunden sagen, „Homer habe Ägyptisch oder Persisch oder Hebräisch studiert? Hat man je von einem Dichter der alten Zeit verlangt, daß er ein Examen machen mußte in fremden Sprachen und in Wissenschaften? Genügte es nicht, daß er die Begeisterung und das angeborene Können eines Dichters besaß?

Haben die indischen und arabischen Dichter und die alten deutschen Barden Universitätskenntnisse besessen? — Dichterfeuer, dichterische Vorstellungskräfte und tiefstes Gefühl für den Weltrhythmus, nur angeborene Kräfte besaßen jene alten Dichter alter Völker. Die Professoren konnten ihnen nichts lehren. Nur das große Leben war immer ihr Lehrer gewesen, und ebenso war ihnen Lehrer der Lebensernst und die Lebensfreude.“

Und meine Freunde gaben mir stets recht. Aber was half mir das, wenn die Bürgerkreise, in denen sich mein tägliches Leben abspielte, unaufgeklärt und befangen waren in dem, was sie Bildung nannten.

Diese Kreise glaubten, da sie selbst die Bücher und die Professoren zur Bildung nötig hatten, der Dichter müsse den bürgerlichen Weg erst gehen und sollte nachher seinen eigenen künstlerischen fortsetzen. Mit dem Satz: „Heutzutage ist es einmal so“, lehnten die meisten Leute jener Zeit jedes höhere Verständnis für die freie angeborene Schöpferkraft des Dichters ab, die doch über jede Universitätsbildung erhaben ist.

Einige studierte Verwandte von mir, Vettern mit Staatsanstellung, warfen mir sogar den Ausruf hin: „Wie willst du denn Bücher schreiben können, wenn du lateinische und griechische Fremdwörter, die in der deutschen Sprache eingeführt sind, nicht ableiten kannst? Du wirst dich mit falschen Ausdrücken nur lächerlich machen!“

Ich sagte ihnen zwar: „Für die, denen ein Fremdwort mehr wert ist als ein deutsches Wort, das ich an Stelle der Fremdwörter möglichst immer setzen werde, für die, die glauben, daß die deutsche Sprache nur schön ist, wenn sie sich mit lateinischen und griechischen Ausdrücken schmückt — als ob man eine Menschenhand geschmückt mit falschen Brillanten hinreicht —, für die, die fremdklingende Worte den deutschen, einfachen deutlichen Worten vorziehen — für diese Leute will ich gar nicht schreiben.“

„Es ist gar nicht zu vermeiden,“ antworteten jene darauf, „daß man fremde Ausdrücke anwenden muß. Die deutsche Sprache reicht nicht für alle Begriffserklärungen aus.“

„Gut,“ sagte ich, „dann werde ich der deutschen Sprache neue Worte geben. Denn es ist das Recht jedes wirklichen Dichters, seine Muttersprache zu bereichern, und es ist seine Pflicht, Fremdworte auszumerzen und an ihrer Stelle Worte mit heimatlichem Klang der Heimatsprache zu erschaffen.“

Man lachte und zuckte die Achseln und sagte, die Erfahrung würde es mir schon lehren, daß ich Unmögliches wolle. Und mein Vater, beeinflußt von den Reden jener studierten Verwandten, setzte mein Taschengeld monatlich so knapp an, daß ich ohne die Hilfe meiner Freunde hätte verhungern müssen. Denn er wollte mich durch die Entbehrungen, die ich mir auferlegen mußte, zwingen, von dem Vorhaben, Dichter zu werden, abzulassen, nach Hause zurückzukehren und mein Leben einem sicheren Geschäftsberuf zu widmen.

Auch dieses Gefühl, daß ich mich noch nicht durch das Schreiben erhalten konnte und nur von der Gnade meines Vaters leben mußte und nichts besaß, um auch mal fröhliche Feste feiern zu können, das hielt mich damals davon ab, mich jenem Dichterkreis in München zu nähern, und ich wartete bessere Zeiten ab, um dann Anknüpfung zu finden.

Die Entbehrungen zu ertragen, fiel mir leicht. Trotzdem ich in Würzburg in einem wohlhabenden Hause aufgewachsen war und es mir nie an irgend etwas gefehlt hatte, empfand ich die Einschränkungen jetzt im Verhältnis zur geistigen Freiheit, die ich genoß, als fast gar nicht vorhanden.

Es wäre mir komisch vorgekommen, wenn mich jemand als ärmer angesehen oder mich bedauert hätte und mir gesagt hätte, ich hätte zu Hause bei meinem vermögenden Vater reicher gelebt und besser, weil sorgloser.

Ich kam mir in jenen meinen ärmsten Tagen nie arm vor, und das Gefühl, ich besitze alles und alle besitzen mich, und das Gefühl, Mitteilhaber an allem Reichtum der Welt zu sein, war mir von jeher angeboren.

Ich konnte deshalb meinen Sorgen immer nur schwer glauben, bis sie dicht vor mir standen und nicht mehr abzuweisen waren; dann kamen sie mir erst wirklich vor. Unverständige Leute nennen dies Leichtsinn. Ich nenne es Sorgenblindheit. Und sie ist der angeborene sechste Sinn aller Künstler.

Denn wie könnten die Dichter Melodien und Lieder finden, die Maler sich an Farben, die Bildhauer sich an Formen freuen, die Musiker an Tönen, wenn sie sich nicht die Sorgenblindheit als sechsten Sinn geschaffen hätten, der ihnen Schutz bietet, wie Öl, das man in die Maschinen träufelt, damit sich die Räder nicht heiß laufen.

Und ohne die Öldrüse der Sorgenblindheit würde der eindrucksfähige Künstler tausendmal am Wege, lange vor seinem Ziele, sorgengebrochen zusammenstürzen.

Meine Freunde, der Denker und der Schweigende, die zu jener Zeit in München die Universität besuchten, halfen mir in edelster Weise. Ohne ihre Mithilfe wäre ich vielleicht doch gezwungen gewesen, ins üppigere Vaterhaus zurückzukehren. —

In dem vegetarischen Speisehaus „Thalysia“ in der Landwehrstraße, in welchem ich mittags ein kärgliches Reis- oder Linsenkotelett aß, fand ich damals seltsame Menschen, von deren Anwesenheit auf der Erde ich vorher nichts geahnt hatte. Es waren Theosophen.

Diese Menschen mit blassen Gesichtern und großen vergeistigten Augen wirkten auf mich so befremdend, wie wenn man von einem zoologischen Garten in die Grotte eines Aquariums eintritt und hinter Glasscheiben im Wasser die Pflanzen der Tiefsee und die geschmeidigen Gestalten der Meeresfauna bei künstlicher Sauerstofferhaltung leben sieht.

Mir schien, jene Theosophen hatten die Geschmeidigkeit von Fischen oder Pflanzen, die schlank im reinen Wasser leben. Ihre Sehnsucht war, den Indiern ähnlich zu werden, und die Lotosblume, jene auf dem Wasser ruhende, keusche Reinheitsblume, war auch ihnen wie den Indiern das höchste Lebenssymbol.

Aber die Indier, aus dem reichen heißen Himmel, aus dem reichen heißen Tropenleben geboren, kamen sich zu kühlen, wenn sie sich zur Lotosblume neigten. Die Indier kommen aus dem Reich wildester Begierden und wollen ähnlich werden der Blume, die in Ruhe über kühlen Wassern schwebt. Es ist natürlich, daß sie sich aus dem natürlichen Sonnenbrand ihres Landes, aus ihres edelsteinschweren Landes Üppigkeit nach kühlender Einfachheit sehnen und dann bei der Weltflucht und der Weltentsagung anlangen. So wie der von der Sonne Überhitzte gern zum Schatten flüchtet. Dagegen jene Theosophen kamen, aufgewachsen im nebelgrauen Deutschland, in einem kargen Klima, auf einer Sorgenerde, zu der Lotosblume wie die Fische angeschwommen.

Und sie sahen wie Fische zur Lotosblume hinauf, zu ihr, die in einer höheren Welt lebte, zu ihr, die in der reinen Sonnenluft atmete, während sie selbst nur in den bläulichen Dämmerungen einer Wasserschicht ihr Dasein hatten.

Diese Theosophen, schien mir, sehnten sich aus der Kargheit eines phantasielosen Daseins nach der Phantasieblume des Lebens. Ihre Gedankenschicht, in der sie immer schwammen, schien mir der Wasserschicht ähnlich zu sein, auf der die Lotosblume schwimmt. Sie selbst aber schwammen immer um die Wurzel der Blume und sahen den Lotoskelch nur von unten.

Denn diese Männer, die ich da sah, waren nicht durch den Weltbrand hindurchgegangen und hatten sich nicht, um sich vom Leben zu kühlen, ans Wasser des Gedankenfriedens niedergesetzt wie die Indier. Sie haßten die Wirklichkeit, ehe sie sie erlebt hatten, weil sie zu schwach und zu kühl geboren waren und die Wirklichkeit nie ihr Reich gewesen war.

Sie lebten immer in ihren Gedankengewässern, in denen sie geboren waren, wie der Fischlaich. Und sie sprachen von dem Begierdereich wie Kinder, die vom Liebesleben der Erwachsenen in ihrem Kindheitsreich nur eine verzerrte Ahnung erhalten können.

Diese Menschen, unter denen ich Reis und Gemüse aß — weil mein Geld nicht für Fleischspeisen reichte, da ich mir nur abends ein wenig Wurst gönnen durfte — diese schlanken, durchsichtigen Menschen, die meistens in Schriften und Büchern lasen, während sie kauten, wären mir aber in meiner Armut beinahe doch als eine tröstliche Umgebung vorgekommen, da sie nach geistiger Erhebung und nach Gedankentiefe strebten, wenn nur nicht die graue Lebensschwäche aus ihren grauen Adern geklagt hätte.

Ich lernte dort bald einen jungen Maler kennen, der wie ich aus Not in die „Thalysia“ verschlagen war, und dieser erzählte mir vom Maler Dieffenbach, welcher zu jener Zeit bei einem Dorf im Isartal sich ein Atelierhaus gebaut hatte. Dies Haus war aus schwarzen Teerpappen zusammengenagelt. Und mit mannshohen gelben Buchstaben stand an dem Giebel der schwarzen Halle das Wort: „Humanitas“ geschrieben.

Man konnte Dieffenbach damals öfters in den Straßen Münchens begegnen, wenn er in die Stadt kam, um Besorgungen zu machen. Bart und Kopfhaar reichten ihm fast bis an den Gürtel. Er trug eine lange Kutte und ging in Sandalen, und die ganze Stadt kannte ihn, den verrückten Malereinsiedler vom Isartal, wie ihn die Leute nannten.

Die meisten Theosophen, die ich damals sah, trugen langes schlichtes Christushaar, das im Nacken weit über den Rockkragen fiel und nicht gut zum zweckmäßigen geradlinigen Männeranzug des neunzehnten Jahrhunderts stimmte. Das träumerische langherabfallende Haar stand im Widerspruch zu den knappen nüchternen Linien des Anzugs des Arbeiterzeitalters.

Daß übrigens die Theosophen und ihre Anhänger, die vom gedankenvolleren Norddeutschland in das lebensüppigere Süddeutschland gekommen waren, eigentlich im scharfen Widerspruch zur derben bayerischen Landesseele standen, das fiel mir auf. Aber so wie die Fische am liebsten an heißen Tagen an der Oberfläche des Wassers weilen und sich der warmblütigen Welt über ihnen behaglich nahe fühlen wollen, ohne doch ihre Wasserwelt aufgeben zu müssen, so schien es mir auch bei jenen Lotossehnsüchtigen zu sein. Man merkte, daß sie sich im derberen München, wo das Dasein mehr dem Leibe als der Seele zugewendet ist, wohler fühlten als im gedankensüchtigeren Norddeutschland.

Eigentlich war mir die Gedankensehnsucht dieser Menschen, die etwas Mitleiderregendes hatte, nicht unangenehm. Wenn diese Männer nur nicht alle selbst so mitleiderregend gewesen wären und so weltabgewendet, dann hätte ich mich gern mit ihnen unterhalten und mich ihnen nähern wollen. Aber daß sie der Wirklichkeitswelt, ohne nur von derselben gekostet zu haben, blindlings und vorurteilsvoll den Rücken wendeten und die gesunden Derbheiten des Daseins nicht ebenso zu beherrschen gelernt hatten oder beherrschen lernen wollten wie die Seelenwelt, und daß sie aus dem Wirklichkeitskampffest, das sie nur vom Hörensagen kannten, flüchteten wie Krieger, die plötzlich der Schlacht den Rücken wenden und sich unter eine Schanze setzen und sagen, es wäre unnütz zu kämpfen, denn einmal müßte ja doch diese Erde vergehen und alle ihre Genüsse, und gegen die Vergänglichkeit des Leibes könnte auch diese Schlacht nicht ankämpfen, und deshalb sollte man nur seine Seele befriedigen — das hat mich von ihnen abgestoßen, und ich fand es weder der Mühe wert, noch für mich von irgendwelcher Notwendigkeit, an jener Seelenüberzüchtung Anteil zu nehmen.

So wie der derber werdende Bürgerstand, der damals immer breiter das mittelalterliche Rittertum und seine Romantik nach Anleitung Makarts in Wien in üppigen Samt- und Stoffausschmückungen der Räume in Orgien der derbsten Geschmacklosigkeiten feierte, und dem die Tapezierer die Fenster und die Türen mit dunklen orientalischen Teppichen schwülstig bekränzen durften, so entgegengesetzt übertrieben zum sinnenrohen Treiben wirkte die Leere und die reizlose Klarheit, mit der jene Gruppe von Theosophen, die ich täglich sah, das sinnliche Leben betrachtete.

Die Bürger waren übertrieben in der Gestaltung des äußeren Lebens, die Theosophen übertrieben in der Flucht zum inneren Leben. Die einen hatten zuviel Weltnähe, die anderen zuviel Weltferne. Die einen arteten in Weltüppigkeit aus, die anderen in Weltfremdheit. Die meisten Bürger wünschten nur Feste der Sinne zu feiern, die Theosophen nur Feste der Seele. Und beide Menschengruppen schienen mir entrückt der Weltnatürlichkeit, der einfachen Weltselbstverständlichkeit. Sie feierten nicht das selbstverständliche Fest natürlicher Schöpferkraft, die inneres und äußeres Leben, Weltnähe und Weltferne in möglichstem Gleichgewicht erlebt.

Weder weltverwildert sein noch weltentfremdet werden ist dem großen weisen Fest des Lebens günstig. Weder Lebensüberhitzung noch Lebenserkältung ist das Ideal des Lebensfestes. Eine emsige Lebensfestlichkeit, die aber nicht das Leben schulmeisterlich verrenken will, wie es die Seelensehnsüchtigen gern möchten, und die ebensowenig zur Lebensgier anspornen will, diese natürliche Lebensfestlichkeit fand ich damals selten unter den Gesichtern der Straße, aber ich fand sie immer bei den Dichtern jener Zeit.

Alle die Dichter, die ich noch später kennen lernte, und alle, die ich bereits aus ihren Werken kannte, alle sogenannten „Modernen“ enthielten sich möglichst, seelisch schulmeisterlich zu wirken oder stumpfsinnig einseitige Lebensüppigkeit zu pflegen. Es war ein markiger festlicher Ernst in fast jedem neuen Buch, das damals aus der Gruppe der „Modernen“ erschien.

Aus allen diesen Gründen fühlte ich mich nicht hingezogen, Verkehr mit jenen Theosophen anzuknüpfen. Ich las nur manchmal in ihrer Zeitschrift „Sphinx“, die in dem vegetarischen Speisehaus auf den Tischen lag, und plauderte dort mit einigen Malern.

Am Tage besuchte ich gern die Museen. Ich ließ mich bei der Betrachtung dort von keiner Kunstgeschichte leiten, sondern gab mich nur den Eindrücken hin, die die Bilder auf mich ausübten, und ordnete für mich, je nach der Stärke oder Schwäche dieser Eindrücke, die Meister der verschiedenen Jahrhunderte nach meinem eigenen Gutdünken.

Und dabei fiel mir auf, wieviel Geistesqualen und wieviel Geistesentsagung aus den gemalten Gesichtern aller christlichen Jahrhunderte sprach. Dagegen frei und gesund und festlich trugen die griechischen Statuen in der Glyptothek ihre Mienen. Von Gedanken- und Körpergesundheit aufrecht gehalten und natürlich selbstbewußt, trugen jene festlichen Menschen der Heidenzeit ihren Leib.

In der alten Pinakothek dagegen sprachen die Menschengesichter der christlichen Zeiten, die ich da auf den Gemälden sah, von einer Bedrückung, durchdrungen von einer, wie mir schien, unaufrichtigen Bescheidenheit und einer eingebildeten Demut. Und jene Maler der Renaissance, die die Gestalten der biblischen Geschichte nackt darstellen, malten, gereizt vom Fleischton, die enthüllten Körper meistens in einer lüsternen Beleuchtung. Und nur bei ganz wenigen alten deutschen Malern, wie bei Holbein und Memmlinger, war das Fleisch streng, aber abgetötet behandelt.

Auch diese Bilder konnte ich nicht lieben. Die Körper waren von diesen Malern dargestellt, als sähe man erfrorene Bäume im Sommer, während bei den italienischen und niederländischen Meistern das Fleisch der nackten Menschen zu üppig strotzte, zum Beispiel bei Michelangelo und Rubens, als hätte das Fleisch ohne Geist wuchern dürfen und wollte Orgien feiern.

Ich traf auch hier wieder dasselbe Gefühl, das mich immer bei der Betrachtung der alten Weltanschauung begleitet hat: die Eindämmung der Lebenslust zur Lebensentsagung erzeugt wuchernde Phantasiegebilde, die nichts mehr mit edler Schönheit gemein haben. Nur eine natürliche Weltauffassung, eine selbstverständliche Weltanschauung, die den Menschen zum Schöpfer und Geschöpf erhebt und das Weltalleben einfach festlich ansieht, kann auf allen Gebieten der Künste festliche und natürliche Schönheit schaffen.

Die Griechen, die den Menschen nicht mit einer Erbsünde belasteten, die ihn frei aufwachsen ließen, denen die Götter des Olymps nichts anderes waren als Personen gewordene Menschengesetze, sie schufen festliche Schönheiten.

Der griechische Olymp, sagte ich mir, war nichts anderes als eine höhere Menschengesellschaft, eine erdichtete Versammlung höchster, schönster und weisester Menschen, die man wegen ihrer Vollkommenheit zu Menschenoberhäuptern ernannt hatte.

Die Götter waren anspornende Beispiele, um zu zeigen, wie hoch sich der Mensch entwickeln kann bei fortgesetzter Geistes- und Körperzucht.

Und jeder weiß, es war beim griechischen Volke nicht ausgeschlossen, daß mutige Naturen, Menschen, die sich auf Erden außergewöhnlich hervortaten, oder Menschen, die außergewöhnlich vollkommen zur Welt kamen, als Götter in die Versammlung des Olymps aufgenommen wurden, manche sogar nur wegen ihrer äußerlichen körperlichen Vorzüge, andere wegen ihrer geistigen und körperlichen Heldentaten.

Den lebenden Menschen von damals wurde also bestätigt, daß die Möglichkeit in ihnen lag, Schöpfer und Geschöpf zugleich sein zu können. Und diese Möglichkeit, ein Gott sein zu können, krönte das Menschendasein der Griechen.

Und da sie ebensogut durch Körpervorzüge als durch Geistesvorzüge Götter werden konnten, herrschte im Volkssinn jener Tage ein edles Bestreben nach Körper- und Geistesgleichgewicht auf Erden, das uns heute, wie wir alle wissen, noch aus griechischen Kunstwerken unendlich erhebend anredet. — Aber warum mußte jenes Ideal vergehen, wenn es bereits festliches Leben darstellte?

Deshalb mußte es vergehen, weil es doch noch nicht das selbstverständlich allumfassende Festliche war. Weil die Tierwelt, die Pflanzenwelt, die Welt der toten Dinge von den Griechen noch nicht als ihr Ich, als ihre eigene Schöpferkraft angesehen wurden.

So wie die Märchen des Mittelalters, um die Natur belebt zu sehen, menschliche Figuren in das Landschaftsleben hineindichteten, so taten dies in noch höherem Maße die Sagen der Griechen. Wo wir Elfen, Hexen, Kobolde dichteten, dichteten sie Dryaden, Faune, Nymphen und Halbgötter. Nie aber lebten in den griechischen Dichtungen der Baum, das Tier, die Quelle, die Wolke als Naturleben.

Es mußte in der Vorstellung der Griechen immer jedes Leben erst eine menschliche Verkörperung eingehen und deshalb war das griechische Lebensfest nicht vollkommen zu nennen. Die griechischen Dichter konnten nicht eine Abendstimmung auf sich wirken lassen, nicht einen Baum rauschen hören, nicht die Meereswelle sehen, ohne bei diesem Natureindruck sofort eine menschliche Gestalt hinzuzaubern, die Nymphe, den Pan oder einen ihrer Götter.

Und dieses Umgestalten will die neue Weltanschauung nicht mehr tun. Sie will das Fest feiern, wie es ist. Sie will die einfache Musik des Windes und der Welle, des Regens und der Wälder, das festliche Leben der Tiere, Vögel und Insekten einfach festlich erleben.

Der „Mensch von morgen“ hat Sehnsucht, in die Nähe aller Wesen zu kommen, deren Lebensfest er noch nicht bewußt mitgefeiert hat. Er hat sich jetzt genug Geduld, Ruhe und Ernst angeeignet, um in die Festlichkeit der anderen Lebewesen dichterisch einzudringen, ohne daß er notwendig hat, in der Vorstellung die Körper der Tiere und Pflanzen fortzuwerfen und ihnen Menschengestalten aufzudrängen.

Der Weltblick des „Menschen von morgen“ will sich erweitern, und mit dem Weitblick vergrößert sich die Lebensfestlichkeit.

In der Kunst, die menschliche Gestalt darzustellen, darin haben die Griechen wohl höchste Lebensfestlichkeit erreicht. Aber im Hinblick auf das Weltalleben waren sie beschränkt und unaufgeklärt. Diese Aufklärung und diese Festlichkeiten des Menschengeistes zu erleben, blieb späteren Jahrtausenden vorbehalten, unserer Zeit und der Menschheit von morgen.

Wer aber behauptet, die Künstler seien nicht an eine Weltanschauung gebunden, sie dichten, musizieren, malen und bildhauern einfach das, was ihnen gefällt, dem möchte ich antworten, daß die Schöpfungen der Künstler immer abhängig waren von der Weltanschauung, die die Nation hegt und die Zeit, der ein Künstler angehört.

Die Künstler der Japaner, der Chinesen, der Indier, die die Tiere und Menschen, Landschaft und Pflanzen seit Hunderten von Jahren mit tiefster Kenntnis und künstlerischer Liebe umfassen und darstellen können, sind von der buddhistischen Weltanschauung beeinflußt, die alle Wesen gleich achtet. Die Lebenstreue und die Feinheit, mit der jene asiatischen Künstler die feinsten Lebensregungen in der Natur in großzügigen Linien auf ihren Bildern einzufangen verstehen, die Knappheit und Kürze und Anschaulichkeit ihrer Gedichte, die wenig ermüdend nie den dichterischen Eindruck übertreiben, sondern das Erlebte und Tiefste in sparsamer Kürze hinzusingen verstehen, ebenso die wunderbare Einfalt ihrer in Naturlauten summenden träumerischen und unaufdringlichen Musik, die nicht zum Anfüllen steinerner Hallen, sondern zum Einwiegen des Menschenohres berechnet ist, diese Kunstausübung nähert sich der festlichen Anschauungsweise des gesamten Weltallebens.

Wie wenig dagegen leisteten infolge ihrer engen Weltanschauung in der Kunst die Mohammedaner. Nur in der Architektur, in der Raumausschmückung und in der Ausschmückung von Waffen und häuslichen Geräten sind sie Meister gewesen. Aber nirgends im mohammedanischen Kunstleben wird das Naturleben oder Menschenleben, das vielgestaltige, dargestellt, wie dieses bei den buddhistischen Völkern, bei den Indern, Chinesen und Japanern der Fall ist.

Und seht die christliche Zeit des Abendlandes. Die Künstler des Mittelalters, sie malten und bildhauerten, musizierten und dichteten, aufs stärkste beeinflußt von der christlichen Weltanschauung, und jene mittelalterlichen Künstler konnten nur das hervorbringen, was sich um die Kirche und den Kirchengeist der damaligen Zeit bewegte. Nie kamen die christlichen Künstler jener Zeit den Künstlern der buddhistischen Weltanschauung gleich. Aber den mohammedanischen Künstlern waren die christlichen wieder an vielseitiger Entfaltung überlegen.

Von der jüdischen Kunst sind uns zwar Bücher und Lieder überliefert, aber in der darstellenden Kunst leisteten die Juden nichts, da die Weltanschauung dieses Volkes die bildnerische Kunst nicht zu pflegen erlaubte.

Und es ist wohl als sicher anzunehmen, daß bei den Juden damals in Palästina Künstler geboren wurden, ebenso wie in den übrigen Ländern der Erde, denn wenn dieses Volk auch hauptsächlich ein Handelsvolk ist, so ist das kein Beweis, daß nicht Kunstliebe und Künstler unter ihnen leben.

Das große Handelsvolk, die Engländer, haben den großen Dichter Shakespeare hervorgebracht und andere Künstler. Bei den Juden hätten sich in alter Zeit wohl auch Bildhauer ausgebildet, so wie bei den Ägyptern und Griechen, wenn die jüdische Weltanschauung das Aufstellen von Kunstwerken erlaubt hätte.

Ich wollte hiermit denen antworten, die da glauben, der Künstler dürfe immer zu allen Jahrhunderten und bei allen Völkern tun und lassen, was er wolle. Der Künstler war aber immer an die Weltanschauung seiner Zeit gebunden, auch wenn diese ihm ungünstig gesinnt war, anpassen mußte er sich immer der Weltanschauung seiner Zeit.

Ich erinnere nur an die Madonnenmaler, an die Künstler des Mittelalters, die gar keine himmlischen Gesichter erdachten, sondern schöne Mädchen des Volkes, die sie herzlich und sinnlich anregten, und von denen manche eines Künstlers auserkorenen Liebste war, die er in Holz oder Stein oder Farben im Kunstwerk herstellte, wonach das dann auf die Altäre als Mutter Gottes oder als irgendeine Heilige in die Kirche kam. Des Künstlers Liebesideal wurde so oft zum Anbetungsideal einer Kirchengemeinde.

Ebenso weiß man, daß die vielen Gedichte, die die Mönche für die Madonna, für ihre himmlische Braut, und die Nonnen an Christus, für ihren himmlischen Bräutigam schrieben, stark durchsetzt waren von weltlichen Liebeserinnerungen und unbewußt oder bewußt aus heißen Liebeserinnerungen und Liebessehnsüchten entstanden, die jene Männer und Frauen aus der Welt mit in die stillen Klöster brachten.

Wenn jene aus der Welt flüchtenden Menschen Mönche und Nonnen wurden und sich hinter die Klostermauern zurückzogen, schrieen ihre Welterinnerungen auf, und ihr heißes Gedenken an genossene oder entsagte Lust verwandelte sich oft in die inbrünstigsten und schönsten Liebeslieder, in denen sie ihren eingekerkerten Sinnen Luft machten. Diese Künstler mußten öffentlich eine Gottheit verehren unter dem Druck der Weltanschauung ihrer Tage; in Wahrheit aber verehrten sie das festliche Leben, dem sie sich entzogen hatten.

Als dann eine freigeistige Zeit anbrach, kam auch die große Zeit für die Porträtmaler, wobei dieselben ihre Menschen nicht mehr als Heilige und Madonnen verkleiden mußten. Sie folgten der befreiteren Weltanschauung ihrer Zeit und malten, so gut sie konnten, auch Landschaften, in denen aber erst immer noch Menschenfiguren als Beigabe herumstanden.

Zu dem vielseitigeren Genießen reiner Landschaften, reiner Naturstimmungen und zum Malen aller Leben ist erst unsere heutige Zeit mit der aufgeklärteren Geistesrichtung gekommen. Aber sie übt diese Kunst noch nicht so sichtlich reichhaltig und durch Menschengeschlechter geschult, wie es die buddhistischen Maler Asiens vermögen, welche die Insekten, fliegende Vögel, alle Blumen und Gräser und alle Naturstimmungen mit wenigen, kennzeichnenden Strichen wunderbar künstlerisch darstellen.

Laßt aber allen europäischen Völkern einmal die Weltanschauung von der Festlichkeit des geringsten Daseins bewußt werden, die Überzeugung von der Bedeutung der unendlichen Schöpferkraft, die in jedem Geschöpf liegt, die nicht nur den Menschen seelenvoll nennt, sondern, seelenvoll und dem Menschen gleichgestellt, das letzte Lebewesen, dann wird erst ein großes künstlerisches Aufblühen und damit ein inniges Vertiefen in alle Weltleben in der Dichtung, der Malerei, der Bildhauerei und der Musik einsetzen, so daß dann die Welt offensichtlich zu einer Festwelt wird.

Denn ihr sollt nicht sagen, die Japaner und die Chinesen und die meisten Asiaten erzeugen nur deshalb so viele Kunstwerke, und jeder ihrer Gebrauchsgegenstände ist nur deshalb von einem Kunstgedanken zum Leben gebracht, weil diese Völker ein angeborenes größeres Kunstverständnis und stärkeren künstlerischen ausübenden Sinn mit auf die Welt gebracht haben.

Das ist es nicht. Das ist eine bequeme Täuschung, mit der ihr euch selbst herabsetzt, weil ihr euch in Europa nicht gründlich in aller Weltallfestlichkeit erkannt habt, weil ihr euch nicht gründlich vertrauen wollt und noch teilweise in einer kunstfeindlichen, weil weltfeindlichen Weltanschauung befangen seid.

Die Künstler aller Zeiten waren wohl immer durchdrungen von der Festlichkeit aller Leben. Es waren nur die Volksmassen, die den Künstlern den Zwang einer beengenden Weltanschauung auflegten. Aber auch die Völker sind im letzten Grunde immer von der Festlichkeit des Daseins überzeugt gewesen, es fehlte ihnen nur die Reife und die Kraft des Eingeständnisses.

Die Kunstseele ist in allen Völkern und zu allen Zeiten immer dieselbe gewesen. So wie das Sonnenlicht jeden Tag rund um die Erde geht und überall Sonnenlicht ist, wenn ihr es nur zu euch kommen laßt und euch nicht vor dem Licht versteckt und das Licht nicht verbaut, und so wie die Erde unter euren Füßen euch rund um die Weltkugel gleichmäßig trägt und überall dieselbe Erde unter euren Füßen bleibt, so seid ihr Menschen, wandelnd zwischen Sonne und Erde überall auf der Welt, durchdrungen von der Lust am Betrachten, am Zuhören und Wiedergeben der Welteindrücke, durchdrungen von der Weltallfestlichkeit, geboren.

Und aus diesem festlichen Empfinden heraus, das überall dem Menschenleben bei allen Völkern angeboren ist, entstehen auch überall die drei Kunstarten: Dichtung, Bildnerei und Musik. Nur schwächende Weltanschauungen und enge Weltüberblicke können teilweise das festliche Weltbetrachten dem Menschenherzen verkürzen, so daß die künstlerische Wiedergabe beschränkt wird.

Setzt aber einmal bei allen Völkern eine festliche Weltanschauung ein, so werdet ihr sehen, daß alle Völker höchste künstlerische Kräfte besitzen, und daß das Menschenleben sich zu einem harmonischen Fest auch in künstlerischer Hinsicht gestalten wird.


Halb bewußt und halb unbewußt gab ich mich damals in den Münchner Museen diesen Betrachtungen hin. Aber heute erst kann ich sie in Worten niederschreiben. Ich wußte damals nicht, was mich so eifrig zu den heidnischen antiken Kunstwerken hinzog, aber mich doch im allerletzten Grunde auch unbefriedigt ließ.

Ich wußte auch nicht, was mich an den Gemälden der christlichen Bilder bedrückte, und was mich daran, abgesehen vom malerischen Können jener Meister, unbehaglich, unbefriedigt ließ. Ich stand vor großen Werken der Malkunst, aber die Maler selber, das sagten ihre Werke, waren nicht Besitzer einer freien und natürlich festlichen Weltanschauung gewesen.

Darum fand ich mehr Freude draußen in der Natur, bei Spaziergängen, wo das Leben der Wälder und Berge, des Himmels und der Flüsse von keinem kurzsichtigen Zeitgeist erschaffen war, dort im Freien herrschte das Weltallfest vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen. Die Kunstwerke des Christentums konnten mir nicht dieselbe Festlichkeit geben, wie sie mir die Natur gab. Nur die Statuen des heidnischen Griechentums trugen ähnliche Lebensfestlichkeit zur Schau wie die immer festliche Landschaft.

Es war mir aber damals auch noch unmöglich, mein Handeln und mein Denken zusammen Hand in Hand gehen zu lassen, da die Gedanken nicht so klar wie heute vor mir standen, also, der Gedanke noch nicht so sicher die Tat leiten konnte.

Ich wußte noch nicht, wie ich die Welt in Worten knapp durchgeistigt und verkörpert, ohne Anlehnung an die alte christliche Weltanschauung, in Gedichten wiedergeben sollte, und war oft recht verzweifelt und von Ungeduld geschüttelt.

Ich konnte auch niemanden um Rat fragen, mein philosophischer Freund hatte mir nur sagen können: „Verlaß die alte Weltanschauung! Sei ehrlich zu dir selbst. Du und wir alle haben sie im Grunde schon längst verlassen. Du findest den Weg zu neuen dichterischen Schöpfungen von selbst. Sei nur mutig!“ —

Verlassen hatte ich die alte Welt. Aber ich tappte noch im unklaren und hatte keine neue vor mir. Denn die Wirklichkeitswelt, in der die anderen Dichter damals arbeiteten, die Alltagswelt, die Welt der Taglöhner und Proleten, die von ihnen mit Vorliebe damals aufgesucht wurde, die schien mir nur ein Nebenweg am Hauptweg zu sein, der eingeschlagen werden mußte, ein Vermittlungsweg zum Hauptweg.

Ich versuchte diesen Weg ein Stück zu gehen, und ich schrieb in München, um mir zu beweisen, ob ich mit photographischer Treue das Wirklichkeitsleben wiedergeben könnte, damals ein Drama in zwei Akten, betitelt „Das Kind“, das mit allzu deutlicher Deutlichkeit den Seelenzustand eines jungen Mädchens wiedergab während einer Nacht des Abschieds von ihrem Bräutigam, und das sich am Morgen nach dem Abschied aus dem Fenster stürzt.

Das Stück war kraß, erschütternd, aber es löste keine innere Erhebung in mir aus. Nur die Achtung vor wirklichkeitsgetreuer Schilderung blieb als Endgefühl in mir übrig. Und ich sah ein, daß äußere Wirklichkeitswiedergabe nur eine Schulung für einen Schriftsteller sein konnte, aber daß sie nicht höchstes Kunstideal werden durfte. Das Stück wurde später im Jahr 1900 vom Münchner Schauspielhaus angenommen. Aber ich zog es zum Erstaunen des Direktors vor der Aufführung zurück. —

Das Osterfest 1892 kam heran, und ich ging an einem Karfreitag, erfüllt von den Erinnerungen alter Osterzeiten, durch die Kirchen Münchens und kam in eine hohe alte Kirche, die war dunkel und wirkte wie ein geräumiger Keller. Und die Menschenmenge, die zu dem einen Eingang hineindrängte, Kopf an Kopf, und die Kirche durchquerte und zu einem anderen Eingang hinausdrängte, schob mich vorwärts.

Alle großen Gemälde über den Altären und die Altäre selbst und die Altarstufen waren, wie das immer in der Karwoche ist, mit tiefvioletten Tüchern zugedeckt. Und durch die Weihrauchwolken sah ich die Pyramiden der Kerzen aufragen, deren unzählige spitze Flämmlein mir den Eindruck von goldenen Dornen machten.

Vom Weihrauch halb verhüllt, stand der in Spitzengewänder gekleidete Priester am Altar, und als ich einen Augenblick zurücksah über die Menge, die mich vorwärts schob, stach durch die offene hohe Kirchentür das blauweiße Tageslicht grell in das dunkle Kirchengewölbe herein, als stahlblauer Strahl und war wie ein mächtiges helles Schwert über den Köpfen der Menge. Und die Menschen, die Kopf an Kopf da drängten, erschienen mir wie ein Heerwurm, der unter dem blanken drohenden Schwert durch die Kirche zog.

Einen Augenblick schien es mir, als ich den Weihrauch aufsteigen sah, als hätten die Kerzen das violette Tuch, das über dem Altarbild hing, angezündet, und als rolle das Tuch feurig brennend und rauchend über den Köpfen der Menge hoch.

Ich ging dann nach Hause und schrieb den visionären Eindruck dieses Karfreitagkirchenbesuches in kurzer Skizze, die ich „Auferstehung“ betitelte, nieder. Ich gab den Eindruck so wieder, wie ich ihn eben erzählt habe, nur ein wenig mehr ausgearbeitet, in heftigeren Farbeneindrücken und in knappen, etwas gehackten Sätzen.

In jenen Tagen in München — das muß ich noch vorher bemerken — hatte ich mir manches Mal ein Buch in der „Bibliothek der Modernen“ geliehen. Diese Bibliothek war im Hause des Schriftstellers Schaumberger, und dort im Hausgang war ich im Vorübergehen den Dichtern O. J. Bierbaum und Ludwig Scharf vorgestellt worden.

Einige Tage später erhielt ich von O. J. Bierbaum die Aufforderung, eine kleine Arbeit für den „Musenalmanach“ 1892–1893 einzusenden.

Nichts schien mir geeigneter für diesen Zweck als die kleine Skizze „Auferstehung“, die kaum zehn Druckzeilen groß war, und die ich für meine erste und beste Leistung auf dem neuen Weg beschreibender Prosa hielt.

Ich dachte mir aber, daß wahrscheinlich Hunderte von Schriftstellern zu Beiträgen für den Musenalmanach aufgefordert worden waren, und daß das, was ich geschrieben hatte, so wenig war, daß es in dem Buchband kaum zehn Menschen auffallen würde. Mir persönlich sollte diese kleine Skizze die Linie zeigen, die ich einschlagen wollte. Nicht Wirklichkeitsschilderung, sondern in Vision umgesetzte Wirklichkeit wollte ich von jetzt ab geben.

Ich hatte damals noch keine Ahnung von Kritik und Kritikern überhaupt. So wie es nirgends in der Bibel steht, daß Gott bei seiner Schöpfung an eine Kritik derselben gedacht habe, so wenig war mir der Gedanke gekommen, daß ich je eine gedruckte Kritik über mich lesen würde. Ich selbst hatte nie Kritiken über Bücher gelesen, so wie ich auch bis dahin nur äußerst selten eine Tageszeitung in die Hand genommen hatte.

Ich dachte, Dichtungen werden schweigend geliebt oder schweigend abgewiesen, und ich wußte noch nicht, daß das meiste, was geschrieben wird, auch öffentlich besprochen wird.

Daß in den Zeitschriften Bücherbesprechungen gebracht wurden, in jenen modernen Zeitschriften, in welchen die neuen Dichter sich vereinigt hatten, um auf neue Wege hinzuweisen, das schien mir natürlich. Daß aber die Zeitungswelt, die Augenblickswelt, die doch keine Zeit zum Sichvertiefen haben konnte, Geistesarbeit zu kritisieren sich berechtigt fühlte, in derselben Weise, als ob man das Wetter beschrieb und Tagesvorgänge besprach, daß Geistesarbeit unter die Augenblicksvorgänge gerechnet werden könnte, das war mir ganz unbekannt und unverständlich.

Im Herbst desselben Jahres, als ich dann später von München nach Berlin gezogen war, erhielt ich eines Tages von meiner Familie aus Würzburg eine Nummer des „Berliner Tageblattes“ zugesandt. Im Feuilleton war der Bierbaumsche „Musenalmanach“ für 1892–1893 breit besprochen. Aber mein Erstaunen wuchs aufs höchste, als ich meinen Namen an die Spitze des Aufsatzes gestellt sah und die Worte am Eingang der Kritik las: „Da tut ein Max Dauthendey seine milde Hand auf und schenkt uns eine Auferstehung.“

Ich begriff zuerst nicht, daß der Artikel von Hohn strotzte. Man hatte zugleich meine Skizze wortwörtlich abgedruckt, und man geißelte mit bissigem Spott die neue verrückte Schreibart. Die für eine Tageszeitung auch wirklich nicht am Platze gewesen wäre. So schwer denkbar wie es ist, daß Botticelli Skizzen für eine illustrierte Tageszeitung gezeichnet haben würde, so wenig paßte natürlich die Skizze eines neuen Wegesuchers in den Alltagsstil einer Zeitung.

Da ich zur Mitarbeit aufgefordert worden war und meine Skizze als Geschenk dem „Musenalmanach“ gegeben hatte, hatte ich die Einfalt, zu glauben, daß die Welt auch meine Arbeit als Geschenk annehmen müsse und nicht als eine Herausforderung zum Meinungszweikampf.

Grausam und ungerecht fand ich diesen unerwarteten Angriff auf meinen mit tiefstem, heiligstem Ernst ausgearbeiteten kleinen ersten Versuch, Wirklichkeit und Unwirklichkeit vereinigen zu wollen. Ohne nach der alten Figurenwelt von Engeln und Teufeln zu greifen, hatte ich die Visionen eine Kirchenstimmung, eine Karfreitagsphantasie, versuchsweise wiedergeben wollen.

Daß meine Welt nicht die Welt von heute war, wurde mir aus jener Kritik hier gründlich zum erstenmal öffentlich bestätigt. Aber mutlos oder kopfscheu machte mich diese Erkenntnis nicht. Und so breit, wie ich heute das Ereignis beachte, tat ich es damals nicht. Es war eine flüchtige Sekunde des Unbehagens, die aber doch so stark war, so daß ich sie nach langen Jahren noch in mir aufgezeichnet finde. — Und ich erzähle dieses nur, weil es meinen ersten neuen Versuch betraf, der mir am Herzen lag.

Der Gedanke, die Natur phantastisch, doch ohne Verwandlung der Naturleben in Menschengestalten, wiederzugeben, beschäftigte mich damals in München, seit ich den ersten Versuch, die kleine Skizze „Auferstehung“, geschrieben hatte, unausgesetzt.

Eines Sonntags wohnte ich im Münchner Hoftheater einer Vorstellung des Byronschen „Manfred“ bei, und Ernst von Possart spielte den „Manfred.“ Von meinem Platz aus auf einem der Ränge konnte ich immer sehen, wie die Versenkung sich öffnete, und wie einer der Erdgeister oder einer der Feuergeister aus dem Bretterloch aufstieg. Das störte mich sehr. Wohl war die Sprache des Dichters schön, aber auf dem Heimweg vom Theater sagte ich mir, ich hätte das Stück lieber gelesen und hätte mir dann die Gestalten der Elemente mächtiger und unbegrenzter vorstellen können.

Es wirkte komisch, wenn da in grauen Kattunstoffe eingewickelte Menschen auf der Bühne herumliefen wie Gugelmänner, und wenn man sich vorstellen sollte, diese Vermummten sollen die verkörperten Elemente der Erde sein. So dürftig und so beschränkt war mir noch nie die Gestaltung der Elemente vorgekommen. Die Schuld lag nicht an der Bühne, nicht an der Darstellung, sondern am Dichter, der sich hätte hüten müssen in seinem Drama ungeheuere Elemente in der Form von Menschen auftreten zu lassen.

Mein neuzeitlicher aufgeklärter Natursinn sträubte sich fortwährend gegen die Annahme, daß verkleidete Menschen Elemente darstellen sollten. Ich ging unbefriedigt nach Hause, und ich sagte zu meinen Freunden: „Ich möchte ein Drama schreiben, in welchem die Elemente auftauchen wie die Bilder im Gehirn eines Menschen. In dem Drama möchte ich Gletscher, Meer, Wüste als unsichtbare Chöre singen lassen.“

Jedenfalls stieg mir an jenem Abend unklar die Idee auf, daß, wenn ein Drama ohne Menschen auch eine Ungeheuerlichkeit wäre, es doch keine Unmöglichkeit sein müßte. Heute weiß ich, daß das alles nur Vorbereitungsgedanken für meine künftige Lyrik waren, in welcher ich dann mit Vorliebe Liebes- und Landschaftsleben verschmolzen habe, ohne den Landschaftsdingen Menschengestalten zu geben.

Als die Universität Osterferien hatte, fuhr ich mit dem einen meiner Freunde, dem Schweigenden, ins Gebirge nach Tirol, und wir stiegen zum Achensee hinauf. Zu beiden Seiten des Weges lag noch hoher Schnee, besonders hoch beim See an den kalten Nordseiten der Berge.

Der Ausflug währte nur zwei Tage, aber ich erinnere mich noch deutlich, als wäre es gestern, einer Sekunde, die ich auf dem See erlebte, und die in mir blitzartig die Gestaltung eines Dramas ohne Menschen schaffen sollte.

Wir saßen am Spätnachmittag in einem Boot, mein Freund ruderte. Wir waren an einer Seeseite gewesen, wo streckenweise der Schnee auf großen Wiesenflächen geschmolzen war, und dort waren, in der heftigen Frühjahrssonne, Gruppen von rosa Alpenhyazinthen emporgeschossen, die da wild und üppig wucherten.

Wir hatten einen großen Strauß davon gepflückt, der lag neben mir auf der Bootsbank. Ich hielt das Steuer und lag halb über den Bootsrand gebeugt und starrte in die herrliche smaragdgrüne Tiefe des Bergsees und freute mich an dem feuerblauen Schatten, den unser Schiff und wir selbst über die Seefläche zeichneten. Mir schien, wir schwammen mit dem Boot über einen ungeheueren Kristallberg.

Stellenweise konnte man die schlangenartigen Figuren der Seegewächse goldig am Grund aufblinken sehen oder Felsblöcke, die wie Goldklumpen spukartig aus dem grünen Wassergrund heraufsahen. Und versunkene Baumstämme waren da unten, unheimlichen Tierkörpern ähnlich, mit grünen und blauen Gliedern, die schienen mehr unwirklich als wirklich zu sein.

Ich ließ von Zeit zu Zeit einen Blütenbüschel des rosa Hyazinthenstraußes, daran ich einen kleinen Stein gebunden, in die Seetiefe gleiten, und es erstaunte mich immer wieder, wie die rosa Blumen in einiger Tiefe blau und dann weißlich wurden und versanken, als fielen sie durch verschiedenfarbige Tinten.

Und ich stellte mir dann vor, wie meine Blumen nun da unten liegen mußten und sich nach der Sonne und nach den Wiesen oben sehnen würden, und daß der Seegrund sie nun nie mehr loslassen würde, und daß sie zu Stein werden mußten neben dem Stein, der sie hinuntergezogen hatte in die grüne Glaskammer des Sees.

Als ich müde war vom Hinunterschauen, sah ich drüben über dem Seeufer einige schneebedeckte Berge Tyrols, und wenn auch keine Gletscher zu sehen waren, so bildete ich mir doch ein, so starr weiß müßten Gletschergipfel unberührt den ewigen Schnee tragen wie jene verschneiten Berge.

In demselben Augenblick ging die Sonne unter, und die Schneegipfel färbten sich, als wüchsen auf ihnen vor meinen Augen Felder von rosa Alpenhyazinthen. Es war aber nur die Abendsonne, die die äußersten Erdzacken aufglühen ließ.

Und dieses feierliche Schauspiel, dem ich im Boot, schwebend über der Seetiefe, im lautlosen Abend zusah, das prägte sich so stark in mich ein, daß ich es dichtend nachgestalten wollte, so wie es gewesen.

Und nach München zurückgekommen, dachte ich mir aus, ich wollte ein Drama schreiben, in welchem kein Mensch auftreten sollte, wie ich das schon einmal gesagt habe. Nur einzelne Menschenstimmen und Menschenchöre und Musik hinter der Bühne sollten die Verwandlungen begleiten.

Und ich wollte zuerst hinter der Szene eine große Stimme singen lassen. Das sollte die Stimme der menschlichen Sehnsucht sein. Und unsichtbare Chöre des Weltalls sollten ihr antworten.

Und die Sehnsucht sollte hinuntertauchen in die Meerestiefe, in die Pflanzengärten dort unten, wo die Perlen in ihren Schalen singen und tausend Jahre reifen. Und das Bühnenbild sollte den farbigen Meergrund zeigen.

Und die Sehnsucht, keine Ruhe in der Meerestiefe findend, sollte dann zum Gletscher eilen, zum ewigen Schnee. Und auf der Bühne sollte das Eis der Gletscherfelder aufglühen in der Abendsonne, und Chöre der Stimmen des ewigen Schnees sollten antworten, so wie die Scharen der Perlen in der Meerestiefe der Sehnsucht geantwortet hatten.

Und die Sehnsucht sollte, auch dort keine Ruhe findend, vom Gletscher zur Wüste eilen und dem Sand und den Sandmeilen zusingen. Und der im heißen Wind aufwirbelnde Sand sollte in Chören der Sehnsucht antworten.

Und die Sehnsucht sollte endlich heimkehren, heimgetrieben, nachdem sie nicht Ruhe gefunden, nicht in der Tiefe des Meeres, nicht in der Höhe des ewigen Schnees, nicht in der Hitze der Wüste.

Dann sollte im Abend ein Frühlingsgarten voll Blüten als letztes Bild dastehen und ferne Geigen unter den Blüten singen. Chöre der Blüten und die Mondstimme in der Frühlingsnacht und die Chöre der Blumendüfte sollten singen, und die Sehnsuchtstimme des Menschen sollte ihr letztes Lied finden und sich sagen: da sie nirgends auf Ruhe traf und auch das Weltall ihr geantwortet habe, daß nirgends Ruhe sei, so wäre die einzige Weisheit die, das Leid aller und die Liebe aller mitzuerleben, mitzujubeln und mitzuleiden. —

Ich wollte mich nun für dieses Drama vorbereiten. Schneeberge hatte ich gesehen. Auch die Seetiefe des Achensees konnte mir eine Vorstellung geben vom Meeresgrund. Nur über die Wüste wußte ich noch nichts. Und ich verschaffte mir Bücher mit Wüstenbeschreibungen.

Aber sie gefielen mir nicht. Ich konnte keine Stimmung aus ihnen erhalten. Und da erinnerte ich mich, wie ich als Knabe oft im heißen Mainsand auf einer Insel im Fluß nach dem Bade gelegen hatte. Und dieses ferne erlebte Bild des trockenen Julisandes mit der senkrechten Sonne am Himmel, gab mir mehr Wüstenvorstellung, als das Lesen von wissenschaftlichen Wüstenreisen in Büchern es vermocht hätte.

Aber es sollte noch ein Jahr dauern, bis ich die Stimmen dieses Dramas in Versen schreiben konnte. Das geschah im Jahre 1894, als ich zum zweiten Male in einem einsamen Pfarrhof an der Westküste Schwedens mehrere Monate zubrachte. —

Ich hatte jetzt in München fast alle Wagnervorstellungen besucht, den Nibelungenring gehört und war auch einige Jahre vorher in Bayreuth gewesen, wo ich bei einem Abstecher von Würzburg aus den „Parsifal“ gehört hatte.

Wagners neue heftige Musik hatte mein junges erregbares Blut tief erschüttert. Aber Wagners Dramengestalten, die Götterfiguren in Menschengestalten, erschienen mir in der Darstellung auf der Bühne unmöglich und kindisch und nicht so überzeugend, wie es für unsere neuzeitlichen Vorstellungen nötig gewesen wäre, um in mir volle Andacht zu erwecken.

Ein dicker Tenor, der den Wotan spielte, oder eine üppige Sängerin, die die verklärte Gestalt der Freja oder die gewaltige Gestalt einer Walküre darstellen sollte, verärgerte meine Aufmerksamkeit jedesmal, so daß ich meistens die Augen im Theater schloß und nur den singenden Stimmen der Musik zuhörte und auf das Bühnenbild, das ich mir in der Phantasie viel schöner vorstellen konnte, gern verzichtete.

Ich war also aus innerem Antrieb und nicht aus Neuheitssucht auf den Gedanken gefallen, teils durch die Manfredvorstellung, teils durch die Wagnervorstellungen herausgefordert, einmal ein Drama zu schreiben, in welchem nur Chöre und Landschaftsbilder von der Bühne wirken sollten. Aber es sollte dieses durchaus nicht eine neue Dramengattung werden.

Ich wollte nur einmal eine Bühnenphantasie geben, die, ohne menschliche Figuren zu verwenden, erhebend wirken sollte. Ich hatte in der Wagnerschen „Walküre“ in München auch gesehen, wie mit Dampf und bengalischen Flammen eine künstliche Branddarstellung erzeugt wurde, und ich stellte mir vor, daß die Landschaftsbilder meines Dramas, der Meeresgrund, der Gletscher und die Wüste nicht nur einfach nüchtern auf der Bühne dargestellt werden durften, sondern sie müßten, wie von Wolken getragen, erscheinen, auftauchen und in Wolken verschwinden wie Gedankenbilder im Gehirn eines Menschen. Und um dieses zu ermöglichen, sollte Dampf aus den Versenkungen aufsteigen und sollten so auf der Bühne Wolken erzeugt werden.

So wie in einem menschlichen Gehirn die Vorstellungsbilder bald klarer, bald unklarer wie aus Wolken aufzutauchen scheinen und dabei Stimmen der Gedanken sprechen oder singen, so sollten die Bühnenbilder in diesem Operndrama „Sehnsucht“ sein. Und ich hatte die jedenfalls etwas waghalsige Kühnheit, an die Spitze meines Dramas, als ich es schrieb, die Worte zu stellen: „Die Bühne stellt das Gehirn eines Menschen dar.“

Die eilige Kritik, welche heutzutage den Dichtern ihren Wert schnell zu- oder abspricht und sie bei Lebzeiten schon untereinander in Rangordnungen dem deutschen Volke vorführt, und die nicht Rücksicht nimmt, ob der Dichter jung ist und sich entwickelt, sondern die ihn mit fünfundzwanzig Jahren vielleicht sogar an toten Dichtern mißt, welche achtzig Jahre geworden sind — diese hastige Kritik, die in dieser erstaunlich voreiligen Weise an den lebenden und sich entwickelnden jungen Dichtern oft schweres Unrecht begeht, konnte mir dann zwanzig Jahre hindurch diesen Jugendausspruch nicht verzeihen: „Die Bühne stellt das Gehirn eines Menschen dar“. Und man frischte diesen Satz in unzähligen Kritiken über mich jedes Jahr wieder auf.

Meine zukünftige Welt, die ich in mir täglich weiterbildete — und deren erste Anfänge mir heute noch ebenso heilig sind wie damals, weil sie ehrlich und echt gemeint waren und nicht aus Verblüffungssucht entstanden — hat man verhöhnt und verlacht, und man hat nie einen Augenblick daran denken können, daß alles, was ich damals schrieb, begründet war von dem Drang, eine neue Weltanschauung in der Dichtung zur Geltung zu bringen. Alle diese jungen Versuche aber zielten auf die Schöpfung einer mir eigenen Lyrik hin, die ich doch erst später geben konnte.

Den Dichter kann man nicht anspornen zum Blühen und ihn nicht hindern, wenn seine Dichtung blüht. Man kann nur die natürliche Verbindung zwischen Leserkreis und Dichter zeitweilig schädigen.


Mein Freund, der junge Philosoph — der in München in jener Zeit neben seinem Studium bereits mit der ersten Niederschrift über die Atomkraftlehre eifrig beschäftigt war — schlug mir im Frühjahr 1892 vor, die Pfingstreise, die er zu seiner Erholung hätte unternehmen sollen, und wozu ihm seine Mutter Reisegeld geschickt hatte, an seiner Stelle zu machen. Was ich mit Dank gerne annahm, und um die Pfingstzeit nach Venedig reiste.

Von dieser Reise sind mir zwei kleine Begebenheiten in Erinnerung.

Ich war am Abend von München abgereist, und als ich morgens im Bahnzug über den Brenner kam, begann ich, bereits von der Station Franzensfeste ab, unausgesetzt den Himmel zu prüfen, gespannt aufschauend, ob derselbe bald italienische Bläue zeigen würde. So saß ich in grauem Morgendämmern, bis wir zur Grenze nach Ala kamen, stundenlang das Gesicht nach oben gerichtet. Obgleich mein Nacken mich schmerzte und ich den Kopf kaum noch zurückbiegen konnte, so war doch die Begierde, den italienischen Himmel zu sehen, stärker als die Unbequemlichkeit.

Aber leider stellte sich die Bläue des Himmels nicht so mächtig ein, wie ich sie von allen italienischen Bildern in Erinnerung trug. Doch weit entfernt enttäuscht zu sein, freute ich mich, daß ich mich nicht blind vom Reisefieber fortreißen ließ und mich nicht selbst belog. Und ich war stolz darauf, daß ich trotz aller Reisebegeisterung feststellen konnte, daß der italienische Himmel, wenigstens auf der Fahrt bis Venedig, nicht blauer war als zwischen Würzburg und München.

Diese Erkenntnis, die zwar für einen jungen Italienreisenden etwas Schmerzliches hatte, befriedigte mich aber, weil ich mir sagte: ein neuzeitlicher Schriftsteller muß die Dinge sehen, wie sie sind, und er darf nicht bloß die gehörte Fabel der Dinge sehen, die die andern gefabelt haben.

Ich erzähle dies nur als kleinen kennzeichnenden Zug der Schulung zur Wirklichkeitsbeobachtung, von der ich und meine Zeit damals fanatisch durchdrungen und besessen waren.

Das glitzernde Venedig, das bunt wie eine indische Stadt an den Spiegeln der Kanäle und an dem Spiegel eines sonnigen Frühlingshimmels lag, stimmte mich sehr glücklich.

Diese wirkliche und unwirkliche Stadt, deren Paläste wasserentstiegen, wie aus Meerschaum und Perlmutter gebaut, irisfarben beim Widerschein der leichten Wellen beleuchtet sind, beseligte mich. Ich fühlte mich, vom Norden wie aus einer grauen Wüste gekommen, als hätte ich eine sonst unerreichbare Fatamorgana erreicht.

Ein körpergewordenes Meeresspiegelbild erschien mir Venedig mit seinem blendenden, marmorgepflasterten weißen Markusplatz und mit den silbrigen indischen Kuppeln der Markuskirche und mit den Schaufensterreihen voll mit Juwelen und glitzernden Glaswaren unter den Bogengängen des Platzes.

Am Abend vor dem Himmelfahrtstage, als alle Glocken läuteten, trat ich in einer Seitenstraße in eine Kirche ein. Darinnen jubelte eine klingende Musik, wie ich sie vorher nur in Operetten gehört hatte. Scharen von jungen Mädchen und Frauen des Volkes, mit Spitzentüchern über den schön frisierten Köpfen, saßen dort bis dicht an die Altarstufen auf Stühlen. Und der Priester und die Chorknaben bei Blumen, Lichtern und dem weihrauchreichen Altar bewegten sich lebhaft und fröhlich, als wäre die Messe, die sie lasen, eine Volksvorstellung.

Ich sah in der ersten Sitzreihe Frauen bequem und gemütlich ihre kleinen Füße — die in seidenen Stöckelschuhen steckten, als wären sie zu einem Ball gekommen — auf die obersten Altarstufen aufstellen. Und ich bemerkte eine, die mit ihren übereinandergelegten Fußspitzen den messelesenden jungen Priester, der den Rücken gegen die Menge wendete, mit der Fußspitze leicht an seinen Fersen streichelte. Sie zeigte keck, daß sie den jungen Mann liebte und ihm ihre zärtlichen Gefühle mitteilen wollte. Sie hielt den Fächer halb vor das Gesicht, und ihre schwarzen Augen blinzelten schelmisch über den Fächerrand zum Kopf des Priesters hin.

Wahrscheinlich wartete sie auf den Augenblick, da der junge Geistliche, um die Menge zu segnen, sich umwenden mußte.

Auf den Kirchenemporen jubelten Sängerchöre, helle und dunkle Stimmen durcheinander. Und es herrschte ein freies und ungebundenes Leben in dieser Abendkirche, deren Türen weit offen standen und die Stimmen der Frucht- und Eisverkäufer und das Glockengewoge von der Straße hereinließen.

Das junge Mädchen, das zum Priester die Fußspitzen hinstreckte, die klingelnde Operettenmusik und alle auf ihren Stühlen schaukelnden und singenden Besucher der Kirche — diese Frühlingsabendstimmung in einer Kirche habe ich zwanzig Jahre nicht vergessen können. Ich hatte nie vorher Ähnliches erlebt und habe es nie nachher wieder erlebt.

Hier hatte zum erstenmal die Andacht etwas natürlich Frühlingsfestliches. Dabei muß ich gestehen, daß die Festlichkeit auch ein wenig überreizt an Gedankenlosigkeit und Leichtsinn streifte. —

Ich war aber der südlichen Süßlichkeit der Farben und Formen Venedigs nach acht Tagen schon satt. Es wurde meinem deutschen Herzen zuletzt vor den ewigen lila und rosigen Perlmutterfarben beinahe übel, als hätte man mich gezwungen, acht Tage nur von Zuckerwerk zu leben. Und ich sehnte mich von der großen schwülen Perlenmuschel im Meeresbilde fort nach dem Festland und nach erquickender grüner Landschaft. Ich sehnte mich fort von dem ewigen venetianischen Sonntagsgefühl, fort von dem auf lautlosen Wasserstraßen gleitenden Verkehr, von den Straßen, in denen keine Wagen dröhnen, keine Hunde bellen, in denen immer stilles und glattes Wasser steht, als wären das polierte Sonntagsstraßen ohne Verkehr.

Ich war jung und sehnte mich nach Getriebe und nach der Abnützung meiner Kräfte, die hier nur gewiegt wurden in Gondeln und auf sonnenwarmem Wasserspiegel. —

Nach München zurückgekommen und die farbigen venetianischen Eindrücke noch im Gedächtnis, freute ich mich, nach der Eröffnung des Glaspalastes täglich nun die Ausstellung besuchen zu können und die ersten Bilder der Sezession zu sehen.

Da ich sehr wenig Menschenverkehr suchte und mich immer mit Plänen und Gedanken trug, die ich abends auf den Spaziergängen mit meinen zwei Freunden besprach, so prägten sich bald die auf der Ausstellung gesehenen neuen Bilder der neuen Freilichtschule so stark in mein Gedächtnis, daß ich sie stündlich wie neue Kameraden empfand. Und ich setzte mich an meinen Schreibtisch und versuchte, um mich im Beschreiben zu üben, einige der Bilder der Sezession in knappen dichterischen Worten wiederzugeben.

Da waren Bilder von Ludwig von Hoffmann, von Exter und von Segantini und von einigen anderen, die ich ausgewählt hatte. Diese Bilderbeschreibungen waren die ersten Anfänge zu der kleinen Prosagedichtsammlung „Ultraviolett“, deren weiteren Inhalt ich hauptsächlich in einem Pfarrhaus in Schweden fertig schrieb, das in einsamen Granitwüsten wie am Ende der Welt versteckt lag, und wo ich im folgenden Frühjahr weilte.

Den Winter 1892–1893 verbrachte ich in Berlin, und hier trat ich zum erstenmal mit Dichtern und Denkern der Neuzeit in engere Fühlung.

Mein Roman „Josa Gerth“, mein erstes Buch, war zu Winteranfang bei Pierson in Dresden erschienen, und mit dem Bewußtsein, mein erstes Buch der Öffentlichkeit gegeben zu haben, fühlte ich mich mutiger und getraute mich, den Kreis gleichgesinnter Zeitgenossen aufzusuchen.

Auf der ersten Seite dieses meines ersten Buches stehen die Worte: dieses Buch gewidmet einem Toten. Dem toten Dichter und meinem Dichtermeister, dem Dänen J. P. Jacobsen — dessen Schreibart ich mir zuerst zum Vorbild genommen hatte, um mich vom deutschen Aufsatzstil frei zu machen — hatte ich meinen Erstling gewidmet, zufrieden, daß nur ich allein es wußte, welcher Tote mit der Widmung gemeint war.

Auch die Person jenes Dichters in der Gestalt eines Doktor Wiking, eines Naturwissenschaftlers und Botanikers, war in den Roman verwebt. Nach Jacobsens Photographie, die ich mir aus Kopenhagen hatte kommen lassen, hatte ich meiner Romangestalt möglichst die Ähnlichkeit meines dänischen Prosameisters zu geben versucht.

Die Handschrift dieses Buches hatte ich noch in Würzburg im Herbst 1891 beendet, kurz, ehe ich zu Weihnachten beinahe gewaltsam von meinem Vaterhaus geschieden war. — Diese Trennung habe ich bereits im „Geist meines Vaters“ ausführlich beschrieben.

Nach dem Erscheinen meines ersten Romanes hatte mein Vater mein Monatsgeld etwas erhöht, so daß ich in weniger großer Bedrängnis, aber immer noch knapp gehalten, in Berlin leben konnte. Aber es wurde mir zugleich angedroht, daß ich nur bis zu den nächsten Ostern väterliche Hilfe erhalten würde und dann auf eigenen Füßen stehen müßte.

Einstweilen aber lag Ostern noch für mich hinter tausend Jahren, und ich versuchte, so wenig wie möglich an das Ende der Gnadenfrist meiner Freiheit zu denken.

In Berlin besuchte ich zuerst den schwedischen Schriftsteller Ola Hanson. Ich hatte im Herbst in München das Buch „Sensitiva Amorosa“ von Ola Hanson gelesen. Feingezeichnete Menschenschatten bewegten sich darin auf dem Hintergrund starker, gütig beobachteter Landschaften, Abrisse von Lebensschicksalen stumm vorüberwandelnder Gestalten. Die eine Gestalt kam lebenssuchend auf einem Feldweg bei einem Gut in Schonen daher; die andere saß auf einer Bank am Meer und sah lebensbetroffen über den Sund; und andere traten auf in der schicksalsreichen, stimmungsvollen Östergade Kopenhagens.

So ungefähr erinnere ich mich dieses Buches noch heute. Und die bedeutsame Art des Schweden Ola Hansons, mit der er schwere Menschenschicksale zart und verständnisvoll behandelte, erinnerte mich an Jacobsens Art. Und als ich hörte, daß Hanson, mit der Schriftstellerin Laura Marholm verheiratet, in jenem Jahr 1892 in Friedrichshagen bei Berlin wohne, freute ich mich, ihn aufzusuchen.

Denn alles Nordische übte eine starke Anziehung auf mich aus. Jene fast menschenleeren Länder, die ich mir dort oben vorstellte, schienen eine reinere und keuschere Luft zu haben, einen stärkeren rücksichtsloseren Geist, verbunden mit schärferer Selbsterkenntnis. Und die kleinen Völker dort oben, außerhalb unserer Kulturgrenzen stehend, lockten mich damals mehr als das von verweichlichten üppigen Kulturen schlaffe, sinnensüße Südeuropa.

Kunstformen und künstlerische Gedanken, die aus Italien kamen, waren mir alle zu sehr beeinflußt von dem christlichen Zeitalter. Der Dichter Dante ist mir immer mit seinem Himmel- und Höllenwahn der Göttlichen Komödie mehr schulmeisterlich als dichterisch erschienen. Es kam mir häßlich vor, daß er sich in seinem großen Gedicht zum Richter seiner Zeitgenossen aufgestellt hatte.

Wie mit der Rute in der einen Hand und einem Lobzettel in der anderen Hand, so schien mir Dante in der Göttlichen Komödie mehr fanatisch beschränkt zu sein als hoheitsvoll milde verstehend. Und ich zog den Schluß: die alte Kirchenkultur Italiens, so scheint es mir, ist zu jeder weiteren künstlerischen Entwicklung unfähig und ist unfruchtbar.

Im Norden dagegen lebten unverbrauchte Völker mit unverbrauchten Geisteskräften. Und jedes neue Buch, das vom Norden über die deutsche Grenze kam, hatte damals den Atem einer belebenden Meerbrise und schien von Länderstrecken zu kommen, wo die Menschen, die von Jugend an einer rauhen Wirklichkeit gegenüberstanden, stark geworden waren auf noch jungfräulicher Erde, der sie reinste Ehrlichkeit zeigen mußten.

Ich sah im Geiste dort in skandinavischen Meernebeln Fischerdörfer und Einzelgehöfte an weltentrückten Küsten, und wenn ich ans Reisen dachte, sehnte ich mich, jene weltabgeschiedenen Stätten aufzusuchen.

Und mein Schicksal kam auch auffallenderweise diesem meinem innersten Wunsche entgegen. Ich tat nur einen Schritt in dieser Wunschrichtung, und das war der, daß ich, in Berlin angekommen, den Schriftsteller Ola Hanson besuchte. Alles weitere fädelte dann mein Schicksal von selbst ein, und ich kam plötzlich nach dem Norden, wo ich die nächsten Jahre meines Lebens mit kleinen Unterbrechungen verbrachte, und wo ich dann auch später ein Mädchen fand, das meine Frau wurde. —

Die deutschen jungen Mädchen zerfielen damals für mich in zwei Gattungen. Die einen waren noch nach altmodischer, beschränkter, gedankenenger Weise erzogen und waren wie abgerichtete Wesen, denen Geistesfreuden — außer den Grenzen christlicher Auffassung und der Familienkunstbegriffe — unbekannt waren. Ihr Benehmen war jungen Männern gegenüber wohl jugendlich und körperlich lieblich, aber geistig stumpfsinnig. Sie waren versunken in einer Empfindsamkeit, die geistige Festlichkeit vorstellen sollte. Mit all ihrer Bildung machten sie darum auf einen geistig anspruchsvolleren Mann einen völlig ungebildeten Eindruck. Ich spreche hier natürlich von der großen Masse. Vereinzelte geistig wacherzogene Mädchen mag es immer in Deutschland gegeben haben, aber ich bin ihnen damals nicht begegnet.

Die andere Gattung waren die sich in jener Zeit vom Familienzwang befreienden Frauen, jene, die in blinder Nachahmung männlichen Auftretens in der ersten Sturm- und Drangzeit der neuen Frauenbewegung abstoßend wirkten. Sie trugen mit Vorliebe die Haare kurz geschnitten, dazu steife Herrenstehkragen und Krawatte, und wollten die Reize des weiblichen Körpers möglichst übersehen wissen. Sie taten sich etwas zugute auf ungelenke Bewegungen, sie trugen Zwicker, Manschetten, und sie wählten ihre Kleider schmucklos, alle Zartheit und Zierlichkeit mit Absicht vermeidend.

Heutzutage sind diese beiden Frauenarten glücklicherweise zu einer neuen Frauengattung verschmolzen. Man kann von einer neuen Frau sprechen. Denn die Geistesfrische und eine gewisse natürliche Geistesfreiheit, die die Frau fernhält von unnatürlicher Familienverblödung, ist jetzt im ganzen Lande allgemein geworden. Damals, vor zwanzig Jahren aber hatten beinahe nur die nordischen Länder die geistige Neugestaltung der Frau aufzuweisen.

Diese Frauenverschiedenheit zwischen Nordeuropa und Südeuropa erkannte ich aber natürlich nicht früher, als bis ich nach dem Norden kam. Dort wurde mir der Unterschied schnell bewußt. Fast alle jungen Mädchen waren dort damals schon in ihrem Auftreten von natürlicher geistiger Frische.

Die Haushaltungsarbeit schloß nicht das tiefere Wissen und die geistige Aufklärung aus, und ebenso hielten die nordischen Frauen, die sich ähnliche geistige Kenntnisse wie der Mann angeeignet hatten, auch nicht die kleinsten Haushaltungsarbeiten für unwert.

Die Mädchen in Schweden waren von ihren Müttern und Vätern und von den frischen und harten Lebensbedingungen, bei denen die Menschen dort, trotz der Rauheit des Landes, fröhlich und festlich aufwachsen, so freigeistig erzogen, daß sie liebende Frauen, geistige Kameraden und tüchtige Familienmütter im Hause eines verständigen Mannes werden konnten.

Die meisten jungen nordischen Mädchen hatten durch ihre geistige und körperliche Erziehung einen europäischen, vorurteilslosen Weltblick erhalten. Sie waren auch glühende Vaterlandsverehrerinnen, treue Pflegerinnen alter heimatlicher Gebräuche und verständige Beobachterinnen ihrer Heimatnatur und ihrer Heimatlandschaften. Da die meisten von ihnen von Kindheit an beinahe die Hälfte des Jahres in freier Luft, bei Seen und Wäldern, an Küsten und auf Inseln verbracht hatten, waren sie körperlich und seelisch frisch und gesund.

Die Urlaute der Natur waren den Damen der Stadt so bekannt wie den Bauern des Landes. Die nordischen Damen zeigten sich nicht bloß auf städtischen Promenaden, sondern waren gewohnt, zu wandern, zu segeln und mit den Pflanzen und Tieren wie die Bauern zu plaudern, während die langen Winternächte den Büchern und dem Familienleben in der Stadt gewidmet waren.

So wurde ich angenehm überrascht, ernsteren und geistig klareren und körperlich gesunderen Frauen und Männern in Schweden zu begegnen als in irgendeinem südlicheren Lande. Auch hatten die meisten weite Auslandsreisen gemacht. Viele der jungen Mädchen hatten mit Freundinnen Paris, London, Italien, Deutschland besucht.

Sie hatten schon mit zwanzig Jahren ein Stück Welt und fremde Menschen zu beobachten Gelegenheit gehabt. Aber sie prahlten nicht mit ihren Kenntnissen. Sie waren ein wenig verschlossener als unsere Frauen, und man mußte ihnen Urteile und Gedankenaussprüche entlocken.

Aber dann, wenn diese Frauen die Lippen öffneten und einen Satz sagten, sprachen sie nicht Gelesenes aus Büchern nach, sondern gaben ein unumwundenes frisches Urteil. Das klang manches Mal fast rücksichtslos, war aber im Grunde nur unbeholfen, ehrlich und äußerst schlicht und ernst gemeint.

Dieses war in großen Zügen das Wesen der Nordländerinnen, die ich in kleinen und großen Städten, auf Pfarrhöfen und Bauernhöfen in manchen Jahren kennen lernte.

Aber bis ich das Mädchen dort fand, dem sich mein Herz zukehrte, vergingen noch zwei Wanderjahre.


In Berlin war in den ersten Jahren der neunziger Jahre eine große nordische Bewegung im Gang. Ibsen belebte die Theater. Björnson wurde uns näher bekannt. Strindberg war nach Deutschland gekommen. Außerdem machten die Bilder des jungen norwegischen Malers Munch einen verblüffenden Eindruck auf die Berliner Akademie.

Ein Akademieprofessor hatte auf einer norwegischen Reise von den Arbeiten Munchs in Christiania gehört und den jungen Künstler aufgefordert, in der Berliner Akademie eine Ausstellung zu veranstalten.

Als aber Munch seine Bilder im darauffolgenden Herbst sandte und die Sendung in der Akademie ausgepackt werden sollte, wurden die anderen Akademieprofessoren, die bei der Öffnung der Kisten anwesend waren, dermaßen erschrocken über die neue Malart des Norwegers, daß sie nicht einmal die Bilder auspacken lassen wollten, den Saal zur Ausstellung verweigerten und so dem Gaste, den sie eingeladen, schmählich die angebotene Gastfreundschaft kündigten.

Der Norweger aber wußte sich zu helfen und wußte sich zu rächen. Er mietete Ecke der Leipziger- und Friedrichstraße, also an der damals verkehrsreichsten Stelle der Hauptstadt, einen in dem ersten Stockwerk eines Prachtgebäudes leerstehenden großen Ladenraum, ließ seine Bilderkisten dorthinbringen und stellte die ganze Sendung auf eigene Faust dort aus. Natürlich wollte Berlin den Maler sehen, den die Berliner Akademie ein- und ausgeladen hatte.

Die berliner Zeitungen brachten lange Spalten für und gegen Munchs neue nordische Malerei, die alle Überlieferungen übersprungen hatte, die nicht mehr gewollte Schönheit sah und nicht nach der Farbenskala vorgeschriebener Farbentöne malte, sondern die die Welt in Linien und Farben wiedergab, wahr und unverdreht und doch dem inneren phantastischen Eindrucksbilde getreu, von dem das Herz des Künstlers erschüttert worden war.

Aber trotz dieser Ausstellung blieb Eduard Munch noch lange in Europa unverstanden, und ich habe später oft in Paris bei den Jahresausstellungen der „Independants“ beobachtet, daß das Bürgerpublikum dort, so wie in Deutschland, mit einem Ausruf des Schreckens vor den Munchschen Bildern stehen blieb und dann mit einem Lachen sich abwendete.

So mochte man vor hundert Jahren die ersten Bilder der Chinesen und Japaner bei uns aufgenommen haben, die man erst später genießen lernte!

Als ich in Berlin in Munchs erste Ausstellung trat, mußte ich mich auch vor den neuen Bildern in der neuen Malart erst zurechtfinden. Ich sagte mir aber, wenn ich nicht sogleich das ganze Bild sehen kann und es erst, ich möchte sagen, entziffern muß, so war daran nicht Munch, nicht der Maler schuld, sondern mein, den neuen Eindrücken nicht gewachsenes Auge, das in alten Überlieferungen eingeschult war und noch nicht mit der Ehrlichkeit des begeisterten neuen Malerauges mitgehen konnte.

Aber ich fühlte den innerlichen Ernst des Malers, seine Kraft und die Ehrlichkeit der Naturwiedergabe aus jedem Bilde. Munchs Bilder wirkten zuerst ähnlich wie die ersten Augenblicksbilder der Photographie gewirkt hatten, als man zum erstenmal springende Pferde nicht in der Auffassung gewohnter Reiterstatuen im Bilde sah, sondern in den mächtigen Verkürzungen und den fortstürzenden Verkrümmungen, die das Auge im hundertsten Teil einer Sekunde wohl miterlebt hatte, aber deren Eindruck nicht zum festen Bewußtsein gekommen war.

So auch brachte Munch neue Farben und Formen und Empfindungseindrücke zum Bewußtsein und bereicherte den Beschauer seiner Bilder, wenn dieser vertrauensvoll sein Auge der neuen Malart hingab.

Wenn einer aber ungeduldig war und hartnäckig an seinen eigenen altgewohnten Sehbegriffen festhielt, dem erschien jedes Gemälde Munchs so wie chinesische und japanische Bilder, die gleichfalls uns Europäern neue Begriffe, neues Anschauen der Natur und der Menschen in feinster und tiefster Weise eröffnen, aber lange für Wirrwarr, linienverrenkt, farben- und formenunmöglich angesehen wurden. —

Die selbstzufriedenen, unkünstlerischen und lebensunwilligen Menschen, die, in der Torheit eines beschränkten Ichs befangen, die Weiterentwicklung des Lebensfestes nicht mitfeiern können, sind Schädlinge, die den Stillstand ihrer alten erworbenen Begriffe wie einen zu kurzen Maßstab der Weiterentwicklung aller Künste entgegenhalten.

Diesen Menschen begegnen die Dichter ebenso oft wie die Maler und Musiker, und diese zu kurz Empfindenden sind es, die dem Künstler die großen Dornenhindernisse bauen, Dornenhecken, die sie bis in den Himmel seiner Begeisterung wachsen lassen, und an denen er sich oft genug wund und blutig reißen muß auf seinem festlichen Lebensweg.

Diese Stillstandmenschen sind die letzten an der großen Tafel des Lebensfestes, sind die, die beschränkterweise allem neuen Lebensfestlichen mißtrauen, die schelten und unverständlich schielen auf die anderen Festlichen.

Doch können sie nicht die unendliche Schöpferlust hindern, und lange, nachdem die andern schon zu neuen Freuden übergehen, bleibt jenen Störern doch nichts anderes übrig, als dem Fortgang des Festes nachzuhinken, da die Lust am Leben sie dazu zwingt und endlich ihre Trägheitswiderstände überwindet. —

Diese Munchsche Ausstellung stellte mir die nordische Landschaft, ungeschmeichelt und in ihrer einsamen und rohen Pracht, zum erstenmal vor Augen. Auf vom Meer rundgewaschenen Klippensteinen begegnete ich auf den verschiedenen Bildern einer und derselben Mädchengestalt, die einem weißen Runenstein ähnlich dastand und über die kahlen Steinfelder fortsah. Sie kam dann auf einem anderen Bild wieder und stand im Abend im Tang beim Meerwasser, und in der Ferne, wie ein grauer Stein aufgerichtet, sah ihr immer ein junger Mann zu.

Diese Eindrücke von nordischen einsamen Menschengestalten erweckten in mir eine heftige Sehnsucht nach den Küsten jener urgermanischen Leute, bei denen nachdenkliches deutsches Wesen noch ursprünglicher zu leben schien als bei uns.

Ich war im engen Franken zwischen Weinbergen, in einer Landschaft abgezirkelter Felderflecken aufgewachsen und hatte mein Lebenlang nur Wälder gesehen, in denen jeder Baum im Forstbuch wie ein Haustier aufgezählt und eingetragen war. Das waren nicht mehr die ursprünglichen machtvollen Naturwälder; es waren gezüchtete Baumherden, bei denen der Förster und sein Hund, ähnlich dem Hirten und dem Hirtenhund, Aufsicht und Ordnung zu halten hatten.

Die Heimatwälder waren nicht mehr Naturgewalten; sie waren staatliche Holzgeschäfte geworden. Und die Zeiten, da man von ihrer Undurchdringlichkeit sprach und man sich eine Abenteuerfülle in die Wälder hineinträumen konnte, waren bei uns längst vorüber. Die Bürger hatten zwar versucht, sich durch Butzenscheibenromantik das alte Abenteuerdeutschland wieder vorzuspiegeln. Aber die altdeutschen Wälder, die altdeutsche Landschaft, die konnten sie sich nicht mehr aus der Vergangenheit zurückrufen.

Nach einem jahrelangen Schul-, Familien- und Kulturzwang sehnte ich mich nach kräftigster urweltlicher Ursprünglichkeit, und die fehlte in dem kulturreichen Franken auf allen Wegen.

Prächtig verlockend aber sahen mich die nordischen Steinmassen und das nordische Tangmeer in der Munchschen Ausstellung an, und ich beneidete die Figuren, die da in den Munchschen Bildern herumgingen, die ihre träumende Stirn weiten, stillen, urweltlichen Länderstrecken hinhalten durften, Landschaften, die beleuchtet waren von unergründlich hellen, gedankenreichen Sommernächten.

Es erschien auch auf jenen Munchschen Bildern oft ein Haus, immer wieder dasselbe Haus, das kahl, unschön, nüchtern, in einem Garten lag, dessen Baumwelt den verzerrten Tangpflanzen glich. Stürme hatten den Bäumen erschrockene und ringende Arme gegeben.

Auf einem Bild stand das Haus mit einer Reihe beleuchteter Fenster und vom Mondlicht grell getüncht auf einem freien Platz im Garten, wild beleuchtet, als würde es von den Bäumen und von Sturmstimmen hell angeschrien. Und im Garten stand das weißgekleidete Mädchen wieder, schmal und weiß wie eine dünne Blumenzwiebel, wie die Luftwurzel einer Orchidee über dem Gartenweg schwebend. Und neben dem Mädchen, einige Schritte entfernt, war da eine Reihe anderer Mädchengestalten, die der Sturmwind, der ihnen die Kleider an die schmalen Glieder preßte, unwirklich schlank machte.

Die Figuren waren in dem großen Garten so klein, daß ihre Gesichter im Gemälde nicht mehr als ein Farbenfleckchen bedeuteten. Aber man sah doch die Empfindung dieser Gesichter deutlich. Wie eine Reihe Irrlichtflammen strebten sie vorwärts, dem Sturm, der durch den Garten jagte, entgegen. Es war, als hörten sie alle zusammen in der großen Sturmstimme eine gemeinsame Sehnsucht reden.

Und die Gartenwirrnis mit den ungeschlachtnen Bäumen glich den Maschen eines Netzes, in denen die Mädchengestalten wie kleine gefangene Fische hingen. Das grelle Haus aber über dem Gartenplatz war wie ein Spuk, vor dem die Mädchen flohen und immer noch weiter entfliehen wollten. Sie wußten noch nicht, daß ein einziges Netz von Sehnsucht sie alle gefangen hielt. —

Nachdem ich diese Munchschen Landschaften lebhaft erlebt hatte, wurde der Gedanke, den schwedischen Schriftsteller Ola Hanson zu besuchen und vielleicht mein Schicksal mit den in fernen Nebeln versunkenen Küsten des Nordens verbinden zu lassen, immer kräftiger in mir.

Und als ich einige Monate später — nachdem ich oft als Gast im Hause Ola Hansons aus- und eingegangen war — mit einem jungen schwedischen Schriftsteller bekannt wurde, kam mir nichts erwünschter als die Aufforderung desselben, mit ihm sein Vaterhaus an der schwedischen Westküste zu besuchen.

Jenes jungen Schweden Vater war Oberprediger, und ich konnte bei seiner Mutter im Pfarrhause Pension erhalten, da sie im Sommer immer Pensionäre, meist aus der Stadt Gothenburg, bei sich habe.

Ehe sich aber für mich diese Gelegenheit fand, zum erstenmal nach den nordischen Ländern zu kommen, hatte ich vorher in Berlin einige geistige Erlebnisse, die von wichtigem Einfluß auf meine Weiterentwicklung waren.

Diese Ereignisse waren das Zusammentreffen mit zwei bedeutenden Zeitgenossen, mit dem Dichter Richard Dehmel und dem Dichter Stefan George.

Als ich im Herbst 1892 nach Berlin gekommen war, hatte ich noch keine Ahnung vom Erdendasein dieser beiden jungen Dichter. Das war auch nicht gut möglich, denn ihre Namen fingen eben erst an, in die Öffentlichkeit zu treten, und noch nicht einmal an die breitere Öffentlichkeit; sie wurden damals erst in den Kreisen der jüngsten Schriftsteller genannt.

Ich, der ich damals schon keine Gedichte mehr schreiben wollte, aus den früher genannten Gründen, und mich ganz der Entwicklung eines neuen Prosastiles gewidmet hatte, las auch in der neuen Zeitschrift „Die freie Bühne“, die damals in Berlin erschien, nur selten Gedichte. Und da ich noch nicht mit Literaten verkehrt hatte, waren mir Dichter, die Gedichte schrieben, kaum dem Namen nach bekannt. Ich kannte nur aus jener Zeitschrift neue Dramatiker und Romanschriftsteller.

Ola Hanson hatte mich in Berlin an den polnischen Schriftsteller Przybyszewski empfohlen, und dieser sagte mir eines Tages, er habe meinen Roman „Josa Gerth“, der eben erst erschienen war, Richard Dehmel zum Lesen gegeben. Ich hörte zum erstenmal den Namen, den er für sich so bekannt aussprach, als wenn er mir eine Stadt in Europa genannt hätte, die irgendwo auf der Landkarte stand, von der ich aber nichts wußte.

Bald darauf besuchte mich eines Tages in meiner Studentenwohnung ein Herr, den meine Hausfrau in ihre gute Stube führte. Ich hatte den Namen des Besuchers nicht verstanden, und ich saß mit dem Fremden vor einem großen Tisch in der eiskalten guten Stube, in der ich selbst noch nie gewesen war, und wo ich mich auch als Besuch fühlte. Die Haltung des Fremden war sinnend und gedankenvoll, so daß mir jedes Wort im Halse stecken blieb.

Der fremde Besucher hatte einen großen dunkelblauen Kragenmantel an — wie sie damals getragen wurden —, in dem er wie in einer Tarnkappe verborgen saß. Sein Gesicht schien mir sorgenvoll, und es war sehr durchfurcht. Und was der Fremde sagte, verstand ich nicht, denn er murmelte etwas Leises vor sich hin. Und er verstand wieder nicht, was ich gesagt hatte, denn meine Art war es ebenfalls, leise zu sein und leise zu sprechen — was meinen Vater und meine Umgebung oft zur Verzweiflung gebracht hatte.

Wohl nahm ich mir ganz schüchtern heraus, nochmals nach seinem Namen zu fragen, aber ob der Besuch meine Frage verstanden hatte, das erfuhr ich nicht, denn er antwortete wieder etwas Leises, als antworte er seinen innersten Gedanken.

Etwas lauter, und dieses Mal wahrscheinlich an mich gerichtet, mit einem leichten Blick in mein Gesicht, sagte mir dann der unergründliche Mensch, er habe mein Buch gelesen. Damit konnte ich aber nichts anfangen, denn er sagte nicht, ob es ihm gefallen hätte. Er murmelte etwas von „erstaunlicher Ausdrucksweise“ und von sehr „farbig“.

Daraufhin versanken wir wieder, jeder in seine Stille. Es wurde, als gingen wir lautlos nebeneinander durch ein weites weißes totstilles Schneeland, ohne Weg und nicht wissend, woher und wohin.

Dieses Nebeneinanderherdenken war eigentlich ganz nach meinem eigenen Wesen und Geschmack. Erlebt hatte ich das aber noch nicht bei einem Fremden. Der Zeitbegriff hörte beinahe auf, und es war die Stille um uns, von der es in der Bibel heißt: Tausend Jahre sind wie ein Tag.

Dann erhob mein Besuch das furchenreiche Gesicht, das er meistens gegen die Tischplatte gesenkt gehalten hatte. Er sagte, er hoffe, daß ich ihn auch einmal besuchen würde. Und er nannte eine Straße und seine Wohnungsnummer, die ich aber wieder nur halb verstand.

Wir reichten uns die Hände, und dann ging der Besuch fort, von dem ich immer noch keine Ahnung hatte, wer er gewesen und weshalb er gekommen war. Es blieb mir nur als tiefer Eindruck das tiefe Schweigen, das wir miteinander geschwiegen hatten, jeder auf die Tischplatte schauend.

Draußen über Berlin schneite es, als der Mann in der Tarnkappe fortgegangen war. Der tiefgesenkte Schneehimmel schien den Besuch fortgenommen zu haben. Er war wie von schweigenden Wolken verschluckt worden.

Einige Tage später, als ich Przybyszewski besuchte, fiel zufällig mitten im Gespräch aus Przybyszewskis Mund der Satz: „Richard Dehmel wollte Sie besuchen. Ist er noch nicht bei Ihnen gewesen?“

„Nein,“ sagte ich ahnungslos. Denn ich hatte mir unter Richard Dehmel keine Vorstellung gemacht, wie man sich von einer Stadt, die man nicht gesehen hat, keine Vorstellung machen kann. Den fremden Besuch brachte ich eigentümlicherweise gar nicht in Zusammenhang mit einem auf Erden lebenden Menschen. Er war wie die Schneeflocke gewesen, die lautlos ans Fenster kommt und zergeht, ehe man ihre Form noch recht erkannt hat. Er war mehr als ein Lebender und zugleich auch weniger als ein Lebender gewesen, unwirklich und wirklich, wie ich vorher noch keinem begegnet war.

Darnach wieder, bei einem späteren Besuch bei Przybyszewski, sagte mir dieser: „Richard Dehmel behauptet, er sei bei Ihnen gewesen. Und ich soll Ihnen sagen, er erwarte, daß auch Sie ihn bald besuchen.“

Da begriff ich erst und erkannte auch durch Fragen, die ich an Stanislaus Przybyszewski stellte, daß jener Mann mit dem durchfurchten Gesicht Richard Dehmel gewesen war.

Aber Przybyszewski, der unruhige und geistig immer lebendige Pole, wenn er von Richard Dehmel sprach, verwandelte er mir den Mann, der mich besucht hatte, ohne daß er es wußte oder wollte, in eine andere Gestalt, und darum bekam ich bei seiner erstmaligen Frage, ob ich Richard Dehmel gesehen hätte, keine Ahnung davon, daß mein unbekannter Besuch Richard Dehmel gewesen sein könnte.

Als ich dann meinen Gegenbesuch machte und in einem großstädtischen Hause in der eben fertig gebauten Elsässer Straße im Treppenhaus auf einem schönen stattlichen Messingschild den Namen Dr. phil. Richard Dehmel las, konnte ich mir den Mann mit dem durchfurchten Gesicht, der wie Christus die Sorgen der ganzen Welt zu tragen schien, nicht in diesen Renaissancebau hineindenken.

Und auch als ich dann in einem mattblauen Schreibzimmer stand und durch die Flügeltür nach einer Weile ein schmaler feingliedriger schlanker Mann von ungefähr dreißig Jahren hereinkam und mich begrüßte, da konnte ich in der Figur, die neulich unter einem weiten Kragenmantel verborgen gewesen, den Mann, den ich im eisigen Besuchszimmer meiner Hausfrau gebeugt vor der Tischplatte hatte sitzen sehen, nicht gleich wieder erkennen.

Nur die angenehme leise Stimme erkannte ich wieder, aber die Furchen im Gesicht waren lachendere Furchen, lebensbewegter und nicht nur Sorgenfurchen, wie ich sie zuerst falsch gedeutet hatte. Es war ein von Begeisterung und innerlichen Ekstasen durchwühltes Künstlergesicht, über das ich erstaunte, weil es für seine jungen Jahre schon mächtig lebenserschüttert schien.

Aber immer noch nicht kannte ich den Dichter Dehmel. Denn ich hatte noch kein Gedicht von ihm gelesen. Dann erlebte ich jenen, mir unvergeßlichen Abend, an welchem Dehmel mir sein Gedicht „Christus der Künstler“ vorlas. Wir saßen bei ihm bei der Lampe an einem Tisch, und Dehmel, in gesteigerter Begeisterung, las stark ergriffen und hingerissen, wie es seine Eigenart ist, vor.

Auf meinem Stuhl war mir, als hätte man denselben mit mir mitten in eine Meeresbrandung gestellt. Ich begriff weniger das Gedicht als die Art des Dichters, der mit einer Urweltstimme fortgesetzt donnernd zwischen den Zeilen meinem Herzen zuzurufen schien: „Begreifst du nun, du elender Nichtigkeitswurm, daß der Glaube an die Dichtung Dichtung schaffen kann und Dichter gebären kann, auch wenn das Zeitalter von Prosa, Naturwissenschaft und Nüchternheit strotzt!

Ein Gedicht bleibt ewig die Krone der Schöpfung. Wie konntest du so armselig sein und nicht mehr glauben, daß auch die Neuzeit Gesänge anstimmen muß! Daß auch die Zeit der Lokomotiven, der Telegraphie und des elektrischen Lichtes Sänger haben will und muß, die in Reimen, in begeisterten Versen und ewigen Liedern Verkünder der Menschengefühle sein müssen!

Kleinmütiger, du glaubtest, die Zeit des Liedes sei vorbei? Du glaubtest, die Zeit der nüchternen Arbeit habe die Zeit der festlichen Gefühle verdrängt, habe die Menschen so taub und blind gemacht, daß keiner mehr Ruhe finden könne, sich in ein Gedicht zu vertiefen! Du glaubtest, äußerst ehrlich zu sein, als du dem Liederdichten entsagen wolltest und nur zum erzählenden Wort deine Kräfte sammeln wolltest!

Du irrst gewaltig. Du hast freiwillig verzichten wollen auf den Weg zur höchsten Menschenhöhe, um wahr gegen deine Zeitgenossen und dich selbst zu handeln! Werde wach, und sieh auf mich, den Gläubigen, der vor der Muse mit Begeisterung niederkniet und der durch das Alltagsgeschrei hindurch an Lied und Dichtung inbrünstig glaubt!“

Da kam eine Träne in mein Auge, und als Dehmel sein Gedicht fortlegte und die Brandung seiner Stimme im Zimmer verschollen war, bemerkte er die Träne, die ich gerne versteckt hätte, und wir schüttelten uns die Hände, und er sagte:

„Habe ich das wirklich fertig gebracht mit meinem Gedicht, daß du weinen mußtest?“

„Ja,“ sagte ich. Doch konnte ich ihm nicht all die aufgewühlten Gedanken erklären, die mich plötzlich umgewandelt hatten von einem dichtungsungläubigen in einen dichtungsgläubigen Menschen.

Und diese Weihe und diesen Glauben, den ich von dieser Stunde an wieder für Lied und Gedicht über mich kommen ließ, der ist nie wieder von mir gewichen und steigerte sich von Jahr zu Jahr, sich in Kraft umsetzend. —

Die andere Begegnung, die mit Stefan George, war nicht von dieser stark hinreißenden Art gewesen, aber sie bestimmte und festigte ebenfalls in mir die neue Überzeugung, daß der Wunsch, Dichtungen in Versen und Gesängen zu schaffen, trotz des Maschinenzeitalters und trotz der Wirklichkeitskunst, die auf den Bühnen in jenen Jahren Feste feierte, nicht unmöglich war. Wenn auch der augenblickliche Zeitgeist sich ablehnend gegen das Lesen von Gedichten verhielt, so war es doch ganz unmöglich, daß deshalb die Dichter und die Dichtung aussterben und nur die Erzählungskunst und die Bühnenkunst allein weiterleben sollten.

Die Begegnung mit Stefan George wurde durch seine Zeitschrift eingeleitet. Ich erhielt im Winter 1892–1893, in jener Zeit, da Dehmel und ich eben befreundet wurden, eines Tages das Heft einer Zeitschrift zugesendet, welche den Titel führte „Blätter für die Kunst“. Das zuerst ins Auge fallende an jenem Heft war die anspruchslose Einfachheit der Ausstattung, die angenehm berührte. Aber als ich die Einleitung und die Gedichte darin lesen wollte, fand ich mich zuerst nicht zurecht, der Schreibweise wegen; alle Hauptwörter waren klein geschrieben. Das war mir zuerst fremd, schien mir aber nur eine Gewohnheitsfrage zu bedeuten.

Der Inhalt dieser Blätter aber trennte sich noch stärker als die Schreibweise vom damaligen Zeitgeist. Mitten in der eben stürmisch eroberten Welt der Wirklichkeit trat der Geist der „Blätter für die Kunst“ für die Welt der reinen Unwirklichkeit ein. Er hielt sich an den Geist der alten Romantiker. Nur war seine Sprache, der Neuzeit angemessen, gewählter. Aber die Dichter des Kreises der „Blätter für die Kunst“ hatten gar nichts mit der Butzenscheibenromantik gemein, die ihre Vertreter in Viktor Scheffel und Julius Wolf gehabt hatte.

Doch die Dichter der „Blätter für die Kunst“ schienen immer noch der Anbetung der Menschenseele ergeben zu sein. Neben der ewigen Menschenseele schien es für sie noch eine unbelebte tote Welt zu geben und eine unverständigere Tier- und Pflanzenwelt, auf die man ein wenig lässiger herabsah. Die man sich aber nicht als Kameraden oder gar als Geist von gleichem Geist dachte.

Ich war mir aber damals selbst noch nicht klar, wie eine Verjüngung in der Dichtung zu erreichen war. Nur das war mir klar, daß eine Verjüngung nur aus der neuen Weltanschauung heraus entstehen konnte, aus dem Satz: wir besitzen alle und alle besitzen uns. Das heißt: Menschen, Pflanzen und Tiere und alle Dinge sind eine Seele und ein Leib, alle führen wirkliches und unwirkliches Leben zugleich, alle genießen dieselben Leiden des Hungers und dieselben Seligkeiten der Liebe und dieselbe Schöpferkraft des ewigen Lebens.

Nichts im Weltall ist größer, als der Mensch es ist. Nichts ist kleiner, als der Mensch es ist. Dieses zu wissen, machte mich aber noch nicht fähig, ganz und gar nach der neuen Weltanschauung zu leben, zu handeln und zu schaffen.

Meine Freunde, der Denker und der Schweigende, studierten jetzt auf verschiedenen Universitäten Deutschlands weiter, und ich erschien mir in der Millionenstadt Berlin mit meiner festlichen Weltanschauung, die noch nicht einmal meinen ganzen Menschen durchdrungen hatte, die nur einstweilen meinen Verstand und meine Begeisterung gepackt hatte, wie ein kleines Atom, wie eine winzige Lebenszelle, die sich erst aufbauen wollte zu einem neuen organischen Leben.

Mich freiwillig trennend von den vielen alten Überlieferungen, die mir vorkamen wie Zeug- und Papierblumen, wie Überbleibsel alter Jahrhunderte, hatte ich nur einstweilen die neuen Gedanken in mein Herz gesät und fühlte, daß sie aufgehen wollten. Ich mußte nun geduldig warten wie ein Ackersmann.

Wohl versuchte ich einige Male, in Gesprächen mit Schriftstellern und Dichtern auf die Weltanschauung von der Atomkraft und auf die Gedanken vom ewigen Lebensfest, von der festlichen Beseelung aller lebenden und aller sogenannten toten Dinge hinzuweisen und jene Freunde zu überzeugen. Aber meine Erklärungen waren hilflos.

Ich hatte auch noch keine Beweise, um den mir befreundeten Dichtern an neuen Gedichten meine Weltanschauung zu erläutern. Und so mußte ich, immer wieder ohnmächtig gemacht von der Umgebung, die keine Ahnung hatte, was ich sagen wollte, einsam in mich zurücksinken, vertrauend, daß die Saat in mir im stillen, wenn ich gläubig bliebe, den Gedanken vom großen Lebensfest ganz von selber reifen würde und mir Beweise geben würde für die Möglichkeit, mit meiner festlichen Weltanschauung eine neue Dichtungsweise zu finden.

Nachdem ich in jenem Heft der „Blätter für die Kunst“ wegen des alten romantischen Geistes, der darinnen zutage trat, nicht viel Erbauung finden konnte, legte ich es auf die Seite und hatte es beinahe vergessen.

Da erhielt ich eines Tages die schriftliche Aufforderung, dem Herausgeber ein Gedicht als Beitrag zu senden.

Ich hatte nach einem Bilde Munchs, das sich „Der Kopf des Ertrunkenen“ nannte, einen ganz winzigen Versuch zu einem Gedicht unternommen. Jenes Bild stellte ein blaues Teichwasser dar, aus welchem der Kopf eines Ertrunkenen ragte. Im Wasserspiegel schwammen die Widerscheine weißer, lieblicher Frühlingswolken, und ein silberweißer Schwan glitt hinter dem Menschenkopf friedlich, und sich gleichfalls wie eine Frühlingswolke auf der durchsichtigen Fläche spiegelnd, vorüber.

Schwan, Wolken, Teichspiegel und Frühlingssonne lebten festlich, ohne daß der Schrecken des Todes, der aus dem Kopf des Ertrunkenen starrte, sie im Frühlingsfrieden störte. Die ungeheure Macht des Malers, den Frühlingsteich im Licht darzustellen und dabei den Menschen und seinen Untergang so nebensächlich zu behandeln, wie es sonst nur der Mensch der Natur gegenüber zu tun gewohnt ist, nebensächlich auf seine Mitwesen herabzusehen, — diese Auffassung erschütterte mich, und ich schilderte das Munchsche Bild und seine Tragik in ein paar kurzen Zeilen in einem Gedicht.

Dieses kleine Gedicht schickte ich den „Blättern für die Kunst“. Einige Tage darnach erhielt ich eine briefliche Einladung, mich zu einer Besprechung über einige Fragen, die sich auf meine Gedichteinsendung bezogen, im Café Bauer einzufinden, wohin der Herausgeber und der Dichter Stefan George kommen wollten.

Es war dieses im Februar 1893, als ich mich bereits mit dem Gedanken trug, nach Schweden zu reisen und dort in der Einsamkeit eines schwedischen Pfarrhauses das Drama „Sehnsucht“, das im Hirn eines Menschen spielen sollte, und das ich erst im Plane bei mir trug, zu schreiben.

Als ich mich zu jener Besprechung um halb zehn Uhr abends im oberen Saal im Café Bauer einfand, begrüßte mich dort der Herausgeber, er war im Zylinder und englischem Gehrock erschienen, und er sagte mir, Herr Stefan George wünsche mich wegen einiger Punkte und Kommas, die in dem Gedichte vermieden werden sollten, zu sprechen.

Das verwunderte mich ein wenig. Dann kam nach einer Weile ein schlanker, gleichfalls vornehm mit Gehrock und Zylinder bekleideter Herr, mit ausgeprägten, starken Gesichtszügen, die einem Kardinal gehören konnten, an den Tisch.

Ich kam mir in meinem alltäglichen Straßenanzug ein wenig überrumpelt vor von dem gezüchteten Auftreten beider Herren. Wir sprachen über einige, wie es mir schien, ganz belanglose Dinge, über die Stellung von Satzzeichen, und Stefan George meinte, er wünsche in meinem Gedicht die Fragezeichen, wie es in spanischer Literatur üblich sei, an den Anfang der Sätze zu stellen.

Ich sagte, er möge das mit meinem Gedichte so halten, wie er es in den „Blättern für die Kunst“ eingeführt habe. Auf die Satzzeichen möchte ich nicht zu große Bedeutung legen, wenn nur der Sinn des Ganzen nicht gestört würde. Und damit war unsere Besprechung bald beendet, und wir trennten uns.

Von Stefan Georges Dichterkraft und Eigenart erhielt ich erst aus späteren Heften der „Blätter für die Kunst“ einen umfassenden Eindruck. Aus den Gesprächen bei jener Begegnung nahm ich nur den angenehmen Gedanken mit nach Hause, daß es also wirklich neue Männer in Deutschland gab, die ihr Leben für die Dichtkunst einsetzen wollten und dieses mit Eigenwillen taten.

Um zu verstehen, wie stark Richard Dehmel und Stefan George, jeder in seiner Art, sich damals von der Prosavergötterung jener Tage abhoben, muß man sich erinnern, welche große Bewegung in jenen Jahren in Berlin, im Drama und Roman, die literarischen Kreise im Atem hielt. Auf der Bühne waren es Ibsen und Gerhart Hauptmann, deren Werke gerade daran waren, eine völlige Umgestaltung im Geschmacke des Publikums und in der Schauspielkunst überhaupt hervorzurufen. Man hatte die „freie Bühne“ gegründet. Die „Wiener moderne Rundschau“, eine neuzeitliche Monatsschrift, die neben M. G. Conrads „Gesellschaft“ die Gedanken und Kräfte der naturalistischen Geistesbewegung förderte, war eingegangen und feierte in Berlin im S. Fischerschen Verlag ihre Auferstehung, ebenfalls unter dem Titel „Neue freie Bühne“.

Der Verleger Friedrich in Leipzig, der die moderne Bewegung als erster im Entstehen lebhaft unterstützt hatte, war an seinen modernen Schriftstellern zugrunde gegangen, da das bücherkaufende Publikum wie immer einige Jahresreisen hinter den neuen Dichtergeistern zurückgeblieben war und sie nicht verstehen und kaufen wollte.

An Stelle des Friedrichschen Verlages aber blühte in Berlin der S. Fischersche Verlag für Deutschland auf, der sich damals von allen Verlegern am meisten um die Herausgabe der neuzeitlichen Literatur verdient gemacht hat.

Männer wie Strindberg, Gunnar Heiberg, Gabriel Finne, Knut Hamsun kamen in jenem Berliner Winter aus dem Norden und hielten einen nordischen Vorleseabend im Saal der Singakademie. Sie vertraten die damals wuchtig auftretende neue nordische Prosakunst.

Ich erinnere noch gut jenen Abend, an dem ich Strindberg zum erstenmal auf dem Podium hinter einem kleinen Holztischchen stehen sah, ein Blatt Papier in der Hand, von welchem er eine Novelle zu lesen angesagt hatte. Aber sein Gelispel aus dem überkleinen Mund unter dem riesengroßen Schädel drang nicht über das kleine Tischchen vor ihm fort, und die Zurufe des Publikums „lauter, lauter“ wollten nicht enden.

Alle Leute legten sich, um Strindberg hören zu können, mit den Köpfen, soweit sie es vermochten, vor, und es war, als wüchsen den Horchenden die Ohrmuscheln zu Strindberg hin, so sehr sehnte sich ein jeder, nur ein kleines Wörtchen von dem nordischen Mann aufzufangen. Dieser aber lispelte, als spräche er zu dem Blättchen Papier allein, und im totenstillen, menschengefüllten Saal konnte jeder nur das unhörbare Zwiegespräch Strindbergs, das er mit seinem Manuskript hielt, mit den Augen aufnehmen.

Jedem anderen hätte man unwillig sein leises Lesen endlich verwiesen, aber hier war es anders. Es war einer meiner tiefsten Eindrücke, festzustellen, daß Strindbergs Erscheinen und Anwesenheit genügte, die vielhundertköpfige Menschenmenge in ein Anschauen zu bannen. Die Rufe „lauter, lauter“, die zuerst gewagt wurden, blieben weg, und eine halbe Stunde lang versank der Wille der Ohren vor dem Willen der betrachtenden Augen. Ein brausender Beifall toste dann, als die Hand mit dem Papier sank und Strindberg mit einem kaum merklichen Kopfnicken das Podium verließ.

Dieser Glaube und diese Andacht vor der Schöpfungsgewalt eines neuen Mannes hat mich gerührt und hat mir wohlgetan, und ich habe gern die Novelle verloren, auf die ich gespannt gewesen.

Ich hatte nie vorher einer ähnlichen Wirkung der Macht einer Persönlichkeit beigewohnt. Und man hätte nach dem Eindruck, den Strindberg machte, annehmen können, daß dieser Mann in Ruhe, und sich in seiner Kraft behauptend, seine Tage ungequält hätte verbringen können.

Um so erstaunter war ich, als ich eines Tages bei einem Besuch in Friedrichshagen bei Ola Hanson hörte, daß Strindberg sich von aller Welt verfolgt fühle. Dieser Mann, der die Macht hatte, durch seine Erscheinung allein eine Menschenmasse andächtig zu machen und sie zu bannen, befand sich auf steter kläglicher Furcht vor allem Weltalleben.

Er glaubte, daß alle Dinge und alle Menschen ihm schaden wollten. Seine Freunde und auch die Frauen, die er liebte, mußte er immer wieder anklagen und mußte fliehen und unheimlichste Geheimnisse überall im Weltall wittern, dort, wo doch nur die ungeheure Festlichkeit des arbeitskräftigen und liebeskräftigen und weisen ewigen Lebens herrscht.

Strindbergs Riesengehirn erschien mir, nachdem ich von seiner Angst gehört hatte, wie ein Riesenlabyrinth, in welchem ich jenes Mannes Gedanken durch unentwirrbare Gänge flüchten sah, zusammenfahrend und erschreckend vor dem eigenen Schatten, vor dem eigenen Licht.

Der große Mann prallte vor jedem versöhnlichen Lichtstrahl unversöhnlich zurück. Er brauchte die Dunkelheit und das Verdammen der Mitwelt, um sich mächtig zu fühlen, weil seine Kräfte nicht friedliche Herrscher in einem versöhnlichen Licht, als der Besitz aller und alle besitzend, verweilen wollten.

Es war an einem Spätnachmittag, als ich einmal nach Friedrichshagen kam. Damals bestand Friedrichshagen noch aus Reihen kleiner Häuschen, in denen sich nur Erdgeschoßwohnungen und darüber Giebelzimmerwohnungen befanden. Vor jedem dieser Häuschen war ein kleiner Vorgarten mit einem dünnen Eisenzaun nach der Straße hin.

Hier draußen, zerstreut in diesen winzigen Wohnungen, lebten viele der großen Geister jener Zeit. Geistige Bergwerksarbeiter, die nach den Goldadern in Gedankengruben suchten, nach ungeprägtem Golde. Gold, das heute aus ihrer Hand genommen, als Münze im Volk von Hand zu Hand wandert. Da lernte ich Wilhelm Bölsche kennen, da besuchte ich an einem Abend Max Halbe. Da wohnten Gerhart Hauptmann und auch Bruno Wille und mancher andere.

Als ich an jenem Tage zum Hause Ola Hansons kam, bog vor mir ein Briefträger in den Vorgarten ein und gab einem Herrn, der ihn hinter dem Zaun erwartete, einige Briefe. Ich erkannte sofort Strindberg, trotzdem ich ihn noch nie in der Nähe gesehen hatte. Ich mußte wieder staunen über den ungemein kleinen Mund, der in keinem Verhältnis zu der riesigen Schädellast stand. Strindberg studierte die Adressen seiner eben empfangenen Briefe und sah nicht auf, als ich am Zaun vorüber in das Haus trat, um bei Ola Hanson anzuklopfen.

Später im Gespräch sagte Frau Laura Marholm zu mir: „Wissen Sie schon, daß Strindberg bei uns wohnt? Er ist seit ein paar Tagen in Berlin.“

„Ja,“ sagte ich, „ich glaube, ich habe ihn eben am Gartengitter gesehen. Der Briefträger brachte ihm die Post.“

Einen Augenblick war Frau Marholm ganz verblüfft. Dann wurde sie zornrot und sagte, sich zum Lachen zwingend, zu ihrem Mann:

„Da siehst du, was ich dir sagte, Strindberg ist auf jedermann argwöhnisch! Er will seine Post selbst in Empfang nehmen. Er traut nicht seinen besten Freunden.“ —

Und dieser Ausspruch wurde mir später noch in viel stärkerer Weise von Eduard Munch in Paris bestätigt. Einige Jahre später forderte mich Munch einmal auf, in seinem Atelier seine neue Holzschnittart für ein Mappenwerk anzusehen. Und als er unter anderen Bildern den Porträtkopf Strindbergs hervorholte und ihn mir zeigte, sagte er und deutete dabei auf die Atelierwand:

„Hier nebenan hat bis gestern Strindberg gewohnt. Er ist aber jetzt ganz verrückt geworden. Sehen Sie, was er mir geschrieben hat! Diese Postkarte bekam ich heute früh von ihm. Lesen Sie!“

Strindberg schrieb auf einer Postkarte an Munch: „Jedermann weiß, daß man auf physikalischem Weg auch durch eine Mauerwand hindurch ein Licht ausblasen kann. Ich bin sicher, daß Sie mich töten wollen. Aber ich werde das zu verhindern wissen. Sie sollen nicht mein Mörder werden.“

Munch lachte, als ich kopfschüttelnd gelesen hatte. „Was,“ sagte er, „ist er nicht ganz und gar verrückt? Er war schon immer ein wenig verrückt, aber jetzt ist er ganz und gar verrückt. Er meint, daß ich ihn durch die Wand töten will, als wenn ich gar nichts anderes zu tun hätte.“

Strindberg konnte trotz seines Riesenwissens, trotz seines Riesengehirns, nicht zum Weltgleichgewicht kommen und kam mir wie ein mittelalterlicher Büßer vor. Seine Geißel war der Menschenargwohn und die Menschenfurcht. Bald war er der Welt zu fern, verloren in Weltnebeln, bald war er der Welt zu nah, so daß ihm eine weibliche Fliege wie ein Elefant vorkam. Er war unglücklich, weil er nicht festlich lächeln konnte über das Summen einer Fliege und die andern Leben im Geist nicht festlich nachleben wollte.


Im März 1893 reiste ich zum erstenmal nach Schweden. Auf dem Wege nach Warnemünde waren schon die Felder leicht grün. Der Schnee war fortgeschmolzen, aber die dunkle Erde und die helle Sonne standen noch unvermittelt nebeneinander. Dann, nördlich von Gothenburg, an der schwedischen Küste, war das Meer noch eine Eisebene und das Land ein Schneeland.

Ein Küstendampfer, der mich nach Fjellbacka, einem Fischerdorf an der Küste der Provinz Bohuslän, als Fahrgast aufgenommen hatte, machte seine erste Frühlingsfahrt. Einige tausend Meter voraus dampfte der Regierungseisbrecher, um dem Passagierschiff den Weg zu bahnen.

Die Fahrt ging sehr langsam, weil unser Dampfer um nicht an die Ränder des scharfen Eises anzustoßen, sich nur ganz vorsichtig in der Mitte der engen Eisschollengasse vorwärts bewegen konnte. Deshalb brauchten wir bei dieser Winterfahrt die doppelte Fahrzeit, die im Sommer dasselbe Schiff nötig hatte, um nach Fjellbacka zu kommen.

Ich wußte von Schweden aus meiner Geographiestunde kaum noch die Hauptstadt zu nennen. Wir in Bayern verwechselten damals, wie ich das öfters später noch erlebte, fortwährend Christiania und Stockholm miteinander. Und zwischen Schweden und Norwegen gab es für uns keinen großen Unterschied. Es waren eben Nordländer, Nebelländer, von denen wir seit der Edda und später seit Gustav Adolf nichts mehr gehört hatten.

Erst seit neuester Zeit, und das waren kaum fünf, sechs Jahre her, hörte man vom geistigen Leben, das dort oben erwacht sei. Man hatte uns Ibsen, Björnson und Strindberg in Übersetzungen vermittelt. Von den Ländern selbst aber, wie man sonst dort lebte, wußte man zu Anfang der neunziger Jahre in Süddeutschland recht wenig. Man hörte nur, daß die Engländer seit einigen Jahren im Sommer die Fjorde und die Gletscher dort oben aufsuchten, und daß sie das Reisen im Norden dem Reisen in der altmodisch gewordenen Schweiz vorzogen.

Besonders Schweden, von dem man nur den Wasserfall des Trollhättan als rauschende Sehenswürdigkeit nannte, lag hinter neunundneunzig Nebeln den Blicken des Deutschen, und besonders denen des Süddeutschen entrückt. Ich erinnere mich auch, als ich Schweden schon mehrere Jahre kannte, später bei einem Vortrag über nordische Kunst von einem Pariser Schriftsteller die Worte gehört zu haben „les pays imaginaires“, wobei der Vortragende mit großer Geste in die Luft deutete und mit den Worten „Fabelländer“ Dänemark, Schweden und Norwegen bezeichnete. Den Parisern auch lag damals Japan näher als der nebelferne Norden.

Ich selbst hatte von Schweden in den letzten Jahren nur den Namen Strindbergs nennen hören, und aus früheren Jahren war mir von schwedischer Dichtung nur Tegner und seine „Fritjofs Saga“ bekannt.

In Kopenhagen aber, in Dänemark, war ich geistig stärker zu Hause. Andersens Märchen und mein Prosameister J. P. Jacobsen hatten mich mit Stadt und Land vertraut gemacht. Norwegisches Volk kannte ich aus Ibsens „Peer Gynt“, aus Björnsons „Arne“, aus Kiellands „Novellen“, Griegs Musik und Munchs Bildern.

Norwegen und Dänemark waren mir deshalb viel bekannter als Schweden, das ich nur in Strindbergs „Leute von Hemsö“ und Ola Hansons „Sensitiva Amorosa“ ein wenig aus der Dämmerung unklarer Vorstellungen hatte auftauchen sehen. Denn das Buch „Gösta Berling“ von Selma Lagerlöf, das Schwedens Land und Menschen mir hätte nahe bringen können, war in Deutschland noch nicht bekannt, und ich las es erst ein Jahr später in Stockholm.

Daß sich an der schwedischen Westküste die Stadt Gothenburg befand, das war aus meinem Geographiegedächtnis bereits verschwunden gewesen. Ich sah im Geist an der schwedischen Westküste nur hinter Nebeln verschanzte Fischerdörfer und vereinzelte Gutshöfe liegen.

Aber es schien auch anderen Leuten so wie mir zu gehen. Denn als ich ein paar Wochen später eine Büchersendung nach Hause zu schicken hatte und zum Einpackpapier einige Gothenburger Zeitungen verwenden mußte, erhielt ich die erstaunte Rückfrage aus Deutschland, ob es denn in Schweden oben auch Zeitungen und Schnellpressen gäbe. Man konnte sich eben von dem seit Gustav Adolfs Zeiten verschollenen Land in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wenig Vorstellung machen. —

Ich war über Kopenhagen-Helsingör gereist, hatte in der Nacht den dunklen Giebel des Hamletschlosses Helsingör über dem Nachtmeer ragen sehen, war über den Sund nach Helsingborg gekommen und von dort in einem Bahnzug — dessen Wagen stark nach Heringen rochen — durch eine öde Schneelandschaft am Meer entlang nach einer Tagesreise nach Gothenburg gekommen.

Ich war in Gothenburg noch nachts auf den Dampfer gegangen, und ich fühlte mich unter der Obhut des jungen Schweden — der nur ein paar Jahre älter war als ich — in dem neuen Lande sehr gut eingeführt. Ich sehnte mich vorläufig nicht nach dem glänzenden Berlin zurück, das noch vor meinen Augen flimmerte, wenn ich sie schloß.

Ich hatte Deutschlands Grenzen früher nur drei Mal verlassen. Einmal war ich ein Vierteljahr in der französischen Schweiz in Genf gewesen, um mich im Französischen zu vervollkommnen. Das war im Frühling 1889. Im gleichen Jahr, im Herbst, war ich ein Vierteljahr bei Verwandten in Rußland, in St. Petersburg, zu Besuch gewesen. Und die dritte Auslandsreise war der kleine Pfingstausflug im Jahre 1892 von München nach Venedig.

Ich erwähne dieses, damit der Leser nicht vermuten soll, ich hätte in meinem Erstaunen, das mich nun auf meiner Weiterreise in Schweden packte, keine vergleichenden Anhaltspunkte mit anderen Ländern gehabt und wäre vielleicht deshalb so übermäßig durch Schwedens Küste in Verwunderung gesetzt worden.

Ich befand mich nun auf dem kleinen Küstendampfer, der langsam in der schmalen Wassergasse durch das gefrorene Meer dem Regierungseisbrecher nachfolgte. Am Abend des ersten Tages, als die Sonne unterging, waren wir in der Nähe der Insel Smögen, wo der Dampfer für die Nacht anlegen mußte.

Die gelblichen Felsen, die dort senkrecht aus dem Meer standen, waren von breiten roten Streifen bestrichen. Es war dies der rote Rost großer Eisenadern, die sich über die Granitmauer verzweigten. Im Abendlicht sahen die Felsen wie blutige riesige Fleischstücke aus, die da auf dem weißen Riesenteller des gefrorenen Meeres lagen.

Als es dunkel war und kein Mond am Himmel, erkletterten der Schwede und ich im Finstern einen Steinweg zwischen den Holzhütten Smögens und kamen bis zu einer Felsenplatte, auf welcher der große eiserne Leuchtturm wie ein ungeheures Eisenrohr festgeschraubt stand. Dort über der kleinen freien Klippenanhöhe leuchteten die Sterne, jeder einzelne so groß über dem Meer, als wären sie nah wie winzige Monde. Es war, als stünden dort im dunklen Weltraum tausend zuckende Leuchttürme, deren weiße Feuer auf- und niederblinkten.

Ich spürte kaum die Eiskälte der Nacht. Ich erinnere mich, daß ich erstaunt war, als ich mich mit der Hand an den eisernen Turm stützte und derselbe kalt war. Das mächtige erhabene Gefühl, das vor den großen Himmelslichtern über dem lautlosen gefrorenen Meer in mir anschwoll, war wie eine unergründliche Wärmewelle. Die schien aus einer Sonne zu kommen, die ich nicht sah, und war in mich gedrungen, und ich fühlte mich körperlich verschmolzen mit Stein und Sternen und mit ihnen unzertrennbar zusammengehörig.

Gedanken meiner neuen Weltanschauung, die ich vorher nur in meinem Gehirn wie aufklärendes Sonnenlicht empfunden hatte, waren jetzt zum erstenmal hier in der ungeheuren Einfachheit und Größe der Winternacht am Meer mit der Ahnung der ewigen Wärme, die sie geben konnten, auch in mein Blut eingedrungen. Ich fühle noch heute, wenn ich daran denke, die wohltuende warme Zufriedenheit, die jene Nachtlandschaft im Eis und beim Glanz der tausend großen Weltkörper meinem Herzen gab.

Sonst, in Würzburg oder Berlin, war der Sternhimmel über den Häusern immer eine ferne fremde Nachtwelt gewesen. Die war scheinbar edler und reiner als die Tagwelt und hatte mich nur wehmütig sehnsüchtig stimmen können. Dort aber, in Schweden auf Smögen, fühlte ich jeden Stern so nah, als wäre er auf meinem Kopf gewachsen, und die Nacht hatte nichts Fernes und Fremdes mehr. Sie war mir zugehörig wie mein Mantel am Leib es war, wie das kleine Küstenschiff, in dem ich nachher schlafen sollte. Sie war viel größer, als ich sie jemals gesehen hatte, die Sternennacht, und war dabei doch heimlich und gemütlich, wie sie nur denen wird, die nichts mehr hineingeheimnissen können oder wollen. Sie wurde zu einer vertraulichen Stube, in der ich seit ewigen Zeiten zu Hause war.

Es war mir aber auch zugleich, als könnte ich am Fuße jenes Leuchtturms, von der Klippenanhöhe über den fernen totstillen Meerrand fort, hinter die Meerlinie sehen, und da lagen in der Nacht in Deutschland helle große Städte. Und dort in abendbeleuchteten Straßen kreiselten die Lichter der Wagen und Fenster und Gedanken. Und jede Stadt war ein Lichterhaufen auf der dunklen Landkarte Deutschlands, und der größte Lichterhaufen war Berlin. Und wie kleine Phosphorpunkte sah ich dort denkende Menschen durcheinander rennen. Da waren Dichter und Maler und Musiker. Das Echo ihrer Worte war noch fern über dem Meer wach. Aber alles, was die Menschen dort in den Lichterhaufen ausgrübelten, und was sie mit Licht im Hirn zusammentrugen, schien mir nicht so gütig, nicht so freundlich und einfach festlich zu sein wie die reine kluge Luft in diesem reinen guten Frieden auf der kleinen schwedischen Fischerklippe.

Ich dachte mir: wenn der Morgen kommt, wirst du auch in Schweden am Land in einem alltäglichen Pfarrhaus, im Spinnwebenalltag, von neuem die Erhabenheit dieser Nacht einbüßen und den Eindruck vielleicht nicht einmal mehr erinnern.

Am nächsten Morgen, als ich schon ziemlich zeitig auf Deck kam, erstaunte es mich, daß das hohle Tuten der Sirenenpfeife des Schiffes, die nur im Nebel Stimme bekam, scheinbar von vielen Schiffen rundum beantwortet wurde. Das Meer war mit dickem Nebel bepackt, und das gellende Geheul der Dampfpfeife schien mir ähnlich dem Gebrüll mächtiger sagenhafter Nebelkühe. Und als ob ein Leitstier im Dunkeln brüllte und rundum die Kuhherde antwortete, so wurde die Dampferstimme vielfach im Nebel wiederholt.

Nachdem ich lange diesem Gebrüll gelauscht hatte, wichen die Nebelberge, und dunkle Felsenumrisse standen da. Unzählige, aus dem Meer gewachsene Inseln schienen wie eine große Stadt zu sein, wie viele Häuserblocks. Und das Meer ging zwischen den steingewölbten Inselklippen in sich kreuzenden Wasserstraßen hin. Und der kleine fortschleichende Dampfer schien still zu stehen. Aber die Inseln und die dämmerigen Gassen zwischen den Felsenwänden der Inseln schienen zu wandern. Und die schmalen Seewege wurden immer ähnlicher den Gassen einer großen Stadt, immer dunkler. Zuletzt waren wir tief in die Stadt aus Inselklippen eingedrungen und hatten nur über uns, wie in richtigen Straßen, einen schmalen Streifen Himmel, und unsere Stimmen hallten wie aus großen Gewölben von den kahlen Inselwänden zurück.

Und nun wußte ich auch, daß nicht Schiffe, sondern die Echos dieser Inseln und Inselgassen das Sirenengeheul unseres Schiffes vorhin hinter dem Nebel beantwortet hatten. Jede Felsenwand hatte den Dampferruf der andern Felsenwand weitergegeben. Die alten Bewohner der Mauergassen, Tausende von Möwenfamilien, saßen in langen Reihen und in Nischen und auf den Felsenstufen an den steilen Wänden und sahen uns still an.

Wußten die stummen Vogelreihen, daß es bald Frühling wurde, da der ihnen altbekannte kleine Küstendampfer nach langer Winterpause zum erstenmal wiederkehrte? Sie waren nicht scheu, die großen silberblauen Vögel. Aus ihren dunklen Mauerwohnungen äugten sie uns, die Köpfe schief legend, nach.

Und diese silbernen Vogelscharen, die ich nie vorher in solchen Massen gesehen hatte, und die Inselgassen, in denen unsere Menschenstimmen weiter redeten, wenn die Reisenden oder der Kapitän an Bord laut sprachen, und auch die Steine rundum, alle waren mir vertraute Güter, als wäre ich von Kindheit an ihr Besitzer hier. Die fremde Inselwelt war mir so lieb vertraut, als hätte ich die Vögel hier immer gefüttert, als müßten sie bei meinem Ruf mir aus der Hand fressen.

Die Felsenstimme, die aus den harten Klippen aufgeweckt wurde, kam wie aus meiner eigenen Brust. Mir war, als könnte ich erzählen, was diese Steinklippen den Winter über gedacht hatten, während hier kein Dampfer gegangen war. Es war die reine kluge Luft, der reine kluge Frieden, die hier nichts Trennendes zwischen mich und die Umgebung legte und mich allwissend stimmte.

Dann kamen wir an einen großen weiten Meerplatz zwischen Küste und Inseln. Der Wasserplatz war weiß zugefroren, als wäre er mit einer einzigen kilometergroßen Marmorplatte gepflastert. Rote Holzhäuschen, in den Schnee geduckt, standen rot bemalt am Rand des Meerplatzes auf Pfählen und erschienen mir wie Nürnberger Spielzeug. Diese Meerbucht wurde von der offenen See durch die Inseln getrennt. Die roten Häuser am Rand der buckeligen Schneeküste bildeten den Fischerort Fjellbacka, wo der Küstendampfer anlegen sollte, und wo wir den Dampfer verlassen sollten.

Von jeder verschneiten Insel rundum löste sich dann ein kleiner schwarzer Punkt, vor welchem noch ein kleinerer Punkt herzueilen schien. Jeder Punkt war ein Mann, der von einer Insel übers Meereis herbeisprang zum Dorf Fjellbacka hin, und der mit dem Fuß vor sich her ein Fäßchen stieß, das über die Eisfläche rollte. Das Fäßchen, erklärte man mir, enthielt Fische, die später auf den Küstendampfer verladen werden sollten.

Auch der große Meerplatz hier, der zugefrorene, wirkte wie eine lautlose Riesenstube, auf deren weißer Diele die Männer herbeiliefen, weil Gäste ins Haus gekommen waren. Wunderbar behaglich wirkte diese winterstille Landung.

Dann am Land führte ein Schlitten, der vom Pfarrhof geschickt war, den jungen Schweden und mich mehrere Meilen in das verschneite Land hinein, hie und da an einem Einzelgehöft vorbei. Ich sah nur wenige Bäume auf dieser Fahrt und eine einzige Windmühle. Sonst waren überall schneebedeckte Steinbuckel, nirgends ein Wald. Es schien mir, als fuhr der Schlitten nur auf leeren Eishügeln bergauf, bergab.

Schon begann ich zu bereuen, daß ich das lebensfrische Berlin mit dieser toten Eiswüste vertauscht hatte. Ich wäre am liebsten mit dem Dampfer zwischen den Inseln ewig weitergefahren. Denn was konnte mich in dem Pfarrhause anderes erwarten als Religionsgespräche und Tagesklatsch und Weltnachrichten, während ich doch so gern tiefer in die Urwelt eingedrungen wäre. Blicke, wie ich sie am Abend vorher von Smögen beim Leuchtturm und heute morgen in den Klippengassen hatte — wo nur Möwenfamilien wohnten und die Steinbrust meiner Menschenstimme antwortete und ich die stille Landung in der gefrorenen Meerbucht erlebte, von diesen Blicken ersehnte ich mehr zu bekommen. Und sollte ich zu alltäglichen Menschen zurückgeführt werden, so wollte ich aber auch dann gleich lieber wieder nach Berlin zu den geistig regsamen Menschen kommen.

Ich war noch jung und voreilig und schwankenden Eindrücken leichter preisgegeben, da ich auf kein Kapital von Erfahrungen zurückschauen konnte.

Ein wenig entmutigt saß ich neben dem Schweden, der nur ein gebrochenes Deutsch sprach, der sich freute, mir seine Heimat zu zeigen, und der während der Fahrt lebhaft seinen Kutscher befragte nach allem, was er von seinem Vaterhaus wissen wollte.

Der Schwede erklärte mir, daß all die waldlosen Hügel, die ich da ringsum sah, und an denen unser Schlitten hinaufkletterte, um dann wieder an der anderen Seite zu Tal zu fahren, daß diese Buckel in alter Zeit Inseln gewesen waren, an welchen die Wikinger mit ihren Booten damals landen konnten, und bei denen sie mit den Schiffen in den Meergassen hindurchgefahren sind, so wie es der Dampfer heute zwischen den Schären draußen getan. Das Meer aber war von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter zurückgetreten, so war das Land nach Westen hin gewachsen und war allmählich aus dem Meer gestiegen. Wir flogen also eigentlich im Schlitten hier über verschneiten Meeresboden.

Mehr als die Erklärung, daß ich in der Urprovinz der alten Wikinger war — die Provinz Bohuslän fühlt sich vor allen schwedischen Provinzen mit Recht stolz, weil sie auf tausendjährige Menschenvergangenheit zurücksieht — mehr als diese Erklärung befriedigte mich der Gedanke, daß ich auch hier im Schlitten immer noch auf meerverwandtem Boden war und die Hügel des Landes als Brüder der Meerinseln ansehen durfte, jener Inseln, in deren Nähe mir auf der Herreise so wohl gewesen war. Würden mir jetzt — so dachte ich — die Menschen mit alltäglichem Gespräch in den Ohren liegen, so brauchte ich im Pfarrhaus dann nur an das Fenster zu treten und würde dann meine Augen mit den Hügeln sprechen lassen und würde die Schiffe der Wikinger auf die Steinfelder kommen sehen, als wäre da noch Meerwasser rund um die Hügel.

Ich muß noch kurz berichten, daß der junge Schwede, der da neben mir im Schlitten saß, kein alltäglicher Mensch war. Er hing zwar keinen philosophischen Gedanken nach, aber aufgewachsen als Sohn dieser Bohuslänschen Provinz, von Mutterseite von altschwedischem Adel stammend und von Vaterseite stark gemacht durch Wikingerblut, hatte er das Leben bisher als ein Riesenabenteuer angesehen und es immer festlich gestimmt aufgesucht. Auch die Unruhe der alten Wikinger hatte er ererbt, und so war er schon durch die halbe Welt gereist, trotzdem er erst siebenundzwanzig Jahre zählte.

Aber den Beginn seiner weiten Reisen hatte er nicht mit den gewöhnlichen Verkehrsmitteln, mit Dampfschiffen und Eisenbahnen, ausgeführt, sondern ein kleines Ruderboot hatte ihm genügt. Und in seinem Kahn war er, alle Gefahren verachtend, der Westküste Schwedens entlang bis nach Kiel gerudert. Dort hatte er sich vom Ruderklub feiern lassen und war dann weitergerudert nach Holland und war endlich in Calais gelandet.

Diese seine außergewöhnliche Reise, die mehrere Sommermonate dauerte, hatte in der damaligen Sportswelt Aufsehen erregt. Die großen Zeitungen brachten sein Bild, und von den Zeitungen aufgefordert, beschrieb er seine Reiseeindrücke.

Mehrmals hatte ihn unterwegs beinahe der Meerirrsinn erfaßt. Viele Nächte mußte er auf dem Meere übernachten. In anderen Nächten war er bei Leuchttürmen gelandet oder auf Leuchtschiffen, wo die Männer den Meerentstiegenen erstaunt und ehrfurchtsvoll aufgenommen hatten. In London, wo er zuletzt hinkam, stellte man sein kleines Boot, das so viele Mühseligkeiten mit seinem Herrn geteilt hatte, zur Besichtigung aus. Aber als er die Rückreise antreten wollte, waren die Stürme in der Nordsee zu schwer. Er nahm dann die Aufforderung einer Zeitung, nach Amerika zu gehen und Amerikabriefe zu schreiben, an.

Als ich den jungen Schweden und Weltfahrer bei Ola Hanson in Friedrichshagen in Berlin an einem Abend kennen lernte, war er eben von Amerika nach Europa zurückgekehrt und sollte nach Hause reisen, nach Schweden, um dort sein Buch über Amerika in seinem Vaterhaus, im Pfarrhaus zu Bohuslän, zu schreiben.

Er hatte als Kind, angeregt dadurch, daß er seinen Vater jeden Sonntag predigen hörte, zuerst Lust gehabt, selbst Prediger zu werden. Wie er mir erzählte, war er als kleiner Knabe oft auf einen Stuhl gestiegen und hatte vor den Dienstboten des Hauses gepredigt. Dann aber hatte ihn das Meer doch stärker angelockt als die Kirche, und er hatte schon, als er fünf Jahre alt war, von alten Fischern in Fjellbacka Unterweisung im Segeln bekommen und hatte dann von seinem Vater ein eigenes kleines Boot erhalten, auf dem er bald eigenmächtig von Insel zu Insel steuerte.

Da Gothenburg in regem Schiffsverkehr mit England steht und sich der junge Schwede, als er älter geworden, Schriftsteller zu werden sehnte, ließen ihn seine Eltern später hinüber nach England, nach Hull, reisen, wo er in einer Zeitungsredaktion beschäftigt wurde. Zurückgekehrt von England, pflegte er eifriger den Rudersport als die Schriftstellerei und unternahm kurz danach die abenteuerliche Ruderfahrt im eigenen Boote über die Nordsee und machte dann die Rundreise durch Amerika. —

Jener junge Mann hatte also viel Welt und Wirklichkeit erlebt und sich mutig durch Meer- und Hungerstürme durchgeschlagen, als ich ihn kennen lernte. Und wir wurden gute Kameraden. Aber nicht bloß, weil er das Leben großzügig nahm, sondern hauptsächlich deswegen wurden wir Freunde, weil er einer jener wenigen damals war, die an der Überzeugung festhielten, daß die Dichtkunst über Prosa und Dramatik erhaben sei, wenn auch augenblicklich der Zug des Zeitgeistes verächtlich auf Gedichte und gereimte Dichtungen herabsehen wollte.

Dieses Vertrauen für die Dichtkunst bei ihm zu entdecken, das war mir ganz überraschend gewesen. Der Gedanke, einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, machte mir ihn besonders wert. Ich war erfreut, daß ein Mann, der die Wirklichkeit und stets die Wirklichkeit vor Augen gehabt hatte, in seinem Innern die Dichtung, die damals die verachtetste Kunst in Deutschland war, hochhielt.

Er hatte eben erst auf seiner Rückreise von Amerika den holländischen Dichter Gorter, den ich damals nicht einmal dem Namen nach kannte, in Holland aufgesucht. Gorters Gedichte und dessen Gedichtbuch „Mai“ waren ihm Heiligtümer geworden.

In jener Dichtung „Mai“ ist der Frühling als ein kleines Mädchen beschrieben, das auf einem Kahn durch die Kanäle Hollands fährt. Und die Dichtung erzählt in schlichten und reichen Bildern, durchdrungen von weiser Innerlichkeit, was das kleine Mädchen, das „Mai“ heißt, erlebt. Er erzählte mir außerdem, daß Gorter den einfachen Beruf eines Lehrers ausübe, und daß er eine schöne Gesprächsstunde bei ihm in seinem Hause erlebt habe, aber daß Gorter sehr traurig gewesen, da ihn sein Lehrerberuf quäle.

Auch hatte der Schwede Walt Whitmans großen Band „Grashalme“ aus Amerika mitgebracht. Auch von diesem Dichter wußte ich nichts Genaues. Ich hatte nur seinen Namen flüchtig nennen hören, denn in Deutschland war er damals so gut wie nicht bekannt.

Mit diesem Freund, der jetzt in sein Vaterhaus, nach beinahe zweijähriger Abwesenheit, zurückkehrte, flog ich im Schlitten über die Hügel der weiß verschneiten schwedischen Provinz Bohuslän, wo jetzt Ende März der Schnee noch viele Fuß hoch ausgebreitet lag.

Es war aber nicht bloß die Lust an der Dichtung, die uns beide zu Freunden gemacht hatte, sondern auch die Lust am Wirklichkeitsleben. Aber darin, fand ich, war der Schwede mir überlegen. Er kannte eine Welt von Bedürfnissen, die ich nur vom Hörensagen genossen hatte. Er liebte schöne Frauen, gute Getränke, erlesene Speisen, gute Zigarren, neue Kleider und außerdem alle neuzeitlichen Bequemlichkeiten. Wohl waren meine Sinne ebenso wach für alle diese Genüsse wie die seinigen, aber die Gelegenheit hatte sich mir noch nicht so geboten wie ihm, die Welt der weltmännischen Genüsse aufzusuchen und zu pflegen.

Es erstaunte mich gleich zu Beginn der Reise, mit welch ausgesuchter Feierlichkeit er sich im Hotel zu Tische setzen konnte und mit welcher Ruhe und Gründlichkeit er die Speisekarte untersuchte. Ebenso verblüffte es mich, daß den schweren Mahlzeiten sofort Kaffee, Likör und Zigarren folgen mußten, oder daß vormittags vor der Mahlzeit ein Magenbitter oder irgendein Bolzgetränk zur Anregung des Appetits genossen werden mußte.

In meines Vaters Haus war gut gekocht und gut gelebt worden. Aber ich hatte in all den Jugendjahren keine Zeit gefunden, den Gaumengenüssen nachzuhorchen, und ich wäre wahrscheinlich noch lange nicht auf den Gedanken gekommen, die Leibesgenüsse zu pflegen, hätte ich nicht in jenem Schweden einen Meister des Genießens gefunden. Ein gedeckter Tisch schien ihm ein Altar zu sein, an dem er für eine Stunde einen Gottesdienst abhalten konnte. Und die Würde, die Ruhe und die Andacht, mit der er das Zerlegen des Bratens, das Salzen der Speisen, das Betrachten der aufgetragenen Schüsseln vornehmen konnte, machten, daß man die Mahlzeit in seiner Nähe für eine heilige Handlung halten mußte. Und ich mußte bei seiner Art an die alten Helden Homers denken, die einst mit derselben schönen Umständlichkeit und Andacht die Hände zum lecker bereiteten Mahle erhoben hatten.

So ließ ich es mir gern gefallen, länger, als ich es früher getan, beim Essen und bei Essensfragen zu verweilen, und gewöhnte es mir an, mir den Schweden darin als Vorbild zu nehmen. Denn ich merkte, daß es mir gar nicht schädlich war, den Körper mehr zu beachten, als ich es früher getan, und ihm Genüsse zu gönnen, zu denen ich vorher mir nicht Zeit und Ernst genug eingeräumt hatte.

Ich begriff auch bald, je länger ich in Schweden war, daß es in einem so ruhigen und verhältnismäßig menschenleeren Lande jedem Menschen von der Natur leichter gemacht wird, mehr Zeit für sich und seine Lebensansprüche zu finden. Im hohen Norden mag es auch die vernichtende Kälte sein, die den Menschen zwingt, den Körper widerstandsfähiger aufzubauen und ihm breiteres Behagen zu bieten.

Auch diese Wahrnehmung machte mir Schweden lieb. Die Ruhe und Breite, mit der jeder einzelne Mensch seine Lebenstätigkeit nahm, diese Art tat mir wohl. Ich war als Bayer gewöhnt, den Körper ebenso gewichtig zu nehmen wie den Geist, welche Art ich bei Norddeutschen und besonders bei den Berlinern damals vermißt hatte, die mehr im Gedanklichen aufgingen.

Im Pfarrhaus, das in der einsamsten Einsamkeit, die man sich kaum ausdenken kann, wie am Weltende lag, in jenem Pfarrhaus murrte es erst in meinem Innern einige Tage, wie es im Magen eines Fleischessers murren mag, dem plötzlich reinste Gemüsekost verordnet wird. Man stelle sich vor, daß ich mitten aus dem Wintertrubel der Millionenstadt Berlin in eine Schnee- und Granitwüste verschlagen war, in ein großes weißes Holzhaus, in dem man den ganzen Tag als einzigen Laut eine Zimmeruhr ticken hörte. Sie war wie das alte Herz des alten Hauses. Sie redete den ganzen Tag vor sich hin in einem mächtigen Wohnzimmer, dessen viele Fenster ins Lautlose sahen. In den Vormittagsstunden kam zu einem Südfenster die Sonne hinter großen Blumenstöcken herein, und ich möchte sagen, daß es mich nicht verwundert hätte, wenn ich in der Stille dieses einsamen weltfernen Zimmers auch plötzlich das Vorwärtsrücken der Schatten der Blumenstöcke, die die Sonne über die Diele zeichnete, laut und deutlich gehört hätte, ebenso laut wie die laut marschierende Uhr.

Im Hause befanden sich unten große Erdgeschoßwohnräume und darüber unter dem Dach einige Giebelzimmer. In diesem einsamen Hause ging der Pfarrer, der Vater des jungen Schweden, wie der alttestamentarische Liebegott, alt und weißbärtig, stattlich und ehrfurchtgebietend, die Treppe zu seinem Studierzimmer hinauf und hinunter.

Ich hatte nie vorher in einem Holzhause gewohnt, und die unwahrscheinlich dünnen Wände, die doch keinen Laut hereinließen, weil es draußen noch stiller als drinnen war, diese dünnen Wände machten mir das Haus noch unwirklicher, als wäre es eine Erscheinung, gleichsam als wohnte ich in Eierschalen und könnte das Haus leicht zerbrechen und könnte in der Stille draußen körperlos aus diesem unkörperlichen Haus fortschweben.

Die älteste Tochter des Pfarrers, ein Mädchen von vierundzwanzig Jahren, und eine Gesellschaftsdame führten mit Hilfe mehrerer Mägde den Haushalt. Das Brot wurde im Hause gebacken. Die Milch kam aus den Ställen. Fische brachten die Fischer von Fjellbacka. Zu den Festtagen des Jahres wurde ein Kalb oder ein Schwein geschlachtet und eingesalzen. Die Hauptnahrung waren Fische, Milch, Grütze und Brot. Die Mutter des Schweden, die Frau des Hauses, lebte im Winter mit den jüngeren Töchtern und einem jüngeren Sohn in der Stadt Gothenburg, wo die Kinder in die Schule gingen. Sie kam mit diesen nur im Sommer und zu den Festtagen in das Pfarrhaus.

Der Begriff, daß Menschen mit Fleisch und Blut dieses einsame Haus bevölkerten, der kam mir dort, wenn ich allein in einem von diesen totstillen Zimmern stand, leicht abhanden. Denn draußen sah ich jetzt, in den Tagen im April, wo der Schnee, zu großen Stücken zerrissen, von der Sonne weggeleckt war, keine Ackererde, keinen Grasboden, sondern überall nur Granit, überall steinerne Granitbuckel. Als trüge das Land eine eiserne Rüstung, so unbeweglich starrte der graublaue Granit mich von allen Himmelsgegenden her an. Alle Hügel rundum, von denen der Schnee verschwand, waren gewölbte Granitkuppeln, ebenso wie es die Inseln im Meere draußen waren, die ich auf der Herfahrt gesehen, und zwischen denen meine Stimme wie in Kellergewölben gehallt hatte.

In diesem steinernen Schweigen war es mir zuerst, als sei ich in einen ungeheuren Kerker geraten. Die Leute, bei denen ich zu Gast war, schienen meine Kerkermeister zu sein. Da ich noch nicht Schwedisch konnte, konnte ich nicht an den Gesprächen und an der harmlosen Unterhaltung teilnehmen. Im Haus bemühte man sich zwar, das Schuldeutsch, das jeder in Erinnerung hatte, aufzufrischen und mit mir deutsche Sätze zu radebrechen. Aber man kam oft eine Stunde lang nicht über zwei Sätze fort, und die Unterhaltung stockte meistens im Gelächter über die deutsche Aussprache. Zum Beispiel verkündete mir die Tochter des Hauses eines Tages auf einem Spaziergang, daß sie sieben Greise im Stalle hätten und zu Ostern einen Greis schlachten würden. Sie verwechselte das schwedische Wort „gris“, das Schwein bedeutet, mit dem deutschen Wort „Greis“.

So hörte ich denn wie ein lebendig Begrabener auf das Leben rundum, ohne ihm näher kommen zu können. Aber um so schärfer wuchs die Aufnahmefähigkeit meiner Augen und Ohren, je länger ich zu unfreiwilligem Schweigen verdammt war. Und es ist mir heute, als seien meine Sinne in jenem Hause dort für alle Zeiten geschärft worden. Und vor allem lernte ich Landleben kennen. Ich, der vorher nur von Stadt zu Stadt gezogen war und das Land nur in der engsten Heimat kennen gelernt hatte, freute mich, hier Land- und Meeresleben und Dichtungsleben zusammen genießen zu können.

Denn oft lange Vormittage saßen der junge Schwede und ich in dem großen Wohnzimmer bei der tickenden Uhr und versuchten Gorters holländische Verse zu übersetzen und ebenso Walt Whitmans englische Verse. Und der Eifer ging mir dabei ebensowenig aus wie dem Schweden der Rauch seiner kostbaren Zigarre.

Gegen Ende April konnten wir die Zimmer verlassen. Der heftige nordische Frühling setzte über Nacht ein. Auf vielen der Granitbuckel trieb das purpurne Preiselbeerkraut, das die Hügel bedeckte, rote Blätter, und ferne Hügel standen tagsüber wie blutübergossen in der Sonne.

Der alte Pfarrer, der alte Liebegott mit weißem Bart, hatte mich öfters in seinem kleinen Wagen bei seinen Überlandfahrten mitgenommen, zu Krankenbesuchen oder zu Besuchen in anderen Pfarrhäusern. Und ich hatte mich immer wieder wundern müssen über die Einsamkeit und über den Granit, die auf Meilen über Meilen hier nirgends ein Ende nahmen.

Wo sich zwischen zwei Granitbuckeln ein wenig Humuserde angesammelt hatte, da hatte auch meistens an dem Rand des Erdfleckchens und im Schutz des Granithügels ein Menschenpärchen sein Holzhäuschen gebaut. Nirgends im Lande war ein Dorf. Die ganze Provinz schien ein einziges weites Dorf zu sein. Nur lagen die Häuser nachbarlich meilenweit auseinander. Und auf diesen Meilenstraßen fuhr der alte Pfarrer mit seinem alten Wägelchen, mit seinem alten zwanzigjährigen Gaul, als Hirte in dieser Einsamkeit tagelang umher.

Die kleinen rotgetünchten Bretterhütten mit den weißen schmucken Fenstervierecken und der weißen Türleiste saßen zwischen grauen Granit geduckt und tauchten wie rote Gesichter aus ihren Winkeln in der Ferne auf, wenn wir durchs Land fuhren. Eine einzelne Birke oder ein vom Wind schief gewehter Ebereschenbaum schmückten karg die ununterbrochenen Steinwellen des Granithügellandes.

Hier kam der Wind nicht wogend und weich über Äcker und rauschende Halme, er prallte von Stein zu Stein und zerplatzte an den Granitkuppeln. Und als ich einmal im Frühlingstauwetter, gegenüber dem Pfarrhause auf der nächsten Anhöhe, die nur dreimal so hoch wie das Haus war, stand und auf die ferne Meeresstimme lauschte, die jetzt aus dem Eis mit der Brandung aufgewacht war, und die man auch mehrere Meilen von der Küste her immer wie ein fernes Gewitter donnern hörte, da sah ich die kleinen Schneewasser, die in den Granitsenkungen von der Bergkuppel herunterrieseln wollten, vom Winde senkrecht aufgestellt, so daß sie, ähnlich kleinen Springbrunnen, mehrere Fuß hoch in Strahlen zur Höhe zerspritzten.

Dort oben auf einem anderen Hügel in der Nähe des Pfarrhauses zeigte mir der junge Schwede eines Tages einige mannshohe Steine, die da, einen Kreis bildend, einst vor tausend Jahren von Menschenhand aufgerichtet wurden. Hier hatten die Wikinger den Ratring gehalten, und an jedem Stein stand einst ein Häuptling angelehnt, wenn die Ältesten unter freiem Himmel berieten. Die Männer besprachen hier ihre Kriegszüge. Und der unerschütterliche Steinboden unter ihren Füßen und der unerschütterliche Himmel über ihnen machte auch ihre Ratschlüsse fest und unerschütterlich und ihr Vorhaben, das sie hier planten. Die aufgerichteten Steine, die treuen Stützen jener Männer, standen nun noch nach tausend Jahren hier, unangetastet von der Zeit.

Als wir beiden jungen Männer uns jeder an einen der Steine anlehnten, mögen die greisen Blöcke sich gewundert haben, wie leichtbeweglich die Männer einer anderen Zeit geworden waren. Und vielleicht haben sie erst daran gemerkt, daß über ihnen tausend Jahre vergangen waren.

Und wieder oben auf einer anderen Granitkuppel beim Pfarrhause zeigte mir der junge Schwede eine große Steinplatte, darauf neun kleine Schiffe eingeritzt waren. Als früher das Meer bis an diese Steinplatte reichte und der Granithügel eine der vielen Inseln in der Meeresfläche gewesen ist, war hier ein alter Landungsplatz der Wikinger. Neun Boote landeten hier. Wenn damals die Frauen hier saßen und die neun Boote abends erwarteten, die von einem Kriegszug oder Fischzug heimkehren sollten, dann deckten sie mit den Händen die Zeichnungen der Boote auf der Steinplatte zu. Und für jedes Boot, das in die Bucht einlief, zog sich eine Frauenhand von den gezeichneten Booten zurück. So wußten sie, ehe die Boote noch landeten, ob alle heil heimgekommen und keines untergegangen war.

Tiefer im Lande waren auf anderen Steinplatten unter Dornbüschen noch mächtigere Granitzeichnungen zu sehen. Da zeigte man mir eine eingeritzte Bootszeichnung, die war so groß wie ein liegender Mensch, und der Drachenkopf am Kiel und die Schilde der Krieger im Boote und viel Runenschrift waren ausführlich mit viel Schmucklinien in den Stein eingegraben.

Die Runen spielten auch immer noch eine Rolle hier im Lande. Die Kinder lernten die Runenzeichen in der Schule und die Töchter im Pfarrhause hatten Bergstöcke, in deren Holz sie sich von ihren Bekannten Erinnerungsworte in Runenschrift einritzen ließen.

Die Töchter des Pfarrers waren frisch und gewandt, und die jüngste ritt oft früh morgens in ihren Ferien in weiten Reithosen auf ungesatteltem Pferd ins Land hinein. Und wenn sie heiß und mit offenem geringeltem Haar zurückkam und schnell ins Haus springen wollte, um sich umzukleiden, weil sie sich ihrer Reittracht vor mir schämte, kam sie mir in ihrem Gemisch von Wagehalsigkeit und Mädchenverschämtheit noch begehrenswerter vor als sonst. Aber sie war erst fünfzehn Jahre alt, und ich war nur ein junger Dichtersmann, zwar reich an vielen Plänen, aber sonst kapitalarm. Und ich wußte, daß ich hier noch nicht ans Freien denken durfte.

Der junge Schwede und sein Vater saßen am Spätnachmittag oder abends meistens jeder in einem Schaukelstuhl und rauchten ihre Zigarren, und der Alte ließ sich von seinem Sohn über dessen Rundreise und über die Amerikafahrt berichten. Der Alte war einmal als junger Student Hauslehrer in Brasilien gewesen. Er kannte also auch die Welt ein bißchen, und er schmunzelte behaglich und frischte bei den Reiseerinnerungen seines Sohnes seine eigenen Reiseerinnerungen auf.

In jenen Stunden, wenn Vater und Sohn sich in ihrer Sprache unterhielten, ging ich draußen auf den Steinwegen umher und wunderte mich, wie beweglich jetzt im Frühling sogar das unbewegliche Steinland wurde. Da waren tausend kleine Wasser, die wie ein verstricktes Netz über alle Hügel und Berge gerieselt kamen, und überall hörte man die Echos von Tropfen noch tagelang, nachdem die kleinen Bäche längst versickert waren.

In der Osternacht standen dann die Hügel dunkelblau und trocken, aber ein heller gelber Berg kam wandernd am Erdrand herauf. Der war zuerst nur ein kleiner Hügel in der Ferne. Mitten unter den abenddunklen Hügeln ein einziger sonniger Hügel. Und er wuchs, während ich wanderte, und rollte über die fernen Granitkuppeln fort und wurde zur goldenen Vollmondskugel, die sich vom Erdboden ablöste.

Der Mond hier in den ewigen Steinen war wie ein Leib aus Fleisch und wanderte wie ich, und ich hätte mich nicht gewundert, wenn ich ihm dann später in einem der stillen Steintäler an einer Wegecke ganz nah begegnet wäre. Er schien mir hier keine ferne Welt zu sein, die da im Weltraum um die Erde kreist. Er war in diesen einsamen Tälern, wo niemand meine deutsche Sprache sprechen konnte, und wo ich so allmählich lernte, schweigend mit den schweigenden Dingen zu reden, mein heimatlicher Wanderkamerad.

Aber ich dachte mir dabei den Mond nicht als Menschen aus, mit dem ich plaudern wollte. Ich sagte nicht du und nicht Sie und nicht Mann und nicht Frau zu ihm. Ich ging und er ging, und wir schwiegen und verstanden uns, und näher bin ich dem Mond nie wieder gekommen als in den einsamen Steinhügeltälern in Bohuslän, wo wir Kameraden waren und im fremden Lande deutsch sprachen.

Da gab es auch einen Platz am Weg beim Pfarrhaus, wo ein Dachs wohnte. Seit Jahren wohnte er da und war ein alter Nachbar des Pfarrhofes. Und wenn ich mit einer der Töchter spazieren ging, sprachen die jungen Mädchen immer geheimnisvoller und leiser in der Nähe der Wohnung des Nachbarn und riefen ihm Scherzworte zu wie einem alten Hausfreund.

Und da war ein kleiner Birkenhain am Fuße eines Hügels und am Rande eines Baches. Wenn wir dort hinkamen, sprachen die Mädchen noch leiser und legten den Zeigefinger auf den Mund, weil im Frühlingsabend der Birkhahn balzte. Der war der zweite Nachbar. Und er balzte dort in jedem Frühjahr, solange die Leute denken konnten. Vielleicht war es immer ein anderer, aber davon sprach man nicht.

Und der junge Schwede — der neben der Schriftstellerei auch Botanik pflegte — hatte eine Birke dort am Waldrand besonders lieb. Und schon als Knabe hatte er in jedem Frühjahr die Birke mit seinem Messer angeschnitten und ein kleines Rohr in den Stamm gesteckt und sich den Birkensaft in den Mund träufeln lassen und hatte oft so der Birke Herzsaft genossen.

Wenn er jetzt manchmal heimkam vom Walde, hatte er wieder seine Birkenfreundin besucht, und dann war er immer schwärmerisch gestimmt. Er behauptete auch oft, wenn er von seinen Spaziergängen heimkam, wunderbare Blumen gefunden zu haben. Doch wenn er sie mir zeigte, waren es die allerwinzigsten Blüten der Welt. Denn andere wuchsen dort in der steinernen Welt im Vorfrühling noch nicht. Stiefmütterchen, deren Blüte nicht größer als eine Linse war, kleine blühende Bärenmoose und die kleine Linea, die stark mandelduftende Lieblingsblume der Schweden, die nicht größer als ein großer Stecknadelkopf ist. Wunderbar waren diese winzigsten Blumen wohl, aber ich hätte, an die deutsche Flora gewöhnt, diese fast unsichtbar blühenden Pünktchen nicht Blumen nennen können und erwartete immer, wenn der Schwede von Blumen sprach, daß er einen Strauß von großen Blüten nach Hause bringen würde, wie ich sie aus deutschen Wäldern und Wiesen kannte.

Oben auf den Granitkuppeln, wo wir im Vorfrühling, nachdem der Schnee so plötzlich verschwunden war, zur Mittagsstunde, wenn die Sonne die Steine wärmte, am liebsten saßen, weil man von dort die ferne Meerscheibe sehen konnte, dort wuchs aus Steinplatten heraus eine rote krallenartige Blüte. Und der Schwede fing manchmal eine kleine Spinne oder eine Fliege und warf sie auf die Krallenblume. Jedes Glied dieser Blüte war eine kleine Röhre und sah klebrig glänzend aus. Ein solches Röhrchen krümmte sich sofort und verschluckte das ihm zugeworfene Insekt. Diese Blume lag da vor uns im Sonnenschein auf dem Granit, der früher Meeresboden war, und erinnerte an den verkümmerten Rest einer einst hier lebenden Tiefseepflanze, die sich am Meeresgrund Beute gefangen hatte mit schlangenartigen Armen, und die nun die Insekten in der Luft belauerte.

Winzige Eidechsen huschten vertraulich, wenn wir auf den Steinen saßen, bis an den Rand unserer Schatten. Dann aber erschreckten sie vor unseren beweglichen Schatten zurück und schossen wie kleine Pfeile davon.

Die kahlen Granithöhen, deren es Tausende bis tief ins Land hinein gab, zeigten wenig scharfe Ecken oder Kanten. Man sah ihnen allen an, daß das Meer sie einst rund gewaschen hatte in mehrtausendjähriger Arbeit. Und dieses, daß da rundum im Land nicht zackige Felsen waren, sondern zu Kuppeln geschliffene, glattgerundete Höhen, an denen man noch den Gang der großen Meereswellen, die sich einst hier überstürzten, deutlich eingeprägt und eingewaschen sehen konnte, dieses vom Meer einst umspülte und jetzt verlassene Granitgekröse, das jetzt statt des Wassers Sonnenlicht und Wärme auf sich leben fühlte, gab dem Gesicht der Landschaft ein unheimliches Gemisch von alter versteinerter Sturmpracht und unendlicher himmlischer Friedlichkeit.

Wenn Westwind war und man das Ohr auf einen Steinbuckel legte, hörte man in ihm das meilenferne Meerdonnern, das fern in Fjellbacka an die Küste gezogen kam, und das deutlich den Steinen tief im Lande Stimme gab. Es war, als kehrten die alten brausenden Erinnerungen in die fernen Granitmeilen der Hügel und Täler zurück. Und man würde sich nicht gewundert haben, wäre plötzlich das wirkliche Meer angestürzt gekommen in die hügeligen Granitwüsten, die in der Frühlingssonne nicht auf Blüten, sondern auf weißen Meerschaum zu warten schienen.

Hinter dem Pfarrhause, einige hundert Schritte fort im Tal, lief ein Bach am Rande eines verwachsenen Obstgartens. Woher der Bach kam und wohin er lief, wußte ich nicht. Er kam vielleicht aus irgend einem der alten Eichenwälder, die ein paar Meilen weiter drinnen im Lande, urwaldähnlich, in üppiger bemooster Herrlichkeit, ohne Forstaufsicht, vorweltlich wuchsen. In dem kleinen Tal hatte das stille Wasser im Verein mit Abend- und Morgennebeln seit Jahrhunderten den Granit mürbe gemacht und hatte Humus und Waldabfälle in all den Zeiten reichlich angeschwemmt und hatte mitten im Granit ein paar Wiesen und Gartenerde geschaffen.

Und die Wärmeausstrahlung des Granites, der sich in der Sonne schnell erhitzte und nachts noch warm blieb, machte, daß im Frühling in jenem Tal am Bach entlang die Wiesen über Nacht blitzrasch aufblühten, so daß sie fast nicht natürlich, sondern wie plötzlich künstlich hingestellt aussahen. Halme und Wiesenblumen schossen in acht Tagen hoch. Da waren Schierlingpflanzen, Sauerampfer, Salbei, die da eilig in den Himmel wuchsen, üppiger als auf irgendeiner anderen Ackerwiese. Und die Wiesenkräuter dufteten in der reinen Steinluft nach reinstem Honig und nach starken Gewürzen. Das Grün und die siebenfarbige Blumenschar waren hier leuchtender und selbstherrlicher als auf irgendeiner Wiese der Erde.

Eingerahmt von den dunklen, am Tage noch nachtblauen Granithügeln, die auf der Sonnenseite wie altes Silber schimmerten und rötliche und lila Schatten warfen, wirkten die wachen Wiesen wie ein greller Spuk, unwirklich in dem unwirklichsten Land, das ich je gesehen habe.

Eines Tages hatte ich lange mit dem alten Pfarrer über Deutschland gesprochen. Der alte Herr hatte einmal vor Jahren in Halle und Leipzig studiert. Und wie ich mich so recht an die deutsche Heimat zurückerinnerte, da fiel mir erst auf, wie fremd hier um mich alles war. Ich war im Gespräch mit dem alten Herrn in Gedanken in deutschen Straßen bei deutschen Lauten, auf deutschen Wegen, an Äckern, Kornfeldern hingewandert und sah mich dann zurückgekehrt vor einem der Erdgeschoßfenstern des großen Wohnzimmers im schwedischen Pfarrhof stehen und sah draußen zwischen den rotgetünchten Stallungen und den rotgetünchten Futtermagazinen den blauen granitbuckligen Felsenboden, den keine Menschenhand hier bewältigen konnte. Granit überall in mannshohen Buckeln und in tiefen Furchen. Der Granit machte auch noch den inneren Hof zwischen den Stallungen und dem Wohnhaus kraus. Wie ein zu Stein erstarrter Wasserfall stand der Granit vor den Fenstern, in steinerstarrten Strudeln, unerbittlich dem Menschen trotzend, hie und da roten Eisenrost zeigend und offenliegende Eisenadern. Furchtbar gerüstet und fremdartig starrte so das Land rund die wohnlichen Holzbauten und mich deutschen Menschen an.

Wenn es Abend wurde, und die Sonne hinter den nächsten Steinkuppen schwand, ließ sie den staubreinen Himmel zwar noch lange glashell leuchten, aber die stumme Steinlandschaft verwandelte sich, sonnenverlassen, rasch in eine dunkle Kohlenlandschaft, die schien geformt aus riesigen Schlackenmassen voll Höhen und Tälern. Fast angstvoll sah ich dann immer auf die ungewohnte Verwandlung. An jenem Abend, nachdem ich im Gespräch mit dem alten weißbärtigen Herrn weit in Deutschland geweilt hatte und er mich fragte, wie es mir in Bohuslän gefiele, mußte ich unwillkürlich ausrufen:

„Fremder könnte ich mich nicht fühlen, wenn man mich plötzlich von einer Erdlandschaft in eine Mondlandschaft versetzt hätte.“

Und ich bat, man möge mir eine Landkarte zeigen, damit ich mich überzeugen könnte, daß ich wirklich nur eine bis zwei Tagesreisen von Deutschland entfernt war. Denn ich hatte, solange ich jetzt in Schweden war, noch keinen genauen Begriff davon, unter welchem Breitegrad ich eigentlich lebte. Und wenn man mir gesagt hätte: „Sie sind ganz nah am Nordkap,“ so hätte ich vielleicht erstaunt gefragt: „Ach, bin ich nicht weiter von Deutschland fort?“ Denn die Landschaft hier im Vorfrühling erinnerte wirklich mehr an Landschaften auf dem Mond als an Erdgebiete.

Auf der Karte sah ich dann zwar zu meinem Erstaunen, daß die bohuslänsche Küste nur am Skagerak lag, dessen Meereswellen von Schottland und von der Nordspitze Dänemarks, von Skagen herüberkommen. Ich war also mitten in mir bekannter Geographie und war noch nicht einmal in Norwegen und hatte doch, der Landschaft nach, geglaubt, ich befände mich schon am äußersten Ende der Welt oder vielleicht gar nicht mehr auf der Erde.

Ich hatte in den ersten Tagen gefürchtet, mit dem Pfarrer über Glaubensfragen in Streit zu geraten. Aber dieses Pfarrhaus war so einzig dastehend in der Welt wie die Landschaft, in der es lag. Es herrschte da jene echte selbstverständliche Lebensandacht. Die Würde und die Ruhe, die den alten Pfarrer umgaben, waren ebenso unerschütterlich wie die Weltallwürde der Granithügel draußen. Denn dieser Geistliche dachte nicht daran, Glaubensfragen irgendwelcher Art aufzuwerfen oder aufzutischen. Sein Leben war tägliche Amtsarbeit, durchdrungen von ernster menschlicher Güte.

Zu Anfang jeder Woche besuchte der alte Herr bei Wind und Wetter — die dort schneidender als irgendwo sein konnten — ferne, verstecktgelegene Armeleutehäuschen seines Sprengels, wenn er vorher Nachricht bekommen, daß irgendein armes Weib oder ein Kind oder ein alter Mann krank lagen. Am Mittwochnachmittag war Katechismusstunde. Aber man denke nicht, daß da Kinder ins Haus kamen, um die Sprüche und Gebote des Katechismus aufzusagen.

Es gab im Pfarrhause eine Bank, die stand unter dem Gebälk des Dachbodens, wo des Pfarrers Arbeitszimmer als breite Mansardenstube lag, und dort vor der Tür, unter dem schiefen Dach, saßen an jedem Mittwoch schiefgebückte und ein wenig schiefgeratene Frauenzimmer der weitzerstreuten Gemeinde. Da waren Frauen, die Ehebruch begangen hatten, und junge Mädchen, die der Verführung eines Burschen nachgegeben hatten und sich nun Mütter werden sahen, ehe sie noch mit dem Burschen einen Hausstand gegründet hatten. Diese Verfehlungen gegen Haustreue und Gesellschaftssitte mußten vom Pfarrer dadurch gerügt werden, daß die betreffenden Frauen zusammen Mittwochs zur Katechismusstunde befohlen wurden, wobei sie noch einmal das betreffende Gebot, das sie außer acht gelassen hatten, sich einprägen mußten und sich vom Pfarrer einige darauf hinweisende Worte zum besseren Verständnis ihrer Lebensstellung sagen lassen mußten.

Der junge Schwede machte sich an jedem Mittwoch immer ein besonderes Vergnügen daraus, mich aus dem Giebelzimmer, das ich bewohnte, zu rufen, um mit mir langsamen Schrittes und plaudernd im Hausboden auf und ab zu gehen, wo die büßenden Frauen und Mädchen der Fischer oder Mägde der nächsten Güter auf der langen Bank verlegen beieinander saßen und auf den Pfarrer warteten.

Freitags war der Begräbnistag. Am ersten Freitag meines Aufenthaltes dort wußte ich das nicht. Als ich ahnungslos, am Giebelfenster sitzend, von meinem Buch zufällig aufsah, hörte ich fern am Himmelsrand, wo ein Schneeweg zwischen Granithügeln ging, einen Schlitten klingeln. Als dann das Gefährt am Pfarrhaus vorbeikam, bemerkte ich einen Sarg, der neben dem Kutscher einen großen Platz im Schlitten einnahm. Dieser eine Sarg erstaunte mich noch nicht sehr. Der Schlitten mit dem Sarg fuhr hinter die Hügel, wo die Kirche lag.

Aber nach einer Weile, als ich einen Spaziergang machte, kam auf einem ganz anderen Schneeweg, von einer ganz anderen Himmelsrichtung wieder ein Schlitten an, und als er näher kam, sah ich, daß dieser Schlitten auch einen Sarg mit sich führte. Und auf einem dritten Weg aus einer dritten Richtung hörte ich dann wieder einen Schlitten klingeln, und nun blieb ich neugierig am Kreuzweg im Schnee stehen, um zu sehen, ob er auch einen Sarg dabei hatte. Und wirklich, es war wieder ein Sarg auch auf dem dritten Schlitten.

Nun wurde es mir ganz unheimlich. Da schwarzgekleidete Leute in jedem Schlitten saßen, die in ihre Taschentücher weinten, so konnten die Särge nicht leer sein. Und da die Schlitten aus verschiedenen Himmelsgegenden kamen, nahm ich an, es sei im ganzen Land eine Epidemie ausgebrochen.

Ich hörte dann aber im Pfarrhaus, daß jeden Freitag der Beerdigungstag war. Da die Leichen in dem kühlen schwedischen Klima acht Tage zu Hause aufgebahrt liegen dürfen, konnte man es so einrichten, einen einzigen Tag in der Woche zum Beerdigen festzusetzen.

Samstag und Sonntags waren Kindstaufen und Hochzeiten angesetzt. Diese fielen aber meistens in die wärmere Jahreszeit und nicht in die Schlittenzeit, indessen die Särge natürlich auch in der wärmeren Jahreszeit nicht ausblieben.

Am Samstag und Sonntag sah ich dann immer von meinem Giebelzimmer aus, auf den verschiedensten Wegen, über den Hügeln Bauernfuhrwerke auftauchen, deren Kutscher schon von ferne beim Anblick des Pfarrhofs lustig mit der Peitsche knallten. Gewöhnlich fuhren zwei, drei kleine Wagen hintereinander; und alle Peitschen knallten, und die Räder sprangen hoch über den Steinboden, und die Wägelchen hüpften mehr, als daß sie fuhren, und die Insassen hielten ihre Hüte und ihre Tücher am Kopf fest. Nur lachende Leute kamen an diesen Tagen in den Pfarrhof. Sie wurden an der Haustür des Pfarrhauses ausgeladen und stiegen zum Pfarrer ins Studierzimmer hinauf, wo sie ihre Traupapiere abholten, um nachher zur Kirche zu fahren.

Oder ein anderer Trupp lachender Leute begegneten mir auf der Haupttreppe. Sie trugen ein kleines weinendes Kind auf weißen Kissen oder in dicke Reisedecken gehüllt. Das Kindchen hatte stundenlang im offenen Wagen reisen müssen, um seinen Vornamen im Pfarrhause zu erhalten und seine Aufnahme in die Gemeinde. Auch die Särge hatten oft stundenlang reisen müssen, um ihre Toten bei der Kirche zur Ruhe zu bringen. Ebenso mußten die Brautpaare von allen Windrichtungen stundenweit herreisen, um sich ihren Segen zum Ehestand beim alten weißhaarigen Liebegottpfarrer zu holen. Alles dieses war seit alters her so eingerichtet und wurde befolgt.

Des Pfarrers stattliches Landkirchlein lag hinter einigen Granithügeln, eine kleine Viertelstunde entfernt vom Pfarrhause. Das Kirchenhaus war ein schöner vielhundertjähriger behäbiger Granitbau mit gotischem Gewölbe und erinnerte an altschottische Kapellen. Ganz einsam lag das Gebäude in der Landschaft. Auf einer erhöhten Erdfläche, die den Friedhof bildete, stand diese schmucke silbergraue Kirche und hatte weite Fernsicht über das narbige steinerne Hügelland. Das Kircheninnere hatte Ähnlichkeit mit einem trutzigen Burgsaal. Die Sonne ging den ganzen Tag rund um diesen großen Kirchensaal, der einfach weißgetüncht war und doch einen festlichen Eindruck machte. Die Sonne sah auf ihrem Rundgang zu allen Fenstern in den Saal hinein.

Im Kirchhof draußen standen als Grabsteine viele mannshohe aufgerichtete Granitblöcke, und einige dieser Steine zeigten neuzeitliche Drachenzeichnungen, alte aufgefrischte Wikingererinnerungen.

Eines Sonntagmorgens fragte mich der junge Schwede, ob ich nicht einmal seinen Vater predigen hören wollte. Ich hatte längst gefürchtet, daß einmal im Pfarrhaus dieses Ansinnen an mich gestellt werden könnte. Und als ich fragte, ob der Pfarrer den Wunsch selbst ausgesprochen hätte, ob der Vater den Sohn beauftragt habe, mich zur Kirche zu führen, lachte der Gefragte und meinte, sein Vater kümmere sich nicht darum, was ich glaube oder nicht glaube, denn ich gehörte ja nicht zu seiner Gemeinde. Der alte Herr wisse recht gut, daß jeder nach seiner Art selig werden dürfe.

Wir gingen dann zur Kirche. Der Gottesdienst hatte schon begonnen, und der junge Schwede öffnete deshalb vorsichtig und langsam die Türe, erst nur ein wenig, um zu horchen, weil wir bei einer Pause eintreten wollten.

Dicht bei der Türe hörte ich aus dem Innern des Steinhauses eine laute Predigerstimme. Aber das schien nicht die Stimme des Pfarrers, nicht die Stimme eines gesunden, würdevollen und ruhigen Menschen zu sein. Diese Stimme klagte in den jämmerlichsten Lauten, ächzte, stöhnte und krümmte sich, als winde sie sich, um aus einem Menschenkörper zu entschlüpfen, der sie quälte. Und die Stimme näselte dabei, so daß ich ihr nicht glauben konnte, daß ihre Qual echt sei. Es schien mir, als jammere sie den Jammer eingebildeter Leiden; Leiden, die sie mit einer gewissen Wollust aufzählte. Die Stimme war wie die eines eingebildeten Kranken, der atemlos eine Krankheit nach der anderen an sich zu finden beteuert, und der sich und andere überreden muß, an diese Krankheiten zu glauben, weil er getrieben ist von einer unerklärlichen Notwendigkeit, fortgesetzt mit Krankheiten, die nicht vorhanden sind, sich und andere zu beschäftigen.

„Das ist doch nicht Ihr alter, ernster, Ihr stattlicher und rüstiger Vater, der da drinnen von der Kanzel spricht,“ sagte ich tief erstaunt zu dem jungen Schweden, nachdem ich einen Augenblick sprachlos draußen vor der Kirchentür gelauscht hatte. „Das ist doch nicht seine natürliche Stimme, mit der er sonst so weise, vornehm und würdevoll im Hause mit uns spricht.“

Der junge Mann sah mich an und lachte. Er hatte seinen Vater oft predigen hören, und er begriff nicht recht, daß ich die Stimme des alten Herrn nicht wiederfinden konnte.

„Das ist er nicht! Das ist ganz unmöglich,“ behauptete ich. „Das ist ein fremder Geistlicher. Sicher hat sich Ihr Vater heute von einem anderen Prediger ablösen lassen.“

„Aber ich kenne doch die Stimme meines Vaters wieder,“ meinte nun der Sohn ernst werdend.

„Ob das nun Ihr alter Herr ist oder nicht,“ sagte ich, „dieser Stimme will ich jedenfalls nicht zuhören. Diese Stimme kommt mir so unwahr und so unmenschlich vor, daß ich dem Menschen nicht zuhören will, der diese Stimme hat. Wie kann man bei schönem Frühlingsonnenschein so wimmern, wenn man nicht todkrank oder am Sterben ist! Ich finde diese Stimme unvernünftig. Der Frühling lacht auf den Steinen, und die Steine selber sehen in der Sonne so festlich aus, daß ich es eine Sünde finde, wenn ein Mensch an diesem frohen Sonntagmorgen ein so gequältes Gewimmer aufschlägt, welches mir ganz unausstehlich in den Ohren weh tut und meine Menschenwürde plagt.“

„Es ist aber doch mein Vater,“ lachte jetzt wieder der Schwede, der meine Rede mehr lustig als ernst fand, und den es plötzlich gewaltig unterhielt, daß sein Vater zwei so verschiedene Stimmen hatte. „Das ist seine Amtsstimme,“ sagte er. „Mit dieser Stimme muß er zu den Bauern und zu den Fischern sprechen. Sonst glauben diese einfachen Leute nicht den Worten, die er zu sagen hat.“

„Dann können die Worte nicht wahr sein,“ meinte ich und murmelte diesen Satz vor mich hin, denn der Schwede streckte eben seinen Kopf durch die Türspalte in die Kirche hinein und zog ihn vergnügt wieder zurück und sagte:

„Natürlich ist es mein Vater und kein Hilfsprediger. Aber jetzt, wo ich die Verschiedenheit in seiner Stimme empfunden habe, kann ich heute selber nicht mehr, ohne zu lachen, in die Kirche hineingehen.“

Und wir gingen und wanderten, immer noch über den alten Herrn und seine Stimme streitend und sprechend, von der Kirche fort, und schritten lachend über das frühlingsbesonnte Steingesicht der Landschaft, das so aufrichtig und unverhüllt am Sonntag wie am Alltag mit gleicher Würde und Vornehmheit einem zu Herzen sprach, und das nur eine tiefe Weltallsprache und nur eine festliche Lebensstimme kannte.

Später zu Hause, beim Sonntagmittagstisch, war der alte Herr großgeistig genug, unsere Aussprache über seine zwei Stimmen, die wir vor der Kirchentür hatten, und die ihm sein Sohn erzählte, lachend und humorvoll aufzufassen. Und ich war dadurch einer peinlichen Erklärung meiner Weltauffassung, die ich unvermeidlich hätte geben müssen, enthoben.

Denn es ist mir nie eingefallen, solange mich meine neue Weltanschauung beschäftigte, sie irgend jemandem unaufgefordert einreden oder aufdrängen zu wollen. Trotzdem ich damals jung und lebhaft war, schwieg ich über meine Gedanken.

Teils schwieg ich, weil ich mich in den Jahren meiner Lebensunerfahrenheit älteren und in ihren Bürden und Gedanken weiß gewordenen Männern gegenüber nicht fürwitzig benehmen wollte, aber hauptsächlich schwieg ich deshalb, weil ich die neue Weltauffassung zuerst am eigenen Leben, am eigenen Geist und Körper durchkosten und anwenden wollte.

Ich schwieg aber nicht bewußt, ich fühlte nur unbewußt: die Zeit wird kommen, wo ich entweder die Auffassung von der Festlichkeit des Lebens vergessen, abgetan und als unsinnig empfinden werde, oder ich bleibe dieser Anschauung treu, und mein Leben und meine Lebensarbeit gestalten sich von selbst im Sinne meiner neuen Anschauung.

Und dann, wenn das einmal sein wird, dachte ich, dann habe ich in mir selber den Wirklichkeitsbeweis gefunden, daß man glücklich, weltfestlich und alle Leben verstehend und auf alle Leben eingehen könnend, auch zu den ältesten und zu den jüngsten Leuten wird sagen können: „Seht, ich weiß einen Weg, einen Gedankengang, der alle Handlungen des Menschen, die Tätigkeit und die Ruhe, die Freude und das Leid festlicher und reicher machen kann, als es bisher in allen Jahrhunderten der Menschheit möglich gewesen ist.

Sich Schöpfer und Geschöpf fühlen, ob man nun Handwerker oder Dichter ist, Mann oder Frau, König oder Knecht, sich zu fühlen als Besitz aller und als Besitzer des Alls, diese Kraft legt in eure Gedanken.

Mit dieser Kraft lebt euer Leben, und ihr werdet so reich sein wie jene Götter, die ihr euch immer reich gedacht habt, so reich werdet ihr dann sein. Ihr werdet allwissend, allfühlend, allweise sein. Ihr werdet allmilde, allgütig und gestreng sein, mit euch und allen Leben. Ihr werdet dem Menschenleben in dieser festlichen Lebensauffassung eine natürliche Schönheit geben. Und ihr werdet euch alle nicht mehr erniedrigen müssen, mit Doppelzungen zu reden.“


In den nächsten Tagen nach jenem Sonntagvormittag, an dem ich zum erstenmal in meinem Leben vor einer Kirchentüre umgekehrt war und mich von einer Doppelstimme hatte erschrecken lassen, dachte ich viel nach und sagte mir, daß ich wahrscheinlich niemals vor jener Kirchenstimme erschrocken wäre, wenn mir der Prediger unbekannt gewesen. Denn ich hatte eigentlich in der Kirche nichts anderes erwarten dürfen als den mir seit meiner Kindheit bekannten, halb klagenden, halb strafenden Kanzelton, bei dem wir Schulknaben alle unsere Sonntagvormittage bis zur Schulentlassung hatten verbringen müssen.

Aber hier in der fremdartigen Landschaft, auf dem heimatfernen Weltfleck, wo einen noch vor der Kirchentüre die Drachenzeichnungen alter starker Wikingererinnerungen auf aufgerichteten Friedhofsteinen empfingen und einem mächtige naturstolze Menschen aus der Vorzeit in die Vorstellung gerufen wurden, hier war in der Granitpracht des ungebändigten Landes und bei der Nähe des ungebändigten freien Nordmeeres die weinende, klagende, strafende und krankende Predigtstimme etwas, das sich so gar nicht in die starke Umgebung einfügte. So daß ich schon davon allein, vom Klang des jammernden Predigttones, bedrückt worden wäre, auch wenn ich gar nicht die schöne vornehme und kräftige Alltagsstimme des Pfarrers vom Pfarrhause her gekannt hätte. —

Kein Mann darf aber zwei Stimmen haben; die Amtsstimme und die Hausstimme sollen beide so ineinander verschmolzen sein, so wie Mund, Lunge und Herz im Amt und im Haus dasselbe bleiben und nicht an- und abgelegt werden können durch einen zweiten Mund, ein zweites Herz, eine zweite Lunge.

Das Hausamt ist ebenso feierlich und festlich zu nehmen wie das Weltamt, und keines darf das andere an Würde überbieten wollen.

Denn Kinder zu erziehen, lebende Menschen zu schaffen und zu bilden und zu versorgen im Hause, das ist eine ebensolche feierliche Arbeit wie die Amtsarbeit außer dem Hause, die Würde verbreiten soll in das Leben der Menschenmassen.

Aber es war außer der Stimme auch der Schrecken über die Lehre von der Erbsünde und über die Lehre von dem Lebensjammertal, der mich mitten im Frühsonnenschein wie eine mittelalterliche Dunkelheit an der Kirchentür überfallen hat. Die Stimme, die da drinnen in der Kirche nur von Strafe und Leid und Sorgen zu predigen schien, von irdischen Qualen und sehnsüchtig erhofften ungewissen Himmeln nach dem Tode, diese Stimme schien die Tagessonne auslöschen zu wollen.

Ich versuchte es in den nächsten Tagen nach jenem Sonntag im Pfarrhause öfters, wenn ich mich mit dem alten Herrn in altgewohnter Weise unterhielt und er sich so ernst und gemessen in seinem Schaukelstuhl im großen Wohnzimmer wiegte, ob ich die Kirchenstimme, die mir von jenem Sonntagmorgen her wie ein trüber Spuk noch im Geiste stand, in den stattlichen, wohlgepflegten und trutzigen Herrn, der einem Wikingerhäuptling ähnlicher war als einem Pfarrer, hineindenken konnte.

Es war mir das aber ganz unmöglich. Zu Hause sprach der alte Herr tief und gewichtig, verständig, gesund und bedeutsam, und sein Ton wiegte sich auf einer allmenschlichen Güte und Würde, und in seinen blauen blitzenden Schwedenaugen blinkte das Salz eines klugen Verstandes wie der Glanz des Meeres. Und wenn die Sonne vom Fenster her in seinen weißen Bart leuchtete und wir von Politik und Philosophie sprachen und sein Sohn ihn beim Deutschsprechen ein wenig unterstützte, dann war das ganze einfache Haus, das diesen Alten in Amt und Würden seit vielen Jahren beherbergt hatte, für mich mehr festliche Kirche als die Kirche, zu der der Pfarrer Sonntags ging, und in der er, wie mir schien, seinen Leib aufgab und als sein eigenes Gespenst auf der Kanzel stehen mußte und zu Gespenstern predigen mußte.

Diese Begebenheit verwischte sich aber bald, verdrängt von neuen Tagen und neuen fremdartigen Eindrücken.


Eines Tages, als wir auf der Höhe beim Pfarrhaus standen, der junge Schwede und ich, und nach der Ferne hinhorchten, wo es immer wie Erdbeben grollte und wo die Meerlinie mit ihrem Glanz den Erdrand silbern erscheinen ließ, da sagte mein Freund zu mir:

„Ich habe mit meinem Vater gesprochen. Er leiht uns morgen Wagen und Pferd. Dann fahren wir nach Fjellbacka. Dort nehmen wir ein Segelboot und segeln mehrere Tage.“

Es war nun Mitte Mai, und überall zwischen den Steinen grünte es, und die Birken winkten im Wind mit tausend kleinen grünen Wimpeln, und die Sonne ließ sich nicht vom Meerwind verjagen. Es waren keine Wolken mehr am Himmel, und ich war sehr erstaunt, als der Schwede mit der Hand über das Land nach der Richtung des Meeres deutete und mitten im hellen Maisonnenschein behauptete, heute wäre noch Sturm auf dem Meer. Aber morgen würde der Wind wohl nachlassen, da es schon mehrere Tage gestürmt habe.

Da fühlte ich zum erstenmal, als passe das Wort Landratte auf mich. Sturm, ohne dunkle fliegende, grell beleuchtete Wolken, Sturm bei klarem blauen Himmel und reinstem Sonnenschein, dieses Sturmbild hatte noch nie in meiner Vorstellung gelebt. Aber ich fühlte, daß der Wind scharf an uns anprallte, als wir da in der Sonne unterm wolkenleeren Himmel auf dem Granithügel standen. Also mußte es draußen auf dem Meer bei diesem Winddruck hohen Seegang geben.

Der Schwede zeigte mir von unserem Platz aus einige Brandungswellen, die man am Horizont wie den weißen Dampf aus einer Kanone über dem sonnenglänzenden Meeresspiegel aufsteigen sah. Dort prallte das Meer an unterirdische Klippen und sprang in haushohem Schaum zur Luft. Das tat es aber nur an Sturmtagen. An windstilleren Tagen kreiselte es, nur ein wenig aufspritzend, an jenen Meerstellen.

Am nächsten Morgen waren wir schon um vier Uhr aufgestanden. Ein Knecht hatte das Pferd geschirrt und den Wagen vors Haus geführt. Alles schlief noch. Die Mägde hatten vergessen, uns Milch ins Eßzimmer zu stellen, und so ging mein Freund selbst nach der Milchkammer, um uns einen Morgentrunk zu holen. Er kam aber gleich wieder, leise auf den Zehen gehend, und winkte mir verstohlen.

Um zur Milchkammer zu kommen, mußte man durch die große Mädchenkammer gehen. Und als ich hinter dem jungen Schweden dort eintrat, verstand ich lachend, warum er mich gerufen hatte. An den Wänden befanden sich in dem Raum drei pritschenartige schmale Betten, so schmal, daß sie kaum den üppigen Leib der Stall- und Küchendirnen fassen konnten, die da schliefen. Die Mädchen ließen die nackten Arme auf die Dielen herunterhängen, schöne stattliche Arme mit rosiger, zarter Haut, wie sie dem schwedischen Volke eigen ist.

Die lautlose Kammer im dämmerigen Morgenlicht, in der nur die Atemzüge der drei kräftigen Geschöpfe gutmütig auf- und niedergingen, war wie ein Bild aus Homers Zeiten. Ursprünglich, naturwüchsig und festlich irdisch war der Eindruck der gesunden, schlafenden Mägde, die da den Schlaf wie eine geweihte Mahlzeit vor uns genossen.

Während ich noch unter der Türe stand, ging der Schwede in die Milchkammer und holte den Milchkrug. Er konnte sich dann nicht enthalten, im Vorübergehen mit einem Löffel einige Tropfen Milch einer Magd auf den nackten Arm zu spritzen. Die so Gestörte öffnete die Augen, schien uns aber in ihrem angenehmen Schlafdunst für zwei Traumgesichter zu halten. Sie erschrak gar nicht, rückte auch die Arme nicht von der Stelle. Sie lächelte ein wenig, schloß die Augen und atmete weiter.

Wir schlossen wieder vorsichtig die Tür, und nachdem wir die Milch lachend getrunken hatten, verließen wir das Haus und kletterten auf den Wagen.

Im Augenblick aber, da der Knecht dem jungen Schweden die Zügel gab und, uns grüßend, sich zurückzog und der Wagen mit Lärm den Hof verließ, sahen wir hinter den Erdgeschoßfenstern der Mägdekammer alle drei Mägde hinter den Scheiben stehen. Sie drückten ihre Nasen an das Fensterglas und winkten uns zum Abschied ein wenig nach.

Sie hatten alle drei den muntern Sohn des Hauses gern. Dem jungen Schweden behagten auch die Landmädchen mehr als die Stadtfräuleins. Bei jeder Gelegenheit sprach er ein wenig spöttisch über Stadtdamen und lobte die gesunden einfachen Bauernmädchen seines Landes, deren Stallgeruch ihm angenehmer war als die überfeinerten Wohlgerüche der Städterinnen.

Er war auch der erste Mensch, dem ich begegnet bin, der in Paris gewesen war und die Pariserinnen nicht ausstehen konnte. „Sie sind nur eine Firnismasse und keine Menschen,“ behauptete er. „Es sind Wesen mit Schminke und Puder maskiert, verstandesmäßige, geldgierige Geschöpfe, deren ganzes Dasein sich in ewigen Berechnungen abwickelt, fern von allen natürlichen, einfach menschlichen und warmen, gütigen Gefühlen.“ Er sagte, er habe es nur drei Tage in Paris ausgehalten, so sehr habe ihn diese Stadt geekelt.

Ich war damals noch nicht in Paris gewesen und hörte diese Äußerungen mit Staunen. Ich hatte bis dahin Paris von den Deutschen immer nur loben hören. Dem urgermanischen Widerwillen gegen alles Romanische; dem Widerwillen, der die beiden Völker wie Hund und Katze in den tiefsten Instinkten einander nie natürlich befreundet macht, wenn nicht gegenseitige Geduld, Weisheit und Nachsicht walten, diesem Gefühl war ich noch nie so offen begegnet wie hier bei der Wikingernatur des jungen Schweden.

Ich war seit dem Tag meiner Ankunft aus Deutschland nicht wieder an der Küste in dem Fischerdorf Fjellbacka gewesen, denn der Ort lag zu weit weg, um ihn auf einem Spaziergang vom Pfarrhause erreichen zu können. Nun fand ich Fjellbacka frühlinghaft wieder. An der steil zum Meer abfallenden Hauptstraße standen die schmucken Holzhäuschen frisch weiß und gelb und blaßblau und rot bemalt, und in den winzigen Vorgärten, auf wenig Erde, zwischen buckligem Gestein, grünten sparsame Gartenbeete, in denen die wenigen Blumen kostbarer zu leuchten schienen als irgendwo; sie wurden hier den Menschen wertvoll, ähnlich dem Schluck Wasser, der in der Wüste den Wert von Menschenleben hat.

Fjellbacka heißt: Felsenhang. Die niedlichen roten Holzhäuschen kleben hier wie ein Haufen Schwalbennester an der grauen und lilarosigen Felsenwand, die dort zum Meer abfällt. Im Dorf sind winzige Gäßchen, und manches Häuschen ist nicht viel höher als ein Mensch. Manches Fischerhaus hat nur eine Küche und eine Stube, aber glänzt von Sauberkeit innen und außen. Die Gassen sind von Felsen natürlich, höckerig gepflastert, und jeder Schritt muß erklettert werden über kleinen und großen Granitbuckeln, die auch hier wie überall in Bohuslän in der Erde einen einzigen riesigen Stein zu bilden scheinen, der den Umfang einer ganzen Provinz behauptet.

Nachdem wir den Wagen in den Gasthof eingestellt hatten, traten wir unter einem nach Fisch und Teer duftenden, roten, hölzernen Vorratsschuppen hinaus auf eine Landungsrampe. Diese steht auf Holzbohlen ins Meer gerammt, und an ihr liegen unzählige kleine Boote der Fischer und Händler von Fjellbacka angeseilt.

Es machte mich fast erschrocken, wie dunkel und abgrundfinster das Meer mich ansah, das ich zuletzt, acht Wochen vorher, als weiße blinde Eisfläche undurchsichtig erstarrt gesehen hatte. Und nun spielte es mit kleinen kurzen quecksilberigen Wellen, die die Farben der verankerten bunten Fischerboote zurückspiegelten, als wäre das Wasser mit gelben, roten, blauen Glassplittern bestreut. Aber weiter draußen wurde das Meer ein dunkelgrüner Abgrund.

Es war mir einen Augenblick, als endete hier an der Anfahrtsrampe alle Erde, und das Meer schien einen Weltabgrund auszufüllen. Ich hatte das Meer vom Lande drinnen nur als ferne Spiegelfläche gesehen und ganz vergessen, daß es eine ungeheure Tiefe hatte. Bei der Winterfahrt vor einigen Wochen war mir die Meeresoberfläche, die vereist gewesen, wie ein weißer Ballsaal mit blankem Boden erschienen und hatte nicht von Tiefe gesprochen und von keiner Unergründlichkeit, vor der ich jetzt staunte.

Als wir dann ein Boot bestiegen und der Schwede mit Hilfe eines Fischers die Segel aufsetzte, da war es ein großer Genuß, sich vorzustellen, daß wir nun in dem Kahn auf der tanzenden Wasserfläche hin über Abgründe, in denen alle Möglichkeiten des Todes lauerten, schweben sollten.

Das Meer, das vor Fjellbacka nicht frei liegt, sondern nur einen Meerplatz bei der Küste bildet, der von den vorgelagerten Inseln wie von hintereinanderliegenden Hügeln begrenzt wird, das Meer hat hier durch die Eingeschlossenheit etwas Heimliches, Gemütliches. Man war hier erst in einem Vorgemach zum Unendlichkeitssaal des Meeres.

Ungefähr in der Mitte dieses eingeschlossenen Meerplatzes liegt ein winziges Steininselchen, das sich nur mehrere Fuß hoch über den Wasserspiegel hebt. Diese Insel, auf der kein Baum und kein Strauch steht, sondern wo nur ein paar Holzgerüste zum Trocknen von Fischen errichtet sind, dieser kleine hellgraue Steinbuckel befand sich noch im letzten Jahrhundert unter dem Meeresspiegel, und an jener Klippe ist damals bei einem Sturm ein Bischof in seinem Boot mit seinen Leuten aufgerannt und untergegangen.

Dieses erzählte mir der Schwede, während wir jetzt im schönsten Morgensonnenwetter an dem Inselstein vorüberkreuzten. Und es war mir wunderbar, auszudenken, daß Steine aus dem Meere wachsen und daß neue Welten sich bilden, und daß das hundertjährige kleine Inselchen noch wie ein Kind im Verhältnis zu den großen Inseln draußen war und doch schon hundert Menschenjahre zählte.

Und auszudenken, daß da einmal, wo wir jetzt über Abgründen, mit Meersalz bespritzt, in der Morgensonne hinfuhren, das Wasser verschwunden sein würde und überall Land auferstehen würde!

Daß dann da Menschen gehen und Häuser bauen würden, wo jetzt Wasser war! So wie das Pfarrhaus drinnen im Land auf Meeresgrund stand, so würden Menschen hier walten, und niemand würde sich dann der Menschen von heute mehr erinnern nach den Tausenden von Jahren; niemand würde an uns beide denken können, niemand an diesen Tag, an dem wir hier Wirklichkeit waren.

Und wir hatten doch wirkliche Herzen und Hände, die jetzt eben in jedem Augenblick auf unser Leben bedacht sein wollten, die die sonnendurchleuchtete Segelleinwand sorgsam an den Tauen der Windrichtung anpassen mußten und vorsichtig gegen den Wind kreuzen mußten, um unsere Leben über die Abgründe zu bringen, die unter uns lagen.

Und auszudenken, daß unsere Schatten und der Schatten des Schiffes, die als schwarze gezeichnete Flecken über die grüne Wasserfläche mitfolgten, nicht körperloser waren als die Körpermasse des Bootes und unserer beiden Menschengestalten! Und ich verstand, daß das Holz des Bootes und sein Leben und das Leben der Segelleinwand und unsere Körper aus Fleisch und Blut, die so verschieden aussahen, im Grunde sich in nichts voneinander unterschieden. Sie würden, wenn hier das Wasser verschwunden und dieser Meeresplatz ein Tal mit Menschenhäusern darin geworden war, alle in der Spurlosigkeit eins geworden sein. Dieses Meer von heute, dieses Boot von heute und wir zwei Menschen im Boot waren im Grunde körperlose Schatten.

Und diese Betrachtung, die sicher täglich an verschiedenen Orten der Erde und rund um die Erde Tausende von Menschen anstellen, diese Betrachtung, die angestellt worden ist, so lange Menschen auf der Erde leben, endete bisher immer bei allen Sterblichen mit einem Seufzer des Sichhineinfindenmüssen in die lästige Vergänglichkeit.

Die Menschen aller Zeiten sahen das Vergehen ihrer Gestalt fast als eine persönliche Beleidigung an, als eine Beleidigung, die ihnen jemand antat, jemand, von dem sie behaupteten, daß er stärker wäre als sie.

Und das Menschenleben konnte nie recht aufatmen, wenn es an die Vergänglichkeit erinnert wurde. Denn nur wenige haben den Gedanken in all den Zeiten zu Ende gedacht, der mit etwas Lebenslust so leicht zu Ende zu denken ist.

Es wird uns nichts angetan, auch, wenn wir am Ende unseres Menschenlebens den Tod zur Menschengestalt kommen lassen. Denn wir sind aus der Vergänglichkeit hergekommen, aus der Unergründlichkeit, und gehen in die Unergründlichkeit. Wir gehören also dem Unergründlichen immer an, auch in jeder Sekunde des Lebens, weil wir von dort herkamen. Aber wir gehören ebensogut immer der Wirklichkeit an, weil wir zur Wirklichkeit kommen konnten.

Da einmal für uns die Möglichkeit vorhanden war, ins Wirklichkeitsleben zu kommen, so können wir ruhig annehmen, daß diese Möglichkeit schon tausende Male und immer in uns vorhanden war und ist. Wir müssen verstehen lernen, daß wir bereits tausende Male zur Wirklichkeit gekommen sind, und daß wir viele tausende Male immer wieder dieselbe Möglichkeit finden werden. Die Unergründlichkeit, der Tod, hält uns nicht für ewig fest, so wie die Wirklichkeit, das Leben, uns nicht ewig festhält.

So denken logisch die meisten Asiaten heute schon, und so haben die alten Ägypter gedacht, und so sollten wir wieder denken, nur mit dem neuen Zusatz unserer in tausend Jahren weiter fortgeschrittenen Erkenntnis, daß jeder Mensch, der da stirbt, die Kraft des ganzen Weltalls so gut in sich trägt, in seiner ihm angeborenen Unergründlichkeit, wie er auch die Schwächen seiner kleinen Wirklichkeitsfigur zugleich mit sich trägt.

Und es ist kein Seufzen, mit dem ihr diese Betrachtung schließen müßt. Ihr müßt lernen, mit weisem Lächeln eurem Verschwinden nachzusehen. Ihr müßt es feiern lernen, daß eure kleine Wirklichkeit vergeht und immer wieder vergehen muß, und müßt wissen, daß ihr immer besteht als unvergänglich, so oft ihr auch das Wirklichkeitsspiel scheinbar verlaßt; das Festspiel des wirklichen Lebens behält euch immer.

Und wenn euch dann der Gedanke kommt: dieses Boot, in dem ich segle, dieses Meerwasser, auf dem ich fahre, diese Menschengestalt, in der ich heute die Segelfahrt genieße, sie werden in abertausend Jahren verschollen sein, dann werdet ihr lächelnd sagen:

Aber die Fahrt war deswegen doch festlich und genußreich, und es gibt noch Tausende von Sternen und Tausende von Lebensarten, auf denen und in denen wir wieder aufleben werden.

Ein schöner Tag, eine schöne Morgenfahrt wie heute, ist deswegen nicht weniger schön, weil sie vergänglich ist. Denn jedes Menschen Unergründlichkeit steht hinter seiner Gegenwart, seine Unergründlichkeit, die viel tiefer ist als diese Meerestiefe unter dem Boot, und die viel tiefer ist als alle Höhe über dem Boot.

Sie, unsere Ewigkeit, unser festlicher Besitz und der festliche Besitz aller, weilt bei mir im Boot, in mir, in meiner Gestalt. Sie schaut aus dem Wasser neben mir herauf, sie dröhnt aus dem Holz des Bootes, sie leuchtet aus der Leinwand des Segels, sie blickt mich aus dem Auge meines Kameraden im Boote ebenso an, wie sie aus meinem Auge ihn und alle Dinge rundum unergründlich ansieht.

Wie wenig ist dagegen die endliche Wirklichkeit, die ihr beweisen möchtet, der ihr nachseufzen möchtet, da doch die herrliche erhabene Unergründlichkeit — die ihr besitzt, und die euch besitzt — weitaus großartiger als die Wirklichkeit jede eurer kleinsten Handlungen beleuchtet!

Darum seufzt nicht über die unwirkliche Vergänglichkeit. Nichts stört euer großes Fest, ihr seid von Ewigkeit zu Ewigkeit mitten in diesem Fest, immer und ewig. —


An diesem Tage, bei dieser Segelfahrt, sah ich auch die Inselgassen wieder, in die wir nach der Durchkreuzung des Meeresplatzes eintraten. Die vielen Möwenvölker, die im Winter dagewesen, waren jetzt fortgeflogen. Sie sind im Sommer draußen, sagte mir der Schwede, auf den äußersten Inseln im offenen Skagerakmeer, wo sie brüten. Nur hie und da glitt ein einzelner Strandvogel durch die stille Luft der geheimnisvollen Gassen.

Ich mußte an Venedig denken, als wir zwischen den hohen Felsenwänden in den Wasserläufen im Boote hinglitten. An ein versteinertes farbiges Venedig! Während wir zwischen dunkelblauen und grauen Klippenwänden fuhren, leuchteten hohe goldgelbe Steinwände auf und purpurbraune getürmte Riesenblöcke, und im Wasser zuckten die Widerscheine auf vom feuerblauen Frühlingshimmel, der wie ein blaues Glasdach die dämmerigen Inselgassen hell überdeckte. Im Wasser kreiselten langgezogene, farbige Spiralen, rote, gelbe und blaue, auf grünem Schattengrund, als wäre das Meerwasser hier mit beweglichen schwimmenden Blumenmassen angefüllt.

Ernst sah uns jeder vorweltliche Steinkoloß an, der die Menschenstimme zurückgab und doch regungslos blieb. Hie und da wehte aus einer Felsenspalte ein verlassenes Birkengebüsch im Morgenwinde.

Tiefe Versunkenheiten waren um uns, die fernen, dem Menschen unbekannten Leben: die Gedanken und Gefühle der Fische, die Gedanken des Tangs und die Gedanken der versunkenen Steine und Muscheln, die Gedanken und Gefühle vorüberstreichender lautloser Vogelpaare, die Gedanken des Morgenlichtes und des Morgenwindes. Alle begleiteten uns, vereinigten ihr tiefstes Leben mit unserem tiefsten Leben und verstanden sich hier untereinander in den lautlosen Gassen, wo nur der Kiel des Bootes im Wasser knisterte und der Meerschaum an der Bootswand zischte. Meersalz, das eben noch im Wasserabgrund gelebt, klebte, angespritzt, an unseren Segeljacken, bildete dort Kristalle und blitzte uns an, aufgestanden vom Wasserleben zum Sonnenleben.

Solchen innersten Zusammenkünften der Gedanken- und Gefühlswelt, die der Wald oder der Fluß, das Meer oder nur ein Feldweg in Stille und Einsamkeit dem Menschen anbieten, diesen schweigenden unergründlichen Unterredungen zwischen Menschengedanken und Naturgedanken gaben die Menschen sich seit Jahrtausenden immer gerne willig hin. Ich meine die natürlichen, gesunden, einfachen und starken Menschen, jene klugen Menschen, die fühlen und wissen, daß nicht der Mensch allein dem Menschen Lebensklugheit gibt und Lebensreichtum.

Keine bewußten Gedanken machen einem vor der Natur jene Bereicherung und jenes Klügerwerden klar. Aber der ganze Mensch fühlt sich, wenn er wieder aus Natureinsamkeit, von jener schweigenden Unterhaltung, die er mit den Naturleben pflog, zu den Menschen zurückgekehrt, lebensbestärkter und lebenssicherer und benimmt sich dann also auch lebensklüger und lebensreicher zu den Mitmenschen.

Es ist nicht der Sauerstoff der Luft allein, nicht allein das wärmende Sonnenlicht, nicht die Stille allein, die den Menschen also in der Natur stärken. Es sind die unbewußten Unterhaltungen und Festlichkeiten, die entstehen, wenn sich die Unergründlichkeit des Menschen mit der Unergründlichkeit der anderen Lebewesen zu einem großen Schöpfergefühl vereinigt. Wobei das Geschöpf Mensch, ohne daß es sterben muß, totenstill und wunschlos wird und in Fühlung tritt mit seiner Unermeßlichkeit, mit seiner unsterblichen Urkraft.

Nicht bloß dem höher gebildeten Menschen, auch dem geistig tiefstehenden, ist es unbewußt innigstes Bedürfnis, von Zeit zu Zeit mit offenen Augen und offenen Ohren mitten im Naturleben, im Wald, Feld, auf einem Berg oder auf dem Meer sein Urweltgefühl dem Urweltgefühl der Naturleben bewußt oder unbewußt hinzuhalten und so für Augenblicke die Menschengestalt zu vergessen. — Der Dichter aber, der aus der Stadt fort von den Menschen wandert und seine Unergründlichkeit mit der Unergründlichkeit des Naturlebens zusammenlegt und sein tiefstes Menschengefühl, sein Liebesgefühl zu einem Menschen, in die Natur hinausträgt, ihm wird diese Vereinigung den Rhythmus eines unermeßlichen Liebesliedes geben. Und der Wald oder das Meer, der Berg oder der Garten, zu dem der Dichter sein Liebesgefühl hintrug, die Wiese und der Wind, der Vogel und der Baum, die fernsten Sterne und der nahe Mond, sie werden alle mit ihm zusammen Liebeslieder erfinden, wenn er seine Menschengestalt bei ihnen weilen läßt und seine Unergründlichkeit mit ihrer Unergründlichkeit umgibt.

Die Naturleben verwandeln sich, so wie das Wetter, zu jeder Tagesstunde, und so wie die Beleuchtung und die Jahreszeiten täglich wechselnd vorüberschreiten, so werden sie — wenn ein Dichter immer mit dem gleichen warmen Liebesgefühl von seiner Geliebten kommt, oder wenn er in Zweifel von ihr kommt, oder wenn er getrennt von ihr in Sehnsucht kommt, oder wenn er beglückt von ihr in Freude kommt — so werden sie immer wieder, wenn er mit seinem unergründlichen Liebesgefühl die anderen unergründlichen Leben betrachtet, für jede seiner Stunden, die er in ihnen untertaucht, ihm eine andere Melodie gleich einer neuen Perle schenken.

Und jedes so entstandene Gedicht wird anders singen, und es ist da kein bestimmtes Versmaß, das dem Dichter vorgeschrieben ist, als das Versmaß seines Herzens und seiner Umwelt. Denn das Weltall kann dem Dichter das Liebesgefühl täglich in neuen Versmaßen zusingen, so daß er eine tausendtönige Stimme erhält, und jeden Tag eine neue Melodie. Und später sieht der Dichter auf einen unermeßlichen Melodienreichtum zurück. —

In der geheimnisvollen Inselstadt, deren Häuser mammutartige Klippenblöcke waren und Klippenberge, dort war, ganz verloren und vereinzelt, manchmal eine Menschenhütte hingestellt, ein gelbes oder rotes Holzhaus eines Fischers, mit weißen Tür- und Fensterleisten, schmuck und freundlich. Ein solch einsames Häuschen wirkte aber wie verhext, wenn es hinter einer Klippenkante auftauchte und in den glasgegossenen Meergassen scheinbar dem Boot entgegenschwamm.

Wir stiegen bei einem solchen Haus aus, der Schwede und ich. Das Holzgebäude stand etwas vom Wasserspiegel abgerückt, ein paar Schritte fort auf Steingeröll, aber es hatte eine bretterne Landungsrampe auf Pfählen vor sich. Sonst wäre es unmöglich gewesen, an den steil ins Wasser abfallenden Felsenwänden zu landen.

Grabesstille war auf dem kleinen Geröllplatz. Das gelbe Häuschen und ein paar rotbemalte Holzschuppen daneben leuchteten uns an, als wären sie von einem gelb und roten Feuer beschienen. Erstaunlich farbig standen die Gebäude hier bei den grauen Gesteinmassen. Und nichts rührte sich rund um die Hauswände.

Nur ein paar Geröllsteine klapperten unter unseren Füßen und waren wie Wächter, die ein Signal geben. Dann schob sich eine Frauengestalt aus der Haustüre und kam uns in der Morgensonne einige Schritte entgegen.

Als der Schwede seinen Namen nannte, verstand die Frau, daß er des Pfarrers Sohn war, und ihr erstauntes Gesicht wurde freundlich.

Sie hatte ein einfaches dunkles Kleid an, und in der Stube, in die sie uns hineinführte, waren mir Tisch und Stühle, Schrank, Spiegel und Sofa und die Bilder der Königsfamilie so erstaunlich wie das Kleid jener Frau, denn alle diese Dinge waren aus derselben Zeit wie wir.

Ich würde aber eher erwartet haben, daß eine Wikingfrau im selbstgewebten Mantel uns in ein leeres Wohngewölbe geführt hätte, wo nur ein Herd und Felle an der Erde den Gast empfangen hätten.

Denn ich war durch Jahrtausende gefahren in diesen Morgenstunden in den Inselgassen und mußte mich erst wieder damit zurechtfinden, daß ich in meiner Zeit geblieben war. So ungeheuerlich war die Einsamkeit zwischen den Klippen hier gewesen, daß, als wir das Boot angelegt hatten, es mir schien, als hätte ich seit Menschenalter kein Land mehr betreten, und als hätte ich viele Leben gelebt.

Ich war auf der Herfahrt, über den Bootsrand schauend, in der Wassertiefe oft einer der Dorsche da unten gewesen. Ich hatte auch als ein Muscheltier in vielen Muscheln gelebt. Ich war auch als Qualle neben dem Boot hergekreiselt. Ich war auch als einzelne Möwe den Möwen nachgeflogen hinaus zu den Brutstätten. Ich war ein Birkenstrauch gewesen, eingeklemmt in eine Klippenspalte, und hatte die Morgensonne auf meinen Blättern spielen lassen.

Und ich war unzählige Male ein roter Stein und ein gelber Stein und ein brauner Stein und ein grauer Stein gewesen und hatte angeschwemmten Tang jahrelang an mich anwachsen lassen und kleine Schnecken. Und ich bin in der Ebbezeit ein wenig aus dem Wasser gestiegen und bin in der Flutzeit mit meinem Tang und meinen Schnecken, vom Wasser überspült, unsichtbar geworden für die Oberwelt.

Ich bin in so vielen Leben gewesen, die ich vorher nicht gekannt hatte, so daß es mich sehr erstaunte, als die Frau in dem Haus an der Klippengasse in denselben Kleidern zu mir trat und in dieselben Möbel mich niedersetzen hieß, die ich in Fjellbacka, wie mir schien, vor Tausenden von Jahren verlassen hatte.

Denn wenn ich im Boot an Menschen dachte, so hatte ich vergangener Menschen Leben in den Meergassen nachgelebt. Unser Segelboot hatte sich unzählige Male in das Drachenschiff eines Wikinghäuptlings verwandelt. Denn diese Wasserläufe, durch die wir kreuzten, hatten früher die Spiegelbilder der Boote der Wikinger vor Tausenden von Jahren verschluckt und widergespiegelt. Und die Felsen hatten damals die Stimmen der erzenen Wikingschilde und die Zurufe der Männer in sich verschluckt und konnten sie zurückrufen, wenn wir an sie dachten in der Totenstille.

Dieses gewesene Leben früherer Menschen, das ich auch gewesen bin und wir alle gewesen sind, tönte mit seiner Unergründlichkeit von fern in meinem Bewußtsein an, so daß ich die Gegenwart nur noch verschollen fühlte, und alle Vergangenheit war Macht und Wirklichkeit in mir geworden.

Und so werden auch wir Heutigen einmal über die Zukunftswelt Macht haben, wenn wir Großes getan, Starkes, das sich den Zeiten einprägt wie der Name des Wikingervolkes. So werden Menschen in fernen Zeiten für Augenblicke uns wieder zur Wirklichkeit rufen können, indem wir Besitz von ihren Sinnen, ihrem Geist und ihrem Herzen ergreifen dürfen, und unsere Menschengestalt wird auch für Augenblicke durch zukünftige Menschen wieder zur Wirklichkeit hintreten können. Denn die Menschengestalt, die wir im Tode ablegten, auch sie kennt keinen Tod. Auch ihr Zerfall wird wirklich und unwirklich sein, wie alles Weltalleben. —

Die Fischerfrau, die uns empfangen hatte, erzählte uns, daß ihr Mann nach Fjellbacka gefahren sei; aber wir waren ihm in dem Labyrinth der Inselgassen, da wir auf Umwegen kamen, nicht begegnet. Sie kochte dann für uns Kaffee. Jede einzelne alltäglichste Handlung in diesem einsamen Hause, das umgeben vom breiten Rahmen einer unergründlichen Stille dalag, war hier in dieser Weltferne wertvoll und wichtig, jede Handlung wurde bedeutungsvoll wie ein Kunstwerk im Rahmen künstlerischer Ruhe.

Ein wenig Reisigfeuer prasselte in der Küche auf dem ganz neuzeitlichen eisernen Kochherd, der wahrscheinlich von Gothenburg nach Fjellbacka gebracht worden war. Aber selbst dieser geschmacklose und sonst unschöne Gußeisenherd konnte in dieser Einsamkeit nicht einmal unschön wirken. Er sprach von Treuherzigkeit und Einfalt, ließ die Funken knistern und krachen und zeigte Hilfsbereitschaft wie die Hände der Frau.

Der arbeitende Eisenherd war in der Weltferne hier ein lebendes Wesen geworden, hatte Lebensberechtigung und Lebensbedeutung und war beteiligt am Wohl des Häuschens und verschwand nicht hinter dem tausendfachen leeren Lärmen des Tages, wie die Dinge in den menschenreichen Städten heutzutage hinter dem lärmenden Menschenleben, dem überanspruchsvollen, verschwinden müssen und nur stumme Sklaven sein dürfen, statt mitlebende Freunde und Berater.

Daß wenig Gerät im Hause war, das war es vor allem, was allen Dingen Bedeutung und ein Sichtbarwerden ihres Lebens zukommen ließ. Die Stühle und das Sofa kannten die Frau so gut, wie die Finger an ihren Händen sie kannten.

Da waren im Häuschen auch keine großen hallenden, toten Räume, die totgeborenen Geschöpfen gleichen, wie sie der Mensch in den Städten nur seiner Eitelkeit, seinem leersten Gefühl zuliebe erstehen läßt.

Solche Eitelkeit ist nicht einmal ein Gefühl, so wenig wie der Sonnenreflex Sonne ist. Eitelkeit ist nur zurückgespiegeltes Gefühl. Eitelkeit ist hinter allen Gefühlen immer nur eine Gefühlsleiche, und ihr Anblick erkältet und läßt kein warmes Leben aufkommen. —

Dieses Häuschen war für seine Bewohner nicht mehr als eine Nußschale um einen Nußkern. Und mehr Schale, als der Kern braucht, mehr sollte der Mensch an Geräten und Haus nicht um sich sammeln. Sonst wird die Schale zum Ballast, und der Kern erstickt dumpf und wird schimmelig und verwest im ungesunden Druck der Eitelkeitslasten.

Die Fischerfrau brachte dann ihre guten Tassen, und aus ihrer silbernen Kaffeekanne — die das ständige Hochzeitsgeschenk dort im Lande ist — goß sie uns den Kaffee in die uns anlächelnden ehrwürdigen Tassen. Und ebenfalls in einer silbernen Schale auf hohem Silberfuß stellte sie den Zucker zum Kaffee in die Mitte des Tisches und reichte uns auf einem Glasteller von ihrem Zwiebackvorrat, der zu jedem Fischerhause hier gehört wie das Salz.

Ehe die Frau aber das alles brachte, hörten wir zuerst eine Ziege im Holzschuppen neben dem Häuschen meckern, und der Schwede sagte lächelnd: „Jetzt ist sie zu ihrer Ziege gegangen, um Milch für den Kaffee zu melken.“

Wie wunderbar gewichtig wurde dieser einfache Imbiß, dieser Kaffee vormittags um elf Uhr, der im ganzen Lande Elfuhrkaffee genannt wird und eine Landesgewohnheit ist, da die Leute arm sind und nicht mit Wein oder Bier aufwarten können, wie in den südlichen Ländern.

Während wir dann den Kaffee tranken, setzte sich die Frau höflich ans Fenster, ein wenig abseits, um ihre Gäste nicht durch aufdringliches Zuschauen zu stören. An der Wand unter einem Glaskästchen sah ich die in Holz geschnitzte Abbildung eines Bootes, wie man sie fast bei allen Fischersleuten findet. Gewöhnlich haben einige männliche Angehörige solcher Fischerfamilien die Welt als Matrosen oder Steuermänner auf Frachtschiffen bereist und schnitzen, heimgekommen, zur Erinnerung ihr Schiff. Aber dieses Schiffchen hier war nur das Modell eines kleinen Segelbootes, wie sie in Fjellbacka von den Fischern angefertigt werden.

Die Frau folgte mit ihren Augen meinen Blicken und sagte dann — wie mir der Schwede übersetzte —, daß dieses Boot der eine ihrer beiden ertrunkenen Söhne angefertigt habe.

Sie sagte das einfach und sah mich an und hörte jetzt erst von dem jungen Pfarrerssohn, daß ich ihre Sprache nicht verstünde. Aber das hielt sie nicht ab, auch weiter zu mir zu sprechen, und ich merkte am Tonfall und an dem Blick, den sie bald mit dem Bootmodell und bald mit dem Meer draußen wechselte, daß sie mir das Unglück erzählte, wie es vor Jahren ihre Söhne betroffen.

Und als ich zuhörend unwillkürlich nickte, weil ich begriffen hatte, daß das Boot in der Inselgasse nicht weit vom Hause bei einem Sturm gekentert war, und daß dabei die jungen Leute ertrunken waren, da sah die Frau mich plötzlich ganz entgeistert an und wußte nicht recht, ob sie jetzt gar Deutsch gesprochen hätte, oder ob ich plötzlich bei ihr Schwedisch gelernt hätte. Und sie bat mich, Deutsch zu sprechen, sie wollte sehen, ob sie mich auch verstünde.

Solche Einfalt, welche gläubig ist und nichts für unmöglich hält, konnte dem Menschenherzen nur in diesem einsamen Steinwinkel zufliegen.

Zwei von den Fensterchen des Zimmers, die gegen die Meergasse hin lagen, waren trüb, und noch vom letzten Sturm, der am Tag vorher gewütet hatte, mit Salzkristallen beklebt. Im Herbst, wenn die Stürme immer tobten, wurden oft alle Fenster des Hauses blind von der Salzkruste, die die Wellen an die Scheiben klebten.

Ich konnte auch bald verstehen, warum jener Frau Gesicht fast unbeweglich blieb, wenn sie von den ertrunkenen Söhnen sprach, und weshalb kein Schmerz darin zuckte. Sie sah nämlich oft ihre Söhne in der Einsamkeit deutlich in dem kleinen Boot wiederkommen und wieder fortgehen. Die Mützen der toten jungen Leute hingen noch bei der Tür am Nagel, und die Frau bürstete sie täglich ab. Auch die Bücher, in denen die Söhne gelernt hatten, standen säuberlich abgestaubt auf einem Wandbrett.

In den ersten Tagen nach dem Unglück hatte die Mutter wohl manchmal geweint, aber dann waren die toten Söhne wiedergekommen. Sie hörte sie oft abends die Leiter zur Bodenkammer hinaufklettern und hörte morgens zur Stunde, da sie bei Lebzeiten das Boot gerüstet hatten, ihre Zurufe.

Und die Frau ging oft in Gedanken hinaus an die Anfahrtsrampe und sprach ein paar Worte ins Leere. Aber daß niemand da war und daß beide Jungens ertrunken waren, wenn ihr das einfiel, das störte sie gar nicht. Der Todesfall der Söhne war ihr nur wie eine kurze Krankheit gewesen.

Vom Tod waren für die Mutter beide Söhne längst wieder genesen. Sie kamen auch oft herein und sagten der Mutter, daß es Zeit sei, die Ziege zu melken, und sie erinnerten sie auch an verschiedene Sachen, die ihr nützlich waren. „Es sind gute Söhne,“ meinte sie und nickte mir zu. —

Diese ihre innersten Gedanken aber erzählte uns die Frau nicht. Die hörten wir erst am Abend, als wir nach Fjellbacka zurückkamen, von Leuten, denen es der Mann jener Frau erzählt hatte.

Da ich meine Verwunderung darüber aussprach, daß die Frau die Mützen der ertrunkenen Söhne immer am Türnagel hängen haben wollte, und weil ich damals als junger Mensch glaubte, sie müsse dadurch täglich von neuem an Verlust und Tod erinnert werden, erklärte man mir in Fjellbacka, daß die Frau immer ihre ertrunkenen Söhne kommen und gehen sehe und ihre Toten mehr lebendig als tot fühle.

Die Stille machte die Menschen auf den Inseln hellsehend. Denn alle, die auf den todstillen Inseln wohnen, sie sind so nahe Nachbarn des Todes, daß sie seine Geschöpfe kaum noch von den Geschöpfen des Lebens zu trennen vermögen. —

Und als wir am Abend zur Stunde, da der Landwind sich legte und kein Lufthauch die Segel antrieb — so daß wir die Leinwand vom Mast abnehmen und abwechselnd rudern mußten —, als wir da in den spiegelglatten Gassen, wo nur unsere Ruder im Takt Wasser schaufelten, an jener Stelle vorbeikamen, wo an einem Sonntagnachmittag die beiden jungen siebzehn- und achtzehnjährigen Burschen ertrunken waren, da wurden um uns die Sonne und der Wind und die Wasserströmung tot.

Da zeigte sich kein Vogel, da waren auch die farbigen Lichter, die wie buntes Glas am Morgen im Wasser geleuchtet hatten, verschwunden. Da waren die tiefen Gassen wie große Grüfte. Da war unser Boot, das ohne Segel mühsam vorwärts kam, wie ein schwerer Holzsarg. Und es fiel von den Felswänden eine eisige Kälte über uns.

Der Schwede und ich ruderten und schaufelten, aber das Boot schien nicht vorwärts zu rücken.

Kein Fisch war im Wasser zu sehen, und die Gassen schienen enger geworden zu sein und schienen uns irre zu führen in ihrem Labyrinth, denn die Stunden vergingen, und wir kamen nicht fort. Die Stunden waren nicht mehr wie am Vormittag unergründliche vorüberkreiselnde Jahrtausende. Es waren schwere unvergängliche Stunden geworden.

„Um diese Stunde mögen sie hier untergegangen sein,“ sagte der Schwede, und er meinte die Söhne der Fischerfrau.

Da hörte ich die Mutter hinter mir im Boot sagen: „Ja.“ Aber ich sah mich nicht um. Die Frau dachte wahrscheinlich daheim gar nicht daran, uns in Gedanken zu folgen. Sie bereitete zu Hause jetzt wohl das Abendbrot und melkte wieder die Ziege. Aber hier an der Stelle, wo ihre Söhne sich am umgekippten Boot angeklammert hatten, hier war das innerste weltferne Leben jener Mutter immer, und das war zu uns ins Boot gekommen.

Und so konnte auch ihre Stimme in meinem Ohr „Ja“ sagen. Hier um diese Stunde mußte die Mutter, so lange sie in ihrem Häuschen lebte, viele Male des Tages unbewußt mit ihrem innersten Leben um die Wasserstelle kreisen, und dann zog sie die Söhne beide mit Mutterkräften von dem untergehenden Boot fort und schritt mit ihnen über das Wasser heim. Und die Söhne folgten ihr in die Hütte, wo sie umhergingen und ihr Tagewerk vor den Augen der Mutter lautlos vollbrachten. —


Dieses war das Erlebnis meines ersten Segeltages. Am zweiten Tag fuhren wir nach einer großen Lotseninsel, von wo wir, nachdem wir im Hause des Oberlotsen übernachtet hatten, am anderen Tag zur äußersten Insel im Skagerak weitersegelten.

Diese letzte bewohnte Insel heißt Väderbod, das bedeutet Wetterschutz. Ich war vorher nie auf einem so seltsamen Fleck Erde gewesen. Die Insel hatte einen mächtigen Leuchtturm, und außer dem Leuchtturmwärter, der ein alter abgedankter Kapitän war, befanden sich nur noch ein zweiter Leuchtturmwächter und dessen Frau auf dieser kleinen Klippe. Diese Leute hatten im Schutz einer Klippenwand, auf einer Klippenanhöhe, alle drei ein kleines Holzhaus und daneben einen Stall für eine Kuh.

Die Insel stand ziemlich schroff wie ein Riesenwürfel aus dem Meer. Nachdem wir das Boot an Steine angebunden, warf man uns Seile zu, denn die drei Bewohner hatten unser Kommen längst bemerkt, und sie hißten uns an Seilen zu sich hinauf auf die Felsenplatte.

Dort oben wurde es einem fast schwindlig, wenn man sich umsah. Man hatte das Gefühl, als würde einen der Meerwind forttragen. Da oben war kein Baum und kein Strauch und kein Halm und keine Blume und nicht das kleinste Kräutlein, sondern nur eine Steinfläche und in ihr eingehauen einige gähnende Felsenspalten und Risse, die da klafften.

Rundum kreiste das leere Meer. Die ferne Küste lag im Abend außer Sehweite, und nur einige der letzten Inseln sah man wie winzige graue Wölkchen ganz fern, in der Richtung gegen die Küste, auf dem pechschwarzen Wasser liegen. Aber man konnte nicht unterscheiden, ob diese grauen Flecken im Meer Erde oder Nebel waren.

Unendlich toste das Meer hier draußen. Ich fühlte mich anfangs betäubt auf diesem zu furchtbarer Meereinsamkeit verdammten Stein. Es war mir, als sprächen die Felsenplatten, über die ich trat, vor Sehnsucht zart werdend, vor Sehnsucht nach der Küste, mit meinen Füßen, bei jedem Schritt, den ich tat. Und die Felsenplatten wußten nicht, was sie tun sollten, um ihre Freude zu zeigen, weil sie von Füßen berührt wurden, die vom riesigen Mutterfestland kamen.

Es war etwas wie Ratlosigkeit über dem kahlen Inselstein, der nie Fremde sah, vom Augenblick an, da der junge Schwede und ich erschienen. Aber es war eine freundliche, aus Beglückung stammende Ratlosigkeit.

Ratlos war der kleine, alte, vertrocknete Kapitän, dessen Körperchen flach und dürr war, von Sonne und Wind und Meersalz gebeizt und gedörrt wie ein getrockneter Stockfisch. Und ratlos war die Magd, die Frau des zweiten Wächters, und der Wächter selbst.

Als wir oben bei ihnen auf der Klippe standen, schüttelten sie uns abwechselnd bald die linke, bald die rechte Hand mit ihren beiden Händen. Sie streichelten den Kleiderstoff an unseren Schultern und Armen, und sie lachten, und sie bückten sich, und sie schlugen die Hände zusammen, und sie lachten wieder, und sie sprachen alle drei zu gleicher Zeit, und sie lachten alle drei zu gleicher Zeit, und sie schüttelten sich selber gegenseitig die Hände, denn es war ihnen ganz wunderbar, daß sie zwei Lebende, wirkliche, lebende junge Männer an den Seilen emporgezogen hatten, sie, die sonst während des ganzen Jahres nur das traurige Geschäft zu verrichten hatten, Leichen von Schiffbrüchigen, die vorüberschwammen, aufzufischen. Leichen waren ihre Menschenbesuche. Andere Besucher kannten sie kaum. Andere als tote Menschen fanden sich hier selten ein.

Im Frühjahr und im Herbst, nur zweimal im Jahre, kam der Regierungsdampfer gefahren, der ihnen den Mundvorrat für das nächste halbe Jahr in Kisten ausschiffte, und der alle Leuchttürme an der Küste zu versorgen hatte. Aber dieser Dampfer legte nur ein paar Stunden kurz an, und dann fuhr er weiter. Dann fischten die Einsamen wieder Leichen, wenn im Herbst oder Frühjahr zu den Gezeiten ein unglücklicher Schoner oder ein segelnder Dreimaster vom Orkan an die Klippe geschleudert wurde. Sie hatten oft nur ein paar gellende Schreie oder ein paar Zurufe in der Nacht gehört und sahen am nächsten Morgen Tote schwimmen, Menschenleichen, und vielleicht nur noch ein paar Schiffsbretter.

Diese Klippe war ein Unglücksblock, düster umstanden von jahrhundertealten Schrecknissen. Und der Riesenblock erzitterte immer. So ungeheuerlich war der Meeresdruck hier, daß der große Felsenwürfel Tag und Nacht bebte.

Mir aber schien es, als hätten die Wellen den Felsen eben erst hergetragen und als könnten sie ihn gleich wieder fortheben, denn ich war auch eben erst hergetragen worden, und ich hatte meinen Standplatz noch nicht begriffen. So neu und fremd war alles um mich, daß das Leben mir hier wie ein Spuk vorkam, und hundert Verwandlungsmöglichkeiten schienen mir möglich.

Ich selbst fühlte mich ratlos. Der weite Ausblick rundum war schwindelerregend, denn wo ich hinschaute, war ein Abgrund.

Die Kuh im Stall brüllte unausgesetzt, seit wir gekommen waren. Und aus einer Felsenspalte krähte der Haushahn unausgesetzt, der dort mit seinen Hennen lebte. Die Tiere begrüßten uns wie die Menschen verwirrt und aufgeregt.

Es waren da keine Bäume über unseren Köpfen, kein Grashalm am Wege. Nichts Vermittelndes zwischen Himmel und Erde. Nur die glatte geschliffene Felsenplatte zu Füßen und darüber unendliche Luft.

Die Felsenfläche war nicht größer als ein kleiner Dorfmarktplatz. Aber die Häuser fehlten. Nur der Meereswind kam pfeilgerade über den Platz. Kam und ging. Und draußen im Wasser stand hie und da eine Meereswelle aufrecht und bäumte sich gegen eine andere Welle, und beide bildeten zusammen einen weißen Palmbaum aus Schaum. Dort im Meer waren dann die unterirdischen Klippen, an denen die Schiffe so leicht zerschellten.

Bei den Leuten hier auf der Klippe mußten wir übernachten. Es war gegen sechs Uhr abends, als wir angekommen waren, und wir hätten nicht mehr genug Segelwind gefunden, um die Küste zu erreichen. Auch wäre es zu dunkel in den Inselgassen geworden, und wir hätten vielleicht nicht zurückgefunden.

Wir gingen zum Haus hin, und ich hatte bei jedem Schritt das Gefühl, als wenn wir ins Meer fallen könnten. Denn das Meer, das so riesenhaft ringsum lag, übte eine mächtige Anziehung aus von allen Seiten. Am liebsten hätte man sich flach auf die Steinfläche gelegt und mit dem Gesicht in den Himmel gesehen, um von dem Schwindelgefühl frei zu werden.

Wir hatten vorher im Boot das Rauschen des Meeres als einen wohltuenden Rhythmus empfunden. Und erst als die Insel, auf der wir jetzt waren, uns näher gekommen war, waren wir aufgestört worden durch den betäubenden Lärm, durch den Gischt und die überstürzende Flut, durch die waschenden Wellen und ihren donnernden Anprall und durch das gurgelnde Getose der Brandung, das uns mit seinem ohrenbetäubenden Lärm mehr und mehr umfing.

Vermittelst eines Sprachrohres hatten die Leute von der Klippe oben zu uns ins Boot hinuntergeschrieen. Und auch jetzt, oben angekommen, konnte man nicht reden, sondern man mußte schreien und lachen. Man schrie und lachte mit dem Höllenlärm rundum. Erst als im Haus die Türen geschlossen waren, wurde es möglich, die Menschenworte zu verstehen.

Der kleine lebhafte, ganz vertrocknete Kapitän plauderte mit uns zärtlich und kindisch vergnügt, wie ein Knabe, dem man zwei junge Katzen geschenkt hatte. Und er schob in seinem Zimmer viele Stühle an den Tisch, so viele Stühle als er hatte, als wären nicht bloß zwei Menschen, sondern wenigstens das halbe Fjellbacka zu ihm gekommen.

„Die Einsamkeit hat ihn etwas närrisch gemacht, den Alten,“ sagte der junge Schwede zu mir, und er bot dem Kapitän von seinen Zigarren an. Beim Rauch der Zigarre begann der Alte gleich von seinen Reisen nach Westindien und von Havanna zu erzählen. Und er erzählte, er wäre auch viele Male im „echten“ Indien gewesen, in Bombay, in Kalkutta und Colombo. Und er war oft in China, in Java und Australien gewesen und viele Male rund um Afrika und rund um Kap Horn in Südamerika, war teils mit großen Segelbooten, teils mit Lastdampfern gefahren. Er kannte alle Küsten der Erde.

Er war auf allen Weltmeeren mit Dutzenden von Schiffen herumgetanzt, und er konnte jetzt noch nicht stillsitzen. Trotzdem er schon zehn Jahre auf dieser Klippe lebte, um seine alten Tage nützlich zu verwenden, hatte er doch nicht Ruhe lieben gelernt. Seine Zunge stand so wenig still wie seine Beine, und nur seine Hände steckten nach alter Seemannsgewohnheit in den Taschen.

Vierzehn Schiffbrüche hatte er mitgemacht. Vier eigene Schiffe hatte er verloren, und jetzt war er arm wie der Meerwind. Er hatte auf Ansuchen diese armselige Stellung von der Regierung bekommen und war jetzt Feuerturmwächter hier draußen auf dem letzten bewohnten Klippenstein im Skagerak. Und weil er die Unruhe liebte, liebte er auch den Meereslärm, der hier rund um die Steine war, und er hörte den Lärm schon fast gar nicht mehr.

Obwohl bei jedem Tür- und Fensteröffnen das Meeresgeschrei hereinstürzte, als wenn draußen ein ewiger Mord und Totschlag wäre, war es ihm doch in den Zimmern oft zu still, und er hatte sich deshalb eine Unzahl von laut tickenden Uhren angeschafft. Er schien seinen Jahresgehalt für den Einkauf neuer großer Standuhren auszugeben. Die Wände waren voll von Standuhren, und diese tickten alle zu gleicher Zeit, und ihr Räderwerk schnurrte durcheinander. Und der Kapitän hatte seine Freude daran in seiner Einsamkeit, die Uhren schlagen zu lassen, ihre Gewichte aufzuziehen und ihre Zeiten miteinander zu vergleichen.

Mir aber war vor den vielen lauten Uhren, als wenn da Katzen an den Wänden säßen und schnurrten, und im dämmerigen Abend sahen auch alle die vielen weißen Zifferblätter weißen dickbackigen Katzengesichtern ähnlich.

Die Magd brachte zum Abend einen gekochten mächtigen Hummer und geräucherte Fische, gesalzene Fische und gekochte Fische und eine Schüssel voll mit dampfenden Kartoffeln. Aber in der vollständig geruchlosen Luft hier draußen im Meere, wo kein Halm und kein Laub und kein grünendes Maienholz duftete, und Häuser und Menschen vom Wind stündlich ausgepeitscht wurden, so daß kein Geruch an den Kleidern und den Wänden haften blieb, dufteten auch die Speisen nicht.

Es roch während der Mahlzeit nicht nach Fisch und roch nicht nach Kartoffeln, und es roch auch nicht nach Zigarren, wenn man rauchte. Und man hatte das Gefühl, als wären die angerichteten Speisen alle nur Schaugerichte aus Pappendeckel, wie man solche auf der Bühne in Theaterstücken verwendet. Man merkte nur auf der Zunge, ob man etwas Warmes oder etwas Kaltes hinunterschluckte. Der Geschmack aber war gleich null.

Der warme Kaffee schmeckte wie warmes Wasser, die kalte Milch wie kaltes Wasser. Der Branntwein brannte und gesalzenes Fleisch und Fisch unterschieden sich nur durch den stärkeren oder schwächeren Salzgeschmack. Man aß und schmeckte nichts und war eigentlich um einen Lebenssinn, den Geschmackssinn, betrogen. Man horchte und hörte nur Lärm, immer wieder Lärm, nie einen gesteigerten und nie einen verminderten Lärm. Man horchte auf den unendlich vielen Lärm und hörte doch nichts und kam sich vor wie einer, der an beständigem Ohrensausen leidet. So war man wieder um einen Sinn genarrt, um das Gehör.

Trat man an ein Fenster, da sah man draußen nichts als eine Linie zwischen Wasser und Himmel. Und trat man an ein zweites Fenster und sah nach einer anderen Himmelsrichtung, so sah man wieder nichts als dieselbe Linie, und so war es bei jeder Himmelsrichtung. Man sah nichts als eine Linie zwischen einer dunklen Leere und einer etwas helleren Leere hingezogen. Und man wußte nicht, was man am Fenster mit den Augen anfangen sollte, und warum die Fenster Scheiben hatten und hinaussahen. Und man mußte einsehen, man war auch noch um den dritten Sinn hier bestohlen, um das Gesicht. Denn, so weit man auch die Augen und die Fenster aufriß, man sah nur immer wieder eine zweifache Leere und in deren Mitte eine einzige dünne Linie.

Da auch die Steine vor der Türe keinen Duft hatten, so schienen hier alle Sinne überflüssig zu sein. Man hätte ebenso gut als Leichnam hier ankommen können. Man hätte nichts dabei verloren. Denn alle Sinne gingen hier leer aus. Das Menschenleben ist hier draußen überflüssig! Das schien der Höllenlärm rundum jedem Ankömmling zuzuschreien. Hier wollen nur Wasser, Luft, Sonne und Stein zusammenkommen! So schrie es aus dem Trubel und aus dem vielfachen Echo und Getöse der Brandung und des Windes.

Und man wird verstehen, daß die Menschen hier alle etwas verrückt wurden, wenn sie lange auf dem Inselstein blieben. Sie mußten deshalb abgelöst werden. Sonst lösten sie sich eines Tages selbst ab und stürzten sich im Irrsinn von der Klippe hinunter in das Meergeschrei, um nur einmal zu versuchen, ob sie diesen Lärm nicht überschreien könnten, auch wenn sie ihr Leben dabei einsetzten. Und siehe, der Lärm hörte plötzlich dann in ihnen auf und wich einer lang ersehnten tiefen Stille.

Aber bis die Menschen dazu kamen, sagten sie sich dort alle immer vor, daß sie den Lärm nicht hörten. Aber das sagten sie nur, weil sie den Lärm hören mußten und ihm nirgends ausweichen konnten. Der Meerlärm war tags mit ihnen um ihre Arbeit und setzte sich mit ihnen zu Tisch und legte sich mit ihnen zu Bett, und es gab für sie keine Nachtruhe. Wenn die Leute hier schliefen, war der Lärm doch in ihren Ohren, und die Ohren durften nie schlafen. Und der Lärm zerrüttete allmählich die Gehirne, so wie die Brandung mit der Zeit Felsenblöcke absprengte.

Da in den Holzstuben des Hauses wenig Raum war, hatten dort keine Betten Platz, wie in anderen Häusern, und man schlief in großen Schubladen, die unter Schränken nachts herausgezogen wurden, und worin nur die Hälfte des Körpers Ruhe hatte. Und es sah aus, als meinte man, weil der Lärm den Geist nur zur Hälfte schlafen ließ, sollte auch der Körper nur ein halbes Bett haben.

Ich konnte mich in jener Nacht mit meiner Lagerstelle nicht in Frieden auseinandersetzen, und ich lag mit offenen Augen und horchte neben dem Meeresgeräusch noch auf die vielen irrsinnig tickenden Uhren, die im Zimmer und hinter den Wänden ihre Pendel rastlos arbeiten ließen. Als müßten sie hier die Zeiten anfertigen, die über das Weltall verteilt werden sollten, so arbeiteten alle Uhrenpendel hastig tickend darauf los.

Die Frühlingsnächte waren bereits hell hier oben im Norden. Aber das hatte ich an der Küste im Pfarrhause, wo der dunkle Granit den hellen Nachthimmel nicht widerspiegelte, noch nicht auffallend bemerkt. Hier draußen aber im Meer, wo Wasser und Himmel sich beleuchteten, blieb es während der ganzen Nacht bereits so hell, daß man um Mitternacht am Fenster hätte lesen können.

Da ich nicht schlafen konnte, stand ich aus meiner Schublade in jeder Stunde ein paarmal auf und setzte mich an eines der Fenster. Der Himmel war gelbgrünlich, so wie die Blätter der Pflanzen leuchten, die in Kellern gewachsen sind. Die Sonne war im Norden um zwölf Uhr nachts im Meeresrand ein wenig untergetaucht. Aber es blieb so hell dort, als sähe man die Sonne blaß unterm Wasser liegen. Und um halb ein Uhr kam die Sonne schon wieder wie eine große Elfenbeinkugel aus dem Meer empor. Übernächtig und leblos sah sie aus und glich mehr einem Klumpen Teig, einem großen Mondleib, und zeigte nichts von ihrer sonstigen Herrlichkeit. Sie schien von allem Licht entkleidet zu sein und lag kahl und verlassen da draußen, als bettelte sie selbst um Licht.

Eine Stunde später entzündete sie sich ganz allmählich. Aber der Himmel blieb noch lange hellgrün, als müßte er den Klippensteinen nachts hier draußen im Meer den grünen Schein der Küstenwälder ersetzen, das Grün jener Wälder und Bäume, nach denen die Steine im Frühling zu hungern schienen, das Grün, das ihnen die Sonne nicht geben konnte.

Wohl sind die Nächte hell im Norden, und man spricht viel von ihrer Schönheit, aber mir schienen sie immer krankhaft, jene hellen Nächte, nicht wie eine Verschönerung, sondern wie eine Entstellung der Natur. Sie waren wie Einäugige traurig anzusehen. Man bekam nicht den vollen Blick, sondern nur einen halb lebenden, halb getöteten Blick vom Licht dieser hellen Nächte. Man erlebte sich selbst in dieser halben Helle als ein Zwischending von Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Man saß nicht ruhig in seinem Körper. Man konnte sich aber auch nicht stark im Geist erheben, da man von dem hinschmachtenden Licht in seinen innersten Kräften unsicher gemacht wurde.

Ich wünschte oft die Dunkelheit herbei. Ich kann mir gut vorstellen, daß die Berserkerwut, die früher unversehens bei den nordischen Völkern einzeln und in Massen ausbrach, und daß auch der große Wanderzug, der die Normannen bis zum Mittelmeer nach Sizilien und nach Island und nach Nordamerika getrieben hat, von den hellen Nächten angeregt wurde, die keine Ruhe geben, und die nach den langen Winternächten mit übermäßigem Lichtbesitz auch übermäßigen Machtbesitz vorspiegelten und die Männer in die Meerräume hinauslockten, wo das Gold der Welt und nicht die Sonne jene Nächte aufzuhellen schien.


Am nächsten Morgen rückte der kleine vertrocknete Kapitän, während er alle seine Uhren aufzog, mit dem Wunsch heraus, einmal wieder eine Kirche besuchen zu dürfen. Es war Sonnabend, und wir verstanden, daß er gerne mit uns hinüber zur Küste segeln wollte.

Wir dachten nicht weiter darüber nach, ob ihn auch noch etwas anderes zur Fahrt nach der Küste locken könnte, und der junge Schwede sagte zu mir:

„Wenn der Kapitän mitfahren will, dann ist es nicht nötig, daß wir gleich in den Vormittagsstunden zurückkehren. Dann können wir auch erst nachmittags fahren. Und sollte der Wind abflauen, dann wird der Kapitän, der ein ausgezeichneter Ruderer ist, uns beim Rudern helfen, und wir brauchen nicht zu befürchten, von der Nacht überrascht zu werden.

Den Vormittag können wir dann damit ausfüllen, daß wir erst noch hinaus nach den letzten Inselsteinen eine kleine Segelfahrt wagen. Es sind da Steine draußen im Skagerak, wo keine Menschen wohnen, aber wo Tausende von Möwen jetzt nisten.“

Wir segelten dann in den Morgenstunden über das blauschwarze Morgenmeer, das uns mit weißköpfigen kleinen Wellen entgegengeschwommen kam. Es war, als zeigte jede Welle ein blankes Gebiß.

Das Boot glitt spielend in die Wassertäler und wurde auf halber Talfahrt schon wieder von einem Wasserberg, der unter ihm anwuchs, in die Luft gehoben, und das Aufsteigen und Versinken des Wassers wurde immer mächtiger, je weiter wir hinauskamen in den offenen Skagerak. Das Meer überspritzte uns, und wir kamen in die Nähe von hohen aufsprudelnden Wellenspringbrunnen, die sich über unterirdischen Klippen wie Geisire weißschäumend aufbäumten.

Aber es war seltsam: je mehr Gefahren da ringsum wurden, und je weiter wir vom letzten bewohnten Klippenstein fortkamen, desto ruhiger und gefahrloser, einfacher und natürlicher fühlte sich mein Herz werden. Die Allmacht des Meerelementes schien eins geworden mit der Unergründlichkeit meines eigenen Wesens. Und der Weg des Bootes schien mir ebener, weil mir der Weg des Meeres ebener, unverfälschter und unverdorbener vorkam, je weiter ich mich von den Irrsinnigkeiten des verfälschten Menschenlebens entfernte.

Die Magd hatte uns ein paar hartgesottene Eier, Salz und Zwieback mitgegeben. Das Frühstück wollten wir, wenn wir auf einer der Inseln gelandet waren, verzehren. Aber wir wußten nicht, wohin wir uns wenden sollten. Die Inseln, die da aus dem Meere sahen, waren keine Anhöhen, keine Klippen, sondern lagen wie flache große Steinlinsen, jede in einem weißen Brandungskranz.

Der Schwede kannte den Weg nicht und hatte noch nicht hier draußen gesegelt. So kreuzten wir ziellos, und das Meer erschien mir, je höher die Sonne stieg, die es blauer färbte, wie ein stahlblauer Garten, in welchem die Brandungen wie rauschende weiße Blütenbäume standen. Weißen Palmen ähnlich, schäumten die verschiedenen Meerspringbrunnen über den unterirdischen Klippen, und um die Inseln ereiferten sich die Schaumwellen und waren ähnlich wirren weißblühenden Hecken.

Immer vertraulicher wurde mir des Meeres Anblick. Der weite Morgenäther war mir wie ein altbekanntes Hausinnere, und das heilige Meer war wie ein altbekannter jauchzender unendlicher Garten. Das Boot wiegte uns zwischen der Lust der Gefahr und der Lust des unendlichen Friedens.

Es war eine Fahrt durch unwirkliches Leben, denn die Größen der Gefahren verflüchtigten das wirkliche Dasein derart, daß man sich über Tod und Leben gleichmäßig erhaben fühlen mußte.

Von der Küste sahen wir kaum einen Nebelrand, und die Klippe, auf der wir übernachtet hatten, war nur als ein weißes Schaumpünktchen fern im schwarzblauen Meer zu sehen. Wäre unser Boot in einen Meerstrudel gekommen, deren es viele rundum gab, so wären wir im Kreis getrieben, mit dem Boot eingesogen worden und verschwunden wie ein Bissen in der Gurgel eines Tieres. Nirgends hätte man es bemerkt, und niemand hätte Rettung bringen können.

Aber darüber dachten wir kaum sekundenweise nach. Das Meer hatte uns eingeladen, und wir fühlten uns als sein Gast, und wir genossen das Bewußtsein der Gefahr und waren ganz Aug’ und Ohr für die Meerfestlichkeit ringsum.

Endlich näherten wir uns einer der Inseln, nachdem wir eine Lücke in der umgebenden Brandung entdeckt hatten, eine Lücke in der weißen Schaumhecke, wo das Wasser stiller war. Es war schwierig, das Boot zu befestigen. Nachdem wir ans Land gesprungen waren, drohte uns die Möglichkeit, daß die zerrenden Wassermassen das Bootseil, auf das wir ein paar Steine gelegt hatten, lockern würden. Und wir mußten uns bei jedem Schritt auf dem kleinen Eiland immer wieder nach unserem Bootsmast umsehen, ob er noch zu sehen war, oder ob das Meer das Boot vielleicht schon fortgetrieben hatte. Es war das kein angenehmer Gedanke, hier ohne Boot ausgesetzt zu sein, auf der Insel, die nur wie ein ovaler Steinfußboden ohne Erhebung und ohne Schutzwand platt wie ein etwas buckeliger, zerbeulter Zinnteller flach in der Wasserwüste lag und bei Sturm im Meer verschwand.

Schon als wir uns der Insel näherten, hatte sich ein Klagegeschrei erhoben, und viele Möwen waren fortgeschossen. Jetzt aber bei unserem ersten Schritt auf dem Stein brauste plötzlich die Luft um unsere Köpfe, als schlüge der Meerschaum haushoch und weißflockig wie ein dickes Schneegestöber über uns zusammen. Es waren Tausende der brütenden Möwenpärchen, die aufflogen, und ihr Geschrei war wie das von tausend Klageweibern. Sie blieben wie ein flatterndes, kreischendes und rauschendes großes Federgespenst alle zusammen oben im Äther über der Insel hängen. Sie ächzten und stöhnten. Sie verfluchten uns und beschworen uns, sie flehten und jammerten. Sie stießen gellende langgedehnte Angstschreie aus. Sie beschworen das Meer und die Wolken, uns Eindringlinge zu vernichten.

Niemals, so lange Möwen hier gebrütet hatten, waren zwei Menschentiere aus dem Meer hier auf das Eiland gekommen. Es war, als verhexten wir ihren Urweltfrieden, an dem nie gerüttelt wurde, so lange Möwen denken konnten.

In den langen, nur handtiefen Rissen und Sprüngen, die sich über die Inselplatte hinzogen, hatten die Möwenscharen dort in den getrockneten Tang unzählige, unauffällige, graugrüne Eier gelegt. Die tausend Mütter, die da, abwechselnd mit den tausend Vätern, gebrütet hatten, besprachen sich jetzt über uns im Himmel unausgesetzt fliegend und durcheinanderkreischend in dichtem Knäuel, und besprachen alles, was wir taten.

Sie sahen uns beim Frühstücken und beim schnellen Baden zu. Und als wir dann auf den sonnengewärmten Steinplatten auf dem Rücken lagen und uns von der Sonne trocknen ließen, da erst ließen sich die Aufgescheuchten in Gruppen bei uns nieder. Denn daß wir uns sonnen wollten, verstanden sie. Das taten die Seehunde manchmal auch, wenn einer aus dem Meer stieg und zu ihnen auf die Steine gerutscht kam und mit offenen Augen schlief, bis der Mittag vorüber war.

Wie ich dann Mövenpärchen bei Pärchen all die silbergrauen schönen Vögel beieinander sitzen sah, da fühlte ich, daß wir Menschen uns nicht so gut auf das Glück verstehen wie die Tiere. Jeder Vogel, jeder männliche, wenn er liebesreif wird, sucht sich sein Weibchen, und ein wenig Tang in einer Felsenspalte genügt ihnen für das ganze Leben als Brutplatz. Und die Möwenfrau und der Möwenmann brüten beide abwechselnd, und beide lehren später den jungen Möwenkindern zu fliegen und Fische zu fangen. Wie einfach ist das!

Aber welch eine Unwelt von Hindernissen wissen die Menschen dagegen vor ihrem Liebesglück aufzubauen! Eine Hölle von Unnotwendigkeiten setzen sie sich in den Weg, die das Lebensglück schwächt, das in der höchsten Lebenseinfachheit am edelsten und reichsten sich darbieten will. —

Die Steinfläche, auf der wir uns befanden, wurde bei hohen Stürmen von den großen Wellen überrollt, und es konnte sich auch im Sommer ereignen, daß bei plötzlichen Wetterstürzen der Seegang mächtig hoch wurde, so daß die brütenden Möwen fliehen und ihre Eier im Stiche lassen mußten.

Am Himmel waren viele Wolken aufgestiegen, und trotzdem wir heute nichts Ähnliches befürchteten, konnten wir uns doch nicht einiger Unruhe erwehren. Das Klagegeschrei der Möwenmütter war in uns so tief eingedrungen, daß wir am liebsten mitgeklagt hätten. Es war, als könnten uns die Schreie allmählich selber in Möwen verwandeln; und wäre plötzlich jeder von uns ein weißer Vogel geworden, es hätte uns nicht erstaunt. Im Geist flogen wir mit den Scharen immer über dem Inselstein hin und her und schrieen mit.

Derart verhexend wirkte in der Meereinsamkeit die Aufregung auf dem Möwenbrutplatz, daß wir beinahe Unruhe hatten, unsere Vernunft für immer verlieren zu können. Denn verwirrend und irremachend war das Angstgeschrei und das Geächze und das Gestöhne, das aus den Rissen und Steinspalten zu uns kam. Wir wußten zwar, daß dort Vögel versteckt saßen, aber es klang, als seufze und stöhne die sich grämende Brutstätte selbst, und wir eilten endlich, fortzukommen von dem Stein, auf dem wir von tausend Verwünschungen überschüttet wurden.

Zurückgekommen nach Väderbod, nahmen wir dort den Kapitän ins Boot, der uns gleich zurief, es würde heute noch schlechtes Wetter geben. Zugleich donnerte es schon draußen am Meeresrand.

Der Wind war günstig, und wir segelten stundenlang eiligst der Küste zu. Einige dunkle Wolken holten uns aber doch ein und sandten uns einige kurze Regenschauer auf den Rücken. Wir erzählten unterwegs dem Kapitän, daß wir vorhin auf einer der Möweninseln mit dem Segelboot angelegt hatten.

Der Meergreis schüttelte mißmutig den Kopf und meinte, das hätten wir nicht tun sollen. Die Brutplätze darf man nicht stören. Das sind heilige Plätze, sagte er, und außerdem ist es mit so viel Gefahr verbunden, auf jenen Inselflecken zu landen und loszukommen, daß deshalb schon niemals einer dort hingeht.

„Wenn ich gewußt hätte, daß Sie dort landen wollten, hätte ich Sie vorher gewarnt. Denn die Tiere wollen, wenn sie in Familie sind, allein sein und mögen bei ihren Wochenbetten keine Menschen sehen.“

Der Kapitän, als er dies sprach, stellte Menschen und Tiere ganz selbstverständlich auf gleiche Vernunftsstufe. So wie es die Leute, die viel im einsam Freien leben, zu tun gewohnt sind, und wie es auch das Natürliche ist.

„Ich freue mich,“ hatte der junge Schwede zu mir gesagt, „den Kapitän ans Land bringen zu können. Er hat seit zwei Jahren die Küste nicht mehr besucht. Und er roch nur manchmal den Frühling auf seiner Klippe draußen, wenn zufällig ein scharfer Ostwind vom Lande wehte, der über alle Wälder Schwedens gegangen war.“

Der Alte wurde, je mehr wir uns den Inselgassen näherten, schweigsam und schnupperte immer mit der Nase in die Luft. Er roch Land. Und als der Wind im Abend abflaute, rührte er unermüdlich die Ruder und wollte sich nicht ablösen lassen.

Wie eng und still kam uns das Meer in den Inselgassen vor! Wie wohlbekannte Gänge in einer Stadtwohnung, in die man abends heimkommt nach einem Tagesausflug. Das Wasser lag im Abendlicht goldgelb ausgegossen. Auf einem Stein saß, wie ein einzelner Mann, ein großer dunkler Seeadler. Er ruckte mit dem Kopfe hin und her und hob sich mit den dunklen Schultern vom hellgelben Himmel ab.

„Ich wohne hier,“ meinte der Adler. „Ich bin hier zu Hause,“ sagte er mit seinem Kopfnicken. „Wir wissen es schon auf allen Inseln,“ fuhr er fort, „ihr habt die Möwen draußen gestört. Hui, hui, wer wird die Brutstätten betreten!“ Und die Luft durchfegend flog er fort.

Die dunklen Felsen in den Gassen sahen uns tiefgründig an. Und eine Steinwand sagte zur anderen: „Habt ihr den Donner heute nachmittag draußen gehört? Die da vorüberfahren, die haben die Brutstätten gestört! Die Möwen haben es überall hin ausgeschrieen. Bis zu den Wolken haben sie gerufen. Und beinahe wäre Wettersturz und Sturm gekommen. Aber dann nahmen die beiden Jungen den Alten mit ins Boot, und dadurch waren sie geschützt vor jedem Unwetter. Der Alte ist heilig wie die Brutstätten. Er ist ein alter Freund dem Meer und allem, was in und um das Meer ist.“

In einer anderen größeren Gasse, wo das Meer immer noch goldig war, weil die Felswände weiter auseinander lagen, da hörten wir plötzlich zwei schrille Pfiffe. Hundert Schritte vom Boot entfernt waren in der Goldfläche des Wassers zwei Köpfe aufgetaucht, zwei dunkle menschenähnliche Köpfe.

„Seehunde!“ flüsterte der junge Schwede. Und der alte Kapitän nickte vergnügt und ruderte. Wieder ein blitzartiger Pfiff, und die beiden Seehundköpfe verschwanden.

„Hm, hm,“ sagte der Kapitän, „daß sie sich so weit hereinwagen heute, die Seehunde! Die halten sich doch sonst immer draußen bei den Möwenbrutstätten auf!“ Und er schüttelte verwundert den Kopf. Es war, als kannte er jedes Tier hier im Meer im Umkreis um seine Klippe.

„Die beiden Burschen sind uns nachgeschwommen,“ sagte er endlich nach einer Weile wieder. „Seehunde sind neugierig. Sie haben mich seit zwei Jahren nicht ans Land fahren sehen und mußten sich überzeugen, ob es wahr ist, daß ich ans Land segle. Denn alle Inseln wissen es wohl bereits, daß ich ans Land will, und daß Sie beide die Möwenbrutstätten gestört haben, das wissen auch schon alle hier herum.“

Der Alte lachte gutmütig und nickte, als wollte er noch viel mehr erzählen. Aber er mußte jetzt öfters in seine Hände spucken, um die Ruder fester zu packen, und da blieb ihm nicht allzuviel Atem zum Erzählen übrig.

In Fjellbacka, am Land, schüttelte der kleine Greis uns die Hand und sagte, er würde hier bei Freunden übernachten und käme morgen zum Sonntag in die Kirche und ins Pfarrhaus.


Und das tat er auch. Am nächsten Mittag kam der Kapitän zum Pfarrhaus getrollt. Der junge Schwede hatte seinem Vater von unserer Fahrt erzählt. Dieser kannte den Alten längst. Als der Pfarrer zugleich hörte, daß wir eine Möwenbrutstätte aufgesucht hatten, wurde auch er plötzlich ganz ernst und schüttelte verwundert den Kopf.

Da kam ich mir mit einemmal ganz unwissend vor und hatte das Gefühl, als wären wir, der Schwede und ich, gestern, als wir auf jener Insel bei den Möwenmüttern im Boot angelegt hatten, wie zwei täppische junge Jagdhunde gewesen, die in ein Zimmer hereinspringen und nicht wissen, wo sie sind, und friedliche Leute erschrecken.

Der alte Pfarrer sagte: „Brutstätten darf man nicht stören. Das tut man nicht.“ Und als ich ihn fragte, was uns hätte geschehen können, sagte er kurz: „Das weiß ich nicht. Aber die Leute im Lande, die Fischer, behaupten, es störe die Seefahrt und den Fischfang.“

„Wir sind auch schon gestraft worden,“ sagte der junge Schwede. „Wir haben zuerst Angst vor einem Unwetter gehabt, und auf der zweiten Hälfte des Weges schlief der Wind ganz plötzlich ein, und wir haben rudern müssen, und wenn der alte Kapitän nicht mitgerudert hätte, würden wir das Land zum Abend nicht erreicht haben und hätten zur Nacht auf dem Wasser liegen müssen.“

Und ich mußte viel darüber nachdenken. Wenn man durch einen Kanonenschuß in den Himmel versucht — und es auch erreicht hat —, Wolken und Gewitter zu erzeugen, so, sagte ich mir, konnte auch die unendliche Masse Möwen, die über unseren Häuptern mit kreisendem Flug stundenlang im höchsten Äther gelärmt und mit den Flügeln geschlagen hatten, recht wohl in dem schwülen Maienmittag ein Gewitter erzeugt haben. Denn um uns fortzuscheuchen, schrien die Möwen ganz besondere Rufe, Ketten von wirbelnden Rufen. Es hörte sich an, als rauschte ein lärmendes Feuer mit spitzen Stichflammen in den Himmel, so heftig war das Pfeifen und Flügelschlagen zur Mittagsstunde im Luftkreis über uns gewesen.

Und ich sagte mir weiter, wir werden von Haus aus als zu schlechte Nachbarn der Tiere, Pflanzen und Mitwelt erzogen. Wir lernen vielen Kram, aber wir lernen nicht, freundlich und geduldig die Lebensgewohnheiten der Tiere im Auge zu haben, wie Gewohnheiten unserer Hausnachbarn, die wir achten sollen. Wir sind nur Kameraden mit den Menschen, aber nicht Kameraden mit dem Weltalleben. Und wie reich, innig und festlich wäre unser Dasein, wenn wir verständige Kameraden allen Leben würden und nicht in unserer Unvernunft und unserer Ungeduld uns verleiten ließen, uns höherstehender vorzukommen als Tiere und Pflanzen. Solcher Hochmut ist unfruchtbar und unkameradschaftlich und läßt uns Menschen in den Augen des übrigen Weltalls lächerlich und beschränkt erscheinen.

Wie roh und beschränkt müssen wir beide den Möwen vorgekommen sein, als wir nicht die einfachsten Anstandsgesetze achteten und Mütter, welche Kinder zur Welt brüteten, in ihren Wochenstuben aufstörten. Wir taten, als wenn die Lebenserzeugung nur bei den Menschen die Mütter im schwangeren Zustand heilig spräche. Als ob die Tiermütter in demselben Zustand nicht auch heilig zu sprechen wären von unserer aller Schöpferkraft, die allen Handlungen bestimmte Grundgesetze vorgeschrieben hat.

Ich mußte noch den ganzen Sonntag über dieses letzte Ereignis nachdenken. — Der alte Kapitän war vom Pfarrer zu Tisch geladen worden, und er saß mir da bei Tisch gegenüber wie ein lebender Vorwurf meiner gestrigen Gedankenlosigkeit. Er sprach aber nicht von gestern und dachte auch sicher kaum noch an unser Versehen. Aber mein Herz ließ nicht los, mit ihm im stillen darüber zu sprechen.

Und er antwortete mir vieles im stillen zurück, der kleine vertrocknete mumienhafte Kapitän. Äußerlich aber befand er sich mit sich wie in einem Sturm. Zwei Jahre hatte er kein grünes Blatt und keinen grünen Halm gesehen. Zwei Jahre hatte er keine Stille in seinen Ohren genossen.

Er sagte nach dem Essen zum Pfarrer, er wäre gekommen, um die Nachmittagskirche zu besuchen. Und er ging vom Tisch fort und murmelte noch etwas. Die Glocke läutete dann, und als alle zur Kirche gegangen waren und ich in den Garten ging, um mich am Gartenende mit einem Buch auf die Moosbank zu setzen, staunte ich über die ab- und zufliegenden Elstern, die in den Erlenbäumen an der Südseite des Gartens gar keine Ruhe gaben. Auch sah ich über den langen Gartenweg mehr Eichhörnchen als sonst den Weg kreuzen. Auch die wilden Bienen summten heftiger unter den eben erblühten Apfelbäumen und über den Köpfen der hochgeschossenen Pfingstrosen.

Etwas war nicht in Ordnung im Garten. Nun kamen mir auch die drei Katzen des Hauses entgegen, die weiße, die schwarze und die graue. Sie gingen nicht, sie strichen, hohe Buckel machend, an den Stämmchen der jungen Bäume hin und hopsten nach rückwärts. Sie waren also besonders vergnügt und zufrieden. Wären junge Vögel irgendwo gelegen, die aus dem Nest gefallen waren, und hätten diese die Katzen angelockt, so wäre ihr Gang geduckt, zielbewußter und bei meinem Anblick scheu und bestürzt gewesen. Aber die drei Katzen gingen nur gemütlich spazieren, erzählten mir aber irgend etwas, das ich mit meinem innersten Ohr noch nicht deutlich hörte, weil ich noch zu überrascht war.

Das Auge muß fühlen und nicht bloß sehen, wenn man mit dem Weltalleben Gedankensprache austauschen will. Die eigenen Wünsche müssen verstummen können. So wie man nicht ohne Übung fremde Sprachen sprechen kann, so muß man auch im Weltallverkehr ein wenig unauffällig Selbstzucht an sich üben. Aber nicht mehr, als man braucht, um telephonieren zu lernen.

Ich ging zur Moosbank hin und setzte mich und wollte lesen, aber die Elstern flogen zu und flogen fort, doch nicht ängstlich und auch nicht aufgebracht. Nur unterhaltsam, als wären sie in angeregtestem Gespräch.

Nun jagte auch ein großer weißer Vogel tief über den Garten, eine Möwe. Das war selten, daß im Sommer eine Möwe so weit ins Land hereinflog. Und ich mußte an die Seehunde denken, die gestern neugierig dem alten Kapitän nachgeschwommen waren. War nun auch diese Möwe ihm neugierig nachgeflogen?

Nach einer Weile ging ich an den roten Pfingstrosen vorbei, und ein paar Goldkäfer, die an den Blüten hingen, blitzten mich goldgrün an, und ich mußte an die Fenster des Klippenhauses in jener grünen Meernacht denken, in der der Himmel nicht dunkel wurde. Und ich mußte bei den Rosen an den purpurroten Tang denken, der draußen um die Möwenbrutstätten in dickem Kranze schwamm.

Ich habe eine Weile so vor mich hingeträumt und dachte: Wie wunderbar einschläfernd summen die Bienen! Wenn die Erde nicht so frühlingsfeucht wäre, müßte es gut sein, hier im Garten auf einer Grasböschung auf dem Rücken zu liegen, den blauen Himmel anzublinzeln und sich von den Bienen einschläfern zu lassen.

Dann läutete es wieder von der Kirche her, und ich war erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen war. Die Kirche war aus. Aber daß Zeit vergangen war, das merkte ich nur an dem Gartenweg. Die Schatten der Bäume waren gewachsen, und der Weg sah mich nicht mehr grell sonnig an. Die Schatten zogen alle, länger geworden, sichtbar nach einer Richtung quer über den Garten fort.

Im Pfarrhof bei den Stallgebäuden hörte ich dann die Bauernwagen von der fernen Kirche fortrollen, und der junge Schwede kam von seinem Zimmer herunter, wo er geraucht und Mittagsruhe gehalten hatte. Er streckte unter der Haustüre seine Glieder und lachte und nickte mir zu.

„Der alte Kapitän wird genug Kirche heute bekommen haben,“ rief er. Und wir lachten und plauderten unter der Haustür ein wenig von dem alten Meerkauz.

Dann kam der alte Pfarrer, von einigen Männern der Gemeinde begleitet, in den Hof. Wir fragten ihn, ob der Kapitän sich schon verabschiedet habe, weil wir ihn nicht sahen.

„Ach nein,“ lachte der alte Herr gutmütig, „er war gar nicht in der Kirche. Er schläft wahrscheinlich noch im Garten.“

Und jetzt erinnerte ich mich, daß der Kapitän früher vom Tisch aufgestanden war und sich entschuldigt hatte, daß er ein Schläfchen tun möchte, da ihn die ungewohnte Landluft und der Geruch des Frühlings müde gemacht hätten. Wir waren im Gespräch gewesen und hatten seine letzten Worte halb überhört und glaubten, er sei zur Kirche gegangen.

„Er wird sich zu Tode erkälten,“ meinten die Damen des Hauses, die dazugekommen waren.

„Ach, nun verstehe ich alles,“ sagte ich zu dem jungen Schweden. „Der ganze Garten hat es mir erzählen wollen, daß der Alte, der zwei Jahre kein Grün und keine Blumen gesehen hat, sich zum Schlaf dort niedergelegt habe. Deshalb schnatterten die Elstern so laut, sie machten aufmerksam auf den Schlafenden unter den Bäumen. Und die drei Katzen strichen so verwunderlich hopsend herum und erzählten es mir, ihr Behagen ausdrückend, daß einer im Garten schlafe, von dem die Erde sage, daß man ihn nicht stören dürfe.

Auch die Eichhörnchen hatten sich ihn angesehen, den Meergreis, der selbst so behende und zwerghaft war wie die Eichhörnchen. Und der nach Meerluft roch und nach Fischen, wie die Katzen behaglich hinzugefügt hatten. Und eine Möwe hat im Flug mit dem Schnabel auf ihn gedeutet. Und die grünen Goldkäfer an den Pfingstrosen hatten mir verständnisinnig zugeblinkt. Und alle meinten, mir den Schläfer zu zeigen, der ein Stück Meerwelt in das Garteninnere brachte.“

Dann fanden wir ihn auch, als wir vorsichtig gingen und suchten, auf der Grasböschung am Gartenrand. Unter einem Haselnußstrauch lag der kleine alte Mann auf dem Rücken. Er hatte seinen Kapitänsuniformrock ausgezogen und ihn unter seinen Kopf gelegt und hatte sich mit seiner Kapitänsmütze Stirn und Augen zugedeckt. Aber den Mund hielt er weit offen, und seine Hände hielt er über der Brust gefaltet. Die schwielenreichen alten Finger, die vierzehn Schiffe gesteuert und geführt hatten, waren fest ineinander gehakt. Sein offener Mund atmete die langentbehrte Garten- und Landluft und die langentbehrte Stille in seinen alten meergebeizten Körper ein.

Wir konnten es nicht übers Herz bringen, ihn zu wecken und zu stören. „Aber wenn er sich erkältet?“ meinte ich einen Augenblick.

„Der ist wie aus Seehundleder,“ sagte der junge Schwede. „Den bringen Erde und Wasser nicht um. Er hat vierzehn Schiffbrüche erlebt und ist nicht umgekommen; da wird ihm doch die Erde im Schlaf nichts antun können und antun wollen.“

„Und wenn er an diesem Schlaf sterben sollte,“ sagte ich, „so hat er wenigstens die Befriedigung, daß er noch einmal einen Landschlaf in Ruhe und ohne irrsinniges Meergeschrei und Brandungsgebrüll genossen hat.“

Und wir ließen den Alten schlafen, trotzdem die Schatten des Gartens ihn kühl zudeckten. Alles schien auch dem Alten den verdienten Landschlaf herzlich zu gönnen.

Und der Schlaf im Grünen ist dem Kapitän nicht schlecht bekommen. Nur darin bekam er ihm vielleicht nicht gut, daß er, als er aufgestanden, dem Pfarrer und uns erklärte, er möge nicht mehr aufs Meer hinaus. Er sähe gar nicht ein, warum er seinen alten Knochen nicht endlich am Land Ruhe gönnen sollte.

Und wirklich kündigte er nach diesem Landbesuch der Regierung seinen Leuchtturmplatz und mietete sich bei Freunden in Fjellbacka ein. Aber das Land wußte nichts mehr mit ihm anzufangen, und der kleine Meergreis starb bald ganz schnell weg, als wäre er nur ans Land gekommen, um in den Tod hinüberzuschlafen. —

Jene mehrtägige Meerfahrt bedeutete für mich auch zugleich den Abschluß meines Aufenthaltes im Pfarrhause. Denn der Sommer, der jetzt kam und Gäste und Besucher und Leben in die Einsamkeit brachte, trieb mich, der ich Ruhe zu Gedanken und Arbeiten liebte, zum Fortwandern an.

Ich war selbst erstaunt, daß die mächtige Einsamkeit, die mich zuerst bei der Ankunft, im Gegensatz zum lebhaften Berlin, an jenem Pfarrhause erschreckt hatte, mir jetzt zur unentbehrlichen Lebensbedingung geworden war.

Auch der junge Schwede wunderte sich nicht wenig, als ich ihm eines Tages sagte, ich fände das Haus, in dem Sommergäste kamen und gingen, zu lebhaft geworden, und daß ich mich nach der Zurückgezogenheit und totstillen Einsamkeit, wie ich sie hier in den ersten Wochen nach der Ankunft aus Deutschland genossen hatte, sehnte.

Er erwiderte mir, daß er das ganz unbegreiflich fände, da ich doch zuerst über die unendliche Winterstille im Pfarrhause erstaunt gewesen wäre und behauptet hätte, es wohnten keine Menschen, sondern nur eine tickende Uhr im Hause.

Ich mußte ihm recht geben; aber nicht darin, daß ich mich an den Sommerlärm in seinem Vaterhause so gut würde gewöhnen können wie an die Winterstille.

Ich sagte ihm, so wie mir sein Vaterhaus lieb geworden sei, so möchte ich es immer in meiner Erinnerung tragen. Es stünde dann einzig in seiner Art unter meinen Erlebnissen, und ich möchte deshalb nicht das Haus im Sommer beobachten, wie es immer ähnlicher allen anderen Familienhäusern würde, die ich kannte. Ich wollte es nicht in mir allgemein und gewöhnlich werden lassen, sondern den Aufenthalt dort als ein außergewöhnliches Erlebnis, so erhaben und mächtig wie es gewesen, für alle Zeiten im Gedächtnis behalten.

Bis zum Johannisfest, wo in der hellen Sommernacht im Freien getanzt wurde und das Klavier hinaus hinter grüne Hecken in die Steinfelder gebracht wurde und die Töchter des Hauses und ihre Freundinnen mit viel Gelächter den Auszug des Klavieres unter den freien Himmel begleitet hatten, bis zu diesem Fest bin ich noch geblieben und war nahe daran, mich von dem Mädchentrubel verlocken zu lassen, auch den Sommer im Pfarrhause zu verbringen. —

Es war mir aber nach meiner Abreise dann ganz seltsam zumut. Nirgends mehr fand ich die unergründliche Ruhe, die majestätische Einsamkeit, wohin ich mich auch wendete, — nicht auf dem Lande, nicht in den Städten, auch nicht bei den Buchenwäldern Dänemarks am Isefjord, die, auf flachem Sandboden gewachsen, mir wie große Parkanlagen vorkamen im Vergleich zur Urweltnatur Bohusläns. Das Meer schien mir bei Dänemark ein Tümpel zu sein und der Isefjord ein Parkteich.

Die dänischen Kornfelder, über denen die Windmühlen einförmig sich auf- und niederdrehten, kamen mir einfältig, nützlich und langweilig vor nach der prächtigen Granitdüsterkeit der nordischen Steinprovinz, in der die Hügel wie versteinerte Walroßherden gelagert waren, wie versteinerte Mammutleiber. Vorsintflutlich und ungeheuer abenteuerlich war vor den Fenstern des Bohuslänschen Pfarrhauses die Umgebung gewesen. Aber dort in Dänemark, wo die Sommerausflügler und die wandernden Kinderschulen und die herumliegenden Zeitungspapiere einen fortwährend an enges Menschenleben erinnerten, an sinnlose Bildungssucht, wie sie über allen Völkern Europas jetzt liegt, da wurde ich keinen Tag froh. Der Unterschied war so groß, als wäre ich wirklich wieder vom Mond auf die Erde zurückgekehrt.

Und noch viel schlimmer erging es mir, als ich Landleben mit Stadtleben zu vertauschen suchte. Selbst das liebenswürdige und ungemein trauliche Kopenhagen, eine der feinfühlendsten Städte unter den Städten und die Stadt meines Lieblingsdichters J. P. Jacobsen, konnte mich nach der erquickenden Zeit in Bohuslän nicht zum Bleiben verlocken. Wohl wanderte ich in der dänischen Hauptstadt gern in Jacobsens Fußstapfen und war gern bei Andersens alter tröstlicher Märchenwelt, die jeder Kopenhagener Pflasterstein einem deutlich wiedererzählt. „Die Galoschen des Glückes,“ „die kleine Seejungfrau,“ „die Schneekönigin“ begleiteten mich bei jedem Schritt und ließen mich der Vergangenheit nachhängen. Aber starkes Gegenwartsleben, neue vertiefte Wirklichkeitseindrücke, wie ich sie in Bohuslän stündlich erlebt hatte, erhielt ich hier nicht.

Wäre ich älter gewesen, würde mir das trauliche Kopenhagen sehr behagt haben. Man muß aber zuerst das Ziel möglichst erreicht haben, das man sich setzte, und muß selbst schon zur Vergangenheit hinneigen, um wunschlos in der Wirklichkeit ohne starkes Gegenwartsleben auskommen zu können.

Oder man muß, altgeworden, mit einem Chaos von mächtigen Erlebnissen angefüllt sein, dann sucht man gern stille träumerische Landschaft oder idyllische Orte auf, um dort die Flut der Eindrücke wie eine Sammlung zu sichten und zu ordnen.

Auch als ich zu Weihnachten zu einem Besuch in mein Vaterhaus nach Würzburg kam, schien mir die Rückkehr dorthin verfrüht. Zwar genoß ich den erfrischenden Geist meines Vaters und liebte den Kulturreichtum meiner altfränkischen Heimatstadt, aber doch schien mir beides im Wege zu sein für meine weitere Entwicklung. Denn die Zeit zur Selbstbetrachtung und die Zeit, mich in den Heimatboden einzuwurzeln, war noch nicht gekommen.

Ende des ersten Bandes

Anmerkungen zur Transkription:

Offensichtliche typografische Fehler sowie Zeichensetzungsfehler wurden korrigiert.






End of the Project Gutenberg EBook of Gedankengut aus meinen Wanderjahren.
Erster Band, by Max Dauthendey

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because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation information page at www.gutenberg.org


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at 809
North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887.  Email
contact links and up to date contact information can be found at the
Foundation's web site and official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     [email protected]

Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit:  www.gutenberg.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For forty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.