The Project Gutenberg EBook of Wege und Umwege, by Annette Kolb This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Wege und Umwege Author: Annette Kolb Release Date: July 6, 2014 [EBook #46204] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK WEGE UND UMWEGE *** Produced by Jens Sadowski
HYPERIONVERLAG / BERLIN
Zweite und dritte Auflage
Gedruckt von Emil Herrmann senior in Leipzig
im Jahre 1919
Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form wir sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.
Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der Originale einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich fast ein jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar! Einem solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige. Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen wie mit den äußerlichen. Könnten wir jene mit den Augen sehen, wir würden da genau dieselbe Mannigfaltigkeit, aber auch dieselben Mißverhältnisse wahrnehmen, wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich auf geistigem Gebiete der Wahn so bemerkbar macht, als sei hier eine Unterschiebung der eigenen Identität durch eine schönere oder bedeutendere leichter möglich, die Gesetze der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu umgehen, als in der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn wirklich schöne oder vollendete Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken antiker Statuen, deren Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde Bewegung verdorben oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie sind, nämlich meist ohne Kopf und Fuß, aber echt.
Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter einem Baum, dessen Laub im Winde rauschte und den blauen Himmel durchblicken ließ. „Das Leben ist schön!“ dachte sie.
Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand, und während sie seine groben Adern und Fasern langsam auseinanderriß, wurde sie unsäglich verstimmt. Nicht der frohbewegte Wipfel in der Höhe, das einzelne langweilige Ding in ihren Händen war die Wirklichkeit! —
Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal an ihr Bewußtsein an; denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das fin mot eines Ich’s ist ein Motiv, und was hinzutritt, sind Amplifikationen.
Schon ein Jahr darauf lernte sie im Kloster die Langeweile kennen, zu der sie neigte wie ein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen, und die sie anwehen konnte, plötzlich, unvermittelt wie ein Wind, der um die Ecke fährt.
In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um alle Mauern, und durch den ganzen Garten, die Stelle ausgenommen, an der eine reizende Brücke über den Wildbach bog, Libellen unklösterlich schwirrten und die Bäume parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich. Zwei hohe plumpe Berge versperrten wie Riesentore nach Norden hin die Welt, und die Monatsrosen standen, meist verwelkt und verweht, um ein mächtiges Kreuz vor dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich empfinden, doch ohne auch nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich dies zum Bewußtsein zu führen. Wie schmerzlich schien ihr im Frühjahr das Licht, wenn die Furchen der Berge so rauh aus dem Schnee hervorstachen und die grünenden Bäume im Scheine eines regnerischen Tages fröstelten. Ach wie öde der Ackergeruch im Winter, die Stoppeln und Maulwurfhügel auf dem Felde, der schwere, fette Flug der Raben!
Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme auf, schloß die Augen und dachte mit immer beschleunigterem Tempo und eingezogenem Atem: „Ich bin Ich“. An diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil, immer dunklere Schlünde hinabgleiten, bis sie ein Schwindel erfaßte und ihr Ich ihrem Bewußtsein entsank.
Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst ein Rätsel: ihr Geist hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit, als sei er transparenter und zugleich schärfer gewesen, lösbarer von ihr? — Sie wußte es nicht. Aber sie fand es „spannend“, sich selbst zu jagen, bis zu einer Wurzel, die sie nicht mehr war. — „Ich bin gefangen!“ dachte sie da wohl. „Auch nicht für eine Stunde kann ich jemals von mir fort, und wenn mir andere Menschen noch so sehr gefallen werden, kann ich sie nie sein!“
Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders gut gelungen war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich verloren, als hinge das Seil ihrer Identität in der Luft, — als harrten ihrer Gespenster in den Tiefen, in die sie geraten war, — und mühsam, wie ein Ertrinkender, so rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.
Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu lassen, und die Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr rasch. Dafür fingen andere Probleme, deren Lösung sie keinen Augenblick gewachsen war, an sie zu quälen.
Starb eine Klosterfrau und wurde es den Zöglingen freigestellt, sie auf der Bahre noch einmal zu sehen, so ließ Marie alles liegen und stehen, und marschierte zwei Schuhe hoch, allen voran. Dann starrte sie forschend in das fahle Gesicht, dem der Geist schon zu lange entschwunden war, und das ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und nichts schien ihr gerade auf das Klosterleben ein so trauriges Licht zu werfen als der Tod.
Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.
Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine Palmengruppe abgebildet, einen sprungbereiten Tiger und ein Mädchen, das mit tödlich entsetzter Miene sich vor ihm zu verbergen suchte, aber vergebens, denn er hatte sie schon fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.
Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher. Sie blickte zu den gemalten Inschriften auf, die an den Wänden hingen, und die ihr so gut gefielen: „Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt . . .“ „Er aber liebt die Seinen bis in den Tod . . .“ „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört . . .“ Über ihren Schrank breitete ein Pelikan seine Flügel aus mit einem ähnlichen gefühlvollen Spruch. Wie reimte sich dies? — Und sie verbiß sich von neuem in das schreckliche Bild. — Wie konnte Gott dies ertragen, wenn wir sein Ebenbild waren?
Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in der Nähe brennenden Anwesens wohl eine Stunde hindurch geläutet. Endlich kam fliegenden Schrittes eine Klosterfrau den Gang heraufgeeilt und sagte: „Gottlob Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen, nur sechzehn Kühe sind verbrannt“.
In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die Flammen jagen und fuhr erschrocken aus ihren Träumen empor. Sie schlief nahe am Fenster, und der Wildbach rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze Klagen herauf. Was war dies für eine Welt, in der die Kinder ihre Eltern begruben, und der Herr der Schöpfung zur Beute eines niedrigen Tieres entehrt werden durfte? Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen hatte, und die schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einer Boa constrictor kommen würden, schwebten ihr vor Augen. Allein gewisse Möglichkeiten genügten, um da ihren Weltschmerz zu einem unerhörten Fortissimo zu steigern. Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt, keinen Tod, keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen Seelen! „O wie ist das?“ dachte sie erschrocken: „Ich kann Gott nicht lieben!“
Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen, und sie bezeigte eine solche Gier, sie alsbald in Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie zurechtwies: „Du genußsüchtiges Kind,“ sagte sie streng. Marie hörte dies Wort zum erstenmal und vernahm es mit Interesse. In der Tat: Warum haßte sie nichts so sehr auf der Welt als den Schmerz? Warum ging sie stets mit abgewandtem Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel der Reihe nach in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz, Nägeln und Stricken, all den furchtbaren Zutaten ihres Sterbens? Warum erfaßte sie jede Freude mit so peinvoller Hast und entbehrte sie mit solcher Heftigkeit? Und warum waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so seicht, wie Wolken, die ein leichter Windstoß wieder zerreißt?
Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß, und sie war froh, sich ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht Jahren an zu schwärmen, und wenn Orgelklänge und Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur mehr an Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia Gelmini.
Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung ins Leben hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten Tagen inmitten langer Regenzeiten, an denen das Licht so zärtlich, das Laub so golden, der feuchte Blick der Sonne so kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben Regen und Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen . . . Flatz war von hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den Kopf einer Sirene. Da sie fast schon erwachsen war, wagte Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge schweigend spazieren gehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein Frost konnte die liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen, so schön und blühend war ihr Flaum. Aber sie blühte so königlich! Wo sie ging, war kein Winter, heftig Rosensträuche blühten an allen Wegen, und an den Frühling gemahnte selbst ihr sicherer, zerstreuter Blick.
Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges Haar. Aber der Schnitt war rein wie der eines Ägineten, und ihr stolzer Blick flammte in unbewußter oder in Zaum gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in ihrem Umkreis, um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer Lippen in der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen Wald schwärmte ihr inneres Auge über sie hin.
Aber Irene Angermaier war die schönste! Mit braunem, weichfließendem Haar, ruhig und müd wie eine Nymphea im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer harten Schulbank mit jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt und vor der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener Gondel, in Palästen hätte sie ruhen sollen; ein Antlitz für Perlen und unschätzbare Schleier, ein Wesen, zu schön um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu ruhen.
Gelmini war aus Salurn, und melodisch wie ein Glockenspiel. Ihre Achseln schienen wie mit Blütenfäden an ihren Körper gefügt, und an der Art, wie sie den Arm nach der Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als Romeo sie zum erstenmal erblickte. Und wenn Livia: „il gallo, la primavera, la catena“ sagte, dann schwärmte Maries Herz wie ein bunter Schmetterling in der Sonne. Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie verkehren können, aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte, zerfloß sie in Verehrung. In Wirklichkeit wollte sie weder von Puppen, noch von Freundinnen etwas wissen, und mit Vertraulichkeiten war ihr nicht gedient. Sondern sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben. Und angesichts jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh verlieren und sterben oder scheiden sehen mußte, war sie viel mehr einem Zustand als Gefühlen hingegeben. Sie sprach nie mit ihnen und suchte nie von ihnen beachtet zu werden, nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten sie sein; sie mußte sie alle vier sehen können, wenn sie den Kopf wandte; dann war ihr Kloster ein gar schöner, gewählter und träumerischer Ort.
Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem Leben; sie stak von neuem in Grübeleien, wie in ödem, verwirrendem Sande, langweilte sich und sehnte sich fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne vorschriftswidrig in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der Reihe nach konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als Verkörperung der Insubordination von allen Zöglingen abseits. Alljährlich feierte man in ihrem Kloster das sogenannte Königsfest, bei dem sich das ganze Pensionat in einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der Königin herab zu den Köchen und Kaminkehrern, je nach Verdienst, seine Charge erhielt. Die ersten Jahre stand Marie als Page, in Korkzieherlocken und Goldreif, einen ganzen Tag hindurch stumm, doch voll Entzücken in der Königin Dienst. Es war Irene Angermaier, in Silbergaze und königlicher Krone. Aber später wurde ihr dies reizende Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel zu kleinen Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid (denn es hatte als ehemalige Balltoilette eine Taille, und sie noch lange nicht) spazierte sie als „königliche Lectrice“ mit einem Riesenbuch, allein und tödlich verlegen, hinter den Landgräfinnen einher, und wenn im cortège die Reihe an sie kam, tanzte der Bouffon in seiner roten Schellenkappe vor ihr her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog sie zwar über die Weltordnung allerlei Separatanschauungen, doch für das Maß ihrer eigenen Missetaten fehlte ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich über Gebühr.
Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz aller Freiheiten, und ihr Herz schlug hoch, als die schweren Klosterriegel auf immer hinter ihr zufielen.
Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In der Tat: so unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat später durchschwärmte sie, frei wie ein Waldestier, eine Mondnacht um die andere in den Bergen und kampierte am offenen Feuer wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt, die würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den Hühnern richtete? — Da hing Maries Disziplin am hohen Klostergiebel, als leeres Fähnchen zurückgeblieben.
Folgendes müssen wir ihren eigenen Aufzeichnungen entnehmen:
„Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen, als uns vier Kinder die Wanderlust zum erstenmal ergriff. Aber der Tag ließ uns nicht weit genug gelangen; so rüsteten wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus. Daß uns gerade nur soviel Geld bewilligt wurde, um vierundzwanzig Stunden fernzubleiben, kümmerte uns nicht.
Erst als der späte Nachmittag golden verglühte, traten wir vor. Bald rauschte dann im Mondlicht der Fluß uns zur Seite, und schneeweiß zog sich die Straße den schwarzen und bewaldeten Felsen entlang. Jeder Stein, der im Flusse die Wellen zurückwarf, die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene Gras am Ufer schienen verklärt. Und wenn sich in dem mondlichen Schweigen der Schrei eines Tieres entrang, durchzitterte ein ewiges Glück die schimmernden Mulden.
Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer eifriger berieten wir die Möglichkeiten einer einstigen großen Erbschaft, und in der großen Bergesstille schallte unser lautes Gelächter.
Als die Lichter der „Fall“ vom anderen Ufer herüberleuchteten, hielten wir Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende gewesen, hätte unserem Auftreten etwas von dem hohen Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr überzeugt waren. So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander führend, das alte Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes, sehr zimperliches, aber sehr billiges Essen, gaben dann vor, einer Wette halber, die Nacht in keinem Hause verbringen zu dürfen, und griffen, mitten in der Nacht, mit großer Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck war nach Wunsch: die paar Reisenden und das Personal standen neugierig an der Türe, eine alte Dame protegierte, die Wirtin bewunderte uns, der Förster zog seine Pfeife weg und wies uns den Weg, und von freundlichen Zurufen verfolgt, von der alten Dame gewarnt, drangen wir in den Wald, und weiter hinein in die Riß. Den Tag verschliefen wir auf Almen oder Bergeskanten. Kamen Stürme, so äfften wir sie. Von den Felsen geschützt, apostrophierten wir das finster fliegende, grandiose Gewölk und begrüßten die Donnerschläge mit dröhnendem Gelächter.
In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher aus. An einem Herbsttag kamen wir vom Achensee und wollten über den Schildenstein zurück. Die Alm war geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den Kanten des Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine leere Hütte und machten uns Feuer. Aber draußen lockte die Nacht, lockten die im Monde getauchten Tiefen des Achentales und der silberne See. Unbeweglich wie Berggeister saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor unserer Alm. War es Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen ließ? Die Welt mit ihrem Spiel riesiger Schatten und frohlockender Höhen atmete Gesang, aber die Leier unserer Freuden schwebte zerrissen über uns.
Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer trübe zerfällt. Der große Zauber jener Wanderungen hing an einem romantischen, 19jährigen, höchst merkwürdigen Wesen, in dem kein Raum war für Pandorens Trug. Reinste Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die Erkenntnis überstrahlte den Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so hohe Weisheit mit solcher Grazie umkleidet und die Taue eines so unschuldigen Lebens gelockert. In dieser fast morbiden Erscheinung mit dem unbeschreiblichen Relief ihrer bangen Umrisse, blieb alle Schwäche ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien, die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den hochgezogenen Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das eitel gesteckte Gold der Haare, und dabei die männliche Zurückhaltung in den durchdringenden Augen. So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente der Stimmung eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes; und so ließen sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie nicht glaubte, nicht herabdrücken, und mit allen Fasern zog sie sich von ihm zurück.
„La mort est bête“ sagte Gambetta. „Aber der Tod überblickt Zusammenhänge, und das Leben ist befangen. In unserer Existenz wähnen wir unser Wesen erschöpft, währenddem die Grundlagen neuer Individualitäten schon in uns dämmern, neue Lebensformen unserer harren mögen. Allein einzig ist der Mensch als Kunstwerk! Und mit Grauen erfahren wir, daß es Wesen gibt, die, köstlichen Schalen gleich, einmal zerschlagen, der Natur nicht wieder gelingen.“
Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen nach der Küste späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode — man weiß, daß man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.
Nietzsche. Nachgelassene Werke.
Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle katholisch.
Moltke.
Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig wie früher das Leiden. Von den beiden Philosophen, von welchen der eine die Welt ewig weinenswert, der andere sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere ihren Beifall. Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts vermochte, Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man lebt nicht lange, also lebe man, ohne zu denken. Allein ihren Theorien zum Trotz erhoben sich die Gedanken wie ein brennender Wüstenwind in ihrem kindlichen Gehirn. Da faßte sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer Art. Mädchen ihres Alters umging sie in weitem Bogen, aber das Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen, im Kreise weltgewandter Männer, wurde ihr Paradies. So geriet sie sehr früh in eine Clique welterfahrener, mächtiger und verfeinerter Leute, die sich täglich sahen, in deren Vertraulichkeit, die keine war, das Herz fast keine Rolle spielte, sondern mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies fand sie bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst erhoben, erheitert zu werden, und die Sorglosen waren die Lieblinge, die Nachdenklichen nur die Frondiener der Götter.
Jene also waren die überlegenen und vollkommeneren Menschen. Ach und das ferne, freundliche Mitgefühl, mit dem sie eine eben ereignete große Katastrophe, einen Brand, ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die Art, mit der sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja betäubte Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise die Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, — nur streiften! schien ihr das non plus ultra seelischer Eleganz.
Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles, was sie haßte, woran sie nicht erinnert werden wollte, und keine verzehrenden, keine erniedrigenden Schmerzen gelangten je zu diesen lachenden Höhen.
Und es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar, so begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten Menschen vergötterte sie es; aber die Freude war das Gesetz, nach dem er wandeln sollte.
Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit sie schwelgte, deren Lächeln sie beruhigte, an deren Leichtsinn sie ihr Gemüt sonnte wie ein Kranker im Mittagsscheine, sie hinderten ja nicht, daß ihre Gegensätze bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein Kontrast, — kein Ersatz, — nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen von solcher Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen, und der Andrang ihrer Gedanken im Verhältnis zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten sich so mächtig steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne zusammenschlugen, und ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher beschlich.
Zu ihren Freunden hatte sie indes eigentümlich Stellung genommen: zu jung, um noch zu zählen, störte sie niemanden; die Frauen litten sie gern, ja die schönste von ihnen zog sie zu den Zusammenkünften, die täglich bei ihr stattfanden, und hielt sie wie eine Art von Pagen. In der Tat hatte Marie der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein Gefühl des Ausgefülltseins und Verlorengehens, ein Stillstehen ihres Selbst zu einem Atom, das nicht Schwärmerei war, sondern Glück.
Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren fort und ihre Freundin allein.
Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der goldene Staub der sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt und rauchte eine Zigarette. Nichts dächte man, was in diesem Anblick klassische Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der schönsten Gestalten ihrer Zeit, unbeweglich, wie geblendet, an der Schwelle zurück? Sie sah Helden verbluten, Troja im Schutt und Hektor erschlagen, und wie von einem plötzlichen Schein entrückt, faßte sie das ewige Relief dieses flüchtigen Lebens.
Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst, und ihr Wohlgefallen war ein Meer der Ruhe. Und dieser eine göttliche Funke in ihr schuf ihr Beziehungen, baute ihr Brücken, die lustig funkelten wie Regenbogen.
Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie, sondern die Art ihrer Salon-Olympier sich aneignen und nachahmen. Stets schwärmend, haßte sie Exaltation, und Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.
Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst, sondern ihr Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der Wert, den man besitzt, sondern den man verausgabt. Hierin beruht der Reiz gewisser typischer Genußmenschen. Sie erwecken Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute halten, als sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht. Es sind die Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung hindert, ihre Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben, und von denen geschrieben steht, daß sie das Himmelreich so schwer erlangen, denn es leidet Gewalt.
Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen Mißstand, die Entsagung nicht als eine Bestimmung des Menschen zu betrachten, und wenn sie glückliche Naturen so sehr liebte, so war es, weil sie ihre Berechtigung anerkannte. Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte sie einen untergeordneten Zustand, weil sie fühlte, wie dies Übergreifen ihrer Individualität nichts anderes aus ihr schuf, als einen heiseren Mißton, der jede Saite erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und keinen unvermischt behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie der eigenen Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebahrens, noch vor einer Stunde, als sie in Voltaires Geschichte Karls XII. von Peter dem Großen las, der seine Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern ließ. Gleich einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus ihrem Bewußtsein zu löschen. Denn aller Jammer, der solche Greuel deckt, war da vor ihren Blicken aufgestiegen, und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem Bilde einer so schmerzbefleckten Welt.
Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen, daß sie die Religion so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr durch das Kloster zu sehr entfremdet worden. Das Breittreten großer Mysterien hatte nur ihren Widerwillen, später ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging das Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen. Daß wir einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir als kleine Kinder eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig den Rücken kehren, ist ja ungefähr das Naheliegendste, was es gibt und erfordert spottwenig Geist. Und wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den Knaben die Mysterien des Neuen Testaments bis zum Jünglingsalter vorzuenthalten, um der notwendigen Verstümmelung ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus wählte reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden ihn selbst die!
Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie erfahren. Christus war ihr ein furchtbares Rätsel geworden, eine unverständliche Gestalt, der Widersprüche voll, der Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung gewinnen konnte und die sie bedrückte.
Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie immer näher mit unruhigen, peinigenden Schatten. Bald mied, bald erforschte sie im Spiegel ihre scheuen trostlosen Blicke. In den Dissonanzen ihres Innern sah sie keine Lösung, keine Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und wie der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst des Wahnsinns auf dem Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen, die ungeschieden ineinander wogten; wie ein im Stimmen begriffenes Orchester, in dem Violinen, Hörner und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und Motive wirr ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den heiteren Seiten des Daseins flüchtete, glaubte sie Ruhe und Rettung zu finden, und glich so einem in Brand Gesteckten, der vor der Flamme davonläuft und sie dadurch nur entfacht. Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr und ging nie in ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte sie zu zerstreuen. Ihr entströmten, wie Wohlgerüche aus unnachahmlicher Phiole, die Kundgebungen nationalster Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau französischen Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn sie liebte feste Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag für sie in deren Geschlossenheit, aber das Feine gewährte ihr mehr Befriedigung als das Große, weil sich in ihm das Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie jedoch dem Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der Kunst verletzte sie die Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr gemein. Und hierin allein mochte sie es nicht mit ihren Freunden halten, deren Stellungnahme gewissen Dingen gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die gänzliche Bezugslosigkeit der Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber hier wie da gelangten nur flüchtige und heftige Stimmungen bei ihr zu Atem, und es lag etwas Chaotisches in der Gleichzeitigkeit ihrer oft ganz entgegengesetzten Empfindungen.
Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles nichts half. Sie mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern, die Ansichten des einen, den Tonfall und das blasierte Lachen eines anderen, die Persiflage eines dritten nachahmen, schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen, sie wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu denen gehören, welche ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke assimilieren, nicht ihnen nachhängen — ja, aber sie stürmte nicht, wie ihre Freunde, in die weite Welt! Für sie segelte kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen des Lebens, sie stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges gleichförmiges Dasein erfüllte sie mit Verzweiflung.
Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele lebte, war die Welt der Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte ihr Inneres wie ein Sumpf, und ihre Züge wurden stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder kein Gefühl oder kein Interesse in ihr erweckten.
Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr El Dorado war, hatte sie durchschaut. — Er trug seiner romantischen Erscheinung halber den Spitznamen Alfred de Musset. Sein Gesicht war en face gesehen schön und zauberhaft jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei äußerlicher Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch. Seine Begabung, in ihrer Art ungewöhnlich, war à fleur de peau. Dabei gehörte er zu jenen Menschen, welche den Geist der anderen auf das lebhafteste anregen und in Schwung versetzen. In seiner Gegenwart beherrschte sich die schüchterne Marie vollkommen. Sie drückte sich frei und unbefangen aus, und die Worte standen ihr für alle ihre Einfälle zu Gebot. Dies erhöhte nur ihre Gereiztheit, denn genau so, wie sie sich im Zwiegespräch mit ihm zeigte, wäre sie gern vor ihren anderen Freunden erschienen, die nur beiläufig auf sie achteten und die ihr so gut gefielen. Sie glaubte sich an ihm rächen zu müssen, indem sie es ihm ins Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr an ihm mißfiel: von seinem Profil bis zu seinem dekadenten, mehr in die Tiefe als in die Breite gehenden Verstand. Er ließ sie reden, — ihr aber schien ihr eigenes merkwürdiges Verfahren höchst angebracht und loyal, und indem sie ihm ihre Abneigung gestand, ja klagte, glaubte sie den so anregenden Verkehr mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch gestalten zu können.
Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, die Abneigung für ihn steigerte sich ins Unerträgliche, denn genau so ehrlich, so akut, wie sich sehr junge Leute verlieben, war sie in ihn verhaßt.
Eines Tages brachte er ihr die frühen, verträumten Lieder Debussys auf Gedichte Beaudelaires, und von der schwülen Atmosphäre dieser Musik halb gehoben, halb betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen, und die heimliche Qual großer Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie ihn da aus der Tiefe ihrer Verlassenheit an und lächelte ihm zu, weil er ihr vom Hauche des Frühlings umweht erschien wie ein blühender Zweig.
Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für welche sie, aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken; denn er wollte einen Einfluß über sie gewinnen, nicht aber sie erfreuen. In demselben Tone weiterredend, änderte er da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie seine Absicht merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch eben von ihr malte. Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er es war, der sich nun rächte. Ihr war als stürzten die Balken eines Gerüstes über sie zusammen, als hörte sie den endlichen Schlag einer lang lauernden, elenden Stunde, den Wehruf finsterer Vögel.
„Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie ja längst,“ sagte er. — Aber ein mutigeres, stärkeres Wesen schien da plötzlich in ihr zu erstarken, sie von seinen Drohungen freizusprechen, zu beschützen. Dieselbe Fähigkeit, aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich auszudrücken, verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd, mit begütigenden Worten, Abschied von ihr nehmen wollte, hielt sie ihn schnell zurück: „Dies Haus gaben Sie mir ein Recht, Ihnen zu verbieten,“ flüsterte sie, und wie Liebende in ihrer ersten Umarmung, so war sie durch die endgültige Trennung von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt, und Haß und Widerwille waren erloschen.
Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter seines Lebenslaufes so klar und nüchtern erschaut, daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß, die Zukunft mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt. Warum erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne nachblickte, daß auf Jahre hinaus alles, was sich ihr bieten, sich verkehrt zu ihr stellen mußte, und daß sie alle Früchte verdorren sehen oder zur Unzeit brechen würde?
Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres Lebens blühten, unversehens leer, ihre Freunde zogen fort, und ihr Zaubergarten versank. Ach auf so winzige Veranlassungen hin konnte dort die Schale ihres Glückes überströmen, denn mächtiger als in allen Mandelblüten des Südens, als in allen Fliederbüschen des Nordens rauschte der Frühling in ihrem Herzen. Sie sah nun zu den verödeten Fenstern empor, und litt um so mehr, als sie nicht leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte nicht vergessen konnte.
Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber in seinem eigentümlichen Verlauf unwahrscheinlicher ist als der kühnste Roman, diese Bemerkung ist ja nicht mehr neu. Aber was uns in unsere Bahn lenkt, tritt in der Regel nicht ominös, sondern leicht und mit nichtssagender Miene in unseren Weg. Die Wendepunkte des Lebens liegen im Tal, im aussichtslosen Dickicht und Gestrüpp. Marie erhielt Besuch aus New-York, in Gestalt eines jungen, reichen und verwöhnten Mädchens. Es war eine jener zu rasch erfolgten, atemlosen und überhitzten Kulturen, ohne Verweilen, ohne Gemütlichkeit und ohne Humor. Ihr Geist war stärker als ihre Persönlichkeit. Sie kampierte auf einer weißen, großartigen Wolke und schien mit ihrem stets in die Ferne gerichteten Blicke über ideelle und allgemeine Interessen das Einzelne und Persönliche aus den Augen verloren zu haben. Dabei aber war dieser „spiralähnlichen“ Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu eigen. Und wie sich sehr hervorragende psychische Veranlagungen oder Eigenschaften häufig in einer körperlichen Linie widerspiegeln und nach sichtbarer Gestaltung drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses zu farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen Hoheit der Haltung und der Gestalt, in einer unvergleichlich edlen Kurve ihrer Achseln, und — man lache nicht — in dem idealen Glanz ihrer träumerischen Flechten. Äußerlichkeiten waren es denn auch, die Marie mit ihr versöhnten.
„In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich groß zu machen, und auch das Bedürfnis, sich klein zu machen.“ Marie, welche Verherrlichungen ihrer eigenen Person mit fast kindischer Freude entgegennahm, trieb eine gewisse Bescheidenheit wiederum so weit, daß es ihr unmöglich wurde, ein ihr dargebrachtes Gefühl sich wirklich vorzustellen, noch zu begreifen. Entweder suchte sie den Grund dafür in irgend einer Lücke, einer untergeordneten Beschaffenheit des Betreffenden, oder sie fand überhaupt nicht den Mut, daran zu glauben. So verwirrte sie jetzt die entschiedene Gunst, die ihr von der jungen Fremden zu teil wurde, um so mehr, als sie viel zu unerfahren war, um sie richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres Aufenthaltes gestalteten sich übrigens für Marie auf die denkbar angenehmste Weise. Sie kam zum erstenmal mit den berühmtesten Leuten ihrer Zeit zusammen und saß stumm, doch hoch erregt, mittags mit ihnen zu Gaste und abends im Theater. Zwischendrin allerdings wurde sie von Honorien, ihrer neuen Freundin, in Zwiegespräche hineingezogen, die ihr gar nicht entsprachen. Hohen, übersichtlichen Besprechungen war Marie nicht gewachsen, und selbst wo sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit Widerstreben. Denn philosophische und künstlerische Probleme schienen ihr zu so gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht geeignet, Honoria aber besprach nie Alltägliches, selten und nur von ferne Personalien. Bei aller Herzlichkeit lag etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen, etwas so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick, daß Marie immer den Eindruck hatte, als sähe sie jene nicht selbst, sondern statt ihrer ein Schemen, das ihr gefiel.
Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war ein lauer Sommertag, die Bayreuther Festspiele eben zu Ende. Honoria empfing sie mit offenen Armen und schickte den Wagen fort, um die Strecke zur Bahn zu Fuß mit ihr zurückzulegen. Alsbald war denn auch eines jener Gespräche im Gange, die Marie so sehr langweilten. Sie seufzte und sah zerstreut auf die staubigen Bäume, zum weichen, herbstlichen Himmel empor. „Gott sei Dank,“ dachte sie, „sie geht“.
Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker, in der Eisenbahn geschriebener, französischer Brief, der nichts weniger enthielt, als die Fortsetzung der allzu umfassenden Philosopheme, welche Honoria auf dem Weg zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger wollte jedoch Marie eine solche Komödie aufrechthalten. Das „Du“ ignorierend, das in jenem Briefe geführt wurde, schilderte sie sich selbst so, wie sie war, mit ihrem wirklichen, mit ihrem grundsätzlichen Mangel an Interessen, und die gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer Natur nach angehörte. Somit galt ihr diese Episode als beendet, und sie war nicht wenig überrascht, als Honoria, welche die Dinge von oben nahm, sie in einem noch dickeren Briefe eine Spartanerin nannte und nunmehr den Verkehr so rege gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in benachbarten Städten, nicht in getrennten Erdteilen. Marie wurde der Gegenstand fortwährender Sendungen und Geschenke. Bald kamen persische Lieder in köstlichem Pergamenteinband, mystische und philosophische Werke, eingerahmte Gravuren in hohen Kisten, und sie hatte vollauf zu tun, um nur die Zeitschriften durchzusehen, auf die sie sich mit einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in Kenntnis zu setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen zukamen. — Sie tat es denn auch mehr aus Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.
So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten Septembertagen unerwartet einen Brief mit dem Homburger Stempel. Honoria war infolge einer durch Überanstrengung erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin befohlen worden und sollte nach beendeter Kur schleunigst nach dem Süden. Da ihr der Umweg zu Marie nicht gestattet war, bat sie nun dringend um ihren Besuch. Marie sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen; besonders freute sie sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes und ließ sich durch die Jahreszeit in ihren Erwartungen nicht beeinträchtigen, denn in Homburg, wollte sie wissen, gab es das ganze Jahr hindurch schöne und interessante Leute.
Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter Bahnsteig entgegeneilte, erschien ihr noch höheren, noch edleren Wuchses als vordem. Trotz der großen Modernität ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres Kopfes, die Linien ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr Anblick rührte die leichtbewegte Marie. Sie freute sich, den heißen, staubigen Zug zu verlassen und die letzte Strecke in dem offenen Wagen zurückzulegen, der vor dem Bahnhof in der Sonne wartete, durch Frankfurt, das sie nicht kannte und in der frischen, schimmernden Luft nach Homburg zu fahren, und sie freute sich, daß sie gekommen war. Allein schon unterwegs empfand sie die alte Ungemütlichkeit, die alten Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien in ihrem Element, wenn ihre Gedanken gleichsam in der Luft hingen; Marie hingegen war gänzlich real, und ihr Idealismus galt dem Leben. O wie erschrak sie über den Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen welkenden Laubes bedrückt, starrten die leeren Alleen, starrten verödete Gärten und Villen. Honoria rühmte ihr die große, wohltuende Stille des sonst so geräuschvollen Ortes. Die Villa, welche sie ganz allein mit ihrer Gesellschafterin und einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des einzigen Hotels, das, wahrscheinlich ihr zu Ehren, noch nicht geschlossen war. Marie erblaßte. Ihr Herz sank. Sie haßte das ausschließliche Zusammensein mit Damen! Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem einschichtigen Verkehr, und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen. Ein Leben, das auf ein Weilchen das Ideal eines geistig und gesellig überanstrengten Menschen sein mochte, war nur ein Alp für das zerstreuungssüchtige Mädchen.
Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften Zügen zu Bett; hatte vor Tagesanbruch ihre Korrespondenz erledigt und Emersons Essays oder die Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden war, ging sie unverzüglich an eine, aus Gefälligkeit unternommene, Übersetzung, und Stunden hindurch drang der hartnäckige Lärm der Schreibmaschine durch die stillen Zimmer. Vor dem öden Klippklapp floh Marie ins Freie und strich durch die toten Straßen Homburgs, oder verlor sich in einer Anwandlung von Schwermut in den großen Park. Früh am Nachmittag harrte dann die leichtgeschirrte Viktoria und Marie freute sich der langen Fahrten durch den goldenen Taunus. Aber als der Oktober seinem Ende zuneigte, litt sie bei dem Anblick des sterbenden Laubes, der finster welkenden Natur. Ihr war, als fielen ihr die gelben Blätter aufs Herz, und ihr Auge lechzte nach einem grünen Zweig, nach einem blühenden Fleck inmitten des ungeheuren Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die Schönheit des Herbstes, Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick verhieß, nicht was er bot, nicht der Sonne zärtliches Verweilen, ihren Scheidegruß vernahm sie allein. Und wenn der Wagen in der Dämmerung durch einen Dom welker seufzender Bäume fuhr, so umlauerten sie, wie einst die Elfen des Erlkönigs Sohn, des Verfalles grausame Schatten, und entwanden ihr das Herz.
Zu Hause kam dann der lange Abend mit Shakespeares und Brownings Gedichten; aber sie fing an, alle Bücher zu hassen. Wohl konnte sich ihr Blick flüchtig beleben, wenn Honoria duftend und geschmückt, gleich einer hellen Wolke, ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft stundenlang mit ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den einfältigsten Bemerkungen mußte die sonst so Gesprächige ringen. Gern folgte sie Honoriens Aufforderung zu musizieren. Allein die Töne brachten das Echo ihrer Langeweile mit quälender Steigerung zu ihrem Bewußtsein, und schlaff und zerstreut endete ihr Spiel.
In dieser Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern kannte, in Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl Aufführung wie Besetzung zu den minderen gehörten, so war sie von dem Drang, dem titanischen Gären, ja gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen. Hier war Ikarus, dessen ewiger Mut sich Flügel über Welten hin, Flügel, die nicht brachen, schmieden sollte.
Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch das mondumhauchte Land und weiße Dörfer nach Homburg zurück, und Wagners Schaffen als eines Wunders gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück, und verlor sich in der stillen bethlehemischen Pracht. Vergessen und verweht schien ihre Schwermut, die doch schon tags darauf, gleich einem Nebel, ihr Gemüt von neuem umschleierte. Besonders auf die Schreibmaschine wurde sie zuletzt erbittert, und als diese eines Morgens wieder so geschäftig das stille Stockwerk durchdrang, fing Marie in einem Paroxysmus von Langeweile in ihrem Zimmer stürmisch zu weinen an. Das Leben war so reich, so mannigfach und schön! Es gingen auf der Welt so typische, reizende Menschen einher! Ach! warum lebte sie von ihnen getrennt! Wer war für des Lebens Genüsse königlicher geartet? Mochte sie zeitlebens entbehren, bis in alle Fibern blieb sie verwöhnt.
Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren, schien ihr gerade der heutige nicht mehr erträglich. Rasch zu Honoria tretend: „Ich kann heute keine gelben Bäume sehen und fahre nach Frankfurt,“ sagte sie lachend und drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten, aber so freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe hinab und zur Bahn, der Schreibmaschine und Homburg davon!
Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so behaglich war es Marie am selben Nachmittag auf der bewegten, im lieblichsten Lichte getauchten Zeil. Die üppigen Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern erwartungsvoll einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und die Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten, oder die sympathischen Leute, alle schufen ihr Kurzweil, und wie ein Kind in Bilderbücher, war sie ganz in den Anblick der vielen Spaziergänger versunken; überall von dem Zauberkreis eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber verlierend, ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten glich, von der Einsamkeit aus.
Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift, an Brücken, stillen Plätzen und verlorenen Straßen geweilt, und schon erblaßte der Himmel. Gänzlich ihrer Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie umflort, von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt durchdrungen, und von der sterbenslauen Luft, in der ein Klang lag ewiger Ermattung, von ewiger Vergänglichkeit.
In einer kleinen verträumten Sackgasse machte sie Halt, um ihren Weg zur Bahn zu erfragen; und von einem entstellten Profil Richard Wagners, das dort in der Auslage eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.
Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester Laune, erzählte, was sie gesehen, gehört, gegessen hatte, und unterbrach die Browningsche Lektüre mit allerlei Späßen.
Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt schlief sie ein. Wann endlich würde sich ihr Leben bewegter gestalten? — Sie gedachte der vergnügten kleinen Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele Fragen gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte und inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen und Schaumrollen ein Dasein lebte, vor welchem Marie erschauerte.
Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen Bildung, als daß sie für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt blieb. Heiß schoß ihr das Blut zu Kopfe: was wußte sie denn? — und was sollte sie von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben verlernte?
Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie erwachte. Sie besann sich nicht sogleich, was dies wilde Klopfen ihres Herzens verursacht, was sie geweckt, was sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und riß es auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht, allein den Tag in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut immer neu hervorbrechender Tränen, daß ihr Gesicht erblindete wie eine Scheibe unter dem Regen.
Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen den Blick abwandte, hatte sie, verherrlicht, zwei Schritte vor sich, mit unbewegtem, gerade ausschauendem Auge gesehen. Aber es war ein vergöttlichtes Auge, weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von unvergeßlicher Größe; ein individuelles und doch gänzlich entrücktes Auge. Kein Auge, mit dessen Blick der ihre sich hätte kreuzen können. Es waren die ewigen Augen Wagnerschen Geistes.
Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so hatte ihre Gesinnung durch ein so ungeahntes Bild eine Umgestaltung erfahren. Es war seltsam, es war spaßhaft genug, und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade in ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie: ein junges, bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe bringen, in dem nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte: die Wahrheit zu suchen.
Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens, daß Unwissenheit es war, die jenen Gram in ihr erzeugte, weil Gedanken hinter jenen unruhigen Schatten ruhten, die sie schreckten, und daß nichts sie retten konnte, als ein hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß, als ein Glaube, um den sie selber rang.
Tags darauf verließ sie Homburg.
Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder und Wiesen vor ihrem Zug vorbei, aber vor dem Glanz dieser sonnenerfüllten Welt schloß sie bekümmert die Augen; denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen Fahrt, ihr einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor einem Berg, den nur Geübte und Wetterkundige mit einem Arsenal von Werkzeugen wohlausgerüstet zu besteigen wagen und denen sie nun barfuß und allein folgen wollte. Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was Gleichgewicht und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet noch vererbt, und zu einem systematischen Denken war sie weder veranlagt noch geschult. Kein Pegasus, die traurigste aller Rosinanten stand ihr zu Gebote. Aber weniger glücklich als der an Illusionen reichste Don Quichote, verglich sie unerbittlichen, fast feindlichen Auges ihre Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. — Was hatte ihr stumpfes kindisches Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen, die es von jeher mühten? Nun war sie erwacht. Mit weitgeöffneten Augen, die nicht sahen.
Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper „Iphigenie in Tauris“ auf dem Zettel sah, ging sie noch selben Abends hinein. Es war eine der letzten Vorstellungen, die unter Levis eminenter Leitung und einer Besetzung alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und Marie atmete auf in der Atmosphäre dieses edlen Werks.
„Die Ruhe kehret mir zurück.
So sollte meine Qual Euch Ihr Götter ermüden.“
Es war Orestens Lied, und in prachtvoller Wiedergabe, die eherne Begleitung des Orchesters.
In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Vermögen, die Genialität des Dirigenten. Nicht so sehr „gestaltend“ stand er dem Meisterwerke gegenüber, als daß seinem unvergleichlich künstlerischen Impuls, seiner in höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die tief umhülltesten Regionen sich erschlossen. So stand er unbeweglich, mit gesenktem Stabe, nur verklärten Auges sein Orchester bannend. Aber der Hauch von Ewigkeit, der über den friedensvollen Fall der Baßtöne gebreitet liegt, riß Marie mit fort. Kein anderes Kunstwerk sollte je wieder jene selbe überwältigende Wirkung in ihr hervorrufen, zu der sie jetzt ihr abnorm gesteigerter Gemütszustand befähigte. Sie verlor das Gesicht. Der Wunsch, den sie so früh gehegt, er war ihr erfüllt, die Müdigkeit, die sie so früh empfunden, sie war von ihr genommen, und sich selbst, der eigenen Dürftigkeit, der eigenen Torheit, allen Schranken des Persönlichen weit enthoben, behielt sie nur das Bewußtsein eines strömenden Glücks.
So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach Erkenntnis war stärker als ihr Sträuben, als ihre Trägheit und ihr Unvermögen.
Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, — über einer einzigen Seite Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie ein so lückenhaftes Verständnis entgegenbrachte, durfte sie, zum Atome sich erkennend, ruhn, — wenn sie die Schwingen ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie hatte Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr half, noch sie belehrte! Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit ihr nach allen Seiten hin entsprach, hätte sie sich ohne Reue anvertrauen können, und einen solchen Freund zu haben, war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die Bücher ihre Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte sie erkannt, daß hervorragende Anlagen nur eine gefährliche Mitgift sind, wenn gerade sie einen versöhnenden Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche erschweren. Sie hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir geschaffen wären, in die Wage fällt, daß nicht wir selbst, sondern unser Geschick das Gegebene ist, und daß sie nicht dem Knechte gleichen durfte, der mit seinem einen Talent verzagte und es vergrub. Am schwersten ließ sie sich’s mit Schopenhauer werden, der den jugendlichen Leser terrorisiert. Und wer war sie, daß sie es wagte, ohnmächtig, verzweifelnd, so lange gegen ihn anzustürmen, bis ihre innerste Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von seinem großartigen Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht länger unterworfen war?
Wagner aber lehrte sie, wie mit jener Philosophie zu verfahren sei: Die schroff eingehemmte Theorie der Willensverneinung lenkte er versöhnend zu Parsifals Erkenntnis, und Schopenhauers elementare Lehre der Liebe veredelten und krönten Tristan und Isolde.
Einen heißen einsamen Sommer verbrachte sie mit Platos Büchern und unter Tränen las sie das herrliche Symposion. Hier war ein Ziel und göttliches Verweilen, der Harmonien seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab lag da die Welt, — beschaulich, — unbegehrt, — zu ihren Füßen.
Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! — Und alles in ihr erhielt Sinn, Leben und Bestand durch Bezüge. Und in Bezügen lag ein Schwerpunkt selbst der größten Geister.
Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz; Steigbügel für den Kommenden. Allein die Schranke war die Bedingung des menschlichen Gehirns, und die Grenze des intellektuellen Vermögens durch die menschliche Natur scharf abgesteckt.
Marie versank in immer tieferes Nachdenken.
Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. —
Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen deutlich erkennbar — die universellste, übergreifendste Gestalt, die keine Irrtümer und keine Lücken in sich aufwies! Vielmehr auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts fremd war und nichts entzogen, was tausendfach die Menschen scheidet und vereinsamt. Ja, es war ein Mensch. Aber Himmel und Erde waren der Schlüssel zu ihm, und er erfüllte die Welt. Allumfassendes, schweigendes Begreifen entströmte seinem Auge. Es war ein Gott. Seine Züge aber! Die größten Denker und Meister aller Zeiten hatten sie ihr entschleiert, weil alle menschlichen Heroen zu seinen Kommentaren wurden, und ihre unbeschreibliche Bewandtnis zur Erläuterung! — Keine Philosophie, keine Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes, ja des Geistreichen, des Witzigen, des Profanen — keine Kunst, die nicht zu ihm gravitierte. Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte. Und von der überschwenglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ war sie da wie von unendlichen Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.
Nur eines trennte ihn von uns — das Übel, das allen Gram erzeugt. Eines mußte er uns entnehmen. Eines war göttergleich im Prinzip von ihm ausgeschieden: die Qual.
Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie ging hinab in die Straße, die starren Häuserreihen entlang, der heißen verödeten Stadt. Aber das Licht, der Anblick des leeren, weißlichen Himmels erweckte Erinnerungen und Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages, und jene „Geister der Luft,“ die den Menschen jagen und ihm das Himmelslicht versteinern. Atemringend muß er es ertragen.
Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein, auszuruhen, zu vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde, Sprache, die Form eines Auges, die Bewegung eines Armes, dies alles war ein Organismus, der sie umfriedete. Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt, und Gedanken feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen Blick von ihren Augen, und ihr Geist erkannte rastend seine Heimat.
Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der in dieser Welt sein Element erkannte!
Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß sie jetzt, deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht, der Ring ihrer Gedanken.
Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus den Fugen gerissen, erkannte sie die tröstliche Bedingtheit alles Elends. Erkenntnis sollte nicht den Pflock des Leidens tiefer in uns treiben! Alles war Folge, und selbst Geschehnisse waren nicht unentrinnbar.
So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres Glaubens wieder. Was immer das Dogma vom Geiste löste, erschien ihr da als ungeheuerster Verrat. Nicht als Dualität, als Organismus erfaßte sie den Menschen und seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel. Ihrem weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets verheißungsvollen Bildern zugekehrten Auge wollte die unendliche Elastizität jenes Glaubens als sein tiefinnerstes Geheimnis sich erschließen; des Paradoxalsten, eingedenk und psychologisch tiefst Begründeten, was der Mensch zutage förderte: als das „Maß aller Dinge“ stellt er den Abstand zwischen ihm und der Gottheit, Prometheus, die seligen Götter und den allgewaltigen Zeus. Quellen und Haine belebt er mit übermenschlichen Wesen, scheu verehrend, was er selber schuf. Ahnung war es, die ihn die eigenen Ideale, das eigene Ziel so fern erkennen und den Olymp erträumen ließ! Solche Träume, mußten sie nicht das Sehnen eines Gottes nötigen, zu tausendfacher Befreiung den Menschen zu erlösen?
Neue Rundschau 1905.
Zwei Stunden von Paris liegt zu Füßen einer hohen Ruine ein altes Städtchen, das an einem Hügel herumklettert. Und ringsumher einsiedlerische Wälder, sonnige Gefälle, lauernde Teiche, an deren Rande dunkle Vögel mit unheimlichen Schritten spazieren gehen; und weltentrückte Auen.
Ein Spätsommertag ging zur Neige, als mein Zug vor diesem Städtchen hielt, das mir allzu stille Tage zu verkünden schien.
Aber in ein Milieu, in dem es ausschließlich Abgeordnete, Leiter politischer Revuen und Vertreter großer Zeitungen gab, sah ich mich da plötzlich wie hineingeschneit. Mein Tischnachbar war gleich am ersten Abend ein ganz schief gewachsener und ergrauter, aber sehr strammer Herr, der mich übrigens gänzlich ignorierte. Dabei sprach er fortgesetzt, richtete aber seine Worte nur an den Hausherrn. Der Blick seiner Augen, die wie zwei Sterne leuchteten, war starr wie ein Scheibenherz. Mit größter Präzision wußte er eine Reihe von Themen so eindringlich und zugleich so eilig durchzunehmen, als gelte es, innerhalb der wenigen Stunden, die er hier verbrachte, seine Gedanken für Jahre hinaus und auf Jahre zurück zusammenzufassen. Es war dem Uneingeweihten nicht möglich, ihm zu folgen, oft auch nur zu erraten, wovon er sprach.
Nach dem Essen fuhr er im Salon in derselben glänzenden und gedrungenen Weise zu berichten fort. Seine Augen sahen jetzt aus wie zwei große Monokels. Die Damen stickten schweigend oder sprachen leise unter sich. Vor dem brennenden Kamin lag ein englischer Jagdhund ausgestreckt und seufzte vor Müdigkeit. Die Lampen warfen milde Scheine auf die eingelassenen Louis XIII-Spiegel und die laubreichen Tapisserien der Wände. Durch die hohen Fenster und die schmalen wurmstichigen Türen blies der Wind. Ich war noch auf keine Stickerei eingerichtet, saß in einer Sofaecke und hörte den Herren zu; denn ob ich auch ihren Gesprächen nicht viel entnehmen konnte, interessierte es mich, sie zu betrachten.
Als es 10 Uhr schlug, schnellte der graue Herr empor, empfahl sich den Damen mit großer Korrektheit, aber auch mit denkbar größter Kürze, und gleich darauf rollte sein Wagen, der noch den letzten Zug nach Paris erreichen sollte, in aller Eile davon.
Mich hatte dieses Gespräch, von dem ich nichts verstehen konnte, in große Aufregung versetzt; und mit der Belletristik oder gar mit Werken der schönen Beschaulichkeit war es mit einem Schlage vorbei. Ich holte sie so wenig wie die Stickerei aus meinem Koffer hervor. Denn Zeitungsartikel, Berichte und Telegramme waren das einzig Spannende für mich geworden.
In dem weitläufigen Garten, der zu dem Hause gehörte, gab es eine Auswahl von Bänken, Lauben, steinernen Nischen und Terrassen. Steil und verwildert fiel er die sonnige Felsenwand herab, um sich wie in einem Graben geheimnisvoll und schattig auszubreiten. Dorthin schleppte ich denn auch mein neues Steckenpferd: die Zeitungen und politischen Abhandlungen aller Länder.
Man stand im Zeichen der ersten sonoren Pendelschwingungen der Entente cordiale mit England einerseits, des Rapprochements mit Italien anderseits; sie und l’Isolement de l’Allemagne bildeten die Parole des Tages. Eines Nachmittags, — den Morgen hatte ich in Paris verschwärmt — saß ich wieder in einer Mauernische meiner Gartenwildnis und hielt die letzte Nummer der „Renaissance latine“. Sie brachte den ungemein schneidigen Entwurf einer politischen Karte Europas, mit sensationellsten geographischen Neuerungen. Der Wunsch war darin Vater aller Voraussetzungen, und Deutschland rückte kühn bis in die Polargegenden hinauf, so daß es mit grönländischer Kälte von allen Seiten darauf einblies.
Ich notierte Titel und Nummer des Blattes und sah verdrießlich zum feingetönten französischen Himmel empor.
Ach, dachte ich, wie wenig weißt du von Deutschland! — und dachte dann hinüber zu unseren Brücken und Häusern, unseren Mondscheinnächten und Wäldern.
Ach wie viel tausend Meilen lagen auch sie von hier entfernt, und wie wenig wußten sie dort von den Franzosen!
Und ich wußte auch, hier war keine unüberlegte, instinktive und impulsive Liebhaberei, wie sie England gegenüber oft bei mir im Spiele war, sondern ich vermochte einfach nicht, die Geschicke Frankreichs mit einem gleichgültigen oder unbeteiligten Bewußtsein zu erwägen. Von französischen Naturen in zu mannigfacher Weise verschieden, empfand ich die Franzosen zugleich als meine Angehörigen, und es schnitt mir oft ins Herz, wie gut ich sie kannte. Denn leider ist es ja noch immer keine Anmaßung, wenn heute der Deutsch-Franzose — und umgekehrt — sich für den allein Befugten hält, die Kluft zu messen, die zwei so große Nationen voneinander scheidet, die unzulängliche Kenntnis voneinander, in der sie leben, wie die Sehnsucht, die sie zueinander zieht.
Aber noch nie war mir so deutsch zumute gewesen, wie heute morgen, denn nirgends fühlten sich meine Augen so heimisch, mein Herz so eifersüchtig wie in Paris, dem Paris der Renaissance bis zum zweiten Empire, das unsere junge Kultur so weit übertrifft.
Und doch so jung nicht, als daß sie nicht schon einmal des Sterbens Bitterkeit, die traurige Mühsal gekostet hätte, aus Verwüstung und Schutt zerfallene Türme wieder aufzurichten. Hoch über den stillen Garten hin umriß sich da vor meinem inneren Auge, intakt in ihrem entflohenen Leben, wie der einbalsamierte Leichnam eines Jünglings, eine deutsche Stadt in ihrem unterbrochenen Wachstum. Ihr langentschwundener Frühling prangt an den Marktplätzen, den Pforten und Brücken, den Erkern und Laternen. Er weht von den Türmen und Brunnen, durch die Häuser und Stuben. Er flutet in den Kirchen und von den Glasgemälden, und in dem verwitterten Stein umrauscht er Jungfrauengestalten mit ihrem unbeschreiblichen Gemisch deutscher Morbidezza und deutscher Lauterkeit.
Ich sah die Marienkirche und atmete wieder ihre Luft. Und vor den Toren der Stadt jenen anderen Zeugen reinster und so verfeinerter Kunst: das Tuchersche Jagdschloß mit den verhaltenen Lauschen seiner Fensternischen und Türen, der holden Strenge seiner Räume, den verschwiegenen Schwellen, der verträumten Stiege. Denn die ganze Burg ist reich an Widerhall wie ein Vers von Walther von der Vogelweide, und wir stehen inmitten ihrer Stille wie an einer Brandung.
Aber scholl da nicht von der Burg hernieder, von Dürers Hause, weithin durch alle Gassen, Hans Sachsens Ruf: Habt acht! uns dräuen üble Streich’!
Nicht länger glaubte ich da die Empörung verantworten zu dürfen, die mich auf der Fahrt nach Frankreich ergriff, als ich von meinem Zuge aus im Morgengrauen französisch aussehende Häuser auf deutschem Boden sah und unvermutet alle Trauer, die an dieser verlorenen Erde haftet, mitempfand, von jener Flut von Trübsal eingeholt, mit ihrem universalen, geisterhaften Anrecht: jenem geheimnisvoll, zeitlos elementaren Etwas — der Zeit bittersten Rest! —, den sie als unser Erbteil zurückläßt. Ach, dachte ich, wann wird der Tag anbrechen, an welchem sich der letzte Schlachtenplan zum letzten Ritterharnisch als Museumstück gesellen wird, weil zwischen Nationen wie den unseren, der Gedanke in Stücke gerissener oder zerschossener Glieder mit der menschlichen Würde nicht länger verträglich, geschweige denn rühmlich erschiene!
Drei Jahre, glaubte Bismarck, seien das äußerste, was sich in der Politik voraussagen ließe, und: „für drei Jahre haben wir heute vorgebaut,“ meinte er nach einem seiner größten diplomatischen Erfolge der achtziger Jahre.
Und darum wissen wir heute nicht, wozu er sich damals entschlossen hätte, welchen Plan er damals entworfen und ausgemeißelt, ob er dem deutschen Volke nicht einen gleichwertigen anderen Entgeld ersonnen hätte, wenn er damals schon einer deutschen Kolonialpolitik hätte Rechnung tragen müssen.
Jene Worte am Abend seines Lebens haben einen so nachdenklichen Klang; „Das westliche Glacis, das wir ihnen nehmen mußten, was sie uns nie vergessen werden.“
Es ist der Gedanke an unser zuversichtliches Bewußtsein alles dessen, was er heute, angesichts der vielen veränderten Faktoren unternehmen, an die Initiativen, die ein Mann wie er heute ergreifen würde, der ihn uns unersetzlich erscheinen läßt. Denn der Geist seines Wirkens schuf ihn zu einem Lehrer, weit mehr als seine Taten, die das Schicksal und die Zeit ereilen können. Und wer tiefer in jenen Geist einzudringen suchte, wie könnte der noch zweifeln, daß ein heutiger Bismarck, gleichviel welcher Nation er angehörte, jene große Einigungsidee, die einst ein kompaktes Italien und ein kompaktes Deutschland schuf, in erweitertem Sinne zu vertreten und aktuell auszugestalten wüßte? Wer könnte zweifeln, daß ein heutiger Bismarck, ob er unser eigener, oder Cavours, oder Gambettas Landsmann wäre, zum Vorkämpfer eines föderierten Europas würde?
Eins aber konnte nur Paris in seinem überlegenen Reiz mich lehren, dies schimmernde Paris, das sich vollenden durfte, wie inmitten einer Welt des Friedens: Nicht um eine Minute hatten wir die Kultur dieses Landes zurückgeworfen, das als ein unerhörter Feind der unseren in der Geschichte steht.
Ich war empört in meiner Mauernische aufgesprungen: und nicht länger hielt es mich da in dem verlassenen Garten. Der Zwiespalt, der mich bewegte, ließ mir dies Land, mein eigenes, die ganze Welt beengt erscheinen.
Unsichtbare Schatten glitten schon durch das Tageslicht und hielten die alten Bäume umschlungen. In peinigender Flüssigkeit und Süße durchschauerten sie die Luft. Wir waren Brüder! Noch stehen sie überall, die Spuren unserer einstigen Gemeinschaft, unsere Kathedralen, unsere Minnelieder und Novellen. Und heute sind wir Nationen, die sich schon lange insgesamt langweilen, weil gerade in der Reife, zu der unsere nationalsten Züge und Besonderkeiten gediehen sind, das Bewußtsein unserer Halbheit und in der Verschmelzung unserer Qualitäten der Keim vollkommenerer Typen liegt. Wozu sich betören? Von Herzen froh wird man ja heute nirgends. Kläglich veraltet und vermorscht sind heute unsere tausendjährigen Familienzwiste, als könnte ihrer Asche allein der neue Phönix unseres Erdteils entsteigen: nur einem „greater Europe“ ein „greater England“, „greater Germany“ und „greater France“.
1905 in der Wiener „Zeit“.
Im Laufe jenes selben Herbstes fuhr ich mit einem Politiker von Vendôme nach Paris. Schlösser und Hütten, Riesenwälder, lichte Pappelgruppen an langweiligen kleinen Flüssen waren an uns vorüber geflogen, und ich dachte zurück an den verflossenen Abend, an eine Fahrt nach einem wundervollen mittelalterlichen Schloß, und an ein vollendetes, und wenn ich so sagen darf: erhebendes Diner, denn Götter hätten hier tafeln können, ohne sich zu schämen.
Nur die Konversation war nicht auf der entsprechenden Höhe gewesen. Die üblichen Gespräche in der Provinz: die Jagd, das Automobil und die religiösen Zustände waren ergiebig und einmütig verhandelt worden; von dem damals eben erfolgten Besuch des italienischen Königspaares in Paris gelangten dafür nur einzelne Verstöße beim Empfang in Versailles zu ausführlicher und höhnischer Erörterung, und der Rest war Schweigen. Nun hatte ich Paris während der Festlichkeiten gesehen, und nach meinem Empfinden nahm es sich gerade in diesen Tagen, in der verhältnismäßig etwas naiven Schmückung der Häuser und Straßen, am wenigsten zu seinen Gunsten aus. Was sollen auch Fähnchen und provinziale Jubeltransparente auf einer Place Vendôme viel ausrichten? Vollends am Gala-Abend, im Lichtmeer der erleuchteten Kugel-Girlanden und Triumphbögen schien es, als zöge sich für den Abend das stolze Paris hinter ein riesengroßes funkelndes Kasperltheater zurück.
Ich erzählte meinem Tischnachbarn, daß ich der Einfahrt des Königs von einem Hause der Champs Elysées aus zugesehen und mich über die verhältnismäßige Stille in der Avenue gewundert hatte. Er belehrte mich jedoch: das Demonstrative läge nicht in der Natur des Franzosen. Ein Zufall hatte aber gewollt, daß mir noch an jenem selben Abend das Paris der Revolution auf das grellste und lebhafteste veranschaulicht wurde.
Einige Stunden nach dem Einzug war ich durch eine jener schmalen Gassen gegangen, die das Elysée umgrenzen, und ich dachte für den Augenblick nicht an die Anwesenheit des italienischen Königspaares, als ich auf die peinlichste Weise daran erinnert wurde. Von einem Strom von Menschen plötzlich fortgerissen und umringt, gab es für mich kein Vorwärts noch Zurück. In der Angst zu fallen und von dem schrecklichen Dunst bedrängt, sah ich ratlos umher und erblickte da zu meiner Verwunderung und Freude in nächster Nähe, friedlich an einen Baum gelehnt — einen unbesetzten Stuhl. Rasch daraufspringend und so dem Haufen einigermaßen entzogen, wollte ich hier ruhig warten, bis er sich zerstieb.
Wer die Franzosen nicht für demonstrativ hielt, der wurde nämlich hier eines anderen belehrt. Weder nach rechts noch nach links sehend, schrien sie da gerade hinaus, halb betäubt, halb wie die Wilden, nach der Königin. „Kommen sie bald?“ fragte ich beklommen einen wenig anziehenden beschürzten Vertreter des stärkeren Geschlechts. — „Sie sind schon vorüber“, gab er mir zur Antwort.
Dies erklärte nun zwar den disponiblen Stuhl. Warum aber beharrte diese Menge nach wie vor an der Stelle, belagerte alle Ausgänge und schrie mit heiserer Stimme: „La reine! nous voulons voir la reine!“ Und von meinem erhöhten Posten auf sie herabsehend, erkannte ich sie genau wieder als jenes selbe kopfscheue, schnell überschäumende Volk, das unfähig sich zu besinnen, die Köpfe so mancher harmloser, zur Unzeit geborener Opfer zu höllischen Bildsäulen erhob und in diesen Straßen wütete, erkannte den furchtbarsten Pöbel innerhalb der kultiviertesten und feinsten Nation.
Allein ich hütete mich wohl (aus Widerspruchsgeist), bei jenem Diner irgendwelche zustimmende Kommentare zu liefern: sie hätten allzu bereiten Erfolg gehabt. Denn an die hundertjährigen Hecken, die das Dornröschen von der Außenwelt trennten, sah man sich in diesen Schlössern gemahnt. Man muß sie gesehen haben, Frankreichs politische Mumien! Eine Dame äußerte sich, es sei unbedingt heroisch vom König von Italien, ein so heruntergekommenes Land wie Frankreich offiziell zu betreten, und fragte mich über den Tisch herüber, ob wir im Ausland gegenwärtig die Franzosen nicht sehr von oben herab behandelten?
„Unsere große Majorität ist doch nun einmal republikanisch!“ sagte da einer der Gäste.
„Die ganze erste Gesellschaft Frankreichs würden Sie anderer Meinung finden,“ gab ihm die Dame zur Antwort.
„Ach,“ sagte er „es gibt nur erste Menschen und sie können nicht aristokratisch genug, sie können nicht demokratisch genug sein. England hat diese Wahrheit auch für seine Gesellschaft praktisch zu verwerten gewußt. Worin beruht die Macht und Würde des englischen Adels, wenn nicht in seiner demokratischen Affiliation, und woran ging unser Königstum zugrunde, wenn nicht an seinem Mangel jeder demokratischen Basis?“
„Es gibt noch Leute, mein Herr,“ unterbrach ihn ein vergrämter, früh verabschiedeter einstiger Diplomat, „welche in der französischen Revolution den unglücklichsten Augenblick in der Geschichte unseres Volkes erkennen.“
„Doch nur,“ rief er, „weil es vor seinem eigenen edlen Freiheitsgedanken nicht bestand und die eigene Saat mit dem eigenen Blute unheilvoll tränkte! Denn während aus jenen Gedanken über das ganze zivilisierte Europa ein belebender Zug strömte, weilen in seiner Heimat, an seiner Quelle selbst, unversöhnt, unüberzeugt, die Sühnegeister der Gemordeten. Jeden Hauch veränderter Gesichtspunkte halten sie zürnend von ihren Nachkommen ab, und nicht das Leben, wie es sich seitdem erhob, nicht das Königtum, wie es sich seitdem verjüngte, sondern ein altes verstaubtes, ewig überwundenes Königtum, möchten sie in vergoldeten Kutschen einholen und begrüßen.“
Einen Augenblick war es still, wie in einem verzauberten Schloß.
„Sehen Sie sich doch die Elemente an der Spitze unserer Verfassung an!“ sagte der Hausherr, der die Place de la Concorde nie anders als Place Louis XV nannte.
„Bedenken Sie den Spielraum, den wir ihnen gelassen haben. Bedenken Sie, daß es bei uns zum guten Ton gehört, sich für Politik nicht zu interessieren! Indes selbst die Herrscherhäuser anderer Länder ein so weitgehendes Verständnis für die großen Strömungen an den Tag legten, welche die Welt Frankreich verdankt, und welchen die erste Gesellschaft Frankreichs widerstrebt! Eben weil ich ihr Kontingent hoch einschätze, erscheint mir diese Gesellschaft in so hohem Grade verantwortlich für Extreme, die ich mit Ihnen beklage, und als deren bitterster Ankläger sie sich erhebt. Denn ihre Geschichte, — und er deutete auf die Wände, von welchen die Ahnen des Hauses in Harnisch oder Lockenperücken hernieder sahen — ist nicht mehr wie bisher die ihres Landes.“ —
Immer schneller fuhr der Zug dahin mit seinem gleichmäßig gleitenden Gerolle, das uns schweigsam macht und die Nachdenklichkeit erhöht. Draußen lag schon Blässe über das Land gebreitet und blässer noch, im langen, regelmäßigen Viereck, schimmerte da, wie entschlafen, ein künstlicher Teich, und weiter zurück, fast geisterhaft, das prunkvolle Versailles mit den majestätischen Senkungen seiner Terrassen.
„An was denken Sie?“ fragte mich da plötzlich mein Reisegefährte.
„Wie soll ich das der Reihe nach sagen?“ erwiderte ich. „Gedanken können sehr wohl in Schwärmen auf uns eindringen und ebenso wieder verfliegen.“
„Aber eine Taube in der Hand,“ sagte er, „ist besser, als viele auf dem Dache.“
„Nun, ich dachte an Ihre gestrigen Theorien und geriet dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Alle Äußerungen, welche die Geistesart, den Charakter einer Nation am geschlossensten kundgeben, reizen und fesseln mich, denn unwillkürlich beziehe ich auf Deutschland, was immer im Ausland mein Interesse erregt. Allein ich staune, wie mächtig innerhalb eines kleinen Gebietes der Nationalgeist benachbarte, verwandte Völker auseinanderhält, wie verschieden er sie bildete, und daß in einer Welt, die überall so gleich, unter Menschen, die sich überall so ähnlich sind, hier der Schwerpunkt aller Verschiedenheiten liegt.“
„Wußten Sie das nicht?“ sagte er.
„Ich zweifle, daß wir es alle zur Genüge wissen. Denn diese Verschiedenheiten sind gegenwärtig so weit gediehen, daß drei hervorragendste europäische Nationen, die Deutschen, Franzosen und Engländer, die einander am vollkommensten ergänzen, tatsächlich außerstand gesetzt sind, einander in ihrer Wesenheit wirklich zu durchdringen und psychologisch unüberbrückbar fern einander gegenüberstehen. Wir leugnen zum Beispiel gar nicht, daß es eine bêtise allemande gibt. Inzwischen wurde ich auch mit der fine fleur der Ihrigen bekannt. Aber Sie glauben nicht, wie weltverschieden die beiden voneinander sind! Wieviel unbestimmter, breiter, verschwommener die unsere, wieviel greifbarer, logischer durchgeführt, ich möchte sagen, ‚abgeschliffener‘ die Ihre ist, welches Talent sie hat, sich zu veräußern. Die beiden bêtises erkennen sich nicht wieder.“
„Daraus folgt nicht, daß sich die Klugen nicht verständigen könnten.“
„Aber auch da ist mir eines zumeist aufgefallen: die Schwierigkeit für den Ausländer, sich in seiner Beurteilung der Franzosen zurechtzufinden, beruht darin, daß er den französischen Geist von der französischen Kultur nicht genügend unterscheidet. Es fiel mir auf, wie sehr der Formensinn in allen seinen Äußerungen in Kleidung, Möbeln und Gewerbe, auf allen Gebieten des äußeren Lebens bis hinauf zu den bildenden Künsten in Frankreich seine eigentliche Heimat hat. Der sichere Instinkt des Schönen ist da von einer Ära zur anderen Ihr Monopol. Angesichts gewisser Gärten, Lauben und Fassaden, gewisser Plätze in Paris, war ich von Bewunderung für die Franzosen hingerissen und verehrte in ihnen die Lehrer der Welt. Aber trotz jenes großen Stilgefühls, das bei ihnen den Geschmack zur Kunst erhob, trotz jener Gründlichkeit und Vollendung, jenes strengen Maßes, das ihre Leistungen krönt, ist es nicht seltsam, daß auf rein ideellem Gebiete, gerade in ihrem Lande das Extreme und Maßlose sich freier als anderswo entfalten durfte, während in dem rauhen und vielspältigen Deutschland ein Mann wie Goethe dessen Geistesleben adelte?“
„Werden Sie mir später auch einige Kritiken gestatten?“ begann da mein Reisegefährte. „Aber Sie sehen zum Fenster hinaus. Sind Sie schon fertig mit unseren Extremen?“
„Ah“, sagte ich, „Frankreich ist doch wie ein Blumengarten, mit Schlössern und Gütern besät. Unlängst sah ich ein Schloß, in dem die Schlafzimmer genau aussahen wie Zellen. Das einzige, was den strengen Eindruck etwas milderte, waren Büchergestelle, die den Wänden entlang liefen, aber wohin man auch sah, waren es ausschließlich Gebet- und Erbauungsbücher. Ich lernte dort eine Verwandte Mussets kennen, die mir versicherte, einer solchen Verwandtschaft könne sie sich nur von ganzem Herzen schämen. Flaubert zu lesen hatte ihr Gatte ihr zeitlebens untersagt; es hätte jedoch seines Verbotes nicht bedurft, da sie gottlob den Schmutz nicht liebe.“
„Aber solche Leute,“ rief er, „gibt es doch überall!“
„Der Unterschied, wie gesagt, liegt nur im Grad. Ich hörte in Frankreich Sonntagspredigten, die bei uns nicht möglich wären. Eine junge und reizende laisierte Klosterfrau klagte mir ihre Not mit den Dorfkindern; von den Volksschullehrern würden sie unterwiesen, nicht darauf achtzugeben, was ihnen der Pfarrer von der Kanzel herab lehrte, und dieser wiederum male der Gemeinde die Autoritäten des Landes in den fürchterlichsten Farben. Tatsächlich habe ich nichts betrüblich Unfrommeres gesehen, als das hiesige Bauernvolk, wenigstens in der Gegend, von der wir kommen. Dafür traf ich unter den begüterten Familien nicht einen Knaben, dessen Erziehung unter einer anderen Obhut als der eines Abbés stand. Auch diese Sitte wäre uns zu extrem. Aber ich fürchte, derartige Auslassungen sind nicht der Brauch. Man sagt sich von einem Lande zum anderen in den Zeitungen unangenehme Dinge, zu einer Aussprache aber pflegt man nicht zu kommen.“
„Ich finde Sie zumeist mit den deutschen Vorzügen und den französischen Mängeln beschäftigt.“
„Nein,“ rief ich, „denn nichts regt ja unseren Eifer so sehr an, wie unsere Anerkennung für die Vorzüge einer anderen, sei es einer fremden oder verwandten Nation! Solche Empfindungen erregen in mir der Formensinn, die Regsamkeit, welche Paris inmitten so gefahrvoller Geschicke stets auf seiner Höhe zu erhalten wußte. Und mit ebensolchen Empfindungen bewundere ich in England den praktischen, nie ins Kleine sich verlierenden Überblick, das Erziehungssystem, die Ästhetik, kurz alles, wodurch dies Volk zur glücklichsten und schönsten Nation der Welt geworden ist.“
„Aber Ihr Eifer ist ja die reine Utopie!“ rief er. „Die Vorzüge der Franzosen und Engländer sind den Deutschen entzogen, weil sie eben Deutsche sind!“
„Zu welchem Reichtum gerade ihr Wesen sich entfalten kann, dafür bürgen ihre großen Männer.“
„Immer diese großen Männer!“ sagte er. „Sie sind noch lange nicht die Nation. Und Sie vergessen, daß noch keine von ihren eigenen großen Individuen so unumwundene Aussprüche des Tadels erfuhr, wie die deutsche.“
„Weil niemand besser als diese vollendeten Typen die Tiefe und Fülle ihrer Anlagen erkannte.“
„Aber was nützt es?“ sagte er. „Die Deutschen bearbeiten meist nur eine Geisteskraft. Es ist ihr Lichtenberg, der ihnen dies vorwirft. Was nützt es, daß sie denken? Durch ihre minder durchdringende, minder ausgeglichene Kultur bleiben sie der Kritik fremder Nationen ausgesetzt.“
„Ein glücklicheres Ebenmaß könnte diese Kritiker über schwerer zu beseitigende Mängel hinwegtäuschen. Die Deutschen sind noch im Werden. Das ist auch etwas Schönes.“
„Wir sind alle im Werden!“ rief er. „Aber warum unterschätzen Sie die Großzügigkeit, die ihrem gesellschaftlichen Leben fehlt?“
„In Deutschland,“ sagte ich, „machen sich die klugen Leute nichts aus der Geselligkeit, weil sie ganz ihrer Arbeit leben.“
„Hier arbeiten sie ebenso. Und Sie irren: kluge Leute sind von Natur nicht einsamer als andere. Aber sie wollen herrschen! Die Berechtigung ihres Einflusses wie ihr Prestige gestehen wir ihnen in weit größerem Maße zu; hierin sind ja die Deutschen viel demokratischer als wir; und dies ist der Grund, warum ihrem Verkehr nicht selten der Zug und das Interesse fehlt, das ihrem geistigen Niveau entspräche. Dazu kommt, daß bei ihnen der Prozentsatz zwar sicher nicht der Reisenden, aber der ‚Bereisten‘ ein so geringer ist. Man kann ja,“ fuhr er fort, „den Kosmopolitismus zu weit treiben; wo aber die unentbehrliche Voraussetzung für ihn: eine wahre und vererbte Bildung, vorhanden ist, bildet er deren letzten Abschluß und verleiht unter anderem den Überblick und die Menschenkenntnis der eigentlichen Leute von Welt. Bei ihnen reisen jedoch die Vermögenden wie die Windsbraut durch ganz Italien und wieder retour, haben Italien und nichts von der Welt gesehen, und ein anderes Mal fahren sie mit derselben Eile nach Paris, sehen mit diebischer Freude alle Cafés chantants und wissen viel von den Boulevards, aber nichts von den Franzosen.“
„Und Sie sind der Mann, der mir meinen utopischen Eifer vorwarf, als ich sagte, beide Völker hätten soviel von einander zu lernen. Wer denkt nun logischer von uns beiden?“
„Sie vergessen nur zu leicht, daß es auch politische Gesichtspunkte gibt.“
„Was andere besser verstehen, überlasse ich ihnen lieber ganz und gar und finde es anregender, die Dinge von einer anderen Seite aus, die mir mehr Übersicht gewähren kann, zu betrachten. Von einander getrennt stellen sich mir da, wie die Begriffe, von welchen Sie gestern sprachen, so auch die hervorragendsten Nationen in ihrem Gesamtbild als mangelhaft dar. Ich bin für psychologische Eroberungen, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht in hundert Jahren recht haben sollte.“
Langsam rollte jetzt der Zug in die große Halle der Gare St. Lazare.
1905 Wiener Zeit.
Alte Leute schütteln die Köpfe über unsere Ruhelosigkeit, weil wir mit unseren immer schleunigeren Schnellzügen nicht zufriedener sind, als unsere Väter zur Zeit der Stellwagen. Aber zu unserer Ehre sei’s gesagt: wir sind um so ruheloser und unzufriedener, je weniger wir die Zufriedenheit, je mehr wir den Fortschritt erstreben. Ein steigernder Drang, eine Hast und Ungeduld, wachsenden Flügeln vergleichbar, ist heute in uns rege; wir durchschneiden die Luft, durchfahren unterirdisch große Städte mit Windeseile, und größte Schnelligkeit der Bewegung ist uns zur entsprechendsten Äußerung, ja zur Notwendigkeit geworden, wie der Schatten des Glücks, nach dem wir jagen. Eine solche Generation bringen heimelige Postkutschen zur Verzweiflung, und selbst das Geticke der alten Wanduhren verträgt sie nicht mehr. Sie bringt viel Unrecht und viel Unsinn zutage, aber sie ist im Grunde nicht schlimmer, sie ist besser als eine andere, denn sie ist so müde und überreizt zugleich, weil ihr der Frühling in den Gliedern sitzt.
Es stehen uns zwar noch zu viel trübe, regnerische Tage bevor, als daß wir merken könnten, daß sie länger werden. Aber wenn es stürmischere Zeiten gegeben hat, als die unsere, so war kaum eine, in der so viel neue, noch unausgesprochene Gedanken zu reifen, Gegensätze sich zu versöhnen, alte Vorurteile zu zerfallen strebten.
Kürzlich ging ich an einem Nachmittag die kurze Strecke von der Rue de la Paix zur Place Vendôme; den weltberühmten Modeläden entstiegen elegante Frauen mit blassen Zügen und großen sicheren Augen. Die reiche, fast edel zu nennende Vollendung ihrer ganzen äußerlichen Haltung lieh ihnen einen Glanz von Schönheit und Überlegenheit. Sie harrten einen Augenblick, bis ihr Wagen aus dem Gedränge vorfuhr, und neugierig betrachtete ich ihre stolz zerstreuten, unbefangenen Blicke. Nichts ist ja psychologisch tiefer begründet, als jenes Gefühl unendlichen Entrücktseins von der Not des Lebens und die satten, fast melancholisch strengen Mienen der Besitzenden.
In jenen Pariser Straßen geht es sich so leicht. Was das Auge dort fortwährend fesselt, trägt den Schritt so schnell, gedankenvoll dahin. Geschmeide blitzten mir entgegen, große träumerische Perlen, ein köstlich strahlender Halsschmuck aus Smaragden, smaragdne Ringe und viele, zärtlich funkelnde Smaragde.
Allein zärtlicher noch und schimmernder, ein Triumph für die ersten Kürschner und Putzmacher der Welt, war da der Anblick einer schönen Frau mit einem samtnen Gesicht wie eine Primel. Kaum war sie aus dem Laden ins Freie getreten, als ein Automobil um die Ecke raste und einer der bekanntesten jungen Männer von Paris, morbid und unverschämt, den Hut vom Winde etwas zurückgeschoben, aber frei wie ein Marmorbild, ihr entgegenfuhr.
„Es geht sich heute so schön,“ sagte da plötzlich dicht neben mir ein Pariser Freund, „haben Sie Zeit?“
„Aber bleiben wir in diesen Straßen,“ sagte ich, „man wird da von dem Leben ringsumher wie von Wellen so schön fortgerissen.“
Zwar hörte man vor dem Getöse und Gebrause ringsumher seine eignen Worte nicht; dann zerstreuten die Schaufenster, hier ein Pelzumhang, unnachahmliche Mäntel, in die man im Vorübergehen sich hineindachte; dann wieder unter den vorübereilenden Wagen so manches glänzende, bewegte Bild. „Ach,“ seufzte ich, „mir ist hier oft, als müßte mein Herz brechen vor Sehnsucht nach Geld!“
„Nach Geld?“ rief er erstaunt.
„Ja,“ sagte ich, „ich konstatiere an mir selbst eine immer wachsende Leidenschaft für die Güter dieser Erde, und wie sehr sich unsere Anforderungen an das Leben mit unseren geistigen Fähigkeiten steigern.“
„Diese lehren uns vielmehr, das Glück in uns zu suchen.“
Aber hier erlitt unser Gespräch von neuem eine Unterbrechung; denn langsam kamen uns zwei hinreißende Gestalten entgegen: es war die Dame mit dem eleganten Primelgesicht, an der Seite ihres Begleiters. Göttliche Schultern trugen ihr leichtsinniges Haupt, und goldene Haare verklärten es. Es lag etwas halb Zärtliches, halb Spöttisches in ihrer Anmut; zugleich etwas Siegreiches, ja Unnahbares in ihrer Sorglosigkeit, in ihrer Flüchtigkeit selbst. Und es war, als zöge sich, wie um die Mondessichel, ein hellerer Schimmer um die beiden, ein Schein, der sie der Not fehlgeschlagener Hoffnungen, vergeblicher Wünsche entrückte.
„Folgen wir ihnen!“ schlug ich vor, auch als sie gleich darauf im Ritz verschwanden. Es war Teezeit. Wir betraten die Galerie, in welcher der Tee genommen wird, der — wie allerorts in Paris — zu wünschen übrig läßt; sie glich um diese Stunde einem Turnierplatz geschmackvollster und zugleich kühnster Hüte. Man sah die diszipliniertesten Taillen und die kunstvollsten Teints. Allein weit entfernt, frivol zu sein, war für mein Empfinden der äußere Eindruck dieser hergerichteten Pariserinnen der eines sehr strengen, sehr erstrebenswerten Formensinns. Übrigens waren sie nicht in der Mehrzahl vertreten, sondern alle Sprachen schwirrten hier durcheinander. Auch unenthusiastische Jünglinge mit fallenden Schultern hatten sich eingefunden und stattliche Damen, deren Mundbildung von weitem den amerikanischen Akzent verriet, mit Physiognomien von faszinierender Gewöhnlichkeit.
Ich hatte die Eckplätze links am Eingang gewählt, die zugleich einen Ausblick auf die Treppe gewährten, denn die Menschen, die dort vorüberkamen, waren als Millionärtypen vielleicht noch charakteristischer. Ein blasser, schwarzer Herr, mit breiten Schultern, stumpfen Augen und einem lautlosen Tritt, sah aus wie der Mammon selbst. Die Marchioness von A*, eine sehr schön gewesene Dame, mit fliegendem Schleier, fliegendem Mantel und einem fliegenden blauen Blick, hielt eine Weile unter der Türe stand, sah mit theatralischer Unverschämtheit um sich her und verschwand. In unserer Nähe ließ eine Österreicherin, die Frau eines durchreisenden Diplomaten, immer lauter ihren wienerisch-französischen Jargon vernehmen. Sicher fiel diese Frau ihrem Manne durch zu große politische Wißbegierde niemals lästig, vielmehr war sie von jenem rein gesellschaftlichen Prestige einer Diplomatenstellung, wie ihn die Scribeschen Lustspiele feiern (wie Bismarck ihn verhöhnte) noch gänzlich erfüllt. Weder jung noch schön, aber von ansehnlicher Größe, mit ihren konventionellen Zügen, ihrer kunstvollen Frisur und ihrem erbsenfarbenen Gewand sah sie aus wie der Genius des „High Life“. Mit groben aber wohlgepflegten Händen schwang sie unaufhörlich ein Lorgnon. Es war ihr Degen, ihr Symbol. Denn auch die Welt in Zeit und Raum sah sie durch ein solch abgrenzendes Glas, das für sie nur die Welt des Salons auffing und spiegelte.
„Rom ist deliciös,“ hörten wir sie sagen — „c’est autre chose que la Suède! Ganz die große Welt! In der Saison komme ich einfach nicht zu Atem; die Unmasse von Engagements, déjeuners, dîners und die vielen jours . . .“ sie suchte dies in bedauerndem Tone vorzubringen, aber es gelang ihr nicht. Dabei hatte sie durch ihr Lorgnon jemanden von der „großen Welt“ erblickt, der auf sie lossteuerte: „Sie hier, cher Comte?“
Es war alles so ergötzlich! Der Pariser Freund und ich, wir sahen einander lächelnd an: „Ihre zwei Göttergestalten scheinen sich in die oberen Stockwerke verloren zu haben,“ bemerkte er. Indes kam die Marchioness von A* mit Bekannten wieder. Sie kam in Begleitung einer reizvollen, melancholischen Dame, einem hypereleganten, unwahrscheinlich schönen Mädchen, und einem nicht mehr jungen Mann von wortkargem und gebieterischem Wesen. Was Lebensstellung und Gewohnheiten anlangte, gehörte er zweifellos zu den Gebietenden dieser Erde. Sein großes weißes Gesicht trug zugleich den Stempel der Oberflächlichkeit und einer gewissen Leidenschaft. Aus seinem stahlgrauen, etwas starren Blick sprach nicht etwa eine sehr machtvolle oder reiche Persönlichkeit, aber deren ungehemmte und machtvolle Entfaltung.
Plötzlich war alle meine Munterkeit dahin: den Tee, von dem ich mir noch eben eine Tasse eingeschenkt hatte, schob ich mit Widerwillen von mir. Bisher, wie im Schauspiel, meinem eigenen Bewußtsein gänzlich entfallen, war ich mir plötzlich meiner selbst aufs heftigste bewußt. Keine Paläste mit unschätzbaren Tapisserien und Bildern, keine Reichtümer und keinerlei Macht war mein eigen! Über das blaue Meer hin, nach Indien oder Griechenland, wo gerade die Erde am schönsten blühte, unter Menschen, deren Pracht gerade am lachendsten sich entfaltete, wohin er nur wollte, setzte der Mann dort herrschend seinen Fuß. „Kein Ersatz,“ dachte ich, „ist dem Menschen beschieden! Nicht die eine Sache zum Trost, weil ihm die andere verwehrt ist. Nie darf er den Kelch verhaßter, tödlicher Entsagung von sich schleudern!“
Wir standen wieder im Freien, diesmal den Tuilerien zugekehrt. Grau und vornehm ragte die Säule von Vendôme, aber nicht länger zog es mich hin zu den Herrlichkeiten der Rue de la Paix.
„Ich begreife Sie nicht,“ sagte der Pariser Freund, „ist es denn möglich, daß Ihnen solche Leute imponieren?!“
„Ich nehme sie ja nicht persönlich,“ sagte ich. „Aber wenn ein kunstvoller Rahmen ein wertloses Bild nicht zu heben vermag, so wird eine schlechte Holzleiste die Wirkung eines Kunstwerkes sehr wohl beeinträchtigen können. Und weil sich um die gewöhnlichsten Menschen oft die herrlichsten Rahmen ziehen, so brauchen wir deshalb den Wert dieser letzteren nicht zu verkennen. Das Leben ist zu schön geworden.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
Hier galt es jedoch, schweigend und mit Bedacht, von Automobilen wie von feindlichen Kugeln umsaust, die Rue de Rivoli an der Mündung der Rue Castiglione zu überschreiten.
Nach dem Gewoge der Straßen schienen die Tuilerien so weit und still.
Alles lag in jenem entzückend feinen, mattsilbernen Ton der zärtlichen Pariser Luft, die so leicht und optimistisch schimmert und selbst den kahlen Bäumen ihre Düsterkeit nimmt. In kalter Grazie dem grauen Louvre zugewandt, stand eine nackte steinerne Nymphe.
Mit Statuen aber geht es uns häufig wie mit der Musik: was im Museum wohl zurückstände, im Konzertsaal uns kritisch ließe, kann unter freiem Himmel hinreißen und rühren. Unwillkürlich waren wir stehen geblieben.
„Wie der menschliche Körper durch die griechische Kunst, so hat sich seitdem das menschliche Leben selbst zu einem Ideal gestaltet.“
„Zum mindesten ein vorgreifender Glaube“, meinte er.
„Wie jeder Glaube“.
1905 Neue Rundschau
So machen wir auf Reisen unsere schnurrigsten Erfahrungen. Gilt es jedoch die Ansichten vorzubringen, die sich da ganz von selbst für uns ergeben, so dünken sie uns gar zu einleuchtend und elementar, um noch erwähnt zu werden. Aber das langweiligste ist, daß wir mit solchen Ansichten immer noch als Vorläufer erscheinen, und daß es immer noch keine Gemeinplätze sind; denn sie stehen noch immer nicht in den Zeitungen, diesen Feldern des Überdrusses, diesen mit wenigen Ausnahmen so träg geschäftigen Wiederkäuern zu oft gesagter oder längst überwundener Dinge.
Manchmal sind es aber Kleinigkeiten, die uns mit der Artung einer Nation unversehens in Berührung bringen, wie ein plötzlicher Augenaufschlag oder der Schatten eines Lächelns uns plötzlich neue Einblicke in das Wesen eines Menschen gewähren können.
Zwei Pariser Episoden sind mir lebhaft in der Erinnerung geblieben.
Eines Nachmittags ging ich den Quai d’Orsay entlang und einem matten winterlichen Sonnenuntergang entgegen.
Ich hielt einen Strauß wundervollster Blumen. Besonders prangte da eine ganz erstaunliche Rose, mit der man immer wieder sich befassen mußte. Sonst war ich eigentlich eher verstimmt. Ich kam gerade von einem Frühstück, das mir, solange es dauerte, sehr belebt erschien, bis ich nachträglich merkte, daß es mich gelangweilt, und daß all die unnützen Worte, die ich vernommen oder selbst gesagt, ja selbst all die schönen saillies und mots d’esprits mich zuletzt verdrossen hatten. Gott, und mein Nachbar erst, wie sich der verpuffte! Es glitzerte und flickerte, jedoch das Wässerlein war seicht, und war kein Fischlein darin.
Vielleicht ist die Gemütlichkeit dasjenige, was wir bei den Franzosen, ob hoch oder niedrig, am öftesten vermissen. Und sie ist es, welche der médiocrité allemande vor der médiocrité française, den kleinen Leuten vor den petites gens den Vorzug verleiht.
Ich steuerte indes der Madeleine zu und verfehlte dort wie gewöhnlich meinen Weg. Der Zeitpunkt, den ich für eine Verabredung in der Rue Montalivet getroffen hatte, war längst vorüber, und immer irrte und eilte ich noch durch ein ganzes Strickwerk kleiner Gassen, als ein Mann, der seinem rußigen Aussehen nach Lokomotivführer oder Tunnelarbeiter sein mochte, plötzlich wie aus dem Erdboden vor mir stand. Indem ich nun im Sturmschritt an ihm vorüberging, sah ich ihn stutzen und mit einem leisen, halbunterdrückten Ausruf des Entzückens auf meine Blumen starren. Einem Impulse folgend hatte ich da auch schon die Wunderrose hervorgezogen, wandte mich im Gehen schnell noch einmal um, warf sie ihm in einem Bogen zu und eilte weiter. Auch wäre mir der kleine und so flüchtige Vorgang kaum im Gedächtnis haften geblieben, hätte er da nicht etwas wie ein Freudenlichtlein in mir angesteckt. Denn es hätte kein Mann von Welt, kein Fürst den Sinn dieser zugeworfenen Rose mit bereiterem Takte erfassen, noch mir zarter dafür danken können, als dieser zerlumpte junge Mensch in seinem Kittel; und ich werde ihn nie vergessen, den edel aufleuchtenden Blick, als er die Rose auffing.
Ein paar Tage darauf ging ich abends wieder die Rue St. Honoré hinauf, wieder auf dem Weg zur Rue Montalivet, und war noch viel müder und verstimmter als das erste Mal. Denn ich hatte in Paris kein Glück, und konnte mich doch nicht davon losreißen. Statt daß aber auf französischem Boden die französische Seite meines Wesens in Schwung gerät, geht es mir gerade umgekehrt; unter Franzosen wird mir so deutsch zumute; Deutschland klingt und rauscht in Frankreich durch mein Herz; wie in ein Wetterhäuschen zieht sich Marianne tief zurück, und einsam wie eine Schildwache rückt Michel vor.
Wie ferne, dachte ich, sind die Franzosen selbst mir, die ich schon mittewegs zu ihnen stehe! Und im Lichte unserer immer rascheren Verkehrsmittel wollte mir die gute alte Zeit, je weiter sie zurücklag, nur um so schlimmer, und jede, die verflossen, als abgetan erscheinen; denn Lloyddampfer, Blitzzüge und Automobile waren im letzten Grunde Friedensmaschinen, während die idyllischen Postkutschen, in ihrer Unfähigkeit einen Kontakt zwischen den Ländern aufrecht zu erhalten, Nationen und Staaten eines Stammes bis zur Unkenntlichkeit sich entfremden ließen.
Tief in Gedanken ging ich also meines Wegs und merkte nicht, daß die Straßen immer leerer wurden. Mit seiner Dinerstunde nämlich läßt der Pariser, ob Kapitalist oder Concierge, nicht spassen, und zwischen acht und neun Uhr ist Paris am stillsten. Zu meinem tiefen Schrecken sah ich jetzt plötzlich meinen Weg durch einen Arm, den unter der Türe eines finsteren Hauses ein Mann vor mir ausstreckte, gesperrt. „Donnez moi de l’argent!“ sagte er auffahrend, „ou achetez moi du pain.“ Er hielt sich im Dunkeln und ich unterschied nur seine Größe und den gerade ausgestreckten Arm. Ohne eine Miene zu verziehen, als hätte ich ihn nicht vernommen, als sei ich eine wandelnde Uhr und mein Gang nur ein Pendelwerk, ging ich an ihm vorüber. Aber an der Bewegung meines rechten Armes konnte der Mann, wenn er mir nachkam, sehen, daß ich in die Tasche griff. Immer im selben Takte weitergehend fingerte ich mit der rechten Hand, was ich an kleiner Münze spüren oder greifen konnte, hervor, und an der Ecke der Rue de l’Elysée, drehte ich mich um. Der Mann war mir in einiger Entfernung mitten auf der Straße gefolgt, blieb nun auch stehen und wartete. Aber etwas Furchtbares und Verzweifeltes in der Haltung dieses Menschen veranlaßte mich, ihm in meinem besten Salonschritt näher zu treten, und es vollzog sich auf einmal etwas, wie eine szenische Wandlung. Denn nicht wie einem Bettler und nicht wie in einer feuchten, glitschigen Straße, im dürftigen Laternenschein, sondern wie auf Teppichen und unter Kronleuchtern schritt ich auf ihn zu und händigte ihm die elenden Sous wie einen Tribut mit einer vagen Geste ein. Der Mann machte rasch Kehrt, und ich verfiel wieder in meine vorige Gangweise, als hätte nichts ihr Tempo unterbrochen. Plötzlich aber wurde mir bewußt, wie sehr diese Begegnung durch den Stempel des Stolzes, den jener Unglückliche seiner kläglichen Forderung lieh, mich entzückte und begeisterte.
Und Michel trat zurück und ließ Mariannen vortreten. Herrliche Kinder! dachte ich, diese Franzosen. Aus ihren Herzen brach er hervor, jener Gedanke tiefinnerster, reinmenschlicher Gleichheit, über dessen Adel uns nichts hinwegtäuschen darf.
Aber Kinder! Und wüßten sie es doch endlich über dem Rheine drüben, in welchem Sinne die Franzosen Kinder sind. Oder sind die Deutschen, die keine Kinder sind, zu naiv, um es zu lernen? Denn hier liegt der wahre Grund zu all den kontinuierlichen und unerfreulichen Gegensätzen, die einer wahren inneren Annäherung der beiden Nationen, und wenn sie beiderseits noch so sehnlich empfunden wäre, immer wieder im Weg liegt.
In einem Zeitalter, wie dem unserem, in unserem so klein gewordenen Europa weiß sich der Franzose das deutsche Gemüt noch immer nicht zurechtzulegen, der Deutsche den Franzosen noch immer nicht zu behandeln. Denn für die Mobilität, die Akuität — ich muß bezeichnenderweise lauter Fremdwörter gebrauchen. — der französischen Empfindungsweise zeigt der Deutsche wenig Sinn. Der Franzose, der auf Nuancen eingerichtet ist, harrt indes vergebens, daß der andere, dem sie ganz entgangen sind, darauf eingeht und fühlt sich von ihm verletzt. Der andere borgt sich dafür bei ihm das Wort: sensibel, denn mit der sensibilité, dieser kleinen Münze des Gemüts, führt er nicht Haus.
Kurz: für ihr Gefühlsleben finden die beiden Völker nicht den adäquaten Austausch. Denn wahrlich nicht der Geist der zwei Nationen ist es, der sie auseinanderhält. Der Idealismus, der geistige Ausblick des Deutschen ist vielmehr der mächtigste Anziehungspunkt für den Franzosen, und in der Anerkennung unserer Vorzüge legen sie ein Verständnis und eine rückhaltlose und geniale Großherzigkeit zutage, vor der länger zurückzustehen uns weder zum Lobe noch zum Nutzen gereichen könnte.
Hören wir einen so leidenschaftlichen Sohn seines Landes wie Maurice Barrès, mit welch zarten und tiefen Worten er seine Betrachtungen über Goethes Iphigenie beschließt:
„Peut-être n’est il pas permis, — permis, ce mot si vague rend seul ma peur un peu mystérieuse, — que nous produisions au dehors nos pensées les plus intimes: peut-être devons-nous protéger, voiler nos réserves, de crainte qu’une source, dont nous avons écarté les branches, ne se dessèche au soleil. Mais je dois reconnaitre mes obligations. La destinée qui oppose mon pays à l’ Allemagne, n’a pourtant pas permis, que je demeurasse insensible à l’ horizon d’outre Rhin: J’aime la Grecque Germanisée.“
Fand jemals eine Huldigung, in ihrer scheuen Zurückhaltung, einen so wundervollen Ausdruck? Ich kenne mir nichts Edleres als jenes Geständnis, das sich einem so französischen Herzen entrang: „J’aime la Grecque Germanisée.“
Aber Deutschland und Frankreich scheinen mir oft dahinzuleben, wie ein sehr männlicher Mann neben einer sehr feinen Frau, die ihn schon durchschaute, aber die er noch nicht verstand. Gerade diesem Manne aber hat der Mangel an Talent, sein Empfindungsvermögen zu verausgaben, manchen Nachteil gebracht und manch unfreundliche Reflexe zugezogen. Wenn ihm aber der Neid, wenn seiner Sprache das Monopol des Wortes „schadenfroh“ zum Hauptvorwurfe werden konnte, so hat er dafür ein Wort, das im Widerspruch zu jenem anderen steht und es an Kraft weit überbietet, das Wort, das in keiner Sprache seinesgleichen findet und einen Zug, der viel deutscher noch ist als sein Neid, und das ist seine Treue. Treu aber sind die Deutschen sich selbst nur indem sie streben.
Zwar ist von vielen Seiten behauptet worden, seit ihrem großen Siege seien sie in ihren sympathischen Eigenschaften weniger gefördert worden, als im Verhältnis die Franzosen seit ihrer großen Niederlage. Nichts scheint mir zweckloser als darüber Worte zu verlieren, denn Glück wie Unglück liegen hinter uns. Jede Nation hat heute die Tafel ihrer Siege und ihrer Niederlagen, und der Haß ist zwischen ihnen etwas Künstliches geworden. Die Schwelle eines neuen Zeitalters ist schon überschritten, und eine neue Stunde hat für uns geschlagen. Fluch träfe das stumpfe Auge und die verbrecherische Hand, die den Zeiger wieder zurückstellte.
1906.
Ein sommerlicher Sonnenuntergang in München lebte heute in meiner Erinnerung auf. Von der Terrasse zur Friedenssäule hatte ich auf die Isar hinabgesehen, die unter dem verklärten Gewölk so leuchtend und blau dahinfloß, so deutsch mit dem verträumten Gebüsch ihrer weiten Sandbänke und zugleich so sagenhaft schön in ihrer ewigen Frische, als eile sie nach dem Meere, Galateens Muschelboot zu umspielen.
Und München erschien mir da wie eine jener mittelalterlichen Schlaguhren, mit ihrem kunstvollen Aufbau von Säulen, Gehäusen und Vertiefungen. Zeiger und Figuren treten immer in gleicher Schönheit, gleicher Bedeutsamkeit hervor, und das Ziffernblatt ist von erlesener Pracht. Aber etwas in den goldenen Speichen der Räder ist zertrümmert oder gehemmt, und die Zeit verhallt hier in zu tiefen, zu lauschenden Klängen. Und dieses Echo, diese Beschaulichkeit ist es, die wir nicht immer ertragen, denn gerade das Unveränderliche und Unverbrüchliche in uns erheischt ein schnelleres Tempo unseres äußeren Lebens.
Aber wie uns in dem trüben und zugleich schon grellen Lichte spätwinterlicher Tage Bilder des Südens bewegen, so umwehten mich jetzt, inmitten der weiten Regungslosigkeit und Leere, die Bilder bewegterer Städte. Von den lauen Winden zu mir herübergetragen, durchschauerte mich das silberne Paris, und, lächelnd wie eine verschleierte Schöne, die Place de la Concorde. Ein anderer Sonnenuntergang flammte da auf und überflutete die weiten Champs Elysées, den surrenden Wagenstrom mit seinem gedämpften, prunkenden Geräusch und all die strahlenden oder trügerischen oder schnöden Silhouetten des Glücks, die er vorbeiträgt. Was immer sie quälen mag, stets sind es Schattenbilder selbstverständlichen Genusses, die sie uns malen. Wie die weithin leuchtende Front der zwei Paläste am Eingang der Rue Royale, so trägt hier die Fassade des Lebens den Stempel jenes Maßes und jener Disziplin, die wahren Formensinn kennzeichnet. Wenn andernorts Leichtsinn und Ungefähr an Äußerlichkeiten haften, so ist es hier das Auge, das zumeist sich heimisch fühlt und inmitten der Verwirrung ganz sich auszuleben vermag.
Aber hier riß mich das brutale Gellen einer Trambahnglocke aus der Ferne in die Wirklichkeit zurück. Mit furchtbarem Gepolter lärmte der umfängliche Kasten einher, und eine Dame im Reformkleid wandelte mir entgegen. Heiß und öde dehnten sich die Häuserreihen wieder vor mir hin, und jede Straße fand von neuem Muße, mit ihrer Atmosphäre mich zu bedrängen. Denn ach! inmitten der seelischen Abgeschiedenheit, die München an Wintermorgen wie an Juliabenden oft bis an den Rand wie einen Schmerzensbecher füllt, war mir, als ob der Strom des Lebens sich hier zu einem See besänftigte, sich weitete, und als ahne er hier nichts von seinen reißenden Stellen, deren Hast und Getöse allen Schmerz der Besinnung so weit überrauscht.
Und wie ein Riese schien da die Sehnsucht den Weg mir zu vertreten und mich zu würgen, als müßte sie aus meinen Augen hervorbrechen beim Anblick der hoch dahinziehenden Vögel: zur englischen Küste trugen sie meinen Geist im Fluge hin, und die Lust zu wandern kam wieder über mich.
Ich gedachte der Woche, die ich in London einsam verschwelgte, und zu welcher Lust sich mein Alleinsein steigerte angesichts der Gestalten, die uns, lebenden Statuen gleich, zu Hunderten dort begegnen. In welcher Stimmung ich da eines Nachts aus dem Theater fuhr, und wie mich fror in der warmen Sommernacht, weil angesichts so vieler, vollendet schöner Erscheinungen derselbe Gedanke wie angesichts der Elgin Marbles mich bewegte: Welch edles Ding ist doch der Mensch! Wie müde und erregt zugleich ich dann das leere Haus betrat, in dem ich wohnte und wie ich da mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen noch lange unten verweilte, ganz in London versunken, von dem Sausen und Brausen des unendlichen, nie lärmenden London berauscht.
Zwar schwebte mir gerade in Frankreich, gerade in England Deutschlands geistiges Bild so gerne vor Augen! So tags zuvor bei englischen Freunden auf dem Lande, als ich in der großen Halle mit mir allein zurückblieb, weil mir schien, als wüßte ich in letzter Zeit, durch neue Eindrücke und die Meinungen und Ansichten anderer von allen Seiten abgelenkt, oft nicht mehr, was ich selber dachte.
Nun aber flutete das Licht des alabastermilden englischen Himmels so beschaulich durch die weitgeöffneten Tore, und die Bäume vor dem Eingang breiteten wie schützend ihre gewaltige Ruhe über diese Erde, diesen Rasen, und über das unaufhörlich holde Gurren und Geflatter der Turteltauben.
Aber wie hoch in der stillen Luft das Laub der Bäume erst leis erzitterte und dann in Aufruhr blieb, so wurden meine erst leis sich schwingenden Gedanken von allen Himmelsrichtungen aufgescheucht, bis sie, im Sturme hin und wieder fortgetragen, wie Blätter mein Bewußtsein umwirbelten. Ich konnte sie nicht erhaschen, die eigene Verwirrung, den eigenen Zwiespalt nicht begreifen, noch jenes tiefe Echo heimatlicher Erde, das deutschem Geiste aus angelsächsischem Boden entgegenhallt; als würden jene Worte wieder zu ihm hingetragen, mit welchen Shakespeares verbannte Könige dies Land betraten:
„Ich grüße mit der Hand dich, teure Erde,
— — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — —
— — — — — — — — — — —
So weinend, lächelnd, grüß ich dich, mein Land
Und schmeichle dir mit königlichen Händen.“
Aber Shakespeare selbst, der in seiner ausgeprägt englischen Eigenart uns doch so nahe steht, wie glich er diesem Boden, auf welchem geschlossenste Äußerungen unserer Rasse, so heimisch und fremd zugleich, uns entgegentreten!
An diesem Faden weiterspinnend war es dann ein anderer wichtiger Punkt, der zumeist mich fesselte. Die Identität unserer geistigen Stellungnahme zu den Griechen: Walter Pater, in seiner Auffassung und Fühlung der Antike mit unseren Rhode und Burckhardt, als eines Geistes Kind.
Von unseren inneren Analogien aber versank ich staunend in die Betrachtung unserer äußerlich so starken Verschiedenheiten. Aber von allen Dingen sah und erfaßte ich da nur ihr Suchen, Fließen, Streben nach einem gleichen Ziele. Und nichts, was die Vorzüge der Engländer, Deutschen und Franzosen auseinanderhielt und voneinander abschloß, wollte mir da noch den Eindruck von etwas Verheißungsvollem, noch Ganzem, noch Befriedigendem gewähren.
Mein Alleinsein wurde indes von einem der Gäste unterbrochen, einem gewichtigen Parlamentarier, dessen politisches Credo: „We are the first nation“ aus allen seinen Beweisführungen mit unfehlbarer Sicherheit hervorging.
„What are you doing?“ sagte er.
Doch als ich ihm nun meine Gedanken auseinandersetzen wollte, da standen mir die Worte, die den Stein des Weisen, den ich doch schon zu halten glaubte, fassen sollten, nicht zu Gebote, sondern die Flammen, die im Kamin mit ihrem laut- und ruhelosen Rhythmus loderten, schienen in elementarerem Bezug zu meinen Träumen, als ich selbst. . . .
Warum aber weckte ich den Nachhall so vergessener Dinge? Lag an der Wirklichkeit, lag in der Gegenwart stets ein Etwas, das des Reizes tief entbehrte oder ihn verhüllte, da Augenblicke, die wir zu genießen uns nur flüchtig bewußt wurden, als wir sie erlebten, sich verklären, wenn sie wie abgeflossene Wellen längst verrauschten? Selbst die fiebernde Öde dieses Münchner Sommertages, — täuschte mich seine spleenartige Wirkung nicht?
Still schwebte schon der Mond am klaren Himmel über die Parkanlagen, die Straßen und Plätze. Von den dunklen Baumgruppen hob sich der Hildebrand’sche Brunnen ab, die immer neuen Strahlen seiner Lebensfülle milde wie der Mond ergießend. Immer neu sind dem Auge die kühnen, reichen Schweifungen des Beckens, in welchem das Wasser unter der überströmenden Schale, frei wie eine Flut sich ausbreitet und bewegt. Und immer neu blicken von dem mächtigen Sockel, wie durch rieselnde Schleier, überlebensgroße, marmorne Häupter. Aber das gesenkte Antlitz des Athleten, die weit getrennten Gruppen und das Quellen aus den Nischen, sie alle ertönen in übermächtiger Einheit zu einem rauschenden Akkord, aus welchem Münchens eigenste Seele in ihren reichen Gründen, echt wie der frische Strahl des Wasserstaubes, uns entgegenhaucht.
An einem Spätnovembermorgen sah ich zum ersten Male die Straßen von Berlin unter einem regnerischen Himmel tropfnaß und düster vor mir liegen, und musterte mit enttäuschten, übernächtigen Augen ihre graue, geradlinige Nüchternheit.
Auf meiner Fahrt vom Anhalter Bahnhof zum Potsdamer Platz war es zugleich das einzige Mal, daß ich in Berlin dazu kam, mich über Berlin zu besinnen. Ich weiß nicht, welch verzehrende Neugierde dort alsbald von mir Besitz ergriff und mich in eine Art von Gummiball verwandelte, der ohne Unterlaß von einem Ende der Stadt zum anderen flog.
Die meisten Dinge natürlich sah ich nur im Fluge.
Im Fluge machte ich dort übrigens eine, wenigstens für mich, endgültige Erfahrung: wie sehr nämlich die Wirkung, welche die Plastik auf den Laien ausübt, eine von der Malerei nicht nur verschiedene, sondern ihr entgegengesetzte ist. Allerdings haben wir bis jetzt nur Glyptotheken, welche organisatorische Probleme auf siegreiche Weise lösen. Vergleichen wir aber den Zustand von Beglückung und Rast, den wir im Pergamon finden, mit der Nervosität, dem Unbehagen, das uns bei längerem Verweilen in einer Bildergalerie befällt, so will uns dabei der Maler von allen Künstlern als der glücklichste erscheinen, weil von allen Kunstwerken Bilder am rückhaltlosesten zu einer Charakteristik ihres Schöpfers, im vollsten Sinne zu Individualitäten sich gestalten: je bedeutender zwar, desto bestimmter natürlich, desto mehr Aufmerksamkeit und Spielraum beanspruchend, auch nach außen hin, desto mehr Perspektive gebietend. Wer hätte im Louvre nicht die fast schmerzliche Empfindung einer Gioconda, fast hätte ich gesagt eines Lionardo, der hier in einem licht- und luftlosen Kerker gefangen liegt? Ich für meinen Teil kann nicht an den Giorgione im Kaiser-Friedrich-Museum denken, ohne daß mir ein kaum einen Meter davon entferntes Bild durch seine schreiende Unverträglichkeit mit dem Giorgione dazwischenfährt. Aber scheinen nicht alle Wände dieses selben Saales von laut aufbegehrenden und unzufriedenen Leuten erfüllt, deren Heterogenität uns peinigt und verfolgt, und die alle zusammen das große Tizianbild umlärmen? Auf meinem Wege zu den Rembrandts fesselte mich ein Gemälde durch den klangvollen, durchdringenden Reiz des Kolorits. Als ich aber auf dem Rückwege an diesem selben Bilde wieder vorbeiging, zog es sich bei seinem Anblick — ich übertreibe nicht — wie ein eiserner Ring um meine Schläfen, von nahezu unerträglicher Erschöpfung und Qual. Wahrlich! dachte ich, die Musik ist eine stillere Kunst als die Malerei.
Um aber auf Berlin zurückzukommen: als am siebenten Tage der Zweck meines Aufenthaltes erreicht schien, reiste ich am nächsten Morgen wieder ab. Zwar wurde mir von allen Seiten und überall auf Grund meines Behagens an Berlin lebhaft davon abgeraten. Aber hierüber, schien mir, mußte ich doch selbst am besten Bescheid wissen und packte unbeirrt meine Sachen. Zwar fand ich Berlin nicht mehr so häßlich, wie bei meiner Ankunft, eine „jolie laide“ vielmehr, mit fesselnden Einzelheiten.
Am Morgen meiner Abreise fuhr ich in einer offenen Droschke und bei dichtem Nebel noch einmal um den Schloßplatz, durch die Linden, die Wilhelmstraße, Leipziger- und Friedrichstraße, und dachte: „Berlin ist doch spannend!“ Deutlich war jetzt der Wunsch in mir aufgestiegen, es besser kennen zu lernen, als mir der vorgerückte Zeiger einer Riesenuhr ins Auge fiel und zugleich an einer Straßenecke ein Zeichen trübseliger Vorbedeutung, das, wie meiner harrend, stille stand. Nicht länger spendete ich da mehr nach rechts und nach links halb gleichgültige, halb neugierige Blicke des Abschieds. Was konnte es an diesem Morgen Verdrießlicheres für mich geben, als meinen Zug zu versäumen, nachdem ich eigens deshalb so früh aufgestanden war? Ich trieb den Kutscher zur Eile an, stürmte zehn Minuten später die Treppen des Bahnhofs hinauf, lief zum Gepäckschalter, flog durch den Perron. Kaum war ich eingestiegen, als der Zug sich in Bewegung setzte und ich in meiner glücklich eroberten Waggonecke zufrieden einschlief.
Und dann kam das Erwachen, das eine unvermittelte und grenzenlose Deprimiertheit wie mit dumpfen Stößen begleitete. Draußen starrte ein totes, träges, grelles Mittaglicht wie ein Abglanz des unerhörten Katzenjammers, der mich bedrückte. Es war doch gestern so gut wie ausgemacht, daß ich um diese Stunde nach Charlottenburg fahren und dann in ein Konzert gehen würde. Und abends wollte ich die Oper von Nicolai hören. Warum in aller Welt war ich denn fortgefahren? Ich konnte den Grund nicht finden. Es mußte irrtümlich geschehen sein, weil ich nicht wußte, daß ich noch bleiben wollte. Ich wußte nur, was ich jetzt vergebens wollte! Mit welchem Ungestüm ich die Lokomotive an das andere Ende des Zuges wünschte, und daß sie mich wieder nach Berlin zurückbrächte!
Und ich erwachte ganz.
Eine dumpfe, trübe Hitze erfüllte das Coupé. Ich stand auf, um das Fenster einen Augenblick zu öffnen. Aber mein Gegenüber, ein mächtiger, breitschulteriger Herr, sah mir, ohne sich zu rühren, mit solcher Empörung zu, daß ich es aufgab, weil der Gedanke, ihn auch noch sprechen zu hören, unerträglich war. Oh, wie mußte der seinen Enkelkindern imponieren und seiner Schwiegertochter auf die Nerven gehen! Und ich sank zurück. Aber die Reue, der leidenschaftliche Ärger über meine unbedachte und sinnlose Übereilung, brach mit der Gewalt jener unvorhergesehenen Stürme über mich herein, wie sie über Nacht, zur Zeit der Äquinoktien, Kamine wegreißen, und Steine und Ziegeln von den Dächern schleudern. Wie verträumt rauschte der Zug durch das winterliche Land, während ich unbeweglich in meiner Ecke saß. „Komm,“ sagte ich zu mir selbst, „dies ist alles nur eine ganz abnorme Übermüdung.“ — Meine Hände lagen mutlos ineinander, meine Arme waren wie mit Gewichten behängt, an meinem Herzen hing ein großer Stein, und ein anderer saß mir auf dem Kopfe wie ein Helm. Es war lächerlich. Es konnte nicht sein. „Trink eine Tasse Kaffee,“ schlug ich vor. „Sieh nur, wie müde du bist!“ fuhr ich ermunternd zu mir fort, als ich im Speisewagen mit zitternden Knien und mit aufgestützten Armen vor meinem Tischchen saß und das öde Licht, das durch die angehauchten Scheiben fiel, meine Bitterkeit noch erhöhte. Warum hatte ich nur so eilig Reißaus genommen? Es lohnte sich doch wahrlich, Berlin besser kennen zu lernen! Warum aber denn jetzt eine so ungestüme und überspannte Betrübnis? Es wurde mir immer heißer zumute, und der fade Kaffeegeruch machte mich vollends untröstlich. Ich kehrte also wieder auf meinen Platz zurück, zog den Vorhang zu, den Hut tiefer ins Gesicht, und wie nach dem Sturme der Regen einsetzt, so drängten da die ungeheuerlichen Wolken, die mein Gemüt umlagerten, leise, langsam und unaufhörlich, nach Art der Landregen sich zu lösen. Es war viel besser, daß ich mir’s eingestand: der vorschnelle Abschied von Berlin machte mir eben Beschwerden. Aber wie? Was lag mir dort am Herzen?
Ich habe jedoch schon öfters erfahren, daß persönliche Momente für unsere Abneigung oder unsere Vorliebe für einen Ort keine, oder nur eine relative Rolle spielen. Und ich kann mir nicht helfen: meine Eindrücke großer Städte verdichten sich zu einem gewiß anthropomorphen Bilde, wie es uns in der Karikatur etwa die Münchner Bavaria entgegenhält. Eine Stadt oder eine Landschaft aufzusuchen, um dort Erinnerungen nachzuhängen, stelle ich mir deshalb als ein höchst unerfreuliches Experiment von ganz besonders öder und ausgeblasener Wirkung vor. Denn der Dämon eines Ortes ist viel zu stark für die einzelne Psyche.
Daß ich mich aber durch jenen einen proletarischen Zug in der Physiognomie der Jolie Laide in meinen wirklichen Eindrücken so hatte täuschen lassen, und, während die Schärfe ihrer intellektuellen Aura mich hinriß, immer noch der Meinung war, daß sie mich nur abstieß? — Seit einer Woche ganz von ihr eingenommen und mit ihr beschäftigt, wollte ich alles kennen lernen und mir nichts entgehen lassen, jeder Einladung Folge leisten, auch wenn sie mit einer anderen kollidierte, um dann, wenn auch nur für einen Akt, schnell noch ein entlegenes Theater zu besuchen. Zwischendrin aber, sobald ich allein war, in der Droschke, der Hochbahn, oder während einer musikalischen Soiree, zog ich unverzüglich, wie aus einer geistigen Schublade, die Schlußseiten einer Arbeit hervor, die vor meiner Abreise fertig werden mußte, korrigierte und glättete daran herum, suchte fortgesetzt nach neuen Satzstellungen und Worten, und fand niemals Zeit, mich auf mich selber zu besinnen.
So war ich in meinem Element, und glücklich gewesen, ohne es zu wissen. Denn die Wagschale des eigenen Ichs, aller Gewichte persönlicher Bezugnahme ledig, war seltsam erleichtert aufgestiegen.
Ich merkte nicht, wie sehr mich hier alles Nüchterne oder Geschmacklose verdroß, welche Genugtuung mir alles Schöne, Hervorragende oder Bedeutende gewährte. Ich wußte erst, nachdem ich Berlin verließ, mit welcher Anteilnahme ich es betrachtet hatte.
Wie leicht beschlich mich sonst inmitten einer neuen Umgebung ein Gefühl der Isolierung, kalt und leise wie ein Gift! Nichts wirft uns ja so sehr auf uns selbst zurück, als das Gefühl oder das Bewußtsein, oder die Idee, unrichtig taxiert, sei es nun überschätzt oder verkannt zu werden. Diesen Berlinern aber, die mir in mancher Hinsicht viel fremder waren als Londoner oder Pariser, schien ich eine längst bekannte Nummer, und so half alles zusammen, daß ich mir selbst gänzlich in Vergessenheit geriet.
Aber derselbe Schwung, der mein Auffassungsvermögen mit so ungewohnter Schärfe nach außen wandte, währenddem er mein Bewußtsein gewissermaßen ausschaltete, stürzte mich zuletzt vor lauter Elastizität blindlings in diesen Zug.
Das Spiel war zu Ende, und der Gummiball lag im Graben.
Ein von langer, gefahrvoller Reise eben zurückgekehrter Marineoffizier, den ich in Rom in einer Gesellschaft traf, sagte mir, es berühre ihn komisch, wieder in einem Salon zu sein; der Kontrast sei noch zu heftig, er verspüre da etwas wie Seekrankheit und müsse sich erst wieder zurechtfinden.
Ich begriff das recht gut. Dicht neben uns redeten zwei Diplomatenfrauen, eine griechische und eine brasilianische, im kreischenden Französisch lebhaft aufeinander ein. In ihrer Ahnungslosigkeit lag ein so gewichtiges Etwas, daß sie das gleichzeitige Vorhandensein auf der Welt von solchen Dingen wie Urwäldern, wilden Völkerstämmen und Papageien auszuscheiden und doch a tempo daran zu erinnern schienen. Wohl mochte da das Gemüt eines soweit Heimgekehrten ins Schaukeln geraten.
Ach! man braucht kein Weltumsegler zu sein; es genügt, ein bißchen Umschau in den europäischen Städten zu halten, um bei der Rückkehr in die eigene, ich will nicht sagen das Lachen (ohne eine gewisse Verdrossenheit geht die Einsicht nicht her), aber — schmunzeln zu lernen.
Wie kurzweilig ist ein Snobismus, der uns nicht anficht! Wahrzunehmen, in welch charakteristischen Prägungen, mit welcher Bestimmtheit und wie starr er überall mit ganz verschiedenen Wertungen sich behauptet. — Ich wüßte nichts, was einen vom Snobismus gründlicher kurieren könnte, wie das Reisen.
Als einmal die Rede auf gesellschaftliche Vorurteile fiel (es war in London), fragte ich: „Und wie steht es hier mit den Juden?“ „Oh we love them!“ rief die Frau des Hauses, die eine sehr große Dame war; „they are so nice and rich!“
Nie und nimmer hätte sie geduldet, daß sich ihre Nichte mit einem Arzt verheirate; als dann ein reicher Brauer um sie freite, war von Mesalliance durchaus nicht mehr die Rede.
Es ist wahr, daß Bildung und Wissen nirgends so tief im Kurse stehen, wie bei den vornehmen Engländern. Aber man übersieht, daß ihre oft sehr krasse Unwissenheit keine ganz ungewollte ist. Sie sind so zivilisiert, daß sie glauben, der Bildung entraten zu dürfen: „It is not smart to be clever“, wurde mir in London allen Ernstes gesagt.
Ich traf dort öfters die schöne Lady Beatrix. Wer die Geste sah, mit der sie beim Tanz die Schleppe warf, der vergaß zur Stelle alle unschönen und traurigen Seiten des Lebens. Von einem ihrer Hüte sehr hingerissen, sagte ich ihr eines Tages, daß keine Frau in London deren so viele und so reizende besaß. — Tief errötend mit einem empörten Blick und ohne mich einer Antwort zu würdigen, starrte sie mich an.
Was hatte die schöne Lady gekränkt?
Es trifft sich, wie ganz London weiß, — teilte mir im korrektesten Tone einer ihrer Freunde mit, — daß Lady Beatrix infolge ihrer zerrütteten Lage als Essayeuse in einem Hutgeschäft steht. Die hohe Bezahlung, die sie dafür erhält, ermöglicht ihr die Aufrechterhaltung ihrer Stellung.
Es klang wie ein schlechter Witz. Lady Beatrix Hutmamsell, um ihr gesellschaftliches Prestige nicht zu verlieren.
„Hat sie denn nichts gelernt?“ rief ich bestürzt.
Ihr Verehrer sah mich kalt an. „Sie können Lady Beatrix doch nicht zumuten, etwa Gouvernante zu werden,“ sagte er. Ich besann mich; und mit einem Male fand ich es entschieden geistreich, daß Londons beste Gesellschaft dies Mädchen mit so großer Auszeichnung empfing. Der Boden eines Salons hatte sich — wenn man will — gesenkt, jedenfalls verschoben, und seine Anforderungen waren andere geworden. So rückständig war man nur noch bei uns zu Lande, daß man einen Salon im Sinn des 18. Jahrhunderts sich erträumte; ein solcher bringt es höchstens auf einen Jahrgang, und einen Succès de ridicule.
Denn wir betreten ihn heute, wie wir ein Eisenbahncoupé besteigen: mit Zurücklassung alles Gepäcks, höchstens mit einer kleinen Handtasche ausgerüstet. So lassen wir auch unser bagage intellectuel im Vorraum bei unseren Mänteln hängen: nur leichter Stücke, wie Schlagfertigkeit oder Witz, bedürfen wir hier. Was wir denken, wollen wir jetzt vergessen, und ausschalten, was wir wissen. Ein Salon will keine Steigerung mehr, nur eine Ablenkung vom Leben sein. Uns ist wohl, wenn nur die Lüge glücklich vertreten bleibt, wenn nur unsere Augen, unsere Sinne einen Moment der Täuschung sich hingeben können, daß unser Leben etwas Heiteres sei.
Man trifft in London und Paris und auch in Rom sehr geistreiche Leute in Gesellschaft: der Schein ist eben für die ganz Ernsten wie für die Gedankenlosen; den einen ist er Element, den anderen ein Verweilen. Der heutige Salon zerfällt in Bühne und Zuschauerraum — ungleich dem Leben, in dem Kluge wie Toren — und zwar zusammen — mitspielen müssen. Dort hingegen kann die schönste Teilung vor sich gehen: je großartiger aber der Schein, je stärker die Illusion, umso gewählter natürlich das Publikum.
Ich eile zur Pointe. — In unseren Salons stehen noch allzuhäufig — statt der Kulissen — alle Türen nach der Wirklichkeit offen, — oder doch angelehnt. Unsere Frauen sind allzu wahrhaft: der einen spricht die Sorge um ihre Kinder, oder die Mißvergnügtheit, oder die Literatur, oder gar die Schlichtheit ihrer Verhältnisse allzu deutlich aus Ton und Blick.
Wenn ich da an Lady Beatrix denke, erscheint sie mir wie ein ideales Standbild — ich sage nicht des Lebens —, wohl aber des heutigen Salons. Statt Banalitäten über hohe Themen sagte sie geistreiche Dinge über dumme Sachen. Und wie verriet sie doch mit keiner Miene die innere Zerworfenheit mit ihrem Schicksal.
Obwohl ich es noch nicht verlauten hörte, kann ich mir nicht denken, daß es nicht schon oft gesagt wurde, so sehr sticht es ins Auge: das Erbe der Griechen haben Deutsche und Engländer unter sich geteilt. Wir setzten es in unsere Gedankenwelt, und sie ins äußere Leben um. So ist Halbheit überall. Il ne nous manque que la grâce. Es ist das ganze Geheimnis unserer Unpopularität.
Neue Rundschau 1908.
Statt über das Werk den Meister zu vergessen, geht es mir oft umgekehrt. Jeder hat seine Manier, und es fruchtet nichts, es anderen nachzutun. Als ich aber das erstemal einem bedeutenden Manne gegenüberstand, spielte sie mir einen recht schlechten Streich.
Kaum erwachsen, war ich in Paris bei Taine eingeführt worden. Er wohnte in der Rue Cassette Nr. 23, einer stillen Straße am linken Seineufer. Dorthin wanderten an Dienstagen — dem Tage, an dem Taines empfingen — Gelehrte, Künstler, einheimische und durchreisende Sommitäten. Die Wohnung selbst war ohne Prunk; nichts wehte hier von wortfroher, pariserischer Eleganz, zumal die Boulevards schienen meilenweit von diesen ernsten, hohen Räumen entfernt, in welchen Taine, der Feind der Phrase, mit mehr Güte und Gelassenheit als Neugier seine Besucher empfing. Ich beobachtete ihn von ferne, wie er zwischen Arvéde Barine und Ferdinand Fabre aufmerksam, aber mehr rege als lebhaft, bald dem einen, bald dem anderen zugewandt saß. Trotz seiner weißen Haare und seines wenig robusten Aussehens machte der 70jährige nicht den Eindruck eines alten Mannes.
Als pilgernde Törin stand ich indessen gottverlassen und grenzenlos verschüchtert inmitten des Salons, als Taine plötzlich auf mich zukam. Mit einem großen Ruck hielt da mein Herz alsbald zu schlagen inne. Mein Gott! dachte ich erschrocken, da ist er ja! Taine begann nun ein Gespräch oder, besser gesagt, einen Monolog, denn ich entgegnete kein Wort. Den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, gedachte ich, alles, was er sagte, mir getreu zu merken, wohl bewußt, daß eine solche Gelegenheit sich mir nie wieder bieten würde. Taines stilles, blasses, duldendes Gesicht, das in der Jugend, am Mittag seines Lebens, häßlich gewesen sein mochte, war im Alter schön. Wir sehen im Scheine einer verglühenden Sonne rauhe Bergesfurchen zart und träumerisch ermatten. So kann das sinkende Licht eines bedeutsamen und wertvollen Lebens Schatten von zauberhafter Anmut in ein Antlitz graben. Zwar spiegelte sich nur Mühsal, nichts in diesen erschöpften Zügen gemahnte an die Freude. Dennoch schwebte mir dies Leben wie ein voller begehrenswerter Becher vor, nach dem ich dürstend die Hand ausstreckte. Und zerbrochen, leer, glitt da mein eigenes zu Boden.
Taine sprach lange, wie gewohnheitsgemäß nachdenklich und konzentriert, während ich ihn schweigend und unbeweglich ansah. Doch als er innehielt, erfaßte mich größte Reue und Bestürzung. Denn ich gewahrte — jetzt erst —, daß seine Worte, die meinem Gedächtnis zeitlebens nicht entfallen sollten, — gänzlich an mir vorbeigeklungen waren, und daß ich keine Silbe davon vernommen, geschweige denn behalten würde. Der Eindruck seiner Persönlichkeit war zu überraschend gewesen; er hatte die Fähigkeit, auf seine Worte aufzumerken, in mir wie ausgeschaltet und betäubt. Taine selbst, seinen Gedanken nachhängend, mochte meine innere Fassungslosigkeit so wenig bemerkt haben, wie die Betretenheit, mit der ich ihn verließ. — Ihn wieder zu sehen, sollte mir nicht vergönnt sein, und schon das Jahr darauf drang die Kunde seines Todes nach Deutschland. Da war es einer seiner Schüler, der mir von der Schwermut, den inneren Kämpfen erzählte, durch welche Taines Lebensabend so schwere Trübungen erfuhr, weil der Glaube an das System, auf welches er einst mit so fester Überzeugung seine Weltanschauung gründete, in ihm erschüttert war. Daß er selbst am Ende sein Tagewerk so kritisch überschaute, von seinen eigenen Zweifeln zu vernehmen, berührte mich seltsam, fast wie eine Kunde. Ich sah ihn wieder vor mir — gesenkten, duldenden Angesichts, wie am Tage jenes verlorenen und doch so unvergeßlichen Gespräches; und mein damaliges Verhalten, der Überschwang meines Eindruckes wollte mir nicht mehr in demselben Maße töricht und unverantwortlich erscheinen. Ich weiß: ein so gesteigerter Heroenkult gilt nicht für abgeklärt. Es wird uns bei sehr vortrefflichen Menschen begegnen — (ja gerade von solchen, welche ihr Leben der Erhaltung, dem Gedeihen oder dem Fortschritt der Menschheit widmen: von Ärzten, Gelehrten, Forschern) —, daß sie der Meinung sind, der Mensch nehme sich selber allzuwichtig. Aber so berechtigt sie auch klingt, daß ein Philosoph sich rückhaltlos zu dieser Anschauung bekennt, werden wir nicht erfahren; nicht etwa, weil er hier gravitätischer zu Werke geht, sondern lediglich deshalb, weil sie keine philosophische ist.
Je typischer freilich oder je vollendeter ein Mensch, desto unvollkommener vermag sein Dasein die Fülle seines Wesens auszulösen. In dem Maß ist er ja verehrungswürdig, als er die eigenen Unzulänglichkeiten, die Unzulänglichkeit des Lebens überbietet.
„Ich sehne mich recht von hier weg,“ schrieb Goethe am 2. Juli 1781 an Frau v. Stein, „die Geister der alten Zeiten lassen mir hier keine frohe Stunde; ich habe keinen Berg besteigen mögen, die unangenehmen Erinnerungen haben alles befleckt. Wie gut ist’s, daß der Mensch sterbe, um nur die Eindrücke auszulöschen und gebadet wieder zu kommen!“
Übrigens fand mein Besuch bei Taine noch am selben Abend ein komisches Nachspiel. Von der Rue Cassette aus eilte ich nämlich nach der Rue de Verneuil. Damals setzte gerade meine Geselligkeitsphase ein, und neue Menschen interessierten mich noch namenlos. So betrat ich denn sehr verspätet und als ahnungsloser Neuling einen, trotz provinzialen Einschlags sehr typischen Salon des Faubourg. „Ich komme von Taine,“ verkündete ich gleich beim Eintritt, teils um mein spätes Erscheinen zu begründen, teils um mir bei dem Anblick einer sehr zahlreichen und fast gänzlich fremden Gesellschaft eine Contenance zu geben. Die Mitteilung schien jedoch keinerlei Echo hervorzurufen. Daraus schloß ich, sie sei überhört worden, und fing also noch einmal an, ich sei bei Taine gewesen und käme geradewegs von ihm. Jetzt unterbrach mich aber eine alte, wundervoll frisierte Dame. „Vous en êtes fière?“ sagte sie und fixierte mich mit großen, wie absichtlich ausdruckslosen Augen: „Eh bien, ma bonne petite, pour nous c’est le diable“.
Münchner Neueste Nachrichten
1905.
Es ist nicht anders: eine Nation fällt meist unter dieselben Gesichtspunkte wie der einzelne Mensch, der, je nachdem seine Licht- oder Schattenseiten hervortreten oder ins Auge gefaßt werden, uns höchst liebenswert erscheinen kann, oder höchst wert, daß er zu Grunde geht.
Und wo wäre heute die Nation, an der nicht hassenswerte Züge hafteten?
Ich gedenke eines dreitägigen Aufenthaltes in einer englischen Pension in Florenz, mit 45 englischen Spinsters. — In ihrer Haltung, ihren Ellenbogen, ihren fantasielosen Fingerknöcheln, dem Behagen und der Gravität, mit der sie ihren Afternoon-Tea ins Auge faßten, ihre Bröter bestrichen und über Italian Art verhandelten, feierte die englische Borniertheit wahre Orgien. Man glaubte eine weit vorgeschrittene Tumeur Nationale vor sich zu haben; und es war erdrückend, ja, es war fast spukhaft, so wenig existenzberechtigt und zugleich so lady-like zu sein!
Einige Tage später hatte ich das Mißgeschick, in Rom einer Aufführung des Tristan beizuwohnen. Der Dirigent, der das Hornsolo am Schlusse der Introduktion zum III. Akt als weinerliche Berceuse auffaßte, konnte sich an seinen falschen Betonungen nimmer satt hören und zog und dehnte sie mit wahrer Wonne immer mehr hinaus. Und als dies überstanden war, erlebte man einen, jenem Hornsolo entsprechenden, als männliche Cameliendame dahingestreckten Tristan.
Ganze Scharen hochfahrender Betrachtungen und Vergleiche drangen da unwillkürlich auf mich ein; und meine Blicke schweiften im Hause umher, wie um ein deutsches Wesen ausfindig zu machen und einen verständnisvollen Salut mit ihm zu wechseln. Denn was hatten wir für Orchester, was hatten wir für eine Auffassung, und überhaupt, was waren wir für Leute!
Allein errötend erkannte ich da gleich in meiner nächsten Nähe — in einem Aufzug, der meine nationale Eitelkeit auf das Empfindlichste verletzte, — eine deutsche Familie. Und dabei mußte ich mir zugestehen, daß diese Leute sich ebenso unverkennbar als Deutsche, wie die Spinsters der Florenzer Pension auf den ersten Blick als Britinnen sich verrieten. —
Es ist ja stets eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Dingen, aus welchen sich in der Physiognomie einer Nation das Charakteristische gewisser einheitlicher Züge zusammenstellt. Der Schwerpunkt solcher Probleme liegt denn auch in ihren Beziehungen, so daß wir einer Lösung näher schreiten, je synthetischer wir hier verfahren; doch sind es Beziehungen, an welchen nur zu oft, durch die geringe Sichtung, welche sie bisher erfuhren, der Schein des Unzusammenhängenden haftet.
Unvermittelt erregten in mir jene deutschen Touristen lebhafte Betrachtungen über die Reformation. Und weil die Größe der Gesinnung zwar die persönliche Verantwortung, doch keine Konsequenzen deckt, erschien mir Luther als eine tragische, doch höchst unpolitische Gestalt; der Kahlheit wegen, die sich im Lauf der Zeiten in den Lutherischen Protestantismus schlich; denn es liegt seiner unkatholischen Färbung ein unkünstlerisches Element zu Grunde, vor dem sich zwar der deutsche Geist schadlos halten konnte, das deutsche Naturell aber nicht ohne bedenkliche Einbuße blieb. Im katholischen wie im protestantischen Deutschen ist heute der katholische Zug zur Temperamentssache geworden: der Lutherische Protestantismus ist einmal nichts fürs Auge!
Zeitler Almanach 1907.
Bevor ich England verließ, wollte ich noch Cambridge „mitnehmen“; der Ausdruck ist nicht mehr trivial, wenn man ihn bedenkt. Denn tatsächlich „besitzen“ wir die Städte, die wir sahen, und merken nachträglich — an der Bereicherung — welche Lücke es gewesen ist, das Kennenswerte nicht zu kennen.
So ist man über das konservativste aller Länder noch im Unklaren, bevor man in Oxford und in Cambridge einen Blick in die große Werkstatt warf, in der seit Jahrhunderten der Gentleman in seinem scharfen Gegensatz zum Nicht-Gentleman sozusagen fabriziert wird. Man sieht die ungeheure Wichtigkeit, welche dem englischen „student“ zuerkannt wird, wobei man freilich seine Stellung als künftigen Herrn mehr denn als gegenwärtiger Studiosus im Auge hat.
Sonst ein gutmütiges Geschöpf, lernte ich erst in Oxford und vielleicht noch stärker in Cambridge die peinvollen Empfindungen erfahren, welche der Neid auszulösen imstande ist. Und auch ein Wunsch, den ich noch nirgends hegte, stieg hier in mir auf: noch einmal zur Welt zu kommen, um an diesem beschaulichen Ort das dem Alltag so entrückte, so vollkommen unreale Dasein der englischen Jünglinge zu führen.
Wir haben ja alle Stunden, sagen wir an trüben November- oder Februarnachmittagen, wenn das Tageslicht am schalsten ist, wo uns der ganze Aufwand unseres Lebens, und die Vergünstigung, ein Weilchen in dieser fragwürdigen Welt einherzuwandeln, ein bißchen überfordert scheinen will, — Stunden, in welchen wir uns versucht fühlen, jenem früh blasierten Engländer zuzustimmen, der sich eines Tages dem ganzen Turnus unseres Tageslaufes empfahl, indem er sich eine Kugel durch den Kopf schoß, einen lakonischen Zettel zurücklassend, auf welchem als Motivierung seiner Tat die Worte standen: „Tired of buttoning and unbuttoning.“
In Cambridge aber hat keine Jahres- noch Tageszeit etwas von jenem bedrohlichen Licht. Nirgends stellt sich das menschliche Leben so von Grund auf bejahenswert und würdig dar, wie in dieser Adolescentenstadt. Jahreszahlen stimmen hier nicht mehr, und in der Verwirrung, in die hier die Zeit geraten ist, liegt aller Zauber. Es ist als hielte sie hier inne, als fluteten ihre Wellen hier nicht in die Vergessenheit hinüber. Die grasigen Höfe der Colleges haben etwas Verhaltenes; in dem Zwielicht, das hier die Gegenwart tönt, fließen seltsame Schatten ineinander. Das Vergängliche wird fraglich, Vergangenes ist zugegen, und das Leben ephemärer als der Tod.
Der Professor, der uns auf der Bahn in einer weiten Toga und einer mittelalterlichen, mit Quasten und Troddeln behangenen Kappe entgegenwallte, schien geradeswegs von der Augsburger Confession zu kommen, und die „Kutsche“, in welcher er uns nun über das schlechte, ungeebnete Pflaster poltern ließ, war aus Thackerays Jugendjahren. Aber die Schar junger Leute, die in Fläusen und Tuniken über die Straße ziehen, verwunderten mich nicht. Ein Falke an der Hand jenes halbwüchsigen Knaben mit dem nach Pagenart übergeworfenen Mäntelchen hätte mich kaum befremdet.
Den Verdacht, daß sich hier die Jugend beim Studium nicht übermäßig anstrengt, schöpft man in Cambridge sehr bald. Wer da am schönsten lernt, das sind die Lehrer. Vielleicht ist dies auch wichtiger. Daß die Jungen weiter lernen sofern sie lernbegierig sind, versteht sich von selbst, und sie werden nicht Mangel finden sich zu bilden. Die Gefahr hienieden ist ausgelernt zu haben. In dem regen Kontakt jedoch, in den hier die Meister mit den Schülern treten, ist die Lücke für den Gelehrtendünkel überbrückt. Und liegt nicht die meiste Bereicherung in dem, was der schon Erfahrene hinzulernt? Nichts ist charakteristischer für ihn selbst wie seine Beobachtungen über eine Generation, die nicht mehr die seine ist; nichts ist für die Nachwelt interessanter wie die Schlüsse, die er daraus zieht, und die Prognose, die er zurückläßt.
Ach mein Gott! wir haben doch in Europa eine gemeinsame Architektur, und alte Abteien, gotische Kirchen stehen an der Donau wie an der Themse und der Loire. Man lernte dasselbe in Cambridge, Bologna oder Salamanca, und schon in altersgrauen Zeiten zog ein Studiosus gern von einer Universität zur anderen, um sich mit seinem Wissen zugleich Kenntnisse von Ländern und Leuten zu erwerben. Wie kommt es nur, daß bei einem so regen Kontakt der verschiedenen Bildungszentren ein Collegeleben wie das in Cambridge und Oxford nicht Schule machte, und man Engländer sein mußte, um eine so traumhafte Existenz führen zu dürfen. Klöster nach einem und demselben Typ verbreiteten sich doch in der ganzen abendländischen Welt, und nur ein solches Ideal zwanglosen Zusammenlebens wurde andernorts nicht nachgeahmt und blieb das köstliche Privilegium von Cambridge und Oxford, wie die Gondel das Eigentum von Venedig.
So komme ich denn auf jene Empfindungen des Neides zurück, deren ich schon gedachte — denn es war Neid, der mich bewegte, als ich mich in den großen Clubräumen umsah und in dem Saale stand, in welchem das Parlament der Cambridger Students tagt, die sich hier in der Kunst des Redens heranbilden, wie ihnen innerhalb des prachtvollen Rahmens, der ihnen hier gewährt ist, die Kunst zu leben zur Natur wird.
Als wir dem Flüßchen entlang gingen, hatte sich das Grün der weiten Rasenflächen schon ins Bläuliche vertieft, und mit einem Male war alles Mittelalter wie ein goldener Staub verflogen; an noch viel fernere Gestade sah man sich hinversetzt. Diese Jünglinge, die rudernd oder in ihren Booten zurückgelehnt oder im Grase sitzend dem Spiel der anderen zusahen, sind wie lebendige Statuen anzusehen, und tragen sich so edel, ob sie nun frei in ihren kleinen „canoes“ stehen oder an einem Baumstumpf lehnen, als hätte ein großer Meister, der ihr Bild in Marmor festhalten wollte, sie soeben so gestellt und ihnen eben diese Haltung verliehen.
Münchner Neueste Nachrichten
6. Juni 1913.
Aber das weiß ich, solche Träume soll man nicht gering achten. Sieh, ich denke mir das so. Wenn der Mensch im Schlafe liegt, aufgelöst, nicht mehr zusammengehalten durch das Bewußtsein seiner selbst, dann verdrängt ein Gefühl der Zukunft alle Gedanken und Bilder der Gegenwart, und die Dinge, die kommen sollen, gleiten als Schatten durch die Seele, vorbereitend, warnend, tröstend. Daher kommt’s, daß uns so selten oder nie etwas wahrhaft überrascht, daß wir auf das Gute schon lange vorher so zuversichtlich hoffen, und vor jedem Übel unwillkürlich zittern. Oft habe ich gedacht, ob der Mensch wohl auch noch kurz vor seinem Tode träumt.
(Hebbel.)
Eines Tages erhielt ich in der Münchner Staatsbibliothek ein Traumbuch aus dem sechzehnten Jahrhundert zur Ansicht, und von der phantastisch reichen Flora der höchst belebten, anschaulichen Bilder verlockt, verlor ich mich darin wie in einem Zaubergarten. Auf Träume zu merken, war mir zwar bisher nie eingefallen, allein mich reizte die Poesie, die Schlagfertigkeit, welche hier fast jeder Deutung etwas Prägnantes oder Überzeugendes lieh. Der Mond, die Sonnenblume, die entfaltete wie die knospende Rose, Wind und Welle, hier schien alles zu einer zeit- und raumlosen, und doch so farbenfrohen Welt sich noch einmal zu fügen. Selbst das Leblose leuchtete da — als wie in Gold gefaßt — noch einmal auf; als ob jedes Ding, kraft eines geheimnisvollen inneren Lichtes, noch eine Art geistigen Schattens würfe. So entzückte es mich, von einer Deutung des Geißblattes, der Zuckererbse, der Nachtigall zu lesen, und eine Reihe von Auslegungen frappierte mich oder gefiel mir derart, daß ich sie auf der Stelle notierte.
Es kam, was kommen mußte; ich fing unwillkürlich mit meinen Träumen zu experimentieren an, und indem ich sie mir des Morgens ins Gedächtnis rief und die interessanten in nur mir verständlichen Hieroglyphen verzeichnete, entstand eine Art von Buchführung, die manchem gewiß sehr töricht erscheinen wird. (Aber offen gesagt, seitdem das Gescheitsein so in die Mode gekommen ist, daß ein jeder dafür gelten will, hält man es manchmal lieber mit den Dummen.) Meine Angewöhnung hatte also zur Folge, daß sich nach einigen Jahren ein sechster Sinn: ein Traumsinn ganz von selbst in mir entwickelte. Und da ergab es sich denn: 1. daß die ungeheure Heerschar der Träume — der Traum des Darius steht hierfür als der eigentliche klassische Typ — ihrer Natur nach nichts anderes als leere Trugbilder sind, 2. aber daß Zeichen, ob sie uns zwar gleich den Träumen zum besten halten und in die Irre führen können, uns nie eigentlich belügen. Was unter diesen Zeichen zu verstehen ist, läßt sich wohl nur durch Beispiele erläutern.
Ich ging eines Tages die Theatinerstraße entlang, spazierte langsam vor mir her, hielt mich auf der Sonnenseite und ließ mich bescheinen. Ecke der Ludwigstraße begegnete mir einer meiner Freunde. Die Straße lag leer vor uns und das Wetter war heiß. Eine Strecke begleitete er mich und sprach von seiner bevorstehenden Reise, dann gingen wir auseinander. Nun war ich gerade auf dem Wege zu Habermann’s Atelier, der mein Bild unternommen hatte, und langte von dem Weg in der Sonnenhitze ziemlich erschöpft bei ihm an. Als es an die Sitzung gehen sollte, klopfte es, und Habermann wurde hinausgerufen. Indes lehnte ich nochmals in meinem Sessel zurück, und, von dem scharfen Nordlicht geblendet, schloß ich die Augen.
Als ich sie öffnete, mochte kaum eine halbe Minute verstrichen sein; der Zeiger an der Uhr hatte sich nicht gerührt, und ich war noch allein. Jedoch in dieser kurzen Spanne Zeit war ich dem Augenblick so weit vorausgeeilt, daß ich mit Grauen in das Tageslicht starrte, als hätte es inzwischen vorrücken und sich verändern sollen. Nichts mußte mir ja natürlicher erscheinen, als daß mir die Gestalt des Freundes, den ich vorhin getroffen hatte, wieder vorgeschwebt war; und dies umsomehr, als jeder Gedanke an ihn, nachdem wir so flüchtig von einander schieden, mir unverzüglich entfallen war. Ich hätte also dem Traum keinerlei Beachtung geschenkt, wäre nicht das leidige, sinnlose Gelächter gewesen, das mich bei seinem Anblick befiel. Ohne jeden Grund bog und wand ich mich nämlich in diesem Traume vor Lachen, so zwar, daß ich zuletzt in gebückter Haltung mit den Armen an mich hielt, wie einer, dem vor Lachen der Atem ausgeht. Dies Gelächter aber war es, welches eine so tiefe Verstimmung, eine so öde Bangigkeit in mir hervorrief, daß ich in diesem Augenblicke viel gegeben hätte, um diesen Traum nur wieder ungeträumt zu wissen.
Der Sommer war längst vorüber, als die Nachricht von dem jähen und grauenvollen Tode jenes Freundes in allen Blättern stand. — Die Zeitung, welche die Kunde enthielt, noch in der Hand, hörte ich von draußen eine fröhliche Stimme, die nach mir rief, schnelle Schritte, die sich näherten, und ein munteres Klopfen an meiner Türe. Ich war nicht in der Laune zu öffnen, schob leise den Riegel vor und antwortete nicht; wagte aber dann keinen Schritt von der Türe weg, um durch kein Geräusch meine Anwesenheit zu verraten. Und plötzlich stand ich gebückt, mit gekreuzten Armen, um die Seufzer zurückzuhalten, die mir die Nachricht eines so bedauernswerten Todes entrang. Zugleich gemahnte es mich da an jenen vergessenen Traum, der so düster, so unwiderruflich an mein Bewußtsein angeklungen hatte.
Dies eine Beispiel soll natürlich nichts beweisen. Infolge zahlreicher Beobachtungen reizte es mich jedoch, das Spiel, oder wie man es nennen mag, weiter zu betreiben, und zu merken, wie viel, zu merken, wie unsagbar wenig Träume zu bedeuten haben; gleichen sie doch in der ungeheuren Mehrzahl von Fällen den Rohabdrücken photographischer Platten die am Tageslicht noch eine kurze Weile standhalten, um dann gänzlich zu verblassen; während die seltenen Wachträume von einer so starken Atmosphäre umhüllt sind, daß sie, dem Gehirn wie eingeätzt, vor dem wachen Bewußtsein fortbestehen, ja sich eher noch verschärfen.
Um aber auf das zurückzukommen, was ich Zeichen nannte, so ließe sich sagen — — — daß uns für die Begebenheiten des täglichen Lebens ein heimlicher, absolut zuverlässiger Nachrichtendienst zu Gebote stehen kann, eine Art chiffrierter Telegramme, die uns sehr schnell geläufig werden, auch nicht weiter aufregend, jedenfalls nicht zeitraubend sind; die Erfahrung lehrt uns aber sehr bald, daß wir sie zu bescheinigen haben. Sie lehrt uns auch alle Winkelzüge wahrzunehmen, welche im Traume zu unserer Belehrung oder Mystifizierung geschehen. Dabei kam mir häufig der Verdacht, daß ein solcher „Traumsinn“ in jedem Menschen latent vorhanden sein müsse; hatte ich ihn selbst doch nur durch Zufall in mir entdeckt und nur durch Beobachtung in mir ausgebildet.
Wenn der skeptische Franzose sagt: La nuit porte conseil, und wenn wir nach einer scheinbar traumlosen Nacht beim Erwachen nicht selten auf das bestimmteste wissen, ob der gestern noch erwogene Entschluß auszuführen sei oder nicht, so erlangten wir unsere plötzliche Einsicht doch nicht einfach dadurch, daß wir inzwischen geschlafen haben, sondern weil ein Etwas, das weidlich klüger als wir selbst und doch mit unserem Selbst aufs innigste verwoben ist, während dieser zeitweiligen Ausschaltung unseres Bewußtseins überbieten durfte. Daher das dämonisch Überlegene, ungemein Witzige mancher Traumweisen.
So ließe sich denn, falls unser Traumsinn ausgebildet ist, in der Tat behaupten, daß wir in den Tiefen unseres Gemütes durch gute oder böse Ereignisse nicht überrascht werden können, obwohl wir deshalb dem Leben nicht um einen Grad weniger ahnungslos gegenüberstehen; denn die Vorstellung erweist sich hier niemals als das Korrelat der Wirklichkeit und sowohl für die Art, wie für die Zeit, in der das Schicksal an uns herantreten wird, liegt es im Charakter des Traums, jede Andeutung zu verweigern. So mag einer über Ziel und Ende seines Lebenslaufes mit Recht sich orientiert glauben, unübersehbar dunkel liegt es dennoch vor ihm, und nur für die Richtung seines Weges ist ein Kompaß in ihn gelegt. Seine Träume nicht zu mißachten, kann daher wohl nur dem geistig Geschulten förderlich sein, denn wenn sie ihn vielleicht vor einem unnützen Tappen im Dunkeln, einer Untreue an sich selber bewahren, so wird er dabei nicht die richtige Distanz zu derlei Dingen verlieren.
Ich möchte über das Hellsehen ein Wort sagen: Es mußte mich natürlich interessieren, über diese Art des Schauens meine eigenen Eindrücke zu gewinnen, ein Interesse, das allerdings sehr bald erlahmte. Eine Zeitlang aber suchte ich jede Somnambule, die sich zufällig in meinem Bereich fand, pflichtschuldigst auf und sammelte mir so ein ganz ansehnliches Material. Nun ist mir keine, die sich ohne eine Spur von Begabung als solche ausgegeben hätte, mithin keine absolute Schwindlerin begegnet — enorm geschwindelt haben sie dabei alle. Und ich wüßte nichts, was gerade der ungebildeten Klasse füglicher untersagt werden könnte, nichts, was zugleich unzweckmäßiger und gefährlicher für sie wäre, als das Konsultieren derartiger Wesen. Der Wust von Bildern nämlich, den der in den Trancezustand Versetzte schaut, kann mit dem Wust von Bildern, die vor dem Träumenden vorüberziehen, insofern gut verglichen werden, als hier wie dort die Dinge außerhalb ihres Zusammenhanges, ihres Rahmens, ihrer Kausalität, mithin der Wirklichkeit entäußert sich darstellen. Daß hier der Unerfahrene oder der Tor — statt den Weizen von der Spreu zu lösen — das Körnchen Wahrheit, das er etwa hält, zur Ladung Unsinn häufen muß, ergibt sich von selbst. Gesetzt, er vernimmt etwas sehr erstaunlich Zutreffendes, so wird leicht in ihm die Vorstellung entstehen, als sei hier eine deutlichere, eine geschärftere Sehkraft am Werke, während es mit dem Prozeß des Hellsehens gerade umgekehrt beschaffen ist; es ist gleichsam, als würden dem hellsehenden Individuum ein paar Nußschalen hart vor die Augen gebunden; undurchdringliche Schalen, die eine winzige Spalte in sich bergen. Durch diese nun gewahrt das seherische Auge aus Zeit und Raum herausgegriffene Bilder, Punkte, die zufällig in seinen Gesichtskreis fallen, was es da sieht, mag wahr sein, oder ist wahr; der Gran Wahrheit aber, der hier erfaßt wird, verhält sich zur Wirklichkeit wie das Blatt zum Baum, wie der Baum zum Wald. Der „ganze Schwindel“ bei einem hellsehenden Wesen von gewissenhaftester Ehrlichkeit bestünde ganz auf Seite dessen, der sich das Geschaute mitteilen läßt, indem er nämlich dem wesenlos Geschauten die — meist beliebige — Wesenheit aufoktroyiert.
Nehmen wir den Fall: Heinrich VIII., Catharina von Aragoniens müde und in Anne Boleyn verliebt, hätte sich zu einer Hellseherin begeben. Aus einer Flut verwirrter, unklarer Bilder wäre da etwa am deutlichsten das eines schönen Frauenkopfes und einer Krönung emporgetaucht. Wie hätte da Heinrich VIII. es nicht alsbald aufgegriffen und vergnügt auf Anne Boleyn bezogen? Was sich indes dem seherischen Auge darbot, das war vielleicht das Angesicht der Catharina Parr, Heinrichs sechster Frau, während alles, was dazwischen lag, die schaurige Vision gestürzter, enthaupteter Königinnen sich jenem Blicke entzog. Der scheinbar nicht Betrogene und der Betrüger wäre somit kein anderer gewesen als Heinrich VIII. selbst.
Genug. Sofern Traum wie Hellsehen zur Lehre der Idealität von Zeit und Raum bedeutsame Kommentare liefern, scheint es mir unüberlegt, daß wir dies Gebiet vorzugsweise der spekulativen Ader des niederen Volkes überlassen. Hier, wie fast zu allen geistigen Problemen, haben sich wohl die alten Griechen am richtigsten gestellt. Nicht alltägliche, sondern bedeutsame Träume bedeutender Männer schienen ihnen der Beachtung wert, und nicht für die gedankenlose Masse war das Amt der Sibylle ins Leben gerufen. Da solch schwermütige Talente einmal nicht aus der Welt zu schaffen sind, dürfte es sich lohnen, sie besser auszubilden statt verrohen zu lassen, wie es geschieht. Und wenn zur eigentlichen Prosa-Marke unserer Zeit das heutige Traumbuch gehört, das seinen entsprechenden Platz in der Küchenschublade gefunden hat, so wüßte ich dagegen nichts, was antiker anmuten könnte als jener Wahrtraum Bismarcks, einige Jahre vor der Schlacht von Königgrätz, den er Jahrzehnte später in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ beschreibt.
Neue Rundschau 1908.
Die zarten Blumen neigen sich zur Erde,
Die kühlen Grund den süßen Farben beut;
Und Dämmerung verbreitet sich und sinkt,
Sich sehnend nach Verzögerung,
Gleich einem letzten Blick.
Einsam erschauern da Glycinen,
Und Azaleen hauchen ihre Blüte,
So lau der feuchten Nacht entgegen!
Und nur die Rose läßt sich nicht betäuben.
Denn Rosen zieh’n des Nachts geheimnisvolle Kreise
Als wallten ihre Düfte träumend hin
Wo sie der sehnsüchtige Schimmer
Ruhloser Herzen lockt.
Doch kennen Rosen nur der Freude Schwingen,
Und mit der Göttin Tauben ziehen sie
Als Boten ihrer Huld. —
Wen ohne Gunst in ihrem Ringe
Die Liebe unfroh hält,
Nimmer scheinet ihm die Rose!
Tief entleuchtet seinen Träumen
Grausam, und auf starrem Grunde,
Nur der Sonnenblume brennend Aug!
Zeitler Almanach 1907.
Zu leugnen, daß es große Schriftstellerinnen geben kann, ist vielleicht erst in unseren Tagen wirklich unzulässig geworden, seit eine Frau von Genie wie Selma Lagerlöf zu Würden gelangte, die ihr die Zeit gewiß nicht rauben wird. Ja, im Gegenteil: ich bin überzeugt, ihr Ruhm wird Zeit ihres Lebens seinen Höhepunkt gar nicht erreichen können, ob auch schon viele das Fortlebende ihres nicht vielseitigen, aber so tragenden Geistes empfinden. Aber auch sonst möchte ich nichts gegen Schriftstellerinnen sagen. Es wäre unsolidarisch, denn eigentlich muß man mich auch so nennen. Was mir an Fachmäßigkeit fehlt, läßt doch meine Zünftigkeit bestehen, so daß ich mir über dieses Thema wohl einige Äußerungen gestatten darf.
Die Gefahr beim Schreiben ist natürlich die innere Verarmung. Produziert doch der Schreibende — ach! — so selten aus seiner Fülle, so häufig aus einem Mangel heraus. Getrieben, gezwungen mag er sich wohl fühlen, aber seltener durch seinen Überschwang denn durch seine Not! Von ihm gilt weit mehr noch, was Plato vom bildenden Künstler aufrecht erhielt: So herrlich seine Werke auch seien, möchte man nicht ihr Schöpfer gewesen sein. Aber tausendmal größere Pein hängt doch sicherlich an den Tragödien des Äschylus als an den Statuen des Phidias. Und wo ist das Buch, fesselte es uns noch so sehr, wo ist das Buch, das wir deshalb geschrieben haben möchten? Ich weiß keines. Ich hätte zu keinem den Mut.
Es muß doch endlich eingestanden werden, was für eine Qual das Schreiben ist. Der passionierteste Dichter wird mir hierin beistimmen; eine gesunde Qual, eine Qual, ohne die er nicht leben könnte; zugegeben; aber eine Qual. Ist das Musizieren nicht eine Lust? Ist das Malen nicht beglückend? Es benimmt der Kunst des Bildners sicher nichts von ihrer Schwere, daß die Natur ihm so sehnsüchtig entgegenkommt; aber sein Wesen, seine Vitalität bleibt von seiner Schaffensmühe unbelastet: außerhalb seines Ateliers feiert er wirklich. Nur den wenigsten Schriftstellern hingegen fällt nach der Arbeitszeit die Tür ihrer Werkstatt wirklich ins Schloß. Die Maschine, einmal in Betrieb gesetzt, fährt auch ins Leere zu arbeiten fort, und es entsteht der Literat, jenes oft so zerquälte und so ermüdende Geschöpf. Der produktive, schon der reproduktive Mensch ist ja vielfach mehr als der Müßige gefährdet. Bête comme un ténor heißt doch nicht, daß einer dümmer ist, weil ihm die paar Töne im Halse sitzen, sondern, daß er sich von dieser erfreulichen Beschaffenheit seiner Kehle überbieten ließ und in seiner Gesangskunst den Mittelpunkt aller Dinge erkennt. Wenn nun schon sein Gleichgewicht öfter als nicht durch sein Talent bedroht wird, was ist vom Dichter zu gewärtigen, an den die ungeheuerliche Forderung ergeht, Mann und Weib in einer Person abzugeben, aus dem Nichts zu schaffen, das Konzipierte selber auszutragen, ein Wagnis, bei dem der Einsatz des Individuums so gewaltig ist.
Und gar die Dichterin! Das Gewaltsame entspricht doch wenigstens bis zu einem gewissen Grade dem Wesen des Mannes, und das Feminine liegt ihm nie so fern wie der Frau das Maskuline. Bei, ihr schillert die Aufgabe, sich fremde Wesenselemente abzutrotzen, von vornherein arg ins Groteske hinüber. Es ist zu schwer, die Überforderung ist zu groß! Was Wunder, wenn sie bei der gefährlichen Arbeit unter die Maschine gerät, ein Arm und ein Bein ihr abhanden kommt, und jenes Strafgericht sie ereilt, von dem schon im alten Mythos die Rede ist. Denn nicht nur, heißt es da, hätten uns die Götter dereinst gespalten, daß wir, statt über vier Beine und vier Arme zu verfügen, auf die Hälfte unseres ursprünglichen Seins angewiesen wurden, sondern es könne wohl geschehen, daß die also beraubte und reduzierte Kreatur, nicht mehr aus Übermut zwar, aber aus Mangel und Sehnsucht heraus, sich zum Schöpfer erhebe und von neuem die Götter reize. Und diese, in ihrem Zorn, würden sie zum zweiten Male spalten, daß sie, zur Profilgestalt geschwunden und nach Art der Zikaden dahinhüpfend, ihr dürftiges Dasein verlebe.
Der Mann hat für die Kategorie der mehr intellektuellen als intelligenten Frauen den Namen Blaustrumpf ersonnen. Bezeichnenderweise (mehr bezeichnend vielleicht als bewußt) wird für sie auch in den anderen Sprachen stets nur auf ein Bein Bezug genommen: der Bas bleu, der Blue stocking, nirgendwo scheint er ein Paar Strümpfe zu benötigen.
Dabei vergaß aber der Mann, daß er selbst ein Gegenstück zu dieser Spezies stellt, wenn er sich, wie so häufig geschieht, als Literat von seinem Schreibtisch weg unter die Menschen begibt, Menschen und Dinge in seinen unlebendigen Gesichtspunkt rückt, und ihrer Perspektive entzieht. Die Literatur läuft in sehr schwanken Brücken aus, die leicht aus der Welt statt tiefer hinein führen. Wir sind die Gefährdetsten. Unsere Unzugänglichkeit ist keine einfache Sache, auch lange nicht so sympathisch wie etwa die Borniertheit ungebildeter Leute, die keine höheren Interessen haben. Unsere Dummheit wird durch Gedankensplitter, die doch keine Gedanken sind, durch Wissen, Bildung, ja mitunter durch eine ausgesprochene Geistigkeit erschwert, wie komplizierte Knochenbrüche, denen so schwierig beizukommen ist. Und das Schriftstellern wird uns dann zur Klippe, an der wir sehr naturgemäß zerschellen; Denn Schreiben ist Unnatur. Nur die ganz Reichen können das ominöse Wagnis ohne Schaden an sich selbst bestehen und sich noch zurückbehalten. Wir andern — und ich muß schon die Herren bitten, auch mit in die Reihe zu treten — seien wir auf der Hut, wir andern! Denn nichts ist leichter, als sich in dem Wettlaufen um das Zuviel-sein-Wollen ein Bein auszulaufen und zum Schemen, zur Profilfigur zu verarmen.
1913.
Avec la richesse commence l’avarice, sagt Balzac in seinen Illusions perdues.
Der Geiz scheint jedoch nicht zur Beobachtung zu reizen, und außer Molière und Schopenhauer haben sich nur die allerwenigsten mit diesem hochinteressanten Laster eingehend befaßt. Auch soll hier keineswegs von seinen ungeheuerlichen Auswüchsen die Rede sein, sondern vom Geiz in seinem normalen Verlauf, wie die Ärzte sagen.
Vor allen Dingen glaube man nicht, das Geld sei etwas Totes. Es ist ganz Wahlverwandtschaft, ganz Antipathie, ganz Selbsterhaltungstrieb, ganz „Seele“ (auf seine Art). Ja, dem Gelde entströmen atmosphärische Schichten, die sich in feine, aber undurchsichtige Schleier zerteilen, um sich über das Gemüt des Reichen zu lagern. Es ist, als schöbe sich ein Milchglas trennend zwischen ihn und seine Welt. Mag der Trinker vom Weine noch so sehr umnebelt sein: daß er ein Trinker ist, darüber ist er sich klar. Der Lügner weiß von seiner Verlogenheit, der Zornige von seinem Haß. Aber der Geiz spinnt so feine und undeutliche Fäden, daß der von ihm Betroffene ganz im Unklaren über sich selbst verbleiben darf. Dem Geizigen steht überdies ein Überfluß an Mänteln und Mäntelchen zu Gebote, die ihm sein Spiegelbild bis zur Unkenntlichkeit maskieren, wobei immer nur er selbst, niemals die anderen über seine wahren Züge mystifiziert werden. Man denke sich die Freudsche Methode, die meist einer so sinnwidrigen Anwendung verfällt, einmal auf verhärtete Geizhälse angewandt. Einer psychoanalytischen Behandlung unterzogen, würden diese Patienten am Ende gar kuriert vor Schreck über die Entdeckungen, welche sie an sich selber zu machen hätten.
Ein Grund ihres Selbstbetruges liegt darin, daß sie nicht selten mit Vorliebe geben; ja Geschenke zu machen — freilich niemals entsprechende — kann bei dem Geizigen fast zur Marotte werden. Denn er weiß so gut wie ein anderer, daß Geben seliger ist als Nehmen, und er hat es so gut wie der Freigebige an sich erfahren. Und weil er auch — denn er will Alles haben — des Gebens froh werden will, gibt er nochmal aus seinem Geiz und seiner Habgier heraus. Und darum schenkt auch er. Aber dabei rächt sich alsbald sein Laster an ihm und bindet seine Hände, daß er nicht frei—gebig d. h. nicht frei wird zu geben wie er möchte, und schließt ihn wie mit eisernen Fäden in immer engere Gefangenschaft, bis seine Miene den inneren Bann, dem er verfiel, auch äußerlich verrät.
Wer wollte denn auch leugnen, daß geizige Leute häufig zu bedauern sind, und zwar je mehr sie sich bereichern, da ein Zuwachs ihrer Habe eine Verhärtung ihres Geizes unerbittlich zur Folge hat. Wobei ihm die fremde Schlechtigkeit vielfach Grund für sein Verhalten zu bieten scheint. Denn ein sehr reicher Mensch ist ja schlechten Erfahrungen in schlimmster Weise ausgesetzt. Die anständigen Leute werden es ja nicht sein, die sich an ihn herandrängen — seine guten Erfahrungen bleiben somit negativ — während er die miserabelste Sorte aus nächster Nähe kennen lernt. Kein Wunder, daß manch vertrauendes und großmütiges Herz karg und mißtrauisch wurde. Es kommt unversehens. Der Geiz hat eine unheimlich schnelle Reife. Dann aber läßt er seine Opfer nicht mehr los. Er hat nur eine aufsteigende Linie. Er kennt keinen Verfall, und er kann nicht sterben.
Das Trübseligste erlebte ich einmal auf der Reise von seiten einer alten kinderlosen Dame, deren Nichte mich gebeten hatte, ihr Nachricht zukommen zu lassen, denn die Greisin schien sich um ihre sämtliche Verwandtschaft nicht mehr viel zu kümmern. Sie lebte fern von ihr in einer fremden Stadt, und hatte es glücklich auf 86 Jahre und 50 Millionen gebracht. Ich traf sie in ihrem wundervollen Haus, umgeben von Bildern und Schätzen. — In ihrem Lehnstuhl vergraben, klagte sie, daß ihr das Schreiben schwer fiele und erkundigte sich alsbald mit der wärmsten Anteilnahme nach der Schar ihrer Nichten, Groß- und Urgroßnichten, insbesondere nach einer gewissen „Hertha“, ihrem Patchen, das sie am innigsten liebte. Um die handelte es sich eben: ich malte also die blasse Schönheit dieser Hertha in den leuchtendsten Farben hin und erzählte sodann, daß die Ärzte einen längeren Aufenthalt in Egypten sehr ratsam für sie hielten.
„Ja mein Gott,“ forschte sie ganz bestürzt und voll aufrichtiger Besorgnis; „wird sich denn das pekuniär machen lassen?“
„Schwer,“ erwiderte ich.
Mehr zu sagen stand mir natürlich nicht zu. Derselbe Gedanke war zwar gleichzeitig in uns aufgestiegen; aber nichts von Unentschlossenheit malte sich in dem Gesichte der Greisin — (viele Jahre früher hätte sie wohl noch gezaudert) — nur Schatten des Grames breiteten sich über ihr melancholisches Gesicht. Hier war wieder einmal ein ursprünglich goldenes Herz vom Geize gelähmt.
Seufzend sprach sie jetzt von ihrem nahen Tode, von der Verlassenheit und den Enttäuschungen eines zu langen Lebens. Während wir uns unterhielten, trat die Jungfer ein und fragte leise, ob sie das Töchterchen des Kutschers, das heute das Haus verließ und in die Lehre zog, einen Augenblick einlassen dürfe. Die alte Dame empfing das Kind voll Güte und Wohlwollen, und als es dann schied, hielt sie es noch einmal zurück. Schränke, Kästen und Truhen wurden nun durchgesehen, aufgeschlossen und dann wieder abgesperrt. Ein Heer weißer Schachteln in Seidenpapier, umwickelte Päckchen und Pakete kamen dabei zum Vorschein. Aber die Dame zog bald diese bald jene Schieblade zu Rat, ohne sich entscheiden zu können. Die Kleine stand indes mitten im Zimmer und wartete, wie man es ihr gesagt hatte. Plötzlich flog ein Schein, eine schnelle Röte über ihr Gesicht. Gleich darauf wandte sie erblassend den Blick nach einer anderen Seite hin. Aber ich war ihm schon gefolgt und gewahrte ein schwarzes Ledertäschchen, das die Greisin gerade in Händen hielt, öffnete und untersuchte. Innen mit dunkelroter Seide ausstaffiert und mit Nähutensilien angefüllt, zugleich verschiedene Fächer enthaltend, war es wohl der kühnste Traum von einem Täschchen für eine kleine Nähmamsell; im übrigen nichts Kostbares, sondern ein schöner Dutzendartikel aus einem Warenhaus. Aber nicht lange, und die Besitzerin hüllte es wieder ein. Ihre Hände waren gebunden, und sie konnte das Täschchen, das um eine Idee zu schön für die Kleine war, nicht spenden. Diese stand unbeweglich mitten im Zimmer, aber der Strahl in ihren Augen war erloschen. Die Alte kramte indes in einem anderen Fach und zog ein silbernes Armband hervor, auf dem „Gott mit Dir“ in schwarzen Lettern eingetragen waren, und damit entließ sie die enttäuschte kleine Mamsell.
Die Geberin saß nun wieder in ihrem Lehnstuhl zusammengesunken und schaute mit einem blassen, vergrämten Gesicht vor sich hin. Ein Fest war ja der kleine Zwischenfall mit dem häßlichen Armband, darauf „Gott mit Dir“ in schwarzen Lettern prangte, für niemanden gewesen, und ein gesteigertes Bewußtsein hatte sich der Geberin unmöglich mitteilen können, vielmehr die Öde des Ereignislosen. Es hatte sich nichts ereignet. Die Kleine war nur um eine gewaltige Freude betrogen worden, und die Alte, die gern Freude bereitete, wußte es genau; und wußte ebenso wohl, daß sie niemals anders verfahren würde, selbst wenn sie das Kind noch einmal zurückriefe. Nebenan hub jetzt ein Papagei, von der kleinen Passantin aufgeschreckt, zu schreien und über die Unerfreulichkeit der Welt zu schimpfen an. Schräge Strahlen ergossen sich durch die weit geöffneten Fenster (die größten der Stadt) und über die prachtvoll weichen Farben der Teppiche, der Leuchter aus altem Kristall, der goldumränderten Schalen und silbernen Dosen. Dennoch lag etwas Drückendes, in seiner Öde unerträglich Akzentuiertes, ja Unheimliches in der Atmosphäre dieses Raums. Und plötzlich war mir, als befände ich mich ganz allein, als sei die halb erloschene Greisin vor mir schon verblichen und nur mehr ein Schemen. Es fehlte ja so wenig! All die Päckchen und Pakete, die sich in tadelloser Ordnung in ihren Kästen und Truhen häuften, waren ja schon fast herrenlos. Und nicht die kleine Nähmamsell, nicht einmal die Nichte Hertha schien mir mit einem Male beklagenswert, sondern die sonst so kluge, ja sympathische, die unbegreifliche alte Dame, die rettungslos in die Falle geraten war, welche der Geiz den Besitzenden stellt.
Sie starb bald darauf. Und da ihr Geiz eine lange Geschichte hatte, ragte er denn auch weit über ihr Leben hinaus. Sie hinterließ ihr Vermögen ihren reichen Verwandten, den weniger bemittelten, der Großnichte Hertha, die ihrem Herzen so nahe stand, unbedeutende Legate.
Neue Rundschau 1911.
Es gibt Menschen, welchen das Schicksal die volle und glückliche Auslösung ihrer Fähigkeiten so sehr verkürzt, daß wir ihnen nur gerecht werden, indem wir neben ihren Betätigungen auch ihre Möglichkeiten ins Auge fassen. Zu ihnen gehört die älteste Schwester Friedrichs des Großen, Wilhelmine, Markgräfin von Bayreuth.
Ihre Mutter, die Königin Sophie Dorothea von Preußen, versah sich nur in den Mitteln und Wegen, nicht aber in der Höhe der für ihre Tochter angestrebten Ziele; denn wäre diese wirklich Königin von England geworden, ihr Name stünde heute unzweifelhaft als der einer großen Regentin in der Geschichte verzeichnet. Elle aurait certainement compris les grandes Affaires, wie Lavisse von ihr sagte. Ihre oft gerügte Unkenntnis der politischen Konjunkturen, wie ihr Mangel an historischem Überblick rührten nicht von mangelndem Verständnis, sonder von mangelnder Schulung her; sie hat diese Lücke später aus freien Stücken so wohl zu ersetzen gewußt, daß Friedrich, der nicht leicht etwas aus der Hand gab, sie während der schwierigsten Phasen des siebenjährigen Krieges sehr heikler Unterhandlungen walten, mit Vertretern fremder Nationen verhängnisvolle Fäden anknüpfen, selbst diplomatische Instruktionen erteilen ließ. Für sie fand der große Spötter Voltaire nur Worte der Anerkennung, und für Friedrich blieb sie die Unvergeßliche, deren Andenken er wie kein anderes gefeiert hat. Seine hohe Meinung von ihrem Werte sollte jedoch von der Nachwelt nicht unwidersprochen fortbestehen; vielmehr wurde durch die Veröffentlichung ihrer Memoiren, so fesselnd und geistvoll sie sind, das Urteil späterer Geschichtsschreiber in vielfach ungünstiger Weise bestimmt.
Die Denkwürdigkeiten der Markgräfin von Bayreuth erschienen zum ersten Male in Tübingen, und zwar in deutscher Übersetzung, von Dr. Cotta herausgegeben, und umfaßten die Jahre 1709 bis 1733. Im selben Jahre veröffentlichte von Osten in Braunschweig das von 1706 bis 1742 führende französische Original. Zeit und Ort des Erscheinens: das Jahr 1810 und die preußenfeindlichen Rheinbundstaaten verrieten nur zu deutlich, wie sehr mit der Publikation dieser höchst interessanten, mitunter aber sehr verblüffenden Mitteilungen eine sensationelle Wirkung beabsichtigt war. Der Streit entspann sich fürs erste zwischen beiden Herausgebern, von welchen sich jeder darauf berief, der alleinige Besitzer des Originalmanuskripts zu sein. Da sich aber beide Handschriften in der Folge als Kopien erwiesen, mußte die Echtheit der Memoiren bis zu dem Tage angezweifelt werden, an dem Pertz im Jahre 1848 das wirkliche Originalmanuskript der Markgräfin bei einer Bücherversteigerung entdeckte. Es stammte aus dem Nachlaß ihres ehemaligen Leibarztes Dr. von Superville, war, dank einer Abschrift, durch die Braunschweiger Ausgabe schon veröffentlicht worden, und brach wie dieses mit dem Jahre 1742 ab. Zugleich führte es aber bis ins Jahr 1754, da es auch mit dem Vermerk: ceci ne doit pas être imprimé das versiegelte Tagebuch aus Italien enthielt. In den Memoiren fanden sich viele noch ungedruckte Stellen vor; mehrere Blätter waren herausgerissen, oder durch Alter beschädigt und nicht nur zahllose einzelne Stellen durchstrichen, sondern ganze Seiten verworfen, und durch einen neuen Text ersetzt. Jeder Zweifel an der Echtheit der Memoiren war nunmehr behoben, und es erübrigte sich nur mehr die Frage ihrer Glaubwürdigkeit. Daß sie durch Legat in die Hände Supervilles gelangt waren, ist zwar behauptet, jedoch nie mit Sicherheit erwiesen worden; so wenig wie der Ursprung all der Abschriften, die schon früh in Umlauf kamen; entsprach es doch der Sitte der damaligen Zeit, mit Manuskripten hoher Persönlichkeiten allerlei Mystifikationen und Mißbräuche zu treiben. Weder für die Verantwortlichkeit der Markgräfin in Hinsicht der Verbreitung ihrer Memoiren noch der Zeit ihres Entstehens, haben sich trotz aller Nachforschungen bestimmte Angaben ermitteln lassen. Die Feststellung gerade dieser negativen Resultate aber ist für die Beurteilung der Markgräfin von großer Wichtigkeit, besonders wo es sich, wie hier, um die mit so mannigfachen Streichungen, Umarbeitungen und Zusätzen versehene, spätere Redaktion der Denkwürdigkeiten handelt, wobei zwar ihr Talent gereifter und glänzender zu Tage tritt, ihr Urteil aber um vieles härter und schonungsloser zum Ausdruck kommt. Denn verglich man dieses Urteil mit brieflichen Äußerungen der Markgräfin aus derselben Zeit, so ergaben sich bedenkliche Widersprüche, und nicht nur chronologische Irrtümer, sondern nachweisbare Entstellungen von Tatsachen und Briefen. Da mußte es denn nahe liegen, daß man über die Verfasserin ziemlich formell zu Gerichte saß, sie der Doppelzüngigkeit und Verlogenheit zieh, die Aufmerksamkeit auf ihre politische Ahnungslosigkeit sowie ihre Unkenntnis historischer Vorkommnisse lenkte und damit ihre Person, und zum Teil ihre Memoiren für erledigt hielt.
Wird sie von Ranke mit ziemlicher Kälte ihres Weges beschieden, so schlägt Droysen schon fast den Ton des Staatsanwaltes ihr gegenüber an, welcher dann bei Onckens Schüler Bernbeck pflichtschuldig in Grobheit ausartet.
Sein Ton kontrastiert lebhaft genug mit der ritterlichen Weise Carlyles, dem Wilhelmine zwar die „schrille Prinzessin“ ist, der nie müde wird, auf ihre Übertreibungen hinzuweisen; wo er sich auf ihre Aussagen beruft, das „Verkleinerungsglas“ nie aus der Hand legt, und dennoch ein so edles Bild von ihr festhält. Und es zeigt sich heute, da wir gelernt haben, eine weniger summarische Psychologie zu treiben, wie sehr er ihr gerade in seiner Parteilichkeit gerecht wird.
Um sie zu verdammen, wären Daten erforderlich, die uns wahrscheinlich für immer entzogen sind, da ihre Memoiren bedauerlicherweise unvollendet blieben. Wir wissen nur, daß zwei Fassungen derselben bestanden, — das Original der früheren ging verloren — daß die spätere in durchaus schärferem und boshafterem Sinne umgearbeitet wurde, und daß zwischen beiden Redaktionen Jahre liegen. Es fragt sich nur, wie Fester hervorhebt, welche Jahre.
Die Markgräfin nennt uns für ihre Memoiren ein einziges Datum, nämlich: das Jahr 1744, als dasjenige, in welchem sie die Schilderung der Eremitage entwirft. Weitere Schlüsse lassen sich nur noch aus einer Stelle ziehen, welche den Tod des Fürsten Leopold von Dessau, der im Frühling des Jahres 1747 fiel, voraussetzt. Fester nimmt als Zeit der Abfassung die „Jahre der Erbitterung“ 1742—1747 an, während ihrer Entfremdung und vor ihrer Aussöhnung mit Friedrich; und keine Vermutung könnte glaubwürdiger sein, als daß die Markgräfin gerade in jenen Zeiten innerster Verlassenheit Trost und Ablenkung in ihren Erinnerungen suchte, dabei aber die Not des Augenblickes auf lichtere Tage übertrug, und Vergangenes mit den Schatten der Gegenwart übermalte.
Bisher war immer noch Sonne in ihrer „carrière d’adversité“. Ihre wechselvollen und durchkreuzten Pfade sind stets von der großen, fast ausschließlichen Liebe ihres Bruders, später der ihres Gatten erhellt. Als sie sich mit diesem durch fremde, mit jenem größtenteils durch eigene Schuld zerworfen, und ihrer Familie entfremdet fühlte, da suchte sie einen imaginären Halt in ihrer eigenen Erbitterung. Über diese selbst sich uns mitzuteilen, versagte ihr jedoch der Mut, und so entnehmen wir ihre ferneren Schicksale ihren Briefen und den Briefen ihres Bruders.
Eine merkliche Kühle zwischen den Geschwistern war schon seit Friedrichs Thronbesteigung eingetreten. Die herrische Haltung, in die Friedrich als junger König verfiel, der Abstand, der sich jetzt zwischen seiner und ihrer Stellung geltend machte, ihr unbefriedigter Ehrgeiz, dies alles quälte die Markgräfin schon lange. Aber äußerlich stand alles noch beim Alten, als Friedrich im September 1743 zum Besuch der Schwester in Bayreuth erschien. Zwar konnte er nur kurz bei ihr verweilen und mußte politische Nebenabsichten mit dieser Reise vereinen, da er bei den süddeutschen Reichsfürsten eines Rückhaltes gegen Österreich bedurfte, ließ aber seinen Hofstaat, seine Sänger, seinen Bruder, den Prinzen August Wilhelm, und vor allem Voltaire bei ihr zurück. Dieser sollte nun der wahre Mittelpunkt all der Festlichkeiten werden, die jetzt auf kurze Zeit das stille Bayreuth mit so viel Glanz und Leben überzogen, und in diesen froh bewegten Tagen fühlte sich die geistvolle und gesellige Fürstin in ihrem Elemente; einem Manne wie Voltaire mußte sie sich in ihrem besten und zugleich wahrsten Lichte zeigen. Sie war nichts für Philister, für einen bedeutenden Verkehr aber wie geschaffen. Wies doch ihr eigener Geist nichts von den Halbheiten und Unzugänglichkeiten auf, die selbst bei talentierten Frauen nicht selten verdrießen: er war vom Besten wie edler Wein.
So mußte ihrem großstädtischen Sinn die froh bewegte, wohl etwas geräuschvolle Note, die während Voltaires vierzehntägigen Aufenthaltes in dem abgelegenen Städtchen anschlug, von Grund auf zusagen, als jedoch Friedrich zurückkehrte und mit dem ganzen glänzenden Gefolge wieder von dannen zog, sollte sie auf lange verklungen sein.
Schon wenige Monate später entstand zwischen der Markgräfin und dem König Friedrich das große Zerwürfnis. Der Markgraf hatte sich vor Jahr und Tag in eine ihrer Damen, Fräulein von Marwitz, verliebt, und trug jetzt seine Neigung immer offener zur Schau. Wilhelmine fühlte sich durch seine Untreue nicht nur ins Herz getroffen, sie empfand sie in ihrem Stolze als eine nicht zu verwindende Schmach. Sie setzte indes, wohl um die Rivalin zu entfernen, deren Heirat mit dem österreichischen Grafen Burghaus durch. Hiermit brach sie aber, wie man aus den Memoiren ersehen wird, ein ihrem Vater, dem König Friedrich Wilhelm gegebenes Versprechen, und beschwor zugleich den Bruch mit Friedrich herauf, dessen Interessen durch diese Ehe in rücksichtsloser Weise mißachtet wurden. Die gehoffte Entfernung der Marwitz unterblieb, der österreichischen Partei aber, deren Einfluß Friedrich bei seinem Besuche in Bayreuth schon wahrgenommen hatte, ward durch diese Ehe ein neuer Vorschub gewonnen. Die Markgräfin stand nun bald vor aller Welt in einem sehr zweideutigen Lichte. Als sie vollends der zur Krönung nach Frankfurt ziehenden Maria Theresia huldigend entgegen kam, mußte dies nicht nur bei ihrem Bruder, sondern bei allen ihren Angehörigen Entrüstung hervorrufen. Für die feindlichen Strömungen am Bayreuther Hofe, wie für die anti-preußischen Presse-Äußerungen in ihrem Lande, wurde sie nun verantwortlich gemacht. Aber sie schien alles, selbst die gehaßte Nähe der Burghaus-Marwitz eher zu ertragen, als daß sie es über sich brachte, durch einen Skandal das offene Zugeständnis dessen zu geben, was doch alle Welt seit Jahren wußte und besprach. Je einfacher ihre Motive gewesen waren, desto komplizierter und rätselhafter wurde jetzt ihr Verhalten, so daß zuletzt selbst Friedrich irre an ihr wurde. „Une vraie querelle d’amants“ hat Lavisse ihr Zerwürfnis genannt. Und in Wahrheit konnte nur die tiefste innere Zusammengehörigkeit einer so andauernden Entfremdung standhalten. Die spärlichen Briefe, die Friedrich während der folgenden Jahre an die Markgräfin richtet, sind meist diktiert; nur hin und wieder gibt ihr ein Vorwurf oder eine grimmige Anspielung zu verstehen, wie schwer Friedrich den Verlust dieser Freundschaft empfindet. Wilhelminen mag er in ihrer inneren Verlassenheit wohl noch schmerzlicher gefallen sein. Dennoch wurde beiderseits nichts unternommen, die stets größer werdende Kluft zu überbrücken. Ohne die freundliche Vermittlung des Prinzen August Wilhelm hätten sie den Weg zu einander wohl nie wieder gefunden. Durch ihn wurde im Jahre 1746 endlich eine Versöhnung der Geschwister angebahnt, und im Spätsommer des folgenden Jahres folgte Wilhelmine einer Einladung Friedrichs nach Berlin. Was sie ihm auch jetzt noch verschweigt, verraten ihm ihre abgehärmten Züge und ihre Erschöpfung; und mit seinen durchdringenden Augen sieht er Dingen auf den Grund, die auch die letzten Schatten seines Grolles verscheuchen.
Wilhelmine hatte bei ihrer Abreise die Burghaus todkrank zurückgelassen und glaubte sich auf immer von ihr befreit. Statt dessen tritt diese der zurückkehrenden Markgräfin wohlbehalten und triumphierend entgegen. Es kommt nun doch zu der so lang vermiedenen Szene. Die Burghaus sieht sich zwar genötigt, das Schloß zu räumen, bezieht aber dafür, auf Kosten des Markgrafen, eine Wohnung im Gesandtschaftspalais. Ihr Gatte war ruiniert, ihr eigenes Vermögen aber, infolge ihrer Heirat mit einem Österreicher, die einzig und allein Wilhelminens Werk gewesen war, gesetzmäßig eingezogen worden. Diese entschließt sich nun endlich, ihren Bruder zu Hilfe zu rufen; er allein kann sie aus ihrer Lage retten. Der Brief, in dem sie ihm gegenüber die Sachlage erörtert, ist noch gewunden genug, aber Friedrich weiß jetzt längst, welches Geständnis aus ihren gepreßten Worten und zwischen den Zeilen ihrer Briefe herauszulesen ist, und er zögert keinen Augenblick, ihr beizustehen: der Burghaus wird ihr väterliches Erbe ausbezahlt unter der Bedingung, daß sie Bayreuth sofort verläßt. Die unerquickliche Episode findet somit ihr Ende.
Sie hatte zu lange gewährt, und einen so finsteren Ring um Wilhelminens Leben gezogen, daß die elastische, trotz aller Lamentos so frohlaunige Fürstin daran zerschellte. In immer schlimmere Widersprüche geratend, mit der Feindin befreundet, den Freunden verfeindet, läßt sie heterogenen Einflüssen ungehinderten Lauf, ihr Gemüt aber bis zur Krankhaftigkeit sich steigern, indem sie eine unerträgliche Situation, die sie als inavouable empfindet, scheinbar nicht bemerkt.
In diesem Konflikt einer Selbstlüge, nicht in ihrem Charakter ist das Geheimnis ihrer vermeintlichen Verlogenheit zu suchen, wie ihrer vermeintlichen Härte und Herzlosigkeit, und der wahre Grund so mancher Widersprüche zwischen ihren Memoiren und ihren Briefen. Ihre bitteren Ausfälle gegen Friedrich aber stimmen ebenso gut zu ihrem Verhalten während jener Jahre der Entzweiung, als sie mit ihrem späteren kontrastieren. So war es, in Ermanglung aller Gegenbeweise, eine Zubilligung, ihre Memoiren in eben diese Jahre zu verweisen.
Dazu kommt, daß selbst den klügsten Frauen nicht entfernt dasselbe scharfe Gefühl für die starke Realität des geschriebenen Wortes innewohnt, wie dem Manne. Bei aller Begabung, die aus dem Buche der Markgräfin hervorleuchtet, steht sie sich dabei doch sehr im Lichte, weil es ihr zwar nicht an literarischem Talente, aber ganz und gar an literarischer Perspektive fehlt. Der schöne Nachruf Friedrichs des Großen an seinen Vater ist darum nicht minder schön, weil darin auch nicht eine Spur jener Subjektivität zu finden ist, mit welcher doch auch Friedrich sich seinerzeit brieflich über seinen Vater ausläßt. Es ist darum nicht minder schön und nicht minder empfunden, weil Friedrich das Gefühl für die objektive Wirkung dieses, auch für ihn selbst so ehrenvollen Nachrufes in sich trug. Der innere Vorgang ist hier so einfach, daß es sicher kein Kalkül, kaum ein Bewußtsein zu nennen ist, daß es vielmehr einem Manne kaum begreiflich scheinen muß, wie er bei einer so überragenden Persönlichkeit wie der Markgräfin davon absehen soll.
Um ein wahres Bild von ihr zu gewinnen, dürfen wir der Umgebung, von welcher es sich so mächtig abhebt, nicht vergessen. Hier hat sie sicherlich nicht übertrieben. Sie war, noch sehr jung, nach all den großartigen Aussichten, mit welchen sie aufwuchs, in ein Provinz-Städtchen und in eine geistige Öde verschlagen worden.
Wenn wir von Voltaires kurzem Aufenthalt in Bayreuth und den paar Besuchen und Gegenbesuchen zwischen ihr und Friedrich absehen, war die Anregung im Leben der Markgräfin sehr gering. Nur durch sie ward in ihrem Ländchen für Architektur und Musik, für Kunst und Wissenschaft ein Boden gewonnen, und ohne sie wäre die kulturelle Geschichte Bayreuths ein leeres Blatt. An dem adeligen Stempel, den sie dem Städtchen aufdrückte, hat ihr liebesfroher Markgraf keinen Teil. Und sie war es, welche Bayreuth „créierte“.
Volle Würdigung ihrer Interessen wie ihrer Initiative findet sie hier nur bei ihrem Leibarzt von Superville, der ihr seine reichen Fähigkeiten und sein organisatorisches Talent zu Diensten stellt, ihr die Gründung der Universität Erlangen ermöglichte, und ihr neun Jahre hindurch als Freund und berufener Ratgeber zur Seite steht. Daß sein Sturz sich um dieselbe Zeit ereignete, in welcher die Burghaus aus Bayreuth verwiesen wurde, hat zu der Hypothese geführt, Superville habe sich als Arzt die Freiheit genommen, den Markgrafen zu warnen, daß er seine Liaison mit der Marwitz auf die Dauer nicht aufrecht halten könne, ohne an die zerrüttete Gesundheit der Markgräfin gefahrvolle Zumutungen zu stellen. Gewiß ist, daß sie Superville aufs wärmste an ihre Schwester, die Herzogin von Braunschweig, anempfahl, an deren Hofe er bis zu seinem Ende verblieb. Die Bedeutung dieses Mannes scheint übrigens größer gewesen zu sein wie sein Prestige. Falls sie ihm wirklich das Originalmanuskript ihrer Memoiren zum Vermächtnis machte, scheint sie sich gewisser wenig schmeichelhafter Stellen betreffs seiner nicht mehr erinnert zu haben, eine Vergeßlichkeit, die wieder darauf hindeuten würde, wie wenig sie sich in ihren letzten Jahren mit ihren Memoiren befaßte.
Es brach durch ihre Versöhnung mit Friedrich eine so andere Zeit für sie an, so wenig geeignet, sie weiterhin zu Rückblicken anzuregen. In den Jahren 1750 und 1753 verweilt sie wieder auf einige Zeit zu Besuch ihres Bruders in Berlin, 1754 besucht er sie zum letzten Male in Bayreuth, und im Herbst desselben Jahres tritt sie ihre langersehnte Reise nach Italien an. In Lyon kommt sie wieder mit Voltaire zusammen; sie hat besser als ihr Bruder die Regungen seines Herzens durchschaut, das die Bewunderung für den großen Friedrich so wenig als die erlittene Kränkung verwinden konnte, und sie versteht es, neue Brücken zwischen ihnen anzubahnen. Mit ihrer Reise nach Italien, das sie mit so offenen Augen betrachtet hat, ist dann das Register ihrer sonnigen Tage geschlossen. Wenn aber sieben Jahre der Entfremdung ihre Liebe zu Friedrich nicht ertöten konnten, so steigert sie sich jetzt, da seine Lage immer bedrängter wird, ins Heroische, und nicht länger darf sich Maria Theresia der Sympathien seiner Schwester rühmen: Wilhelmine politisiert, intrigiert und vermittelt, sucht durch Folard, den Vertreter Frankreichs, an mehreren deutschen Fürstenhöfen, durch Voltaire, den sie in Bewegung setzt, auf den Frieden hinzuwirken. Dem König ist ihre starke Anteilnahme eine Stärkung und ein Trost. Als er im Jahre 1757 im scheinbar aussichtslosen Kampf wider die Übermacht seiner Feinde den Selbstmord ins Auge faßt, schreibt ihm Voltaire auf Wilhelminens Bitte den zwar inspirierten, aber von prachtvoller Empfindung getragenen Brief, um ihm von diesem Vorhaben abzuraten. So knüpft sie überall Fäden an, mit unverkennbarem Geschick, wenn auch aller Erfolg jenseits der Tage liegt, die ihr noch beschieden sind. Ihrer Sorge um den König vermögen ihre aufgezehrten Kräfte nicht mehr lange zu widerstehen. Man ist in Berlin über ihren Zustand unterrichtet, und sie selbst weiß, daß keine Rettung für sie ist; nur Friedrich bringt es nicht über sich, der traurigen Tatsache ins Auge zusehen, und ihm verhehlt sie ihre Lage, wie er selbst sie über die eigene zu täuschen sucht. Denn beide wissen nur zu gut, was das Los des einen dem anderen bedeutet. „Auf meinen Knien“, schreibt ihr Friedrich, als könne sie über ihr sinkendes Leben gebieten, „bitte und beschwöre ich Dich zu tun, was Du nur tun kannst, um dieser Krankheit zu entrinnen; iß, nimm die Arzneien, folge blindlings den Anordnungen Deines Arztes. Denke, daß Dein Tod mich zur beklagenswertesten Kreatur der Erde machen würde.“
Seinen letzten Zuruf, den er zwei Tage vor ihrem Tode an sie ergehen läßt, vernimmt sie nicht mehr. Sie stirbt am 14. Oktober 1758, um dieselbe Stunde, zu der Friedrich die schwere Niederlage bei Hochkirch erleidet.
Die Welt kennt den Nachruf, den er ihr widmet, weiß von dem Freundschaftstempel mit den korinthischen Säulen, den er im Park von Sanssouci zu ihrem Gedächtnis errichten ließ. Bis zu seinem Lebensende pilgerte er gerne zu dieser Stätte hin, wo sich, inmitten von Bildnissen der Heroen der Freundschaft, ihre Statue erhob und er die stille Sprache der Erinnerung mit ihr führte.
Ein Tempel war in der Tat der gemäße Ausdruck für die Harmonie, welche diese beiden großen Herzen umspann.
Und der Markgraf?
Zwar tritt er in Wilhelminens letzten Jahren hinter ihrer Teilnahme an dem mächtigen Geschicke ihres Bruders etwas zurück; dennoch bleibt sie ihm bis ans Ende ihrer Tage leidenschaftlich zugetan, sodaß sie die eifersüchtigen Regungen, zu welchen er ihr auch nach der Marwitz-Affäre mehr denn einmal Anlaß gibt, nie ganz unterdrücken kann. Es fällt uns ja heute nicht leicht, den Zauber zu begreifen, den dieser nichtssagende Mann auf eine Frau wie die Markgräfin auszuüben vermochte. Aber wir wissen, daß er auch an ihrer jüngeren Schwester nicht verloren ging, und daß sie mit Vergnügen den eigenen Verlobten mit dem Wilhelminens eingetauscht haben würde. Er gehörte also wohl zu jenen typischen „Menschen des Augenblicks“, die gleichsam mit jedem Tage die Summe ihres Wesenswertes ganz und voll verausgaben und die nichts überdauert, deren Reiz aber nicht selten umso mächtiger fesselt, je illusorischer er ist. Wo immer der Markgraf Proben selbständigen Urteils abzugeben hat, versagte er gänzlich, und als er einmal auf eigene Faust im Interesse seines Hauses eine Reise nach Dänemark unternimmt, kehrt er unverrichteter Sache heim. Aber die Markgräfin, als die loyalste Gattin, die sich denken läßt, hält stets zu ihm und macht mit wahrer Vorliebe seine Verdienste und seine Fähigkeiten geltend.
Im ganzen gehörte sie zu den Menschen, die wenig positives, aber reichliches Glück im Unglück haben; so fällt ihr in ihrer aufgezwungenen Ehe zwar eine geringe Partie, zugleich aber ein Prinz zu, den sie passionément liebt, was mehr ist, als man von einer Vernunftehe erwarten darf. Der geistigen Sphäre der Geschwister freilich gehört er nicht an, und daß er die große Illusion und nicht der wahre Gefährte ihres Lebens war, blieb ihr wohl nicht immer verborgen.
Aber hier gerade kommen wir zum Prüfstein ihres Wertes.
Wenn Friedrich begeistert an ihr loben durfte, daß man sich „über die heterogensten Dinge, über Frisuren, über Krieg und Politik mit ihr unterhalten könne“, so hatte sie sich allein zu dieser Vielseitigkeit vermocht, und ganz von innen heraus die scharfen geistigen Umrisse gezeichnet. Und darum nehmen wir an ihr jenes starke Relief wahr, das wir an so manch berühmter Frau vermissen, deren Züge an Ebenmaß gewannen, was sie an Deutlichkeit verloren, weil ein Größerer als sie selbst sie ihrer eigenen Bedeutung liebend überbot, hier ein bißchen untermalte, dort kleine Mängel wegretouchierte . . . . . . Denn Frauen lieben es, ohne sich dabei einer Unredlichkeit bewußt zu werden, sondern wie sie es lieben sich zu schmücken, so lieben sie es, sich auch intellektuelle Ritterdienste erweisen zu lassen.
In dieser Hinsicht aber war Wilhelmine nicht verwöhnt. Kein Lehrer, kein Geliebter, der ihren inneren Werdegang beeinflußt oder erleichtert hätte. Auf ihrer geistigen Bahn fehlen alle Abstecher und alle Wegweiser, und Echtheit und Eigenwert sind ihre Marke, wo sie sich hervortat. Wir fühlen, ohne daß sie es nur andeutet, mit welchem Erfolge sie bei den Frankfurter Krönungsfesten erschien, und wie groß der Reiz dieser jungen Frau gewesen sein muß, die, so tugendsam, und dabei so verführerisch, nach einem ziemlich verloren gegangenen Rezept deutsche Solidität des Geistes mit französischer Grazie vereinte. Kraft eigenster Energie fuhr sie fort zu werden, bis sie vor der Schwelle ihres Alters und zugleich der ihres Todes stand. Ihre Briefe an Voltaire über kriegerische Dinge und friedliche Endziele sind durch die erstaunliche Klarheit und Sachlichkeit, wie durch die wahrhaft künstlerische Reife des Ausdrucks gleich bewundernswert.
Man denke, woher sie stammt:
Von Eltern, die weniger Kontraste als Unvereinbarkeiten aufweisen. Carlyle wirft ihr vor, sie hätte ihren Vater nur „von außen gekannt.“ Es ist aber viel leichter, diesem König par distance gerecht zu werden: seiner Umgebung war es fast unmöglich. Wilhelminens Eindrücke stimmen nur zu wohl mit den Berichten der damaligen Gesandten am Hofe Friedrich Wilhelms überein. Er galt ihnen als ein gefährlicher Narr: sein Hauptargument war der Stock. Die Tochter konnte es dem König nicht recht machen, ohne die Königin zu erzürnen. Bald in Gnaden, dann, wenn ihre Aussichten auf eine glänzende Partie sich verschlechterten, zurückgestoßen und malträtiert, wird sie Zeuge und unfreiwillige Ursache furchtbarster Szenen. So tritt sie, als ein altkluges Dämchen, aus einer Kinderstube, die jeglicher Hygiene und Pädagogik spottete. Gewiß ist, mag man ihren Übertreibungen noch so sehr Rechnung tragen, daß die zu frühen und zu fortgesetzten Aufregungen ihre zarte Konstitution frühzeitig untergruben. So ist in ihrer Schrillheit zugleich ein Echo; an ihrer späteren Vollendung und edlen Reife aber haftet nichts Fremdes. Wir heben es noch einmal hervor. Denn sie selbst, die sich oft zu Unrecht lobte, hat sich dessen nicht gerühmt. Die sonst so Ranglustige weiß nicht, wie abseits sie steht. Es war noch nicht die Zeit der Selbstanalysen, und man war noch nicht darauf verfallen, sein Ich herauszugreifen und zu bespiegeln. In dieser verfrühten Blume geistiger Kultur ist noch viel Herbheit in der Verfeinerung. In ihrer etwas morbiden Selbstherrlichkeit aber liegt ihr großes Anrecht auf unsere Bewunderung wie auf unsere Nachsicht.
Ich für meinen Teil möchte auch ihren Hochmut nicht missen. Er hat dieselbe Befugnis wie die weitläufigen Zieraten des damaligen Kostüms, und er verhält sich zu ihrer Aufgeklärtheit wie zu ihrem schmalen Gesicht die mächtige Perücke und der immer höher steigende Kopfputz. So hat ihr gewaltiger Dünkel die große relative Berechtigung der Mode. Der Geist einer Zeit umgibt sich nie so sehr mit dem Scheine des Unwandelbaren, wie kurz bevor er schwindet. Die Zopfgeschichten, die Wilhelmine wegen ihrer Audienz bei der Kaiserin aufführt, stehen ihr noch allerliebst. Und man begreift, daß der Fürstbischof von Würzburg, trotz aller Impertinenzen, die er sich in seiner eigenen Hoffart von ihr gefallen lassen mußte, von ihr entzückt war.
Wie es einen letzten Ritter gab, und wie Carlyle in Friedrich den letzten König sehen wollte, so war Wilhelmine die letzte Prinzessin alten Stiles, eine so typische Prinzessin, daß sich die Prinzessin, — was auch bei Prinzessinnen selten ist, — nicht von ihr wegdenken, die Frau nicht ohne die Prinzessin in Erwägung ziehen läßt. Dies wurde bei ihr zu Unrecht übersehen. Denn es ist etwas Geheimnisvolles um eine königliche Geburt.
Wie die Wasserfläche diese Welt des Scheines reflektiert, so liegt in der geistigen Sphäre das getreue Abbild — oder Vorbild? — aller Schranken und Unterschiede, welche die menschliche Gesellschaft geschaffen hat. Und das ganze Kortege, vom Edlen zum Niedrigen, zieht — nur so anders — von neuem auf. Aus den ungeheuren Fluktuationen aber, dem Schwanken, dem Hin und Wider ihrer Würden — und ihren Gleichungen — sind alle Adelsbriefe in dieser krausen Welt geschrieben.
Daher der mystische Zug erlesenen Blutes zu erlesenen Kräften. So wahr ist dies, daß an einer Stelle dieses Buches, der, an welcher Wilhelmine die Boskette der Eremitage beschreibt, und mit so viel Wohlgefallen die vielen Lauben und Glorietten, und die Unmenge von Springbrunnen aufzählt, die sich da alle paar Schritte ereignen, daß sie da als die vollendetere Prinzessin erschiene, wenn sie ein Gefühl dafür hätte, daß dies kein Garten ist, sondern eine Spielerei.
1910 Inselverlag.
Es geht den Heiligen wie den anderen ausgezeichneten Menschen. Die Zeit ist das Feuer, das sie vor unseren Augen läutert, indem sie das Vergängliche und Unzulängliche an ihnen zurückweist, das Wertvolle und Bedeutende aber zu einem Bildnis von individuellstem Umriß scheidet. Wenn daher Siena — nach mehr als fünf Jahrhunderten — vom Leben der hl. Catharina so erfüllt blieb, daß ein Echo dieses Lebens Sienas Luft, seine Türme und Felsen noch umhallt, so muß einem Dasein, das so kurz und doch so bleibend, Zügen, die so weltabgewandt und doch so unverweht der Welt geblieben sind, eine Zeit, der sie noch gelten, neue Deutungen entraten können. Vor allem heute! da für das ungeübte Auge alle Symptome hinfälligen Alters am Christentume haften, während es, wie eine Raupe eingesponnen, sein neues Wachstum umhüllt.
Denn wir sind heute so weit wie zuvor: Der Protestantismus wird seiner nicht mehr froh, und die Norm der Katholiken, durch zu viel gescheiterte Reformversuche eingeschüchtert, hat den Glauben an eine römisch-katholische Reformation verloren, jene Reformation, die Catharina nicht müde wird zu verkünden, und der ihre leidenschaftlichen und begeisterten Zurufe gelten. Und wenn heute unsere katholischen Gesellschaften, Vereine usw. ihre fortschrittlichen Bestrebungen verheißen, so belächeln wir im voraus die kümmerlichen Resultate, die sie uns bringen werden. Da dringt denn zu guter Stunde die kühne Sprache Catharinas wie ein frischer Luftzug in eine verbrauchte Atmosphäre.
Catharina von Siena, geboren am weißen Sonntag des Jahres 1347, war das Kind frommer und, trotz ihrer 22 Kinder, wohlhabender Leute: des Färbers Benincasa und der Monna Lapa. Ihr religiöser Hang zeigte sich schon sehr früh; doch war sie dabei ein munteres und sehr empfindsames Kind, und so anmutig, daß sie den Beinamen Euphrosyne erhielt. Ihre erste Vision — sie stand damals in ihrem sechsten Jahre — war für ihre Laufbahn bestimmend: sie kam mit ihrem Bruder vom Hause einer verheirateten Schwester, an der sie mit besonderer Zärtlichkeit hing, da erschien ihr über der Dominikanerkirche, in den Lüften schwebend, Christus als hoher Priester, eine dreifache Krone auf dem Haupte, der die Hand segnend nach ihr ausstreckte. Seitdem mied sie die Freuden ihres Alters. Daß sie gerade dem hl. Dominikus eine so besondere Verehrung widmet, hängt zusammen mit dieser ersten Vision. Seine Taten sind es, die sie zumeist beschäftigen; sie trägt sich mit dem Gedanken herum, als Mann verkleidet in den Predigerorden der Dominikaner zu treten, und Dominikaner sind überall der Gegenstand ihrer Ehrfurcht und Begeisterung. Schon jetzt führt sie ein Leben strenger Abtötung und gelobt in ihrem siebenten Jahr, nie einen anderen Bräutigam zu nehmen als Christus. Indes sie aber heranwuchs, hatten ihre Eltern andere Pläne und verlangten, daß sie sich wie andere Mädchen ihres Alters schmücke. Durch die Lieblingsschwester ließ sie sich dazu bewegen, als aber eifrig an ihre Verlobung gedacht wurde, und Catharina, um sich ihr zu entziehen, ihr schönes blondes Haar abschnitt, zog ihr ein so radikales Verfahren die erste schwere Prüfung zu. Um ihren Widerstand zu brechen, wird ihr die Kammer, die sie zu einer Kapelle sich errichtet hatte, genommen, und sie selbst im Hause ihrer Eltern wie eine Magd gehalten. Catharina, die sich ihren niedrigen Diensten mit großer Sanftmut und Freudigkeit unterzieht, hat bald eine neue Vision, die sie tröstet und ermutigt. Diesmal sind es die großen Ordensstifter, die ihr erscheinen: sie sieht den Gründer des Karthäuser-Ordens, den hl. Franz von Assisi, den hl. Benedikt: allein sie alle machen ihren Klosterschwestern strengste Klausur und Abgeschiedenheit zur Ordensregel, und Catharina läßt sie vorüberziehen. Sie hat nur Augen für den hl. Dominikus, der mit einer herrlichen Lilie auf sie zuschreitet und ihr das Kleid seines Tertiazordens entgegenhält.
Nicht länger hält sie mehr mit ihrem Entschlusse zurück, und die Eltern Benincasa lassen sie jetzt betrübten Herzens gewähren. Allein ihrem Wunsche standen noch die Dominikanerinnen selbst entgegen. Obwohl sie gewisse Ordensregeln befolgten, unter einer gemeinsamen Priorin standen und die Tracht des Ordens: das weiße Kleid und den schwarzen Mantel trugen, weshalb das Volk sie Mantellate nannte, so lebten sie doch ohne Klausur, ohne eigentliche Gelübde, und in ihrer eigenen Wohnung. Es gehörten denn auch meist Witwen gesetzten Alters dieser Genossenschaft an, und die 15 jährige Catharina aufzunehmen, schien ihnen in keiner Weise ratsam; aber Catharina verfällt in eine schwere Krankheit, und die Mutter selbst muß ihr nun helfen, die Mantellate zu bestürmen; zudem ist ihre Schönheit zerstört, nichts als eine gewisse morbide Grazie war ihr geblieben. So wird denn ihrem Verlangen endlich nachgegeben und nach ihrer Genesung an einem Sonntag des Jahres 1362 ihre feierliche Einkleidung in der Dominikanerkirche vollzogen.
Drei Jahre lebte sie nun im Hause ihrer Eltern ein den strengsten Bußübungen, der tiefsten Zurückgezogenheit und dem Schweigen geweihtes Leben. Die Nächte durchwachte sie im Gebet, aß nie Fleisch, nur ungekochtes Kraut, Früchte und Brot — später wurde ihre Nahrung so gut wie keine mehr — geißelte sich des Tags dreimal nach Dominikanersitte, und schlief zwischen einigen Brettern in einem sargähnlichen Bett und auf einem Kopfkissen aus Holz. Zu dieser Zeit sollen doch manche Anfechtungen und der Wunsch, wie andere Menschen zu leben, die Ruhe ihrer Seele gestört haben. Schlafend und wachend, ob sie ihren Leib noch so sehr marterte, hielt ihr ein Dämon verführerische Bilder vor, bis wieder eine Vision das Ende ihres Kampfes verkündet.
Einmal erscheint ihr die hl. Jungfrau, sie mit ihrem Sohn zu verloben. Christus steckt ihr einen goldenen Ring mit vier Perlen an, und David begleitet die Zeremonie auf der Harfe. Ein anderes Mal vertauscht Christus sein Herz mit dem ihrigen. In einer späteren Ekstase berstet ihr Herz von oben bis unten, so daß man sich fragt, wessen Herz es dann gewesen ist? Endlich waren es die Wundmale Christi, die sich in fünf blutigen Strahlen auf ihre Hände, ihre Füße und nach ihrem Herzen richteten. Bevor aber diese Strahlen die fünf Stellen ihres Leibes erreichten, verwandelte sich das Blut in Licht, und in Gestalt des Lichtes prägten sich ihr diese Strahlen ein. Daß diese Wundmale, die ihr ein Gefühl des Schmerzes zurückließen, gleich dem Verlobungsring[1] den Augen der anderen niemals sichtbar wurden, beirrte Catharina in ihrem Glauben daran nicht. Und der Grundton ihres Wesens ist so wahr und echt, daß sich ein ablehnendes Gefühl für ihre visionäre Seite mit dem Glauben an sie selbst vertragen kann. Allein bedeutsam bleibt es immerhin, daß Catharina, deren Heiligkeit es doch ist, die uns als die schwerste und ruhmreichste Tat ihres Lebens gelten muß, gerade in den Äußerungen dieser Heiligkeit so ganz ihrer Zeit angehört, und so ganz von der Anschauungsweise und der Phantasie des Mittelalters beherrscht ist, daß gerade das Visionäre an ihr sich nicht selten als das Veraltete zeigt! Ist doch auch das Wertvollste heute an ihren furchtbaren Kasteiungen die fesselnde und geistvolle Art, mit der sie über solche Dinge spricht — man könnte fast sagen, abspricht — und den ganz relativen Wert, den sie ihnen zuerkennt. So streng ihre eigene Askese ist, man fühlt, sie steht darüber. Nimmermehr würde sich wohl heute diese selbe Catharina bewogen fühlen, das eiterige und blutige Wasser, mit dem sie die ekelhaften Geschwüre einer Kranken gewaschen hatte, auszutrinken. Warum hat sie sich dann einer so extremen Lebensweise ergeben, als könnte sie es nicht erwarten, daß ihr Leib zugrunde gehe? Aber lag es nicht in der Natur der Dinge, daß ein Heiligenleben des 14. Jahrhunderts einen wesentlich büßenden Charakter trug? in einer Zeit, in welcher die Gemüter vom Geist des Christentums noch so wenig umbildet waren, und das Leben wie eingedämmt war von Grausamkeiten; da abgehauene Hände, geblendete Augen zu den üblichen Racheakten gehörten, und der Feind den anderen nicht schonte. Fand es doch mancher bedenklich, daß ein so liebendes Gemüt wie der hl. Franz von Assisi wenig Herz gezeigt habe für die Greuel der Inquisition, deren Kunde er doch vernahm. — Wenn aber Franz von Assisi zu jener selben Epoche sich gedrängt fühlen konnte, Aussätzigen um den Hals zu fallen und sie zu küssen, was war dies anderes, als der spontane Ausdruck eines trostlos-ohnmächtigen Mitgefühles? In ihrem Beweggrund allein lag der Sinn so überschwenglicher Werke. Wenn daher ihre Abtötungen es nicht sind, die Catharina zu einer großen Heiligen stempeln, so wäre sie die große Heilige nicht gewesen ohne den sublimen Drang, der sie zu ihnen trieb. Ein Herz wie das ihre mußte dürsten, die Blüte ihrer Jugend zu zertreten in einer von Leiden so befleckten Welt, vor der selbst ein Boccaccio in eine Karthäuserzelle flüchtete.
Nicht ganz so leicht läßt sich in der visionären Catharina unterscheiden. Wenn auch ihre in astrazione, das heißt in Verzückung geschriebenen Briefe ihren Gedankengang stellenweise zu erhabenem Ausdruck bringen, so erwecken sie doch anderseits den Eindruck einer von Hunger so geschwächten Catharina, daß ihr schwarz vor den Augen wird. Der eigene Bericht nun gar (in ihrem letzten Brief an Bruder Raimund da Capua), den sie von einer solchen Vision erstattet, liest sich nicht angenehm. Zum Teil mag es daran liegen, daß hier das Wort nun einmal ein schlechtes Vehikel ist, und der hl. Franz Solanos war sicher gut beraten, da er die Flöte blies, um seine mystischen Erlebnisse zu schildern. Allein vor allem ist es der Christus ihrer Visionen, dem wir nicht ohne Mißbehagen und einer gewissen Kälte des Herzens gegenüberstehen: es ist denn doch ein zu primitiver, zu sehr ein Klosterfrauen-Christus, der ihr da vorschwebt! Und auch hier ist ihre Auffassung des nichtvisionären Zustandes trotzdem, oder vielleicht weil sie ihr stets dieselben Worte leiht, von ungleich größerer Bedeutsamkeit.
Christus ist ihr da stets das von Liebe entbrannte Lamm Gottes, das dem Kreuzestode entgegen eilt, und stets sieht sie ihn als den von Nägeln durchbohrten, von der Liebe am Kreuze festgehaltenen, verblutenden Erlöser. Es war ein durchaus genialer Instinkt, der sie Zeit ihres Lebens an diesem Bilde, haften ließ: Denn wie die Geschichte des jüdischen Volkes vor der Ankunft des Messias von dessen künftiger Bahn so mächtig vorausbeschattet ist, daß die Gestalten der Führer dieses Volkes zu Vorbildern jenes Lebens sich verdichteten, so wirkt seitdem die vollendete Bahn dieses Gestirns auf die Evolutionen der gesamten christlichen Völker bestimmend zurück. Für das schauende Auge nun konnte die damalige Welt nur im Zeichen jenes trauernden Erlösers stehen, von dem die Scholastiker sagten, daß er am Ölberg gebrochenen Herzens zusammensank, weil sich ihm da die partielle Fruchtlosigkeit seines Opfertodes auftat.
Nicht ein einziges Mal sehen wir Catharina den Blick hinwenden nach jenem anderen rätselvollen Auferstehungstage eines verklärten und vergöttlichten Leibes, als sei es nicht an der Zeit, solcher Kunde zu gedenken. Aber wie entrückt die apollinischen Klänge jenes Tages uns auch verbleiben, die seither mit den christlichen Nationen vorgegangene Wandlung ist dennoch so groß, daß sich in vieler Hinsicht behaupten läßt: der Christus des Mittelalters und der Kreuzzüge ist der unsere nicht mehr. Es ist — wenn ich dies Bild gebrauchen darf — als träte nunmehr die Welt in das Zeichen der Grablegung, und als dämmerte unsere Zeit oder die nächstkommende, oder die kommenden Jahrhunderte, dem beruhigten, ahnungsvollen Zauber der Kartage entgegen. —
So lange Catharina in der Zelle ihres elterlichen Hauses verborgen blieb, unterschied sich ihr Leben nicht von dem der anderen Heiligen: die Liebe zu den Armen, die Krankenpflege, selbst die Wunder, die ihr zugeschrieben werden, dies alles findet sich in ähnlicher Weise in so vielen anderen Legenden wieder. Aber durch ihre große Heiligkeit wurde sie bald zum Mittelpunkte einer kleinen Gemeinde, und verschiedene Mantellate hatten sich ihr angeschlossen, vor allem jene junge Witwe Alessa, aus dem Geschlechte der Saraceni, der wir in den Briefen als dem Sekretär der Catharina begegnen. Denn Lesen und Schreiben war dieser nicht beigebracht worden; man erachtete es für Mädchen ihres Standes als einen Luxus, und sie lernte es erst in ihren letzten Lebensjahren. In dem Hause, das Alessa in ihrer Nähe gemietet hatte, zog sich Catharina vor dem Getriebe und Geräusche des Färberhauses zu längeren Aufenthalten und öfter zurück, und bald wird sie nun in ihre eigentliche Bahn gelenkt. Denn nicht nur Frauen und Mädchen, auch Männer traten bald in ihren heiligen Kreis, und nicht nur Geistliche wie ihr Beichtvater Raimund da Capua, sondern junge Ritter, wie Stefano di Maconi, der vor allen geliebte Jünger, und Francesco di Malvolti. Catharina kam nämlich mit Weltleuten vielfach in Berührung durch eine der denkwürdigsten Seiten ihrer Wirksamkeit: die der Friedensstifterin. Als solche weilt sie längere Zeit auf der Burg der Salimbeni, und wir sehen die Führer des kriegerischen Adels, später eine Stadt, einen Papst zur Schlichtung der Fehden sich an sie wenden. Der Ruf ihrer wunderbaren Heiligkeit — es hieß, sie hätte monatelang nichts anderes als das Abendmahl genossen — verbreitete sich immer mehr. Die Heiligkeit erlebte aber zur Zeit des Faustrechtes ihr größtes Prestige, und in dem Italien des 14. Jahrhunderts wob die Zeit selbst an dem Zauber, der ihr einen so unerhörten Einfluß verlieh.
Ihre erste Mission galt der eigenen Vaterstadt, dem von Fraktionen zwischen Adel und Bürger, Guelfen und Ghibellinen zerrissenen Siena. Im Jahre 1368 fiel dort die Macht den, größtenteils aus dem Pöbel zusammengesetzten, sogenannten „Fünfzehn“ zu, die unter Kaiser Karl VI. den Titel Reformatoren annahmen und das Reformieren auf ihre Weise betrieben. Ihnen galt Catharinas erster Mahnbrief, und von da an ruhte sie nicht mehr, die Menschen zur Liebe und zum Frieden aufzurufen. Ihr überströmendes Mitgefühl ist ihre Zauberformel, mit der sie die härtesten und die schwersten Herzen gewinnt. Zum Tod Verurteilte wollen sie sehen und von ihr getröstet werden. Ein junger Edelmann: Nicola Tuldo, der wegen seiner Teilnahme an einer Verschwörung wider die „Fünfzehn“ zur Enthauptung verurteilt wurde, raste vor Verzweiflung über sein bitteres Los. Da vermag es Catharina, ihn mit seinem Schicksal auszusöhnen: sie steht ihm bei, harrt bis ans letzte Ende mit ihm aus, und er stirbt getrost, ja glücklich, in ihren Armen.
Es läßt sich denken, daß Catharina von Anfeindungen nicht verschont blieb. Aber die Sonne ihrer Tugend überstrahlte so weit alle Verdächtigungen und Verleumdungen, daß ihr Ruf nur um so unantastbarer daraus hervorging.
Nachdem sie 1374 die Pestkranken in Siena gepflegt, verbrachte sie mit mehreren Mantellaten und Mönchen, darunter der getreue Raimund da Capua, einen großen Teil des Jahres in Pisa, von der Bevölkerung und von dem Tyrann Gambacorti begeistert aufgenommen. Dort pflegte sie häufige Unterredungen mit dem Gesandten von Cypern, der sich auf dem Weg nach Avignon befand und ihr Umständliches über die Mohammedaner berichtete, gegen die er den Papst zu einem Kreuzzug überreden sollte. Von diesem Gedanken ließ die Heilige nicht los. Sie schrieb an die Fürsten und Feldherrn Italiens, an Carl V. von Frankreich drei dringende Briefe, an die Königin Johanna von Neapel, an den Grafen Monna Agnola, und wendet sich unverzagt an Männer wie Barnabo Visconti und den Condottiere Hawkwood. Allein in ihrem so beherzten und naiven Verfahren leuchtet zugleich ihre große intuitive Menschenkenntnis hervor und ihr praktischer Sinn; denn das eigentliche Gebiet der Catharina von Siena ist nicht die Zelle noch die Krankenpflege, so mutig und groß sie sich dabei bewährte, sondern die Politik und die Diplomatie, eine Diplomatie freilich, deren ganzes Geheimnis Friedensliebe ist und Mitgefühl, und welcher trotzdem ein unleugbarer und großer Einfluß auf die Geschichte Italiens nicht versagt blieb.
Es war ihr Traum, daß die Fürsten der Christenheit ihre Fehden schlichten, um sich zu einem Kreuzzug alle zu vereinen. Es wurde auch wirklich daran gedacht, den Condottiere schwebte schon die reiche Beute vor, die ihrer im Lande der Ungläubigen wartete, und einen Augenblick durfte Catharina an die Erfüllung ihrer Hoffnungen glauben. Allein die Empörung Italiens wider die päpstlichen Legaten, die bald darauf ausbrechen sollte, machte ihre großmütigen Pläne zunichte. Catharina schrieb an die Konsuln von Bologna, schrieb an den Papst und faßte damals schon den Gedanken von der Notwendigkeit eines römischen Papsttums und seiner Rückkehr in die Stadt des hl. Petrus. Sie kam indessen wieder nach Siena und erfuhr dort, welche unheilvolle Wendung der Aufstand in Florenz genommen hatte: statt des Kreuzzuges sieht sie nun die Städte Italiens im Kriege wider den Stellvertreter Christi und die eigene Vaterstadt dem Bunde gegen ihn beitreten. Florenz aber, den eigentlichen Herd des Aufruhrs, dem schwersten Interdikt verfallen, das je eine Stadt betroffen hatte. Durch den päpstlichen Bannfluch fand es alle Häfen verschlossen und sah bald seinen ganzen Handel ruiniert. Da wandte sich Soderini im Namen der Kriegspartei an Catharina, von deren Einfluß auf Gregor er vernommen hatte, um sie als Vermittlerin zum Papst nach Avignon zu entsenden. Es lag nicht in Catharinas Natur, sich einem solchen Wagnis zu entziehen. Im Mai des Jahres 1376 ist sie in Florenz. Von Soderini, in dessen Hause sie wohnt, wird sie der Signoria vorgestellt und steht alsbald inmitten ihrer diplomatischen Aktion. Schon am 18. Juni hat sie Avignon erreicht, begleitet von 21 Gliedern ihrer geistlichen Familie, Mantellaten und Mönchen, dem treuen Raimund und Stefano di Maconi.
Man kann nicht sagen, daß die schweren Aufgaben, die Catharina stets so schnell entschlossen übernahm, ihr je erleichtert worden seien, und es zeugt für die Reinheit ihrer Ziele, daß sie durch keine Mißerfolge in ihrem Eifer erlahmte. Der Friede mit dem Papste scheiterte sowohl an dem Verhalten der Signoria, worüber wir bittere Klagen in ihren Briefen vernehmen, als an mancherlei Intrigen von seiten der Kardinäle. Catharina war den Gesandten von Florenz vorausgeschickt worden, um deren versöhnliche Gesinnung dem Papste zu verkünden. Als nun diese Gesandten nach langem Zögern in Avignon eintrafen, erklärten sie keine Vollmacht zu haben, mit Catharina zu verhandeln; von den Beratungen, die nun stattfanden und die zu einem neuen Bruche führen sollten, blieb sie ausgeschlossen. Die Vorschläge der Signoria an den Papst wurden als unannehmbar verworfen, das Interdikt aufrechterhalten und die Kriegserklärung von neuem ausgesprochen. Ergrimmt verließen die Gesandten Avignon; Catharina indessen, die noch eine andere Mission erfüllen mußte, blieb zurück. Es war Gregors frommer und geheimer Entschluß, das Papsttum nach Rom zurückzuführen. Aber die Kardinäle, die nahezu alle Franzosen waren, der Hof, Gregors Umgebung, seine eigene Neigung stand diesem Entschluß so mächtig entgegen, daß er ohne Catharina schwerlich zur Ausführung gekommen wäre. Allein gegen so mächtige Widersacher, zu welchen sie den Herzog von Anjou, des Königs eigenen Bruder, zu rechnen hatte, unternahm sie jetzt den Kampf. Aber Catharina hatte von Anfang an viel Einfluß auf Gregors hohe Seele gewonnen. In ihren Briefen an ihn spiegelt sich seine eigene liebenswürdige Natur, an die sie also zärtlich, naiv und stürmisch zugleich sich wenden kann. Denn Catharina war eine Herrschernatur: ein tyrannischer Zug geht sehr deutlich aus ihren Briefen hervor. Wie sie ihre Kreuzzugspläne nie aufgeben will, so läßt sie nicht nach, dem Papste die Reformation der Kirche, die Beseitigung der schlechten Hirten und der Mißbräuche vorzupredigen. Zwar kann ihr die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens nicht verborgen sein, denn diese heilige Jungfrau hat für die Verderbtheiten der Menschen einen sehr durchdringenden Blick; allein es ist, als sei ihr als Ziel das Unerreichbare gerade recht.
Sowohl für die Zeit als für die Art der Abreise Gregors sollte ihr Rat bestimmend sein. Noch einmal zwar bedarf er ihres anfeuernden Mutes, um seinen Entschluß zu Ende zu führen, denn schon hatten sich andere Einflüsse geltend gemacht und ihn zur Rückkehr nach Avignon bewogen, als er nach einer stürmischen Seefahrt in Genua landete. Dort aber hat ihn die Heilige, die ihm auf dem Landweg vorausgekommen war, erwartet. Es finden geheime nächtliche Unterredungen zwischen den beiden statt, und wieder erweist sich Catharinas begeisterte Sprache siegreich über eine mächtige Partei, Gregors Unentschlossenheit und das Widerstreben der Kardinäle. Jetzt erst kehrte die Heilige, die ihre Aufgabe für erledigt hielt, nach Siena zurück. Dem feierlichen Einzug Gregors in Rom, den sie herbeigeführt, wohnte sie nicht bei, sondern war still zu den Ihren zurückgekehrt. Doch sollte ihr hienieden keine Ruhe mehr beschieden sein. Bald darauf ist sie auf Gregors Wunsch wieder in Florenz. Soderini, das Haupt der guelfischen Partei, hatte sie abermals dorthin berufen und in seinem Hause aufgenommen. Es neigten jetzt alle rebellischen Städte zum Frieden mit dem Papste: in Florenz war die guelfische Partei eifrig darum bemüht, und im Vorfrühling 1378 kam zu Sarzano glücklich ein Kongreß zusammen, als die Kunde von Gregors Tod die Verhandlungen unterbrach. Erst unter dem neuen Papste, dem der Friede mit Florenz dringend am Herzen liegen mußte, kam er zum Abschluß. Catharina, unversehens zum Werkzeug einer politischen Partei mißbraucht, war indessen durch Ausschreitungen der Guelfen in eine sehr schiefe und mißliche Lage geraten. Es kam soweit, daß ein Pöbelhaufe, von den Ghibellinen gegen Catharina aufgestachelt, Soderinis Haus umstellte und niederbrannte, um dann unter wilden Verwünschungen in den Garten einzudringen, in welchen sie mit einem Teil ihrer geistigen Familie geflüchtet war. Catharina aber eilte da selbst dem Führer der Rotte, der mit gezogenem Schwert auf sie losstürzte, entgegen, und ihre heitere Miene, ihre ruhigen Worte erfüllten ihn mit solchem Grauen, daß er entsetzt sich von ihr abwandte und seine wütende Schar hinwegführte. Sie aber brach in Tränen aus, weil ihr das lang ersehnte Märtyrertum versagt worden war.
Sie machte wenig Worte aus der Begebenheit und streifte sie nur flüchtig in einem Brief an Gregors Nachfolger Urban VI. Dieser Papst setzte in Catharina ein unbegrenztes Vertrauen, und als er bald darauf durch das Schisma und den Abfall seiner sämtlichen Kardinäle in die furchtbarste Not geriet, berief er die Heilige nach Rom. Noch einmal ergehen da ihre Briefe an die Fürsten und Kardinäle, die frommen Genossenschaften und Klöster, sie zur Treue für Urban aufzurufen. Auf ihr Zeichen eilen heilige Männer aus ihrer Zelle, ihrer Einöde herbei. Gestützt auf Catharinas klugen und umsichtigen Rat, gelingt es Urban, eine neue Anhängerschaft um sich zu sammeln, und mit fieberhafter Eile ist Catharina um seine Sache bemüht. Denn ihre Kräfte sind aufgezehrt; sie fühlt die lang ersehnte Nähe des Todes. Zum letzten Male schreibt sie an Urban, ihn zur Milde ermahnend, und an den getreuen Raimund, der in der Ferne weilt. Am 29. April 1380 stirbt sie „mit dem Angesicht eines Engels“ im Alter von 33 Jahren. Von einer inneren Stimme gerufen, war Stefano di Maconi an ihr Sterbelager geeilt. Auf seinen Schultern trug er sie zu Grabe. —
Catharina hatte wahr gesprochen, als sie im Scheiden ihren geistlichen Söhnen und Töchtern, die sie weinend umringten, verhieß: sie würde vollkommener mit ihnen sein, und vorteilhafter von dort, als sie es hienieden vermöchte. Gegen die Stürme, die nunmehr dem Papsttum beschieden waren, hätte Catharina nichts vermocht, und ihre Mission auf Erden war erfüllt. Ihr lag das Unanalytische zugrunde, das die Großen des Mittelalters kennzeichnet. Die Menschenliebe war das Geheimnis ihres Herzens. Ihr Suchen nach Gott und göttlichen Dingen hat bei den anderen Mystikern einen mächtigeren, transzendentaleren Zug. Gott ist wohl der Ausgangspunkt ihrer Mystik, die Menschheit aber deren Ziel; man könnte sie eine auf die Menschheit angewandte Mystik nennen; wie uns ja auch ihre Beziehung zur Gottheit mehr durch ihre eigenen Heilandszüge als ihre Unterredungen mit Gott beglaubigt wird. Sie hat nicht die Ader eines Franz von Assisi, nicht den Flug eines Ekkehard, noch die Lichtblicke eines Jakob Böhme. Im rein Beschaulichen zeigt sie sich nicht versonnen, noch von reicher Imagination. Auch für die tiefsinnigsten Probleme ist sie’s zufrieden, den Boden des Katechismus zu durchmessen, und das Rätselvolle, Vieldeutige und Heimliche eines Ausspruches ist für sie nicht vorhanden; denn der eigentliche Sinn dieser Ekstatikerin ist das Reale. Ihr staatsmännisches Talent verrät sich in der starken Logik, dem Aufbau ihrer Briefe; vielleicht fällt gerade das Unspekulative ihres starken Geistes mit ihrer politischen Begabung zusammen, wie dies in größerem Maßstab bei Dante zutage trat, und ihre Briefe sind deshalb von ungleich höherem Interesse als ihre anderen Schriften, weil sie uns von dem Interessantesten an Catharina — und das ist ihre Persönlichkeit — am meisten verraten.
Mit diesen Briefen geht es uns wie mit ihr selbst und wie es so vielen ihrer Zeitgenossen ging, die ihr voll Abneigung entgegentraten und ihrem Banne verfielen: so möchten wir zurückschrecken vor der Monotonie einer so einseitigen Weltanschauung und verfangen uns an dem Feuer eines so reinen und kühnen Herzens. Catharina wäre uns heute so stumm wie viele ihrer heiligen Genossen, die im Kalender stehen, wäre sie nicht als Frau so unvergänglich! — modern bis in die Fingerspitzen — als Frauenrechtlerin vielleicht die einzige, die ganz unserem Geschmack entspricht. Wie sie mit der Sitte, mit allen Konventionen bricht, wie diese Jungfrau, die Mönche und junge Ritter ihres Alters in ihrem Gefolge hat, frei und königlich einherschreitet und wie leicht und wie von selbst sich ihre Ausnahmestellung in der Welt ergibt, und wie hochgebildete Männer den Rat der Färberstochter einholen und der Spott der Rauhen vor ihr verstummt.
Das Geheimnis? — Ihr Geist allein war es nicht: eine so überbietende Gewalt hat der Geist einer Frau niemals. Das Überbietende an ihr war die Natur, und man möchte die italienische Volksseele darum beneiden, eine Blüte wie Catharina gezeitigt zu haben. Das mystische an Catharina ist sie selbst: Alles was Dianenhaftes in einer Frauenseele schlummert, griff sie leuchtenden Armes hervor. Bis zum innersten Kern eines unklaren und geheimnisvollen Dranges getrieben, erhebt sie ihn zu mächtiger Bewußtheit, zu einem Typus höchster Jungfräulichkeit sich entfaltend. Sie darf es verschmähen, hinter Klostermauern sich zu verschanzen und dem Manne, den sie in sich ausgeschieden, in ihrer männerliebenden Seele zu entsagen. Weit überragt ihre Bedeutung den Rahmen eigentlicher Heiligkeit. Ihre zarte Gestalt zieht wie ein Mythos am Himmel der Heiligen auf, und unwillkürlich erinnert sie an jene Worte des Psalms, die Christus an seine Jünger richtete — Worte, deren Geltung er ausdrücklich für den Menschen aufrechthielt und die an ihrer schlichten Seele vorüberhallten: „Ihr seid Götter!“
„Weißt du, liebster Sohn, daß bald ein größeres Verlangen, das du hast, erfüllt werden wird?“ sagte sie zu Maconi. „Was ist das für ein größeres Verlangen, das ich hätte?“ sagte er. Und sie: „Frage in deinem Herzen!“ Worauf Maconi: „In Wahrheit, ich weiß kein größeres Verlangen in mir aufzufinden, als immer bei Euch zu sein.“ Darauf sie rasch erwiderte: „Und das eben ist es!“ — Und nimmt ihn mit nach Avignon.
Ein solches Wesen mußte das feinbesaitete und stille Gemüt Gregors entzücken. Und wie gut durchschaut und kennt ihn Catharina! Ihn bestürmt und drängt sie und macht ihm Vorwürfe, und wieviel zurückhaltender, vorsichtiger, und unfreudiger ist dagegen ihre Sprache dem schrecklichen und ungeschickten Urban gegenüber. Auch ihn nennt sie ihr „süßes Väterchen“, aber sie holt weiter aus, um ihn zur Milde zu ermahnen; sie weiß, die von ihr ersehnte Reformation ist von ihm nicht zu hoffen: was er anfaßt, kann er nur zertrümmern. Aber an ihr findet Urban in seiner Not seinen festesten Halt: denn immer bleibt das stärkste Mobil in ihrer Seele die Treue einer Kirche gegenüber, in deren Dienst sie sich verzehrte. „Ich sterbe und kann nicht sterben!“ ruft sie oft in ihrer Sorge, wenn ihr prophetischer Geist ihr die bevorstehenden Leiden und Kämpfe verkündet.
Was mögen ihr für Bilder vorgeschwebt sein, wenn sie eine Reformation der katholischen Kirche verhieß?
Es ist nicht auszudenken, was die Geschicklichkeit, die Friedensliebe und der unparteiische Sinn der stürmischen, nie ungestümen Catharina verhütet haben würde in den verhängnisvollen Tagen, die ein Jahrhundert später sich bereiteten.
(Zeitlers Verlag.) Die Briefe der hl. C. v. S. 1906.
[1] Sie selbst äußerte ihrem Beichtvater gegenüber, daß sie den Ring immer an ihrem Finger sähe.
Welch’ goldumwobene Täler tun sich dem Blicke auf, der einzudringen sucht in das Wesen des Wunders! Der Schwung, der den Menschen vom Tiere weg zu einem neuen Tag und neuen Ufern hinwies, fuhr fort, ihn zu bewegen. Vom niedrigsten zum höchst Gearteten gähnte schon ein Abgrund, als der Heilige neue Höhen erklomm. Mußte der weit überbotenen Natur, mußte diesem neu geschaffenen Erdreich das Übernatürliche nicht „natürlich“, wie die Blume dem Abhang entsprießen?
Der Tod, so heißt es, sei durch die Sünde in die Welt gekommen. Aber dem wirklich Wahren ist ja stets von mehr als einer Seite beizukommen, und es trägt stets ein doppeltes Gesicht. — In der Idee des Menschen lag das Prinzip des Todes nicht enthalten. Es war nicht gemeint, daß er sterbe. Die Torheit und der Schimpf des Todes waren ihm nicht zugedacht. Es entsprach ihm nicht, daß er modere; noch solcher Möglichkeiten, wie daß der Wolf oder die Hyäne ihn, den Herrn, stumpfsinnig zu seinem Fraß erniedrige. Dies war von einem höheren Plane aus gesehen wider die Natur. Nicht aber, daß unter den Füßen des Gottmenschen ein aufrührerisches Meer sich wie zu Marmor-Fließen glättete, um seine Schritte hinzutragen.
Nur dem Chaos sehen wir Halt geboten, nur die Ordnung scheint uns hergestellt, wenn wir vernehmen, daß Walpurgas Leichnam unversehrt gefunden wurde und ihr blühweißes Gebein von einem duftenden Oel tauartig troff. Gott allein weiß, wen er zu ehren hat. Daß er in das Herz des Menschen sieht, heißt soviel, als daß der Mensch es nicht sieht. Denn seine Psyche ist ein Angesicht, nur für ein höheres Ich ersichtlich. Und wenn es heißt, daß reine Herzen Gott schauen werden, so heißt dies, daß Gott sie schaut. Und darum heißt es, daß der Herr des Lügners Angesicht nicht sieht und seine Stimme nicht hört. Denn sein Augenstrahl dringt nur zu dem was ist. — Ach, zwei Welten gibt es, die einander meiden müssen! Wo das Seiende seinen stobenden Funken auf die Welt des Scheines hinschlägt, da ist ihr starres unabwendbares Gesetz ungewesen und zerflossen. Wie jene Strahlen, die Fleisch und Blut übersehend, sich nur auf Wirbel und Knochen richten, so ist ein Auge denkbar, das absieht von Bergen und Wolken und Kuppeln, Dächern, und der menschlichen Hülle. Ein moderner Denker hat jene vageste und zugleich bestimmteste Art des Fassens zu Ehren gebracht, die ein auf das verstandesmäßige Sehen verzichtleistendes Schauen ist — jener unter Schutt und Gebälk ringende Funken, Intuition genannt, kraft deren sich die Kreatur ihrem Joche entzieht und das Unfaßliche erfaßt.
Der Pförtner, der sich eines Abends weigerte, Walpurgas Befehle auszuführen, und die Lichter ihres Klosters anzustecken, ist das Bild des unintuitiven Menschen, der immerzu sieht und nie erschaut, indes Walpurgas lauterem Herzen ein Licht entquoll und ihre Gestalt umflutete, die mitten in der Nacht so hell zu leuchten begann, daß die Schar der Nonnen bestürzt herbeieilte und sprachlos vor Staunen die Strahlende umringte.
Aber die dem Unwahren überwiesene, vom Schein genarrte und gefolterte Kreatur hat das nur der Intuition erkennbare Wahre diskreditiert und das Wort Mirakel dafür gesetzt.
1911.
Seit ich über die heilige Catharina und die heilige Walpurga schrieb, sind nur wenige Jahre verflossen, und doch ist es schon nicht mehr dieselbe Zeit. Jetzt erst realisiere ich, wie reizvoll es war, religiösen Problemen nachzuhängen, während sie so ziemlich niemand interessierten. Ich sage dies nicht aus Hochmut. Es sind Beleuchtungsfragen, und jeder kennt ja ihren Belang. Wir wissen, daß eine zu offene Helle die Dinge schlagen und ihrer Intimität berauben kann; wie sehr dagegen jenes andere gehemmte und entkräftete Licht alles verstärkt und verdeutlicht, was es bestrahlt; — Mitsommers vielleicht, während das voll entfaltete Laub regungslos unter dem bedeckten Himmel hängt.
Eine frühe, noch ungewohnte Christenheit sah alles so grell, daß sie verwirrten Sinnes die Geschichte ihres Kultus wob. Aber seit Dezennien, ja seit Jahrhunderten schon hat sich ein stetig wachsender Indifferentismus wie Wolkenbänke aufgeschichtet. Die Dinge der Religion ließ man links liegen, hörte auf, sich zu ereifern. Immer weiter glitten sie wie Abgeschiedene von uns weg, und immer weniger „gehörten sie her“.
Merkwürdigerweise gärte dabei das christliche Agens wie ein Sauerteig in unserer entfrommten Welt unbeschadet weiter, fand andere Ventile, und pflanzte sich in unserer Philantropie wie zu einem blühenden Stabe auf. Es war erstaunlich zu sehen, wie gut gerade der Katholizismus es vertrug, daß man ihn in Ruhe ließ, und abgewandten Sinnes lieber fliegen, forschen und entdecken lernte. Ja, es schien, als atme er indessen von den Strapazen unserer tausendjährigen Mißverständnisse auf; sachte begann er schon der bitteren, unleidlichen Rinde sich zu entziehen, in die Menschenhände ihn verbaut hatten, glitt einer neuen Kurve zu und evoluierte wie ein Planet. Ja, man kann sagen: seine Idee evoluierte in dem Maße, als seine Dogmen an Presenz und Deutlichkeit verloren. Nichts gleicht ja so vollkommen einer Kugel als diese Idee. Und so drehte sie sich nur um ihre Achse, als sie, ohne doch von uns abzurücken, wie der Neumond unserem Gesichtskreis entschwand . . . Aber leider sind wir daran, ihn auf seiner Bahn noch einmal störend aufzuhalten. Aus der Penombra unserer Gleichgültigkeit soll er noch einmal vorschnell ans Licht, und wenn nicht alles trügt, so kommt wahrhaftigen Gottes der Katholizismus jetzt in Mode.
Auf irgend einen Umschwung mußte man ja gefaßt sein. Mit der Liebe als „Topic“ ist es bekanntlich vorbei, sie muß sich erst von der Publizität erholen, die wir ihr ein Jahrzehnt lang angedeihen ließen, so daß wir eine Zeitlang lieber nichts mehr von ihr hören. Wer hinzukommt, wie ein Rad ausläuft, der harrt der neuen Schwingung: so sind heute die Unerfahrensten blasiert. Und daran ist ja nichts auszusetzen. Wohl aber, daß man darauf verfiel, nunmehr das Religiöse gewissermaßen als Novität auf seine Zugkraft hin zu erproben! Auch der laueste Katholik sieht heute entsetzt, wie die Literaten deutlich Miene machen, den Katholizismus zu „entdecken“. Nicht als Ausübende versteht sich, nur als Imaginäre, die allen Ernstes glauben, aus Sport, und wie man Wagnerianer und später Antiwagnerianer war, so könne man auch katholisch sein. Ein grotesker Wahn, wenn man bedenkt, daß der Begriff Amateur-Katholik so wenig wie der des Amateur-Soldaten existiert. Und zöge einer in Helmbusch und Epauletten einher, und würfe sich gar in eine Generalsuniform, weil sie ihm so gut gefällt, so hätte er doch erst recht mit militärischen Dingen nichts zu schaffen; es sei denn, daß er dem Stande beitritt und sich dem Drill unterzieht. So fragt der Katholizismus nicht nach Velleitäten, er fragt nicht, wer für den Pomp seiner Zeremonien und Gewänder, auch nicht, wer für den suggestiven Zauber des Meßopfers schwärmt, sondern er fragt nur, wer eingeht durch das kaudinische Joch, das bis auf weiteres den einzigen Zugang bildet zu einer ehrwürdigen und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden Feste, daß nur mehr die ganz Einfältigen, die freiwillig Gedankenlosen oder Leute von sehr merkwürdiger Abstraktionsfähigkeit ihre Besatzung bilden. Und er fordert von diesen Wenigen, daß sie es über sich bringen, die wankende Burg um ihres ewigen Grundrisses willen nicht zu verlassen. Er fordert, daß sie, wenn auch ohne Illusion und des Einsturzes gewärtig, den täglich unleidlicheren Verhältnissen sich fügen. Er fragt nicht, welche Grimassen sie dabei schneiden. Es genügt ihm, daß sie nicht ausziehen. Denn er bedarf ihrer als Pfeiler für den kommenden Umbau.
In Rom, bei einem Kardinal, der ein sehr heiliges Leben führte, war eines Tages im engsten Zirkel von der letzten Papstwahl die Rede; und auch von den politischen Intrigen, die damals in allen Kanzleien so üppig und offenkundig in Blüte kamen, daß am Tage der Entscheidung einer der Botschafter mit der Prognose: „Ce sera un petit pape“ — im Gegensatz zu Leo XIII. — unumwunden herausrücken durfte. Der Neffe des Kardinals wagte zu bemerken, daß sich der hl. Geist während dieses letzten Konklaves sehr passiv verhalten habe. „Et vous croyez“, sagte der Kardinal, nicht etwa ironisch, sondern mit der Fassung und erfahrenen Gelassenheit des Veteranen: „Et vous croyez, que dans cent ans nous aurons encore ces chinoiserieslà?“ Mögen manche Katholiken ungläubig die Köpfe schütteln, mögen sie den Neokatholiken unbegreiflich dünken; dies waren seine Worte. —
Ich möchte hier etwas über Konvertiten einschalten. — Zwischen ihnen und den angestammten Katholiken herrscht so oft eine merkwürdige Fremdheit, als wären sie gar keine richtigen Glaubensgenossen. Der alte Bau, der für die Einen die edle Patina der Jahrhunderte trägt, steht wie frisch getüncht und so hart und plötzlich — und so neuartig vor den Augen der anderen. Nichts von seinen Herrlichkeiten ist ihnen noch geläufig. Als nouveaux riches sind sie über Nacht zu dem gelangt, was den Erbangesessenen selbstverständlicher Besitz ist. Daher nichts Vornehmeres, aber auch nichts Selteneres als ein Parvenu — oder ein Konvertit, — dem man’s nicht anmerkt.
In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu bleiben, ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als über ein so gefährliches und verwirrendes Thema nachzudenken. Und ich begreife sie sehr wohl. Seinem Geiste nach ist der Katholizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu Insgeheimes und zu Irisierendes. Für die Armen da, gewiß, aber wie ein König für die Armen da ist, so ist er in seinem unantastbaren Adel denen sogleich entzogen, die in ihn hinein geheimnissen oder ihm mit Anachronismen zu nahe treten. Denn er kennt kein Zurück; und durchschrittene Bahnen umkreist er kein zweites Mal. O wüßte Claudel, wie weit dieser Geist seiner versteinerten Muse entschwebt ist, wie wenig ihr erledigtes Mittelalter den Unaufhaltsamen trifft!
Wenn mir vorhin die Konvertiten einfielen, so geschah es, weil mir bei der Äußerung des Kardinals, die ich zitierte, unwillkürlich ihre erschrockenen Mienen vorschwebten. Der junge Diakon hingegen, an den sich die Worte richteten, vernahm sie mit einem beschaulichen Lächeln. Er sollte sich bald darauf durch einen zu fürwitzigen Modernismus seinem Seminar mißliebig machen, auch sollte ihm — gerade nach Torschluß — dünken, daß er für die Aviatik oder die Armee — er stammte aus einer französischen Offiziersfamilie — berufener gewesen wäre, als für den Priesterstand, den er offenbar ein wenig vorschnell erwählt hatte. In dieser Verfassung kam er nach München und besuchte mich hin und wieder. Bei seinem skeptischen Naturell konnte von einem Glauben, der Berge versetzt, nicht die Rede sein. Intelligent und rege, aber der Wissenschaft, der Technik zugewandt und ohne jede Einstellung für das Religiöse, läßt sich denken, wie ihm heutzutage in seinem Stande zumute sein mußte. Seine Ironie war zu wenig gespielt, sein Achselzucken zu vielsagend, seine Munterkeit zu sehr die eines gefangenen Eichhorns, kurz, sein Stichwort war die Qual, — man brauchte es gar nicht lange zu suchen.
Eines Tages erschien er plötzlich zu ungewohnter Stunde, sich zu verabschieden. Es habe sich eine Vikarstelle für ihn geboten; ob er die annähme, wisse er noch nicht, und er zuckte die Achseln; doch jedenfalls kehre er nach Frankreich zurück.
Die Fenster standen groß offen, und es war ein Frühlingstag, daß ihn die Gestorbenen unter ihren Erdhügeln spüren mußten. Als eine verwegene Negation des Todes rauschte er mit allen Schauern herein, sein Licht hing sich wie ein Lockruf an den blassen und eleganten Abbé und hob mit so weher Schärfe die Tragik seines Daseins hervor, daß ich aufatmete, als er wieder ging. Doch gleich darauf hielt ich es selber im Hause nicht mehr aus. Draußen, unter freiem Himmel, angesichts der Straßen, der blühenden Anlagen, da gab es die vieljährigen Bäume, die oft erstorbenen und nun wieder ergrünten, und Menschen aller Art, erst da ließ sich das Schicksal des jungen Priesters wieder einreihen und erdrückte nicht mehr. Da erst konnte man sich ein Herz fassen, kalte Dinge in den Tag hineinzudenken.
Zwei Jahre waren vergangen, als ich ihn unvermutet wieder traf. Er hatte sich in einem Lyzeum ganz der Erziehung junger Knaben gewidmet, seine Hoffnungslosigkeit schien glücklich eingedämmt; ich fand ihn „zusammengerissen“ und gefestigt, ohne daß er doch im Stillen von seiner Skepsis das geringste eingebüßt hatte; er zuckte die Achseln womöglich noch höher als zuvor, und nie war einer seines Zeichens der Dogmen so ungewiß.
„Warum gehen Sie nicht weg?“ fragte ich starr.
„Es ist keine Sache, die man desertiert,“ sagte er. Dabei kam ein so anderer Ausdruck in sein Gesicht, und ich begriff, daß eine Weihe wie die, welche er empfangen hatte, dem Flüchtling zum Brandmal werden müßte. Für den Augenblick wollte mir alles andere gering scheinen im Vergleich zu dem Leben dieses im eigenen Lager mißkreditierten und verdächtigten Abbés, der mit so großer Selbstverleugnung auf seinem Posten blieb. Weil hinter diesem Katholizismus, dem wir doch sonst lieber heute als morgen davonliefen, das Rätsel steht, das wie eine noch ungehobene Monstranz weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann ausstrahlt.
Wird mich der Leser verstehen, wenn ich ihm das Bild nenne, das da plötzlich vor mir aufstieg? Ein kleiner Reitertroß, welcher dem vorsichtig nachziehenden Heere voransprengt, verwehrte Grenzlinien erkundend, ohne Deckung, verfallen, namenlos, und dennoch vom Sturm seiner Gesinnung sich zu opfern hingerissen, weil dort einige Helden liegen müssen, wo die kommenden Vielen freien Durchzug über neue Brücken finden sollen. Und auch jene Kundschafter schwebten mir vor, die sich als erste in die mörderische Luft erhoben, um sie für andere zu besiegen. Von dem mystischen Generalissimus aber, der heute eine solche verschwindend kleine Schar durch seinen Geist beseelt und, vielleicht ohne es zu wissen, auf ihren gefährlichen Vorposten zurückhält, von Duchesne will ich nun sprechen.
Ich wäre glücklich, wenn es mir gelänge, das Bild des Mannes zu umreißen, der sich aus dem unmöglichen Kompromiß zwischen Skepsis und Gläubigkeit seine gedankliche Würde und Unabhängigkeit rettete, und — klug wie eine Schlange — die Desinvoltura seines Geistes bis in ihre kleinsten, spöttischesten Züge vorbehielt, während er sich doch als ein Gebundener aller Waffen begab; — der heute mit einer Selbstverleugnung ohnegleichen als Trumpf einer Partei steht, die nur darauf sinnt, ihn auszustoßen, während er durch sein geistiges Prestige ihre Wagschale hält; — der über die obskuren Tage, durch welche sich der Katholizismus durchringen muß, wie ein blühender Ast hinausreicht, und dessen Schatten so beseelt eine Schwelle überhängt, die er nicht beschreiten wird. Es gibt heute auf der Welt keine stolzere Gestalt, und keine, die so einsam steht, wie Duchesne. Nicht mit den Unbedachten und den Fanatikern, die blindlings ein zerfallendes Gemäuer verteidigen, sondern weil er dessen unerschütterliche Basis ergründete, nur deshalb verharrt er standhaften Fußes inmitten des immer hastigeren Gerölles. Gar manche Werte, als unvergänglich ausgegeben, wird es ja als vergangene vor sich hintreiben. Aber keine Kunst wird es dann sein und keines Scharfblickes wird es mehr bedürfen, sich zu einem Katholizismus zu bekennen, von dem die düstere, unziemliche und abgenützte Wörtlichkeit sich endlich löste!
Ich war zum erstenmal nach Rom gekommen und wußte noch nichts von Duchesne, als mich eines Tages Barrère auf die Gäste aufmerksam machte, die er für den Abend erwartete; er hob den soeben zum Monseigneur ernannten Abbé Duchesne vor allen anderen hervor und bestimmte mich in seiner impulsiven Art zu seiner Nachbarin. Nun war ich aber noch übertrieben jung, wenn man so sagen darf, und eine viel zu unwichtige Person, um von dem neuen Würdenträger geführt zu werden. Man beförderte mich also an seine Linke. Es war alles was sich machen ließ. Zu seiner Rechten saß — zart und pariserisch — die sehr reizvolle junge Gattin eines französischen Deputierten. Sie verstand es sogleich, sich mit einer huldigenden kleinen Phrase Duchesne zuzuwenden, und ich beneidete sie um ihre Sicherheit, erschrak jedoch, als sie ihn dann fast unverweilt auf religiöse Themen hin unternahm. Allein sie trug sich als strenggläubige Katholikin und ohne Furcht. Leo XIII., obwohl schon ein Sterbender, hatte sie noch empfangen und ihr seinen Segen gewährt . . . sie war so glücklich . . . dieser unvergeßliche Eindruck . . . „Und werden Sie sich einige Zeit in Rom aufhalten?“ fragte Duchesne. „Ach nein, leider nicht.“ Sie müsse wegen der ersten Kommunion ihres ältesten Kindes zurück.
„Schade,“ sagte er.
Es entstand eine kleine Pause; man reichte ihr eben den Fisch, aber dann erklärte sie eifrig, sie wolle jedenfalls den Ablaß gewinnen, bevor sie Rom verließe. Hatte Monseigneur ihn schon gewonnen? „Non,“ gab er zur Antwort, „j’attends qu’il y ait un rabais“. Und ohne aufzusehen, ließ er ihr ruhig Zeit sich zu sammeln. Ihr Gatte fing die bestürzte, fast hilfesuchende Miene nicht auf, mit der sie über den Tisch zu ihm hinsah, indes ich mich schnell zurücklehnte, um Duchesne mit einem unauffälligen Blick zu überfliegen. Mein Herz tat einen großen Ruck und stand horchend still. O, diese hohe, wie in kühner Abwehr geschwungene Braue! dies aufblitzende, bedrohliche Feuer des Auges! und welcher Ernst hinter dieser grimmigen Maske! Jene unverbriefte augenblickliche Sicherheit, zu der eine intuitive Erkenntnis hinreißen kann, trug mich da, — des Pfeils nicht achtend, wo er lag — schnurgerade zu dessen Ausgangspunkt hin. Nein, bei Burgunder und Salmi gab dieser Mann nichts zum Besten von dem, was der Brennpunkt seines Lebens war. Bedachte sie es nicht und zog sie keine Schlüsse, die anmutige Frau, die sich die Dinge zugute hielt, deren letzte Konsequenzen er trug? Sein zierlicher violetter Mantel, als seidenes Nichts über den Sessel zurückgeschlagen, hing er ihm nicht wie mit eisernen Schließen am Halse an? und entnahm sie nichts der so wenig klerikalen, der so priesterlichen Prägung dieser tragisch in sich gekehrten Züge? —
Ach! so neu war dies! wie wenn Berge zurücktretend ein Tal einlassen. Ich war so entzückt, daß sich mir alles festlich erhöhte: das Silberzeug wie neu gehäuft, als spende es seine Pracht zum ersten Male, und auch die Blumen!
Es ist leider nicht zu umgehen, daß hier zu viel von mir selbst die Rede ist, denn ich muß zur Erklärung manches einschalten. Mit sechs Jahren steckte ich schon in einem Kloster, das ich erst mit zwölf, beflügelten Schrittes, auf immer verließ. Der Begriff und das Hochgefühl, ja die Würde der Freiheit bestand für mich darin, daß ich nunmehr mit Klosterfrauen, spitzenbesetzten Heiligenbildern auf Tortenpapier, und den frommen und so faden Öldrucken, vor welchen es in keinem Saale, keinem Korridor, keinem Vorplatz ein Entrinnen gab, auf immer außer Kontakt treten durfte. Dies hatte der furchtbare Klosterjargon bewirkt, in den das Erhabene und Unbegreifliche, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, ohne Unterlaß hereingezogen wurde. Kein Anlaß war zu gering, um uns von Gott zu sprechen. Schneller als man glaubt hat aber die geheimnislose Aufmachung des Geheimnisvollen das religiöse Bewußtsein eines Kindes zerstört, und es wendet sich so bald als möglich von einer Sache ab, die man ihm mit beschämend albernen Reminiszenzen behing. Ich war mit so mächtigen Aversionen aus meinem Kloster ausgetreten, daß ich mich fortan allen religiösen Erörterungen und dem Umgang kirchlicher Personen mit anstößiger Deutlichkeit entzog und meiner Abneigung für sie auch dann, ja dann erst recht mit wahrem Behagen treu blieb, als ich angefangen hatte, dem Problem des Katholizismus still für mich allein mit gespanntem Interesse nachzuhängen.
Und nun zurück zu jener Tafel: aber ich glaube, es werden einige schon begriffen haben, warum da mein Herz so plötzlich höher schlug.
Tags darauf bestürmte ich Barrère, mir zu einer Unterredung unter vier Augen mit Duchesne zu verhelfen. Ihnen kann er’s nicht verweigern, und mich machen Sie für den Rest meiner Tage glücklich, beteuerte ich.
Aber Barrère ließ sich durch meine melodramatische Geste nicht beirren. Er dachte nicht, was ein jeder an seiner Stelle gedacht hätte: „die Kleine wird mich blamieren!“ Er zögerte nur einen Augenblick lang, dann schickte er eine Zeile zu Duchesne hinauf: dieser wohnte nämlich im selben Hause, wenn auch nach einer anderen Himmelsrichtung und fast eine Viertel Meile Weges entfernt. Denn das Dach des Palais Farnese ist weitläufig wie ein Stadtviertel und birgt einen ganzen Komplex verschiedenster Wohnungen. Es hat sogar seine Slums, sozusagen, unkontrollierbare Schlupfwinkel, aus welchen allerlei lichtscheues Volk sich nicht mehr vertreiben läßt.
Duchesne schickte den Boten mit der Antwort zurück, daß er mich am folgenden Morgen empfangen könne. Als Leiter des Archäologischen Institutes hatte er eine hochgelegene, aber stattliche Flucht von Zimmern inne. Beklommen erstieg ich die vielen Stufen und begriff den Ansturm nicht mehr, der mich mit solcher Macht zu diesem Schritt getrieben hatte: er erschien mir plötzlich anmaßlich und ungenügend motiviert. Lag mir denn auch wirklich so übermenschlich viel an solchen Fragen? welchen Fragen? . . . ich wußte auf der Welt nicht mehr, was ich Duchesne sagen wollte, und angsterfüllt zog ich die Klingel.
Der Diener verneigte sich stumm, zum Zeichen, daß ich erwartet sei, und aus dem Halbdunkel trat eine Katze hervor, die sich ohne Zögern meiner annahm und mir voranschritt. Zwar hätte nichts farbloser sein können als Duchesnes Empfang. Mir jedoch, da ich vor ihm stand, verscholl alles Alltägliche, und alles Zufällige stürzte mir zusammen wie Kulissen, die aus dem Wege müssen und mein wahres Leben umgab mich wie ein Paradies. Kindheit und Jugend von mir fortgeweht und selbst die Jahre, die noch vor mir lagen, im voraus abgesponnen, gehörten mir nicht mehr an, keine Zeit, nur diese eine denkwürdige Stunde; kaum ein Geschöpf, nur ein Gedanke, so stand ich vor ihm; nichts von dem Zimmer wahrnehmend, in dem ich stand, nur den Himmel, der durch die Scheiben sah: rosige Wolkenstreifen über den Janiculus. Es ist Abend, dachte ich.
„Guten Morgen,“ sagte Duchesne.
Doch ich blieb unter dem vagen Eindruck eines Abendhimmels und sah so klar, wie ohne diese unverhoffte Begegnung mein Weg sich verengte und ich abstürzte. Aber im magischen Schein dieses sinkenden Tages, der ein aufziehender war, dünkte es mir mit nichten wunderbar, daß der ausgerechnet einzige Mensch auf dieser Erde, vor dem ich mir — wie ich nun einmal beschaffen war — die Bestätigung, das „Geländer“ dessen holen würde, was ich mir nun schon lange — Sprosse für Sprosse — trotzig aufbaute, hier vor mir stünde, mich zu vernehmen. Die Tatsache war schon vergessen, daß sich mein Leben bisher zu einer Mosaik heftiger, stets unerfüllter Wünsche mit erstaunlichem Tempo zusammensetzte. Stand doch auch mein Umgang mit Menschen damals im Zeichen des erbitterten, weil unstillbaren Wunsches, auf einen Stuhl zu steigen, und was ich gerade meinte oder dachte, furchtbar hinauszuschreien, um die Nichtachtung zu übertönen, die meine aperçus samt und sonders erfuhren. Die sogenannten reifen Leute pflegen ja den Werdenden jeden Kredit auf eigene Gedanken um so systematischer zu verweigern, je gedankenloser sie selber sind. Und doch trägt einer seine paar Ideen, wenn überhaupt, schon sehr früh mit sich herum, und sich selbst überlassen, kommt vielleicht nichts seiner Bedrängnis gleich.
Aber hier stand der gewaltige Duchesne, und ihm bekannte ich da in hastigen Umrissen die ganze Not meiner geistigen Existenz: Wie ich auf meiner Flucht vor all denjenigen Dingen, die mir so früh verleidet wurden, dem menschlichen Geiste auf allen mir zugänglichen Gebieten, nur nicht den religiösen, nachzuspüren begann, wie aber alle diese der Religion entfremdeten, oder sie ignorierenden, ja sie scheinbar negierenden Pfade, sich mir zu guter Letzt als Umschreibungen jener selben Mysterien bekundeten, deren Sinn, ja deren Wahrheit mir eine zu unumwundene und plumpe Wörtlichkeit so früh raubte; wieso ich die Leute nicht verstünde, die es sich untersagten, den Dogmen nachzuhängen aus insgeheimer Furcht, sie dann bezweifeln zu müssen, und wie feig, wie träge, wie wenig menschenwürdig mir dies erschiene; um so mehr als sie den spekulativen Gedanken auf das äußerste anzuspornen vermöchten, und es eine Art gab sie zu jagen und zu verfolgen, bis sich ihre Fassetten zu einer vieldeutigen Einheit blitzend zusammenballten, daran sich von neuem Alles erproben, die kühnsten, fürwitzigsten Spiele treiben ließe, die selbst mit dem schwindligen Kosmos bemessen, ihre Schwingung behielt . . . die vielen Wohnungen auch wirklich birgt, von welchen geschrieben steht, und also auch Hürden den Einfältigen gewährt; daß sich der Freie aber nur deshalb zufrieden gibt, weil hier ein Geheimnis hinter dem anderen lauert, und Unerforschliches hinter dem Erforschlichen wie im Sternenraume immer neue Kreise einbezieht. Eine solche Einsicht, meinte ich, in einem Zuge fortredend, hatte so sehr den Charakter des einreißenden Affektes, daß man wohl scheuen könne, ihn vor sich selber auszuplaudern . . . . daher das so sehr Fakultative dessen, was man Frömmigkeit nennt und für einen Bestandteil des Religiösen hielt, während es ein vielfach sich lösendes Abzeichen sei.
Duchesne unterbrach mich mit keinem Wort. Am Fenster stehend, und halb mir zugekehrt, hörte er mich an. Ich meine, wir sind so empfindlich geworden, gerade in solchen Dingen, fuhr ich fort, denn wir neigen so stetig vom Sichtlichen weg! Wem der Katholizismus seit Generationen im Blute sitzt, der scheint heute Nichtkennern unverständlich, fast hostil. Schon fordert er den Altar als Hintergrund für Priestergewande. Mönchstrachten und Klosterschwestern im Straßenbild sind nicht glücklich — — — —
Die Sonne senkte Streifen goldenen Staubes herein. Bald wird sie sinken, dachte ich, und meine Worte fingen an sich zu überstürzen: durch das Überdauernde und Grenzenlose der Konnexe war eine Sache groß. Alle Künste aber strebten seit vielen tausenden von Jahren an den Schleiern unseres Kultes zu weben und waren von jeher durch den Pulsschlag oder den Gedanken eminent katholisch. Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer verdrängt, das universalste zum einschichtigen, die Sache, deren Schlagwort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge. So kehrt fast jeder um, wo dennoch ein Weg über jene Himmelsbrücke bis zum alten Hellas hinüberreicht, das sich als gewaltiger Aufruf, als elementarer Auftakt der Messianischen Zeit aus der Versenkung hebt. Und die Gestalt des Erlösers . . . Hier brach ich ab. War es denn nötig, etwas hinzuzufügen? Mußte der Mann, zu dem ich mit geweiteten Augen hinübersah, nicht mit einem Blick erraten, wie sich auf dem eingeschlagenen Wege die Prinzipien, die man mich als Gegensätze gelehrt hatte, ins Unabsehbare versöhnten, und wie brennend ein solcher Verdacht mich innerlich einschloß und umzüngelte? Vielleicht hatten ihn schon viele geschöpft; ich konnte es nicht wissen, da ich ihn noch von niemand vernommen und zu niemand geäußert hatte. Unter den geistvollen und mir unendlich überlegenen Menschen, die ich schon kannte, war mir doch keiner vorgekommen, dem ich gerade in solchen Dingen die Autorität zugestanden hätte, mir diesen Verdacht zu bestätigen oder zu bestreiten; keiner, dessen Widerspruch mich nicht unbeschreiblich gereizt hätte, um dann anzunehmen, daß ich es selber besser wüßte . . .
Wozu hatte ich jetzt gesprochen, wenn dieser hier alle diese Dinge nicht erriet?
Monseigneur, schloß ich unvermittelt, täusche ich mich oder habe ich recht?
Und Duchesne antwortete mir ohne Zögern.
Aber mein Gehirn war plötzlich wie ausgelöscht und leer und ein Büschel Fräsien, deren Duft ich bisher nicht wahrgenommen hatte, ward überwältigend. Ihre archaische Seele ausatmend — diesem ewigen Echo von Hoffnung, Frühling, unglücklicher Liebe — bestimmten sie den Klang dieser Stunde und trugen ihre schwere und doch so beschwingte römische Luft, ins Unermessene hin.
Duchesne saß mir jetzt gegenüber und sprach unter anderem von den Katholiken Deutschlands.
„En Allemagne on aurait fait de moi un Döllinger,“ sagte er, „ici on m’a fait Monseigneur.“
Und es fiel mir ein, daß Barrère sich fast ein wenig verwundert über die Befriedigung geäußert hatte, welche ihm diese Ernennung bereitete. Ich begriff die Genugtuung so wohl. —
Aber ich fühle, wie ungeduldig der Leser auf mich wird. Duchesnes Antwort ist es, die er wissen möchte, und ich kann sie ihm nicht sagen, denn mein Besuch ist kein Interview gewesen.
Genug, daß dieser wegen seines Liberalismus so viel angefeindete Mann der beißenden Sarkasmen, der bitter-frivolen Witze, sich als ein heiliger Priester entlarvte. Die Entdeckung, obwohl gleich bei der ersten Begegnung so vorschnell geahnt, war so wichtig, daß ich sogleich wußte, bevor ich es erfahren lernte: Daß mein Leben, was immer es mir bringen oder verwehren würde, dennoch in dieser Unterredung mit Duchesne seinen eigentlichen Abschnitt fand und in ein vor oder nach ihr zerfiel. Ja, ich verließ ihn so ganz von diesem Bewußtsein eingenommen, daß ich wie im Traum die vielen Stufen hinabging, die ich so bang erstiegen hatte. Vor dem kühlen Palast lag jetzt der Campo di Fiore in der Mittagsglut. Wo sich träge und lau, und doch nachhaltig wie ein Lied, sanfte Levkojen häuften, nahm ich meinen Stand, zu glücklich, um mich von der Stelle zu rühren. Nichts war ja sinnlos und alles hing zusammen.
Ein paar Tage später traf es sich, daß ich infolge einer Konfusion in Duchesnes Wagen von einer Gesellschaft mit ihm zurückfuhr. Wir sprachen dabei über das holperige Pflaster, die zunehmende Hitze und die mangelhafte Beleuchtung des nächtlichen Rom.
Als bald darauf bei ihm selbst ein Empfang stattfand, kam ich ihm nicht in die Nähe, und als ich mich in der Folge wieder nach Rom begab, suchte ich ihn nicht mehr auf.
Die Jahre verstrichen, ohne daß ich ihn wiedersah. Von dem neuen Kurs begünstigt, hatte einstweilen in den klerikalen Blättern des halben Kontinents jene berühmte Hetzjagd auf ihn eingesetzt, bei welcher er nicht besser als ein Ketzer behandelt und seiner Ernennung zum Mitglied der französischen Akademie mit täglich neuen Insulten entgegengetreten wurde. Ein Buch, das unter Leo XIII. niemand zu rügen wagte, stand plötzlich auf dem Index, und der Augenblick schien endlich gekommen, wo er, der ungerechtfertigten Angriffe müde, durch einen offenen Bruch entgegnen würde. Wenn die Nichtkatholiken darauf wetteten, so konnten ihn seine feindlichen Glaubensbrüder kaum erwarten. Aber ich wußte zu genau, daß er diesen den Gefallen nicht tun würde, um mich auch nur zu erkundigen, welchen Entschluß er getroffen hatte.
Es wurde Mittsommer über der häßlichen Campagne, ich war gerade in London und wollte nach Deutschland zurück, als ich durch eine Zeitungsnotiz erfuhr, daß Duchesne sich in Paris befand. Plötzlich lebte da übermächtig der Wunsch in mir auf, ihn wiederzusehen. Seine Adresse war schnell ermittelt, ich schrieb ihm, daß ich über Paris führe und fragte an, ob er mich empfangen wolle. Die Antwort war ein kleines Billet, mit sorglicher Angabe der Untergrundbahn und der Stationen, wo ich ein- und umsteigen müsse, um am schnellsten vom rechten Ufer zu ihm hinüberzukommen. Möglichst bald, denn er sei im Begriff, in die Bretagne zu fahren! Ich reiste sogleich, war abends in Paris, und kündete mich für den nächsten Morgen bei ihm an. An der Hand seiner Vermerke legte ich, bald über, bald unter der Erde, den komplizierten Weg zu seiner verlorenen kleinen Sackgasse zurück, in der sich zweistöckige Häuser altmodisch aneinanderreihten. Ich eilte eine Stiege hinauf, trat rasch durch eine Türe — wie damals stand er am Fenster — kein Janiculum mehr — gesenkte Jalousien, um das Sonnenlicht zu dämpfen; wie damals wußte ich nichts von dem Raum um mich her. Ich hatte mich verschleiert, wie man das unwillkürlich tut, wenn man jemand nach acht Jahren wiedersieht; sein verändertes Aussehen aber war es, das ich mit Bestürzung wahrnahm. Nicht, daß er krank oder stark gealtert schien, es war noch das schnell bereite, fast bedrohliche Aufblitzen des Auges, die kühne und gebieterische Abwehr, aber es war auch die Furche des Kummers, etwas so Bitteres, ein so wühlender Gram, daß mir der Gedanke an König Lear durch den Kopf schoß, wie er in seiner Verlassenheit die sturmgepeitschte Natur zum Zeugen erlittenen Unrechts anruft. Es war nur eine andere Zügelung, aber es war dieselbe Gehetztheit.
„Sie wissen,“ sagte er „auf welche Weise man mich zur Strecke zu bringen sucht.“
„Aber so vergebens,“ meinte ich achselzuckend.
„Keine Waffe scheint dafür zu schlecht,“ und er deutete auf die Blätter und Zeitschriften, die ihm offenbar soeben zugekommen waren. Vor ihm lag eine Revue aufgeschlagen.
„Ist Ihnen das schon bekannt?“ fragte er, und nannte die Beschuldigungen, die in heuchlerischen und perfiden Protesten gegen ihn erhoben wurden.
„Warum in aller Welt lesen Sie dieses Zeug,“ rief ich und starrte ihn verwundert hinter den verschnörkelten Gittern meines Schleiers an. Aber er machte kein Hehl daraus, wie sehr es ihm zu Herzen ging. Ich war aufgesprungen.
„Monseigneur,“ rief ich, „Sie müssen doch wissen, daß Sie der Halt einer verstreuten kleinen Gemeinde sind, die einfach durch die Tatsache, daß Sie da sind, lediglich durch den Eindruck Ihrer Existenz beherrscht, verankert, durch Sie allein gehalten ist.“
„Es freut mich,“ sagte er, doch ohne daß seine Züge sich erhellten. „Aber sehen Sie — es können doch auch Rechtdenkende an mir irre werden, wenn sie alle diese Schmähungen lesen.“ Und er deutete wieder auf die Blätter hin.
„Das ist mir zu viel Bescheidenheit,“ gestand ich.
Wir sprachen dann von anderen Dingen, aber auch sonst war eine Unfreude und Entmutigung an ihm, die ich nicht kannte.
Die Straße lag brütend vor mir, als ich wieder aus dem Hause trat, aber ich ging zu Fuß meinen langen flimmernden Weg.
Ist uns nicht, als wollten wir immerzu gehen, ungestört unser Lebtag lang, wenn infolge eines starken Kontaktes ein geistiger Pendel in uns schwingt? Es kann sein, daß dann unsere Füße ganz mechanisch einsetzen, nicht wahr, oder wie eingewurzelt stehen. Zwar hatte ich Duchesne gegenüber die richtige Note wohl nicht getroffen. Schnell fertig hatte ich unüberlegt geglaubt, er würde sich mit ein paar schlechten Witzen und einem ironischen Achselzucken über den obskuren Tumult hinwegsetzen, der ihn verfolgte, und während er meinen Besuch als eine Sympathiekundgebung erwartete, hatte ich ihm nur Lebhaftigkeit bezeigt. Es war gewiß schade, dennoch konnte mich das Bedauern darüber nur flüchtig stören. So leicht wog da alles Persönliche! So unnachhaltig erwies es sich!
Ich erinnere mich keines heißeren Tages wie jenes 14. Juli in Paris. Die Häuser waren beflaggt, aber die Straßen schienen zu trauern, da keine Fahne sich regte. Erst nachts, als ich zur Bahn fuhr, belebte sich das Bild. Singendes Volk schwärmte durch die Straßen, und alle Leierkästen der Stadt orgelten durch die Luft. Ein Mädchen tanzte, hocherhobenen Kopfes, unter dem dunklen Himmel, von Zuschauern umringt.
Doch welch barscher Novemberwind wirbelte die Blätter von der feuchten Erde auf, als ich wiederkam! Alles Laub dahingerafft und schon vergessen. Aber ich will nur den einen Moment herausgreifen, da ich im Flur von Professor Bergsons Hause der Ausgangstüre zuschritt und er mich geleitete. Ich weiß nicht wie es kam, daß vor seiner offenen Schwelle und dem niedrigen Himmel, der seinen erstorbenen und verwehten Garten überhing, Duchesnes Namen zwischen uns fiel, und wir seiner einzigartigen Stellung in der geistigen Welt gedachten. Und Bergson sprach von dem Katholizismus im Lichte dieses großen Katholiken, der, so klug, so wohl beraten und durch den Irrtum anderer gewitzigt lautlos jenen treibenden und langersehnten Schritt voranging, der den Schismatikern mißlang.
So klar entstand jetzt zwischen uns sein undeutliches, von den Nebeln des Tages verhülltes Bild, als sei es schon entseelt und als hätte sich sein Schatten zu uns gesellt. Bergson drückte die Klinke wieder zu. Wir mußten lächeln. So ohnmächtig also verhielt sich hier der Tod, so wenig würde es hier für ihn zu holen geben, wenn er da rufen würde! — — —
1914 (Weiße Blätter).
Während meines letzten Aufenthaltes in Paris kam ich eines Abends zu Barrère, der wegen Influenza das Zimmer hüten mußte. Ich traf ihn lesend, die Füße auf einem Stuhle ausgestreckt, Zeitungen über ihn geschichtet und wie eine Decke von ihm niedergleitend. Eine Lampe hing gerade über seinem weit zurückgeworfenen Kopf.
Ich wollte ihn bitten, liegen zu bleiben, aber schon war er aufgesprungen, mit jener knabenhaften Schnelligkeit, die alle seine Bewegungen kennzeichnet. „Sie bleiben den Abend?“ fragte er. „Ich bin bei Ihnen eingeladen,“ erinnerte ich ihn. Und ich trat an den Kamin, darin hohe, still flackernde Flammen loderten. Es war ein dunkler, trüber und regnerischer Tag gewesen. Ich fand Barrère, den ich seit zwei Jahren nicht gesehen hatte, verändert. Auf das lebhafteste gemahnte er mich jetzt an einen Ausspruch, den ich mir zu zitieren gestatte, obwohl er nur von mir ist.
„Habt ihr nicht bemerkt?“ fragte ich schon Anno dazumal, da noch kein Mensch auf das, was ich sagte (auch wenn es noch so richtig war) im geringsten achtete; „habt Ihr nicht bemerkt, daß wir nur in dem Maße altern, als wir nichts taugen?“ Nun hatte ich Barrère das letztemal kurz nach einem Sturz vom Pferde getroffen, und ich erinnere mich sehr deutlich, wie plötzlich das Zukunftsbild eines alternden, einer bestimmten Generation angehörenden, sich nicht mehr erneuernden Barrère flüchtig in mir vorüberzog. Denn auch für die Besten kommt der Augenblick, wo der „Genius der Zeit“, dieser ärgste Feind des Menschen, ihn umwittert, um an sein Tagewerk, sein Wesen, ja an sein Ich das grausame Schild „Vorbei“ zu hängen. Doch als jenes Bild von einem Barrère, qui a fait son temps, in mir aufzog, da hatte ich vergessen, wie sehr seine Einstellung doch gerade auf Fußangeln, Hemmungen und Hindernisse war, und mit welchem Geschick er mißliche Umstände zu einem Wetzstein seiner Fähigkeiten konvertierte.
Ich kannte ihn nun seit vielen Jahren, aber ich mußte mir gestehen, daß er inzwischen über sich selbst so rastlos hinausgewachsen war, daß seine Haltung, seine Züge, seine Gestalt einen Meißel, ein höheres Training, eine feiertägliche Glasur erlangt hatten, sein Blick aber bei gesteigerter Aktuität eine innere Stille, mit einem Worte: daß er die Miene desjenigen trug, der es insofern mit der Zeit aufnehmen darf, als er sie nie vergeudete. (Zwar hatte er schon als junger Minister die Aufmerksamkeit Bismarcks erregt, der auf ihn als auf den kommenden Mann hinwies, ein Wink, der bei uns unbeachtet blieb.)
„Wie ist es draußen?“ fragte er.
„Trüb, windig und regnerisch.“ Und ich sagte ihm, daß ich in der rue de la Paix, in einem Wagen wartend, die Passanten gemustert hatte, und wie schwer es mir schien, den Typ der heutigen Generation zu bestimmen. Es gibt die Menschen der achtziger, die der neunziger Jahre, aber die Leute von 1911, meinte ich, die gibt es eigentlich garnicht, und man wird eines Tages seine Not mit ihnen haben, so transitorisch, so ungefähr erscheinen sie, als seien sie nur angedeutet. Sehr ausgesprochen ist nur das eine Merkmal, daß die wenigen großen Leute, die es noch gibt, so vorschnell, als seien sie abberufen, diese Welt verlassen. Welch erlesene kleine Schar bilden unsere heurigen Toten! Unter ihnen kein einziger Greis.
„Es ist eine an überragenden Persönlichkeiten sehr arme Zeit geworden,“ stimmte er mir bei.
„Wenn Sie Umschau halten,“ sagte ich, noch immer vom Kamin aus, „müssen Sie finden, daß Sie herzlich wenig Kollegen haben.“
„Für einen wahren Diplomaten,“ bemerkte er, „genügt es heute nicht, nur Nationalist zu sein. Sein Blick muß noch weiter hinausreichen.“
Es entstand eine Pause, denn ich wollte nicht sagen, was ich dachte, da erschien ein soeben von Rom angekommener Sekretär seiner Botschaft unter der Tür. Zufällig hatte ich auch ihn vor zwei Jahren hier getroffen; er war damals ein Neuling in der Karriere und ich hatte mich im stillen gewundert, daß Barrère ihn so ohne weiteres für seinen „Stab“ akzeptierte, denn er war mir recht talentlos, nichtssagend und langweilig erschienen. Und nun hätte ich ihn kaum wiedererkannt in diesem lebhaften, energischen jungen Manne, der sich mit so großer Präzision ausdrückte und dessen Wesen einen so eigentümlichen Ernst und eine so große Aufmerksamkeit verriet. Dies also war unter dem Einfluß eines solchen Chefs aus ihm geworden.
Von Rom her wußte ich, mit welchem Wetteifer sein Personal arbeitete. Vielleicht lag die Stärke seines Einflusses in der nie Kälte und Gleichgültigkeit ausstrahlenden Sobrietät seines Verhaltens. Was er aus sich selbst gezüchtet hatte, war die treibende Kraft geworden, die er in seine Leute hineinlegte und magnetisch sie bereicherte, um aus ihnen das äußerste an Arbeitsfähigkeit herauszuholen. Denn das Plastische war einfach seine Ader.
Ich dachte an Mottl, den Unvergeßlichen. Wie kraft seiner, nie Kälte noch Gleichgültigkeit ausstrahlenden Sobrietät der Geste selbst die Unbegabten und die Lauen unter seinem Banne zu Taten aufgerüttelt und mit fortgerissen wurden und sich selbst weit überboten, und er Funken seines eigenen Feuers aus ihnen schlug, um Tongebilde auf goldenen Säulen ans Licht des Tages emporzutragen. Denn das Plastische war seine Ader.
Man hegt in Deutschland eine sehr bestimmte Meinung über Barrère, aber wenn er ein Siamese wäre, könnte uns sein Wesen nicht ungeläufiger und unbekannter sein. Als ich vor mehreren Jahren einen Aufsatz über ihn verfaßte, berief ich mich darauf, daß auch bei dem gewiegtesten Diplomaten ein Hauptgewicht auf sein Temperament zu legen sei. Und das Temperament Barrères sei das des Architekten.
Und so winkte ich lang, ehe es noch ein Marokko zwischen uns gab, mit Girlanden und Zaunpfählen meinen Landsleuten zu, die natürlich nicht die leiseste Notiz davon nahmen. Denn in keinem Lande ist es so unmöglich, sich Gehör zu verschaffen, wenn man nicht in Amt und Würden schon ergraute, wie bei uns. Nur Dichtern, Schauspielern und Sängern ist Jugend bewilligt. Ich glaube übrigens, daß sich um dieselbe Zeit in Deutschland ein Mann vom Rang und Ansehen eines Barrère schwerlich herabgelassen hätte, sich mit solcher Schlichtheit über europäische Dinge hin und wieder mit mir zu unterhalten. Man wird mir einwenden, daß er sich den Luxus der Bescheidenheit gestatten durfte. Das war ja auch meine Idee.
Aber eben darum greife ich die Presse außer acht lassend, weiter zurück; denn die Zeitungen sehe ich nur mehr sehr flüchtig durch. Sie immerzu als aufgeregte Ohnmächtige zu handhaben, war auf die Dauer allzu lächerlich und zwecklos. Und so greife ich weiter zurück und sehe etwas Unheilvolles und Gefährliches in unserer Arroganz. Sie ist es, die unserem Verständnis französischer Wesensart so sehr im Wege liegt. Und sie ist das Bedenkliche und Hinzugekommene. Das Ominöse und Charakteristische bei gewissen Alldeutschen ist, daß sich die Arroganz bei ihnen an Stelle der Besonnenheit behauptet und da Türen zuschlägt, wo sonst Gedanken wären . . .
Zwar wird heute hin und wieder, zwischen Deutschen und Franzosen, etwas von einem Sich-besser-kennen-lernen, niemals aber die Frage nach dem Sich-weniger-kennen ventiliert. Nun behaupte ich, daß die Franzosen uns unrichtig und ungenügend, wir die Franzosen aber gar nicht kennen. Außer unter den Künstlern habe ich niemals auch nur den leisesten Flair für französische Wesensart und Empfindungsweise bei meinen Landsleuten wahrgenommen.
„Panther“ 1913.
Wenn feine und feinste Nadelspitzen abbrechen, so werden sie bekanntlich stumpfer wie eine weniger dünne, die nicht entzwei ging. Feinste Nadeln sind also gerade in ihrer Feinheit gefährdet; sogenannte „feinste Kreise“ seit etwa zehn Jahren in eben dem Sinne auch.
Diese Behauptung bitte ganz à l’Européenne aufzufassen, nicht aber mich deshalb als Sozialistin, denn ich bin garnichts.
Wer aber hin und wieder zum Wanderstabe greift und dann nach der Rückkehr am alten Fleck sich wieder umsieht, in dem drängen und schieben sich die Eindrücke wie Bücher in ihren Regalen zurecht, Bilder finden ihren Platz, und jener merkwürdige Vorgang, den man „vergleichende Geographie“ zu nennen versucht ist, fängt an in seinem Kopfe zu entstehen. Dabei werden ihn die Verschiedenheiten, die er in der Fremde wahrnahm, natürlich viel weniger stutzig machen, als die Ähnlichkeiten. Ja, diese sind es wohl, die dann der Bereicherung durch das Gesehene fürs erste jenen leisen Untergrund von Ernüchterung beimischten, den der Heimgekehrte spürt. In Wien, Berlin, Paris, London, Rom liegen, trotz der verschiedenen Atmosphären, doch dieselben Dinge „in der Luft“. Als man anfing, geschmacklose Bauten zu errichten, baute man allerorts — wie auf geheime Order hin — geschmacklos. Vorm Buckingham Palace erhebt sich etwas nicht minder Scheußliches, als gewisse Neubauten in den Straßen Roms. Machte sich doch das Gemeine bis in die jüngste Vergangenheit besonders in Palästen, Banken und Bahnhöfen breit; ob es Millionen kostete, ob überall eine Anzahl Menschen die Hände darüber rangen, es setzte sich wie nach einem: Pardon wird nicht gegeben, überall durch.
Das geschmackvolle Frankreich bemühte sich hierin vor dem geschmacklosen Deutschland erfolgreich um den Rekord. Gewisse moderne Monumente im Park Monceau und in den Tuilerien sind sogar im Tiergarten noch unerreicht. Vielmehr ist man bei uns zuerst zur Besinnung gelangt, und es durften wieder anständige Häuser entstehen. Erst seit München sich des Hubertustempels erfreut, durfte in Piccadilly ein interessantes Bankhaus auf die Welt kommen. Denn wenn in Paris oder Berlin etwas in der Luft liegt, kommt in Wien einer darauf. Denn es gibt eine europäische Gemeinsamkeit der geistigen Einstellung allen Triple-Alliancen und Triple-Ententen zum Hohn, wie ja der Begriff Europäer sich immer mehr zusammenschließt, und wie ja die Idee eines europäischen Krieges wirklich mit jedem Tage geistreicher wird.
Und weil mir die Europäerin dabei einfällt: von ihr läßt sich wohl im großen Ganzen sagen, daß sie in aufsteigender Linie begriffen ist. Seitdem sie vernünftiger erzogen wird, nicht selten etwas Tüchtiges lernt, und nicht mehr so ausschließlich ihren Himmel in einer Verheiratung erblickt, während ihre Panik sich auf ein eventuelles Keinen-Mann-Kriegen konzentriert, seitdem haben sowohl der „Backfisch“ wie die „Gans“ ein wenig von ihrer typischen Rassenreinheit verloren. In den Köpfen der Mädchen wurde ja die Leere prinzipiell gezüchtet, und durch das bißchen Geographie und Klavier der bedauerlichen Tatsache ihres Nichtbeschäftigtseins nur noch mehr Nachdruck verliehen. Dies also ist — allen Teilen zum Glück — merklich anders geworden. Wir wollen uns daher nicht länger dabei aufhalten.
Ich glaube, eine aufsteigende Kurve ließe sich bei uns zu Lande auch für jene Kreise ansprechen, welche bislang die innere Bildung gleichsam in Pacht hielten, ihre Innerlichkeit aber leider auf Kosten ihrer Äußerlichkeit pflegten, Schönheitssinn mit Frivolität verwechselten und auch in ästhetischen Dingen sich durchaus als Protestanten dokumentierten.
Wer aber nicht in aufsteigender Linie begriffen ist?
Ich sagte es ja schon.
Als ich zum erstenmal Gelegenheit hatte, es wahrzunehmen, traute ich allerdings meinen Augen kaum.
In feudalen Burgen der französischen Provinz fiel es mir zuerst auf, wie sehr das geistige Niveau der vornehmen Gesellschaft gesunken ist. Aber auch in Schlesien, Österreich, England und Bayern weiß ich von Schlössern mit wundervollen Deckengemälden und unnachahmlichen Stiegenrampen und köstlichen Lüstern, Schlösser, in denen es sich traumhaft lebt, umgeben von Dingen, alle edel und beglückend anzuschauen. Vom mittelalterlichen Söller direkt ins Auto zu steigen, neuester Komfort zu alter Pracht gesellt, hat seinen eigenen Reiz. Wenn dann der Gong ertönt, drehen sich schmucke Türen in ihren Angeln, und Herren mit blanken Gesichtern, schimmernde Damen betreten hoch erhobenen Kopfes, Neugier erweckend, den Saal. Und der erste Abend mit diesen geschmückten Menschen, die man noch nicht kennt, verbringt sich behaglich und charmant.
Wie kommt es nur, daß man schon im Laufe des nächsten Tages fein leise sich ins Dorf schleicht und in einem dringlichen Kartenbrief den Wortlaut der Depesche bestellt, welche dem verheißungsvoll begonnenen Aufenthalt ein rasches Ende bereiten soll? und daß man schon genug hat, und sich zu Tränen langweilt?
Woher kommt es nur?
Weil die Unbildung sehr zivilisierter Menschen von einer Öde ist, über die kein Feenpalast hinweghilft. Es hat mehr Würze, mit einer alten Taglöhnerin, die mit ihrem Bündel über das Feld zieht, ein Gespräch zu führen, als mit einer unwissenden und ahnungslosen Fürstin. Denn dort können unausgelöste Werte sein, hier aber starrt uns ein überzüchtetes und selbstzufriedenes Nichts entgegen.
In allen Ländern aber, in welchen ich gewesen bin, habe ich bemerkt, daß die „höchsten Kreise“ eine gewisse Kurve zur Vergröberung genommen haben. Und ich hebe es hervor, weil es schade ist um uralte Geschlechter, Träger hochtönender Namen, die innerlich verbauern. Die Gefahr ist da. So gewiß es keinen Stillstand in menschlichen Dingen gibt. Wer sich nicht auf seiner Höhe erhält, d. h. sie immerzu fördert, der fällt von ihr. Schlösser, Paläste, die man ganz durchstöbern könnte, ohne ein gutes Musikstück oder ein nennenswertes Buch drin vorzufinden, sind nicht mehr vereinzelt.
1913 Neue Rundschau.
Man hat den Futurismus vielfach als „beißende Satire“ auffassen wollen, als einen Hohn auf die Kritiklosigkeit der Menge, für die kein Humbug grob genug sei, — aber ich glaube da an keinen Spaß, höchstens einen, der dem Ernst zuvorgekommen wäre. Denn ich kann mir unsere Zeit ohne den Futuristen garnicht denken. Waren sie nicht als Nachzügler vor Torschluß noch gerade recht eingezogen, so würde den künftigen Dokumenten über unsere Epoche ein Blättchen fehlen. Nicht daß ich leugnen wollte, es sei ein grausamer Spaßmacher gewesen, der als erster den Futurismus „in Malerei setzte“. Es mag wohl eine Posse gewesen sein, ihm zu einem so drastischen Organ zu verhelfen und ihm „mit dem Pinsel zu kommen“; ich leugne nur, daß er durch die Malerei entstanden sei. Wer eine Anzahl junger Leute aus bestimmten Jahrgängen kennt, der sieht im Futurismus der Maler vor allem eine Inversion, und er wird den Maler nicht mit dem Modell verwechseln, weil dieses zufällig so gut getroffen ist, und in diesem Falle so leicht zu treffen war. So wird er nicht umhin können, zu finden, daß der Futurismus, rasch bevor er antiquierte (was seine unweigerlichste Bestimmung ist), durch die futuristischen Maler glänzend fixiert und der Nachwelt überliefert wurde. Ihre Bilder haben eine sehr schöne Zukunft, wenn auch nicht in der Malerei, so doch in der Kulturgeschichte, wo sie weniger ihren Rang, als ihren Platz einzunehmen bestimmt sind, um dereinst äußerst interessanten Quellenstudien zu dienen. Daß man tatsächlich einmal so malte, wird dabei von ganz relativem Interesse sein, wie nicht der Name des Schneiders von Belang ist, der diese oder jene wunderliche Tracht zurechtschnitt; wohl aber, daß man sie trug, daß man wirklich einmal so einherging. So wird künftig die merkwürdige Tatsache interessieren, daß es Personen gab, die genau so dachten und empfanden, wie es die futuristischen Bilder heute veranschaulichen.
Und wie ließen sich Leute, welche die Dinge ununterschiedlich sehen, besser als durch das Darstellen eines „Alleszugleichsehens“ persiflieren? Solche Leute aber gibt es heute! Ich kenne sie sehr gut. Wollte ich sie aber beschreiben, so wird — ich warne den Leser auch — alsbald ein futuristisches Bild daraus werden.
Also solche junge Männer (sofern man sie Männer nennen kann), solche junge Männer also sehen auf den ersten Blick mit nichten wie die ausgemachten Narren aus, die sie doch sind. Oft manierlich und gut gekleidet (denn der aktive Futurismus, setzt ein gewisses Nichtstun voraus, und die Not machte ihm schnell den Garaus), können sie sogar durch eine gewisse sterile Urteilsschärfe in belanglosen Dingen, eine scheinbare Kompetenz in nichtssagenden Details über ihren vollkommenen Mangel an Verständnis recht glücklich hinwegtäuschen. Zudem sie mit ihrer eigentlichen Narrensprache nur unter ihresgleichen herausrücken. Nur da heben sie das Visier von ihren unheimlichen Ohrfeigengesichtern und gestehen sich lächelnd ein, wie unsagbar hoch sie über den Ereignissen des Tages stehen. Mit der den Narren eigentümlichen Schläue bringen sie es daher auch fertig, nie zu wissen, was alle Welt weiß, weil es unter ihrer Würde ist, zu erfahren, was in der Zeitung steht; sie finden das gemein. Sie fanden es gemein, sollte ich besser sagen. Denn das ist ja das Witzige am Futurismus, daß er mit diesem Namen in Szene tritt, als die Futuristen schon aufgehört hatten zu sein, und zum Teil vernünftiger, zum Teil kleinlauter geworden waren. Schnell bevor sie ganz um die Ecke waren, nahm sie da der Futurismus noch beim Schlafittchen und entlarvte sie. Ihre kurze Blüte fiel in die Zeit der ersten Luftschiffahrten. Damals rannte einmal ein atemloses Stubenmädchen an die Stubentür eines solchen Jünglings und rief ihm zu, daß soeben ein Aeroplan über dem Dache flöge. Er zog daraufhin die Brauen hoch, begab sich zum Fenster, machte ein überlegenes Gesicht und zog die Vorhänge zu. Aber noch capabler dünkte er sich, wenn er inmitten einer durch Kriegsgerüchte oder eine schreckliche Katastrophe aufgeregte Menge geratend, von den grellen Plakaten, die an allen Straßenecken alarmieren, Kenntnis zu nehmen verschmäht. Denn er ist eitel wie ein Krämer, ein verkappter aber unverbesserlicher Bourgeois. Das Leben ist ihm ein großes Federbett, in dessen Daunen er seine Existenz so behaglich versenkt, daß von einem Überblick keine Rede sein kann. Gehört er (dessen chaotische Zustände gewisse Bilder uns heute veranschaulichen), gehört er doch ach! zu den zweifelhaften Produkten, die ein langer Friede zeitigen durfte. Seine Generation neigt ohnehin dazu, die Dinge zu nivellieren und die Abstände, die zwischen ihnen liegen, nicht zu merken. Er aber, als die Karikatur seines Jahrganges, nimmt überhaupt keine Unterschiede wahr. Für ihn gibt es kein Hoch und Niedrig, kein Gut und Böse, weder Scheidungen noch Schranken, nur seine berühmte Amoral, und eine weite Düne ohne jegliche Akzidenzen. Er wird es für absolut zulässig, was sage ich, er wird es für geistreich halten, seine Frau mit einer Kokotte verkehren zu lassen, wie er denn überhaupt zur Wertschätzung der Kokotte ungemein neigt. Infolgedessen ist er für das Verdienst, den inneren Wert, das Talent, das Genie, für alles, was die Menschen so unüberbrückbar voneinander sondert und was eine so strenge unsichtbare Hierarchie unter den Menschen aufrechthält, so unempfindlich und blind wie ein Tier auf der Weide. Er lehnt es ab zu vergleichen, er wird nie etwas verehren, wie es zu seinem unerläßlichen Merkmal gehört, daß er nie in den Dunstkreis eines bedeutenden Menschen trat. Er wird höchstens für etwas so Unvorhandenes wie die tote Mischfarbe einer Papierblume oder die erdichtete Kurve eines Mauseschwanzes Begeisterung äffen. Denn nichts ist ihm trostlos und öde genug, und was die futuristischen Bilder uns zeigen, das ist er.
Weswegen denn auch kein Wort, noch weniger ein Bild über ihn zu verlieren gewesen wäre, hätte er als Typ nicht etwas so Ominöses. Mag die Zeit noch so achtlos über ihn hinwegziehen, seine Existenz jagt doch das leise Grauen der Verwirrung ein, einer Verwirrung der Zeit selbst, wie jener grotesk-schauerliche Gedanke eines allseitig unerwünschten europäischen Krieges, den wir bei aller Rückständigkeit noch immer in die Zukunft rücken sehen. Auf die Möglichkeit solcher Verwirrung deuten — für das Gefühl — manche Verirrungen hin, die der Politik ganz fernab liegen: die allzuvielen unmännlichen jungen Männer dieser Epoche, die nur aus Verlegenheit ein Interim von Generation zu bilden scheinen, ja sogar so geringfügige Symptome wie die Ratlosigkeit der heutigen Mode. Den besten Schneidern fällt plötzlich nichts mehr ein, und die Kleider variieren in derselben Tonart provisorisch weiter. Vieles mahnt heute an die Ebbe, bevor die neue Flut ihre ersten Wogen ans Ufer wälzt.
1913 Neue Rundschau.
Wie ist binnen kurzem alles so anders geworden!
Unsere gute Tante Nora ist doch noch garnicht so alt! Sie, die unter dem Beifall der ganzen Christenheit, gleichsam mit fliegender Fahne, und mit so beispiellosem Erfolg, Mann und Kindern davonlief, daß auf zwei Jahrzehnte ein schier endloser Zug der Unseren, die von ihren Männern nicht verstanden werden wollen, sich ihr anschloß! Ja, wir heirateten nicht selten gerade daraufhin und kamen als Incomprises von der Hochzeitsreise zurück. Je hübscher wir waren, desto incompriser durften wir dann sein, desto eifriger erklärten andere Männer sich bereit, uns für unergründlich halten zu wollen und zu ergründen. Und dabei brauchten wir weiter garnichts zu tun, als zu bescheinigen, was sie in uns hineinlegten, und uns für rein nichts zu interessieren, als für das Interesse, das wir hervorriefen. Es war so furchtbar nett!
Doch ach! wie jäh hat sich das Blatt gewendet!
War der Mann des Spieles müde? Langweilte es ihn eines Tages, oder war er beim Rätselraten zu oft hängen geblieben? Ich weiß es nicht. Aber mit einem Male fand er, daß es spannender sei, selbst ein Incompris zu sein, und sogleich vertrat er dies mit jener angestammten Gründlichkeit, welche die neun Gymnasialklassen, die uns noch lange nicht im Blute liegen werden, so deutlich verraten. Wir anderen waren doch nur à conto mißverstanden gewesen, er will garnicht verstanden werden. Er kommt, nimmt uns die schöne Pfründe weg und ist der Unverstandene an sich.
Wir indessen müssen bis auf weiteres das Spiel verloren geben, denn uns fehlt der Partner. Gerade die jüngsten und reizvollsten Frauen sind heute so vielfach ausgeschaltet, als wären sie noch eingesperrt. Nicht im mindesten fehlt es ihnen an Anerkennung, vielmehr wird keiner sie so gut verstehen, keiner so schöne und erlesene Worte über sie finden, wie der Unverstandene Mann. Den Kult, den er zum Ausdruck bringt, hätte keiner früher einer Frau erwiesen, ohne für sie zu entbrennen. Glaubt aber nicht, daß er für sie glühe! Wenn er zu ihr geht, vergißt er nie das Opernglas, das er verkehrt vor seinen Augen hält, um sie weit von sich zu scheiden, ob sie noch so hart vor ihm stünde. Denn sie tief und richtig zu erfassen, gleichsam mit allen Gründen, wie durchleuchtet, wie geschliffen ans Licht zu heben, ist ihm genug. Sein Feuer ist damit verblasen. Nie fände sie ihn so fern, so frostig, ja so abgeneigt, als nachdem er soeben eine Dithyrambe über sie sprach. Denn hiermit entließ er sie aus seinem Herzen. Und so zieht er denn in Wahrheit den Hut vor ihr, — aber dabei empfiehlt er sich.
Und ihn, faute de mieux, soll man heute lieben, denn ein anderer ist nicht da. Der Typ des Don Juan ist ausrangiert, oder zum Hausvater vorgerückt. Hier zeigt sich der Unverstandene Mann von seiner unzulänglichsten Seite, und der moderne Verführer ist nicht sehr gefährlich: mit seinen schwach konzentrierten Sentiments vermag er nur schwache Köpfe zu verdrehen. Denn es ziert nur Frauen, unsichere und halbe Herzen zu vergeben.
Allein sein Wesen strebt nun einmal nicht nach Steigerungen, sondern drängt ihn, von all den schönen Dingen, für die er so lange eingestanden ist, auf eine Weile auszuruhen, wie man erst nach zurückgelegtem Marsche der ausgestandenen Müdigkeit anheimfällt. So zieht er nunmehr kühle, blumenlose Pfade des Gefühles vor und jene schattigen Seitenwege der Begriffe, die sich nur spalten, um kurz auszulaufen und sich zu verzweigen. Alle schimmernden Fernen hingegen, alle postulierten Verheißungen und Aussichtspunkte sind seinen zu empfindlich gewordenen Augen unerträglich. Nichts von „Saaten“, nichts von „Ernten“ mehr, nichts von Allgemeinheiten und nichts von Zielen und besonders, nichts von Idealen. Nichts von so grellen Dingen. Nicht solche Worte. Sie verletzen ihn nur. Mit fiebernder Hand wehrt er sie ab, besonders den Enthusiasmus mit all den fälligen Raten, die ihn nur allzuoft schon überdauerten. Zu „Wein, Weib und Gesang“ hält er da andere Distanzen ein, und sein Verhältnis zur Musik hat sich ebenso gelockert oder verschoben wie das zur Frau. Aber ich sage: respektieren wir auch dies. Was er heute für seine Willkür hält, ist nur ein Feiern und ein Atemholen. Der Fehler des Unverstandenen Mannes liegt viel weniger darin, daß er mit seiner Jugend keine rechte Gemeinschaft pflegt, (dies ist seine Sache) als daß er von ihr absieht, eine Attitude, an der jeder Tag etwas verändert, als unverrückbar hinstellt, das Zeitliche, an das sich seine Erfahrungen erst ketten müssen, zurückweist, und alles à priori sein und nicht sein zu können glaubt. An seiner vielgescholtenen Unproduktivität hingegen kann ich nichts finden, sie fällt nicht ins Gewicht und ist so wenig definitiv, so wenig ein Finale, wie die gehaltene Note vor dem neuen Auftakt. Soll denn immer ohne Pause produziert werden? Ist es das Einzige? Ach, es laufen ja unter den schöpferischen Naturen so viel erschöpfte mit unter, während gewisse Unschöpferische unerschöpflich erscheinen. Gerade in seiner Unproduktivität schlage ich vor, ihn nicht zu stören. Es ist ja mit den Menschen, wie sie einmal geraten, nicht viel anders als mit der Mode, von der wir wissen, wie groß ihre relative Berechtigung ist und wie sehr es in ihrem Charakter liegt, sich zu behaupten. Wer jüngst ein groß Geschrei wider die engen Röcke erhob, trägt heute keine anderen. Ihr Vorzug beruht darin, daß sie uns zur Haltung und Linie erziehen, und hierin gleichen sie auf ein Haar dem Unverstandenen Mann: daher es ratsamer ist, sich in ihn zu finden, ja von ihm enchantiert zu sein. Denn er, und weder der Mann, noch der Rockschnitt von Anno Dazumal, welches auch seine Qualitäten sein mochten, ist heute das Gegebene, zu dem wir uns zu stellen haben. Wer fände dies zu frivol? Ist nicht vielmehr das einzig Interessante an diesem sich ewig überlebenden Leben, daß hinter den frivolen Dingen so häufig der Ernst, hinter den ernsten der Schalk sitzt? Wer hielte es sonst aus?
Nur deshalb sind ja die schlimmen Dinge, wenn man mitten in ihnen steht, zum Glück nicht ganz so arg, wie sie von außen anzusehen sind. Indem sie evoluieren und ins Gedränge kommen, rücken sie nicht selten so nahe zusammen, daß die letzten die ersten überholen, und das unterste nach oben treibt. Wer sie dann wendet und betrachtet, hält sie bald wie jene chiffrierten Briefe, die anders lauten als sie heißen, und das Tolle und das Disparate mit dem Sinnfälligen zusammenführen.
Und so steht für uns im Stich Gelassene von heute, Herrinnen von gestern, Schutzflehende von einst, der Zeiger anders als die Uhr. Keime in uns, deren Wachstum durch die Gegenwärtigkeit des Mannes zurückgehalten oder überboten wurden, finden eben jetzt ihr Gedeihen. Inmitten dieser schlechten Zeiten wuchsen unsere Tage unversehens in den Sommer hinein. Draußen reift das Korn, die Halme knistern, und in der mittäglichen Öde erstarkt das Laub. Ihr ist die Ferne zu vergleichen, die wir jetzo nützen. Denn es ist nicht zu leugnen, daß uns der Mann verließ und eine Genugtuung darin findet, uns zu meiden. Ohne eine gewisse Grimmigkeit zwar geht es nicht her. Und hier liegt unsere Genugtuung an der Sache. Denn wenn er es höchstens bis zur Genugtuung bringt, indem er sich uns entzieht, so gereicht es uns, die seiner so schwer entraten, zum inneren Jubel, wenn wir ohne ihn bestehen.
Ich sehe, daß ich von meinem Thema abgewichen bin, aber ich wollte nur das letzte Wort haben. Und wäre denn der Unverstandene Mann in Wahrheit unverstanden, wenn ich mehr von ihm wüßte?
1911 Neue Rundschau.
Woher es nur kommt, daß ich immerzu von den neuesten Schriften über Modernismus und Frauenbewegung avisiert werde. Ich interessiere mich doch viel mehr für Musik oder für Ausgrabungen. Aber es scheint ausgemacht, daß diese beiden Probleme meine Sache seien. Da möchte ich mir denn ein Herz fassen, und die mir zugesandten Broschüren einmal lesen.
Aber vorher möchte ich lieber selbst etwas sagen.
Wer denkt, lebt nämlich in so großer Not. Verurteilt, zwischen der Unrast des Tatenlosen und der Verzagtheit zu bangen, bis er den festen Guß seiner Gedanken bildete und mit einer leisen Mißachtung für sich selbst einherzugehen, so lange er sich durch Veräußerung das Eigentumsrecht auf seine eigene Meinung nicht erwarb.
In dieser Hinsicht aber habe ich es besonders schwer. Denn auf eine gewisse allgemeine Unzugehörigkeit war ich im stillen von jeher eifersüchtig. Sie ist die Feste, hinter die ich mich immer wieder verschanze. Wer sich zu den einen gesellt, der trennt sich ja vom anderen, und ich will zu keinen gehören, weil ich mich von niemand scheiden mag. Mein Indifferentismus ist nur Selbstverwahrung. Es ist überall Gefahr, mit fortgerissen zu werden, und jeder Zeitlauf bietet etwas, das man vertreten und festhalten möchte, um sich freilich dann, letzten Endes, wieder von ihm loszusagen.
Darum fliehe ich vor den Dingen meine steile Schneckenstiege empor und lasse mich ungern hin zu ihnen locken, so sehr liegt mir an ihrer Perspektive. Nur oben, vor meinem schmalen Fenster mit dem weiten Ausblick, kann ich endlos spinnen. Dort schnurren meine Rädchen, und der Faden geht ihnen nie aus. Also abgetrennt wird mir so heimatlich zu Mute, als seien alle Dinge mein, und als gehörte ich zu allen, selbst den weit verschwimmenden hin. Denn nur im blauen Dunst der Ferne liegend, sind sie mir deutlich und vertraut. Oft rücke ich dann meinen gesponnenen Flachs zur Seite, stütze die Arme auf und halte Umschau.
Der bereitwillige Ernst, den man transzendentalen Fragen von neuem entgegenbringt, ist, von meinem Fenster aus gesehen, ebenso merkwürdig, wie die sich klärenden Umrisse der stets undeutlich gebliebenen Frauenpsyche. Sie hat das eine mit der Religiosität gemein, daß allen beiden zwei höchst entstellende Kutten, die der Frömmelei und der Abhängigkeit, übergeworfen und als ihre elementaren Bestandteile erklärt wurden. Was ist da heute von meinem Fenster aus — im Vergleich zu gewissen sehr radikalen Umwälzungen der Denkungsart, die sich bereiten, der Modernismus für eine beiläufige Sache! Und was ist die Frauenbewegung im Vergleich zu ihrer Idee? Eine Wolkenschicht, die sich vor einer Lichtfläche türmt. Beide Bestrebungen verhalten sich zu den starken Dingen, von welchen sie getragen sind, wie ein kleiner Reitervortrab zur Majestät der heranziehenden Heeresmacht.
Über den Modernismus will ich, um niemanden zu reizen, nicht weiter improvisieren. Über die Frau aber bin ich doch sicherlich au fait. Infolge gewisser zweifelhafter Züge sind die Akten über sie noch immer nicht geschlossen. Ihre Gattung, meint Villiers de l’Isle Adam, begreift Wesen in sich, die durchaus keine Menschen, allerdings auch durchaus keine Frauen seien. Er tat sich auf diese Entdeckung viel zugute und ging so weit, daß er in gewissen „gänzlich seelenlosen und unmütterlichen Larven“ einen Spuk der Natur erkannte und für den Mann das Recht beanspruchte, diese problematischen Wesen, die mit jeder Generation einen hohen Prozentsatz verheißungsvoller junger Leute zugrunde richten, wie andere schädliche Reptile einfach umzubringen.
Die drastischen Ratschläge stammen ja immer von Träumern, und die besten Ratschläge sind zumeist unausführbar. Dank der Unterarten ihrer Art läßt sich jedoch über das Wesen der Frau, wie über etwas noch immer Unerforschtes, noch immer diskutieren, noch immer keine Schlüsse ziehen, die verallgemeinert im Guten wie im Bösen nicht widerruflich wären. So flüchtig ist es, so viel feiner, und so viel gröber, und so schillernd, daß solche Kenner wie die Franzosen heute noch von einem Mystère de la Femme reden können. Wer spräche noch in diesem selben Sinne von einem Mystère de l’ Homme?
Nun wüßte ich auf der Welt nichts gegen die Frauenrechtlerinnen einzuwenden, als daß sie nicht geheimnisvoller sind. Sie gemahnen an den Unterschied zwischen dem Skulpturalen und dem Anatomischen. Der wäre doch ein Tor, der sich beschweren wollte, daß die Anatomie nicht ästhetischer sei.
Auch sage ich ja nichts!
Wenn ich aber gegen die Kutte sprach, so sehe ich in den schönen, meinetwegen manchmal trügerischen Schleiern, mit welchen die Frau ihr inneres Sein umflort, sehe ich im Geheimnisvollen ein Attribut des Weiblichen.
Und deshalb glaube ich, daß die bevorstehende Evolution sehr abseits der Bahn ihrer Vorkämpferinnen liegt; wie sich die Schlacht weitab von dem kleinen Reitervortrab abspielt, von dem wir sprachen. Es sind nur die Boten, die mutig heransprengend, als erste die Kriegsfahne entrollen, aber an der Entscheidung keinen Teil haben. So wären jene Frauen überrascht, ihre geringe Fühlung zu den Lenkern der kommenden Schlacht zu vernehmen; einer Schlacht ohnegleichen, in der die Kämpfenden von keinem anderen als dem Gegner geführt, von ihm selbst angefeuert und in der Kunst, sich zu verschanzen, unterwiesen werden. So sehe ich es von meinem Fenster aus kommen. Was sage ich? So ist es längst. Das Treffen ist in vollem Gang. Die hohen Staubwolken des Tages umhüllen nur die Vielen, die ermattet niedersinken, das Ringen dieser Kampfuntüchtigen und das Gewühl. Die laute Gegenwart übertönt nur die Rufe der zu Tode Getroffenen. Aber von meinem Fenster überblickt man schon das gespensterhafte Schauspiel. Denn sucht man nach dem Feinde, gegen den diese immer Besiegten sich halten, so entdeckt man ihn in ihrer eigenen Hohlheit und Verlassenheit; der Boden, auf dem sie langsam vorrücken, wird ihnen nicht bestritten, die Burg, die sie stürmen müssen, ist leer.
Daß es der Frau innerlich noch nie so schlecht erging, wie seitdem sie äußerlich zu ihrem Recht gelangt und im eigenen Lager ihre gute Sache vertreten sieht, ist natürlich ein rein zufälliges Zusammentreffen, und die Entfremdung der Geschlechter ist ein Faktor und kein Ergebnis.
Eine Zeit ist sich selber nicht bewußt. Sie kann den Schein nicht gewahren, den sie ausstrahlt. Sie hat keine Distanz zu sich selbst. Ihre Schrittmacher sind stets die Kommenden. Wir sind das alte Spiel gewohnt. Nur bei unserer heutigen, der Analyse so ergebenen Generation, die sich so behorcht, befremdet es mit einem Male, daß sie sich nicht kennt, und das nimmt den Sinn gefangen wie das Flimmern schräger Strahlen im Dunkel alter Kathedralen. Wäre es nicht unendlich wichtig, daß eine solche Zeit selbst zu dem Spiegel griffe, den ihr bisher erst die kommende entgegen hielt? Es gibt etwas Neues unter der Sonne, und wir gehen unaufmerksam daran vorüber. Unter den jüngsten Männern ist ein merkwürdiges Geschlecht nie Dagewesener entstanden, die nicht Söhne ihrer Mütter, nicht als letzte Glieder einer Kette sich an diese schmieden, sondern abbrechend mit allem bisherigen, nicht als Werdende mehr, sondern als Gewordene im Leben einsetzen. Ein neuer Schlag, andere Organismen, Zeitlose, die tiefer als Menschen je zuvor, die Marke ihrer Zeit auf ihrer Stirne eingezeichnet tragen, in sich Befangene, Gebundene, dem Transitorischen so streng Überwiesene, daß sie nicht mehr zu Gestalten sich verdichten, sondern wie die Frauen zu Gesichtern sich verflüchtigen. Alles Elementare ist bei ihnen so zurückgedrängt, daß es zurückgewiesen wird, wie alles Unmittelbare, alles Unvermittelte. Vom Konkreten wird abgesehen, man spaltet die Begriffe bis zum Wahnwitz und verschmäht es zu summieren. Infolge eines so radikalen Umsturzes steht nichts mehr an gewohnter Stelle, und die Sprache wird zu einem ganz anderen Modus. Man operiert nicht mehr mit Worten, die etwas zusammenfassen. Die sind tot. Ich ließ in solcher Gesellschaft absichtlich Worte wie gut und böse oder tüchtig, achtbar und verdienstvoll fallen, nur um herauszuhören, wie unerträglich platt sie in dieser Atmosphäre klangen. Um das Einfachste zu sagen, wird hier ein dunkler, schwer faßlicher Monolog gewunden, zu dem nur Gleichgeartete den Schlüssel haben, und den kein Uneingeweihter Zeit noch Geduld besäße, zu enträtseln. Es ist wie Ein-sich-Verständigen durch Chiffren, und es sieht aus wie Pose. Allein es sind Getriebene, denen bisherige Werte wie Kulissen niederstürzten, und denen die Tradition entzogen ist. Aus dem Schutte werden nun die Splitter aufgelesen, die Stunden dem Tage vorgezogen und die Ideale von diesen Idealisten verworfen. Das Nahe wird mit dem Fernglas betrachtet, und die Minute wichtiger genommen als das Leben. Auf den Trümmern, die sie geschaffen, ziehen sie nun ohne Messungen, ohne Zentren bedächtig einher, wie jene langbeinigen Vögel der Düne, von welcher das flutende Leben sich zurückzog.
Aber nur sachte. So wenig ich mich zu diesem neuen Schlag bekenne, so wenig gehöre ich zu denen, welche da glauben, ihn negieren oder über ihn hinweg sehen zu können. Etwa weil wir es nicht mit Goethe’schen oder Wagner’schen Menschen zu tun haben, oder weil ihr Denken meist ein vergeudetes ist. Mit ihnen hat der Weltgeist, als sei er der ewigen Fortsetzungen müde, eine Lücke in dem unsterblichen Teppich der Menschheit gemeint und unvermittelt ein neues Muster eingezeichnet, das sich wie eine Grisaille inmitten einer Freske ausnimmt, das aber so tief darin verwoben ist wie wir selbst. Und es wäre borniert, uns zu stellen, als sähen wir es nicht, denn wir wissen nicht, wie es sich entrollen wird. Wenn diese neuen Leute ihre Unreife durch Überreife bekunden und mit der Temperatur des Alters in Szene treten, sind sie deshalb nicht minder jung. So manch verheißungsvoller Jüngling ging aus seiner Sturm- und Drangzeit als Niete hervor, ohne den Mittag seines Lebens zu beschreiten. So werden auch hier nur die wenigen Berufenen ihren Werdegang erfahren und gleichsam mit einer anderen Schwenkung zur Reife gelangen. Es ist, als ob ihr Tag mit dem Sonnenuntergang anhöbe und als müßten sie nach einer Morgenröte gravitieren, um ihr Tagewerk zu vollenden. Wie es anderen oblag, das Chaos ihrer Empfindungen zu klären, so müssen diese die schwere Schale einreißen, die sie von ihren eigenen Gefühlen trennt, den Weg zu ihrem eigenen Selbst sich bahnen und lernen sich zu besitzen. Hier ist nicht alles Narretei. Wir sind hier nur versucht, auch die Typen zu verwerfen, denn noch nie sah man so groteske Kopien. Aber von meinem Fenster aus gesehen ist nichts, was eine so gespannte Aufmerksamkeit erheischt wie diese auf Abwegen aufgepflanzten Wegweiser, diese Abgeklärten, diese Manierierten, diese Verzichtenden. Denn über den, um seine Jugend betrogenen, in Intellektualität versteinerten Jüngling mit der kalten Maske, dem abgewandten, in Schwermut erstarrten Auge, über ihn geht jetzt der Weg. Er glaubt, indem er gleichsam eine neue Seitenlinie menschlicher Denkart involvierend sich losriß, von allem Vorgedachten und bisherigem Tun und Wollen sich entzieht, er glaubt so gewillt zu sein, und ist nur, wie er muß.
So kenne ich — nur das Echte will ich nunmehr im Auge haben — einen jungen Patriarchen. Bei ihm ist ein unausgesetztes Konstatieren ohne Parteinahme, unerschöpfliche Teilnahme ohne Anteilnahme. Er verzeichnet mit derselben Kühle das Verruchte wie das Erhabene. Er faßt alles und läßt alles entgleiten. Er wertet alles, ohne etwas abzuschätzen. Verlangt von ihm Alles, nur kein Für und Wider. Er ist höchst sensibel, aber der Weg zu seinen Gefühlen ist ihm verschüttet. Er gebietet über das Große und das Starke, über die mächtigsten und die tiefsten Dinge. Nur Eines fehlt in diesen Regionen: Gras, Blumen, Vogelsang; alles ebbte zurück nach dem Pol, gefror zur Erkenntnis. So ist seine Erkenntnis zum Parasit geworden und zeigt er noch Geist, wo der Sinn ein Ende fand, wie jene Bergsteiger, die noch weiter klettern, ob schon das Ziel hinter ihnen liegt, nur um der Lust des Kletterns willen. Und er muß stärkerer Fesseln sich entwinden, als der Ungestüme, er ist in seinem Denken verstrickter, gebannter in seiner Losgelöstheit als der Erdgebundene. Und so steht er, in sich gekerkert, gleich einer Herme, da wo alle Wege sich kreuzen und der Sterbliche froh vorüberzieht.
Daß die Männer des neuen Schlages vorwiegend unverliebter Komplexion sind, ist kein Geheimnis, ist kein Märchen, sondern die große, allwichtige Novität. Der ganze heutige Umschwung dreht sich um eine Witterungsfrage. Zwar ist es, wie gesagt, ein Faktor und kein Ergebnis, daß heute die jüngsten und schönsten, von Männern sehr umringten Frauen häufig ungeliebt und unbegehrt ins Leben hineinwachsen. Aber es ist ein Ergebnis, daß sie in der kälteren Zone, der sie nunmehr ausgesetzt sind, zu immer deutlicheren Gestalten sich festigen, in dem Grade, als der Mann in seinen Umrissen verblaßt.
Die Götter selbst woben dies Feld der marmornen Schlachtenlenker in unseren Teppich ein. Wenn alle Klöster, alle Abgeschiedenheit und alle Tugendübungen die Frau nicht lehren konnten, in ihrem Innersten des Mannes zu entraten, so hilft ihr jetzt seine eigene Halbheit. Stets ist es doch sein Wesen, das bestimmend auf die Frau zurückwirkt. Ihr Gefühl ist zu sehr Widerhall. Als er für sie glühte, war sie die Schmachtende. Heute ist vieles anders geworden, und die Rollen sind vielfach vertauscht. Es gibt nicht mehr die Incomprise, sondern den Incompris. Ein moderner Cherubin dürfte uns ein gar originelles Liedchen vorzusingen haben. Er strebt von jeder weg, zu der’s ihn zieht. Er liebt sie nicht mehr, bevor er sie noch liebte. Er ist jener untreu, die er gerade im Arm hält. Kaum hat er sich ihr abgewandt, schweift er zu der Betrogenen zurück. Er ist enttäuscht zuvor, zuvor der großen Ernüchterung preisgegeben!
Er muß die Dinge fliehen, bevor er sich in ihnen verankerte. Nie wird er in der Folge nach dem schimmernden Schleier greifen, mit dem Leukothea das Herz des sinkenden Odysseus schwellte. Seine Erkenntnis läßt ihn alles Künftige retrospektieren, und sein Wissen um die Dinge ist sein Irrtum. Denn als Verführer ist der Geist weit mächtiger als die Leidenschaft. Wo sie nur verblendet, darf er überzeugen, auch indem er das Leben zerpflückt, selbst indem er uns irreführt. Wo immer der Geist seinen grellen Schein hinrichtet, ist er unwiderlegbar. Und der Geist als Verführer ist es, der seine Pulse hemmt, wie das Eis die Quelle zurückhält.
Im Kontakt mit einem derartigen Manne kristallisieren sich die Gefühle selbst der leidenschaftlichsten Frau in ganz anderer Weise. Sie ist zu zart besaitet, als daß es sie nicht reizte, ihn auf seinem dämmerigen Pfade zu folgen, und noch stärker ist für sie der Reiz, aus der Sturzwelle des Gefühls sich ungebrochen wieder aufzurichten. Ihr Wesen mag zwar in seiner Nähe sich erfüllen, doch ohne daß seine Nähe sie verwirrt. Denn seine Liebe besitzt nicht mehr die Glut, sie mit einem Bannkreis zu umziehen, der ihr zu einer Welt ersteht. Obwohl sie nie zuvor ein so feines Verständnis, eine so vollkommene Wertung erfuhr, fühlt sie sich bei ihm nicht mehr geborgen. Zwar ist er nicht mehr roh, aber er ist nicht selten hysterisch, und er ist nicht mehr ritterlich. Er hat ihr nicht mehr jenes Gefühl zu bieten, das sie wie ein prangender Mantel umhing, sie idealisierte und ihrer schonte, daß sie beglückt ihrer Unzulänglichkeit sich enthoben wähnte.
„Voyez si je puis me conduire“, schrieb Julie de Lespinasse, „éclairez-moi, fortifiez-moi. Je vous croirai, vous serez mon appui, vous me secourrez. Le Président Hénault, l’abbé Bon, l’archevèque de Toulouse, l’archevèque d’Aix, Monsieur Turgot, Monsieur d’Alembert, l’abbé de Boismont, Monsieur de M . . . voilà les hommes qui m’ont appris à parler, à penser et qui ont daigné me compter pour quelque chose.“
Nichts von alldem! Nichts von den kleinen Selbsttäuschungen mehr, nichts von artigem Betrug. Keine Stunde Weges wird der Frau mehr erspart. Selbst muß sie die schwachen Arme emporrichten, sich zu krönen, schwere Schritte selber gehen und ihren Fuß auf die steile Stelle setzen, über die er sie früher hob. Ohne ihn muß sie bestehen können. Er hat zu viel mit sich selber zu tun und keine Hand ihr entgegenzustrecken.
Es ist wohl müßig, daß ich noch ausführe, was mit der sonderbaren Schlacht gemeint ist, auf die ich immer wieder zurückkomme, weil ich sie von meinem Fenster aus sehe. Es sind ganz einfach die Frauen, die gegen ihre vieltausendjährige innere Abhängigkeit, ihre eigene Leere, ihre lang gehegte Unselbständigkeit den verzweifelten Ansturm führen, zu dem die Gleichgültigkeit der Männer sie treibt. In diesem Ringen erstarken sie zum ersten Male, seitdem die Alten mit begeisterter Hand die Gestalten der Dianen und Walküren umrissen. Für die Frau, die, auf den starken Arm des Mannes gestützt, ihm ihr Werden gleichsam überließ, war es keine Kunst, sich zu entfalten. Ihre Blüte hatte nur den einen Fehler, daß ihr Wachstum von der Gunst des Mannes abhing, dies gab ihrer Reife oft etwas so Fragliches oder so Entlehntes. Denn wo die Akzidenz der Liebe eines Mannes wegfiel, da verzehrte, verwischte sich ihr Wesen und verwehte. Die Unfreiheit, die wie ein Makel an ihr haftete, beliebte ihm indes. Es behagte dem Petrucchio, daß sie ihm in ihrer Verblendung die Entscheidung über den Lauf der Gestirne zugestand. Es war nur eine Form der Verwöhnung, sie so zu unterdrücken, daß sie den Mond statt der Sonne am Himmel zu sehen willig war, wenn er es sagte, sie so unterzustellen, daß sie ihn kritiklos, gleichsam auf Abzug liebte, als gäbe es nur ihn, als flutete die Welt nicht von tausend anderen wertvollen Dingen.
In einem gewissen heroischen Stumpfsinn suchen ja Liebende zuletzt nichts anderes als zu vergessen, daß der Tod seine höchst radikale Scheidung über sie vollziehen und nicht vor ihnen zurückstehen wird, ob sie noch so innig sich umschlingen. Er weiß es besser. Darum ertragen sie den Gedanken an ihn nicht. Mit seinen Augen, die im Dunkeln sehen, weiß er besser, wieviel Verblendung an ihrer Liebe haftet und wie weit er sie zu trennen hat. Denn die geheime Hierarchie der Wesen und die inneren Akkorde, die im Gegensatz zu den äußeren weiterspielen, geben jene große Kakophonie, nach der das Leben sich nicht kehrt, weil es so blind ist für die inneren Zusammengehörigkeiten wie der Tod für die äußeren. Darum greift das eine so blind heraus, wo der andere so blind entreißt.
Aber darum kam ein Tag in unserer Geschichte, an dem wir des Spieles müde wurden, an dem die Liebe für die Liebenden, wer hätte es gedacht? tatsächlich an Wichtigkeit verlor, weil sie nicht mehr vergessen, sondern der bittere Geschmack des Todes auf ihren Lippen zurückblieb und weil ihre Gemüter zu belastet waren mit den Erfahrungen der Väter, zu wissend um den bitteren Rauch, das jämmerliche Aschenhäuflein, zu dem ein Feuerwerk, das sie zu oft für ewige Flammen hielten, in ihren betörten Herzen niedersank. Was Wunder, wenn sich die Welt von Enttäuschungen, die sie zusammentrugen, an ihren Söhnen rächte, und in Dingen der Liebe an Stelle der Illusion die Skepsis trat? Allein das Wissen dieser verspäteten Zeugen, das sie Künftiges nunmehr vorweg nehmen ließ, erwies sich als ein stärkerer Bann als die frühere Verblendung. Das Feuer ihrer Adern wurde zum Fieber und überhitzte ihr Gehirn. Ihr Arm erschlaffte, ihr Denken dissoziierte sich und zerstörte oder untergrub ihr Schaffen. Und erst die Söhne werden an diesen Söhnen lernen, daß keine Umbildung, daß nur eine Stilisierung des Sinnlichen gilt.
Als die stets bereitwillig nachfühlende Frau die ungeheuerliche Wandlung im Gemüt ihres Gefährten und einstigen Beschützers wahrnahm, entdeckte sie ein Etwas in seinem Kaltsinn, das sich zu einem Zug ihres eigenen Wesens verhielt.
Wenn der Mann unverkennbar dazu neigt, der errungenen Frau müde zu werden, und wenn er ihr dies antun darf — denn nur selten erweist sie sich als das Ideal, das er erträumte — so darf sie ihm den Schimpf durch jenen geheimnisvollen Zug heimzahlen, der fast ein Trieb zu nennen ist, dem sie einzig ihre Gleichberechtigung verdankt und der den Mann in seiner Eigenliebe stärker trifft als alle Untreue; ein Zug, den er gerne verkennt und von dem der gröbere Mann nicht weiß: ich meine die mystische Abneigung, die mit ihrer Neigung für den Mann so sehr im Widerstreite liegt und ihrer Schwäche so sehr entgegen ist und deshalb so selten überbietet.
Daß der Mann des Neuen Schlages der heutigen Frau, die er doch im Stiche läßt, im ganzen sympathischer ist als der gestrige Mann, hat seinen besonderen Grund. Ganz im stillen nämlich fand sie in der schrankenlosen Hingabe, die er von ihr erheischte, ihr letztes höheres Genügen nicht. Wenn sie den Rest in ihm herausfand, auf den ihr Innerstes feindselig lauerte, und der des Todes war, fand sie es doch ein bißchen schnöde, in seiner Endlichkeit so maßlos aufzugeben, einen Humbug, so zu ihm aufzublicken: So war ihre Neigung, von ihm abzufallen, edlen Ursprungs wie sein Überdruß.
Und es handelt sich heute, ich sagte es schon, um das letzte Wort der Frauenpsyche: ihren seltsam verwobenen, niemals ungetrübten Drang, auf ihre eigene Schwäche, wie auf eine Schlange den Fuß zu setzen, und um jene Siege, die Goethe das Ungeheuere nannte: denn die kalte Luft, die jetzt über sie hinweht, ist ihrem Wachstum günstig, und, ihre Evolution könnte sich sehr wohl dadurch vollziehen, daß die Männer immer degenerierter werden. Wenn sein Wesen zeitweilig in die Brüche ging, wird dafür die Frau endlich individueller. Ihr letztes Endziel ist doch der Mann. Keine Tugend in ihr, die ihm nicht zugewendet wäre. Sie werden einander wieder begegnen. Es wird künftig viel von Liebe, wenn auch nur wenig mehr von Frauenrechtlerinnen die Rede sein.
Indessen lobe ich mir unsere unsentimentale, unschwärmerische Zeit, mit ihrem zurückgedämmten aber nicht verlorenen Gefühl. Man ist nur Pessimist, um seinen Optimismus zu rechtfertigen. Ich glaube an einen Fortschritt für unsere Ära und sehe ein Element des Lebens in dem augenblicklichen Verfall. Alles ist nach seiner Art. Unsere unprometheische Jugend steht im Zeichen des Euphorion. Sie ist gefährdeter. Wer dürfte es wagen, sie unheldenhaft zu nennen?
1911 Lose Vogel.
Ich fürchte doch, daß es noch einen Krieg wird geben müssen, obwohl die Diplomaten ihn schon in Abrede stellen, obwohl die Leute nicht mehr recht daran glauben, und obwohl die Zeitungen ihn noch immer an die Wand malen. Es sollte mich doch wundern, wenn wir ohne jenen letzten und schon unzeitgemäßen Krieg auskommen würden, weil unsere Köpfe zu hart sind, um nicht noch einmal zusammenzustoßen.
Übergangszeiten sind ja nie schön. Es nützt uns nichts, daß sich die Welt so sehr bereicherte. Ist die Ernte gehalten und sind die Scheunen voll, so muß ein neuer Winter folgen und die Felder stehen wieder leer.
Mir ist immer, als ob es jetzt Februar wäre. Noch ist der Frühling weit, aber der Tag schon grell. Man weiß nicht mehr, wohin sich wenden: die gute Gesellschaft ist nicht zu ertragen, und die schlechte ist noch viel ärger, sodaß es schon ganz zur Norm geworden ist, daß man abseits lebt. Und nicht die Salons, die Bahnhöfe haben heute ihre Habitués.
Unsere nationalen Eigenschaften sind nämlich auf dem schönsten Wege, sich zu nationalen Eigenheiten auszubilden. Wenn wir heute etwas echt bayrisch oder echt berlinerisch oder echt sächsisch nennen, sollte man doch meinen, daß es als Kompliment gemeint sei. Man sollte es meinen. Aber es ist nie der Fall. Dafür nimmt das allgemeine Unbehagen über die eigenen Rückständigkeiten überall seinen besonderen heimatlichen Charakter an.
Eines Tages trieb mich unsere Ungefügheit (mit welchem Wort ließen sich unsere unzusammenhängenden Mängel diskreter zusammenfassen?) über die Grenze. Als mich in Avricourt ein Douanier fragte: „Rien à déclarer, Madame“? stach mir eine Träne ins Auge, denn meine Liebe zu Frankreich stand wieder einmal auf ihrem Höhepunkt.
Aber Höhepunkte sind da, um überschritten zu werden. Ich wohnte zwei Monate lang im fünften Stock des Hotel d’Orsay, bald in diesem, bald in jenem Zimmer. Bald sahen meine Zimmer auf die Place de la Concorde, dann auf die Rue de Lille, dann wieder auf den Quai d’Orsay hinaus. Bald war mir die Lampe nicht recht, bald die Lage. Einmal fand ich das Licht zu grell; zweimal zog ich wegen der Tapete aus. Immer wieder bestand ich ebenso schüchtern wie dringend auf meinem Umzug.
Es lag aber nicht an den Zimmern. Es lag an Paris. Noch immer war Marianne das schönste und interessanteste Mädchen von Europa; doch auch ohne Lupe waren jetzt kleine Schärfen, und der erste leise Ansatz zu Krähenfüßen an ihr wahrzunehmen. In ihrer stolzen Grazie lag etwas Müdes und Enerviertes; mit einem Wort: der unverkennbare Typ des schönen Mädchens, das Enttäuschungen erlebt hat und schleunigst heiraten sollte, um wieder aufzublühen.
Ihren Roman mit Herrn Michel, dem schwerfälligen Herrn, der sie immer brüskiert, wenn sie erwartet, daß er endlich um sie anhält, müssen wir ja alle miterleben. Ich verbrachte viele Stunden in den weiten Leseräumen des Hotels, schleppte die Zeitungen wohl auch in die Halle hinab, und in einem großen Schaukelstuhl vergraben, las ich vor dem Kamin Mariannens bittere, gereizte, kurzatmige Ausfälle, merkte die Mauern, die sie in ihrer Pikiertheit zwischen sich und ihrem ungeschickten Freier errichtete, fühlte den Groll, in dem sie sich gefiel, — bis ich es nicht mehr aushielt, und auf mein Zimmer eilte, und in großer Erregung herumging, und mit den Armen in der Luft herumfocht, indem ich leidenschaftliche Dialoge mit ihr führte.
Und wenn sie immer wieder damit anfing, just das Stück aus ihrem Herzen, das ihm gehöre, habe der verhaßte Liebhaber ihr herausgerissen, so stimmte ich ihr erst bei (denn man muß sachte mit ihr verfahren!), dann aber warf ich ihr vor, daß sie ihre leidenschaftliche Pose über Gebühr lange beibehielt, und ihre Neurasthenie rühre davon her, daß sie ihre Erbitterung künstlich steigere, statt sich von ihr loszusagen.
Aber weil ich nichts ausrichten konnte und es so aufreibend war, im Gegenteil Zeuge zu sein, wie ein neidischer Dämon die beiden immer auseinandertrieb, so wie sie auch nur von ferne Miene machten, einander in die Arme zu fallen, ertrug ich es zuletzt in keinem Zimmer mehr, packte meinen Koffer und fuhr nach England.
Und als die Küste von weitem schimmerte, da wurde mir warm ums Herz, denn ich liebe diesen Boden, diese Leute und ihre Sprache. Aber auf die Dauer ist heute jeder Ort entlegen und dem Gefühl verschlagen, von jener Bangigkeit erfüllt, von der wir nicht genesen. Eines Abends stand ich in London, über die Westminsterbrücke gebeugt und starrte auf den Fluß. Wo der Widerschein der Wolken die Wellen bemalte, betupfte, beschattete, — da schien die Themse langsamer, nachdenklicher zu fließen, und von den Dingen dieser Stadt zu wissen. Das Parlament mit seinen tausend beleuchteten Fenstern, von dem stumpfen, eleganten Grau der Bauten, dem weiten, glatten Grau des Asphaltes umzogen, stand wie das Feenschloß einer Theaterdekoration, — märchenhaft und ein wenig kulissenhaft zugleich. Und diese leuchtenden Fenster kündeten mit ihrem feierlichen Glanz allen Londonern in die Nacht hinaus, daß hier die Gescheitesten von ihnen beisammen saßen.
Und wohl mochten sie Lichter anstecken, um sich von der Masse zu unterscheiden, denn nirgends war der Gegensatz zwischen ihr und den paar denkenden Leuten so groß. Zulange war sie hinter ihrem schützenden Graben abgetrennt und vor dem Zwang mit andern Völkern sich zu messen, verschont geblieben! Mutete sie nicht endlich fast uneuropäisch an? Erinnerte diese Gleichförmigkeit der Idee, der Nahrung, der Vergnügungen, nicht endlich an die Ununterschiedlichkeit von Hinduexistenzen?
Hatte das ewig rollende Meer oder der drückende Nebel diese Menschen ihres ursprünglichen Schwunges beraubt? Denn nimmer gab die Phantasielosigkeit des Durchschnitts-Engländers, die zumal bei der Durchschnitts-Engländerin sich schon bis ins Spukhafte steigern kann, ein endgültiges Bild. Vielmehr deutet alles darauf hin, daß dieses große Volk vor einem Wendepunkt steht. Der stark individualisierte Engländer wohl mehr als der bornierte. Beide sind keiner Steigerung mehr fähig. Der feine, kühne, reich umrissene, aber doch auch gesättigte Typ des großen Herrn mag sich hier noch ad infinitum wiederholen, überbieten kann er sich nicht mehr. In seiner Eigenart ist er erschöpft.
Während ich so, über die Brücke gelehnt, auf den Fluß hinstarrte, fühlte ich mich plötzlich zu den vielfältigen, noch immer nicht bis zu sich selbst gelangten Deutschen (ich hatte sie eine ganze Weile nicht gesehen!) so von Grund auf hingezogen, daß ich noch in selber Nacht das Schiff bestieg, um zu ihnen heimzuziehen. Und als ich früh am nächsten Morgen den Rhein entlang fuhr und ihn rauschen hörte, da stachen Tränen in mein charakterloses Auge.
Aber noch war keine Woche vergangen, da hatte ich mich über die Deutschen schon wieder so geärgert, daß ich in Augsburg einen Freiballon bestieg und dieser Welt, über die ich mir keine Illusion mehr machte, in einem kleinen Korb davonflog.
Es ging ein Regen hernieder, worauf uns die Sonne soweit hinaufzog, daß sich die Berge, die wir bald darauf zu überfliegen begannen, wie flaches Land ausbreiteten, so tief lagen sie unter uns. Da sah ich zu dem orangefarbenen Ball empor, der wie an einem unsichtbaren Seil und still wie eine Ampel am Himmel zu hängen schien; und nur eine kleine schwarze Kugel, die wir durch die Wolken schießen sahen, und die unser Schatten war, zeigte uns, daß wir mit Windeseile flogen. Wie wir dann selbst in eine solche Wolke drangen und die Welt rings um uns her unsichtbar und wie bewußtlos wurde, und wir Stunden hindurch in solcher Höhe blieben, daß wir die Erde nur mehr undeutlich sahen und, selbst unsichtbar, wie Abgeschiedene ihr entrückten; — da, — ich kann nicht sagen, wie mir das vorkam, daß wir noch daran dachten, einen Krieg aus der Rumpelkammer der Menschheit hervorzuziehen. Aber ich sah auch, daß er noch möglich war, falls wir es überall, bei den tausend Anstößen zu unserer inneren Unzufriedenheit beließen, so daß uns zuletzt, unter dem Schein der Rivalität, nichts anderes als das wachsende malaise über die eigene Unerfreulichkeit außer Hause triebe, bis wir endlich, uns selber fliehend, lieber mit Waffengewalt ins fremde Land einfallen werden, als uns selber länger zu ertragen.
1911 S. Fischer Almanach.
Die expeditive Art, mit welcher die sehr beschäftigten oder sehr wertvollen Leute die soziale Seite ihres Lebens liquidieren, habe ich schon früh bewundern gelernt: sie hat nichts mit Ungeselligkeit zu tun; sie sind im Grunde ebenso gesellig wie die Tagediebe. Aber ein Stachel, eine innerliche Eile treibt sie an, sich dem Zusammensein mit ihren Mitmenschen — gleichsam mit der Uhr in der Hand — zu entziehen. Denn sie sind der Kürze des Lebens, wie der zehn Talente, deren sie walten, vielfach unbewußt vielleicht, stets eingedenk.
Aber ich weiß: Den Größeren gegenüber jeder Distanz entraten ist jetzt Mode. Nun, ich begebe mich noch immer zu Hildebrand, wie ein anderer einen Turm besteigt, weil ihn dort eine stillere Luft umweht: Dinge, die ihn unten ärgern, sind hier auf eine Weile um ihre Existenz gebracht; und mag er sich auch selbst hier oben unwichtiger dünken, so lobt er sich doch gerade so unbewußte Pädagogen wie einen Aussichtsturm oder wie Adolf Hildebrand.
Zwar ist es empfindlich, lediglich durch den Kontakt mit einem Anderen augenblicklich des Abstandes bewußt zu werden, den er durch seine Verdienste oder seinen Wert zwischen sich und uns geschaffen hat. Worte, die man zu verlieren gewohnt ist, steigen befremdend in jener Zone unseres Bewußtseins auf, die man Gewissen nennt, und vergeudete Stunden wollen sich mit einem Male wie Rechnungen präsentieren. Dies alles nur, weil man sich in Gegenwart eines Menschen sieht, der wie jeder andere Mensch — ich wünsche nicht zu übertreiben — seine sichtlichen Grenzen hat, jedoch nicht anders, jedoch genau wie ein Berg, der seine scharfen Linien in den Himmel zieht, ausschließend, was nicht zu ihm gehört.
Auf ein so hohes Niveau hat Hildebrand seine Beschränkungen gebracht. Von einem Berg zu versichern, daß er eine Erhöhung sei, könnte nicht öder sein, als von Hildebrand behaupten zu wollen, er sei „gut“, so sehr ist er es implicite; oder wenn einer sich bemüßigte, von ihm zu sagen, er sei „nicht eitel“; denn der Mangel an Beziehung zur Eitelkeit und an Talent zur Selbstbespiegelung ist ja gerade der Grundton seines Wesens. Es fehlt ihm jedes Verständnis für das Unwichtige, jede Fähigkeit, sich ihm zuzuwenden, er sieht und hört und merkt es nicht einmal. Er hat für das Belanglose so wenig Einstellung wie das Auge einer Ziege für die Schönheiten der Landschaft. Aber die beste Idee der Atmosphäre, in die er hineinragt, geben wohl die weiten, gedankenvollen Schweifungen seiner Brunnen und Monumente, wie sein kleiner Tempel vor dem Münchener Nationalmuseum, der mitten im Alltag wie ein mystischer Kreis seine verträumte und abgewandte Stille zieht.
Über jenes ebenso beliebte wie gedankenlose Axiom, man müsse den Künstler vom Menschen trennen, habe ich mich schon als Kind erbittert, lang bevor ich noch ahnte, wie weit sich die Dépendancen des Musentempels (Vorhöfe, Stallungen, Ökonomie etc.) ausdehnen können. Wer innerhalb des Bezirkes die Pferde schirrt, gehört natürlich auch noch zum Personal, und es wimmelt im ganzen Revier. Still wird es erst vor der inneren Halle, in die nur die wenigsten von uns oder nur auf Minuten Zulaß finden. Hier wie in der sichtbaren Welt kommt eben alles auf Rangstufen an. So kann einer mit knapper Not ein Künstler sein. Wer es aber in erster Linie ist, dessen äußeres Leben hat etwas Ungefähres und Zufälliges, als könnte ebenso gut ein anderes, viele andere für ihn denkbar sein. Soweit grenzt sein Selbst über das Maß der ihm zugemessenen Tage hinaus, so wenig erschöpfen und enthalten sie ihn. Von seinem Leben trennt ihn jene latente Unaufmerksamkeit, welche andere von ihrer Erkenntnis abhält und so viel stärker mit ihrem Dasein sich identifizieren und verketten läßt. Es tut mir leid, eine solche Platitude sagen zu müssen. Aber man verkennt doch im allgemeinen immer noch, wie sehr der Grad der Künstlerschaft den Künstler als Menschen bestimmt — und verschlingt.
So ist das Gedankliche, und im Gedanklichen das Architektonische bei Hildebrand so überwiegend, daß sich ihm auch die Dinge, Menschen und Ereignisse niemals außer Proportion darstellen. Nie widerfährt ihm, daß er sie zu leicht oder zu wichtig nimmt. Sein für die Form so passioniertes, so machtvoll gestaltetes Auge trägt diesen starken Sinn auch in die Welt des Unsichtbaren über, und ist auch da, vergleichend, wägend immerzu tätig, richtige Dimensionen einzuhalten, sie wieder herzustellen, das Überflüssige, das Unwesentliche von den Dingen ausscheidend, naiv und schöpferisch um ihre Perspektive und ihre Harmonie bemüht.
Eine Angelegenheit, die mich sehr stark beschäftigte, bis sie mir alles verstellte und ich an nichts anderes mehr denken konnte, rückte plötzlich wieder in die richtige Distanz, als ich eines Abends mit ihm zusammensaß. Nicht etwa, daß es mir in den Sinn gekommen wäre, sie ihm zu erzählen, sondern was mich wieder ins Gleise hob, war der überspringende Funke seines Intellekts, dessen wunderbare, den wirren Schwankungen des Persönlichen entzogene Helle das Maß der Dinge so still und unselbstisch kündet.
1913
Wie behaglich, wie menschenwürdig hat sich unsere Schiffahrt ausgebildet, wie stolz setzen wir über das Meer, aber wie barbarisch fahren wir noch Eisenbahn. Unser größter Wohltäter wäre der, welcher frei oder nach Pullman einen neuen Typ unserer Eisenbahnwagen durchzudringen suchte. Aber würden die zuständigen Generaldirektionen die leiseste Notiz davon nehmen? — Hat je vor mir einer den Plan eines Generalstreikes der Eisenbahnpassagiere gefaßt? Nein. Wir lassen uns in den stets überfüllten Zügen wahllos wie Herdentiere zusammendrängen und zahlen und überzahlen die unverschämte Tortur.
Oder sitzen wir etwa nicht wie Böcke und Schafe Stunden und Tage lang in einer verrußten, vergifteten Luft — mit einer Platzkarte gezeichnet, wie Hammel mit einem Kreuz? nur die eine rachsüchtige Hoffnung im Herzen, unsere Leidensgefährten (welche die Eckplätze inne haben) möchten doch so töricht oder so unerfahren sein, sich in jene andere Vorhölle: den Speisewagen, zu begeben, woselbst ein wüster Dunst, übel wie eine Seekrankheit, regiert. Und sind wir endlich allein, so stürzen wir ans Fenster, um Luft, und wäre sie noch so eisig, hereinzulassen. Allein, wir bringen es nicht auf. Wir rufen den Gefängniswärter: er bringt es auch nicht auf. Das Holz sei aufgequollen, bemerkt er und geht. Nicht lange, und die anderen Sträflinge kehren zurück. Man nimmt also wieder mit stechendem Kopfweh seinen Rückplatz ein und hat bald darauf die unmittelbare Aussicht auf zwei vom Schlaf überwältigte ältere Herren.
Sie sind nicht schön.
Endlich — ich spezialisiere schon — ach es liegt so nahe! — ist das Licht dieses mühseligen Tages gesunken. Aber der Lampenschein ist nur ein trübes Geblinzel in dieser Luft! Und noch fünf Stunden. Das heißt, man wird nie ankommen. Man wird es nicht erleben. Hannover! — Die schlummernden Gebrüder fahren auf, greifen nach ihren Taschen und fort! — O! — Ich bin allein mit einem jungen und charmanten Mädchen. Wir wissen nichts von einander, aber die gemeinsame Plage hat uns längst zu Verbündeten gemacht. Sie erzählt mir, daß sie soeben einen Krankenkurs absolviert. Sie hat einen Apfel, ich gebe ihr ein Messer; sie reicht mir ein Aspirin, ich ihr Schokolade. Aber Sie müssen sich hinlegen, sagt sie, sonst wirkt es nicht. Sie reißt die oberen Klappen auf und verhängt das Licht, und wir strecken uns der Länge nach aus. O Gott, Schwester, rufe ich aus, dies ist viel zu schön. Es kann nicht dauern! Aber sie tröstet mich, daß der Zug vor Hamburg nicht mehr hält. Da wird — Bang! — die Türe aufgerissen und eine Blendlaterne grell vor unsere Augen gehalten. Es ist der Kerkermeister, der sich umsieht wie einer, der hier zu Hause ist, dann die Türe zuschlägt und wieder verschwindet.
Es ist ihm etwas nicht recht, meinten wir bescheiden und einigten uns über ein Trinkgeld, falls er wiederkäme. Wir fingen schon an, unsere Ruhe und das Dunkel wieder zu genießen, als die Türe lärmend aufgerissen wurde und Kerkermeister und Laterne uns von neuem aufschreckten. Gebieterisch verlangte er (wie oft denn noch) nach unseren Billetten. Ich reichte ihm das meinige zugleich mit einem Zweimarkstück entgegen. Wieso? was soll dieses Geld? herrschte er. Daß Sie uns nicht immerzu stören sollen, weil wir müde sind. Sie haben ja — tat er sehr überrascht — ein Billet II. Klasse und sind hier in der ersten. Das wissen Sie so gut wie ich. Ich wurde hierher verwiesen, weil alles überfüllt ist. Das gilt nur, so lange wirklich kein Platz ist, bestimmte er. In Hannover sind mehrere Personen ausgestiegen. Ich werde gleich nachsehen, ob etwas frei geworden ist. Dann müssen Sie hinüber. Er schlug die Türe zu und ging. Gibt es Worte! rief die Schwester empört. In England ginge es wider den Stolz des Ungebildeten, mit dem Gebildeten so umzugehen. Die Nation ist zu zivilisiert, auch dem stärksten Sozialisten wären solche Mißgriffe zu arg. Aber wir sind hier im Lande der häßlichen Briefmarken, sagte ich vor Wut zitternd. Paßt so viel Gemeinheit nicht wundervoll zur Schreibweise des Wortes „Büro“? Dabei stand der Laternenkerl schon wieder unter der Türe. So, meinte er im Tone des Vorgesetzten, drüben ist Platz, und machte sich anheischig, nach meinem Gepäck zu greifen. Zurück! schrie ich wie eine Wilde. Dann zahlen Sie die I. Klasse nach, sagte er erschrocken. Nein! keinen Pfennig! schrie ich, denn mein Zorn kochte jetzt wie Teewasser auf einem Schnellsieder. Aber morgen, schrie ich, steht diese Geschichte in allen Blättern, es stehen mir alle Blätter, log ich schreiend, alle Blätter Deutschlands stehen mir zu Gebote. Ich fand eine sehr dramatische Geste und der Mann fuhr vor meinen Megärenaugen betreten zurück. Ach was, meinetwegen bleiben Sie wo Sie wollen, sagte er. Jawohl! schrie ich und meine Börse öffnend, warf ich das ihm zugedachte Geldstück ostentativ wieder hinein. Dies imponierte ihm vollends. Er schlug zwar die Türe noch einmal zu (dies war seine Natur), jedoch blicken ließ er sich nicht mehr.
Sind Sie Schauspielerin? fragte mich meine Gefährtin voll Bewunderung.
Aber ich sank erschöpft zurück.
Wollt Ihr mehr noch hören?
Diese eine gröbliche Geschichte greife ich nur deshalb mit Vorliebe heraus, weil ich merkwürdiger Weise nicht den Kürzeren dabei zog. Die anderen Geschichten erzähle ich nur auf speziellen Wunsch, weil ich mich zu sehr dabei aufrege. Und wer sie auch für erdichtet hielte, würde sie doch nie für übertrieben erklären. Wir fahren heute lieber auf dem längsten Seeweg nach England, lieber 24 Stunden lang die ganze Küste entlang zu Schiff, um der möglichen Drangsal einer 10stündigen Bahnfahrt zu entgehen, und wer all die Eventualitäten des Winter- und Sommerfahrplans auf der Strecke München-Ostende oder Vlissingen erprobte, der zieht es vor, sich allen Meeresstürmen und dem dichtesten Nebel auszusetzen und einen ganzen Tag und eine Nacht länger unterwegs zu sein. Daß die Schiffahrtsgesellschaften bei täglich wachsender Konkurrenz so emporblühen und ihre Bureaux (ich schreibe es so) in allen Städten aufschlagen und daß der Zulauf sich immerzu steigert, geschieht nicht nur, weil die Schiffe so prächtig geworden sind, sondern weil das Eisenbahnfahren mit jedem Jahr unerfreulicher und mühsamer wird und hier statt des Fortschritts eine immer größere Nachlässigkeit waltet. Nur die Preise sind gestiegen. Aber es ist, als führe man geschenkt. Die armen Ausflügler, die an Feiertagen zu ihren unzureichenden Zügen strömen, angebrüllt, zurück- und zurechtgewiesen werden, ist ein Kapitel für sich. Sich darüber zu beschweren, überlasse ich denen, welche noch den Mut besitzen, Sonntag über Land zu fahren und durch Lösung einer Fahrkarte scheinbar das Recht auf anständige Behandlung eingebüßt haben. Natürlich gibt es viele Schaffner, die höflich und gefällig sind. Unwürdig ist nur die Tatsache, daß Wohl und Wehe des Reisenden von der Gemütsverfassung, der Laune und dem Naturell eines solchen Diensthabenden abhängig sind, daß hier die Disziplin, von der sonst doch so viel gesprochen wird, daß die oft pöbelhafte Grobheit der Bediensteten unbestraft bleibt, mit einem Wort: Daß hier das Mühlrad so verkehrt läuft. Sinnen und Trachten unserer Generaldirektionen gehen dahin, möglichst große, umständliche, protzige und unnötige Bahnhöfe (die Bahnzüge sind ihnen egal!) zu errichten. Unnötig: Diese Behauptung ist mit nichten so unverständig wie die Herren Bahninspektoren und Oberbauräte es möchten. Wenn sie notwendig sind, warum stehen sie nirgends in England? Warum stehen sie nicht in Paris? Warum bleiben sie in London auf ihre einfachste Form erhalten? Warum sind sie dort nur weite Hallen, die nur von einem ewigen Kommen und Gehen atmen — nur praktisch — nur zweckmäßig und trotzdem und gerade deshalb von einer starken, beschwingten Atmosphäre von klassischer Einfachheit und deshalb schön.
Kürzlich mußte ich in Leipzig den Nachtzug nehmen. Der Bahnhof — der Stolz des Sachsenlandes — ist groß wie ein Marktflecken, und ich könnte mir so gut vorstellen, wie hier ein Massenkostümfest veranstaltet würde, nicht aus den besten Kreisen, aber üppig mit großen Palmenarrangements. Ich bitte Sie, all die Treppen, das schöne Auf und Ab, wie geeignet! Nun — ich warte also auf Bahnsteig 4 auf den Berliner Zug. Er lief verspätet in die großartige Halle ein — und, ich brauche es nicht zu sagen: er war vollkommen überfüllt. Wir standen geduldig und übernächtig auf der Plattform wie ein Rudel Landstreicher, die zu warten haben, bis man sie abschiebt. Plötzlich, wie von hoher Brücke herab, der stolze Kommandoruf: Wagen werden keine angehängt! Es herrschte der gewöhnliche Kriegszustand. Ich wurde in einem Halbcoupé einem alten Sachsen zugesellt. Als nach einer Weile der Schaffner erschien und ich ihn fragte, ob denn nirgends Platz sei, schlug er die Türe zu, ohne mich einer Antwort zu würdigen. „Von dem erwarten Sie ja nichts!“ riet mir der alte Herr. „Das Subjekt kenne ich. Es war eine Zeitlang in meinem Geschäft angestellt, aber ich mußte es schleunigst entlassen.“
Es gelang uns mit vereinten Kräften, das Fenster zu öffnen, aber vor dem Ruß, der uns entgegenflog, zogen wir es alsbald wieder in die Höhe. Wir stellten die Heizung auf kalt, wobei es immer wärmer wurde. Ich bin schon alt, sagte er plötzlich, und werde nicht mehr viel Eisenbahn fahren. Das ist aber auch das letzte, worum ich die Lebendigen beneiden werde. —
Nun — eine solche 10stündige Fahrt, um die kein Toter mich beneidet hätte, lag unmittelbar hinter mir, als ich in Cuxhaven, unter einem flockigen Himmel, von Möven umkreist, die hohe Brücke des „Imperators“ bestieg. Der Kontrast zwischen dem Aufschwung unseres Schiffsbaus und der Rückständigkeit unserer Eisenbahnen hat etwas Überwältigendes; man ist auf den Eindruck nicht vorbereitet. Es ist ja nicht der Luxus, der uns erstaunt. Mein Gott, den findet man heute mehr oder minder in jedem Hotel, und er hat den Reiz der Neuheit schon so sehr verloren, daß ich mich frage, ob er sich in der gegenwärtigen Form noch lange halten wird. Daß sich also Riz oder Carlton hier einer Niederlage erfreuen und eine rotbefrackte Kapelle stellen, ist uns egal. Und da ich mir nun schon einmal das Kapitel der Anregungen gestatte: Wäre es nicht schön, den ganzen Aufwand neuen Bahnen zuzuleiten und einmal ein wirklich gutes Orchester und eine prachtvolle Musik auf einem so würdigen Boden, wie den unseres großen Dampfers, zu lancieren? Das Meer ist eine so unvergleichliche Konzerthalle!
Nicht die kostbare Ausstattung des Schiffes, sondern daß es immens ist, sondern, daß wir stimmungsvolle lauschige Zimmer statt der engen Kabine beziehen, sondern, daß wir einen Kilometer zurückgelegt haben, wenn wir dreimal das Deck umgehen, der Luxus des Raums, — das ist es, was uns hier ergreift. Jeder Fußbreit mehr, der sich hier dem Element widersetzt, das ist es, was imponiert! Drinnen im Binnenlande begreift man nicht recht, bevor man es erfuhr, warum ein Schiff so groß sein soll. Erst wenn man darauf hinzog, versteht man den Sinn dieser großen, immer größeren Häuser, in welchen man des Schiffes immerzu vergißt. Wir ahnen nicht vorher, mit welcher Rührung wir uns besinnen werden, wenn uns in mitternächtlicher Stille ein dumpfes, kaum wahrnehmbares, wie unterirdisch wachsames Treiben die Augen aufschlagen läßt und ein Ruck, ein sanft harmonisches Rauschen uns daran erinnert, daß nicht Straßen noch Plätze, nicht Gras noch Baum vor dem Fenster im Winde stehen, sondern das nasse, leere Feld des furchtbaren, feindseligen Gottes, auf welchem dies ungeheure beladene Schiff zur winzigen Nußschale schwindet. Aber eine Nußschale, die uns das Gefühl höchster Geborgenheit mitzuteilen weiß, und an welcher Menschenhände so lange und so kundig bildeten, bis sie allen Stürmen gewachsen, endlich den Begriff des Schiffes selber überwand. So ist hier der Zauber aus dem Kontrast von Größe und Kleinheit gewoben, und mit innerem Jubel kreisen wir immer wieder um das weite Deck dieser schwimmenden Arche, des Spiels nicht müde, so groß ist die Romantik dieser kleinen, armseligen, rastlos dahingemähten, dieser so kühnen, prometheischen Menschheit, und so stark ist ihre Perspektive, daß wir plötzlich wie selbst aus ihr hinausgerückt, von Bewunderung hingerissen vor ihr stehen.
Da wir von Perspektive und von Romantik sprechen, treten wir doch bitte einen Schritt zurück, kneifen wir ein Auge zu und sehen wir ins Leere, in die Ferne; dorthin, wo sich über den Fluß die massive Brücke schwingt. Denn nicht lange, und der Schnellzug saust plötzlich darüberhin, aus dem Hals der Lokomotive windet sich ein brauner Rauch zur krausen Barocksäule empor, und die locker aneinander geschmiedeten Wagen rollen fröhlich mit lautem, schnell verhallendem Geräusch und wie ein gefährliches Spielzeug vorbei. Ein kurzer Pfiff, wie ein Angstschrei, und nichts ist mehr, als die schwarze Wölbung eines Tunnels, durch die sie geradewegs ins Innere des Felsens drangen. Und nun meine Zeitgenossen bitte ich Sie: Ist die Ritterburg, deren epheuumrankter breitzackiger Turm vom Berge niederschaut, suggestiver? Kann sie unserer Phantasie die Seele eines Zeitalters mächtiger, unmittelbarer entgegenhalten, wie der soeben vorübergerauschte Zug, dessen Fenster wir einen Augenblick in der Sonne flimmern sahen? Fühlen wir uns da nicht blitzschnell den vielfachen Existenzen ein, die er dahinträgt, reißt er da nicht unsere Teilnahme zu Schemen des Lebens hin, vertraut und unbekannt — verklungen schon, wie angesichts des verwitterten Burgtores das Bild des Jagdtrosses, der über die Zugbrücke lärmte; — melancholischer auch in der zerrinnenden Vielfältigkeit seiner steigenden und fallenden Linien. Denn wie Lose in einer Urne sind unsere Leben in jener kleinen Eisenbahn zusammengeworfen. Wieviel vergrämte, bekümmerte und schwere Herzen trug sie nicht schon dahin! Wieviel Verliebte starrten schon durch ihre Scheiben in die fliehende Gegend hinaus und erfaßten mit magischer Schärfe den Baum, den zuckenden Steg, Dörflein und Wald, während sie doch nur das Bild der Kreatur, an die sie dachten, vor Augen hatten! Verträumte Flammen des Hoffens, der Illusion, von der Bewegung gefächelt, wie Blumen, die im Zephir stehen. Es ist eine Zeit, es ist ihr bewegter, ruheloser Schild, der nachts als funkelnde Schlange mit runden, feurigen Drachenaugen seinen Weg erkannt und viel Romantik in sich verdichtet. Denn es ist als sei nichts klein, als sei alles interessant an den Wesen und ihren Schicksalen, so lange die Bahn sie hinträgt und gleichsam dem Alltag entreißt. Nur daß sie noch nicht, wie die vielbesungene Burg, ihren Dichter gefunden hat, die eilige Besiegerin der Fernen, die, rastlos, immer auf der Flucht, unsere Epoche gestaltet, deren Schienen unsere Welt aufackerten und uns erst zu eigen machten.
Und ein Ding, so verlockend anzusehen, unterhält so wüste Möglichkeiten; einer so glorreichen Erfindung sollte jener Fortschritt verwehrt bleiben, der sich heute auf allen Gebieten des äußeren Lebens — von dem fabelhaften Aufschwung unseres Schiffahrtwesens nicht zu reden — so glücklich geltend macht. Man fährt schon in Russland und auf der transibirischen Eisenbahn sehr angenehm — es ist also möglich. Warum sollten wir hier nicht auch wie in so vielem Vorbildliches stellen? Wie schön, welche Freude, wären die Eisenbahnwagen, die einmal ein Künstler wie Adolf Hildebrand entwarf. — Wo sind sie? Nein! was ich da sage, ist wirklich weder unausführbar noch töricht! Aber, sagte mir kopfschüttelnd, mit erhobenem Finger, ein mehrfacher Aufsichtsrat, sehen Sie denn nicht ein, daß die kolossalen Anstrengungen, welche von Seiten der Schiffsagenturen zur Hebung desselben geschehen sind, absolut notwendig waren, um das Verkehrsmittel überhaupt in Schwung zu bringen, und daß es ohne die rücksichtsvolle Behandlung der Passagiere, welche Sie so sehr rühmen, niemals florieren könnte, während unsere Eisenbahnen — ob nun etwas für sie geschieht oder nicht und mögen sie noch so rückständig bleiben, ja noch unerträglicher werden — einen stets wachsenden Zudrang erfahren werden, da es kein anderes großes Verkehrsmittel gibt — es sei denn das Auto oder der Luxuszug, der ja auch, schloß er zutreffend und mit einem suffisanten Lächeln, mehr oder minder nur für Autobesitzer (er war selbst einer) in Betracht kommt.
Nun möchte ich nur, wiewohl vergebens, unsere Herren Eisenbahnminister im Namen meines philantropischen Jahrhunderts fragen, ob dies ein anständiges Argument war.
Neue Rundschau Juliheft 1914
„Hans im Schnakenloch“ von René Schickele, ein elsässisches Schauspiel in vier Akten, gehört, wie Tchekow’s „Kirschblüte“, nur in viel höherem Grade noch, zu den athmosphärischen Stücken. Man weiß nicht, sind hier Licht und elsässischer Himmel miteinbezogen, oder fluten sie ungefragt so herein. Aber man weiß, hier ist die Tragik keine stipulierte, sie ergibt sich von selbst. Denn hier ist der Held eins mit der Landschaft, in der er steht, und mit dem Himmel, der schwefelgelb aufleuchtend, in der Ferne grollend, so weit, so brütend, über ihm hängt. Elsaß! Und hier hat der Held es nicht nötig, die Welt zu bereisen, sondern er trägt das Wissen um ihre winterliche Finsternis in seinen leichtblütigen Adern. Dieser unselige Hans im Glück, der alles hat, was er will, und nicht will, was er hat, möchte, was er nicht mehr erhoffen kann: einen Boden für sein Glück. Dieser reifen und sommerlichen Welt jedoch, deren Sinn er so wohl erfaßt und die er unter seinen Füßen schwanken fühlt, gilt seine Treue. Des Elsässers Treue: „Spannen Sie einen Menschen mit Armen und Beinen zwischen zwei Pferde,“ sagt er zum französischen General Kaufmann, „jagen Sie die Pferde in entgegengesetzter Richtung davon, und Sie haben genau das erhabene Beispiel der elsässischen Treue.“ Hansens Mutter, die alte Madame Boulanger (in diesem Stück haben die Deutschen meist französische Namen, und umgekehrt) ist ein wenig schweigsam, nach Art alter Französinnen, die über das Unvermeidliche nicht gern viel Worte machen. „Ihr wißt, ich hab nichts gegen die Deutschen, gelt Clär. Aber manchmal kommts mir vor, als ob mehr geschrien würde, seitdem sie im Lande sind.“ Ihr Sohn ist nicht der Ritter ohne Furcht und Tadel. Garnichts Verjährtes haftet ihm an. Er wandelt mit der Stunde und ist der Mensch ohne Eitelkeit. Nichts Selbstgefälliges an seiner Ironie; sein Achselzucken, seine spielerische Trauer atmen Verzweiflung.
Hans (bei einem Fest auf drei Abgeordnete deutend): Da kommen sie!
Müller (noch oben auf der Terrasse, zwischen Cavrel und Simon): Ein Löwe, ein Wolf, und das Schaf.
Louise: Die ganze Politik. —
Denn Hans im Schnakenloch, le grand désabusé, weiß was sie taugt. Der Krieg bricht aus. Franzosen erobern das Dorf. „Dies ist eine Staatsaktion,“ sagt Hans, „von deren Ausgang das eine zum andernmal gerechnet, schließlich das Schicksal der Völker abhängt. Es mag dumm sein, daß so viel vom Ausgang einer Rauferei abhängt, aber ich kann es nicht ändern.“
Nicht lange, und das Dorf wird von den Deutschen zurückerobert. Der Kampf tobt in den Gassen. „Arme Jungen!“ sagt er von den gefallenen Deutschen. „Da liegen sie wahrhaftig in Reih und Glied. Und die Franzosen davor hingeschleudert, wie Pfeile, die ihr Ziel nicht ganz erreichten.“ — Wer da siegt, ihm ist’s nicht wichtig. Für ihn hat der Besiegte die höhere Glorie. Wer von beiden die Erde verliert, die er beiden zuerkennt, bei dem will er liegen. „Mich hat die Wildheit dieser Toten angesteckt,“ schreit er plötzlich auf. „So will ich auch liegen. Hingeschleudert, und mit krampfhaften Händen, die ihr Ziel nicht erreichten. So und nicht anders will ich sterben. So.“
Aber so hat auch Goethe den Elsässer gesehen. Elsaß war noch nicht lange genug mit Frankreich verbunden, schreibt er in Dichtung und Wahrheit, (als die Dinge umgekehrt lagen,) als daß nicht noch bei alt und jung eine liebevolle Anhänglichkeit an alte Verfassung, Sitte, Sprache und Tracht sollte übrig geblieben sein. Wenn der Überwundene die Hälfte seines Daseins notgedrungen verliert, so rechnet er sich’s zur Schmach, die andere freiwillig aufzugeben. Er hält daher an allem fest, was ihm die vergangene gute Zeit zurückrufen und die Hoffnung der Wiederkehr einer glücklichen Epoche nähren kann.“
„Immer der Deserteur, immer aus Treue,“ so hat ihn Goethe noch im Alter gesehen.
Hans im Schnakenloch, der Elsässer von heute, sieht die Seinen nurmehr wie von ferne; seiner Liebe kaum mehr bewußt, nimmt er nur kargen Abschied von der Frau, „Du hörst nicht mehr, was ich sage,“ herrschte er sie an. „Begreife doch, auch ich gehorche der Pflicht . . . Meinesgleichen fährt jetzt zur Hölle. Da muß ich dabei sein. Die Wage der Weltgeschichte schwebt.“ Der Gram dieser Erde ist sein Gram. Im Schein dieses Himmels, der schon überfloß in jenen der Douce France, fing sich auch das Echo deutscher Innerlichkeit. Hier lächelt der Sommer, und immerzu deutet hier der Zeiger auf die Stunde der Erfüllung. Aber statt ihrer erdröhnt immer verstärkt die Stunde des Unheils. Liebe ist schwerer wie Haß, meint der Abbé Schmitt, der die Gefallenen begräbt. „Ich wiederhole,“ sagt er, „es ist leichter gut zu schießen als gut zu denken. Das Schießen ist an der Reihe. Sprechen wir weiter, wenn die Tage des Denkens wiederkommen.“ Werden sie kommen?
Auch die Nebenfiguren sind hier von zwingender Lebendigkeit und über die Hauptrolle und ihre Modulationen werden sich wohl, je länger je bestimmter allerorts die namhaften Mimen ereifern. Vorausgesetzt, daß noch welche da sind, und daß der eiserne Vorhang, der sich zwischen den Ländern senkte, nicht auch noch vor den Theatern herabfällt.
Was dieses mutige, von so wahrhaft dichterischem Geiste getragene, so wundervolle Stück vor allem auslöst, ist eine ungeheure Bangigkeit, das Bewußtsein einer entsetzlichen Gefahr. Man fühlt: die Gegenwart schlägt hier voll an: Tolstoi und Dostojewski haben schon gelebt, der zwischen anständigen Menschen längst herrschenden Moralbegriffe enträt nur noch die Politik. Dort als eigentlicher Point d’honneur, Uneigennützigkeit, Großmut und Würde; hier noch immer die vorchristliche Kunst des Übervorteilens im Bereich des Möglichen oder des Unmöglichen: ein Zeiger, der unentwegt voranläuft, der andere, der wie irrsinnig gegen die Räder anrennt; ein sausendes Uhrwerk, das am Zerspringen ist; eine groteske, lächerlich unerlöste Welt; das Wirrsal.
Immer ist es Sommer in Schickeles Stück; alle Holdheit der Erde, eine blumige Au am Rande des Abgrunds: Elsaß! Und immer wird uns dieses Wort, wie mit Traumhänden, so dringend hingereicht, bis es wie eine Glocke tönt, die sich in Bewegung setzen möchte, Vernunft und Frieden einzuläuten, und den Starrsinn in Zerknirschung zu lösen.
September 1916
Neue Zürcher Zeitung.
C’était dans la loge de l’ambassadeur à Rome. Le second acte d’une représentation de Tristan tirait à sa fin, lorsque Yvonne Müller, ne parvenant pas à détourner son attention de ce qui se passait sur la scène et dans l’orchestre, se sentit prise d’un ennui intolérable. Ce fut presque avec envie qu’elle remarqua alors l’air absorbé et pensif de l’ambassadeur; quand lui, tournant vers elle son regard distrait, mais aussitôt en éveil: »Si nous partions?« dit-il.
»Quelle excellente idée«! dit Yvonne Müller en respirant le grand air tiède de la nuit.
»Ce n’était pas aussi mal que vous le dites.«
»Vous n’écoutiez pas« s’écria-t-elle; »vous étiez en train de rédiger une dépêche. Je lisais cela dans vos yeux. Ah! c’est la dépêche surtout, que j’aurais aimé lire.«
»Je n’en doute pas.«
»Eh bien non! car en vous observant je me disais: je voudrais qu’il écoute. Vous avez de notre musique un sentiment véritable. Involontairement vous eussiez comparé, et malgré vous vos sympathies se seraient portées vers nous profondément.«
Yvonne Müller s’anima soudain d’une belle ardeur, mêlée d’une grande incertitude; elle trouva un nouvel accent pour reprendre.
»Eh bien, qu’y a-t-il?«
»Vous savez bien, ces fous« dit-elle »qui se prennent pour le pape ou l’empereur Napoléon, et passent leur temps à signer des actes imaginaires? Mon mal n’est pas de me croire, mais de vouloir être tout un monde de choses! Rester en dehors des évènements m’accable! Et pour peu que deux souverains aient une rencontre, je suis bouleversée.«
»Et pourquoi, grands dieux?«
»Mais parce que je voudrais en être. Ne riez pas! — Si vous saviez« continua-t-elle, »combien j’avais intérêt et hâte de venir vous voir! les avis chez nous sont très partagés sur votre compte. Alors je voulais une bonne fois et de mon propre chef vous observer moi-même.«
»En vérité« dit il.
»L’un de ces partis« débita-t-elle, »estime que vous êtes notre adversaire le plus déclaré, l’autre au contraire tend à se tourner vers vous, à vous accueillir, vous . . . . vous attirer. Je me suis longtemps demandée lequel de ces partis était dans le vrai. Car je me sens influencée par l’opinion de chacun, tant que je ne puis être assurée de la mienne. Mais une fois-que je tiens mon impression personnelle, rien et personne ne saurait l’altérer. Et telle est l’idée — immuable maintenant — que je me suis formée de vous.«
Elle était en attendant très embarrassée. Ne sachant trop comment interpréter le mutisme de l’ambassadeur, il lui semblait avancer à tâtons et au hasard dans une obscurité complète, et elle n’était pas fâchée, que déjà la voiture s’arrètât devant le palais. Ils montèrent lentement l’admirable escalier et passèrent dans les salles désertes, où leur présence semblait rompre un cercle pâle et insaisissable comme si une haleine de vie troublait dans ces hautes tapisseries, les figures, les fleurs, les bosquets immobiles, comme si dans le silence des ombres affluaient ici autour de choses évanouies et coulaient tristes et inquiètes d’une porte, d’une muraille à l’autre.
Ils s’arrêtèrent dans une pièce ornée de grisailles merveilleuses.
»Si nous jouions une sonate« proposa-t-il, »en attendant que les autres soient rentrés?«
Décidément, se dit-elle, il faut avec les ambassadeurs se charger de toutes les avances, et ce n’est jamais leur tour.
»Je pars dans deux jours; ne regretterez-vous pas un peu d’ignorer ma pensée?«
»Et quelle est cette pensée?« dit-il simplement.
»Il me semble que j’ai un sérieux avantage sur ceux qui revendiquent un jugement sur vous: c’est d’avoir passé un mois dans votre entourage. Quelque réservé et sur ses gardes que soit un homme d’Etat, le domaine de sa pensée se condense et crée autour de lui une atmosphère très spéciale. Et son vague reflet est peut-être plus intéressant à constater que maints gestes précis, dont se tirent les clichés instantanés, mais souvent confus; d’autant plus que pour ces gestes l’imprévu est toujours apte à entrer en cause et à les altérer dans leur effet ou dans leur interprétation. Quant à moi, je doute que les paroles dont Bismarck formula un jour son jugement sur vous, soient de cours aujourd’hui.«
»Vous doutez dans le vague« dit-il.
»Il m’est d’autant plus facile« remarqua-t-elle, »de provoquer certains pronunciamenti, que personne ne pourrait deviner avec quelle passion je me suis attachée à des questions de ce genre. Et si même j’avouais combien elles me tiennent à coeur, à tel point, qu’immédiatement mon avenir personnel perd à mes yeux toute importance, et rentre dans ses proportions véritables — qui au monde le croirait? Et qui voudrait admettre, ce dont je suis pourtant convaincue, que parmi les nôtres, personne aujourd’hui n’a su vous reconnaître aussi bien que moi?«
»Qui sont vraiment les vôtres? Vous étes Française autant qu’allemande!«
»Autant qu’Anglaise alors. Je ne trouve pas en nous aujourd’hui de quoi nous suffire. A la longue chaque endroit nous oppresse et nous fatigue, d’un ennui, dont nous ne sommes pas responsables. J’arbore« s’écria-t-elle, »les drapeaux de trois nations pour le moins! Je suis la Jeanne d’Arc de l’époque, moi!«
»Vous êtes bien, vous, le diplomate moderne!«
»Qu’entendez-vous par le diplomate moderne?«
»Talleyrand, par son tempérament comme par ses facultés destructives, m’a toujours semblé le type de l’ancien. Chercher votre qualité maîtresse dans un instinct analogue, serait, je crois, manquer de perspicacité. Non seulement parce qu’il manque à votre nature le trait retors, qui caractérise ce genre de talent, mais parce que le don constructeur est la marque même de vos aptitudes. Je doute que vous puissiez vous sentir dans votre élément, à moins de trouver à bâtir, à construire; et ce don de l’architecte est si éminemment le vôtre que souvent je me demande: N’auriez-vous pas manqué en fin de compte votre véritable champ d’action, si vous n’arrivez pas à jeter un pont sur le fleuve le plus difficile à passer aujourd’hui? Ah! que vous en dressiez le plan c’est surtout ce qui m’importé! car en dehors de l’initiative, j’ai découvert dans votre politique un autre élément essentiellement moderne: le trait généreux si spécial aux Français et si intimement lié à leur rancune!«
Yvonne Müller parlait maintenant sans désemparer. »Et je ne crois pas« dit-elle, »à l’élimination du sentiment! Cela aussi est vieux jeu! »Le sentiment n’entre dans la politique que dans un sens restreint, mais c’est un sens qui s’élargira« disait le vieux Bismarck. Et cela d’autant plus que déjà il est devenu plus urgent et pour nous tous peut-être, de poursuivre et de hâter notre politique continentale que notre politique coloniale. Mais il y a beau temps que je soupçonne les idées larges d’ètre rares aussi parmi les ambassadeurs. Qu’en dites-vous?«
»Ils n’ont pas si vite fait que vous de résoudre des questions aussi difficiles.«
»Difficiles ou non, ce serait une défaite pourtant« soupira-t-elle, »si une solution, qui de droit revient à la diplomatie, devait finalement lui être soustraite, et pour ce roman si pitoyable, hélas! qu’est le nôtre! où se brouiller et se nuire sont les éventualités, où s’aimer sans arriver à s’unir sont les faits.«
On entendait dans la cour des roulements de voiture.
»Vous m’objecterez peut-ètre« dit Yvonne Müller qui continuait toujours, »que nous avons parfois une étrange manière de faire notre cour; mais les amoureux sont toujours maladroits. Et vous pouvez me croire, je les connais, mes compatriotes. Je les aime en tant qu’Allemande, et je les aime encore avec une certaine dose d’irritation en tant que Française. Il n’y a donc personne qui les aime davantage. Mais vous ne me dites rien?«
»C’est que nous n’avons plus le temps« dit il.
Les salles s’inondaient de lumière, un bruissement de soie, de pas légers et de voix-approchait.
Aus der Revue »le Continent« 1907.
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Torso | 1 |
Reisen | 47 |
Bei Taine | 109 |
Randglosse zur Psychologie der Nationen | 117 |
Cambridge | 123 |
Traum und Hellsehen | 131 |
Aus einem Traumbuch | 143 |
Literatur | 147 |
Einiges über den Geiz | 155 |
Die Markgräfin von Bayreuth | 165 |
Catharina von Siena | 189 |
Das Leben der heiligen Walpurga | 213 |
Bei Duchesne | 219 |
Barrère | 249 |
Alarmglöckchen | 257 |
Torschlußtypen | 265 |
Der unverstandene Mann | 273 |
Der neue Schlag | 281 |
Die Ballonfahrt | 301 |
Bei Hildebrand | 311 |
Schiffahrt und Eisenbahn | 317 |
Das elsässische Schicksal | 333 |
Yvonne Müller | 343 |
Anmerkungen zur Transkription
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End of the Project Gutenberg EBook of Wege und Umwege, by Annette Kolb *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK WEGE UND UMWEGE *** ***** This file should be named 46204-h.htm or 46204-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/4/6/2/0/46204/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org Section 3. 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Newby Chief Executive and Director [email protected] Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For forty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.