The Project Gutenberg EBook of Die Welt im Kinderköpfchen, by Josephine Siebe This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Die Welt im Kinderköpfchen Author: Josephine Siebe Editor: Dr. Johannes Prüfer Release Date: August 31, 2013 [EBook #43613] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE WELT IM KINDERKÖPFCHEN *** Produced by Norbert H. Langkau, Iris Schröder-Gehring, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
[Seite a] Deutsche Elternbücherei
Herausgegeben von Dr. Johannes Prüfer
Heft 40
Von
Josephine Siebe
Verlag und Druck von B. G. Teubner · Leipzig · Berlin 1919
[Seite b]Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.
[Seite c]Frau Dr. Henriette Goldschmidt
in verehrender Liebe
zugeeignet
Wenn das Kind im Märchen hört, „er ging bis an das Ende der Welt“, so scheint ihm das Ziel nicht weiter erstaunlich und der Weg für einen Märchenprinzen schon ergehbar. Denn hinter Stadt, Dorf und Wald, ja vielleicht schon hinter dem Gartenzaun liegt für das kleine Kind in seiner Phantasie das Ende der Welt; nahe und doch unendlich weit, weil seinem Welterkennen immer Neues entgegentritt, mit dem es sich erst auseinandersetzen muß. Der Forschungsreisende, der nach langer Fahrt unbekanntes Land erblickt, erlebt im Grunde nichts Wunderbareres als das kleine Kind, das zum ersten Male eine Straße entlang geht, einen Garten betritt, dem sich eine bisher unbetretene Stube, eine Bodenkammer öffnet. Tut das Kind allein seine ersten Schritte und geht etwa bis zu einem Stuhl, so ist ihm der Stuhl im Augenblick Weltgrenze und Ziel. Doch weitet sich für das Kind rasch der Weltbegriff. Hinter dem Stuhl liegt die Türe, der Flur kommt, die Treppe, das Haus tut sich auf und Straße, Hof und Garten dehnen sich vor ihm, neue Gegenstände, neue Menschen treten in den Umkreis seines Blickes und jedes Wort, das es hört, jede Blume, jedes Insekt, ein Kieselstein, ein Schneckenhaus, eine Regenlache und alles was geht, kommt und fährt erweitern des Kindes Weltbild, erweitern es heute namentlich bei dem Großstadtkind mit beängstigender Schnelligkeit; doch auch das Kleinstadtkind, ja selbst das vom Lande, wenn es nicht in völlig abgelegener Gegend wohnt, lernt im Maschinenzeitalter die Welt ungleich rascher kennen als die Kinder früherer Zeiten.
Zum sinnlichen Welterfassen tritt frühe auch das Streben, sich mit Gott auseinanderzusetzen; freilich, der Himmel, der sich über uns wölbt mit Sonne, Mond und Sternen, erscheint dem Kinde greifbar nahe, und wie es oftmals begehrt, die [Seite 2]lieben kleinen Sterne in seine Händchen zu nehmen, es den Mond verlangt und die Sonnenstrahlen fangen will, so nahe, menschlich nahe scheint ihm der liebe Gott zu sein. Der ist ihm meist der gute alte Mann, der irgendwo hinter der blauen Himmelswand sitzt, mit dem es sich abends in seinem Bettchen aussprechen kann, ja mit dem es gelegentlich auch etwas schilt wie jenes kleine Mädchen, das bei einem plötzlichen Regenguß auf die frisch geputzten Fenster weisend, mit erhobenem Fingerlein mahnte: „Na warte nur, lieber Gott, wenn das die Mama sieht.“
Der Erwachsene hat für diesen kindlichen Gottesbegriff leider oft nur ein Lächeln, wie er manchmal auch nur ein Lächeln hat für die tausendfachen Fragen der Kinder nach dem Wesen aller Dinge, für das drängende, flehende, nie verstummende Warum und doch wollen die Kleinen vom ersten Schritt in die unendliche Welt hinaus, auch wenn diese nur der nächste Stuhl ist, ernst genommen werden, verstanden sein von den großen Leuten. So ernst wie der Gelehrte, der am heiligen Born der Weisheit lauschend grübelt, oder der Forscher, der in nimmersatter Sehnsucht die Welt umschifft. Nur wenn wir versuchen, des Kindes Gedanken nachzudenken, wenn wir im Verkehr mit dem Kinde gleichsam noch einmal schon zurückgelegte Wege wiedergehen, uns des eigenen Werdens bewußt werden, dann kann es uns gelingen, einem Kinde gerecht zu werden. Wir müssen wieder mit Kindergedanken denken lernen, damit wir anscheinende Torheiten, Unsinn, ja schlimme Fehler als Entwicklungsstufen richtig werten können.
In den nachfolgenden Bildern aus dem Kleinkinderleben ist versucht worden, das vielgestaltige Welterkennen des Kindes, sein Verhältnis zu seiner Umwelt, zur Natur und zu Gott in leisen Umrissen festzuhalten. Nicht als Geschichtchen aus Kindermund etwa möchten diese kleinen Schattenbilder angesehen werden, sondern als ein Beitrag zu dem großen Kapitel „Eltern und Kinder“, dem die vorliegende Elternbücherei in allen ihren Erscheinungen dienen will.
„Unser Traudchen lernt leider so schwer laufen.“
Die junge Mutter sagte dies immer ein wenig bedrückt, denn von einem Erstling verlangt doch die ganze liebe Sippe ein linschen Wunderkindtum; wenn es da mit dem Sprechen und Laufen nicht so flink gehen will, wenn Kleinchen nicht Spuren ganz ungewöhnlicher Fassungsgabe zeigt oder bedeutende Talente verrät, dann ist das für junge Eltern, namentlich wenn der Verwandtenkreis groß ist, immerhin peinlich. Und Traudchen war zwar rund und rosig, es lachte, versuchte sich auch mit wundersamen Lauten in der Redekunst, aber der kleine Ernst von Tante Elli konnte doch alles schon viel besser, und Maiers Lotte erst, die nur um zwei Tage älter als Traudchen war, erstaunlich, was die alles leistete!
Überhaupt Maiers Kinder! Gegen die kam so leicht kein Kind auf, und Frau Maier füllte ihre Besuchsstunden damit aus zu erzählen, was ihre Kinder alles sagten, taten, meinten und vermutlich fühlten und dachten.
Vielleicht achte ich doch nicht genug auf mein Kind, dachte Frau Irma wohl, wenn sie von der fabelhaften Entwicklung der Maierschen Kinder hörte. Und sie versuchte mit Bitten und sanfter Gewalt das schwerfällige Kind zum Laufen zu bringen. Traudchen tat dann auch ein paar schwankende ängstliche Schritte an der Mutter Hand, doch sobald diese losließ, gab es ein Zetergeschrei, und meist fiel Traudchen einfach hin, heulte und rutschte heulend zu ihrem Spielteppich zurück. Alle Künste versagten. Selbst der Vater, der einmal tatkräftig eingriff und der schwächlichen Muttererziehung nachhelfen wollte, erreichte nichts, ja Frau Irma und Minna, das Mädchen für alles, riefen, so jämmerlich habe Traudchen noch nie geschrien.
Der Arzt erklärte Traudchen dabei für ein völlig normales gesundes Kind, er riet zur Geduld und redete lächelnd von Erstlingssorgen. Ach Geduld, wenn man sein Kindchen doch etwas bewundert sehen möchte und heimlich, trotz aller Versicherungen des Arztes, doch die Angst im Herzen trägt, vielleicht [Seite 4]ist das Kindchen nicht ganz gesund, vielleicht bleibt es zurück im Wachstum an Körper und Geist.
Was man für Sorgen hat um so ein Kindchen!
„Man muß es mit Lockmitteln versuchen“, erklärte der Vater. Und er ging hin und kaufte als erstes Lockmittel einen bunten Hampelmann, nach dem Traudchen kreischend griff. Zwei Minuten durfte es damit spielen, dann wurde der Hampelmann an der Tür befestigt und der Vater rief: „Komm Traudchen, komm, sieh Hampelmann!“
„Dada!“ Traudchen griff mit den Händchen in die Luft, stellte sich mit Hilfe der Mutter auf ihre Beinchen, doch als die losließ, gab es das übliche Zetergeschrei. Plumps! saß Traudchen und darüber vergaß es den Hampelmann.
Am nächsten Tag versuchte der Vater es mit einem schwingenden Ball, den löste ein Holzpapagei ab, ein schnurrender Blechhahn folgte und jedesmal gab es den gleichen Verlauf. Traudchen freute sich, griff danach, versuchte auch das Gehen, schrie und versuchte schließlich kriechend ihr Ziel zu erreichen.
Und immer wieder die Frage: „Kann Traudchen noch nicht laufen?“ — „Nein, immer noch nicht!“
Eines Tages kam Frau Maier, die Mutter der vortrefflichen Kinder, sie kam von einem Einkaufsgang, und da sie sich nicht allein als besondere Mutter, sondern auch als besondere Hausfrau fühlte, kaufte sie immer besonders billig, und nachdem sie ihr Erstaunen über Traudchens Nichtlaufenkönnen wortreich geäußert hatte, fing sie an, ihre Einkäufe zu zeigen. Sie hatte im Warenhaus allerlei Tand erstanden, für den sie Bewunderung heischte. Darunter war auch ein kleiner feuerroter Milchtopf, der bei dem Auskramen seine Umhüllung verlor, Frau Maier stellte ihn etwas achtlos neben sich auf einen Hocker und vergaß ihn über den vielerlei weisen Reden, die zu halten sie sich verpflichtet fühlte.
Da stand das Töpfchen und die Sonne blinkerte auf ihm herum, vielleicht weil sie nichts anderes zu tun hatte. Denn ein besonderes schönes Töpfchen war das kleine feuerrote Jahrmarktdings gerade nicht, keins, das auf Ausstellungen oder in einen Glasschrank gehört, aber dem Traudchen gefiel es. „Dada!“ jauchzte es und patschte in die Hände.
Dada hatte vielerlei Bedeutung. Die Mutter sah auf, doch [Seite 5]da Traudchen ganz vergnügt an einem Stuhlbein herumkletterte und Frau Maier kein Päuslein in ihrem Redefluß eintreten ließ, achtete sie nicht weiter auf die Kleine.
„Dada!“ Traudchens Hände griffen in die Luft und ihre Blicke hingen wie gebannt an dem roten Töpfchen. Wenn's nur nicht so weit gewesen wäre!
Traudchen stand auf einmal auf seinen zwei Beinchen und niemand sah es. Und die Kleine vergaß das haltgebende Stuhlbein, ihr Eifer, zu dem roten seltsamen Dings zu gelangen, war zu groß. Ein Schrittchen tat es in die grenzenlose Weite der Stube hinein, noch einen. „Mein Gott, sehen Sie!“ Frau Irma ließ Frau Maier nicht Zeit, das notwendige Gewürz unter den Kuchen zu mischen, dessen geheimnisvolle Zubereitung sie gerade verraten wollte, „sehen Sie doch, unser Traudchen läuft. Fritz, Fritz, Minna kommt schnell herein, Traudchen läuft!“
Doch ehe die Gerufenen anlangten, hatte Traudchen schon ihr Ziel erreicht und — es klirrte, platsch lag das rote Töpfchen auf dem Boden.
„Dada!“ Traudchen sah sich nicht ohne einen gewissen Stolz über das vollbrachte Werk um. „Dada“, sie griff nach einem geheimnisvollen Päckchen, was Frau Maier auch auf den Hocker gelegt hatte, doch die kam ihr zuvor und mit dem entrüsteten Ruf: „mein schönes Milchkännchen“, entriß sie Traudchen den neuen Raub.
„Traudchen läuft, da vom Stuhl bis hierher ist sie gelaufen!“ Der Vater und Minna bekamen beide das Wunder verkündet und Traudchen platschte mit ihren Händchen auf den Hocker und kreischte vor Lust.
Frau Maier lächelte sauersüß. Nein, so hatte sie sich mit ihren Kindern wirklich nicht angestellt, und nicht einmal ein Wort der Entschuldigung sagten die Eltern. Sie stand auf und erklärte, sie müßte gehen.
„Ist es nicht entzückend, wie sicher das Kind gegangen ist?“ Frau Irma strahlte. Sie schob mit dem Fuß ein wenig die Scherben beiseite und sagte gleichmütig: „Morgen bringe ich Ihnen einen andern Topf, liebe Frau Maier. Im Warenhaus gibt es ja noch so viele.“
Frau Maier kam gar nicht dazu, eine höfliche Abwehr zu [Seite 6]sagen, denn der junge Vater rief eifrig, man müßte etliche von diesen Töpfen holen, denn es sei immerhin erstaunlich, warum das Kind es gerade darauf abgesehen hätte und man müßte untersuchen, ob Farbe oder Form den Anreiz gegeben hätten.
Frau Irma war das gleichgültig. Sie dachte nur: mein Kindchen läuft, Gott sei Dank, es hat keinen verborgenen Fehler.
Und nach zwei Jahren klagte die junge Mutter: „Unser Traudchen ist ein Quirl. Nicht zehn Minuten sitzt das Kind still, heute ist es wieder heimlich auf die Straße gelaufen, wenn es nur nicht so eine Range wird wie Maiers Kinder.“
Die Sorgen nehmen halt kein Ende!
Wirklich, ich bin keine eingebildete Mutter. Ich finde zwar meinen Erstgeborenen über die Maßen lieblich, doch das finden andere auch, die beiden Großmütter zum Beispiel, aber ich erkenne doch an, daß es noch andere nette Kinder gibt. Wenn freilich mein kleiner Schelm so seinen blonden Kopf an meine Brust lehnt und mich mit seinen dunklen Augen anstrahlt, dann — ja dann erscheint er mir eben wie ein kleiner Engel.
Doch ganz engelhaft ist er nicht immer. Leider. Er hat einen Dickkopf. Sein Vater sagt, den hat er von mir, ich sage, darin gleicht er ihm.
Neulich kam Tante Berta gerade dazu, als Mutter und Sohn über das Spazierengehen anderer Meinung waren. Etwas laut ging es zu. Das kann ich nicht leugnen. Das Söhnlein trampelte und schrie, die Mutter schalt und weinte. Nein, engelhaft war es wohl nicht. Doch abscheulichen Trotzkopf brauchte Tante Berta den Buben auch nicht zu nennen. Das war zu viel.
Wenn Bubi nur weniger geschrien hätte! Zum Davonlaufen war es wirklich und Tante Berta lief auch davon. Ich begleitete sie hinaus, ein bißchen heiß und aufgeregt und just da kam unsere Hausgenossin, die Hofrätin, die Treppe hinauf. [Seite 7]Sie sah meine Tränen, hörte Tante Bertas Ermahnungen, strenger zu sein, und da klagte ich ihr meine Not.
Da strich mir die liebe alte Frau sacht über das heiße Gesicht und sagte sanft: „Ruhe und Geduld braucht es zum Muttersein. Kind, mit Heftigkeit in Strenge und Liebe richtet man wenig aus.“
„Ich würde den Bengel tüchtig verwichsen“, rief Tante Berta, die mit festem Schritt die Stiege abwärts ging.
Wer hatte nun recht?
Still kehrte ich zu meinem kleinen Unband zurück. Mit verheultem Gesichtchen saß er in seiner Ecke und knurrte: „Will nicht spazieren gehen, will nicht gehen!“
Ich schwieg. „Ruhe und Geduld“ klang's in mir nach. Zwang ich ihn jetzt, begann wohl das Geschrei von neuem. Ich setzte mich also an meinen Schreibtisch und begann meine Wirtschaftsrechnung.
Auf einmal kam aus Bubis Ecke ein Seufzerlein.
Ich rechnete weiter — wieder ein Seufzer!
Nun war er still, dann klang es zaghaft: „Mutti!“
Mein Kopf machte eine halbe Wendung. Nein noch war es nicht Zeit. Ich rechnete krampfhaft 15 und 37 sind 74 — oh welche närrischen Summen kamen heraus!
Wieder ein Seufzerlein. Es raschelte. Trapp trapp kam's daher, und dann huschelte es sich weich und warm an mich an und flehend und ach so kläglich klang es: „Mutti — Mutti!“
Rasch wollte ich den lieben unnützen Schelm an mich ziehen und ihn tüchtig abküssen, als mir der alten Frau Mahnung einfiel: „Mit Heftigkeit in Strenge und Liebe richtet man wenig aus.“ Ich streichelte also nur linde meinen Trotzkopf und fragte gelassen: „Warum hast du denn keine Lust zum Spazierengehen?“
„Weil — weil ich doch in der Eisenbahn saßte und weil ich doch Schaffner war und weil — weil ich doch nach Berlin fahrte!“
Also im Spiel hatte ich ihn gestört, das war's. Herausgerissen aus seinem heiteren bunten Phantasieland hatte ich ihn.
Ich sagte ganz ernsthaft: „Schau, Bubi, nun bist du doch [Seite 8]einmal ausgestiegen, da kannst du ja auch spazieren gehen. Wenn du heimkommst, fährst du dann weiter!“ — „Hm!“
„Marie, bringen Sie Bubis Mantel, wir gehen jetzt spazieren.“
Und er ging mit. Erst etwas mürrisch, dann so froh wie immer.
Mein — ich muß es leider gestehen — erster Sieg.
Doch ich hoffe mehr zu erringen. Ruhe und Geduld, ich will immer daran denken und auch daran, meinen Buben nicht zu rasch aus seinem Spiel zu reißen. Ich werde ja selbst ärgerlich, wenn man mich gedankenlos in meiner Arbeit stört, und dem Kinde ist das Spiel Arbeit, Betätigung, für die es ganz unbewußt von den Erwachsenen Verständnis fordert.
Was ist das, Bubi schreit nebenan! Ganz aufgeregt klingt seine Stimme. „Marie, Marie, Sie gehen ins Wasser.“ — „Ih nee!“ brummt Marie und schlurft aus dem Zimmer.
Ich gehe hinüber. Da sitzt Bubi auf einem Kissen auf dem Fußboden und ruft mir glückselig zu: „Ich bin Schiff, Mutti, fall nicht ins Wasser!“
Nein, ich will nicht in das rinnende klare Traumwässerlein treten, auf dem er so selig dahinfährt, wie der Schiffer auf dem blauen Meer der Insel des Glücks zuschifft.
Wenn ein kleiner Peter Höslein trägt mit Taschen darin und vier Jahre alt ist, dann kann er schon in die weite Welt reisen. Nur die Unvernunft der großen Leute sieht das nicht ein.
Ach, die großen Leute! Man hat es manchmal schwer mit ihnen, wenn man selbst noch nicht zu ihnen gehört. Da sagt zum Beispiel der Vater an einem schönen lichten Sommertag ganz ungewöhnlich streng: „Peterle, wenn du wieder wie gestern die Kaninchen aus dem Stall läßt, dann gibt es Haue, merke es dir!“
Peter hat heute gar nicht an die Kaninchen gedacht, aber nun läuft er schnell zum Stall, natürlich nur, um den Kaninchen ihr Schicksal zu verkünden. Er redet mit den geliebten Schnupperchens und denkt nicht daran, die kleine Stalltüre zu [Seite 9]öffnen. Bewahre. Wenn nur das weiße Kaninchen, sein besonderer Liebling, nicht so eindringlich bitten möchte. Peter nimmt dies beharrliche Am-Gitter-Sitzen für eine sehr flehende Bitte, und er redet dem Weißling betrübt zu: „Mußt drin bleiben!“
Aber da hopst ein gelbes heran, auch ein schwarzes nähert sich, alle sehen Peter so bittend an, und auf einmal, Peter weiß selbst nicht, wie es geschehen konnte, ist das Türlein auf, und husch, husch! laufen die Kaninchen in den Garten, in den schönen gepflegten Garten.
Wer soll sie nun wieder einfangen?
Peter weiß gleich, das kann er nicht. Vorgestern hat er die Ausreißer heulend gejagt, aber keines ergriffen, und dazu fällt ihm noch des Vaters Drohung ein. Und Vater spaßt nicht.
Peter rennt durch den Garten, dahin, dorthin. Dabei kommt er an das Ausgangstor, ein Spältchen steht es auf, man kann gut hinausschlüpfen. Ausreißen, wie die Kaninchen ausgerissen sind, in die weite Welt hinauslaufen!
Peter denkt es nicht, er fühlt es nur halb unbewußt, und plötzlich steht er draußen auf der Straße. Zum erstenmal allein. Peterle ist ein wohlbehütetes Kind, immer geht er sonst nur mit den Eltern oder mit Fräulein spazieren und immer nur in den Gängen des nahen Parkes, er kennt nur die Straße, in der seines Vaters Villa liegt, und die nachbarliche, in der die Großeltern wohnen, nicht jene Straßen, in denen die Häuser dicht gedrängt stehen, himmelhoch aufgebaut. Und doch braucht man nur ein paar Schritte zu gehen, und schon läuft so eine lange Häuserzeile dahin, eine Straße voll Leben. Wagen fahren, Menschen hasten sie entlang und Kinder spielen auf ihr, immer zu jeder Tageszeit, viele, viele Kinder.
So viele Kinder hat Peter noch gar nicht gesehen. Wenn nun einer in die weite Welt reisen will und nicht fahren kann, dann muß er laufen, und Peterle läuft, ein bißchen Angst, erwischt zu werden, ist auch dabei, also rennt er trapp trapp die Straße entlang, und so eilig hat er es, daß er eine dumme Bordschwelle nicht sieht, er stolpert und pardauz! gibt es den ersten Aufenthalt auf der Reise in die weite Welt hinaus.
Wenn Peter daheim fällt, dann heult er, bis man ihn aufhebt, ihn tröstet, ihm einen Leckerbissen verspricht, und darum [Seite 10]heult er jetzt auch, heult jämmerlich, aber — es hebt ihn niemand auf. Nur eine dünne schrille Stimme schreit ihn an: „Biste gefall'n?“
Es ist, als ob diese Stimme den Kleinen in die Höhe zieht, er steht auf und sieht sich höchst verwundert um, da steht ein Mädel, etwas größer als er, die sieht ihn spöttisch an und fragt höhnisch: „Haste dich dreckig gemacht?“
Daß die weißen Höslein schmutzig sind, bekümmert Peter nicht weiter, denn daheim liegen noch viele saubere weiße Höslein, er sieht nur die Fragerin, wie ein Weltwunder starrt er sie an. Sie trägt ein verschlissenes Kleid, im schwarzen Wuschelkopf brennt ein rotes Bändchen und in den festen braunen Händchen hält sie eine unglaublich dicke Schnitte, deren Musbelag seine Spuren dem ganzen Gesichtchen aufgedrückt hat.
„Willste mal beißen?“
Peter ißt zu Hause nicht alles, was man ihm reicht, aber in die dicke Schnitte beißt er herzhaft hinein, und während er kaut und schluckt und auch ein Musbärtlein bekommt, sagt die Spenderin: „Ich heiße Mine, wie heiste denn?“
Peter gurgelt seinen Namen heraus, und die Freundschaft ist geschlossen. Mine pflegt schnell Freundschaften zu schließen, und weil weder Guste noch Marie, Liese, Otto, Fritze und Paul just auf der Straße sind, um mit ihr zu spielen, kommt ihr der kleine Weltreisende gerade recht. Sie fragt: „Wo kommste denn her?“
Peter weiß nicht, wo seines Vaters Haus liegt, er ahnt aber dumpf, Mine würde Verständnis haben für seine Reise in die weite Welt. Er erzählt. Nicht ganz so zungenschnell, wie Mine redet, aber die versteht ihn gut, sie nickt und antwortet beifällig: „Wenn ich Haue kriegen soll, reiß ich immer aus. Vater haut so sehr. Woll'n mer Himmel und Hölle spielen?“
Peter kennt das Spiel nicht, und Mine nennt ihn ohne viel Umstände dumm, sie sieht ihn etwas verächtlich an, aber sein weißer Anzug, seine wohlgepflegte Niedlichkeit versöhnen sie doch wieder, und sie nimmt den kleinen Ausreißer gnädig als Lehrling an. Und dann kommen Guste und Marie, Fritz und Paul gesellen sich dazu, und alle blicken halb mißtrauisch, [Seite 11]halb verlegen den „feinen Neuen“ an. Doch Mine erklärt, und das Zauberwort: „Er ist ausgerissen“ befördert das Vertrauen; Peter darf mittun.
Sie spielen auf der Straße. Peter hat es noch nicht geahnt, welche wunderbaren Spiele es gibt. Himmel und Hölle ist bald abgetan, Feuerwehr wird gespielt und Schutzmann. Paul mimt zur johlenden Freude der anderen einen Betrunkenen, so wie gestern einer auf der Straße herumgetorkelt ist. Er schimpft wie der Betrunkene, stößt Worte aus, die Peter noch nie gehört hat, aber die er sich flinker merkt als die Verslein in seinen Bilderbüchern, die Fräulein ihm manchmal vorsagt. Fritz ist ein sehr schneidiger Schutzmann, die Mädels kreischen, und Peter kreischt mit. Er findet das Spiel so köstlich wie noch keins zuvor, und er vergißt darüber den Garten, die entlaufenen Kaninchen, alles; er ist draußen in der weiten, unbekannten Welt, und er genießt sein erstes Abenteuer mit vollen Zügen. —
In Peters Elternhaus ist die Sorge wach geworden.
Fräulein hat des Kleinen Verschwinden zuerst entdeckt. Sie meint, er habe sich versteckt, und sie sucht ihn, erst lässig mal seinen Namen rufend, dann besorgter, aufgeregter; sie läuft mit ihrer Angst zu den anderen Hausbewohnern und zuletzt sind alle auf der Suche nach dem Ausreißer. Sie rennen auf die Straße, fragen da und dort, niemand hat Peter gesehen, und die Mutter weint verzweifelt; sie sieht ihr Kind bereits überfahren, verschleppt, sie ruft nach ihrem Mann, nach der Polizei. Der Fernsprecher klingelt, und als die Aufregung auf das höchste gestiegen ist, erscheint Fräulein mit dem heulenden widerborstigen Peter. Er sieht schmutzig und erhitzt aus, daß er seine Weltreise so schnell aufgeben mußte, bereitet ihm offenbar wenig Vergnügen.
Mit Straßenkindern hat er gespielt. Unglaublich!
Die Mutter ist entsetzt, Fräulein ist entsetzt, und die Mädchen stellen sich an, als wäre ein goldenes Krönlein in einen tiefen Brunnen gefallen.
Der Vater lacht. Doch er ist ein Mann der Tat und vergißt nicht, sein väterliches Wort einzulösen. Diesmal hilft kein Bitten der Mutter, nicht Fräuleins Tränenströme. Vater und Sohn reden eindringlich und recht unangenehm miteinander, [Seite 12]und zuletzt sagt der Vater stolz auf seine Erziehungskunst: „So, das Ausreißen habe ich ihm gründlich ausgetrieben.“
Nach drei Tagen ist Peter wieder verschwunden.
Diesmal ist es kein unbewußtes Hineintappen in die weite Welt mehr, heimlich und bedacht ist er entschlüpft; denn die Straße mit Mine und ihren Spielgenossen erscheint ihm lockender als der große, stille Garten; in ihm brennt die Sehnsucht, einer unter anderen zu sein. Fräulein hat die Flucht entdeckt, und sie holt ihn diesmal zurück, ohne erst das Haus zusammenzuschreien, nur der Mutter wird der neue Streich verraten, und die beiden Frauen reden eindringlich auf Peter ein; seine Sünde wird ihm wortreich vorgehalten, und als die Mutter meint, es sei genug, redet Fräulein noch weiter.
Peter schielt sie bockig an, und auf einmal sagt der wohlerzogene kleine Junge, der nach seiner Eltern Willen aufwachsen soll, behütet von allem Häßlichen, Unreinen der Welt, trotzig zu Fräulein: „Du Luder!“
So sagt Mine, und Mine ist für ihn Lust, Spiel, Lachen; sie ist ihm das bunte, wechselreiche Leben, und was Mine sagt, ist fein, hat Geltung für ihn.
Am nächsten Tag versucht Peter es wieder, auszureißen. Die Sehnsucht nach dem Draußen, nach den andern verläßt ihn nicht mehr.
„Mutti, dürfen wir auf die Straße?“
Das Trüpplein steht vor der Mutter, die Augen glänzen unternehmungslustig, sie hoffen auf ein Ja, und die Mutter sagt es auch, sie sagt es freilich ungern und zögernd, es ist ihr gar nicht recht, wenn die Kinder allein spielen. Doch, um sie spazieren zu führen, dazu fehlt es ihr an der Zeit, und die drei lebhaften Dinglein immer in der engen Wohnung zu lassen und ihnen kein Draußensein zu erlauben, geht doch auch nicht an. Luft und Sonne, sie brauchen beide so nötig.
Doch der Mutter ist die Straße unheimlich, ihre Flurnachbarin hat gesagt: „Das sind Kleinstadtgewohnheiten, die muß man überwinden. Wer nicht mit 'nem goldenen Löffel in der [Seite 13]Hand geboren ist, der darf sich heute nicht absperren. Meine Kinder sind immerzu auf der Straße, da werden sie dreist und umgänglich und kommen nachher gut fort im Leben.“
Gut fortkommen im Leben, es leichter haben als ich sollen meine Kinder auch, denkt Frau Anna. Um ihretwillen ist sie ja weggezogen aus der lieben kleinen Heimatstadt, auf deren Plätzen noch die Brunnen rauschen wie in einem Eichendorffschen Liede. Kluge Ratgeber haben gemeint, sie würde in der Großstadt bessere Arbeitsgelegenheiten haben, und sie ist dem Rat gefolgt und hat wirklich die erhoffte Arbeit gefunden, nun sitzt sie von früh bis abends an der Maschine und stickt mit farbiger Seide feine schöne Blumen und Muster auf köstliche Stoffe. Dem Prunk und heiterem Glanze dient die Arbeit ihres einsamen Lebens. Ihr Mann ist tot und die Sorge für ihre drei Kinder ruht auf ihr. Eine schwere Sorge, ja, und doch eine liebe Sorge.
Frau Anna hört die Flurtüre klappen, jetzt trappeln ihre drei die Treppen hinab, und der große Bruder, der nun bald ein Schulrekrut ist, beschützt sorgsam die kleinen Schwestern, so wie er es daheim schon tat.
Wenn nur die Straße, der sie zustreben, auch jener der verlassenen Heimat gleichen möchte: Da hatten sich Gärten zwischen die Häuser geschoben und die Bäume hatten im Frühling ihre Blüten, im Sommer und Herbst wohl auch einen Teil ihrer Früchte auf die Straße niederfallen lassen, zum Ärger ihrer Besitzer, zur Freude der Kinder.
Die Maschine klappert, Stich um Stich. Frau Anna stickt verschlungene Linien auf blauen Grund; wer der Linien Anfang und Ende nicht kennt, hält das Ganze wohl für ein regelloses Gewirr, und doch ist es ein Muster, schön und geheimnisvoll, schwer zu enträtseln freilich, wie manchmal des Lebens Gang.
Die Zeit vergeht. Frau Anna sieht nach der Uhr und erschrickt, die Kinder bleiben doch so lange aus.
Sie wird unruhig und wartet, und die Arbeit schreitet langsamer voran. Da endlich krabbelt es draußen an der Flurtüre, ein zaghaftes Klingeln ertönt. Das ist doch nicht der Seppel, der klingelt immer herzhafter, vom Stuhl kann man fallen vor Schreck, wenn der Einlaß begehrt. Frau Anna geht und [Seite 14]öffnet und sie findet draußen Ruth und Trinchen stehen, und allen beiden laufen die Tränen über die Bäckchen. „Seppel ist fortgelaufen“, klagt Ruth, und das Trinchen jammert: „Fottelaufen!“ Seppel hat die Schwestern allein gelassen! Zum erstenmal tat er das.
Frau Anna denkt nur an ein Unglück, das geschehen sein muß, und sie bringt es kaum noch fertig, die etwas redselige, aber immer hilfsbereite Nachbarin um Schutz für ihre beiden Kleinen zu bitten, dann rennt sie eilig die Treppe hinab, ihren Jungen zu suchen, ihren Liebling. Wo ist er, was ist ihm begegnet?
Sie braucht nicht weit zu gehen, da findet sie ihn schon. Er steht mitten unter einer Schar von Buben, der Kleinste ist er unter ihnen, aber sein Stimmlein kräht doch laut im Chore mit.
„Seppel!“ Als die Mutter ihn ruft, schrickt er zusammen, er blinkert verlegen mit den Augen, denn leise dämmert der Gedanke an die verlassenen Schwestern in ihm auf. Unsicher murmelt er: „Sie sind weggelaufen.“
„Nein, du bist weggelaufen!“ Frau Anna sagt es ganz ruhig, und ein heimliches Lachen kommt ihr, als sie in Seppels bedrücktes Gesichtlein sieht, sie straft ihn aber doch mit Worten, wenn sie auch milde sind, und schon auf der zweiten Stiege stammelt der Kleine reumütig die Bitte um Verzeihung, sagt, er will's nicht wiedertun. Das Versprechen kommt aus ehrlichem Herzen, und die Mutter atmet auf, als sie ihre drei wieder beisammen hat.
Am nächsten Tag gelobt Seppel feierlich, die Schwestern treu zu hüten, und sie kommen auch alle drei vereint wieder zurück, ein bißchen verheult sieht das Trinchen aus, es ist hingefallen, weil die beiden Großen zu schnell gelaufen sind. Der Feuerwehr nach.
Was kommt alles auf so einer Straße daher, was zum Nachrennen verlockt!
Besonders so einen kleinen, kecken Draufgänger, wie der Seppel ist, einen, der einem dummen Streich nicht immer ausweicht und dem sich leicht ein Geschehen im Bewußtsein vergrößert und verschiebt, weil seine bewegliche Phantasie alles zu einem besonderen Erleben gestaltet.
[Seite 15]Wenn die Kinder zurückkommen, haben sie immer viel zu berichten, sie nennen auch Namen von anderen Kindern, und manchmal fallen Worte, bei denen die Mutter erschreckt aufhorcht und mahnt, das sagt man nicht und dies nicht. Nur das Trinchen hat immer weinerlich das gleiche Erlebnis zu beklagen. „Bin defall'n.“
Frau Anna merkt es, das Trinchen kommt bei dem Auf-der-Straße-Spielen zu kurz, und an einem Tage, der warm und sonnenreich ist, als wäre es schon Frühling, verläßt sie die Arbeit und geht ihren Kindern nach, um zu sehen, mit wem sie unten spielen.
Als Frau Anna die Straße betritt, erschrickt sie vor ihr. Der warme Tag hat mehr Menschen als sonst herausgelockt, und die Straße ist ganz erfüllt von brausendem Leben, ihr, der Kleinstädterin, erscheint es ungeheuer, und doch rechnet der Einheimische diese Straße zu den stilleren der Stadt. Die Mutter schaut ängstlich nach ihren Dreien aus, und übersieht dabei beinahe das Trinchen, das auf der Bordschwelle zwischen Bürgersteig und Fahrdamm sitzt, ganz allein hockt es da und haut mit einem alten Blechlöffel immer auf das Pflaster und summt vor sich hin: „Bumsa, bumsa!“ Die Puppe liegt daneben, und inmitten alles Lebens erscheint der Mutter ihr Kleinchen so unsäglich verlassen, daß ihr die Tränen kommen. Sie hebt es auf, und Trinchen jauchzt laut beim Anblick der Mutter, aber gleich klagt es wieder, wie so oft: „Bin defall'n.“
Nach Ruth braucht Frau Anna nicht weit zu suchen, die kommt bald angerannt, will nach dem Schwesterchen sehen und erzählt strahlend, sie hätten Haschens gespielt, aber das Trinchen könne noch nicht so geschwind laufen. Und Seppel?
Der spielte mit den großen Jungen Krieg, er hatte die Schwestern wieder vergessen, und als die Mutter suchend die Straße entlang geht und eine ganze Schar Buben daherstürmen sieht, begreift sie es, Seppel ist eben ein Junge, er will sich austoben. Diesmal ist Seppel auch gar nicht reumütig, ja er brummt, als die Mutter ihn ruft, und er setzt das Brummen oben fort; denn er kommt sich ein wenig wie gefangen im Käfig vor.
Am nächsten Tag hat sich der vorzeitige Frühlingsglanz in Regen verwandelt, und auf Frau Annas Herz ist eine neue [Seite 16]Sorge gesunken, Trinchen fiebert und liegt im Bett. Die Nachbarin holt bereitwillig den Arzt herbei, der kommt auch und beruhigt die Mutter, es wäre nicht schlimm. Dennoch wagt sich Frau Anna von der Kleinen nicht fort, und da die Nachbarin keine Zeit hat, schickt sie Seppel nachmittags auf die Straße, er soll allerlei einholen. Sein Wiederkommen dauert sehr lange, und als er endlich kommt, tanzt die Klingel nicht so lebhaft wie sonst, nur zaghaft tönt sie, und Seppel kommt sehr bedrückt in das Zimmer, und sein Blick weicht scheu dem der Mutter aus. Was bedrückt ihn denn?
Frau Anna prüft das Eingeholte, es ist alles da, nur das Geld, das Seppel zurückbringen soll, fehlt. Er hat es verloren. Noch während er das Wort ausspricht, kommen ihm die Tränen; er heult laut und erklärt schluchzend, man hätte es ihm fortgenommen.
„Wer denn?“
Seppel schweigt. Im Mundwinkel und am Kinn sieht die Mutter zwei verdächtige braune Fleckchen, und sie frägt und forscht, und da kommt es denn heraus, zwei Freunde von der Straße, zwei größere Jungen, haben Seppel das Geld fortgenommen und es in Näschereien angelegt, ihm haben sie ein Beuteteilchen davon abgegeben und den guten Rat dazu, das Märlein vom verlorenen Gelde zu sagen. —
In dieser Nacht findet Frau Anna keine Ruhe. Sie sitzt an Trinchens Bett und hört den Atem des Kindes ein wenig unruhig gehen. Nebenan in der Kammer schlafen Ruth und Seppel tief und fest. Der Bube ist unter Tränen eingeschlafen, und als die Mutter einmal zu ihm geht, sieht sie ein Lächeln auf seinem Gesichtchen kommen und gehen, seine Schulderkenntnis ist noch nicht so tief, um ihm den Schlaf zu stören, noch spürt er nicht, wo sich die Wege senken, die in die Tiefe führen.
Frau Anna geht ruhelos zwischen Kammer und Stube einher. Trinchen schläft jetzt ganz ruhig, und sie tritt an das Fenster und sieht auf die Straße hinab.
Es hat geregnet und die Lichter spiegeln sich auf dem feuchten Pflaster. Die Fenster gleichen alle geschlossenen toten Augen, nur zwei glänzen noch hell in die Nacht hinaus. Und Frau Anna denkt, wer ist es, der dort noch wacht, vielleicht auch eine Mutter in Sorge wie ich?
[Seite 17]Da hallen Schritte unten. Ein paar Männer reden laut, Frauenstimmen mischen sich hinein und ein häßliches kreischendes Lachen schallt auf. Dann verlieren sich Schritte und Stimmen in der Ferne, nur der häßliche Nachklang bleibt Frau Anna noch im Ohr. Und ein Grauen packt sie vor der langen dunklen Straße da unten, der großen Verführerin. Was verhüllt und verbirgt sie alles, was erblickt der Wissende und hört der Hörende, wenn er sie entlang geht? Wieviel Jugend, wieviel lachender Leichtsinn fiel ihr schon zum Opfer!
Da tönt nebenan ein leises Rufen auf und rasch tritt sie zurück und geht wieder zu ihren Kindern. Seppel sitzt aufrecht im Bett und als die Mutter in den Lichtschein der Lampe tritt, blinzelt er schlaftrunken. „Durst, Mutti“, murmelt er.
Frau Anna läßt ihn trinken. Er schluckt ein paarmal, zuletzt schon mit geschlossenen Augen, dann sinkt er zurück, greift noch tastend nach der Mutter Hand und ein ganz holdes Lächeln geht über sein Gesichtchen. Mutti! Da ist er wieder eingeschlafen und vielleicht tummelt er sich nun schon auf der allerbuntesten Traumwiese herum. Der Mutter Hand aber hält er fest, und aus dieser kleinen Hand scheint der Frau ein Kraftstrom zuzufließen. Ihr Herz schlägt ruhiger, still sitzt sie im warmen Schein der Lampe, draußen liegt die Straße im Dunkel, aber innen ist Licht und Leben. Liebes junges Leben, das ihr gehört. Wird sie es schützen können gegen die Welt draußen?
Sie lächelt tapfer. Meine Kinder, denkt sie, meine Kinder, und es ist ihr als fühle sie ihre Stärke wachsen. Riesenkraft kann eine Mutter haben.
Elf Tanten und vier Onkels, alle sollte Hansel lieben, und er stopfte sie auch wirklich alle in sein Herzelein hinein, so gut es ging, er spendete Patschhände und freundliche Blicke, er ließ sich auch mal küssen, doch glücklicherweise nicht allzugern. Und wenn die Tanten gar zu lange bei seiner Mutter blieben, war er höflich und öffnete die Flurtüre und rief in das Zimmer hinein: „Ich habe schon die Türe aufgemacht.“
[Seite 18]Machte er Pläne für künftige Lebenszeiten, er schwankte, ob er Kutscher, General oder Schutzmann werden sollte, dann brachte er auch da und dort einen Onkel oder einige Tanten unter, von letzteren versprach er etlichen die Ehe und einen Onkel ernannte er schon zu seinem Trompeter, im Fall er das Generalsein erwählte.
Die Tanten waren mitunter ein bißchen eifersüchtig gegenseitig auf Hansels Liebe, obgleich der Kleine seine Gunst ziemlich gerecht verteilte und die Schokolade von Tante Anna genau so gern aß wie die von Tante Ida, sie hätten aber alle gern in seinem kleinen Herzen auf dem Sofa neben Vater und Mutter gesessen, aber der Platz gehörte für einige Zeit jemand, der gar nichts davon ahnte.
Am eifersüchtigsten warb Tante Ida um Hansels Liebe; mit süßen Gaben, mit Spaß und Neckerei suchte sie das kleine Herz an sich zu fesseln, es gehörte ihr auch, bis die seltsame Nebenbuhlerin kam.
Ein Vorfrühlingstag war es. Ein rauhes Lüftlein wehte, und Tante Ida strebte mit Hansel heimwärts, sie fand, es sei Zeit, und sie war der Ansicht, ihr Tantenamt gut erfüllt zu haben. Eine Trillerpfeife — seine höchste Sehnsucht zur Zeit — steckte in seiner Tasche, ein Küchlein ruhte auf dem Grunde seines Magens, und immer hatte Tante Ida vorsichtig die Sonnenseite aufgesucht.
Und auf einmal walzte sie daher: „Hansels Liebe“.
Die Straße zitterte und dröhnte, schwarz, ungeheuer, fauchend kam sie angekeucht, die Dampfwalze.
Hansel stand wie angewurzelt.
„Komm“, mahnte die Tante, „komm!“
Hansel rührte sich nicht. Seine Augen ruhten unverwandt auf ihr, der Herrlichen. Was war selbst die Elektrische gegen sie!
Die Tante bat und mahnte, es half alles nichts. Hansel rührte sich nicht von der Stelle. Endlich rief die Tante, der es kühl um die Ohren wehte, ärgerlich: „Ich glaube wirklich, Hansel, du hast die Dampfwalze lieber als mich.“
Und Hansel drehte sich um, sah die Tante liebenswürdig mit seinen strahlenden Braunaugen an und sagte tröstend: „Nur ein bißchen, Tante.“ Vergessen waren alle Liebesbeweise, die Dampfwalze hatte gesiegt.
[Seite 19]Wer kennt sich aus in einem Kinderherzen!
Hansel, der inzwischen ein Hans geworden ist, will Ingenieur werden. Wenn er das Dröhnen und Rasseln der Maschinen hört, wenn die Bahnen sausen, die Kraftwagen surren, wenn er den gewaltigen Rhythmus der Arbeit spürt, dann zuckt sein Herz in tiefer Freude, weil er ein Mitschaffender sein kann, und er lauscht dem Zusammenklingen der vielen Stimmen so hingegeben wie damals, als er die Dampfwalze erblickte.
Einmal, so um die Sommerferienzeit, sagte der neunjährige Hellmut beim Mittagessen: „Kirchners verreisen; Max sagt, er kann dann auf 'nem richtigen Schiff fahren, immer, alle Tage.“
Die zehnjährige Else bekommt unruhige, erwartungsvolle Augen, und Sehnsucht schwingt in ihrer Stimme, als sie erzählt: „Bei uns in der Klasse reisen fast alle.“
In dem blassen Gesicht der Mutter zuckt es, sie sieht an ihrem Mann vorbei; denn sie weiß genau, der denkt jetzt: Könnte ich doch mit euch auch eine Ferienreise machen, einmal ein paar Wochen lang im Walde leben. Im Wald, den er so liebt, er, der Förstersohn.
Wenn nur nicht alles so teuer wäre, wenn man nur einmal etwas sorgloser dem Tage leben könnte!
Weil die Eltern schweigen, verebbt das Gespräch.
Den beiden Kleinen, die mit ihren fünf und drei Jahren ohnehin noch keine Reisesehnsucht kennen, ist es gleich, ob eine oder zehn Klassen reisen, und Ferdel schwatzt lustig dazwischen, und die sinnige Marie freut sich an den bunten Flecken, die hinter einem geschliffenen Glas auf dem weißen Tischtuch glitzern.
Die Tage eilen, die Ferien sind nahe.
Bei Hahns werden keine Reisepläne geschmiedet. Bis eines Tages doch die Reisefreude in das Zimmer tritt und Gastrecht erhält. Else und Hellmut erhalten eine Einladung von Vaters Schwester, sie zu besuchen. Die Tante lebt in einem Nest am Thüringer Wald, einem Städtchen, das beinahe in einer [Seite 20]Spielzeugschachtel Platz hat, so klein ist es. Und klein ist auch der Tante Häuschen, winzig ihr Geldbeutel, doch groß ihre warme Güte. Sie hat die Sehnsucht in der Schwägerin Brief verstanden und gedacht: zwei bring' ich zur Not unter und durch; wenn es doch alle sein könnten! Die zwei, die kommen dürfen, sind selig. Sie fahren am ersten Ferientag zur Stadt hinaus. Strahlender als mancher, der eine Weltreise macht und denkt, wenn sie nur recht viel Geld kosten möchte, damit ich etwas los werde, sitzen sie in der vierten Klasse. Sechs Stunden Fahrt, vier Wochen Ferien, was sind alle Freuden der Welt dagegen!
„Und wir reisen auch“, sagt der Vater, als er mit seiner Frau vom Bahnhof aus heimkehrt. „Nächsten Mittwoch früh bis nach — Schönblick.“
Ach du lieber Himmel, diese weite Reise!
Drei Haltestellen weit liegt Schönblick am Rand eines Kiefernwaldes. Sandweg bis hin, karg die Natur, äußerste Bescheidenheit gab ihm den Namen. Doch als Frau Marie, trotz des heiteren Tons, den Kummer in ihres Mannes Augen sieht, ihr nur so eine dürftige Freude bieten zu können, lächelt sie tapfer und sagt ganz heiter: „Ich freu' mich darauf.“
Den Zwang zur Freude haben die kleine Marie und Ferdel nicht nötig. Sie jauchzen laut, denn die Geschwister haben so viel von ihrer Reise erzählt, daß nun auch in ihnen die Lust erwacht ist, zu reisen, und Ferdel schreit wieder: „Will mit der Puffpuffbahn fahren.“ Und flink rutscht er Stühle zusammen, Marie muß einsteigen, ihre Puppenkinder dazu, ein Sofakissen wird freundlich zur Mitfahrt eingeladen, und fort geht die Reise.
„Wohin?“ — „Schönblick.“
„Und weiter?“ — „Balin!“
„Noch weiter!“ — „Auf'n Mond. Puff, puff, puff!“
Abends im Bettchen wird die Reise fortgesetzt. Ferdel fährt ins Traumland hinein und murmelt schon halb im Schlafe: „Puffpuff, mußt einsteigen, Mie!“
Sie brauchen gar keine Reise; ihre Phantasie trägt sie ja noch in goldene Wunderländer, denkt Frau Marie wehmütig. Ihr fehlt jede Lust zur Fahrt, aber sie muß daran denken, denn der Kinder Fragen umschwirren sie gleich am nächsten Morgen.
[Seite 21]„Mutti, wann reisen wir?“ — „Mittwoch!“
„Wann ist Mittwoch?“ — „Noch dreimal müßt ihr schlafen gehen!“
„Und dann?“ — „Dann ist Mittwoch und wir reisen.“
„Sechs Stunden, Mutti?“ — „Nein, dreiviertel Stunden!“
„Ach, so lange.“
„Mutti, was zieh ich an?“ „Mutti, darf ich meine Trommel mitnehmen?“ „Mutti, darf Lotte mit?“ Lotte ist das liebste Puppenkind. „Mutti, kommt der Hansi mit?“ Hansi zwitschert im Bauer, als hätte er wirklich Reisesehnsucht. „Mutti, darf ich Blumen suchen?“ „Mutti, kann ich auf der Lomotive sitzen? Ganz vorn, ja, Mutti?“
Es nahm kein Ende mit den Fragen, hunderterlei Dinge fielen den Kindern ein, nur an das schöne Reisewetter dachten sie nicht, das erschien ihnen selbstverständlich.
Und ihr froher Glaube, daß nichts die Reise nach Schönblick stören könnte, wurde nicht getäuscht. Ein Tag voll Sonne brach an, und als die vier Reisenden am Mittwochmorgen zeitig nach der Bahn wanderten, kam es Frau Marie wirklich vor, als wären sie im Begriff, eine große Reise zu tun.
„Laß alle Sorgen hinter dir,“ bat der Mann herzlich, „wir wollen froh sein.“
In Schönblick im Kiefernforst!
Frau Marie schwieg. Sie überließ es dem Vater, die vielen Fragen zu beantworten, ließ ihn Ferdel trösten, der durchaus auf der Lokomotive sitzen und pfeifen wollte, ihr Blick ging zum Fenster hin. Großstadtbilder, lange Straßen, hohe Häuser, große, aufdringliche Geschäftsanzeigen daran, ein paar Bauplätze, ein Gartenwinkel und wieder Straßen, Häuser und Fabriken; nun mehr Gärten, Eigenhäuser, ein Stück Wald, wieder Häuser, und zuletzt die weite, stille Ebene. Flachland, durch das ein Flüßlein rann. Da waren sie am Ziel. Der Kiefernwald stand dunkel gegen den Himmel, der wie blaue Seide glänzte, mit goldenen Fäden darin. Es stiegen nur wenige Menschen auf der Haltestelle aus, keine Überfüllung wie an Sonntagen, und den Weg zum Walde hin wanderte niemand.
Des Kornes goldene Breiten wogten, und das erste, was die Kinder erblickten, waren ein paar Kornblumen. Mit einem Jubelschrei lief Marie zu ihnen hin. Ferdel aber blieb wie [Seite 22]festgenagelt mitten auf dem Wege stehen, starrte mit großen Augen erschrocken auf etwas, das sich langsam bewegte — ein Regenwurm.
Er hatte noch nie einen gesehen.
Wäre ein Löwe dahergekommen, groß und stattlich, er hätte ihm vielleicht zutraulich entgegengeblickt, der Regenwurm flößte ihm unsägliche Angst ein, und erst, als er an der Mutter Hand ein Stücklein dem Tier entronnen war, atmete er auf, befreite sich und sah sich nach neuen Abenteuern um.
Marie hatte auch etwas entdeckt, sie hatte eine Schnecke gefunden, die saß in ihrem gelben Häuschen und kümmerte sich wenig darum, daß zwei Menschlein sie sehen wollten, sie kam erst wieder aus ihrem Haus, als der Vater sie auf ein Wegebreitblatt setzte und alle still von ferne standen, da streckte sie sacht ihre feinen, kleinen Fühlhörner aus.
Ein Wunder schien den Kindern dies einsame kleine Leben, sie konnten sich nicht davon trennen, bis ein paar Schmetterlinge an ihnen vorbei über den Weg flatterten. Die langsame Schnecke hatte sie zum stillen Zuschauen gezwungen, der Schmetterlinge leicht beschwingtes Gaukeln erweckte ihre Unruhe. Sie rannten den bunten Faltern nach, sahen andere, wollten sie greifen, bis Marie auf dem Wege ein neues Wunder erblickte.
Ein Käferlein kroch da, schwerfällig, stahlschimmernd. Mistkäfer wird er genannt, Marie fand ihn süß.
Der Vater lachte über ihr Entzücken und er streifte von einem Halm einen anderen Käfer, grüngolden schimmerte der und Marie ließ den Mistkäfer seines Weges ziehen, ihr kleines Herz wandte sich flink dem zu, der glänzte.
Der Weg zum Walde war nicht weit, und doch brauchten die Wanderer lange dazu, denn die Kinder erlebten auf der kurzen Strecke so viel, daß der Vater meinte, am Ende des Tages würde es sein, als hätten sie eine Weltumseglung hinter sich. Und dann tat sich ihnen der Wald auf. Es war der karge Wald der sandigen Ebene. Kiefern, dazwischen mal ein heller Birkenstreif, die Blumen blühten spärlich, und ein kleiner dunkler See im Walde war seine größte Schönheit. Aber Marie und Ferdel waren nicht verwöhnt, die waren noch nie in einem richtigen Wald gewesen, und sie betraten den bescheidenen [Seite 23]Forst, als läge in ihm das goldene Wunderschloß der Märchenkönigin.
Ferdels Mund stand nicht still. Das ewige „Warum“ nach dem Ursprung aller Dinge, das dem Erwachsenen oft noch an der Grenze des Lebens auf den Lippen brennt, wandelte sich bei ihm zu einem „Weilrum“.
„Weilrum Mutti sind die Bäume so groß? Vati, weilrum heißt es Wald?“ Und weilrum, weilrum immerzu.
Marie ging still versonnen einher, sah zu den Bäumen empor und ungeheuer erschienen ihr die dünnstämmigen Kiefern, deren Kronen im goldenen Licht des Sommertages standen. Scheu, beklommen fragte sie endlich leise: „Mutti, wer hat die Bäume gemacht?“
„Der liebe Gott!“
Da schlossen sich sacht die kleinen Hände zusammen und tief aus dankerfülltem Herzlein heraus klang es. „Lieber Gott, dankeschön, daß du die feinen Bäume gemacht hast.“ Und ehe noch die Mutter nach dem Sinn des Dankes, der dem Schatten galt nach dem sonnenheißen Zuweg, fragen konnte, kam schon wieder eine Frage: „Mutti, geht der liebe Gott oft im Walde spazieren?“
Der Antwort auf diese schwere Frage wurde Frau Marie enthoben, ihr Mann sagte mahnend: „Seid still, ganz still, dort kommen Rehe.“
Drei waren es, die schlank und zierlich daherkamen, ein paar dürre Zweige knackten, die Rehe schritten ganz langsam, doch plötzlich stutzten sie, sie hatten der Menschen Nähe gespürt, eine Sekunde nur, dann rasten sie davon und verschwanden im Walde.
Den Kindern war's wie ein Märchen. Marie hielt den Atem an, sie zitterte vor Erregung, Ferdel jedoch tat sein Mäulchen weit auf und schrie: „Dabeiben, Rehe dabeiben!“ Doch sein Stimmlein verhallte, die Rehe hatten kein Ohr dafür, und so sehr auch Ferdel eilte, er kam ihnen nicht nach.
Es wurde nun heller im Walde, ein paar Minuten noch und die Wanderer standen auf einer kleinen Lichtung, ein abgeholztes Stück, auf dem sich Buschwerk und Blumen angesiedelt hatten, hier summten wieder die Insekten und flatterten die Schmetterlinge.
[Seite 24]„Hier wollen wir rasten,“ sagte der Vater, „wir sitzen im Schatten und haben vor uns das Licht. Das ist gut!“
Sie fanden es alle gut, die Kinder, die Entdeckungsreisen auf die kleine Lichtung antraten, und die Mutter, die heiter die ruhsame Stille genoß. Fern aller Stadtlärm, in die Weite gerückt alle Alltagsmühe, alle kleinen und großen Sorgen, stille die Stunden und doch so voll Erleben. Immer wieder kamen die Kinder an, sie hatten eine unbekannte Blume gefunden, hatten einen höchst seltsamen schwarzen Vogel gesehen und wollten es nicht glauben, daß es eine Krähe war, sogar eine Blattwanze brachte Ferdel mit lautem Freuderufen an. Und dann fanden sie einen Ameisenhaufen, und der Vater erzählte ihnen von dem emsigen kleinen Volk, und Ferdel verlangte stürmisch Ameisen mitzunehmen, er träumte schon von einem Ameisenhaufen mitten in der Wohnstube. Er war überhaupt sehr dafür mitzunehmen, während Marie selbst die Blumen mit behutsamer Scheu pflückte.
Frau Marie hatte Mundvorrat eingepackt, sie brauchten darum kein Gasthaus aufzusuchen und so blieben sie auf dem gewählten Platz, blieben viele Stunden, die erschienen ihnen kurz und doch lang; als der Vater zum Aufbruch mahnte, riefen alle: „schon?“, und nachher sagte die Mutter doch: „Es war, als hätte ich eine weite Reise gemacht.“
„Jedenfalls müßte man ein Buch schreiben von alledem, was unsere Kinder heute gesehen haben“, sagte der Vater, als sie dem Bahnhof zuschritten und in die rote Glut des Abendhimmels sahen. Die vielerlei kleinen Stimmen, die am Tage so laut gesummt und getönt hatten, schwiegen nun, doch dafür zirpten die Grillen laut, und in einem Tümpel am Wege quakten die Frösche. Das waren die letzten Laute von draußen, die die Kinder hörten, und darum redete Ferdel zuletzt nur von den Fröschen, und Marie verlangte das Märlein vom Froschkönig zu hören. Doch sie schlief darüber ein. Kaum saßen sie im Abteil des Heimzuges, da fielen den Kindern die Augen zu. Sie waren müde von Luft und Sonne, von den vielerlei Ereignissen des Tages und ihre Gesichtlein sanken tief herab auf die welken Blumen in ihren Händen. Auch Frau Marie war müde, aber sie schlief nicht, sie träumte vom Walde draußen, und als die Großstadt wieder begann, die [Seite 25]Bahn wieder an den hohen Häusern mit den aufdringlichen Geschäftsanpreisungen daran vorbeifuhr, da sagte sie noch einmal: „Es ist mir, als hätte ich eine weite Reise gemacht, eine schöne Reise.“
Ihre Hand suchte die ihres Mannes, und der sagte nachdenklich: „Ich dachte an den Wald meiner Jugend, er war reicher, war schöner deutscher Hochwald, und doch habe ich ihn heute wiedergefunden im seligen Erleben unserer Kinder.“
Der Vater hatte am Fenster gestanden, hinausgesehen in den Garten, der wieder einmal seinen hellen Frühlingssang angestimmt hatte, und dabei gesagt: „Das ist heute wirklich ein Tag, an dem man es wachsen sieht.“
Dem vierjährigen Rudi klingt das Wort in den Ohren. Es wachsen sehen draußen, die Blumen alle aus der Erde emporschießen sehen, wie hübsch muß das sein: Man darf so etwas nicht versäumen. Er läuft eilig zu seiner nur ein Jahr älteren Schwester Gretel und ruft der zu: „Komm mit auf die Wiese!“
Gretel schüttelt den Kopf. Sie hat just keine Wiesenlust, sie bleibt lieber auf dem Hausbänkchen sitzen und sieht den Hühnern zu, die mit viel Gegackere sich mit ein paar Sperlingen um das Futter streiten. Unlustig frägt sie: „Was willst denn?“
„Draußen wachst es, man kann's heut' sehen!“
„I wo!“ Gretel lacht, sie fühlt sich sehr als ältere erfahrene Schwester dem kleinen Bruder gegenüber, und sie belehrt ihn herablassend: „Das kann man nicht sehen!“
„Doch, Vater hat es gesagt!“
Die Kleine horcht auf. Was Vater sagt, muß doch wahr sein, denn Vater ist Pfarrer und ungeheuer klug, zu dem kommen viele Leute sich Rat holen. Darum sieht sie auch auf, als der Bruder noch einmal lockt: „Komm mit!“
Sie laufen beide durch den Garten, bleiben ein paar Herzschläge lang am Erbsenbeet stehen; sollen sie hier das Wachsen ansehen? Doch Rudi ist mehr für die Wiese, er meint, [Seite 26]auf der müsse das heute am schnellsten wachsen, und darum schlüpfen beide durch ein Heckenloch, dahinter dehnt sich Wiesenland bis zum Walde hin. Dort, wo der dunkle Tannenwald als blaue Wand aufsteigt, ist noch Schatten, aber vorn liegt die Wiese im vollen Sonnenglanz.
Hier ist gut sein. Die Kinder kauern sich im Grase nieder, jedes sucht sich ein Fleckchen aus, auf das es ernst und andächtig niederschaut, meinend, nun müsse Blume auf Blume aus der Erde hervorschießen und die Gräslein müßten sich recken und dehnen; wenn eins dem Rudi gleich bis an die Nasenspitze geschossen wäre, es hätte ihn nimmer gewundert.
Eine Minute vergeht, noch eine.
„Gretel, siehst du was?“
„So schnell geht's nicht!“ Gretel hält ihren rechten Zeigefinger an einen Grashalm, schießt der nicht bald über das lebendige kleine Maß hinaus?
Insekten schwirren und summen, ein Schmetterling kommt flatternd angetanzt. Die Wiese läßt sich behaglich von der Sonne liebkosen, und jeder kleine Halm fühlt den warmen Kuß der gütigen Lichtmutter.
„Da, da wachst es!“ Rudi beugt sich aufgeregt vor. Doch was da zitternd zu wachsen scheint, ist eine Raupe, die langsam und satt an einem Grashalm entlang klettert und die nun eine Minute der Kinder Aufmerksamkeit fesselt.
Gretels Finger ist dabei tiefer in den weichen Wiesenboden eingedrungen und sie schreit plötzlich stolz: „Mein Gras ist gewachsen, da so viel!“
Rudi will das Maß nicht gelten lassen; aber er versucht es auch und sein Finger rutscht gleich ganz tief hinein. „Dummchen du!“ Gretel nimmt des Bruders Hand, gibt sorgsam dem Zeigefinger die Richtung und sagt: „Nun mußt du stillhalten.“
Ein Marienkäferlein denkt: hoho, was ist das für eine sonderbare Leiter, die muß ich erklettern, und flink kriecht es am Finger in die Höhe, es findet den Weg zur Handfläche, steigt weiter und weiter und Rudi sieht ihm zu, vergißt das Gras, warum dauert es auch so lange, bis es wächst? „Ich mach's so“, ruft er plötzlich von einem Gedanken erfaßt, er wirft sich lang hin, so macht es der Vater manchmal, wenn [Seite 27]er auf dem Waldboden allerlei beobachten will. „Da seh' ich's besser!“
Auch Gretel streckt sich aus, und so liegen sie beide bäuchlings im Sonnenschein, und um sie herum singt, summt und schwirrt es, ein unablässiges Tönen ist in der Luft, das winzigste Insekt stimmt ein in den frohen Lobgesang. Den Kindern fallen die Augen zu, sie schlafen nicht, bewahre, sie wären arg entrüstet, wollte jemand eine so leichtfertige Behauptung aufstellen.
Ein heller, etwas schriller Ton durchzittert die Luft — die Mittagsglocke!
Rudi dreht sich um, er blinzelt ein wenig, öffnet die Augen mehr und sieht gerade neben seiner kleinen Nase eine sehr große, dicke, gelbe Pusteblume.
Die war eben noch nicht da, er weiß es ganz genau. Einen Herzschlag lang sieht er sich noch das goldene Blumenwunder an, dann schreit er: „Gretel, Gretel ich hab 'ne Blume wachsen sehen.“
Und Gretel dehnt sich und blinzelt, Grashalme kitzeln sie an den Wangen, war denn das vorher auch so? Und dann sieht sie auch neben sich eine goldgelbe Pusteblume, noch eine, viele, viele und vorher hat sie die doch gar nicht gesehen. Die Pusteblumen sind gewachsen! „Rudi,“ ruft sie selig, „da, so viele Blumen sind gewachsen.“
Sie greift mit den Händchen nach den Blumen, bricht sie ab, sie springt auf, pflückt mehr ab und will auch die nehmen, die der Bruder noch immer verträumt anschaut. „Nein,“ schreit der entrüstet, „ich hab' sie doch wachsen seh'n!“
„Na ja, gerade darum!“
„Nein, Nein!“ Rudi hält beide Hände schützend über das kleine goldene Wunder, das darf ihm niemand anrühren, denn was sind alle Pusteblumen der Welt gegen die eine, an der sein Glaube hängt, sie wäre vor seinem Näslein gewachsen.
Gretel findet diese eine Blume nicht schöner als die anderen, und Pusteblumen sind ihrer Meinung nach dazu da, um Kränzlein daraus zu winden, mit denen man sich schmückt. Und als sie sich den goldgelben Kranz auf den Kopf setzt, sich auch eine Ringelkette dazu umhängt, sagt der Bruder glückselig: [Seite 28]„Sie ist ganz groß geworden, viel, viel größer als deine.“
Es wird ihm ordentlich schwer, sich von der schönen Blüte zu trennen, doch Gretel, die immer aus allerlei Zeichen weiß, wenn es Zeit zu irgendeiner Mahlzeit ist, sagt eilig: „Wir müssen heim.“
So wandern sie wieder durch das Heckenloch und den Garten dem Hause zu, Gretel stolz im goldenen Blumenschmuck, Rudi verträumt. Sie kommen wirklich gerade noch zum Mittagessen zurecht und auf die Frage nach ihrem Verbleib, erzählen sie, Gretel sehr eifrig, Rudi langsamer und nachdenklich.
Der Mutter drängt sich ein Lachen auf die Lippen, der Vater will sagen: „Unsinn!“ Doch da sehen sich beide an, und der Mutter Lachen wandelt sich zu einem stillen Lächeln, und der Vater nickt den Kindern zu. Er denkt zurück an die eigene Jugend. Damals. Er hat auch auf der Wiese gelegen, um das Gras wachsen zu sehen, und er hat daran geglaubt, bis sacht in ihm die Erkenntnis gewachsen ist und er vom Märchenglauben der Kindheit dazu gekommen ist, nachdenklich im schönen Buch der Natur zu lesen. Und die Freude daran ist in ihm gewachsen.
Der goldene Kranz auf Gretels Haar glänzt, Rudis Händchen beschreiben einen weiten Kreis: „So groß war meine Pusteblume.“
Was sind alle Schätze der Welt gegen eine Pusteblume, die golden auf der Wiese gewachsen ist! Und Rudi hat sie wachsen sehen, wer zweifelt daran?
Leni wollte einen Brief an den lieben Gott schreiben.
Sie dachte ganz ernsthaft daran, obgleich das Schreiben eine beschwerliche Sache war. Man mußte sich da das Händchen führen lassen, sah krause schwarze Zeichen entstehen, die man nicht deuten konnte und meist verstanden die Erwachsenen gar nicht, wie wichtig solch ein Brief war; ja, sie sagten wohl ein bissel unwirsch: „Warte doch, bis du selbst schreiben kannst.“
So lange konnte Leni aber wirklich nicht warten. Ostern tat [Seite 29] sich ihr erst die Schule auf, und dazwischen lag noch Weihnachten und Mutters Geburtstag; also dauerte es noch ewig lange, ehe die Schule begann. Und Lenis Bitte eilte. Der Vater sollte doch endlich aus dem bösen Krieg heimkommen, bald zu Mutters Geburtstag. Am einfachsten wäre es ja gewesen, den Wunsch im Abendgebet vorzubringen, aber da hörte Mutter zu und manchmal auch die Tanten, die im gleichen Hause wohnten. Sehr liebte Leni dies Zuhören eigentlich nicht. Sie schämte sich immer etwas, denn sie hatte es wohl gemerkt, die Tanten lachten manchmal heimlich, wenn sie dem lieben Gott recht viel zu sagen hatte, und wenn sie dem Schutze des gütigen Vaters selbst den Kohlenmann empfahl, auch die Gemüsefrau Müller und alle Leute, die nur den Fuß über die Schwelle der Wohnung setzten. Freilich, wenn sich dann die Tanten zunickten und Tante Nora sagte: „Süß!“ und Tante Traute antwortete: „Goldig!“, das gefiel ihr dann.
Sie hörte es überhaupt gern, wenn die Erwachsenen von ihr sprachen. Manchmal taten die das in ihrer Gegenwart und meinten, sie höre es nicht. Aber Leni hatte Mäusleinohren. Sie paßte gut auf, sie hörte dabei freilich auch andere Dinge und sie fand es manchmal etwas sonderbar, wie die Erwachsenen miteinander redeten; gar nicht zu verstehen war da allerlei. Auf den Gedanken, einen Brief an den lieben Gott zu schreiben, hatte sie auch ein Gespräch der Tanten gebracht, die hatten sich so einen Brief aus der Zeitung vorgelesen und herzhaft darüber gelacht, hatten den Brief entzückend gefunden und gesagt: so etwas brächte unsere Leni auch fertig.
Warum der liebe Gott seine Briefe in die Zeitung tat, verstand Leni freilich nicht, aber der Gedanke, an den lieben Gott zu schreiben, beschäftigte sie seitdem sehr. Der Gedanke lief freilich wieder fort, denn andere kamen und huschten durch das kleine Hirnchen, aber auf einmal mußte Leni doch wieder an den Brief denken und da ging sie und trug ihre Sorgen zu Martha in die Küche. Und Martha sagte: „Das tu nur!“ Sie versprach auch ihre Schreibhilfe und allertiefstes Stillschweigen, sie spendete sogar einen himmelblauen Bogen, „ein Brief an den lieben Gott muß schon ein Ansehen haben“, sagte sie.
Mit Marthas Unterstützung schrieb dann Leni am Nachmittag, [Seite 30]an dem die Mutter ausgegangen war, ihren Brief. Er wurde „fein“, darüber waren sich die Schreiberinnen einig, obgleich Leni ihn nicht lesen konnte und Martha der guten Frau Orthographie manches Schnippchen geschlagen hatte. Über den rechten Weg der Beförderung gingen die Ansichten freilich auseinander. Martha schlug das Fensterbrett vor, Leni hatte mehr Zutrauen zum Briefkasten, der Briefträger fand doch alle Leute, warum sollte er da nicht des ewigen Vaters lichte Wohnung finden! „An den lieben Gott im Himmel“, wie leicht war das! — Der Briefkasten siegte.
Martha sagte: „Heute abend werfe ich den Brief ein, da merkt es niemand.“
„Niemand, auch die Mutter nicht!“
Der Gedanke an das große Geheimnis bedrückte Leni ein wenig. Abends, als sie betete, hätte es die Mutter beinahe erfahren, doch Leni hielt es gerade noch fest, nur eine Frage hüpfte ihr eilig über die Lippen: „Antwortet der liebe Gott, wenn er einen Brief kriegt?“
„Nein, Kind!“ Die Mutter lachte. „Da hätte er viel zu tun, aber er sieht alles und hört alles.“
Die Kleine atmete tief. „Vielleicht ist Sonntag schon der Krieg aus“, sagte sie froh, und die Mutter sah ein holdes Scheinen unendlichen Vertrauens auf dem Gesichtchen erblühen, und sie lächelte wissend, denn ein blaues Brieflein knisterte in ihrer Tasche.
Der nächste Morgen brachte so warmen Sonnenschein, daß der Spätherbsttag sommerlichen Glanz erhielt. Leni konnte im Garten spielen und darüber vergaß sie den Brief. Am Nachmittag, als sie über ihren Bilderbüchern hockte und darin dem Christkind begegnete, dachte sie wieder daran. Im Nebenzimmer saßen der Mutter Freundinnen, und auf einmal dämpften die Frauen ihre Stimmen, geheimnisvoll klang es, und Leni vergaß ihren Brief und rutschte mit ihrem Schemelchen der Tür näher und näher, denn sie meinte ihren Namen zu hören.
„Lies ihn noch einmal,“ bat drinnen Tante Nora, „er ist zu niedlich.“
„Sie hört es vielleicht.“
„Ach nein, sie hat ihre Bilderbücher vor.“
[Seite 31]Die Mutter las. Leni erschrak tief.
Wie seltsam das war! Mutter las alles vor, was sie gestern an den lieben Gott geschrieben hatte, und als sie fertig war, riefen die Tanten „Reizend!“ und „Süß“ und Tante Traude fragte: „Hat sie dir den Brief gegeben?“
„Bewahre, er soll ein Geheimnis sein. Martha brachte ihn mir, sie sollte ihn in den Briefkasten stecken.“
„O das kleine dumme Dummchen!“
„Entzückend, dies Vertrauen!“
„Gut, daß nicht alle Leute den lieben Gott so viel bitten wie unsere Leni, der Arme, er hätte sonst zu viel zu tun.“
Die Frauen lachten. An das Ohr der kleinen Lauscherin drangen seltsame Worte, sie verstand sie nicht und meinte doch, der liebe Gott müßte bitterböse werden, weil man so von ihm sprach. Konnte denn der liebe Gott nicht alles, wußte er nicht alles?
Wieder umtönte das Lachen der Frauen Leni. Die schrie plötzlich laut auf, und nebenan verstummte jäh das Lachen. Die Mutter und die Tanten kamen erschreckt in das Zimmer, und Leni sah — ihren himmelblauen Brief in der Mutter Hand.
„Sie hat gehorcht!“
Die Mutter sah verwirrt auf ihr Kind, sie wollte es in die Arme nehmen, doch Leni wehrte sich störrisch, sie rutschte von ihrem Schemelchen herab und rannte hinaus, lief in die Küche und stand plötzlich vor Wut schreiend vor Martha.
Die begriff nicht den Zorn ihres Lieblings, wußte nicht, daß sie des Kindes Vertrauen getäuscht hatte, und sie wollte trösten mit täppischen Liebkosungen wie sonst, doch Leni wehrte sich ungestüm, sie biß und kratzte, sie ließ sich auch nicht von der Mutter in die Arme nehmen, und als auch die Tanten in die Küche kamen, streckte sie ihnen ihr rotes Zünglein entgegen.
An diesem Nachmittag war Leni kein süßes, reizendes Kind. Sie blieb ungebärdig, und als sie in ihrem Bettchen lag und die Mutter ein wenig zögernd mahnte: „Willst du nicht beten!“, da huschelte sich Leni flink in die Kissen und knurrte: „Ich mag nicht!“
„Du bist ungezogen,“ sagte die Mutter streng, „der liebe Gott wird ganz böse auf dich sein!“ Sie ging hinaus und wußte nicht, wie tief ihres Kindes Sehnsucht nach ihr [Seite 32]klagte. Sie wußte nichts von allem, was heute in dem kleinen Herzen zerbrochen war, welch köstliches feines Blümlein zerknickt am Boden lag. Leni war ungezogen gewesen, das kam vor, morgen würde sie wieder brav sein, denn ein süßes Ding war sie doch.
Und Leni weinte sich in den Schlaf, tat dann eine Reise ins bunte Traumland und wachte am Morgen hungrig und spiellustig auf.
Es war wie sonst. Doch am Abend wollte Leni wieder nicht beten, und als die Mutter ärgerlich wurde und das Gebet forderte, schlabberte sie ganz schnell ihr Verslein her vom kleinen reinen Herzen, besondere Wünsche, besondere Sorgen vertraute sie dem lieben Gott nicht mehr an.
Tat es nie mehr. Scheue Scham verschloß ihr den Mund.
Die Mutter hatte ein Märlein erzählt, eine feine liebe Geschichte von einem Englein, das eine Erdenreise machen wollte. Heimlich hat es dem alten Petrus, wie der gerade etwas auf der blühenden Himmelswiese spazieren ging, von seinem Schlüsselbund das kleinste, goldene Schlüsselein für die allerkleinste Himmelstüre genommen, hat die aufgeschlossen und ist abwärts geflogen, der Erde zu, nach der es Sehnsucht hatte — vielleicht, weil es ihm im lichten, hohen Himmel zu friedestill war. Wer weiß es denn.
„Tun Engel denn so etwas?“ hat Heinerle, der Jüngste, gefragt.
„Ja, manchmal doch. Manchmal, aber nur sehr sehr selten, sind auch kleine Engel ein linschen unnütz. Freilich, der ausgerissene kleine Engel hat seine Strafe auch gleich bekommen, sein Schlüssel ist zu Boden gefallen, ist in Millionen Splitterchen zerschellt, von denen war jedes ein Samenkorn, daraus ist dann eine feine, zarte, goldgelbe Blume erblüht. Himmelsschlüssel heißen sie die Menschen.“
„Kann man damit den Himmel aufschließen?“
„Schon. Wenn ein Mensch hier unten stirbt und ein Engel wird, der kann sich dann oben selbst die Himmelstüre aufschließen, [Seite 33]und Sankt Petrus lacht dann wohl und sagt: „Eia, du bist aber vorsichtig, lieber neuer Engel du, hast gleich den Schlüssel mitgebracht.““
„Hat der kleine Engel auch so wieder den Himmel aufgeschlossen?“
„Nein, nein, die Blumen erblühten erst im Frühling, und als der Engel auf die Erde kam, war es Winter. Kalter, eisiger Winter. Es ist ihm übel ergangen, dem kleinen Vorwitz. In sternenlosen Nächten, an bitterkalten Tagen ist er lange, lange auf der Erde umhergeirrt, bis er endlich dem Engel des Todes begegnete, der sich seiner erbarmte und ihn hinauf in den lichten, warmen Himmel trug. Denn zurückfliegen konnte der kleine Engel nicht mehr, seine Flügel waren zerbrochen, und traurig war er, wie es nie ein Engel im Himmel ist.“
„Hat der liebe Gott sehr gezankt?“
„Nein, nein, so sehr nicht! Er hat ein bißchen mit dem Finger gedroht und dann hat er dem kleinen Ausreißer über die Flügel gestrichen, da wurden die wieder heil. In seiner großen Güte hat der liebe Gott wohl gedacht, du kleiner Vorwitz du, du hast Strafe genug gehabt.“
Dem Heinerle war die Geschichte tief ins Herz gesunken, so wie ein Regentropfen in eine Blüte fällt. Er läuft auf die Wiese, wo die Himmelsschlüssel blühen, goldgelb und heiter, so recht frühlingsfroh.
Blau ist der Himmel, klar die Luft, eine Lerche wirbelt singend zur hellen Höhe empor, doch Heinerle hört nichts und sieht nichts, er pflückt Blumen, viele, viele und denkt an das Märlein, das ihm Wahrheit dünkt. Die gelben Blumen schließen den Himmel auf!
Wem denn?
Wer ein Engel werden will, muß sterben. Heinerle steht und denkt an das Sterben und leise Schauer durchzittern sein Herzlein.
Wer stirbt denn aber? Der alte Tischler Seifert vielleicht, gestern noch hatte es Heinerle sagen hören, er würde bald sterben.
Soll er dem die Blumen bringen? Damit er es leicht hat, in den Himmel zukommen und Sankt Petrus auch sagt: „Eia, du bist aber vorsichtig, lieber neuer Engel du!“
[Seite 34]Ich bring' ihm die Blumen! Husch, ist der Gedanke da, und schon rennt Heinerle ins Dorf zurück. Er hat es sehr eilig, will nicht zu spät kommen mit seinen goldenen Wunderschlüsseln.
Seiferts Johann ist alt und arm, und alle Not des Lebens ist über ihm gewesen, und er ist durch viele dunkle Täler geschritten. Davon weiß Heinerle nichts, er weiß noch nicht, was es heißt, alt, arm und einsam sein. Für ihn hat der alte Mann in Lust und Freude gelebt, denn dem muß es doch gut gehen, der eine Katze und vier Vögel hat, die sich mitsammen vertragen. So etwas Wunderbares.
Ob er wohl die Katze und die Vögel mit in den Himmel nimmt? — Wer weiß das alles!
Er will den Alten fragen, aber als er eintritt in die niedrige, dumpfe Stube, erhält er keine Antwort mehr. Der Tischler Johann Seifert steht schon auf der Schwelle des großen, unbekannten Landes, ein paar Atemzüge noch und er ist drüben. Alles Klingen und Lärmen der Erdenwelt ist schon für ihn verstummt, und Fragen sind ihm nicht mehr Fragen.
Heinerle erschrickt vor dem Alten. Wie sonderbar der aussieht! Er wirft hastig die Blumen auf das schmutzige, zerwühlte Lager und rennt wieder hinaus, von der Furcht gejagt. Doch an der Türe bleibt er stehen, dreht sich noch einmal um und ruft mit angstgedämpfter Stimme: „Vergiß die Himmelsschlüssel nicht, da — damit du gleich rein kannst.“
Die Türe klappt. Heinerle steht draußen im Sonnenschein.
Niemand erfährt etwas von seinem Gang. Der Tag wird müde und läßt sich von der Nacht in die Arme nehmen. Ein neuer steigt herauf, und an ihm hört Heinerle sagen: Der alte Seifert wäre tot.
Ein Nachbar redet es im Flur des Hauses, er lacht dazu, und Frau Mädler, die Wirtschafterin, sagt: „Na, schade ist's nicht um den alten Lump. Einer weniger von der Sorte, das ist gut.“
„Er ist jetzt im Himmel“, sagt Heinerle auf einmal ernsthaft.
„Der und im Himmel!“ Der Nachbar lacht grob. „Der hat da drin nichts zu suchen, den lassen sie gar nicht ein.“
„Doch — er hat ja einen Schlüssel!“ Heinerle hätte gern erzählt, wie der alte Seifert in den Himmel gekommen ist, aber [Seite 35]vor dem lauten ungläubigen Lachen der andern läuft er davon. Er flüchtet zur Mutter und vertraut der sein großes Geheimnis an. Und die Mutter glaubt auch, daß sich Seiferts Johann nun den Himmel aufgeschlossen hat, sie zweifelt nicht, sie lächelt nicht, sie hält ihren kleinen Jungen fest im Arm, und ihr Blick taucht tief in den seinen.
„Ist er jetzt — schon oben?“ Heinerle hält den Atem an, so sehr erregt ihn selbst die Frage.
„Gewiß, jetzt ist er schon beim lieben Gott.“
Heinerle lächelt glückselig. Er träumt dem Engel nach, der zum Himmel emporgeflogen ist und der hier auf Erden der alte Tischler Johann Seifert war, von dem die Leute reden, er sei ein Lump gewesen.
Die Mutter sinnt ernst der Zukunft entgegen. Wird ihrem Kind auch einmal das goldene Schlüsselein zum Himmel des Glaubens in tausend Splitter zerschellen, wird er sich auch die lichten Flügel seiner reinen kleinen Seele zerbrechen? Nein, nein, ruft es in ihr, ich will wachsam sein immerzu und ihm selbst eine Türe der Erkenntnis nach der anderen öffnen, sacht und vorsichtig, damit seine Seele nicht Schaden leide.
Ein schweres Werk. Wird es gelingen? Wer weiß es denn?
Anmerkungen zur Transkription:
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