Von unsern Wünschen zu ihrer Erfüllung führt eine Brücke, die Brücke der Schmerzen. Ihre Bogen schnellt sie über den ewigen Fluß des Geschehens und ihre Pfeiler wurzeln in den abgründigen Tiefen des Flusses. Die Menschen wandern über die Brücke mit dunkeln, kummervollen Augen, sie ächzen und schwanken unter der Last der Erfüllung. Sie tragen die Ernte des Lebens. Und bei den Pfeilern sitzen Kinder mit hellen Gesichtern und alte Männer mit grauen Bärten und hohen Stirnen. Sie werfen kleine Steine und Bücher in die Fluten und beraten sich, wie man den Fluß wohl dämmen könnte. Von Zeit zu Zeit halten sie ein in ihrem Werfen und schauen mit hoffnungslosen großen Augen dem Lauf der Wellen nach, bis dahin, wo der Fluß sich weit draußen in den Himmel ergießt. Dann seufzen sie und werfen von neuem kleine Steine und Bücher in die Fluten.
Ein Mensch tritt auf die Brücke. Er ist in weiße Gewänder gekleidet und sein goldbraunes Haar leuchtet glutvoll auf in der Sonne. Seine Augen sind tief und voll von Wundern wie das letzte Gericht. Er schreitet langsam auf die Kinder und Greise zu. Sein Mund umspielt das Lächeln eines Gottes.
„Was treibt ihr da?“ redet er die Alten an.
„Herr, wir wollen den Fluß des Geschehens dämmen,“ antwortete einer.
„Wozu das?“
„Er soll sich stauen und die Brücke der Schmerzen stürzen und begraben,“ entgegnete ein anderer.
„Und wißt ihr auch wie tief dieser Fluß ist?“
„Nein Herr, unser Blei reicht nicht auf den Grund, aber es steht geschrieben: seine Tiefe ist nicht unermeßlich.“
„So will ich es euch sagen: seine seichteste Stelle ist tiefer als das Geheimnis der Nacht.“
Da murrten die Alten und die Kinder und sagten: „Herr, du willst uns mutlos und verzagt machen; seit tausend Jahren sitzen wir hier bei der Brücke der Schmerzen und wollen den Fluß dämmen für einen Augenblick, daß er die Brücke zerreiße und vernichte. Du aber kommst! und spottest unserer Arbeit.“
Der Mann mit den Augen des jüngsten Tages streckte seine Hand gegen die Vorüberschwankenden aus. „Und warum helfet ihr nicht diesen, ihre Schmerzen zu tragen, warum nehmet ihr nicht die Hälfte ihrer Lasten auf Eure Schultern?“
„Herr, wir sorgen seit tausend Jahren für das kommende Geschlecht . . . wenn es heraufkommt soll es keine Schmerzen mehr geben in der Welt. Und die späteren Geschlechter werden unsere Namen preisen.“
Des Fremdlings Augen wurden dunkel in unsäglichem Kummer. Er deutet auf die gewaltigen, wimmelnden Massen, die von Osten her gegen die Brücke heraufzogen. „Sie alle werden in Schmerzen und Qualen ihr Leben wandeln müssen, und — — er wandte sich wieder an die Alten — ihr und alle, die je einer Mutter Schoß umschlossen . . . helfet ihnen ihre Lasten tragen, so wird auch euch geholfen werden.“
Da ergrimmten die Alten, daß dieser Mensch ihrer spottete. Und sie warfen ihn über die Brücke in den ewigen Fluß des Geschehens. „So sollst du helfen den Fluß zu füllen und die Schmerzen der Menschen tragen,“ riefen sie ihm höhnend nach.
Aber der Mann verschwand nicht in den Fluten. Seine weißen Kleider blähten sich wie Schwanenflügel und trugen ihn auf den dunkeln Wellen.
Die Menschen, die über die Brücke wandelten, sahen ihm nach, wie er langsam den Fluß hinuntertrieb, mit aufgehobenen Händen und leuchtenden Haaren. Und einige küßten sich und verteilten gleichmäßig ihre Lasten.
Die Alten und die Kinder aber sitzen immer noch bei den Pfeilern und werfen Steine und Bücher in die Flut.
Sie wollen den Fluß des Geschehens aufhalten . . . .
Quelle: Die Aktion, 1911, Sp. 341-342.