In Dingsda

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Title: In Dingsda

Author: Johannes Schlaf

Release Date: May 12, 2012 [EBook #39678]

Language: German

Character set encoding: UTF-8

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK IN DINGSDA ***

Produced by Norbert H. Langkau, Jens Pönisch, and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net.

Transcriber’s Note

Table of Contents was added.

French and Latin phrases are in italics (underscores in text version).

Gesperrt phrases are marked with underscores in the text version.

Spelling, hyphenation, punctuation, and accented word inconsistencies were silently corrected.

In Dingsda
von
Johannes Schlaf
Im Insel-Verlag zu Leipzig

Inhalt

Vorwort

Dies ist die dritte Auflage, die mein »Dingsda«-Büchlein erlebt. Sie mag bekunden, daß es im Laufe der Jahre seine Wirkung getan hat und daß es noch immer munter weiterlebt. Im stillen hat es gewirkt. Aber das entspricht seiner Art. Doch eindringlich. Schon oft wurde darauf aufmerksam gemacht, wie man an mehr als einer Stelle auch den Spuren seiner Einwirkung auf die Entwicklung unserer neuesten deutschen Novellistik seit zwanzig Jahren begegnen kann.

Doch lieber als das ist mir der Umstand, daß es nach wie vor seine unmittelbar lebendige Wirkung auf den Leser übt. Daß es mit der Sonne, dem freundlichen Stilleben und Einleben in die schlichten Freuden, mit denen die Natur gütig unsere Herzen heilt, auch anderen wohltut; daß es im Laufe der Jahre immer neue Freunde gewonnen hat; abseits von all den anderen, lauteren, aber oft auch wohl vergänglicheren Erfolgen unseres literarischen Lebens … Ich habe dieser neuen Auflage nichts hinzugetan und nichts genommen. Das Büchlein hatte damals eine ganz bestimmte Notwendigkeit seines Entstehens. Es ist ein aus sich selbst gewordenes Stück Leben und Seele. Das erfordert auch die Pietät seines »Schöpfers«. Da darf nichts verändert und beschnitten werden. Das ist in solchen Fällen nichts als Verschlimmbesserung …

Möge diese schöne Bücherei meine stille »Dingsda«-Welt von damals noch recht vielen Freunden ans Herz tragen!…

Weimar, Sommer 1912.
 
Johannes Schlaf.

Abseits

Zwischen vier und fünf Uhr bummelte ich, meine Zigarre zwischen die Zähne geklemmt, fröstelnd in der Morgenkühle die Linden entlang. Eine Droschke rumpelte vorbei über den Fahrdamm. Ein paar Nachtschwärmer drückten sich mit vorgebeugten Schultern und hochgeklapptem Rockkragen an mir vorüber, und die elektrischen Monde warfen mir ihr weißes Glühlicht ins Gesicht.

Ich summte so vor mir hin. Eine schöne alte Melodie.

»Die Sonn erwacht;
Mit ihrer Pracht
Erfüllt sie die Berge, das Tal!
O Morgenluft!
O Waldesduft!
O güldener Sonnenstrahl!«

Und so weiter. Mit Grazie in infinitum. Quer durch den Tiergarten.

An der Potsdamer Brücke blieb ich stehen.

Die Laternen schoben eine Reihe goldener, strahlender Balken in den Kanal hinunter. Sie bauten einen blinkenden Märchenpalast in das träge, schwarze Wasser hinein. Goldene Lichtspäne schaukelten weit über die Wasserfläche an den dunklen Kähnen hin, und es wehte ein scharfer, kühler Wind.

Fern das dumpfe, rastlose Rauschen des Verkehrs. Immer in demselben gleichmäßigen Tonfall. Berlin kennt keinen Schlummer …

… Hm! Zum Beispiel! Die vielen Streiks jetzt! Und wenn nun hier das schöne, saubere Straßenpflaster aufgerissen würde und …

»O Morgenluft!
O Waldesduft!«

Und da überrieselte mich eine brennende Sehnsucht.

Diese Melodie! Seit ein paar Stunden konnte ich sie nicht loswerden. Und auf einmal kam es mir voll, hell und klar zum Bewußtsein: sie war das erste, unbewußte Regen eines unwiderstehlichen Wunsches.

Einmal fort von diesem verfluchten Schreibtisch, an den mich der verwünschte Trieb anschmiedet, dieses unheimlich komplizierte Leben hier überall um mich herum zu erfassen, festzuhalten und formend zu gestalten. Einmal fort aus diesem literarischen Getratsch, das einem die Ohren mit dummen Redensarten wundreibt. Einmal fort aus diesem verzweifelt wirren Getriebe, das einem Tag und Nacht keine Ruhe läßt, einen zum Schreibtisch zieht, vom Schreibtisch treibt; das so rätselhaft unsinnig ist, einen mit bunten Ahnungen betrunken macht und in quälende Zweifel reißt. Fort aus diesem endlosen, dummen Wechsel von Halten und Verlieren …

»O Morgenluft!
O …«

Bon! Abgemacht! – Ich will mich ein paar Wochen lang »einer geregelten Lebensweise befleißigen«, Philister sein unter Philistern, eine ländliche Pfeife rauchen, will mich abends mit den Hühnern zu Bett legen und morgens mit der Sonne aufstehen, über die grünen Hügel laufen, durch die taunassen Felder; will im Grase liegen, in den blauen Himmel starren und die Sonne mir auf den Pelz scheinen lassen; will vegetieren wie die roten Feldnelken und nichts denken; nichts, nichts denken …

Ich werfe die Zigarre weg und schlage den Rockkragen in die Höhe, weil mich mit einem Male der Gedanke ängstigt, ich könnte mich erkälten. – Die Hände in den Überrock und nach Hause. Und morgen: fort, fort!…

»O Morgenluft!
O Waldesduft!
O güldener Sonnenstrahl!« …

――――

Nun ja! Alles ganz schön! Als mir aber der Bart einen Zoll lang aus dem Kinn geschossen war, weil es dem Ortsbarbier beliebte, zwar nicht zu streiken – in diesem empörenden Neste wurde nur konservativ gewählt –, aber am Delirium tremens zu leiden, und als ich an ein paar sternlosen Abenden nach einem Besuch bei dem Herrn Pastor, sonst einem liebenswürdigen alten Herrn, beinahe auf dem hochwohllöblichen Stadtpflaster ein paar Beinbrüche davongetragen hätte, da war mir die Sache über, gründlichst über …

Der Mensch muß ja nun heutzutage einmal Abwechslung haben …

Also weiter, weiter …

Zunächst aber beschloß ich, eine Sekundärbahn zu benutzen und meinem Heimatsorte, der in der Nähe lag, einen Besuch abzustatten.

Das war eine halbwegs sentimentale Anwandlung. Aber, lieber Gott! so ein Stückener fünfzehn Jahre mochte es her sein, daß ich das Nest nicht gesehen hatte. –

Am Vormittag kam ich an. Der Zug – halb Güter-, halb Personenzug – entlud sich seiner sechs Passagiere; der Bahnhofsinspektor kroch aus seinem Bureau hervor, preßte sich die rote Mütze auf den Kopf und trug langsam seinen dicken Bauch am Zuge entlang. Ein paar italienische Hühner, die vor dem kleinen, neuen Backsteingebäude umherpickten, stoben gackernd auseinander. Die beiden Schaffner traten zusammen und staunten meinen Hut und Überrock an, der ihnen vielleicht außergewöhnlich neumodisch vorkam. –

Kaum hab ich ein paar Schritte getan, da regt sich mein Lokalpatriotismus. Nun haben wir hier auch eine Bahn!…

Aber ein Wetter? Köstlich!

Da liegt das Nest. Die roten Dächer im Gartengrün den Berghang hinauf übereinander aufgestapelt, übereinander hinweglugend. Vögel drüber in der blauen, goldigen Luft. Die drei Kirchtürme, die hohen grauen Schloßtürme vom höchsten Gipfel herab und die kerzengeraden Rauchsäulen in der blendenden Sonne.

Alles genau so wie früher. Nur nach dem Bahnhof zu ein paar Bauplätze und ein paar neue Häuser. Nur da, ganz neu: ein paar längliche rote Backsteingebäude und ein weißblendender »Palast«. Ein Großhändler. Ein wirklicher, richtiger Großhändler. Ich lese das Firmenschild: H. Windesheim & Co. Glückauf! –

Und nun trat ich durch das Tor, durch das »damals« noch der gelbe Postkutschkasten abends zwischen den blühenden Fliederbüschen auf der staubgrauen Chaussee gemütlich hereinhumpelte. Wie schön der Postkutscher immer geblasen hatte, wenn wir so neben der alten Karre hersprangen!…

Da sind die Gartenmauern mit dem übernickenden Grün, und da ist der »Goldene Bär« und der »Schwarze Adler«. Herrgott! Fünfzehn Jahre? Wirklich fünfzehn Jahre?

Ich … Hm! Kann man sich hier nicht irgendwo ein paar Zigarren kaufen?…

So! Freilich: ländlich, schändlich! Aber … Ja! Warum man nur heutzutage so über den Tabak räsoniert?…

So! – Der schöne blaue Rauch! Und nun um Gottes willen nicht sentimental werden! Denn »das hat gar keinen Zweck«! –

Ich stolpere, mit schweifenden Blicken, rauchend über das bucklige Pflaster mitten über den Fahrweg. Immer weiter und weiter.

Wenn mir jetzt ein alter Freund, ein Jugendbekannter, ein ehemaliger Schulkamerad, nun biederer Schuster, Zimmermeister oder Schlosser, begegnete und mich fragte, was ich für ein »Metier ergriffen« hätte? Das Herz klopft mir ein wenig.

Hm! Peinlicher Gedanke! Wie sollte ich mich ihm, unbeschadet meiner Reputation, verständlich machen?

Nein, ich will ganz allein so ein Stündchen, sozusagen inkognito, hier umherbummeln, ganz mutterseelenallein, mir still alles ansehen und mich dann wieder fortschleichen, hinaus zum Bahnhof.

Ich lese die Firmenschilder. Ja, nun merke ich doch: die Generationen haben sich ein wenig verschoben. Es kann aber auch sein, daß ich viele Namen vergessen habe.

Ein paar Leute gehen an mir vorüber. Ob Bekannte darunter sind? Niemand redet mich an, nur fremde Gesichter.

Wie lächerlich klein die Häuser geworden sind! Richtig eingeschrumpft sind sie.

Ach, die kleinen Straßen! Hinauf und hinunter! Die Schwalben schießen zwitschernd an den grauen, gelben, weißen und blauen Häuserchen hin. Ein paar gelbflaumige Gänseküchelchen piepen auf dem Pflaster umher. Dort drüben sehen die weiten grünen Felder und Gärten in die Stadt herein; über die Dächer hinweg die blaue, sonnendunstige Ferne.

Ach, und so still! Wie still hier die Welt geblieben ist! Nur fernher rattert langsam, schläfrig ein Lastwagen. Unten schwatzen ein paar Nachbarn über die Gasse hinüber. Ich höre ganz deutlich, was sie sprechen; Wort für Wort.

Weiter. –

Hier haben wir Ball gespielt. Hier hab ich einmal einen Silbergroschen gefunden und ihn sträflich in Johannisbrot und Kirschen vergeudet. Hier haben wir gewohnt, und hier; und hier wurde ich geboren … Ach, ach, ach – In dem kleinen Häuschen da noch der alte Buchbinderladen mit der schön waschblau gestrichenen Tür. Hier habe ich mir Neuruppiner Bilderbogen und Bleistifte gekauft. Ich trete ein. Eine alte Frau. Ich kenne sie sofort wieder. Ordentlich Herzklopfen bekomm ich. Ich mache einen kleinen Einkauf. Sie kennt mich nicht mehr. Natürlich … Nein, anreden will ich sie nicht. Still weiter! –

Und nun den alten Marktplatz hinauf. Da, der mittelalterliche Rathausturm mit der blauen Sonnenuhr. Dort oben wohnt noch der Türmer, der die entsetzliche Brandglocke läutete, wenn Feuer ausgebrochen war. Der Türmer, der abends immer so schöne Choräle über die stillen roten Dächer beruhigend in den schönen Feierabend hineinblies. Die Falken schrillten dazwischen, und die Schwalben schossen in langen, weiten Bogen um das spitze Schieferdach des Turmes, auf dem die Abendsonne lag.

Hier auf dem Markt versammelten sich in ihren grünen Röcken und steifen Tschakos mit den schwarzen Hahnfederbüschen – nur die Musik hatte rote – die Stadtschützen, wenn draußen vor der Stadt im Schützengarten hinter dem alten Schloß Mannschießen war. Das dauerte immer acht Tage. Jeden Tag zogen sie hinaus, und es war ein schönes, aufregendes Fest.

Wie spät? Was! In einem kleinen Stündchen hab ich das ganze Nest durchstreift und stehe vor dem anderen Tor. Da ist die alte Grabenbrücke. Durch Brennesseln und Scherben krochen wir Jungens hindurch in ein enges altes Gewölbe, das wir unter einem Garten aufgestöbert hatten. Hinten konnten sich gerade noch ein paar Sonnenstrahlen durch eine vergitterte Luke zwängen, die ein bläuliches Dämmerlicht gaben. Wir machten hier Rauchversuche mit Pfennigzigarren, lasen grellbunt illustrierte Räuber- und Indianergeschichten und unternahmen, von ihnen begeistert, allerlei Raubzüge in die Gärten und Schotenfelder der Umgegend. –

Und jetzt steh ich draußen auf den grünen Bergen. Die Wolfsmilch blüht wie früher zwischen den Kalksteinen, und die frische Luft weht immer noch über die Gräserchen und Hungerblümchen, die sich zwischen dem Geröll hervorzwängen. Immer noch taumeln die weißen und gelben Schmetterlinge drüberhin, und unten im Tale fließt der Bach zwischen Wiesen und Gärten und stürzt über die brausenden Mühlwehre.

Und dort auf der Anhöhe das Schloß. Der Marterturm, der alte, riesige graue Wachtturm, die hohe Schloßkirche. Die dicken, ungeheuren, unverwüstlichen Wallmauern, zwischen denen Ebereschen und Vogelbeeren hervorbrechen. Weit, weit dehnen sie sich in die Runde. Tief der alte Wallgraben mit Gras und Gebüsch, hier und da voll Geröll und Mauerstücken. Die tiefen schwarzen Schießscharten. Die Brücke und das Tor mit den Wappen und Kruzifixen und den steinernen, knienden Rittern davor.

Da oben zwischen dem alten Mauerwerk kletterten und spielten wir umher. Hab ich keinen Bekannten, keinen Freund mehr hier? Nein, nicht einen einzigen. Nur Erinnerungen und ein paar Gräber. –

Und wieder streif ich durch das Nest, bis ich zu einem Gäßchen komme. Zwischen alten Scheunen und halbzerfallenen, gelbbraunen Lehmhütten mit verwitterten Strohdächern schlendere ich hinauf, auf die Friedhofskapelle zu. Oben im Dachstuhl, frei in der Frühlingsluft, die alte grünspanige Friedhofsglocke, umspielt von Sonnenschein und Schmetterlingen im Gebälk. Und unten davor die uralte mächtige Linde, die mit ihrem zerklüfteten Wipfel das Ziegeldach überragt. –

Jetzt bin ich oben. Rechts und links zweigt sich die Scheunengasse weiter, und rechts und links von der Kapelle aus auf der anderen Seite, lang, weit die hohe Friedhofsmauer.

Ich stehe vor der Kapelle. Unter den vier Bogenfenstern an den beiden Seiten des breiten Tores – »Eingang zur Ruhe« haben sie darüber gemalt – stehen in altfränkischer Schrift Sprüche eingegraben. Ich suche sie zu entziffern.

»Hier seynd viel dausend neingeschiegt
und warden auf das Jüngste Gericht«

heißt der eine. –

Es ist so still und so einsam, so totenstill hier. Nur die Linde raunt ununterbrochen, und die Bienen summen leise dazwischen umher. Die sonnige Luft, so warm und schläfrig. Mücken und große stahlblaue Schmeißfliegen darin hin und her. Ein schimmlig modriger Geruch von dem Müll und Schutt an den Scheunen hin.

Ich starre auf die dunklen Fenster, und mir ist, wie damals immer, als müßte auf einmal von drinnen heraus aus der grabesstillen, feuchtkühlen Finsternis ein weißer Totenschädel durch die blinden, spinnwebüberzogenen Scheiben grinsen. Ich schreite auf das massive Eisengittertor zu. Wie oft, mit einer, war ich da hindurchgeschritten. – Es ist recht rostig geworden. Wie ich auf die Klinke drücke, kreischt ein Ton schrill und scharf in die sonnenheiße Mittagstille. Es ist zugeschlossen. Hier ist kein Eingang mehr. Ich gehe ein Stück die Mauer hin und finde ein neues, sauberes Tor neben einem neuen Leichenhause.

Ich schreite hindurch, und da merk ich erst, daß ich noch immer diese dumme Zigarre im Munde habe. Schnell laß ich sie hinter meinem Rücken zu Boden gleiten. Ein unerklärliches Gefühl von Scham, Angst und Sehnsucht überkommt mich, und zitternd, mit klopfendem Herzen tret ich ein. Mir ist, als sollt ich in den nächsten Augenblicken von jemand, von einer verhört werden, als sollt ich Rechenschaft ablegen über all die Jahre. –

Kein Mensch da. Ich bin ganz allein auf dem weiten, stillen, sonnigen Friedhof.

An dem halbversunkenen, regenverwaschenen Kapellentor schleich ich vorbei, unwillkürlich einen Augenblick auf den Zehen. Es ist hier schattig von Bäumen, und das alte Gemäuer haucht einen kühlen Moderduft aus.

Ich sehe rechts hinüber. Der alte Ahorn. Da ist das Erbbegräbnis. –

Nein! Ich kann noch nicht gleich so hingehen. Es würgt mir in der Kehle, und es ist, als ob mir die Augen feucht würden. Ein so dummes, sonderbares Gefühl. Die ganzen Jahre her: nein, wohl kaum ein einziges Mal ist mir so zumute gewesen. –

Ich gehe vorbei und schreite zwischen den Gräbern entlang die gelbsandigen, buchsbaumumfaßten Wege hin. Die Sonne blinkert auf der Goldschrift eines Marmorsteins. Überall Grabmäler. Hohe, niedrige, breite, schmale. Uralte, sargähnliche; grünübermoost. Eine Säule mit einem goldumfransten, steinernen Mantel drüber. Zwei verschlungene Hände. Zwei umgekehrte Fackeln, gekreuzt. Eine vergoldete Schlange, die sich in den Schwanz beißt. »Das Symbol der Ewigkeit«, hatte sie mich damals belehrt, als sie mich fast täglich mit hierher nahm und ich über die grünen Gräber weg nach den bunten Schmetterlingen haschte, den Admirals, den Trauermänteln, Totenköpfen und den gelben Buttervögeln … Dort eine wetterverwaschene Grabschrift. Naive Verse, die mit dem »Wiedersehen da drüben« trösten. Die alten, dunkelgrünen Lebensbäume und die hellgrünen Trauerweiden. Birken und Tannen. Goldlack und fliegendes Herz. Rosen und Nelken und Jelängerjelieber. Dazwischen verblichener, silbergrauer Flor um einen welken Kranz. Blumen und Grün, überall Blumen und Grün in der bienensummenden, duftschweren Mittagschwüle. –

Hier standen die alte Mauer und die Pflaumenbäume. Wie oft hatte ich in den Ästen gehockt, während sie da drüben auf der grüngestrichenen, sauberen Lattenbank unter dem Ahorn vor einem Grabe saß …

Und hier, an dieser Stelle, muß es gewesen sein, wo einmal eine kleine Schar Leute im Kreise um etwas herumstand. Es war ein Mann, lang und starr über ein Grab hin. In der Hand hatte er eine Pistole, und da, wo der Kopf sein mußte, hatten sie ihm eine blaue, verwaschene Schürze übergedeckt … Es fällt mir wieder ein. – Hier die Mauer, an der er dann eingescharrt wurde. Drüberhin kann man weit über die Felder und Hügel hinsehen. – Alles streicht an mir vorbei wie im Traume; und endlich steh ich unter dem Ahorn und sinke auf einer alten, regenverwaschenen Bank nieder. Sie ist wacklig und hier und da ausgebessert.

Vor mir drei efeuüberwucherte Gräber und ein schlichter Sandstein in Form einer aufgeklappten Bibel. Auf dem einen Blatte ein Bibelspruch, auf dem anderen ein Name und ein paar Daten. Und da drunter liegen ein paar morsche, braungraue, schmutzige Knochen und ein goldenes Ringelchen … Weiter nichts! –

Du?… Das bist du?…

Und doch – Was, »und doch«? – Ja, und doch ist etwas so lebendig in mir: all diese Erinnerungen.

Wie wunderlich das ist!

Alle die Erinnerungen von dem, damals, da unten zwischen den grünen Bäumen und roten Dächern; und von dem hier oben, wenn ich hier neben ihr saß in meinem blauen Kittelchen und an ihrem guten Gesicht hing. –

Eine kommt nach der anderen, und … allmählich werd ich so wunderbar müde von dem einschläfernden Bienengesumme ringsum und der warmen Sonne und dem Blumenduft und dem leisen, wispernden Rauschen über den ganzen Friedhof hin, so wunderbar müde …

Als ich nachher wieder draußen vor der Kapelle stand, fühlt ich mich sehr frisch und heiter. Ich summte sogar vor mich hin. So entschlossen war ich, beinahe übermütig. – Zwei Männer kamen mir entgegen, die Friedhofgasse herauf. Sie bogen um die Ecke und gingen an den Scheunen hinunter. Der eine kam mir so bekannt vor.

Donnerwetter! War das nicht der »lange Hirsch«?!

Jawohl! Aber er hatte recht gemischtes Haar bekommen. So die Couleur »Kümmel und Salz« … Er schlenkerte immer noch so mit den Armen, wenn er sprach.

Ich sah ihm nach und lachte.

Der einzige Bekannte, den ich wiedergetroffen hatte.

Er war ein Allerweltsmacher. Sozusagen der Spaßmacher der ganzen Stadt, mit bei allen dummen Streichen. Oft hatte er schönes Geld; aber dann vertrank er’s bis auf den letzten Pfennig, denn er konnte kein Geld leiden.

Einmal hatte ich ihn, hoch zu Pferde, in einer kakelbunten, phantastischen Uniform, einen dreieckigen Hut mit einem riesigen Federbüschel auf dem Kopfe, vor einer aufgeputzten Schar unter Trommel- und Pfeifengetön über den Markt zum Tore hinaus in die Berge reiten sehen. Es war irgend so ein Frühlingsspiel.

Der lange Hirsch hatte mich damals immer sehr interessiert.

――――

Gegen Abend saß ich wieder auf der Bahn. Vor mir, in der Richtung, in welcher der Zug fuhr, lag bereits das Abendrot am Horizont hin über den Feldern.

Ich saß ganz allein im Coupé. Ich lehnte mich zurück, drückte mich in die Ecke und kniff die Lippen und Augen zusammen, um die Empfindungen im Zaum zu halten, die in mir umherrumorten.

Ich sah ein anderes Abendrot. Breit, qualmig von Kohlendunst, sich in den blaßblauen Himmel verlierend, und hohe blaugraue Häusermassen schieben und zacken sich breit hinein, und ich höre ein Rauschen und Brausen, rastlos lockend wie Meeresbrandung. Weiße elektrische Monde seh ich, breite Straßen mit der Pracht zahlloser Schauläden, wie aus Licht gewebt, rollende Wagen und alle die Menschen, diese sonderbaren, unruhigen, hastenden, hoffenden Menschen …

Noch eine Weile will ich mich hier draußen im Lande herumtreiben, wo die Welt so still und langsam geht.

Wie lange aber wird es dauern und ich muß wieder hin. Ich muß, und sollt ich ersticken in diesem rastlosen, unbarmherzig vorwärtstreibenden Strudel. Ich muß. – Die Sehnsucht wird mich treiben. Die Sehnsucht? Wonach?…

Rendezvous

Ein wenig blasiert, ein wenig müde, kam ich hierher in dieses Nest.

Ein ganz gewöhnlicher Marktflecken, mehr Dorf als Stadt, einen Talkessel in die Höhe liegend, zwischen Gartengrün und Wald, bei einem See.

Ein ganz simples Nest. Aber ich begegne hier keinem Menschen, denn für regelrechte Touristen ist es doch ein wenig zu langweilig. Gott sei Dank! Ich meinerseits habe hier Luft, Licht, Sonne. Das ist für mich die Hauptsache. Und dann macht sich der sterntropfende Nachthimmel hier über diesen winzigen Baracken und bemoosten Scheunendächern ebenso schön wie anderswo.

Aber eins nötigt mir zuweilen ein resigniertes Lächeln ab. Ich genieße hier. Ja! Ich genieße alles. Bis zum Kleinsten. Einen Buchenwipfel, vom Sonnenlicht durchzittert; die lärmenden Spatzen auf der ungepflasterten Gasse; ein Huhn, das im Grase pickt; die Bienen, die in den Kirchenlinden summen; einen Schmetterling über die Blumen am Feldrain hin. Aber ich genieße das alles als Kontrast, als etwas Heiteres, Niedliches, Lichtes, Sonniges gegen einen gewaltigen, düsteren Hintergrund. Es ist noch so etwas wie Raffinement in meinem Genuß; er ist nicht unbefangen. Ich genieße wie einer, der einer Krankheit entronnen ist, wie ein Genesender. Nun immerhin: wie ein Genesender …

Ob das wohl jemals anders sein kann? Ich meine: ob man wohl noch einmal ganz, ohne Rest, im Leben, in einem großen Glück aufgehen kann? Besinnungslos? Fortgerissen? – Ganz Kraft, ganz Leben, ohne des »Gedankens Blässe«?

Wenn ich mich recht zurückbesinnen kann, so war das wohl früher einmal. Es ist aber nun schon recht lange her. Ein einziges großes Fest war damals das Leben und ließ kein Reflektieren aufkommen; kein Reflektieren …

Ach was!

Wie herrlich der Mond dort voll über den Bäumen steht!

Zudem: heute hab ich ja ein Rendezvous. Ein nächtliches Rendezvous …

――――

Wie spät? Gegen zehn. –

Es ist so hell, daß ich’s hier, beim offnen Fenster, erkennen kann.

So! – Und nun schnell das Jackett über, den Hut. Zum Fenster hinaus. Leise durch den schönen, hellen Garten. Über den Zaun, mit einem Satz.

Die Ungeduld! – Und sie wird mich doch noch ein Weilchen warten lassen. –

Aber wenn ich hier langsam so an den Gärten hinbummle?

Alles schon tot. Nirgends ein einziges rotes Licht zwischen den schwarzen Bäumen durch. Wie das Mondlicht drin flimmert! Wie sie sich in den weiten klaren Himmel zacken!

Fern, fern vom anderen Ende der Stadt kläfft hell ein Hund in die mondglimmende Nachtluft hinein. Rein und klar jeder Ton. In einem fort. Aus dem Inneren, vom Markt her, schläfrig, behaglich das Kuhhorn des Nachtwächters. Von Zeit zu Zeit, immer wieder. Jetzt hier, jetzt da. – Das Kirchglöckchen: zehn zitternde, silberhelle, friedliche Töne.

Die wunderfrische, schöne Nachtluft! – Ah! Man kann aufatmen, aufatmen, aufatmen! –

Dort, weit am Horizont, verschimmern die graugrünen, wogenden Felderflächen in den Mondglast. Die Sterne tropfen drüberhin. Unzählig! Unzählig! – Schwarz kraust sich die Waldung drüben den Berg hinan mit breiten, langen, mattsilbernen Lichtflecken drüber und silbernem Gekräusel. Und der Bach rauscht den Hang herunter; rätselhaft, wie raunend. Verschwimmende, ungewisse Töne. Wie Stimmengewirr, bänglich. – Unruhig bleibt man stehen und lauscht, als könnte man Worte hören, irgendwelche Worte. Aber aus den dichten Gärten schluchzt eine Nachtigall; weithin, lang, süß. Beruhigend, traulich. – Lächelndes Sinnen überkommt einen.

Husch, husch! – Eine Eule! Weich, samten über den mondlichten, staubigen Grasweg hin. Zwischen den Gärten kreischen Katzen. Von Zeit zu Zeit ein flinkes, zierliches, sich entfernendes Rascheln in den Zäunen hin, wie in Windungen. Blumen glimmen von den hellen Beeten her. Und hier stehen sie am Weg entlang; wild, in breiten bunten Flecken; regungslos …

Weiter! Immer hier an den Zäunen entlang.

Hier der Kirchberg.

Weiß, schneeweiß die Kalkwände. Und der Turm, mit den schmalen schwarzen Luken. Das Glockengebälk. Die Glocken und die Balken silbern beleuchtet nach dem Mond zu, auf der anderen Seite tiefschwarz. In dem einen Fenster fängt sich das Mondlicht. Es sieht aus, als wären drin, in dem kahlen stillen Kirchenraum, Lichter angezündet zu irgendeinem mystischen, gespenstigen Gottesdienst.

Ein steiler Hang mit Kalkgeröll. Drüber, einsäumend, Gras, und schwarze Lebensbäume und mondbeschienene Kreuze und weiße Leichensteine dazwischen. Alles so still, so still …

Ob jetzt wohl unten vor über den abschüssigen Weg hin das gespenstige Gespann kommt? Es ist ganz feurig. Der Wagen, der Lenker drauf, die wilden Rosse: alles von rotem, glühendem Feuer. So lodert, flammt es über den Weg hin und unten in den umbuschten, laichgrünen Entenpfuhl hinein. Da findet es seine Ruhe.

Nein! Es ist ja noch nicht zwölf.

Und dann ist das auch nur in ganz schwarzen Nächten, in denen man die Hand nicht vor den Augen sieht, und da auch nur für Sonntagskinder.

Aber wie sonderbar! Es war mir doch wirklich zwei Sekunden so, als könnte das möglich sein. Ich habe, ein wenig zitternd, sogar darauf gewartet.

Man verlernt in einem so kleinen, dummen Neste doch all seine kluge, gute, verständige Großstadtweisheit. Man fühlt und glaubt das Ungereimteste wie ein Kind.

Ach, was ist der Verstand! – Der Verstand? Ach was! Der Verstand ist ein spargellang aufgeschossener, engbrüstiger, bläßlicher Lümmel, einen Kneifer auf spitzer Nase, vor kalten grauen Augen, mit schmalen mokanten Lippen und dünnem, glattgescheiteltem Haar von einem charakterlosen Blond. Das ist der Verstand. – Ein Lokalprodukt von elektrischem Licht, guten Fahrverbindungen, breiten, klaren, sauberen Straßen, modisch geputzten Menschen, Fabrikschornsteinen, Palästen und Telephonen …

Da geht alles so leicht und gut und bequem zu. Das Leben wird klar, plan, systematisch wie ein Rechenexempel, und selbst Geschwindigkeit ist keine Hexerei. Bis einem gelegentlich ein mondbeschienener Kirchberg einen Strich durch die saubere, zierliche Rechnung macht und das Leben einen wieder einmal in einer stillen, nachdenklichen Stunde als Problem mit seinen geheimnistiefen, rätselhaft unergründlichen Nachtaugen ansieht …

――――

Weiter. Hier am Bache entlang, zwischen Gras, Huflattich und Ranunkeln hin. Hier ist es dunkel und schaurig. Ein feuchter, kühler Wasserdunst.

Von den Gärten hüben und drüben, dicht über die schiefen Lattenzäune weg, drängen sich buschige, schwarze Zweige über das Wasser hin. Sie berühren sich. Und das Mondlicht sickert und tropft hindurch und legt bebende Reflexe über das still plätschernde Wasser und die breiten Blätter auf den dicken, hohlen Stielen am Ufer hin.

Hier und da eine Lücke in den Zäunen. Ich sehe auf silbergrüne Wiesen. Schweifende, wallende, wogende Nebel drüber und Silbergeriesel.

Langsam, träge treibt da etwas mitten in der Strömung, zwischen weißen und gelben wankenden Wasserrosen hin. Etwas Längliches, Schwarzes, Rundes. Im Mondlicht Löcher drin, weiße Rippen: ein Kadaver. Ein toter Hund oder so etwas. – Da treibt es vorbei, weiter; entfernt sich mit den flinkernden, plätschernden Wellen hinein in den silbrigen Mondglast da hinten zwischen dem übergeneigten, sich mischenden Baumgrün.

――――

Angelangt!

Die Lattentür ist angelehnt, halb offen; wie verabredet.

Zwischen den Heckenbüschen durch seh ich in den Garten.

Mit klopfendem Herzen.

Nein, noch nichts.

Ob sie sich versteckt hat, mich neckt?

Hinein! Suchend zwischen dem Flieder, Schneeball, Goldregen, den Stachelbeerbüschen und Obstbäumen hin.

Lächelnd, immer auf der Hut, daß es nicht unversehens weiß hinter einem Busch, hinter einem Baum hervorhuscht, mich zu erschrecken.

Nein! Noch nicht da. Nirgends.

Natürlich!…

Hier auf die Bank, unter den Birnbaum.

Vom Kirchberg her ein feiner, verzitternder Klang.

Ein Viertel auf elf.

Das helle Licht über die Beete und Blumen, über die gelben Kieswege hin! Wie am Tage. Hinter dem Zaune der plätschernde Bach. Und die schöne, milde, linde Luft, und der weite, weite, lichttropfende Himmel …

Und …

Sst! War das …

Nein, die Katze! Dort an den Büschen hin.

Oben lugt das Haus über das Hofstaket empor, mit hellem Dach und weißen Gardinen zwischen dem Weinlaub vor. Kein Licht. Alles dunkel.

Nein, noch nichts …

Ich lehne mich gegen den Baumstamm und seh in den Himmel hinein, weit oben über den Bäumen und träumenden Dächern, immer nur in den Himmel hinein. Es ist, als ob all das unendliche Licht herniedersinkt, immer tiefer, immer näher, wie ein goldiger Regen.

Und in sehnendem Traume seh ich hinein in den goldigen schönen Trug; lange, lange … Wunderbar beruhigt und doch sehnend, nun meine Gedanken schweifen: Wer weiß, wohin?…

Da – alles fort! Ein jäher, minutenlanger Schreck. Aber es ist mir weich und warm über die Augen weg und ein linder, warmer Atem an den Schläfen hin und von hinten ein leises, silbernes Kichern …

»Du?!« – – –

Die Rezension

Eins verursacht mir zuweilen eine stille Freude: daß ich hier so gar nicht wählerisch bin.

Es ist unglaublich, was für ein höllisches Beizkraut von Tabak ich nebenan beim Krämer bekomme. Es würde mich in der Stadt zur Verzweiflung gebracht haben. Und wie schön schmeckt mir hier im Garten bei einem Buch oder draußen zwischen den Feldern meine Pfeife Paetum optimum supter solem …

Auf der Enveloppe ein Hahn auf einer Tabaksrolle, mit lang ausgespreizten, spießartigen Sonnenstrahlen herum, oder ein Reiter auf einem Pferd mit wahren Elefantenbeinen. Ein haarsträubend primitiver Holzschnitt … Ich weiß nicht, ob ihr die Sorte kennt. Kaum.

Das macht, ich lebe hier in so ganz anderen Dingen. Ich bin so gleichmäßig, so ruhig, so heiter-durchsättigt von all dem schönen, sonnigen, sommerlichen Leben hier.

Jetzt seh ich erst, wie ich in der letzten Zeit meine Kraft, meine Gedanken und mein Empfinden in allerlei nebensächlichen Kleinigkeiten verkrümelt hatte. In den heikelsten Raffinements hatt ich mich verloren. Ach Gott, wer weiß, was alles! Immer von einem zum anderen. Alle möglichen Japanereien.

Aber jetzt? Wie ausgetauscht bin ich!

――――

Ich stehe z. B. jeden Morgen um fünf Uhr auf. Sobald die Sonne über das Dach geklettert ist und zwischen der Lücke im Fenstervorhang hindurch kann und mir mit ihren goldenen Fingern übers Gesicht streichelt, muß ich heraus. Unten im Garten trink ich dann meinen Kaffee, unter einem weitüberhängenden Apfelbaum, zwischen Kohlbeeten, Stachelbeerbüschen, Stiefmütterchen, vis-a-vis einer rotaufgeblühten Nelke, die durch den ganzen Garten leuchtet, recht prätentiös über all die Rosen, die roten und gelben und weißen am Staket hin. Oben im Hofe piepsen die flaumigen Hühnerküchelchen um die Glucke herum, und der große weiße Hahn, Herr Meier, mit dem feuerroten, in der Sonne transparenten Kamm trompetet in den frischen Morgen hinein auf dem schönen, goldgelben und sammetbraunen Düngerhaufen. –

Dann streif ich durch die Felder.

Zuerst an einer Bergkante hin, unter mächtigen schattenden Buchen, Linden und Kastanien. Bläuliche Schattenflecke und goldiggelbe Lichtkringel zucken über den braunen Weg. Nach unten, den grünen Hang hinunter bis zur Chaussee, Kirschbäume und Rotdorn. Zwischen den Bäumen hindurch seh ich über weite, tauglitzernde Wiesen weg am Bache hin. Jenseits winden sich Felder kreuz und quer und bunt durcheinander die Hügelhänge hinauf. Und hier und da, zwischendurch, blitzt lang der See auf. Links liegt das Nest in dem Talwinkel in das Grün eingekuschelt, und die blauen Rauchsäulen steigen steilgerade in die Morgenluft hinein.

Dann bieg ich rechts in einen steinigen Hohlweg ein. Von beiden Seiten hängt dichter, staubiggrüner Teufelszwirn über. Oben, zwischendurch, ein langgestrecktes, tiefblaues Bandstück vom Morgenhimmel; und in den Gärten die Finken und Meisen und die Bachstelzchen, die Wippschwänzchen, trippeln vor mir über den Weg.

Und dann, auf einmal, bin ich im freien Felde.

――――

Sonne! Sonne!

Die ganze Welt ist trunken von Sonne.

Weit die Hänge hinunter, hinauf und wieder hinunter; in die Länge und Breite und Tiefe. Weit! Weit!

Und oben: mächtig, mächtig der lerchenschmetternde Himmel mit dem großen, gleißenden Sonnenauge.

Sonne! Sonne!

Die Morgenluft wühlt in werdenden und verebbenden und wieder neuen silbrigen Wellen über die weitgedehnten Felder hin. Und jeder Gedanke ertrinkt mir in diesem goldigen, weitleuchtenden Lichtmeer.

Aber über die Arme und den Körper rieselt es mir, heiß, belebend wie elektrische Ströme, und meine Brust hebt sich, und freier rühren sich die Füße. Und hinein in den sonnigen, frischen, gesunden Morgen; in die Luft, in die Sonne! Weiter, immer, immer weiter!

Und meine Augen weiten sich, und meine Nüstern dehnen sich und schnaufen die Luft ein, und mir ist, als wollt ich mit jeder Fiber das alles in mich aufnehmen, die ganze lichte, singende, weite, herrliche Welt!

Und ich stammle wunderliche, wahnselige Worte vor mich hin, die ich nicht höre. Es ist nur, als flute etwas aus meiner Seele heraus, hinaus wie überströmendes Leben, überwallende Kraft.

Und alles liegt unter mir, weit unten in der Sonne.

Die hohen Talbäume so klein, mit krausem, zitterndem Laub, und die Pflüger, wie Schnecken langsam die sattbraunen Feldbänder hinkriechend, und die kleinen Dächer und der Fluß.

Nur hoch, hoch da oben, ewig über mir, das jubelnde, golddurchblitzte Blau; weißleuchtendes Gefieder drin, dort und dort.

Und ich möchte aufschreien vor unbändiger Lust und quälender Ungeduld, und ich recke die Arme und verliere mich in Kraft und Leben.

Bis ich taumlig werde von alledem, bis es mir über die Kräfte geht und ich hinsinke in das krause Weggras, und mein trunkenes Auge sich sammelt und beruhigt an den stillen, roten, nickenden Wegnelken und dem gelben Steinklee und dem violetten Thymian, den bunten Schmetterlingen und den leise, leise summenden Hummeln.

Wie betäubt lieg ich und starre vor mich hin in das kurze Gras und wage nicht, seitwärts zu blicken …

――――

Hier ein Grashalm, scharf an beiden Rändern von unzähligen Kristallen. Vorn an der zierlichen Spitze ein rundes, funkelndes Tautröpfchen. Das Hälmchen schwankt leise in der wehenden Luft hier oben. Und der Tropfen leuchtet. Jetzt orangen, jetzt goldig, jetzt bläulich, grün, violett, silberhell.

Halme, dünn, schlank, mit krißligen Dolden.

Wenn ich den Kopf in das kleine, krause Rasengewirr lege und die Augen etwas zusammenkneife, wanken sie wie sturmbewegte, hohe Baumkronen gegen den blauen Himmel hin und her, hin und her. Wie ein Wald von wunderlichen Fabelbäumen.

Und die Hummeln mit dem schwarzsamtenen Leib und der braunsamtenen Verbrämung, eifrig von einem Kelch zum anderen. Und dann in die Luft hinein, in den sonnigen Morgen, hinunter in das Tal, taumelnd im zackigen Flug, in der Luft schwebend wie riesige Ungeheuer.

Vor mir eine Feldnelke. Wie ich sie betrachte, ragt sie hoch, hoch über eine einsame Feldscheune weit draußen am hügeligen Horizont und taucht mit ihrer glutroten Krone in den Himmel.

――――

Und ich atme auf, tief, einmal, wieder und wieder.

Ich stammle vor mir hin, alte, vertraute Laute. Und die fügen sich zu rhythmischem Tonfall, wie die Luft weht und stoßweise mir in die Ohren knattert, gleich flatterndem Seidenband; wie die Grashalme sich biegen und beugen, hin und her, hin und her; wie die Lerchen trillern in bestimmtem Rhythmus, der wiederkehrt und wiederkehrt, leiser, lauter, ferner, näher; wie der unaufhörliche Feldgesang der Insekten; wie die weiten Felder den Hang hinab fluten und fluten; immer, unersättlich in demselben Rhythmus. Und erstaunt lausch ich mir selbst.

Ich glaubte, ich könnte das nicht mehr.

Und wie ich lausche, ist es dieselbe alte, ewige Melodie. Immer dieselbe, unersättlich dieselbe. Fragend, sehnend, wild, beruhigt, angstvoll und glückgesättigt.

Die alte Weise. Das alte Lied.

In Ewigkeit wohl wird es gesungen werden …

Und so lieg ich und liege, in der Sonne, im Grün. Über mir die blaue Unendlichkeit, und unter und vor mir die weite, grüne, jubelnde Welt. Und die Gedanken schweifen, bis mich ein Grauen faßt, ein wonniges und drückendes Grauen, daß ich mit ihnen so allein bin, so allein hier oben in der stillen, rätselhaft raunenden Einsamkeit …

Und hinunter wieder, taumelnd, träumend, mit wankendem Fuß in die talfriedliche Enge der Menschen …

――――

Das erste Haus, eine kleine weißgetünchte Kate, an einen laubigen Hügel gelehnt, sich duckend zwischen aufgeschichtetem Birkenholz und Dünger, flachsköpfige Kinder in bunten Kittelchen vor dem schwarzen Türloch, knallrote Geranien und Fuchsien auf den grünen Fensterbrettern, macht mich wieder zum verständigen Menschen.

Ich bin sogar imstande, über die Gasse weg dem dicken Krämer einen »guten Morgen« zuzurufen, wie er in der Ladentür steht und in die Morgenluft hineinschnüffelt.

Nein, er dankt mir ganz normal! Es ist unmöglich, daß man mir so etwas wie den verrückten Engländer anmerkt. In so einem kleinen Klatschnest wäre das auch in mancher Hinsicht fatal.

Für alle Fälle ist es auskömmlicher, man merkt mir gar nichts an, gar nichts, so wenig wie möglich, wes Geistes Kind ich bin. Ganz kann ich mich sowieso nicht verleugnen, und ich weiß, daß mich dieser infame Tütchendreher mit Wonne bei meinen Einkäufen übervorteilt. Wer weiß, was für Lapsus ich mir sonst noch in meiner göttlichen Unbewußtheit zuschulden kommen lasse. –

Fidel pfeif ich mich die Gasse hinab und habe dabei so meinen Spaß, wie sich allerlei Gedankenwerk in meinem Schädel zusammenkreiselt. Sicher werd ich heute noch was zusammenleimen, was die ganze Morgenherrlichkeit wiederholt, kindlich, kindisch stammelnd, trotz aller Mühe und zerkautem Federhalterende.

Ach ja! –

Und dann wieder die Rezensenten im Winter. Wie sie mir alle meine Gebresten vorfingern werden. Da merkt man erst wieder mal, was für ein kapitaler Ignorant man ist … Ja, ja, die Rezensenten! –

――――

Mit dieser, allerdings etwas flüchtigen Berücksichtigung einer gewiß nützlichen Menschensorte tret ich in mein Zimmer ein.

Ein lichtgrau tapezierter quadratischer Raum voll Sonne und Luft. Ein weißes Bett, ein Waschtisch, ein geblümtes Sofa mit einem weißen Hundefell davor, ein braun gebeiztes Regal mit ein paar Büchern und umständlichem Rauchutensil, ein paar Stühle, ein paar kolorierte Stiche à la Neuruppin, ein einziges, breites Fenster mit weißen Gardinen. Davor gerückt ein großer Tisch. Viel weißes Papier darauf im wirren Durcheinander und dazwischen ein Tintenfläschchen. Die Sonnenstrahlen huschen drüberhin und schillern in dem Wasserglas mit den vier »gloire de Dijon«. Und draußen ein wippender, schaukelnder, sattgrüner Laubtumult. Dahinter bläulich die Hügel.

――――

Nun?

Hier: feierlich, würdig, reserviert, mit einer gewissen Andacht hergelegt, ein Kreuzband. Richtig! Eine Zeitung! Na?

»Allen, die sich Menschheit, Leben und Poesie von Grund aus verekeln lassen wollen, sei dieses Buch bestens empfohlen. Es häuft Häßliches, Schmutziges und Niedriges bergehoch. Nichts als Schmutz, Elend und Verkommenheit, körperlich wie geistig. Ebenso wie jener schönfärbende, falsche Idealismus, welcher alles in erborgten Schimmer kleidet, ist ein Todfeind aller Poesie jene sogenannte Wahrheit, die alle Krankheiten, seien sie des Leibes oder der Seele, auf die Gestalten häuft und die Augen schließt, um nichts Lichtes zu sehen. Nur der Wechsel von Licht, Halblicht und Dunkel gibt den Schein der Körperlichkeit in Kunst und Leben« usw. usw.

»Schmutziges«? »Niedriges«? »Idealismus«? »Wahrheit?« »Halbdunkel«? »Schatten«? »Poesie«?

Ja, da haben wir ja wieder mal die Jacke gründlichst vollgekriegt!

Und wie viel kluge Worte der Mann hat! Daß doch der liebe Gott für so viele schöne, saubere Redensarten gesorgt hat!

O du heilige, böse Natur! Du meine glückliche, unglückselige Liebe! Warum läßt du mich die Worte und klugen Maßstäbe vergessen? Weshalb bist du mir im »Kleinen« wie im »Großen«, im »Geringen« wie im »Bedeutenden« immer dieselbe, immer die gleiche, immer und überall und vor allem das große, süße, schauerliche, erhabene und lockende Problem? Längst bist du ja in säuberliche Grade und Werte verrubriziert. Daß du doch immer und überall so wunderbar bist und es mich vergessen läßt!

Dir ist es gleich: für mich ist es kein Spaß. Denn ich muß in der »talfriedlichen Enge der Menschen« wohnen. Ja, wenn man so vergeßliche Triebe hat!

O du lachendes, freudiges Morgenlicht!…

Und ich lache in die schöne Welt hinein und lache und lache …

Gut! Weg damit!

Die niedliche Hand aber, die mir mit so unschuldiger Andacht diese prätentiöse, mürrisch-mißvergnügte Zeitungsmißgeburt auf meinen Tisch gelegt hat, wird heut abend warm in meiner liegen. Heut abend. –

Und alles bleibt beim alten.

Trotz alledem und alledem …

Einsamkeit

Eine Stelle fand ich heut in meinem Notizheft, die ich mir neulich einmal aus irgendeinem Drama ausgezogen hatte.

»Auf allgemeines Verlangen: es wäre ungeheuer angenehm,« sagte da einer, »wenn all dies Gewäsch von Freiheit und Ehre und Selbständigkeit und Sittlichkeit und Verantwortung und Berufensein und Wahrheit bald ein Ende hätte. Sehen Sie, wir werden ganz verrückt davon! – All die dicken Worte und feisten Redensarten!«

O ja! – Nun, ich lache auch über »all die dicken Worte und feisten Redensarten«. Denn hier bin ich gut im Sichern.

Das Kreisblättchen, das alle Wochen dreimal hierherkommt, ist ungefährlich. Und sonst …

»Weit! Weit
Liegt die Welt hinab,
Ein fernes Grab.
O holde Einsamkeit!
O süße Herzensfreudigkeit!«

Einsamkeit! Einsamkeit!

Ach, ich könnt es nur so herausjauchzen!

Nun leb ich erst! Das war’s, was ich brauchte, als ich hierherging! Nicht mich zerstreuen, nicht »erholen«: zu mir selbst kommen wollt ich.

Jahre überblick ich. Das Neue des Tages, der Zeit stürzte auf mich ein, von allen Seiten.

Es hat mich begeistert: es hat mich geängstigt und müd gemacht.

Ich habe mich an ihm bereichert: das war meine Begeisterung, mein gieriges Aufnehmen, all die Wonne dieser Jahre.

Ich hab es von mir abgeschieden: Ach! all die schlimmen Stunden, wo es mich fast verrückt machte, wo ich in Ermattung und Stumpfheit, in Verwirrungen und fiebernden Erregungen mich verlor!

Und nun! Nun find ich mich wieder. Nun werd ich mir bewußt, was das alles zu bedeuten hatte.

Man kann sich nicht verlieren. Man kommt immer zu sich selbst zurück. Und ich? Bereichert. O ja! Bereichert!…

»O holde Einsamkeit!
O süße Herzensfreudigkeit!«

Aber nicht die »blaue Blume« will ich hier suchen gehen, alter Tieck! hier in walddämmernder Einsamkeit: mich selbst will ich fühlen und entfalten. Ich brauche keinen romantischen Hexenspuk und keine »blaue Blume«, die mir die Herrlichkeiten der Welt auftut! Ich bin ein Kind meiner Zeit! – Frei will ich sein, was ich geworden bin, hier – und dort, wo ich es geworden bin, wo dieselben Kräfte spielen wie hier. Nicht das »Hier« ist besser als das »Dort«, und nicht das »Dort« als das »Hier«. Überall ist die Welt wunderbar. Überall die gleiche, eine … Ich brauche keine »blaue Blume«. Die blaue Blume ist mein fühlendes, lebendiges Herz.

In Luft und Licht will ich mich baden, das tausendfältige Leben der Natur hier in der Einsamkeit fühlend mitleben, wie ich es – »dort« nun mitleben werde. Nicht nach Wundern will ich suchen, die mich erlösen sollen von dem, was täglich mich umgibt, sondern fühlen, bis in mein tiefstes Herz hinein erschauernd fühlen, wie das und alles ein Wunder, ein unaussprechliches Wunder ist!…

Nicht mit Metaphern und Hyperbeln will ich die schöne Wunderwelt verrenken und mir darauf etwas zugute tun und anderen zumuten, daß sie sich dabei etwas zugute tun sollen: die Welt ist nicht zu verschönen! Sie ist schön, so wie sie ist. Und wenn ich »Licht« sage oder »Mücke«, »Blume« oder »Baum«, »Werden« oder »Vergehen«, so bebt mein Herz von unerhörten Wundern …

Das ist meine ganze Weisheit, in schlimmen Tagen erkämpft, in der Einsamkeit erkannt …

Lektüre

Die wunderbaren Stunden, wenn ich nachmittags mit meinem Buche hinaufschlendre in die Waldeskühle! Denn einige Lektüre hab ich mir doch mit hierhergebracht. Wenigstens so pro forma. Man ist doch nun einmal ein zivilisierter Mensch.

Aber gleich gesagt: Dostojewski, Zola, Ibsen, Tolstoi usw. hab ich zu Hause gelassen. Ein paar Bände Goethe, das »Wunderhorn«, den »Simplicissimus«, den »Jobst Sackmann« und noch einiges Deutsche der Art hatte ich mir diesmal in meinen Reisekoffer gesteckt. Alte Liebe rostet nicht …

Ich weiß nicht: aber es geht mir immer wieder das Herz auf über alledem, wenn ich mich in den Sackgassen der Fremde so recht abgemüht und herumgeschunden habe. Und wenn ich so in den alten Büchern lese, in dieser Umgebung und jetzt, wird mir gleich wohler.

Muttersprache! – Alt, veraltet: ja! Meinetwegen!

Aber doch: der Geist ist derselbe; er trägt auch mich. Auch heute noch! – Und es ist mir, als wolle das alles weiterwachsen, neue Triebe treiben, neu sich offenbaren.

Es bleibt am Ende doch so: man fühlt nur seine Gefühle, spricht nur seine Sprache. Das ist Pflicht. Das ist Notwendigkeit.

――――

Die wunderbaren Stunden!

Die Gassen liegen still und öde. Die Leute sind draußen auf den Feldern oder drin in ihren Werkstätten. Ein paar Fliegen, ein paar Schwalben, die Luft in feinen Wellenlinien an den Häuserchen und über dem stillen Laub der kleinen Vorgärten hinflirrend in dem heißen, hellen Nachmittagslicht: das ist alles. Drüber der Himmel mit schneeweißen, in einem feinen Silberduft verschwimmenden Flockenwölkchen. Ab und zu, von dem Hügelland oben schräg vor dem Ausgang der Gasse her, ein kühlendes Lüftchen.

Noch ein halbes Stündchen Weg über die grünwelligen Hügelhöhen hin, und ich stehe zwischen dem Vorgestrüpp an den alten, stillen Eichen hin …

Hoch oben in den mächtigen Wipfeln spielt die Sonne. An den dicken, grauborkigen Stämmen liegt es in goldigen, saftiggrünen, lila und violetten Lichtern.

Tief aus dem blaudämmernden Grunde, fern, weithin verhallend in der nachmittagsstillen Einsamkeit, der gelle Schrei eines Vogels.

Morsches Geäst und Reisig knickt unter meinen Schritten in das weiche Waldmoos hinein, und die Dornen der wilden Rosen zupfen an meinen Kleidern.

Ein Getier, das durch Farne, Moos und hohes, wogendes Waldgras hinraschelt. Wuchtende, leise sausende Schwingen über mir hin. Eine Krähe, ein mächtiges schwarzes Tier, die schräg über das Gestrüpp zu dem Vorlande hinstrebt.

Und nun verlier ich mich zwischen den alten Stämmen, hinein in das kühle, bläuliche Dämmern …

O hier! Hier!…

O Einsamkeit! Waldeinsamkeit!

――――

Mein Ruheplätzchen!

Tief im Walde drin haben die Eichen ein Stück grünen Hang frei gelassen. Im Kreise stehen sie herum, hoch und still, mit ihren breiten, wetterzerklüfteten Wipfeln. Zwischen den Stämmen das wunderliche Dämmern. Zitternde Sonnenlichter lassen hier und da ein Stück Stamm draus hervorleuchten und fallen in goldigen, magischen Tropfen auf die Haselnußblätter drunter. Alles andere verschwimmt, nach hinten, in ungewissen nebeligen Konturen. Unten an den Stämmen Haselnußgebüsch und wilde Rosen. Hohes, lichtgrünes Gras über die ganze Lichtung. Bunte Waldblumen leuchten in der Sonne draus vor. Ein fortwährendes, leises, metallisches Gesumme von Waldbienen, Hummeln und Käfern. Bald laut, bald leise. Ferner, näher. Oben über allem, als eine freie Flucht aus dieser walddämmernden, rätselhaften Beengtheit, die blaue Himmelstiefe.

Hier unter dem Haselbusch ist das Gras noch niedergedrückt. Das ist mein Plätzchen.

Ich lasse mich nieder.

Das Schrillen eines Raubvogels. Das Pochen eines Spechtes. Aus dem tiefen Grund, rieselnd, ein Waldwässerchen. Hin und wieder ein Luftzug, der ein Laubgewisper unvermutet weckt.

Ich klappe mein Buch auf und fange an zu lesen.

――――

Ja, nun ist es doch wieder so ein gelbbroschierter Franzose, der heute früh unversehens auf meinem Tische lag.

P. Bourget: Le Disciple.

Eine Einleitung. Ich überfliege sie. Eine Litanei gegen die Dekadenz. Der »jeune homme de 1889« wird vor zwei Zeittypen gewarnt: dem »homme cynique et volontiers jovial«, dessen »religion tient dans un seul mot: jouir«, und vor dem anderen, »qui a toutes les aristocraties des nerfs, toutes celles de l’esprit, et qui est un épicurien intellectuel et raffiné«.

Aber da ist auch schon die erste Störung.

Eine Eintagsfliege kribbelt mit analphabetischer Respektlosigkeit über die sauberen schwarzen Zeilen.

Jetzt macht sie Halt. Mit ihren spinnwebfeinen Füßchen trippelt sie auf einem »nihiliste délicat« herum.

Ich sehe ihre feinen Flügelchen mit dem zarten Perlmutterglanz. Ihr dünnes, lichtgrünes Körperchen krümmt und windet sich zierlich auf und nieder. Die Äugelchen: wie goldene Stecknadelknöpfchen. Ihre zarten, langen Fühlfädchen vibrieren hin und her, nach oben, nach unten, nach den Seiten.

Mit aufgestütztem Ellbogen lieg ich lang im Grase vor dem Buche und betrachte das Tierchen, minutenlang, und fange an zu träumen und so vor mich hinzudämmern.

Ach was, lesen!

Ich wälze mich einen Schritt von P. Bourget, dem Warner, fort, lege mich auf den Rücken, die Hände unterm Genick, und sehe geradeaus in den Himmel hinein.

――――

Diese herrliche Stille!

Ich kann hören, wie mir das Blut in den Ohren rollt.

Sie wiegt mir jeden Gedanken ein.

Ein paar Schmetterlinge, sich umtaumelnd, flattern in das blendende Blau hinein. Um ihre schwarzsamtenen Flügel zieht es sich wie ein goldglühender, feiner Saum. Manchmal blitzt das tiefrote Tupfchen oben auf den Schwingen.

Ein Flügelklatschen und Sausen. Ein Flug Waldtauben in zierlichen, langen Spiralen über die Lichtung hin ins Gehölz hinein.

O Einsamkeit!

O, ich werde wieder fromm! Wie ich es damals war, als meine Mutter mich einen freundlichen alten Mann kennen lernte mit einem Gefolge von Engeln und Elfen, Königen, Rittern, Märchenprinzessinnen, weisen Frauen, Feen und Fabeltieren, welcher der »liebe Gott« hieß.

Ihm gehörte die ganze Welt. Tief, tief unten die blaudämmernden Gründe mit rauschenden Unterweltswassern, mit rotglühendem und smaragdenem Gestein, mit unermeßlichen Schätzen, die weithin durch die nächtigen Schlüfte blinken, von den Erdgeistern bewacht. Die ganze Welt konnte man mit ihnen gewinnen. Und ihm gehörte die weite, lichtfrohe Erde mit Städten und Dörfern und Burgen, Feldern und Strömen, Wäldern und rieselnden Quellen. Und auch die Wunderquellen, zu denen nur die Sonntagskinder gelangen. Unter vieler Gefahr für Leib und Seele. Aber wenn man von ihnen getrunken hat, wird man sein Lebtag nicht krank und weiß alles in der Welt. Die Sonne oben war sein Auge, und das helle, goldige Licht über die Erde, über Bäume und Bäche, Blumen und Gräser hin: so lachte er.

Wieder fromm! Wie damals; und doch anders …

――――

Und nun kommt diese unerklärliche Stimmung über mich. Ganz Lauschen bin ich, ganz Sehen, ganz Fühlen. Sonnenschein, wehende Luft, rieselnder Quell, Laubgeflüster, Bienensummen. Nichts bleibt von mir übrig als ein unaussprechliches Lust- und Kraftgefühl …

Ich springe auf und stopfe meinen Franzosen in die Tasche. Hier durchs Gebüsch und vorwärts auf den wildesten Pfaden, immer vorwärts in die schöne, grüne, lebendige Welt hinein.

Die Zweige rascheln an mir hin, an meinen Kleidern, an meinem Gesicht, meinen Händen. Es ist mir wie eine Liebkosung.

Zwischen den alten Stämmen ruf ich mir jauchzend das Echo wach.

O eine Bitte! Eine dringende Bitte!

Man hat’s doch heute überall »so herrlich weit gebracht«. Möchte nicht einer von unseren gewiß höchst ehrenwerten Grüblern, Wissenschaftlern, Lumpensammlern der Weltgeschichte und bestpatentierten Erfindern irgendeine Botanisiertrommel zusammenmathematisieren, in der man ein bißchen, ach! nur ein winziges bißchen von dieser freien, fröhlichen, schaffenskräftigen Waldstimmung einigermaßen wohlkonserviert heruntertransportieren könnte in die so gescheite und, ach! so enge, enge Welt?

Na?! Sämtlichen Humanitätsdusel und sämtliches neunmalkluge Gebildetsein wollten wir freudig dafür dreingeben, o heiliger Homunkulus!…

Ach ja, wenn man nur Zeit hätte, auf individuelle Wünsche Rücksicht zu nehmen!…

Man wird mich günstigstenfalls vertrösten und die Petition einstweilen ad acta legen …

――――

Ein paar Stunden sind hin. Und nun ist es gegen Abend, und ich stehe wieder draußen auf den Hügeln.

Und da steh ich und freue mich wie ein Kind, wie schön das Abendrot da oben über dem dunkelnden Wald hinleuchtet.

Hat man nun wohl bei so widerborstigen Sympathien das Zeug zu einem »décadent«, zu einem »homme fin de siècle«?

Ich glaube, ich werde mein Lebtag beim besten Willen nicht gescheit genug dazu sein …

Feierabend

Den ganzen Nachmittag über grub ich heute hinten im Garten, und nun hab ich gegessen, in der Laube, der vollbrachten Arbeit gegenüber, zwischen flüsterndem Weingerank, an weiß gedecktem Tisch. Milch, Eier, Landkäse, Schinken und braunes Brot. Mit einem Appetit wie ein Scheunendrescher.

Nun ist es gegen Sonnenuntergang, und vorm Schlafengehn mach ich noch meine Runde durch die Felder.

Auf der Dorfgasse schreiende Kinder. Leute vor den Häuserchen, die ihre arbeitsmüden Glieder in der Abendfrische kühlen. Auf den Höfen bellen die Hunde. Das Brüllen einer Kuh. Dumpfes Pferdegestampf und Stallgeruch.

Drüben das letzte Gehöft. Mit einem langen, windschiefen Staket streckt es sich spitz in das freie Land hinein, das sanft ansteigt. Eine Gänseschar, weiß, an der äußersten Spitze des Gartens, kreischt in die tiefe, milde Abendruhe.

Bis Mittag war heute eine drückende Hitze gewesen, dann war ein kleines Gewitter vorübergerauscht und hatte Kühlung geschaffen. Davon ist der Himmel jetzt noch mit einem dünnen, gleichmäßigen Dunst überzogen. Am Horizont über den Feldern hin verdichtet er sich zu einer breiten, blaugrauen Schicht. Dazwischen hängt die Sonne, ein mächtiger, dunkelroter Nebelball. Nach rechts und links ist eine breite, schmutzige Röte über den Himmel hingewischt.

Ein ungewisses Licht. Ein Abendsonnenschein, mehr zu fühlen als zu sehen. Nirgends ein Schatten. Und doch liegt es über dem Wegstaub wie ein zartes, lila Lichtdämmern, und in den Lüften webt es wie ein feiner Lichtdunst.

Ferner, immer ferner verklingt hinter mir das Kreischen der Gänse, das Gekläff der Hunde. Lauter und immer vernehmlicher jetzt das Schrillen der Heimchen im Weggras und überall zwischen den leise knisternden, überreifen, bronzefarbenen Getreidehalmen das Schnarren der Rebhühner aus dem weiten Dämmern. Die mild schmeichelnde Abendkühle; das scharfe, würzige Duften von den Kartoffelfeldern her, und dieses geahnte Sonnenlicht in der ganzen abendlichen Landschaft.

Die dicken Ähren nicken und beugen sich, und leise wühlt es in matten, rotgoldigen Lichtern über eine Haferbreite hin. Drüben rutscht die Sonnenscheibe zwischen den Dunstschichten hinunter. Jetzt nur noch die Hälfte, jetzt nur noch ein rotes Tupfchen – und nun ist auch das weg. Nun ganz das heimische, trauliche Dämmern über den weiten, weiten Feldern, und im Westen, schräg über den Himmel hin, die matte Röte …

――――

Allein. Mitten zwischen den Feldern. Ganz allein.

Ein so eigenes Gefühl, immer vorwärts, vorwärts, ziellos in das zunehmende Dämmern hineinzuschlendern mit seinen hundert geheimen Lauten.

Ab und zu zuckt es mir in den Armmuskeln von der getanen Arbeit. Über den ganzen Körper eine süße, wohlige Müdigkeit. Frei und ruhig geht mein Atem.

Allmählich nimmt es den Horizont weg, und die Nähe wird lebendig. Eine Feldmaus, raschelnd in eine Furche hinein. Das leise, flüsternde Rauschen in den schwarzen Wipfeln der Kirschbäume zu beiden Seiten des Weges.

Ein leises, metallisches Surren vor meinem Ohr, und an meine Backe weht ein feiner, leichter, ganz leichter Lufthauch.

Ich bleibe stehen. Fast erschrocken, was es ist. – Ein Mückenschwarm. Gegen das verblassende Abendrot kann ich ihn noch erkennen, wie er durcheinanderwirbelt in regelmäßigen, zuckenden Spiralen.

Und dunkler wird die Welt, und dunkler, und verschwimmt in Dämmerungen. Und weiter und weiter zieht es einen ins Einsame. Jeder Wille ist umsponnen, süß gelähmt von einem heimischen Grauen.

Fern, weit von allen Menschen!

Nur die dunkelnden Felder in der Runde.

――――

Dort schiebt es sich über den Horizont in die Höhe, ein roter Kreisabschnitt. Breit, riesig, daß es einen erschreckt. Und immer höher und immer runder wächst es herauf und wird ein mächtiger Halbkreis. Und nun steht eine ungeheure Scheibe rot auf dem Horizont. Wie ein nie gesehenes, rätselhaftes, plötzlich an das Firmament gezaubertes neues Gestirn.

Der volle Mond.

Zwischen zergehendem Dunst hebt er sich und steigt langsam empor in das freiere Blau, und sein Licht fängt an, mit silbrigem Glast sich hinzuweben über die weiten, stillen Felder.

――――

Hier, auf kühler Höhe, schwarz mit seinen dunkelroten Fensterlöchern, mitten im einsamen Land, ein Schachthaus. Drinnen, dumpf, das Stöhnen und Keuchen einer Maschine. Hier oben der freie Nachtfrieden, und da unten, tief unter meinen Füßen, mühen sich Menschen in enger, dunstiger Finsternis.

Ein paar hundert Schritt weiter ein Tagesschacht. Steil, mit schwarzen, riesigen Wandflächen senkt er sich in die dunkle Tiefe. Fern aus dem stillen Grunde kommt es herauf wie ein Rieseln und Kluckern von verborgenen Gewässern. Dies und das ewige Schrillen der Heimchen sind hier die einzigen Laute. Drüben, auf der anderen Seite, mir gegenüber, ein Stück Staket, das sich schwarz gegen den Himmel abzeichnet, und ein paar kümmerliche Bäumchen, und hintereinander drei niedrige Wagen, mit denen am Tage allerlei Schutt aus dem Schachte heraufgefördert wird.

Überall dick schwarzbrauner, von unzähligen Radspuren durchfurchter Kohlenstaub. Drüberhin wird es jetzt lebendig von einem feinen Glanz, und neugierige Lichter dringen mit breiten Streifen hinein in die schwarze Tiefe.

Am Tage ist hier oben und da unten ein lautes Leben von hundert fleißigen Menschen, Peitschen knallen, die schwergeladenen Wagen knarren in ihren Achsen, die Fuhrknechte brüllen und fluchen. Die Kohlenwagen rollen und klirren über die Schienenstränge.

Und jetzt das öde, lastende Schweigen.

――――

Der Dunst hoch oben am Himmel ist zergangen vor dem aufsteigenden Mond her, der nun goldig leuchtend über den hellen Feldern steht. Es ballt sich da oben zu weißen Wölkchen und dehnt sich hin zu milchigen, dünnen Streifen, zwischen denen Sterne flimmern.

Dort ein umgekippter Kohlenkarren, die eisernen Räder schief nach oben; das Mondlicht drauf mit stilleuchtenden Reflexen. Ich schreite hin und setze mich und blicke von hier über das mondlichte Land hin.

Und alles, was ich dachte und je gedacht habe, und alles, was ich litt und was mich freute: es wird ein einziges Empfinden, es verdichtet sich zu einem unaussprechlichen Gefühl, zu einer unsagbaren, stillheiteren, wonnigen Sehnsucht: einer wollüstigen Sehnsucht zu sterben …

Ich kenne sie. Ich kenne sie ganz genau. Willenlos nimmt sie mich hin.

Ein wunderbares Träumen und Sehnen, wer weiß wohin? Mir ist, als ob es mich hinnähme in rätselhafte Weiten.

Was ist es? Rausch? Lebendigstes Leben?

Glück! Glück! – Zuviel Glück! Ein böses, gefährliches Glück!…

Zuviel Glück: denn das Unsagbare benennen, es festzuhalten, es auskosten in flüchtigen Symbolen, ist allein erträgliches Glück und erträgliches Leid. Darin leben wir alle, wie wir sind, was wir sind …

Stimmen. Dunkle Gestalten gegen den hellen Himmel hin. Eine Schar Bergleute vom Schachthause her. Es ist mir wie eine Befreiung. Talabwärts geh ich ihnen nach zum Dorf hinunter.

Vor den ersten Häuserchen unten singen sie zu einer Ziehharmonika. Die dünnen Klänge verklingen über die Felder, über die nun weit, weit der Mond leuchtet.

Ah! Ich bin müde zum Umfallen!

Werd ich schlafen!…

Siesta

Ein Nichtstun ist mein Leben hier. So recht ein göttliches Nichtstun ohne Reue über verlorene, tote Stunden. Ich träume so hin, in innerster, stiller, unbewußter Fülle. So fühl ich, wie ich gedeihe; gedeihe wie der Baum in freier Luft, in der heiteren Sonne. Und nichts mag ich kennen, nichts außer diesem Gefühl.

Nachmittag ists. Ich sitze am Fenster und rauche meine Pfeife zu einer Tasse Kaffee. Beim Umrühren wirbelt sich das flinkernde Braun zusammen in unzähligen, perlmutterfarbenen Perlchen.

Der Goldrand der Tasse glitzert in der Sonne. Ein zarter Brodem zieht sich gegen das Fenster hin, an dem eine Fliege summt. Der Tabaksrauch verliert sich hinten in dem lichtdunstigen Zimmer. Vorm Fenster rankt sich das helle Weinlaub.

Zwei Kinder. Im blauen und roten Kleidchen, in safrangelben Strümpfen kommen sie die Gasse herab. Hand in Hand stolpern sie über das Pflaster. Sie haben die Stumpfnäschen in die Höhe gereckt und schwatzen laut ihren süßen Unsinn so vor sich hin in das goldige Mittagslicht hinein. Allmählich wiegt es mich ein. Ich dämmere so hinüber …

Kirchgang

Sonntag. Die liebe helle Sonne spielt hinten im Garten. Alles ist so blank. Der Hof unten sauber gefegt. Nirgends auch nur ein Strohhälmchen. Auf den blankgescheuerten Steinplatten vor der Hoftür ist weißer Sand gestreut. Die Hühner gackeln still auf dem hellen Pflaster umher.

Aus dem Dorfe kein Laut. Nur das zweite Kirchläuten tönt durch die blaue, klare Luft herüber.

Ich habe mich in meinen schwarzen Gehrock geworfen und in jeder Beziehung grande toilette gemacht. Denn ich muß heute schon mal mit zur Kirche. Schon um mich freizuhalten gegen alle möglichen temperamentvollen Katechisationen über Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist. Dergleichen kann einem sehr peinlich sein, wenn man seinen Katechismus nicht mehr so recht am Schnürchen hat. Recht qualifizierbar bin ich in dieser Beziehung meiner Umgebung hier sowieso nicht, und es ist gut, dem Mißtrauen keine weitere Nahrung zu geben. Denn warum in guten Menschen inquisitorische Instinkte wecken? Warum? – Überdies: Gott! Wie lange bin ich in keine Kirche gekommen!…

»Sind Sie parat?!«

Hinter mir hat die Tür geknarrt. Die Frau Wirtin. Ihr adrettes, rundes Figürchen glänzt von schwarzer Seide. In der Hand hält sie über dem schneeweißen, gezackten Taschentuch das Gesangbuch, mit Goldschnitt und einem goldenen Abendmahlkelch auf dem schwarzledernen Deckel. Unter der breiten Strohhutkrempe vor fragend die grauen Augen. Ich glaube, ein wenig mißtrauisch, ob ich innerlich auch so recht auf den Kirchgang vorbereitet bin und ob es mich auch ja nicht so etwas wie eine sehr zu mißbilligende Überwindung kostet, mitzukommen.

Nein! Ich bin ganz frei und unbefangen.

Hinter ihr, auf dem Flur, rosig das Töchterchen im Sonntagsstaat, sauber wie ein Teeröschen. Ich mache den Damen ein Kompliment über ihre Toiletten, das wohlwollend entgegengenommen wird.

Ob ich auch einen Zweier habe für den Klingelbeutel?

Alles in Ordnung, und nun können wir gehen.

――――

Die Gasse hinauf ist’s still und sauber. Überall ist gefegt und vor den Häuserchen weißer Sand gestreut. Hier und da blitzt eine blankgeputzte Messingklinke in der Sonne, und vor den gescheuerten Fensterkreuzen glühen die Geranien und Fuchsienblüten. Ein Mann steht breitbeinig, in dunklen Sonntagskleidern, mit blendend weißen Hemdsärmeln vor einer offenen Haustür und hat die Fingerspitzen in den Hosentaschen. Kinder, bereits im Sonntagsstaat, die Haare noch straff und starr von Wasser, sitzen in der Sonne und mühen sich behaglich mit ihren Frühstücksstullen.

Die liebe, schmutznäsige Unschuld, die noch in keine Kirche zu gehen braucht!

Das heißt, küssen möcht ich sie deshalb doch nicht, wie weiland Werther des Amtmanns Gören …

Eine Frau, aus einem niedrigen Fensterchen heraus oder über eine regenverwaschene Halbtür hinweg, die Kirchgänger zu mustern.

Zu drei gehen wir, mitten in der Gasse, andächtigen Schrittes hinauf.

Da ist die Frau Ortsvorsteher. Da das Fräulein vom Gute. Sie trägt sich ein wenig zu auffällig nach der neusten Mode. Sie besitzt ein sehr verwöhntes Spitzhündchen, ist sehr in der Marlitt und Werner belesen, und ihr Lieblingsbuch sind Geroks »Palmblätter«. Im übrigen ist sie hübsch und, wie man sich im Vertrauen mitteilt, vom »Herrn«, dessen Frau zurzeit in Karlsbad ist, viel zu sehr verwöhnt …

Da ist die Frau Gutsbesitzer Soundso. Ah! Und die Frau Amtmann mit ihren beiden Töchtern und dem Herrn Sohn, der in den Ferien da ist! Man hebt die Blicke und grüßt. So geht’s dem Geläute entgegen, das immer deutlicher wird. Nun den Kirchberg hinauf. Die Frau Wirtin keucht ein wenig und bleibt ab und zu stehen, uns auf die schöne Aussicht aufmerksam zu machen, die man nach beiden Seiten über die hellen Hügel und Felder hin hat. Zwischen den grünen Gräbern, zwischen denen ökonomisch Kantors Hühner nach Käferlarven und Würmern picken, drängen sich die dörflich bunten Sommertoiletten.

Die Kirchtür. Zu beiden Seiten, in Schneeballbüschen halb versunken, schief, zwei steinerne Ritter, über welche die Sonne ein Netzwerk von bläulichen Schattenflecken schaukeln läßt. Aus dem niedrigen, weißgetünchten Torgang weht es einem kühl entgegen. Oben versummt der letzte Glockenton. Drinnen setzt mit einem scharfen Ruck die Orgel ein.

Die Kirche dehnt sich in einem sonnigen Dunst. Querdurch, von den Fenstern schräg über die weißen Kirchstühle hin, legen sich drei breite, sonnige Lichtbalken.

Die Frau Pastor mit ihren sämtlichen Töchtern.

»O bitte! Nach Ihnen!«

――――

»Eins ist not, ach Herr, dies ei-neee …«

Die Schuljungen oben auf dem hellblau gestrichenen Orgelchor schreien aus vollem Halse, daß es einem mit Messerschärfe durch alle Nerven fährt, und dazwischen macht sich der Tenor des Herrn Kantor vernehmbar. Über die Kirchstühle in sanftem, schwebendem Säuseln der Diskant der Gemeinde, hier und da übertönt von einem altväterlichen Tremolo oder einem ungefügen Grundbaß. Bei den Fermaten das Fauchen und Arbeiten der Orgel.

Einen Augenblick stehen wir nebeneinander im Kirchstuhl über all den bunten Hüten und krummen Rücken. Die Damen verrichten sehr andächtig ihr Gebet. Aber ich merke, wie zwei Blicke meine Hände streifen: ein scharfer und ein erschreckter. Ich muß still in mich hineinlachen, lege die Fingerspitzen ineinander und senke den Kopf.

Ein Rauschen, Räuspern und das Blättern der Gesangbücher.

Und nun darf ich mich mit gutem Gewissen umsehen.

――――

Ich habe eine Anwandlung von Ironie, über die ich mich aber sofort ärgere. Und im nächsten Augenblick überschleicht es mich mit hundert heimlichen Erinnerungen, und nun vertraut sich mir das alles mit hundert Heimlichkeiten. Viel Umstände haben sie mit ihrem Gotteshaus nicht gemacht. Ein mäßig großer, weißgetünchter Raum wie eine große Scheune.

Aber Sonne! Sonne! – Von allen Seiten Sonne, Licht und Luft, und über wippendem Laub draußen der blaue Himmel. Von der blättrigen Decke herab hängt an einer langen, gegliederten Eisenstange ein schwarzverstaubter Kronleuchter mitten über den Köpfen der Gemeinde. Unter den Holzbrüstungen der Chöre mit ihrem plumpen Schnitzwerk in Glaskästen vertrocknete Totenkränze mit weißen, moirierten Schleifen; und mit starren, staubigen Falten ein paar vergilbte, gänzlich zerfetzte Fahnen. Hinten, wo der Raum in einen lichtdunstigen Spitzbogen zusammenläuft, steht in ärmlicher Pracht der kleine Altar. Zwischen den beiden Kerzen das schwarze Kruzifix mit dem vergoldeten Christus dran. Ihre stillen Flammen verbleichen in dem grellen Sonnenlicht. Davor die mächtige Bibel, aufgeschlagen, mit leuchtendem Goldschnitt, und dahinter ein gänzlich verdunkeltes Gemälde, das die Kreuzigung darstellt. Nur ein paar Gewänder leuchten noch grellbunt aus dem Dunkel vor, und schwefelgelb in der Mitte die beiden Schächer mit immensem Muskelwerk, und zwischen ihnen der dürre, verrenkte Leib des Erlösers. Ein schwarzes Altartuch reicht mit schmalen Silberfransen bis auf die rissigen, verwaschenen Steinfliesen herab. Oben, in der Nähe des Altars, die hölzerne, graublau gestrichene, ganz schmucklose Kanzel, zu der von beiden Seiten Treppen mit grobgeschnitzten Geländern hinaufführen. Dahinter an den kahlen, weißen Wänden lange, dunkle Gemälde. Verdiente Pfarrherren aus früheren Zeiten. Aus all dem Schwarz leuchten nur ihre roten Gesichter, die Hände, die goldenen Schnallen ihrer Bibeln hervor und vor allem die weißen Beffchen.

Ach! Mir ist zumute wie nach sämtlichen drei großen Festtagen des Jahres auf einmal! Zwischendurch aber ist es mir, als hört ich Rauschgold knittern und als röch ich angebrannte Wachskerzen, Fichtennadeln und buntlackiertes Spielzeug. Als ständ ich zur Christmette mit frostroter Nase oben auf dem Chor, vor mir, auf der Brüstung, in blecherner Tülle das brennende Wachsstöckchen, und jauchzte mit den anderen in den jubelnden Trompetenschall hinein, über all die roten, in einem Lichtglanz von tausend Kerzen strahlenden Gesichter, und als hört ich die Stimme des Pastors: »Freuet euch mit mir, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr in der Stadt Davids!«

Wie zutraulich nah einem das alles ist!

Was man für eine wunderliche Wegstrecke zurückgelegt hat von da bis hierher!…

――――

Die Orgel lärmt ein frohlockendes Nachspiel herunter. Ein allgemeines Räuspern, Rauschen, Husten und Scharren. Die letzten Strophen hindurch hatte sich der Gesang eben noch so hingeschleppt, unter allerlei Püffen oben vom Orgelchor her.

Man erhebt sich.

Vorn steht schon der Herr Pastor mitten vor dem Altar, und über dem Goldschnitt seiner Bibel wölbt sich seine breite Brust. Schön von der Sonne beleuchtet sein rotwangiger Lutherkopf, die sauberen weißen Beffchen unter dem runden Unterkinn. Mit altgewohntem, zuverlässigem Pathos verliest er die Liturgie. Die Gemeinde und oben die Jungens antworten prompt nach jedem Satze, wenn sich seine runden, weißen Hände mit dem Buche senken und seine kleinen Augen mit dem unerschütterlichen Blick des Gottesmannes sich zum Chor erheben.

Ein Zwitschern. Hell und fein geben es die Wände wieder. Ein Rotkehlchen, das sich hinten durch die offene Tür hereinverirrt hat und nun ängstlich an den sonnigen Fenstern hinflattert: erschreckt von dem Gesang und dem Orgellärm. In langen, ängstlichen Kreisen zirpt es jetzt um den Altar, und nun setzt es sich ermattet auf die vergoldete, blitzende Dornenkrone des Heilandes, mitten über dem ernsten, gesunden Antlitz des Herrn Pastor.

Gestern abend hab ich ihm drüben einen Besuch gemacht. Er wohnt in einem großen, gelben Hause neben der Kirche mitten im Grünen. Weit im Kreise überblickt man die ganze Landschaft. Er hat mir seinen Obst- und Gemüsegarten gezeigt, seine Blumenbeete und seinen Hühnerhof mit dem großen, schattigen Nußbaum in der Mitte. In einem leeren, gefegten Ziegenstall hatten sich seine drei Jüngsten eine gute Stube eingerichtet. Die Öffnung über der Halbtür war mit einem alten Gardinenfetzen verhängt. Die Puppen und zwei zahme, weiße Hühner waren die Kinder. Nachher haben wir oben in der Pfeifenkrautlaube dicht an der Mauer bei Zigarren und Kaffee um die schlimmen, gottvergessenen Zeiten und die Nuditäten auf der Schloßbrücke zu Berlin herumgeplaudert. Die Sonne glitzerte in den weißen Tassen, auf der Zinnkanne und in dem braunen Trank, und der Rauch unserer Zigarren zog sich schräg in die Landschaft hinein … Ein schöner, stiller, sonniger Winkel!

»Heilig! Heilig! Heilig ist der Herr Gott Ze-ba-oth!
Alle Lande, alle Lande, alle Lan-deee
Sind seiner Ehre voll!«

Oben schreien jetzt wieder die Jungens, und die ganze Gemeinde stimmt jauchzend ein, denn nun braucht man nicht mehr zu stehen, und es kommt die Predigt.

Das Rotkehlchen hat sich wieder aufgemacht und schwirrt verzweifelt an einem der Fenster auf und nieder.

Der Herr Kantor läßt den Jubel der Heerscharen sich noch ein paar Takte hindurch ausjauchzen, so daß man hinreichend Zeit findet, sich zurechtzusetzen, zu schneuzen, die Brillen zu rücken und das Zwischenlied aufzuschlagen, und dann lenkt er mit einem gewandten Schnörkel zu der neuen Melodie über. Drei Strophen, und nun steht der Herr Pastor wieder oben auf der Kanzel.

――――

Stehend wird der Text angehört und nun: »Im Herrn Geliebte!« …

Neben mir, ganz allein auf einer weißen Seitenbank unter dem Seitenchor, sitzt Kramers Knecht im bläulichen Halbschatten. Er sitzt vornübergebeugt mit seinem breiten, von der schweren Wochenarbeit niedergezwängten Rücken.

Zwischen den knorrigen, rotbraunen Fingern hält er das dicke, altfränkische Gesangbuch andächtig vor sich auf den dicken, knochigen Knien. Aus der schwarzen Halsbinde heraus sein braunes, verrunzeltes, frisch rasiertes Gesicht, blau angelaufen um das Kinn herum, ein schwarzes Stück Schwamm auf die Backe geklebt, weil der Barbier ihn geschnitten hat. Seine strohblonden, graumelierten Haare sind mit Wasser glatt an den kleinen Spitzkopf angekämmt, in die niedrige Stirn hinein und an den Seiten, hinter den abstehenden, großen, biederen Ohren vor, über die Schläfe hinweg. Aus dem breiten, runzligen Munde blinken die Zähne hervor. Seine kleinen, wasserblauen Augen starren, unter den dicken, hellblonden Brauen vor, zu dem Pastor hinauf. Jetzt blinken seine weißen Wimpern, der Kopf nickt. Die Lider werden schwerer und schwerer. Jetzt fallen sie zu. Er ist eingeschlafen.

Oben erzählt der Herr Pastor von Maria und Martha, die andachtbeflissen zu des Herrn Füßen saßen. Sein schöner, ruhiger Baß tönt in schmeichelnden Perioden über die Gemeinde hin. Warm und goldig liegt die Sonne zwischen den stillen Kirchstühlen. Meine Frau Wirtin hat ihr rundes Gesicht seitwärts geneigt und schnauft leise durch die Nase. Die Frau Amtmann, das Fräulein vom Gute: eins nach dem anderen riskiert sein Nickerchen; einen nach dem andern um mich her wiegt das gute Gotteswort in wohlverdienten Schlummer.

――――

»Amen!«

Der Herr Pastor schneuzt sich vernehmbar. Dreimal hintereinander.

Über die Kirchstühle hin geht ein Rauschen. Und nun: »Es hat dem Herrn über Leben und Tod gefallen, die Frau Rosine, Marie, Susanne Küntzel im 56. Jahre ihres Alters hinwegzurufen aus diesem Jammertal« usw. Ein stummes Gebet. Der Segen über die stehende Gemeinde hin: »Der Herr segne euch und behüte euch! Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über euch und gebe euch seinen Frieden! Amen!« – Amen! Amen! Amen!… Das Kirchengebet. Der letzte Vers. Und nun strömt es hinaus in den warmen, sonnigen Mittag …

Zu Hause gibt es ein Süppchen »Hören Sie?«, den pp. Sonntagsbraten, ein deliziöses Kompott von frischen Kirschen, und zu allem ein goldiges, sanftmütiges Moselweinchen …

Helle Nacht

Ich lieg und liege und kann keinen Schlaf finden und mag keinen finden.

Weit steht vor mir das Fenster offen, und die klare Nacht duftet herein.

Das ganze Zimmer: so hell, so hell! Ein übernatürlich helles Zwielicht. Es hält mir die Lider weit auseinander. Ich liege ganz still. Kaum hab ich ein Gefühl von meinem Körper.

Mir ist, als säh ich alles tief, tief in mich hinein; als säh ich in alles, alles tief hinein.

Wie hingenommen bin ich in eine Offenbarung und wüßte doch nichts zu sagen, nichts zu nennen. Aber es quält mich nicht. Mir ist, als ob ich alles wüßte.

Immer bin ich doch noch der alte Träumer. Wie ein Nachtwandler zwischen Schlaf und Wachen, den es zu den Höhen zieht, zu den Gestirnen. Mir ist, als verliefe mein Empfinden mit tausend Fäden in unerkennbaren Zusammenhängen, ein seliges Verwebtsein mit allem.

Die Welt so vor sich hinzuträumen …

――――

Wie eigen mir nur ist! –

Der viele, viele Sonnenschein den ganzen Tag über; das Tollen, Lachen und Jauchzen, die weiten, hellen Wiesen und kühlen Schatten; die weißen Wölkchen am blauen Himmel hingeflockt; am Abend der Mond hoch oben am weiten Himmel, der seine weißen Lichter auf die stillen Wege legte; der endlose Abschied am Gartentor, bis sie dann aus meinen Armen war und weiß in den dunklen Hausflur hinein; und dann der Heimweg: ihre Wärme noch an meiner Brust, an meinem Halse, an meinem Gesicht, all die selbstvergessene Lust: ich muß es wohl noch im Blute haben …

Das muß es wohl sein.

Weit drüben, dort über der schwarzen Linde, die den mondhellen Dachfirst überragt, im silbergrünen Nachthimmel flimmert ein Sternchen.

Ihr Haus …

――――

Vanitas! Vanitatum vanitas!

Leise, leise klingt es in mein Ohr, anklagend, der Schmerzensruf vieler Tausende, meiner selbst. Aber fernher, ganz von fern. Verzitternd in dem milden, lichten Frieden. Ich muß lächeln in meinem großen Glück, daß mir diese Tage beschieden sind und diese Nächte.

Vanitas! Vanitatum vanitas!

Ich muß lächeln, daß ich es so gar nicht verstehe, daß es mir ist wie ein fremder, leerer Klang; und wie lange ist’s her, da rief ich’s selbst in meiner Bedrängnis!

Alles hin. Alles vergessen.

Vergessen? Könnt ich dann staunen in diesem ernsten Glück, staunen wie über etwas Unermeßliches, Unbegreifliches? Nein, auch der Akkord mischt sich hinein in mein Träumen.

Nicht vergessen: überwunden …

Das ganze Leben ein quälendes Suchen und seliges Finden solcher Augenblicke. Die Welt ist so groß und weit und tief, so unergründbar tief, und doch darf der Tag sie einem verdunkeln …

――――

Das schlummernde Dorf da draußen.

So ärmlich, niedrig, gemein alles, wenn es der Tag ins Helle bringt. Die staubigen Wege, die rissigen, wetterverwaschenen Lehmmauern der Katen und Ställe; die Menschen: häßlich, schmutzig in ihrem groben Arbeitskleid, niedergedrückt von der Last ihrer Arbeit; die hundert Laute emsigen Lebens; aufdringlich, wirr, verwirrend alles in seiner dürftigen Enge. Und nun weitet sich’s in großen, ruhigen Linien so wunderlich in die atmende Nacht hinein …

Wie es rauscht durch die lichte Stille und rauscht und rauscht!

Als hörte man die goldenen Welten da oben auf ihren einsamen Bahnen durch die eisige Unendlichkeit des Raumes mit der Pracht und dem Grauen ungeahnter Tage und Nächte, mit den unerhörten Wundern all ihres Lebens, mit der grausigen Öde ihres Todes.

Und hier, unter mir, mit ihnen die Erde mit all ihren geschauten und doch ebenso unergründlichen Wundern.

Und dort, unter den niedrigen, mondhellen Dächern, spinnt sich das Leben weiter. Da ringt es, Raum gebend, mit Todesschauern; da müht es sich mit seinen großen und kleinen Sorgen; da schlummern die, die sich gerecht und ungerecht, gut und böse, gemein und edel, arm und reich, schön und häßlich nennen und alle doch unter dem Zwange unerforschter Gesetze stehen, da schlummern sie, die Schönheit des gleichen Friedens auf ihren Gesichtern. Da wächst es aus heimlichen Umarmungen auf zu unbekannten Schicksalen …

――――

Weiter! Hin über das mondlichte Feld.

Die weiten Ährenwogen nicken und knistern unter der Last ihrer Reife und verschwimmen in den Lichtglast hinein. Aus der braunen Erde falten sich Pflanzen und Kräuter mit stiller, wohliger Kraft hinauf, hinauf in das Licht, in die Luft. Nächtliches Getier geht auf seinen verborgenen Pfaden in Furchen und Feldern, über Wiesen, durch wispernde Sträucher, über dämmernde Wege, oder ruht im Frieden schwarzer Schlüfte. Und die einsamen Hügel draußen im Land: nur der lichte Himmel weit drüber hin, und der Nachtwind frisch über die Gräserchen und Blümchen, und aus dem Tal herauf rastlos das Rauschen der Mühlen. Die Wiesen, mit wallenden weißen Nebeln drüber und flinkerndem Tau. Die glitzernden Wässerchen rieseln hindurch zu den Bächen, zu den Flüssen, den Strömen, weiter, weiter in ferne, endlose, monddämmernde Meere. – Durch die Nacht der Wälder das Brausen unzähliger Wipfel und hundert heimliche Laute. Oben auf den ragenden Kronen der weiße Glanz, zwischen Ästen und Zweigen, am bebenden Laub, an den alten Stämmen hinspielend, nieder auf Gräser und taufunkelnde Blumen.

Hin über Länder und Meere, über Gefilde, Weiler und Dörfer, Städte, Seen und Berge. Hin über die weite Erde bis zu all den Tiefen und Höhen, die noch kein Mensch erreichte, die viel zu gewaltig sind für unser armes Gehirn, vor denen selbst unsere Träume zurückschrecken …

――――

Flaches Land im Monddunst.

Soweit man blicken kann, am Horizont hin mächtige Häusermassen in bläulichem Dämmer, wie ein Gebirge breit in den Himmel hinein. Häuser, Häuser und Häuser. Und es wächst und wächst und dehnt sich weiter und immer weiter, beängstigend weit in das Land hinein. Oben drüberhin ein roter Lichtdunst, der sich im breiten Halbkreis schmutzig und trüb in die sternfunkelnde Klarheit dehnt.

Hier gibt es keine Nacht. Nimmermüde rauscht hier das Leben durch die breiten, hellen Straßen. Millionen und aber Millionen rastloser Kräfte: hier kreuzen sie sich in tausend und aber tausend Verfeinerungen.

Das Elend der Vorstädte. Lange, endlos lange Straßen mit schnurgeraden, öden Fassaden, wie Mauern glatt und grau. Unzählige Fensterlöcher, viele rot die ganze Nacht hindurch. Wie viel Jammer, Verzweiflung, Elend, Müdigkeit, Erniedrigung dahinter! Wie viel Zukunft! Rächende Zukunft, großgezogen in Träumen und Hoffnungen, bis der Tag kommen wird, an dem aus unsäglichen Greueln eine neue Welt sich erhebt. Eine neue Welt!…

Immer sicherer gestaltet sie sich heraus aus unseren Wünschen, aus unseren Visionen, aus unseren unabweislichen Bedürfnissen.

Und wir? Wir sind die Verkündiger und Hindeuter. Das ist unser unausweichbares Schicksal! Verkündiger und Hindeuter, wenn wir den Todeskampf absterbender Generationen in uns erleben; deren Schuld ihre Schwäche ist, ihre Müdigkeit, ihre tausend Raffinements; Verkündiger und Hindeuter, wenn es in uns lebendig wird von Ahnungen der Zukunft …

Müde, leidend, hoffend, ahnend und besitzend arbeiten wir alle an der Zukunft und – sind Zukunft …

――――

Du schöne, freudige Welt der Zukunft! Daß ich an dir nicht zu verzweifeln brauche! Daß meine Seele kräftig und gesund ist, dich zu hoffen, dich zu ahnen, durch die Greuel hindurch, aus denen du erstehen wirst!

Du schöne, freudige Welt! Ein neues, adliges und selbstsicheres Geschlecht, das sich verwandt fühlt über die Erde hin, soweit Menschen leben! Das keine Kaste, kein Rassenhaß, keine Religion trennt! Das Taten, Erkenntnisse, Empfindungen kennt, nie geahnt!… Und dann?… Und dann?… Wieder neue Taten, Erkenntnisse, Empfindungen?… Und so fort bis zu unerforschlichen Vollendungen?…

Sterben und Werden! Ewig! – Das ist alles! – Mehr ergründet kein Verstand. Doch unser Empfinden durchbebt es mit wunderbaren Schauern vor den unergründlichen Mächten …

――――

Ich liege und liege und kann keinen Schlaf finden und mag keinen finden. Eine Stunde nach der anderen geht vorbei, vorbei.

Ein frischer Luftzug rührt das Laub draußen und bebt in den Gardinen. Allmählich, leise wechselt das Licht. Und nun liegt es wie ein verlorenes Frühdämmern drüben über den Bäumen, auf dem Tisch vorm Fenster, an den Wänden hin. Oben verbleichen die Sterne am klaren Himmel. Von den Höfen her krähen die Hähne, und unten im Garten zwitschern die Stare ins Morgengrauen.

Ich hör alles wie in einem schwindenden Traum. Und nun deutlicher, bestimmter, wie es rings um mich her erwacht in den hellen, aufsteigenden Morgen hinein. Und die frohe, kräftige Sicherheit des Tages kommt über mich. Eine süße Müdigkeit drückt mir die Augenlider. Noch ein paar Stunden Schlaf; dann wird mir mein Frühstück schmecken, und dann werd ich mich draußen der lieben Sonne freuen, offen den Freuden und Leiden des Tages, geschickt beide zu ertragen; und Stunden werden kommen, Stunden, da sie mir beide gering sind …

Dämmerstunde

Dieses Nest und immer wieder nur dieses Nest! Jawohl!… Denn dieses Nest ist die Welt, ist alles in allem; ebensogut wie euer Berlin da oder sonst ein Erdenfleck!

Herrgott! War ich denn wirklich so naiv? Glaubte ich, es gäbe hier nur Blumen, Berge, Getreidefelder und Wiesenwässerchen? Ich könnt es mir hier im Grün und in der Sonne wohl sein lassen? Mich »erholen« und – nur erholen?

Da lag ich und wußte besser Bescheid.

Aber es gab mich doch endlich ein wenig frei, das Entsetzliche, Abscheuliche, das ich heute erleben mußte. Endlich! – Bis hierher hatte es mich verfolgt, in diese stille Dämmerstunde.

Wie wohltuend, wie beruhigend alles um mich her.

Die Abendschatten wachsen. Dunkler und dunkler. An den Wänden schieben sie sich in die Höhe, oben über die Zimmerdecke und unten über die weißen Dielen. Verstohlene Lichter spielen wunderlich hinein.

Eine Lehne glänzt aus dem Dunkel auf. Goldig schimmert ein Stück Bilderrahmen. Die Gardinenkanten werden wunderliche Gesichter, die sich dehnen und zusammenziehen. Aus Licht und Schatten wird um Schrank, Tisch und Stühle, überall um mich her, ein stillgeheimes Leben wach.

In zarten, opalfarbenen Ringen windet sich der Rauch meiner Zigarette hier vom Sofa durch die stille Dämmerung gegen das offene Fenster hin. Auf dem Tisch davor knistert und wispert es in den Papieren.

Müd verebbt das Leben um mich her in die stille Nacht hinein.

Ein fernes Hundegebell. Ein paar verzitternde Glockenklänge. Ein Ruf. Eine Fledermaus, die schwarz am Fenster vorüberhuscht mit zittrigem, weichem Flug. Ein Nachtschmetterling, der gegen die Scheibe purrt. Ein Vogelruf. Das leise, leise Rauschen unten vom Garten her. Ein verloren hergewehter Blumenduft. Zwei Sternchen, silbern aufflimmernd in dem zartlila Stück Himmel, stet und still, oben zwischen den Gardinen.

Und die köstliche, atmende Kühle …

Und die Schatten wachsen und wachsen. Und der Mond und die Sterne leuchten herein mit dem stillen Abglanz unbekannter Welten …

»O Trost der Welt, du stille Nacht!«

――――

Jetzt konnt ich’s auch ertragen, wieder daran zu denken. Es war mir nun wie traumhaft.

Gegen vier Uhr am Nachmittag war es gewesen, als es draußen Lärm gab. Wie ich hinaussehe, wälzt sich schreiend und gestikulierend ein Knäuel Menschen die Gasse herab. Vorweg wackelt neben dem Schulzen, der ein sehr verlegenes und ärgerliches Gesicht aufgesteckt hat, der alte Walleyser, der Dorfpolizist, in seiner verschossenen grünen Uniform, das Gewehr über die Schulter gehängt, mit seiner großen Schirmmütze und seinem gemütlichen dicken Bauch. Die hohe Obrigkeit sollte wohl wieder mal Rat schaffen …

Schnaufend stolpert er vorwärts mit seinen kurzen Beinchen, umdrängt von der aufgeregten Menschenmasse, ganz verwirrt von den vielen Armen, die vor seiner friedlichen Schnapsnase umherfuchteln.

Und so quetschte sich der ganze Knäuel, bunt und wirr, nebenan zwischen den grellweiß gestrichenen Türpfosten durch in den Hof des Kossäten. Der Schweif Kinder hinterher, barfüßig und strubbelköpfig, blieb draußen und umlungerte die Tür.

Ich warf schnell meine Feder zwischen die Papiere, griff nach meinem Hut und machte mich hinüber … Nun! Auch aus Neugier …

――――

Wie ich auf dem Hof ankam, drängte sich alles mit vorgerecktem Hals, dicht neben der Tür zum Wohnhaus, im Halbkreis um etwas herum. Bunte Weiberröcke; schmutzige, erdfarbene Mannskleider; Hemdärmel, blendend weiß in der Sonne; zerfurchte, bronzebraun gebrannte, knochige, breite Gesichter; geballte Fäuste und ausgereckte braune Arme; Geschrei, Heulen, Fluchen, Drohen, Schimpfen und Zetern.

Ich zwängte mich durch bis in die vorderste Reihe, halb betäubt von dem Lärm, wie sie erklärend auf mich einschrien und losgestikulierten, halb erstickt von dem Schweißgeruch so vieler Menschen in der glühend heißen, drückenden Prallsonne.

Und da sah ich’s denn, das Furchtbare, Scheußliche, über alle Beschreibung Entsetzliche …

Dicht neben der Tür auf einer sauber gescheuerten Wassereimerbank lehnte ein Wesen gegen die gelbgestrichene Hauswand, ein Wesen … O Herr mein Gott! Dieses mit fahlgelber, dreckstarrender Haut und stinkenden Lumpen umschlotterte Scheusal war nun ein Mensch, ein menschliches Wesen! – Im Schädel – ein mit Haut überzogener Totenschädel – tief in den dunklen, runzligen Höhlen ein Paar rote, triefende, gegen die Hundstagssonne zwinkernde Augenritzen. Ein tief eingesunkenes, zahnloses Maul. Auf dem halbkahlen Kopfe, der über und über von dickem Schmutz und schuppigem, blutigem Schorf starrt, ein paar weiße Haarsträhnen in die Stirn mit den tief eingesunkenen Schläfen. In den Kleidfetzen dicker Stallmist und fauliges Stroh. Der eine Ärmel ist ganz herausgerissen, so daß der runzlige, stockdürre Arm bloßliegt. Unten vor, kraftlos baumelnd, ein Paar entsetzlich abgemagerte, nackte, verkrüppelte Füße. Und das alles hell und grell in der erbarmungslosen Sonne, so daß sich jede Einzelheit aufdrängt …

Ich erfuhr: Das arme Wesen war die Mutter des Kossäten. Es war bekannt, daß es die arme Frau schlecht hatte. Sie war zu zäh und war doch, kindisch und blöde in ihrem hohen Alter, zu nichts mehr zu gebrauchen, überall im Wege. Sie wollte nicht früh genug sterben. Und sie hatte sich doch ihr ganzes mühseliges Leben hindurch gehörig abplagen müssen und Ruhe reichlich verdient, ein bißchen Ausruhen in ihrem Alter …

Seit langem hatte sie niemand mehr zu sehen bekommen. Das war weiter nicht aufgefallen, denn die paar Leute, die hier ein und aus gingen, hatten keine Zeit, sich nach ihr zu erkundigen, und auch kein Interesse.

Da hatten aber vor kurzem eine Magd und ein Knecht im Nachbargarten, wo sie sich gegen die Nacht hin Stelldichein gaben, plötzlich ein merkwürdiges, unerklärliches Winseln und Wimmern gehört. Immer wieder und wieder. Mehrere Abende hintereinander.

Zuerst hatten welche gemeint, es »spuke«, weil es mit dem alten Gehöft sowieso nicht »seine Richtigkeit« hatte. Aber schließlich waren doch Nachforschungen angestellt worden, und da hatten sie das arme Wesen in seinem dumpfen Kellerloch entdeckt.

Und nun lag es da in der hellen Sonne …

Ich beobachtete den Kossäten und seine Frau. Er, leichenblaß bis unter die schwarzen Haare, mit breiten zuckenden Kinnladen und trotzigen kleinen Augen, die unstet hin und wider gingen; die wulstigen Lippen fest zusammengepreßt. Ab und zu zuckte er mit dem Kopf zurück, wenn ihm eine Faust zu nah gegen das Gesicht fuhr. – Sie, eine große, knochige Person, breitschultrig und breithüftig, ein wahres Arbeitstier, strotzend von Gesundheit und Kraft. Sie stierte mit vor Angst dummen quellenden Augen hin und her, bewegte lautlos die Lippen und zitterte über den ganzen Körper. Hin und wieder machte sie eine schützende Bewegung gegen ihren Mann hin, wenn die Leute zu nahe gegen ihn andrängten.

In der Haustür die Kinder. Ein halberwachsener Junge und ein Mädchen in stummer, erstarrter Angst, und auf der sonnigen Türschwelle saß mit ausgespreizten, nackten Beinchen im roten Röckchen ein pausbackiges Krausköpfchen, ein Dreijähriger, der aus vollem Halse in den Lärm hineinschrie. Hinten, aus der Hoftorecke her, zu all dem Aufruhr das wütende, heisere Gekläff des Hofköters, der wie rasend an seiner Kette hin und her sprang.

Es überlief mich. Zwischen den Kindern durch flüchtete ich mich über die stille, heiße Gasse hierher in mein Stübchen.

――――

Ja, und da lag ich nun: betäubt, verwirrt, wieder einmal ratlos erschauernd vor den »dunklen Abgründen menschlichen Leidens und Lebens« … Wieder einmal lastete es auf mir, bleischwer mit Mißmut, Ekel und Verzweiflung, und zwischen meinen hämmernden Schläfen brannte die alte, böse Frage »Wozu?« Wie heißt es doch? »Ein Narr wartet auf Antwort« …

Schön! Aber vor allem: Was nun?

Soll ich mich abwenden – so stellt sich für mich als Künstler die Frage – mich abwenden und mich in irgendein Idyllchen flüchten, das ich dem Leben abdestilliere aus Mondschein, Fliederduft und Gelbveigeleinliebe, und zeigen, wie »schön trotz alledem« die Welt ist und wieviel des »Erhebenden« sie »immerhin so nebenbei« noch biete? Daß auch das Wirklichkeit ist?

Soll ich mir mühsam zu eigener und fremder »Beruhigung« eine superkluge Erklärung zurechtspintisieren aus rätselhafter Verkettung von »Schuld« und »Sühne« und an eine »wohlweise Weltordnung« verweisen?

Soll ich mit Schwarz und Blut ein »soziales Nachtstück« zusammenbrauen, eine »moralische Forderung« draufetikettieren und einen pathetisch optimistischen Appell an die besser zu unterrichtende Menschheit erheben?

Ach ja!

Vor allen Dingen indessen eine frische Zigarette.

――――

Ja! Und da fiel mir auf einmal in meiner stummen Not ein alter Freund ein, der mir immer sehr merkwürdig gewesen war.

Er war ein sehr sonderbares Menschenkind in Anbetracht dieser Zeitläufte.

Er gehörte mit zu unserem Kreis.

Warum hatten wir ihn eigentlich in unsere Bekanntschaft hineingezogen? Ja, warum? Es war uns allen später eine Zeitlang ein psychologisches Problem gewesen.

Wir unsrerseits nämlich waren damals sehr, sehr klug. Wir hatten die Welt erkannt. Wir hatten einen Zukunftsstaat erbaut, gründlich überall aufgeräumt, sogar die Frauenfrage gelöst, na usw. Man weiß ja!

Ja! Und die schönen Exempel waren alle glatt und ohne Rest aufgegangen. Wunderbar hatte alles geklappt …

Später kamen wir allerdings dahinter, daß es mit alledem doch noch so seine eigene Bewandtnis hatte, und nun staken wir, wie sich das heutzutage gehört, gründlich in allen möglichen Sackgassen und suchten uns mit Stoizismus, Ironie, Zynismus und anderen schönen Dingen leidlich durchzuschlagen …

Und er nun: er war so wunderbar – wie soll ich nur sagen? – dumm?

Aber nein; dazu besaß er zuviel Mutterwitz. Nein! Nur ein bißchen »zurückgeblieben«, ein bißchen »altmodisch«. Aber im ganzen ein so prächtiger Kerl, urteilten wir. Bestimmt ließe sich aus dem was machen. Zwar, es würde ein Stück Arbeit kosten, denn von den heutigen Zeitläuften hatte er kaum eine dunkle Ahnung, und von unserem dekadenzierten Stadium war er nun gar noch himmelweit entfernt.

Nein! Er war uns wirklich ein Rätsel! Wie kam es nur, daß er uns – anzog? Daß er uns so interessierte? Am Ende war es sein unverwüstlicher, leichter Sinn, seine überschäumende Fröhlichkeit oft? Eine Fröhlichkeit, so recht aus einem freien Herzen heraus?

Ja, das vielleicht. Denn diese Fröhlichkeit war uns allen ein Rätsel.

Und nun zertrümmerten wir ihm seine Ideale. Mit einer wahren Wollust. Es zog uns förmlich dazu. Wer weiß, was?… Keine Ruhe ließen wir ihm. Wir wollten ihn »aufrütteln«, zum »Bewußtsein seiner Lage« bringen, ihn zu einem »lebendigen Menschen« machen; lebendig: so nach unsrer Fasson.

Und er schloß sich uns an. Mit einer innigen Wißbegier. Er las unsere Lektüre. Er nahm auf, rastlos. Er war einer der unseren, gab uns recht. Er hatte eine ungeheure Hochachtung vor uns und unsrer Klugheit …

Ja, und das war eigentlich das Endresultat unsrer Bemühungen, diese Hochachtung …

Und auf einmal kam es uns zur Klarheit, daß das doch ein recht spärliches Endresultat sei. Wir waren verblüfft. Denn wir merkten – vielleicht besser als er – was dahinterstak, daß er sich nämlich in unsrer Welt nicht wohlfühlte. Nun, das ging uns ja aber eigentlich auch so. Aber, aber … Ja! Er war schweigsam, still, gedrückt. Er hielt sich einsam.

Immerhin, das konnte ein Übergangsstadium sein. Es blieb am Ende noch abzuwarten, was dabei herauskam.

Aber, nein! Es kam nichts heraus. Nicht ein bißchen Ironie, nicht ein bißchen Zynismus der Welt gegenüber; kein »Mark«, keine »Männlichkeit«.

Wir waren nun wirklich ärgerlich, sehr ärgerlich. Er war einfach zu dumm. Wir hatten uns eben in ihm getäuscht.

Eine Zeitlang gönnten wir ihm noch ein nachsichtiges, lächelndes Mitleid, wie einem Kinde. Dann aber fing er an, uns mit seinem Schweigen seltsam zu bedrücken. Nun, und schließlich »überließen« wir ihn einfach »seinem Schicksale«. –

Später indessen lernte ich ihn verstehen, und da hatte ich im weiteren Verkehr mit ihm die Empfindung, daß er uns vollkommen verstanden und uns mit unserem Ideenkrimskrams still so in Bausch und Bogen in sich verarbeitet hatte.

Er war ganz umgewandelt, und doch der alte, dasselbe große Kind.

So war es mit ihm. Er war überhaupt nicht totzukriegen. Das Leben mochte sich alle mögliche Mühe geben, sich bei ihm in Mißkredit zu bringen: es gelang ihm nicht. Er war wie … wie Gras war er. Man mag allen möglichen Schutt, Müll, Scherben und Steine draufschütten: es dauert nicht lange, so bricht es mit tausend fröhlichen Keimen ins Freie, wo die Schmetterlinge spielen, der Himmel lacht und die liebe Sonne scheint. Geradeso unverwüstlich war er auch …

Immer wieder und wieder, soviel er auch erfaßte und in sich aufnahm, und was er auch kennen lernte: immer wieder brach ein vertrauendes, erschauerndes Erstaunen vor der Welt bei ihm durch, der großen, herrlichen Welt, die man nie auskennt, nie!… Das war kennzeichnend für ihn. Er war der Welt gegenüber immer wie ein Kind, mit einer unverwüstlichen Lebensfreudigkeit, einem unverwüstlichen Respekt vor dem Leben. Er maß nicht nach Gut und Böse, Schön und Häßlich. Er maß das Leben überhaupt nicht: er lebte es.

Er erfaßte alles und durchdrang alles mit einem warmen, lebendigen, starken Gefühl. Diese Gefühlskraft war wie ein frischer Lebenssaft in ihm, der ihn geistig immer wieder ausheilte …

――――

Und wie ich ihn mir so recht vorstellte, da wurde es mir mit einem Mal wohler zumut. Ich merkte auf einmal: alles das, was ich heute erlebt hatte, war ja nicht bloß der eine Mißton, den ich zuerst vernahm, sondern ein wunderbares Zusammenklingen von unendlich vielen Tönen, die hinüber verlaufen ins Unendliche, in das große Unbekannte, das, wenn man es in sein Fühlen aufnimmt, Lust und Leid beruhigend zusammenrinnen läßt in ein wundersames, erschauerndes Erstaunen …

Meine Nerven, die es möglichst bequem haben wollten und mußten, hatten sich wieder mal chokiert gefühlt, das war im Grunde alles …

Ach du, mein lieber Junge! – Wir sind so geistreich heutzutage!… Ja, entsetzlich! – Aber mit der Galle, mit unserem dicken Blute, unseren zimperlichen Nerven.

Wir wollen das Leben unter allerlei prätentiöse, philanthropische, psychologische und was weiß ich noch alles für Maßstäbe zwängen, wir »Künstler von heute«, und wir kriegen doch nicht einen Millimeter darunter, ohne daß es nach beiden Seiten weit überragt.

Wir tun uns was zugute, wenn wir ein Stück Leben zu irgendeinem Rechenexempel sophistisch spitzfindig verzwickt haben.

Wir schreien über »blöde Nachahmung«, wenn nicht geistreich aus- und untergedeutelt wird, wenn das quellende Leben nicht mit irgendwelchen »Fragen« malträtiert wird, sondern wenn einer sich begnügt, sein lebendiges Herz hinzuhalten und die tausend und aber tausend Stimmen, die das winzigste Stück Leben redet, widertönen zu lassen ohne weitere Neunmalklugheit und sonstiges Brimborium; wenn einer der »schweren Not der Zeit« gegenüber sich einen gottlos himmlischen Leichtsinn bewahrt hat.

Und doch, wer doch so wäre wie du! Wer doch heute so sein könnte! Einfältig wie ein Kind und mitfühlend doch alles wissen, verstehen und widertönen lassen, von Herz zu Herzen reden könnte, wie du das konntest!…

Zwischen Papieren

Ein Gewitter, das sich während der Nacht um unseren Talkessel herum austobte, hat sich in einen Regen aufgelöst. Seit frühem Morgen schon raschelt er ununterbrochen in langen Fäden vom sackgrauen Himmel herunter und läßt mich nicht aus dem Zimmer.

Ich sitze an meinem Schreibtisch und höre auf die stille, behagliche Musik draußen: das Rascheln der Blätter, das Plätschern der kleinen Gießbäche an beiden Seiten des Fahrwegs die Gasse hinunter in trüben, milchkaffeefarbenen Wirbeln. Dazwischen das Geschrei der Jungens, die sich, die Hosen bis zu den Hüften hinaufgekrempelt, in den breiten Lachen und Pfützen verlustieren, auf denen Hunderte von Blasen aufhüpfen und wieder verschwinden. Der Pudel meiner Wirtin hat sich neben mir auf dem Teppich zusammengekuschelt und schnarcht leise, und von der Wand her tackt die Uhr. Ich freue mich meiner Filzsocken, meines Hausrockes und meines Nasenwärmers.

Lang reck ich die Beine unterm Tisch und gähne, weißt du, so in einer angenehmen Lässigkeit, in behaglicher Langenweile.

Was nun gleich anfangen?

――――

Vielleicht schreiben? Wieder einmal irgend etwas schreiben? Ich ziehe mir ein Bündel Manuskripte vor, knote das bunte Fädchen drumherum auf und fange an zu suchen.

Vielleicht dies oder jenes Angefangene weiterführen, zu Ende bringen? Aber cui bono? –

Der Wahlspruch eines Freundes fällt mir ein, auch so eines glückseligen Faulpelzes, wie ich jetzt einer bin.

Cui bono? Daß Gewisse dann nachher wieder einmal Gelegenheit zu einer heilsamen Lungengymnastik bekommen?

Oder mir etwa zulieb? – Nein! – Ich find es wirklich gedeihlicher, in dieser friedsam eingezäunten Welt runde Backen zu bekommen. Man muß doch auch für den Winter wieder etwas zuzusetzen haben!

Es macht mir aber doch Lust, so in dem papierenen Kram umherzublättern. Was liest man nicht alles zwischen den Zeilen! Aus dem Sicheren heraus einem da so zuzuschauen, wie er sich müht und abquält, mir selbst.

Schreiben! Cui bono? – Ja, du prächtiger, gescheiter alter Junge, der du so ein unübertrefflicher Lebenskünstler bist: bei einem guten Essen, bei einem klugen Weibe, auf deiner Chaiselongue unterm japanischen Schirm mitten zwischen allerlei lustigem Krimskrams bei einem vernünftigen Buch oder einer träumerischen Zigarre oder in unserem vertraulichen Kreise.

Cui bono? Die schöne Welt auf ein paar schändlichen Papierwischen schamlos zu verhunzen? Neunmal hast du recht! Ein Unsinn ist’s, ein Fieber, ein Wahnsinn! Ich begreife mich selbst nicht …

――――

Wie unschuldig sie dastehen, die perlenden, glatten Sätze in ihrer sauberen, reinlichen Schwärze! Als wäre nichts gewesen, gar nichts gewesen! Als wären sie das leichte, müßige Spiel müßiger Stunden!

Ach, ich kenne ihre Geschichte, die Geschichte jeden Satzes, jeden Wortes!

Mit welch neunmalverfluchtem, töricht vergossenem Schweiß sind diese paar lumpigen Zeilen da erkauft! Wie viel Anläufe, wie viel saueres Ringen, wie viel Verzweiflung und Entmutigung! Wie viel fiebernde, wilde Freude! Und wer dankt einem das alles? Wunderlicher Wahnsinn!…

Wie viel Wonnen! So schmerzlich in ihrer Überfülle! Wenn ich ein Stück Leben endlich gefaßt hatte, wenn ich es selbst war und schrieb und schrieb, bis ich am Abend zusammenbrach wie ein übermüdetes Lasttier. Wenn es mir nachts den Schlaf raubte, mit bunten Träumen, mit lebendigen Gesichten, bis der erste Morgen rot über den grauen Mietkasernen aufdämmerte!…

Wie viel Ermattungen! Zeiten, wo es bei vergeblichen Anläufen mich durchfuhr: du kannst nichts mehr, bist tot, abgeschmackter als der fadeste Ignorant, einfältiger als der blödeste Idiot! Zeiten, wo mich die vier Wände meines Zimmers engten wie ein Grab; wo es mich tagelang durch die Straßen trieb, daß ihr rauschender Lärm, ihr wirres, wunderliches Leben meine Verzweiflung übertäube, wo ich neidisch hinter einem jeden Philister herschlich, der im dumpfen Gewohnheitsgleis sein tägliches Pensum heruntergehaspelt hatte. Wie ich ihn achtete und mich so niedrig, so unnütz fühlte!… Bis dann wieder das andere kam! –

Und so fort und fort!

Ja ja! Die alte Geschichte! – Aber ich meine nur: keiner wird ja gescheit von uns, keiner! Von uns geistigen – Luxusmenschen …

――――

Hier sind ein paar Dinger, die nach allerlei Rezepten riechen. Jetzt spür ich erst, wie? –

Wie sie einen in die Irre führen können, diese stumpfnüstrigen Stichwortfabrikanten, die ihre blöde Freude und Befriedigung ihrer Eitelkeit finden, wenn sie jeden Sprößling, wie in einem botanischen Garten, gleich mit einem Täfelchen verschimpfieren!…

Sehr lehrreich, ja! – Mit einem dumpfen Wust von Namen und Redensarten im Schädel geht man davon.

Aber wer hat so recht seine warme Herzensfreude gehabt, wie ein jeder Schoß aus der nährenden Erde hervorgekeimt ist, wie er sich zweigte, seine Rinde sich bräunte, wie er in der Sonnenwärme, genährt von Luft, Licht, Wärme und Frühjahrsregen, saftige Knospen schwellen ließ, Blättchen und Blätter entfaltete und in rosiger Blüte stand? Wen kümmerts?

Wenn sie sich nur zu Haufen scharen und ein rechtes Geschrei erheben können, hinüber und herüber.

Und wenn nur nicht Hunderte dabei in die Brüche kämen, weil sie einer Redensart zulieb sich selbst und die liebe Natur verhunzen.

Beiseite gehen und lachen! In der Einsamkeit sich selbst finden und stark werden!…

――――

Früher gab es eine Zeit, wo der Dichter der Seher war, Prophet, Priester.

So nannten ihn die naiven Menschen eines naiven Zeitalters, und religiöse Weihe wohnte ihm bei.

Wir lächeln darüber, wir, »les soldats les plus convaincus du vrai«, wir Arbeiter und Experimentatoren, Positivisten, Objektivisten und Dokumentensammler in unserer werktagstolzen Bescheidenheit.

Es ist nicht zu deuteln: die Alten meinten’s, wie sie’s sagten. Unser Verstand aber ist klar und unsre Einsicht reifer. Wir sind so schlicht, und jedes Pathos macht uns lachen.

Ach, ach! Ob man nicht aus seiner Not eine Tugend macht? Wie ist’s mit dem Fuchs und den Trauben?

Hier in meiner stillen Einsamkeit kommen mir so allerlei Gedanken.

Wenn ich jetzt so in all dem Papierkram blättere, mich hier als kaltblütigen Positivisten finde und dort, wie ich ein gut Stück mit den Psychologen und Moralisten gegangen bin, merk ich erst so recht, wie ich doch getappt und getappt bin. Oft meint ich, ich hätte ein Ganzes, Rundes: und nun ist es Stückwerk.

Ach wir, die wir prompt unsre Analyse vollziehen und selbstbewußt hinzufügen: keine Hexerei!

Zwischendurch spür ich aber doch, wie ein Verborgenes, Niedergehaltenes sich regte und frei werden wollte und wohl auch hier ein Zweiglein trieb und da. Etwas, das keine Selbstzufriedenheit kennt gegenüber dem alten, wunderbaren Rätsel, das nur mit einem beseligt: mit einem frommen Staunen …

Und ich weiß nicht: das gibt mir jetzt einen Trost, als könnte ich damit noch eine große, schöne Zufriedenheit in der Zukunft finden.

Etwas Ganzes, Rundes herausschaffen aus einem gesunden, kräftigen Empfinden, aus einer umfassenden, sicheren Stimmung herausgestalten, die einen trägt und treibt vom Beginn bis zum Ende. Die Welt wiederzugeben, wie sie Empfindung und treibendes, quellendes Leben in einem geworden, ohne zu deuteln und zu urteilen, zu verdammen und zu preisen. Kein kluges, kaltes Beobachten: mit seinem Empfinden aufgehen mitten im Leben, es selbst werden. Farbe sein, Ton, Licht, eigener und fremder Schmerz, eigene und fremde Lust, jede Leidenschaft, wie sie in schlichter, natürlicher Kraft sich äußert. Ganz selbst und doch seiner selbst entledigt sein: das ist das Pathos, mit dem einen die Welt erschüttert und sänftigt wie mit einem religiösen Schauer.

――――

Hier halt ich erste Versuche in den Händen, Gedichte. Wie unbehilflich die Form! Die Empfindung, die hervor will, sucht nach Halt und klammert sich an, da und dort, in ihrer rührenden Unfreiheit, wie sie noch im Leben umhertappt, ihrer selbst sicher zu werden.

Und doch eine so schöne Zeit! Wie lebendig mir das alles war!

Und da muß ich so denken, wie alles Spätere, so sachlich es sich auch gebärdete, im Grunde hier, in diesem Boden, seine stillen, tiefen Wurzeln hatte.

Alles, mögen sie’s benamsen, wie sie’s wollen, ist im Grunde doch ein Gedicht, Lyrik.

――――

Wie ein Abschließender komm ich mir vor hier über diesem vergilbten, bunt bekritzelten Papier und so oft während dieser herrlichen Tage. Freier, ruhiger seh ich in die Zukunft.

Eins weiß ich sicher. All die Stichworte und Redensarten, die mich lästig umschwirrten wie Mückenschwärme: sie sollen und werden mich nicht irremachen.

Mensch will ich sein, Mensch und vor allem Mensch! Leben will ich, leben und Leben erraffen; ganz zum Leben tüchtig werden! Nichts soll mir gelten, als mein eigener, freier Trieb! Fühlen will ich mit jeder Fiber und jedem Nerv, wie über den Tag weg und sein wirrendes Getriebe in Liebe, Haß und Leidenschaft die tausend Kräfte der Natur wunderbarlich durcheinander walten. –

Vorm Fenster fangen an die Spatzen zu zwitschern, und das Geriesel an den Scheiben verstummt.

Bündel zu! Weg mit dem papierenen Krempel!

Draußen wird die Welt hell!…

Nach einem Begräbnis

Ich kam von meinem Spaziergange zurück und bummelte noch aus lieber Langerweile über den Gottesacker. Vor dem frisch zusammengeschaufelten Grabhügel blieb ich stehen.

Vorhin, als ich in die Felder hinausging, hatt ich den Zug gesehen. Vorweg gingen die Kurrendejungen, mit schwarzen Radmänteln und runden, groben schwarzen Filzhüten. Über ihren Köpfen schwankte in der Sonne das vergoldete Kruzifix auf seiner langen schwarzen Stange langsam dem Zuge vorauf. Sie sangen »Jesus, meine Zuversicht«, und dazwischen läuteten von oben die Glocken. Es war eine »ganze Leiche« gewesen. Man unterscheidet hier bei Begräbnissen »ganze Leichen« und »halbe« und solche, die gar nicht zählen. Bei den »ganzen« gehen alle Kurrendejungen mit, und jeder kriegt zehn Pfennig; außerdem wird geläutet. Bei den »halben« geht nur die Hälfte der Jungen voran. Nun, und die, welche gar nicht zählen, haben den Vorteil, daß sie in einem soliden Eilmarschtempo ohne weiteren Sang und Klang dem lieben Himmelreiche überliefert werden.

Im übrigen: man sollte doch wirklich allgemein die Leichenverbrennung einführen. Denn der Gedanke, daß das da unten, der alte, gute, dicke Meister Loebe, dem ich vor vier Tagen noch bei beiderseitig bestem Befinden ein Stück Sülzwurst abgekauft habe, in ein paar Wochen ein würmerwimmelnder, grünlicher Klumpen Dreck sein wird, ist wirklich ein wenig fatal. Ich hoffe, ein vielfach bewährter Fortschritt wird auch bei dieser Kleinigkeit das Seinige tun und sorgen, daß man künftig beim Lied vom Ende von derlei unappetitlichen Vorstellungen nicht mehr peinlich berührt werde. Immerhin wäre das eine nicht zu unterschätzende Konsequenz. –

――――

Der alte, gute, dicke Meister!

Wie mag sich seine unsterbliche Seele, die ihm der Herr Pastor vorhin imputiert hat, gefreut haben, als sie das Ehrengeleit seiner Mitbürger sah! Denn sicher ist es ihr nicht gleichgültig gewesen. Sie war eine reputierliche Ratsherrnseele und hielt etwas auf Repräsentation.

Vier Trauermarschälle, mit langem Flor hinten an den Zylindern herunter, Zitronen in den Händen und lange schwarzumflorte Stäbe. Zwölf Sargträger, ein braun polierter, solid gefügter Bohlensarg mit Kränzen, Blumenkronen und langen Palmzweigen. Und hinterher tout le monde …

Der alte, gute, dicke Meister!

Ich will nicht davon reden, mit welch liebevoller Sorgfalt sein Phlegma geräucherte Schweinsköpfe zu überzuckern wußte und wie durchaus korrekt seine Leberwürste waren: nur, daß ich die angenehme Gewohnheit entbehren soll, ihn Morgen für Morgen zu begrüßen, wenn er mit seiner gewaltigen weißen Schürze und seinem roten Gesicht vor der Ladentür mitten zwischen den beiden blitzblanken Messinghaken in der Frühsonne strahlte: was für eine Lücke in meinem Tagesprogramm! –

Der Selige! –

――――

Ich riß mich los und ging weiter.

Von der Kirche her klang die Orgel.

Aus der Kirchtür quoll eine Staubwolke in die Nachmittagssonne heraus. Es war Sonnabend und wurde gefegt.

Ich blieb stehen und lauschte.

Der Kantor entschlüpft zuweilen nachmittags dem Spektakel seiner sechs Rangen und spielt ein Stündchen zu seinem Privatvergnügen auf der Orgel. Wenn’s mir paßt, schleich ich mich wohl mal hinein, drücke mich in irgendeinen Kirchstuhl so, daß ich ihn beobachten kann, und hör ihm zu.

Nämlich sein Spiel … Es liegt etwas in seinem Spiel, etwas, etwas … Hm! – Etwas, das einem ein so eigenes Gefühl in der Herzgegend schafft, das mich förmlich in meine verschwiegene Kirchstuhlecke drückt.

Ob er sich seiner Gabe bewußt ist? Ich habe ihm nie angemerkt, daß er viel Wesens davon macht. Er meinte nur einmal, daß er »für sein Leben gern Musik studiert hätte«. –

Es sind so merkwürdige Augenblicke!

Anfangs hör ich noch, wie die Bälge fauchen und wie das alte, stockige Gestell gar nicht parieren will; wie die Auskehrfrau vor der Tür mit einem alten Weibe einen Diskurs macht zwischen ihrer Arbeit, und ich muß an seinen kahlen Schädel, an seine sechs Gören, an seine Abcschützen und sonstigen Quark denken; aber dann kommt es über mich mit einer süßen, seligen Unruhe, und ich vergesse alles. –

Und heute hab ich sogar meinen alten, guten, dicken Meister Loebe vergessen, den gesegnetsten der Männer …

Im Wind

Immer dunkler. Immer trüber.

Ein über das andere Mal laß ich das Buch sinken, aus dem ich zu lesen versuche.

Überall feucht und kalt die graue Stille.

Wenn in der Nachbarschaft nur ein Kind schrie, ein Huhn gackelte oder unten im Hause sich etwas regte! Ein Ruf, ein Lachen, das Klappen einer Tür. – Nichts. –

Nur der Wind im Rauchfang, der sich durch alle Halb- und Vierteltöne der Tonleiter hinauf- und hinabquält. Und draußen das Sprühen und Rieseln, das langsam den dicken Straßenstaub in eine schwarzbraune Schmutzschicht zusammenfeuchtet.

Wie mit Stecknadeln bohrt sich’s mir in alle Nerven.

So gehen die Sekunden, die Minuten. Langsam. Lastend. Bleischwer.

Ewig da drüben, über den Ziegeldächern, dieser dumme, räudige Kalkbrennereischornstein! Ewig diese sanften Hügelchen mit ihren Kirschbäumchen! – Wie mir das über ist! Wie gründlich zuwider! – Wie quälend ich das alles auf einmal in seiner ganzen, stummen, stillzufriedenen Enge empfinde! –

Langeweile, ja! – Nichts als Langeweile! –

Wie Blei liegt’s mir in den Adern, der Mund trocken, und die Augen brennen. Ich mußte etwas haben, das mir das Blut rollen ließ. Und so, in einer tollen Anwandlung, macht ich mich hinaus in das Wetter, auf die Berge.

――――

Eine graue, schaurige Einsamkeit da oben.

Die Wolken rasen über mir hin. In schweren, graublauen Ballen unter einem gelben Dunst. Tief, in schleifenden Fetzen. Fern von unten donnern die Talmühlen aus dem feuchten Nebel herauf, mitten zwischen das Winseln und Knattern des Windes; und durch die Gräserchen und das nasse Kalksteingeröll zu meinen Füßen, die Hänge hin, geht ein feines, scharfes Pfeifen.

Rings verwischt’s den Horizont mit dicken Nebeln.

Gegen den stauenden Wind ring ich mich vorwärts. Meine Backen und Hände brennen von den feuchtkühlen Schauern, die mir in kurzen, scharfen Stößen entgegentreiben.

In der weiten, trüben Öde raunt’s an mir vorüber wie mit hundert verborgenen Stimmen. Wie eine vieltönige dunkle Weise.

Und sie lockt mich in Gedanken hinein, unruhig, rastlos, schweifend wie der Wind, der herrast aus den grauen Nebeln.

――――

Es ist nichts weiter. Nur, daß es einen durchschauert, wie man nirgends seßhaft werden kann mit beruhigtem, dankbarem Herzen. Nirgends. –

Weiter nichts. Nur, daß das hier alles um mich her so stumm, so wortlos wird, mir nichts, nichts mehr mitteilen kann.

Nein! Gewiß nicht: es ist kein Wunder! So ein enges, kleines, schmutziges Nest mit seinem vorsündflutlichen Menschenvolk!

Und doch: wie viel ist es mir gewesen mit seiner tagefernen Abgeschlossenheit! Diese dumme, kränkliche Schwäche, daß es einen drückt, wenn man nicht dankbar sein kann mit fester, steter, stillwurzelnder Neigung, daß man an sich zweifelt, weil es einem nirgends rechten Frieden gönnt, weil einen heute engt, was einem gestern noch alles war. –

Ach, ich glaube, es ist immer noch dieser alte, romantische, törichte Trieb in die Ferne.

So suchen wir nach Göttern und Bestimmungen; so verwüsten wir die Welt mit Bedeutungen und Symbolen. So basteln wir am Leben herum und bauen uns Häuser in der Zukunft, in denen wir’s uns mit unsern Wünschen und Wollungen wohl sein lassen!

Wind, Wind, alles Wind und eitel! –

Als ob es im Grunde jemals besser werden könnte!…

――――

Eine halbe Stunde durch den peitschenden Regen und knatternden Sturm, und mein Blut singt mir andere Lieder, und frei und fröhlich halt ich Widerpart.

Ja, es wird besser werden, und ob auch alles sonst beim alten bliebe! Denn ein Stamm gesunder Kerls wird emporkommen, die sich nicht durch Redensarten und Hirngespinste unterkriegen lassen, und eine Zeit, bei der sie Widerhall finden. Sie werden sein, so wahr sie gewesen sind. Und wenn wir über Triebe und Kräfte reflektieren, weil wir unser selbst ungewiß sind, so werden sie Trieb und Kraft sein. Mitten im Leben werden sie den herrlichen Leichtsinn haben, daß sie lachen können, und in ihrem Lachen wird keine Bitterkeit und versteckte Anklage sein. Mit all seinen wunderlichen Leidenschaften und seinem tollen Durcheinander wird es ihrer Kraft ein Spiel sein. Tändeln werden sie mit ihm, wie die Griechen mit ihm tändelten, und sie werden die alte Sphinxbestie singen machen und ihre tausend wirren Töne zusammenzwingen in eine Harmonie. Dann wird es mit dem Geschwätz von Sittlichkeit und Wahrheit, von Optimismus und Pessimismus endlich mal eine Zeitlang ein Ende haben. Ihr Lachen wird es übertönen. Kein Suchen mehr, denn sie werden gefunden haben, was einzig je zu finden ist: sich selbst. Sie werden sich erlösen vom Leben in Werken, um die es webt von ihrem weltbezwingenden Leichtsinn wie Sonnenschein und rosiges Leuchten.

――――

Der Sturm saust mir um die Ohren, und sein Tosen wandle ich in ungefüge Rhythmen und laß ihn pfeifen nach meiner Weise, wie ich allein gegen ihn ringe in der rauhen, öden Einsamkeit hier oben. Und er singt mir mehr, als zu sagen und festzuhalten ist. –

Als ich nach Hause kam, hatt ich nasse Stiefel und vielleicht einen tüchtigen Schnupfen im Leibe, aber Courage für lange Tage.

Abschied

So sind denn meine Siebensachen gepackt. Wieder einmal. Morgen, in aller Frühe, geht’s fort.

Hier, von der Bodenluke aus, zwischen allerlei altem, wunderlichem Kram, kann ich noch einmal alles so recht überschauen.

Weit dehnt sich der klare, mattblaue Himmel, und über die feierabendstille Gegend breiten sich lange, ruhige Schatten. Aus der Ferne, durch die reine Luft, Rufe und Peitschenknallen und das träge Rattern schwergeladener Erntewagen. Hier und da, in Reihen über die Felder hin, Getreidehocken, goldbronzen im Abendlicht. Schwalben vorüber mit langgezogenem Gezwitscher, in den kühlen Abend hinein. Vom Kirchberg herüber, silberhell, das Abendläuten.

Hier wohnen! Dort, in dem kleinen Haus unter der Linde. Beschaulich seine Beete graben und runde, rote Backen bekommen …

――――

Nein!

Den ganzen Tag war ich von Visionen geplagt.

Ich sah mich, wie ich die Stufen vom Bahnhof hinunterschritt. Ich sah die hohen, strahlenden Häuser, die vielen hundert Lichter über dem Platz, das sinnverwirrende Durcheinander der Fahrzeuge, den unaufhörlichen Strom der Fußgänger; und dann die lange Straße mit ihrer wunderbaren Pracht eines orientalischen Märchens. Ich sah mich … Still! –

Noch einmal beide Lungen voll, voll von dem köstlichen Abend! Noch einmal ist das alles schön! – Schön, weil es mich hinzieht, unwiderstehlich, in die alte, verfluchte, herrliche Unruhe.

Dort, im Nordost, wo sich das Land in die abendgoldige Ebene dehnt, weit hinter Fluren, Dörfern, Strömen und Städten, braust sie in den verborgenen Fernen.

Morgen! Morgen bin ich bei euch! –

――――

Druck der Roßberg’schen
Buchdruckerei in Leipzig

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*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK IN DINGSDA ***

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  • You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from the use of Project Gutenberg™ works calculated using the method you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed to the owner of the Project Gutenberg™ trademark, but he has agreed to donate royalties under this paragraph to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid within 60 days following each date on which you prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty payments should be clearly marked as such and sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in Section 4, “Information about donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation.”

  • You provide a full refund of any money paid by a user who notifies you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he does not agree to the terms of the full Project Gutenberg™ License. You must require such a user to return or destroy all copies of the works possessed in a physical medium and discontinue all use of and all access to other copies of Project Gutenberg™ works.

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1.F.

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Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg™

Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org .

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://www.gutenberg.org/fundraising/pglaf . Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws.

The Foundation’s principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email [email protected]. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s web site and official page at http://www.pglaf.org

For additional contact information:

Dr. Gregory B. Newby
Chief Executive and Director

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit http://www.gutenberg.org/fundraising/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: http://www.gutenberg.org/fundraising/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of volunteer support.

Project Gutenberg™ eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition.

Each eBook is in a subdirectory of the same number as the eBook’s eBook number, often in several formats including plain vanilla ASCII, compressed (zipped), HTML and others.

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