The Project Gutenberg EBook of Der gläserne Garten, by Claire Goll This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Der gläserne Garten Zwei Novellen Author: Claire Goll Release Date: January 6, 2012 [EBook #38505] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER GLÄSERNE GARTEN *** Produced by Jens Sadowski
Zwei Novellen
1919
München
Roland-Verlag Dr. Albert Mundt
Eine Liebhaber-Ausgabe von Claire Studer: Der gläserne Garten wurde im Auftrage des Roland-Verlages in München-Pasing im Sommer 1919 in der Offizin von Mandruck, G. m. b. H. in München, gedruckt. In den Handel kamen 50 Exemplare, die von I—L numeriert und vom Verfasser signiert sind.
Alle Rechte vom Verfasser und vom Verlag vorbehalten
Amerik. Copyright by Roland-Verlag München-Pasing 1919
Iwan Goll zu eigen
Heute, an meinem sechzehnten Geburtstag, beginne ich diese Blätter um zu sehen, ob mein Weg auf- oder abwärts führt.
Ich bin ganz allein mit meinem Bruder Johannes auf der Welt; denn wir gehören zu jenen Kindern, für die die Eltern keine Zeit haben. Ich liebe Johannes mehr wie mich selber, und in dieses Buch will ich alles legen, was ich von seiner heimlichsten Seele spüre, damit mir nichts an ihm verloren gehe.
Johannes ist fünf Jahre älter als ich, aber mir ist, als wäre er nie Knabe gewesen; denn solange ich Erinnerung habe, empfinde ich ihn als Mann. Wir haben immer ganz eng nebeneinander gelebt. Seit ich fühlen kann, ist Johannes neben mir, nein, in mir. Seit meinem ersten Weinen leiden wir zusammen, seit meiner ersten Freude lächeln wir zusammen. Ich habe nie gewagt ihm zu sagen, wie sehr ich ihn liebe, daß meine Liebe viel größer ist wie ich selber und kaum in mein Kindsein hineingeht. Es war so, daß ich nachts vor seine Türe schlich, um ihn atmen zu hören; denn ich hatte plötzlich tiefe Angst um ihn. Ich stand die halbe Nacht und wagte nicht hineinzugehen. Ich fürchtete mich vor den Worten, und mein Schweigen hätte er vielleicht nicht verstanden. Früher, als ich kleiner war, bin ich des Nachts immer zu ihm gekommen. Ich glaube, ich war eifersüchtig auf seinen Schlaf. Und dann nahm er mich in sein Bett und an sein Herz. Aber eines Nachts — ich war damals vierzehn Jahre alt — veränderte er sich. Seine Stimme war gläsern, wie verwundet, er sah gequält an mir vorbei und sagte: „Myriel, kleine liebe Myriel, geh nicht mehr durch die Nacht zu mir!“ Er sah wie ein Kranker aus, und ich stand in Scham. Aber ich fand keine Frage. Stechender Schmerz trug mich hinaus. Ich kniete an seiner kalten Tür und horchte zu ihm hinein. Da hörte ich einen Ton! Einen Ton! Ich hörte einen Menschen, der ganz in Schluchzen war. Johannes weinte! Wen beweinte er, weinte er um mich? Ach und ich stand und fühlte in dem Dunkel umher, das er plötzlich um uns gebreitet hatte, und stieß mich wund an meinen Ahnungen. Ohne zu verstehen, wich ich viele Tage seiner Berührung, seinen Worten aus. Dann fanden wir uns wieder in einem Buch; denn er suchte immer tiefe Bücher für mich aus, in die wir uns zusammen hineinstürzten, und aus ihnen legte er mir mit seiner Stimme, die wie Gesang ist, alles das aus, wofür ich noch zu klein war.
Einmal, als er las, saßen wir tief in einer Wiese unter einem hohen, lauschenden Baum und ich erwartete, daß die Zweige sich alsbald mit tausend bunten Vögeln bedecken müßten, und alle Tiere, die sich sonst vor der Nähe des Menschen flüchten, zärtlich und liebend um seine Füße geschlichen kämen. Auch die Wiese schien mir schon ganz erschüttert, oder kam das von all den heißen Blumen, die sie trug? Jedenfalls, ich glaubte immer fester an ein Wunder, vergaß ihm zuzuhören und erwartete.
„Woran denkst du?“ unterbrach er, als er meine Abwesenheit bemerkte. „Ich denke an Franz von Assisi“, sagte ich mit purpurroter Stimme und schämte mich sehr. Da wuchs er plötzlich vom Boden auf, an dem Baum in die Höhe:
„Kind,“ sagte er, „Kind, du weißt nicht, wie sehr ich auf der Erde bin.“ Und er küßte mir mit frommem Mund die Hände. Aber ich entriß sie ihm; denn mir schlug das Blut vor den Augen zusammen. Ich kletterte verstört den Baum hinauf. Oben vergaß ich alles, warf funkelndes Lachen hinunter und war wieder Spiel und Tollheit.
Ich sagte, die Eltern hätten keine Zeit für uns. Vater liegt immer über seinen Büchern, und Mutter, meine schöne, junge Mutter ist stets fern und abwesend, beinah nur Gast bei uns. Mir ist, als wäre sie nicht körperlich da. Ich ahne eine andere Welt um sie. Sie zerrinnt förmlich unter einer Berührung, die mein kindliches Liebesbedürfnis manchmal wagt. Immer sitzt sie am Flügel, ganz abgekehrt von uns und Unsichtbarem zugewandt. In den Tönen fängt sie an und dort hört sie auf, wo man nur noch hinfühlen kann. Zu uns aber scheint sie kalt und leblos, und Johannes und ich wagen es kaum, sie mit Worten zu betasten. Mutter erscheint mir einem jener leisen Bilder entstiegen, zu denen ich heimlich flüchte, anstatt in meine Stunden zu gehen. Jenen alten, müden Bildern in den großen Galerien. Ich träume, daß sie als eine dieser seltenen Frauen durch die Jahrhunderte gegangen kam und durch uns hindurch geht in die Zukunft; denn solche Frauen sind zeitlos.
Gewöhnlich aber sitze ich dort vor dem Johannes des Dürer. Ich liebe seine hohe Stirn, die ganz aus Geist zu sein scheint. Ich weiß nicht, warum ich mir immer einbilde, daß so Aljoscha, der jüngste Karamasoff, ausgesehen haben muß. Wie komme ich dazu, diesen hohen, bewußten Deutschen mit dem unbewußten, russischen Gottesknaben zu verbinden? Vielleicht, weil sie beide Heilige sind? Und wir Mädchen nun einmal einen Heiligen, eine Anbetung brauchen? Oder weil mein Bruder äußerlich diesem Johannes und innerlich Aljoscha so ähnlich sieht, denn er hat die Reinheit der beiden? Oder vielleicht, weil unsre Sehnsucht solche überirdische Menschen nicht nur lesen, sondern erleben will?
Diesem Bild gegenüber habe ich den Mut, der mich bei Johannes manchmal verläßt. Diesem Bild vertraue ich alle Verwirrungen meiner Mädchenheit an. Ich bekannte dies einmal dem Bruder. Er zürnte, daß er nicht der Erste und Einzige wäre, zu dem ich mit meinen Kindergeheimnissen käme, und manchmal, wenn ich fieberheiß aus solch einer Beichte bei Tisch ankam, flüsterte er:
„Ah, man hat mich betrogen, Myriel!“
Es schwang aber immer ein so ernster Ton mit in seiner Stimme, daß ich vor schäumender Erregung nichts essen konnte. Einmal sagte Vater spöttisch: „Hast du wieder mit Windmühlen gekämpft, Donna Quijota?“ „Ja“, sagte ich und hatte Lust, auch gegen ihn zu kämpfen. Und plötzlich hörte ich mich mit Pathos deklamieren: „O laßt mich scheinen, bis ich werde!“ Hatte ich es gesagt, um Eindruck auf Johannes zu machen? Alles lachte, sogar Johannes lächelte sein feines Lächeln mit. Das verwundete mich sehr. Vater sagte: „Das kommt davon, wenn man die Kinder zu früh mit Goethe spielen läßt.“ Aber ich war schon hinausgestürzt in den Garten, unter die Einsamkeit eines Baumes. Ich begrub mein Gesicht in den Händen und schluchzte, daß sogar er, sogar Johannes mich verkannt hatte. Da hörte ich seinen leisen Gang. Zärtlich hob er mich zu sich auf. „Liebling,“ sagte er mit behutsamer Stimme, „verzeih mir, daß ich darüber lachte, daß du jung bist. Daß ich dieselbe Gemeinheit beging wie alle Alten.“ Er streichelte mich mit den Augen.
„Wer sollte das Oberirdische anbeten, wenn nicht wir Jungen, Myriel, wir, die wir noch Rausch und Flamme kennen! Vielleicht Vater, der seine Menschen schön getrocknet auf Formeln bringt, die er die Jugend lehrt? Nein, laß diesen Toten. Wir sind die Welt. Sei hell und lächle mir wieder, Schwester!“
Sein Kuß brachte neues Licht in mein Gesicht. Mein Weinen löste sich in große Versöhnung auf, und wir gingen Hand in Hand hinaus durch die Nachmittagswelt Abend und Sternen entgegen.
Ich vergaß zu sagen, daß Johannes ein Dichter ist. Was könnte er wohl auch anderes sein? Manchmal liest er mir aus seinen Gedichten, in denen alle Vögel der Welt gefangen sind. Aber heute noch strömen Kantaten aus seinem Mund, und morgen schon kann er nur noch Chaos, mitternächtig und dunkel sein. Und bis er die Elemente in sich gebändigt hat zu leisem Lied oder stürmendem Schicksal, sind gläserne Mauern um ihn. Ich sehe sein verwüstetes, zerpeitschtes Gesicht und kann es doch nicht erreichen, so entfremdet ist es mir. Bald aber ist es wieder gereinigt und von alter Vertrautheit. Nur einmal mußte ich lange auf ihn warten, das war damals, als er das große Buch vom „Neuen Menschen“ schrieb. Es war eine glühende Herausforderung an die enge, gefesselte Vorwelt der Väter, Umsturz, Verleugnung alles Ererbten, Erschaffung einer neuen, rasenden Welt. Es war viel Blut in dem Buch, und Johannes wurde sehr gefeiert. Ich frug ihn einmal, ob es im Leben wirklich solche riesigen Menschen gibt.
„Nein,“ sagte er, „was wir geben können, ist immer nur die Sehnsucht nach solchen Menschen; denn im Grunde suchen wir alle den Helden. Natürlich den inneren Helden, nicht den der Faust.“
„Du bist mein Held,“ sagte ich kindisch und umschlang ihn mit wilder Kraft. Er ließ meine Umarmung geschehen, ohne sie wie sonst zu erwidern, und sah mich mit blinden Blicken an.
„Ein Tag wird kommen, der dich mir stehlen wird, Myriel; denn das Leben erwartet dich.“
„Dich, Johannes,“ schrie ich auf, „dich wird es mir nehmen!“
Sein Blick betäubte mich:
„Mich, Myriel, du Kind, du Frau! Wenn du nicht zufällig meine Schwester wärst, dich hätte ich überall gesucht. Von deiner ersten Minute an lebte ich mit dir, jedes Jahr bist du an mir und ich an dir gewachsen. Ich habe nie begriffen, wie Menschen plötzlich ineinanderfliegen können, ohne mehr voneinander zu spüren als ein brennendes Gefühl. Sie reiften sich nicht durch die Zeit entgegen wie wir, sie wissen nichts von ihren Kindheiten, nicht die tausend Übergänge, die den Menschen und sein Wesen machen, und so stehn sie sich plötzlich erschreckt und enttäuscht gegenüber.“
„Johannes,“ sagte ich da und verlangte nach seiner Nähe wie nie zuvor — trotzdem wir nur diesen Gedanken voneinander getrennt waren —. „Johannes, wie du mich durch deine Liebe erhöhst!“ Und da geschah mir etwas Heiliges: Er kam auf mich zu und schenkte mir den ersten Kuß seines Mundes.
An diesem Tage verging ich am Flügel vor unnennbarem Gefühl, und meine Finger sangen alles, was sie von Chopin und Sehnsucht wußten.
Eines Tages fiel mir ein, daß ich nichts von Johannes wußte. Ich erschrak tief. Ich sah die helle Wölbung seiner Stirn und die Tore der Brauen über dem großen Staunen seiner Augen. Sah den edel geschwungenen Mund, der soviel Schönheit verschwieg. Ich sah seine weißen, verhaltenen Hände und nahm alle Gegenstände in meinem Zimmer, die sie mir geschenkt hatten, und küßte sie. Ich sah auch das leuchtende, kühn gewellte Haar und seinen von aller Erde befreiten Gang. Aber mehr, mehr wußte ich nicht. Mein Herz stach und der Körper zog sich qualvoll zusammen. Ich warf mich dem Abend entgegen, rannte die Bäume an im Park, preßte mich wild in eine Wiese. Mir war, als schwölle mein Herz höher und höher bis zu den Wolken, mein Körper aber würde immer kleiner und aufgelöster. Die Beine waren stumpf, wie abgebrochen, es zog hinter der Stirn und ein unbändiges Gefühl zerriß mich. Ich weinte und lachte durcheinander. Und dann auf einmal begann ich mich zu schämen, zu schämen! Ich wußte es plötzlich, daß ich ganz anders war wie Johannes. Auch fing ich mit Gott zu reden an, stürmisch und wirr und mir selber nur halb bewußt. Ich bat ihn, mir Johannes zu zeigen, wie man um ein Wunder bittet. Ich forderte, drohte endlich, ihm meine Anbetung zu entziehen. Meine Gedanken wurden immer schwindliger, unzusammenhängender. Der Weg taumelte, die Bäume standen schief, und das Haus schien um viele Tage fortgerückt, alles hatte ein anderes Gesicht bekommen. Zu hause vergrub ich mich in mein Bett, das um mich wie Flamme brannte. Da sah ich, daß meine Tage gekommen waren und das Kindsein zu Ende. O, wie fühlte ich mich allein auf der Welt mit diesem ersten Geheimnis vor Johannes!
Am andern Morgen lief ich zu meinen Bildern in die Galerie. Ich sah mir zum ersten Mal mit Bewußtheit nackte Körper an und war tief enttäuscht! Ich hatte mir immer soviel hinter den Kleidern gedacht.
Bei Tisch wagte ich es kaum, Johannes mit den Blicken zu berühren. Wie ein Verrat erschien es mir, daß er nicht ohne Körper und auserwählt, sondern mit allen Männern soviel Häßlichkeit — wie ich es nannte — gemeinsam haben sollte.
Am Abend schlich ich vor meinen Spiegel. Bisher hatte ich eigentlich immer an mir vorbei gesehen. Jetzt prüfte ich mich aufmerksam. Wie schämte ich mich, als ich zum ersten Mal meine Brüste erkannte! Ich verhüllte sie mit meinem langen, finstern Haar, und am andern Tag zog ich eine große Schürze an, hinter der man mich kaum noch ahnen konnte. Vielleicht tadelte mich Johannes, der unpersönliche Kleider haßte und in der Intimität des Hauses niemals jene charakterlosen Anzüge trug, in die unsre ganze Zeit eingenäht ist. Aber ich fürchtete noch mehr, daß er sich eines Tages erinnern würde, daß ich ein Mädchen bin, mich daraufhin ansehen und häßlich finden könnte.
Wirklich trat er nach Tisch in mein Zimmer. Sein Blick flog untersuchend über mich und meine Verkleidung hin.
„Haben dich meine Augen schon einmal entweiht?“ frug er streng. Da riß ich die Schürze ab und die Kleider und stand nackt vor ihm. Er sah mich mit einem jubelnden Blick an und kam auf mich zu. In diesem Blick sah ich, daß ich schön war. Johannes aber schwieg so sehr, daß ich mich doch wieder verwirrte, und ich wünschte zehntausend Kleider über mich. Johannes mochte fühlen, daß es noch über meine Kraft ging. Er neigte sich vor mir bis zur Erde, küßte meinen Fuß und ging schnell hinaus.
Von jenem Blick an liebte ich mich. Auch versprach ich mir, dem Bruder immer jede Freude zu schenken, die in mir wäre.
Der kühlere Herbst brachte mir eine vernichtende Krankheit. Für Wochen hörte alles auf zu sein. Der Tod war ganz in der Nähe. Durch die Dunkelheiten des Fiebers hingen wie Ampeln die brennenden Augen des Bruders. Und einmal neigte er sein zerrissenes Gesicht dem meinen und murmelte mit kranker Stimme: „Liebe so stark du kannst, dann gibt es kein Aufhören. Ich habe noch zu viel unterlassen, dir zu wenig Freuden gemacht, zu viel geschwiegen. Lebe mir!“
Mit meiner ganzen Seele stemmte ich mich gegen das Sterben. Johannes erwartete jedes Erwachen, und ich fühlte mich in seinen Blicken stärker werden. Immer war seine heilende, liebeschwere Stimme um mich und rettete mich aus stechenden, phantastischen Fiebernächten.
Dann kam ein langsames Auferstehen, Zurückkehren in die Welt. Johannes sah immer beschenkter, strahlender aus.
Als ich zum ersten Mal um seinen Arm gerankt der Sonne entgegen ging, frug ich: „Was hättest du getan, Johannes, wenn ich . . . . .“ „Ich wäre dir nachgestorben“, sagte er einfach. „Es gibt nichts, das stärker wäre als du.“
„Und dein Werk?“, sagte ich voll Vorwurf und doch in tiefer Angst und fühlte ihn scheu mit den Blicken an.
„Bist du nicht mein höchstes Werk?“, rief er heiß. Aber ich zögerte, noch immer an solche Erhöhung zu glauben, und so warf ich ein: „Ich habe doch keine Ewigkeit!“
„Glaubst du, der Teich stahl nicht dein gestriges Lächeln,“ sagte er da, „und schimmert es morgen zurück? Deine Tränen, kehren sie nicht als Wolke wieder, und dein längst verklungener Schritt, wer sagt uns, daß er nicht in irgend einer Arie ewig wird? Nichts geht verloren, alles wird wiedergeboren, es gibt keine Zeit für die Ewigkeit.“
Wir ruhten selig an einer Weide, die zu uns herunter träumte. Ich verlor vor Glück das Gefühl von mir selber, es war mir, als wäre ich Johannes. Dahlien und Astern tanzten bunten Herbst um unsre entirdischten Füße.
„Wie jung wir sind,“ rief Johannes verzückt, „und so tief im Leben!“ Er legte die Hände vor das Gesicht, als ob er den Tag nicht ertragen könne, Tränen fielen durch seine Finger. Und auf einmal sich selber überraschend, stürzte er hart und schmerzhaft nieder auf die Knie. Und wieder gegen seinen Willen begann es laut aus ihm zu beten für meine Rettung. Auch mich warf eine riesige Gewalt an die Erde, und ich hob die verschämten Hände. Ich hatte noch nie einen Menschen beten sehen. Wie auf italienischen Bildern die Stifter vor einem Wunder knien, so knieten wir hintereinander.
Und wenn es niemals Gott gegeben hat, damals erschuf ihn unsre inbrünstige Anbetung.
Ich reibe mir den Winterschlaf aus den Augen. Wirklich schon Frühling? Erlebten wir den Winter so stark, daß ich nicht vor dem Frühling zur Besinnung kam? Ich habe solange geschwiegen? Wir waren so tief ineinander versenkt, daß wir ganz erstaunt waren, wenn ein Ton aus der Welt zu uns herein drang. Das Haus war wie verhängt, wir gingen auf den Zehen durch die zeitlosen Räume. Johannes arbeitete, und auch von mir forderte er als mein Lehrer Äußerstes. Daneben erholten wir uns in Büchern, Musik und Gesprächen. Johannes, Meister auf dem Cello, holte alte vergessene Italiener, deren Süßigkeit Jahrhunderte lang hinter dunklen Noten gegärt hatte, hervor, und von ihnen gingen wir zu Bach und Händel über. Zuweilen, wenn Johannes so neben mir spielte, daß ich glaubte sein Herz in Händen zu spüren, hob großer Sturm in mir an, und ich raste auf dem Flügel. Dann tadelte Johannes: „Myriel, Myriel, vergiß nicht, daß wir in der Kirche sind!“
Ach, in mir explodierten tausend unheilige Dinge, ich war nur noch Aufruhr und Element. Ein Instinkt aber ließ mich die Unruhe verschweigen, die mich ergriffen hatte. Dafür rüttelte ich mit tausend Fragen an Himmel und Erde. Ich hatte den Ehrgeiz, Johannes nicht nur bis ans Herz, sondern auch bis an die Stirne zu reichen. So erhellte er mir denn viele Dinge, denen ich noch dumpf und kämpfend gegenüber stand.
„Wenn Gott mir nicht ohnehin Voraussetzung wäre,“ sagte er einmal, „so würde ich ihn in der durchdachten Steigerung jedes Daseins erkennen. Diese Steigerung ist für mich der Tod. Er ist der höchste und raffinierteste Beweis für Gott. Denn er schließt schon die Ewigkeit in sich ein, da er nur scheinbar ist. Es gibt keinen Tod, jeder Tod ist eine Verwandlung, eine Wanderung. Darum ist den Buddhisten alles Leben heilig. Jedes Geschöpf verkörpert eine Idee und trägt ein mehr oder minder schwaches Gesetz in sich, diese Idee auszuleben. Aber die meisten leben daran vorbei. Darum finde ich: ganz Löwe, Vogel oder irgend ein Tier sein ist mehr, als Halbtier oder, was dasselbe ist, ein Viertelmensch sein. Jeder Mensch sollte die Möglichkeit und den Willen haben, seiner innern Idee leben zu können. Dem Menschen kann nicht von außen, sondern einzig von innen geholfen werden. Man kann sich nur selber erlösen, nie erlöst werden. Aber vielleicht liegt dies unserm Volke gar nicht mehr. Es ist — im Gegensatz zu heißeren Völkern — viel mehr ein Volk des Leibes denn der Seele geworden. Vielleicht auch brauchte es doch einen Führer, einen Vergewaltiger, der mitreißt ohne Gewalt, einzig durch seine Existenz. Vielleicht müßte man ihm Zeit und Einsamkeit aufzwingen, um die es von seinen Scheinbedürfnissen bestohlen wurde. Der Mensch hat zuweilen eine Insel nötig. Das siehst du an zweien seiner Führer, die gerade Antipoden in ihren Lehren sind: Christus und Nietzsche. Christus brauchte eine Wüste, um sich zu überwinden, und Nietzsche die Verlassenheit eines Berges, um die Forderung seines kommenden Menschen aufzustellen. Der eine verkündete den Kampf, der andere wehrte ihm. Der eine stellte ein Herrenideal und der andere ein Menschenideal auf. Aber versagten nicht beider Lehren vor dem Trieb zur Erde, der immer im Menschen wohnen wird? Wir warten noch immer auf den Führer. Auch mein letztes Buch ist eine Erwartung. Bis dahin nach innen leben und den Körper töten! Wenn wir das versuchen wollten, ständen wir nicht so tief. Man muß an einer Ekstase, an zu viel Jugend sterben können. Aber sieh doch die gealterten, unheiligen Gesichter an! Sind sie der Unsterblichkeit entgegengereift? Nein, verfault und verhärtet von Genuß und Erfahrung. Und mit was für häßlichen Füßen sie ankommen in der Ewigkeit! Denke nur, über was sie alles gegangen sind! Ach, Schönheit und Güte sterben immer mehr aus in der Welt!“ Er schwieg und sah mich mit lodernden Augen an. Tiefe Nacht war, und die sieben Feuer des Leuchters tasteten gierig umher.
„Mach mich weit und stark für den Tod, Johannes,“ sagte ich, „ich möchte ihn bald sterben. Mir ist so, als stünde ich tief innen in Flammen.“ Johannes stand steil und blaß vor mir. „Myriel!“ Er hob mich mit liebenden Armen auf und hielt mich hinaus in die seidene Nacht.
„Ich verspreche es uns“, flüsterte er und deckte mich mit den weichsten Blicken zu.
Als ich erwachte, war es Morgen. Ich fand mich in den Armen des Bruders, in denen ich am Abend eingeschlafen sein mußte. Er saß auf einem Stuhl und seine Augen hingen mit seltsam prüfender Leidenschaft über mir. — Ich bedeckte erregt mein unbewachtes Gesicht.
„Was hast du darin gesehen?“ frug ich ängstlich.
„Nichts, Kind, nichts — außer mir“, lächelte er innig.
Mit dem Morgen rannte ich hinaus, tausend Wege weit, dem Mittag entlang bis zur Dämmerung. Ich glaube: in jenen Stunden mit mir allein warf ich die letzte dumpfe Kindheit ab. Geliebter Bruder, in jenen Stunden hörte ich schon auf zu sein, da begann meine Unsterblichkeit, die Verklärung in dir.
Gegen Abend kam Johannes und sagte: „Morgen ist dein Geburtstag, Myriel, ich will dir ein Fest geben.“
„Jeder Augenblick wird Fest durch dich, Johannes“, glühte ich und wußte erst, wie ich ihn jede Stunde dieses Tages entbehrt hatte. Seine geistige Stirn zog sich nachdenklich zusammen: „Wir sind auch zu kurz auf der Welt, Kind, um nur einen Tag mit dem zu vergeuden, was die Menschen Leben nennen. Ihr Leben und sogar ihre Feste sind ein einziger Alltag. Tierhaft ist ihre Freude, Verliebtheit in ihren Bauch. Sie haben es verlernt, sich und die andern zu feiern. Ich meine gar nicht jene brausenden, maßlosen, egoistischen Feste der Römer oder der Renaissance, die nur um der Schönheit willen geschahen, und von denen den Armen nur Schein und Abfall blieb. Ich denke an jene seelische, adlige Freude, die Schiller und Beethoven meinten in ihrem Hymnus. Sie ist tot, diese leise, ewige Freude, von Mensch zu Mensch, die göttlich macht.“
„Und auch ihr Leid, Johannes?“ frug ich; denn ich liebte es, seine Überlegenheit zu fühlen.
„Ja, sie leiden unter Geheul und kleinem Zank. Sie haben den großen Aufschrei verlernt, den Schmerz, der zu Stein und zur Quelle wird. Die Stadt verengt. Früher hatte man noch Erde, sich hinzuwerfen, und das Ohr der Wälder und Wiesen, seine Klage hineinzurufen. Und man hatte Zeit, unerschöpfliche Zeit. Heute lebt und stirbt alles gemein, ohne Pathos. Und damit sie in ihrer Dumpfheit bleiben, hat man das herrliche Wort: Selig sind, die hungrig nach Seele sind, in den Satz verfälscht: Selig sind die Armen im Geist. Seele, alles, was über sie hinausführen könnte, unterdrücken sie geschickt in sich und den andern. Sieh doch, wie sie zusammen leben! Sieh doch ihre altgebornen Kinder an! Ist in ihnen Anbetung oder Erschütterung von einem zum andern?“ Johannes’ Mund wurde herb. Ich wollte zu ihm reden und konnte nicht. Mir war so weit. Als reichte ich von der Erde bis zu den Himmeln. Ich fühlte sie, seine Seele, diese unendliche Dehnbarkeit. Wir schwiegen uns zu, bis das Zimmer undurchdringlich und schwarz wurde. Da zitterte ich auf. Die Nacht kam. Meine Empfindungen verwirrten sich.
„Was hast du, Kind, liebe ich dich nicht genug?“ frug Johannes.
Wir warfen uns ineinander. Er hob mein Gesicht vor das seine und sah mir eine Ewigkeit lang durch die Augen ins Herz.
Die ganze Nacht kauerte ich vor seiner Tür.
Nach Jahren — so schien mir — wurde es Morgen.
Mit dem Mittag trat ich sehr hell, im ersten langen Kleid bei Johannes ein. Seine Augen blendeten mich beinahe, so strahlten sie mich an.
„Wie weiß du bist!“ rief er verzückt. „So muß Dante gefühlt haben, als ihm Beatrice im ‚allerweißesten Kleid‘ begegnete. Wird auch mir aus diesem Anblick seine rote Vision? Wirst auch du von meinem glühendsten Herzen essen? Nimm es ganz zum Geburtstag!“
Seine Stimme flammte über mich hin. Brennende Gerüche umstanden uns; denn Johannes hatte die Wände in hängende Gärten verwandelt.
Ich sah über viele Geschenke hin, die ich ebenso schnell wieder vergaß. Johannes hatte mich dazu erzogen, Besitz gering zu achten. Das Eigentliche aber fühlte ich schnell heraus. Das waren in heißen Brokat gebundene Blätter, die des Bruders Schrift trugen. Ich öffnete sie, noch die Augen an Johannes, und sah, wie sich sein Gesicht einen Augenblick lang vor Schreck verengte. Doch sagte er mit verhüllter Stimme: „Lies.“
„Ich lade Dich auf ein seltenes Fest, zärtliche kleine Schwester. Du brauchst nichts weiter mitzunehmen als Deinen Kinderglauben an mich. Auch mich wird er stark machen, daß ich mit Dir reden kann wie mit mir selbst.
Ein Schicksal hat aus uns eine Zweiheit geschaffen, die nie eins werden kann: Bruder und Schwester. Sicher, die Einheit in uns kann nur gesteigert werden dadurch, daß wir so heißen. Aber sie ist nicht alles. So wie unsere Herzen ineinander getürmt sind, so könnten sich auch eines Tages unsre Körper erinnern, daß sie einem Mann und einer Frau gehören. Es ist unwichtig, sich zu besitzen, um so mehr, da man sich nur mit der Seele besitzen kann. Aber wir sind so glühend jung. Ein Sturm kann kommen, den wir nicht bestehen. Alles wird schwer und fremd. Vielleicht nicht durch uns, wohl aber durch jene enge unfestliche Welt mit ihren Dogmen, die Ungewöhnliches ersticken im bürgerlichen Schlamm.
Ich ahne, daß die nächsten Jahre Qual über uns bringen, wenn sie gelebt werden. Mir wurde der heilige Auftrag, über Dich zu wachen, ich will ihn zu Ende führen, so lange ich kann. Heute noch weiß ich mich stark, aber morgen vielleicht überfällt mich mein Blut, steigt so ein alter Ahne auf aus meinen Adern.
Wir wollen jubelnd zusammen ins nächste Dasein gehen, wie in ein Fest. Sterben ist ja nur Übergang, ein kurzer Verzicht, eine kleine Veränderung bis zur nächsten Auferstehung — und die wird unser sein, Geliebte!“ —
„Johannes“ sang mein Herz. Ich flog ihm zu, verschüttete ihn mit Umarmung.
Seine Hand liebte zart mein aufgeregtes Gesicht. Da erfaßte mich maßlose Gier nach dieser Hand. Ich riß sie vor meinen Mund und küßte sie schluchzend, verbrennend, als wäre Feuer in mir.
„Johannes“, rief ich unzählige Male und schmeckte seinen Namen nach wie Wein. Er spannte die Arme auf und ich ruhte an ihm, eine Verirrte, die man endlich gefunden hat.
Johannes hatte ein ganz neues, entschlossenes Gesicht an.
Wir verstürzten in eins. Zum erstenmal rissen wir uns auf voreinander. Blut überwältigte uns, Bekenntnisse schäumten auf. Ich beichtete die dunkelroten, flehenden Nächte vor seiner Tür. Johannes bog mich jauchzend in sich, so daß ich nur noch Zittern in seinen Händen war.
„Willst du die letzte, äußerste Nacht mit mir, Geliebte?“ stammelte er. Ich tauchte meinen Mund noch tiefer in den seinen und sagte mit fliehender Stimme: „Keiner soll von mir wissen außer dir und dem Tod. Wir werden an zu viel Liebe sterben, es gibt keine Umkehr, keinen anderen Ausweg aus unserem Schicksal.“
Meine Augen glühten den Geliebten an. „Warte mit der Dunkelheit auf mich,“ sang ich ihm zu und verließ ihn, um mich für ihn zu weihen.
Noch eine Nacht, in der wir alles von der Erde und alles von Gott erfahren werden! Eine Nacht letzter Offenbarungen! Dann beginnt meine Himmelfahrt in dir, Johannes! Mein Heiliger!
Heute, mit meiner siebzehnten Geburtsnacht ende und zerstöre ich euch, meine Blätter. Mein Weg ging aufwärts!
Nun ist wieder Glas zwischen uns, Geliebte, wie damals. Damals, als du schon stärker in mir warst als jeder Mann. Ich habe nie gedacht, daß man das mit Worten sagen könnte; denn die Worte sind hart und grob, und die Dinge der Seele stoßen sich schmerzlich an ihnen, wie deine Brüste an den Wänden deiner Kleider.
Weißt du noch, Ylone, doppelt kalt empfanden wir den Schnee, der am Fenster vorbeifiel, weil unser Zimmer in den Flammen einer innigen Entzückung stand. Nur das Glas war zwischen uns und dem Winter wie Sehnsucht zwischen unsern Herzen, die sich in äußerster Vermählung berührten. Von mir zu dir führten, wie ein goldenes Spruchband ewiger Engel aus den Marienleben alter Meister, Worte aus der Verkündigung meiner Liebe. Du schautest nach innen, wo ich dich angerührt hatte, und wir vergingen Hand in Hand im Grenzenlosen. Aus Angst vor Steigerung und mit der Scheu gegenüber dem Ausgesprochenen versuchtest du mich aus überirdischer Stille ins Zimmer zurückzuzwingen und sagtest: „Fühlst du, wie wir hinauswachsen aus Raum und Zeit, Venera?“ Als Antwort breitete sich über deinen Worten eine schwermütige Klage aus. Eine Stimme weinte aus der Ferne, sie sang aus dem Orpheus von Gluck und rief den Schatten. Da mußte ich mich umsehn nach ihm und der Vergangenheit, und ich dachte:
„Jetzt bist du überirdisch wie damals, als ich aus meiner keuschen Nacht in euren Morgen trat. Euer Zimmer brannte. Sommer und Liebe schlugen mir entgegen. Das Zimmer hing reif in den Garten, aber ich sah nicht mehr, wo es aufhörte und der Garten begann; denn das Fenster war groß.“
Ich verlor die Geste der Unbefangenheit, die ich über meinen Schmerz gebreitet hatte, und in der Verwirrung sagte die, die ins Zimmer getreten war — nicht ich — „Komm, Ylone, es ist Morgen, der Zug fährt zurück in die Stadt“. Denn ich fühlte, du wußtest nicht mehr, was Morgen war.
Welten trennten dich von dem Mann, der vor dir lag. Kindsein und Alter, Lachen und Verzweiflung, Dasein und Abgeschiedenheit, Unschuld und Verderbtes waren dein Gesicht. Du warst so stumm, daß ich deine Schreie hörte. Komm, sagte ich noch einmal. Da schlug dein Erstaunen über mir zusammen, und du kamst langsam zwischen den Welten auf mich zu. Wie fühlte ich da wieder, daß ich dich mehr liebte als diesen Mann, dem ich entsagte, um ihn in dein Leben zu bringen, weil er mir für dich nötig schien, und schämte mich, daß ich schwach geworden und vor seinem Schatten geweint hatte die ganze Nacht.
Und ich begann zu verzichten. Erst schwach, dann stärker und immer stärker, bis das ganze Zimmer erglühte und bebte, weil es zu klein wurde, um so viel Hingabe an dich ertragen zu können. Auch du kamst mit den Augen auf mich zu, von der Kraft dieses Verzichts getroffen, und sagtest aus der Ferne erkennend mit hilflos schmaler Stimme: Es ist etwas im Zimmer, das stärker ist als wir alle, und ich weiß doch nicht was.
Heute ist Glas zwischen uns, und du wirst kaum meine Antwort hören: Es war ein Opfer.
Hier hinein gehört dies welke Blatt:
„O Ylone, ich halte noch ein schwarzes Stück unserer letzten Nacht in den gefalteten Händen. Davon lebe ich. Wenn es zu Ende ist und ich gänzlich erwache, werde ich sterben müssen; denn du fehlst, du erster Stern all meiner Abende. Stärker als alle andern durchbrachst du den Horizont. O daß du am Himmel eines Mannes aufgehn mußtest, Ylone! Eines Tages wirst du abstürzen und deine goldenen Zacken zerbrechen, und ich habe dich nicht beschützen können! Sorgfältig habe ich immer alle Welt von dir fern gehalten, und nun stehst du mitten darin. Wie wirst du sie bestehen? Ich zittere und irre durch das Haus.
Der zärtliche Flügel tönt nicht mehr, er ist tot. Er rauscht nicht mehr wie ein fremdländischer Vogel durch den Wald deines nächtlichen Haares. Der große Spiegel gegenüber, der dich so viele Male empfing wie ein Fest, lächelt sein kristallenes Lächeln. Er spürt dich noch. Er strahlt dich zurück. Er ist angefüllt von den Variationen des einen Themas: Ylone. Er glänzt noch von damals, als du das Märchen von der kleinen Seejungfrau tanztest und am Ende zu Schaum vergingst.
Sieben Meere lagen wie sieben Schleier über dir. Der große Sockel aus karrarischem Marmor wurde zur Säule des Königsschlosses. — Was wird nicht zum Schloß, wenn du dich daran lehnst! —
Sogar der kalte Spiegel fängt an zu glühen. Der Tanz der Sphinx steigt wieder aus ihm auf, in dem du mich mit dem ägyptischen Kuß der Jahrtausende versuchtest.
Noch ist Nacht in mir, ein schwarzes Stück unserer letzten Nacht, aber wenn ich aus ihr erwache, werde ich sterben müssen.
Ein Brief von Ylone! Ein Brief von Ylone! Ylone und Claudio kehren zurück! Ich kann mich nicht freuen. Zu früh kehren sie aus ihrer Liebe zurück. Leise streichle ich die Worte ihres Briefes, zwischen denen so viel Ahnung steht.
Sie verrinnen die feinen Buchstaben, die wie Filigranarbeit über dem Papier liegen. Kleine Hecken mit Vögeln dazwischen.
Ich sehe die Gotik ihres Leibes wieder. Die knabenhafte Steilheit ihrer Hüften. Die graziösen Rosetten ihrer Brüste. Die schlanken Bogen der Arme, die in den ziselierten Spitzen ihrer Finger enden, den feinen von den Adern durchbrochenen Turm des hinaufstrebenden Halses, und die Pfeiler in den Kreuzgängen ihrer Schenkel, mit dem mystischen Schlußstein des Schoßes.
Aber zwischen den Buchstaben träumen die blauen Monde ihrer Augen, um die die seidenen Strahlen der Wimpern stehn. Leuchtend hängen sie über der Herzensfinsternis meiner Tage.
Ich halte einen Brief von Ylone an meiner Seele!
Ich möchte es auf den Knieen niederschreiben, so heilig ist mir, wenn ich daran denke.
Eines Tages kam Claudios Mutter durch unsere violett verhängten Tage auf uns zu. Wir erstaunten nicht; es war uns, als ob wir sie schon lange erwartet hätten. „Sie wundern sich nicht, Ylone,“ sagte sie, „daß ich eindringe in Sie ohne gerufen zu sein? Aber ich will mich Ihnen doch erklären. Ich zürnte Ihnen zuerst, als ich Claudio an Sie verlor; denn er lebte nur matt in den Intervallen, die er bei mir war, weil sich sein ganzes Wesen Ihrem Anblick entgegenspannte. Ich empörte mich gegen Sie. Ich hatte für ihn gelitten und gelebt. Ich hatte ihn vom ersten Tage an durch alle Gedanken, Wünsche und Enttäuschungen begleitet, und trotzdem ich ihn gerne an sein Glück verlor, stand ich ohne zu begreifen. Mit einer unsichtbaren Bewegung hatte mich plötzlich eine fremde Macht auf die Seite geschoben.
Er verreiste in Fernen, in die ich ihm nicht folgen konnte, und ich zitterte vor seiner Rückkehr.
Aber Sie entwaffneten mich, Ylone. Ich erkannte Sie bald in jeder seiner Veränderungen. Sie waren in jedem Lächeln, in dem er mir gütig begegnete, und er warf einen großen Schatten, wenn Sie ihn alleine ließen. Er war hart und spröde gewesen, aber Sie reiften ihn zur weichen Frucht. Er war noch in sich gefangen, und Sie brachten ihm die Erlösung, die nicht von der Mutter kommen konnte. Er war ein verstreuter Sucher, aber Sie haben ihn gesammelt und gestillt.
Ich begann Sie langsam in Ihrer Schöpfung zu lieben. Ich lebte von ferne mit Ihnen beiden; denn das Glück einer Mutter beruht darin, das Leben der andern zu leben.
Ich sah ein, daß ich mich nur gegen Sie gewehrt hatte, weil ich ahnte, daß ich Sie sonst lieben müßte. Irgendwo in mir begannen Sie zu wachsen, schlugen aus wie ein junger Baum und umblühten mich mit allen Zweigen. Da mußte ich zu Ihnen. Lassen Sie mich die Urne sein, in der Sie beide beschlossen und beschützt liegen. Begreifen Sie mich: In dieser großen Stadt sind zwei Menschen, die ihn am innigsten lieben, und so dachte ich, daß zwei Menschen, in deren Leben ein Thema singt, verschmelzen sollen zu einem Gesang, daß sie sich ineinander schütten müssen zu einer Liebe.“
Die Mutter schwieg und ihre Augen waren zwei milde, tiefe Flammen, die aus ihrer Seele brannten. Ylone aber lehnte erschüttert an ihrer andern Welt. Ihr Körper war ganz vornüber gesunken zu einer stummen Verbeugung vor dieser Mutter.
Da neigten sich ihre Herzen einander und brachen auf wie zwei Ströme, die über weite Landschaft fluten. Und um das Haupt der Mutter schwebte ein goldenes Schluchzen, wie bei allen großen Müttern, die Gott gezeichnet hat und denen ein Wunder gelang.
Ich brachte in dein Dasein den Mann, Ylone, weil ich glaubte, dich dem Leben nicht vorenthalten zu dürfen. Auch ich war ja einmal durch ihn hindurchgegangen, bevor du meine Wohnung wurdest, Geliebte. Einzig wir Frauen wissen tiefer von einander. Der Mann sieht in uns nur sich selbst. Fremde sind wir ihm immer. Wir müssen ihn überwinden, auswandern aus dem irdischen Erlebnis, einziehen in das göttliche, das ohne Körper ist. Solltest auch du es schon damals erkannt haben, Ylone, damals als ich diese sapphische Klage von dir fand:
Betrunkene Gärten weckten mich zur Nacht.
Wer ist es, der so weinend lacht?
Wie Weiden, die zu tief an wilden Wassern lehnen,
Steh ich in meinen uferlosen Tränen.
Des abtrünnigen Schlafs Dämonen
Kommen schon mich zu bewohnen:
Aus männlicher Nacht will ich mich schrein,
Schwester, zu dir, aus allem Dunkelsein,
Du mich entführendes Narzissental!
In dir sind alle Schwestern, frühlingsschmal,
Die von den jungen Inseln nach sich rufen.
Knie mit mir auf antiken Tempelstufen
Um jenes Schicksal, das sie retten kann:
Gib allen Einzahl, löse sie vom Mann!
Wie wenig ein Mann von uns weiß, das sah ich damals vor dem Zusammenbruch eurer Liebe. Es war noch nichts ausgesprochen; es war kaum etwas angedeutet, aber es lag bereits in der Müdigkeit seiner Bewegungen, in der nachlässigen Zerstreutheit, mit der er über dich hinwegdachte, und in der Selbstverständlichkeit, die schon anfing, dich wie eine Gewohnheit, wie den Alltag hinzunehmen.
Dein ganzer Tag war Vorbereitung für den Abend, der Claudio bringen sollte. Aber du begannst zu früh zu warten, und das hatte dich erschöpft. Ich sah, wie du schwer ins Zimmer tratest, aber im ersten seiner Blicke äußerste Anstrengung wurdest. Du warst künstlich bis zur Entwertung. Du warst kaum mehr Du vor Angst. Deine Augen waren die einer Fiebernden, sie waren ganz weit weg, da, wo er dich morgen vielleicht schon zurücklassen würde. Aber ihr wußtet beide nichts von der Verzweiflung, mit der du um einen Aufschub kämpftest. Besinnungslos steigertest du dich, deine Gesten, deine Worte, formtest um und schufst neu. Stürztest aus einem Lächeln, das geliehen war, in die Pose einer Fremden, hattest hundert Gesichter in der Minute, entblößtest alle Menschen, die in dir waren, warst naive Verständnislosigkeit und greisenhaftes Erkennen. Du warst immer das, was er im Augenblick brauchte, und warfst dich ihm zu wie einen Ball. Es war, als wolltest du ein letztes Mal eine Andere für ihn sein, die Neue, die er noch nicht kannte, um das Ende hinauszuschieben, das du im Untergefühl fürchtetest. Er mordete dich langsam mit seiner Ahnungslosigkeit, die dich nicht schützte vor dir selber und deine Demütigung annahm, weil sie nichts von ihr wußte. Aber als du seine neue Sehnsucht erfühltest, nahmst du dich vorsichtig zurück und batest um Einsamkeit. Du strichst seine heißen Blicke aus deinem Herzen und sagtest etwas, das wie: auf Morgen! für ihn klang, aber ich hörte schon die Abschied schluchzende Nachtigall.
Dann war das Zimmer mit uns allein. Das Lächeln auf deinem Gesicht alterte. Und plötzlich begann es zu sterben. Der Stuhl fing steif den Verfall deines Körpers auf, und die Hände fielen verblüht und welk wie erfrorene Blumen herab. Du sahst mich, ohne zu sehen. Deine Blicke waren wie das Flügelschlagen eines Vogels, der Festes sucht. Ich nahm mich zusammen, damit wir das ertragen konnten, was jetzt kommen mußte. Dein Blick wurde fester, hielt auf mir aus wie eine Fermate, sah mich und Dich in mir und wußte.
Du flüchtetest aus meinem Mitleid; denn das Leid um ihn war klein gegenüber der turmhohen Scham über deine Nacktheit, die dich sogar seinen Verlust bestehen ließ. Stolz brach steil aus deinen Mienen. Du wurdest starr und sicher und wuchsest langsam über ihn hinaus, dahin wohin er dir nicht folgen konnte.
Suchtest den Weg zu mir, die dich erwartete, und gingst fort von ihm in diesem Brief:
Nun rede ich noch einmal zu dir, Claudio, denn ich kann nicht im Schweigen von dir fortgehen. Ich muß dich verlassen jetzt, da ich kaum geöffnet bin, weil ich nicht erst warten will, bis du nichts mehr für mich bist als das Bild, das ich mir von dir gemacht habe. Ich hatte seit Jahren dein Nahen gefühlt und war so innerlichst deinem Kommen zugewandt, daß ich mir nicht einmal das Bild eines anderen Mannes merken konnte. Erwartung hing wie ein Mantel um mich und meine Weltfremdheit, bis du ihn aufschlugst über meinem Schicksal.
Ich wußte dies Schicksal vom ersten Kusse an.
Alle Tränen, die ich nicht bei dir weinen durfte, sind noch in meinen Augen. Alle Gedanken, die ich nicht denken konnte, ohne mich vor dir zu entstellen, schreien um Erhörung. Denn gerade meinen Ernst, den ich liebe, mußte ich verbergen, weil ich erkannte, daß du das Spiel wolltest, das zu nichts verpflichtet. Ich verklage mich, daß ich so schwach war, immer dein Lächeln zu lächeln und es wie einen Schleier vor meine schmerzende Dunkelheit zu halten.
Ach, warum hast du immer an mir vorübergeschaut? Lieber als das wäre ich durchschaut worden. Warum hast du mich da aufgeschlagen, wo es dir gefiel, und hast die Seiten überschlagen, die dir unbequem waren? Ahntest du nie, daß ich neben mir saß mit frierendem Herzen und uns zusah und wartete; denn ich selber ging langsam vorbei.
Du hast einen Menschen an mir geliebt, und da waren so viele andre in mir, die darauf warteten, von dir erlöst zu werden. Aber du überhörtest ihre hundert Nuancen, und ich mußte dich in der hundertsten über die anderen neunundneunzig hinwegtäuschen, weil deine Liebe nur die eine ertrug.
Verzeih mir, daß ich dich mit mir betrog von dem Augenblick an, als ich mich selbst für jene andere verleugnete, die du gemeint hattest. Als ich tausendmal mein Ich für dich verlor, verlor ich das Beste an mir: die Treue an mich selbst.
Ich habe sie mir nicht halten können, aber dir habe ich alles gehalten, was ich dir versprochen, und noch mehr, das, was ich dir nicht versprochen hatte. Ich habe die ganze Unendlichkeit meiner Liebe an dich verschüttet, während du nur einige Fingerspitzen der deinen über mich ausstreutest. Ich verbrannte an meiner Hingabe, die mir alles war, du aber erloschst; denn für dich war sie nichts. Ich lebte in Anbetung und du lebtest von der Anbetung. Einer war Gott und einer war Beter.
Immer spartest du, wo ich mich völlig ausgab. Es gab kaum ein Gefühl, in dem ich dich allein ließ, und ich habe mich bemüht, dir nachzuwerden. Aber du kamst niemals dahin, wo ich mir selbst am dunkelsten war. Ich bin immer allein geblieben mit meinem Gefühl, das du aussetztest in die Welt und dessen Sehnsucht nach Erhörung schrie hinweg über die Zeit. Ich glaube, daß ich durch dich hindurchmußte, um mehr von mir zu wissen. Ja, vielleicht habe ich all diese Jahre nur auf mich gewartet.
Nun will ich von dir gehen, ehe es zu spät ist und ich nichts mehr mit meiner Freiheit anzufangen weiß. Ich will nicht warten, bis du dich noch mehr veränderst, nun, da du begonnen hast, mich in einem Kuß zu entkleiden und meine Liebe mit Worten zu versuchen.
Ich will ausruhen von der Qual des Rufens ohne Antwort und wieder da gefunden werden, wo es einzig möglich ist: bei Venera. Hier wird einer im anderen so stark werden, daß man nebeneinander stehen kann. Ich will heimfinden aus meiner Abtrünnigkeit, und wenn ich auch sieben Jahre um mich dienen müßte, um jene wieder zu finden, die ich vor dir war.
Auch an dir habe ich manches verändert, und darum sollst du zurückkehren zu dir, wie man heimkehrt zu seiner Mutter nach langer Reise durch seine Jünglings- und Manneszeit, und seine Kindheit unverändert und unberührt wiederfindet.
Ich danke dir noch einmal, Claudio, für den Traum. Ach, laß ihn mich noch einmal träumen! Ich will die Augen schließen, um dich deutlicher zu sehen. Tanz war die Berührung deiner Hände. Nie fühlte ich das Gitter des Regens und eigener Gefangenschaft. Da waren nicht zwei Lächeln, nicht zwei Küsse, die einander ähnlich waren. Laß mich ein letztes Mal in sie und auf die Insel deines Herzens flüchten. Meine Liebe umspannt dich noch einmal von Kopf zu Füßen wie eine Oktave. Den Weg, den du gehst, sollen Sonnen- und Mondblumen säumen, und paradiesische Schmetterlinge sollen vor dir Frühling tanzen.
Ich werde dir viele Jahre nachsehen auf diesem Wege, den du ohne mich weitergehst, und wenn du dich einmal umsiehst, weil es dunkel wird, wird dir mein Lächeln wie ein Licht entgegenleuchten.
Ich küsse dein Herz ein letztes Mal.
Irgendwo in mir weint es, weine mit mir, Claudio . . . .
Als die fremde Stadt mir Claudio einen Tag lang auslieferte, habe ich dich gerächt, Ylone; denn er liebte mich noch. Ich spielte mit roten Worten. Ich hatte ja nicht nur seine Blindheit zu rächen, nein, vor allem, daß er dich genommen und uns beide gemeint hatte. Er machte es mir schwer. Er war sehr stark an diesem Tage. Mein Blut rauschte, so daß ich fürchtete, mein Gefühl für ihn könnte stärker sein als meine Rache. Ich klammerte mich fest an sie an. Ich schwieg. Er hätte sonst hören können, wie wenig es brauchte, damit ich wieder vor seinem Herzen lag. Aber er sah mich nicht knien; hinter künstlich gefrorenen Blicken. Blutblumen brachen auf und schlangen sich in die Tapete der Wand.
Mein Blick blühte sie nach, wie das Fieber den Mustern der Wände nachschleicht, um ferner von Claudio zu sein. Sterne fielen durch die Fenster und mein Herz lehnte an ihnen, schwer von Abend und Sehnsucht.
O qualvoller Übergang in die Nacht, mit der er tiefer und tiefer in mich hinabstieg! Ich litt. O, ich litt mehr als er, weil ich für uns beide litt. Da fiel mir rettend der Schlaf ein. Wir suchten unsere Zimmer. Ich begriff nicht, daß eine Treppe den Saal mit dem Schlaf verbinden konnte. Ich begriff die Treppe nicht, die mich trug; denn ich war so schwer.
Er schrie stundenlang in meine Nacht. Aber ich zog sie fest über mich. Seine Qual rüttelte an der Tür, die zu ihr führte, und die Fackeln seines Zorns zuckten durch ihr Glas.
Ich habe dich gerächt, Ylone, während er nach mir schrie in der dreizehnten Stunde. Ich drückte meine Angst tief in mein Bett; denn bestand die Tür in Wirklichkeit?
Plötzlich kroch durch die Nacht ein Blatt langsam unter der Tür auf mich zu. Ein Blatt des Aufruhrs, Stücke waren herausgeschnitten, wieder zurückgenommen, weil sie ihm zu stark erschienen. Die Buchstaben schrien durcheinander und warfen sich gequält über das Papier. Er schrieb:
„Höre, Venera, ich weiß, daß du schon lange diese Rache suchst. Bisher war sie dir nur noch zu leicht erschienen. Ich hätte wissen müssen, daß diese Nacht in meiner Niederlage enden werde. Und doch, Venera, ich will lieber deinen Haß, wenn ich deine Liebe nicht haben kann. Mußt du euch beide rächen? O, tue es nicht mit dem schmerzlichen Pathos der Distanz! Freilich, ich habe auch dich in ihr geschändet. Ihr seid eine Einheit, und ich hätte euch niemals trennen dürfen, weil ihr euch nur zusammen geben könnt. Du bist hart zu mir und dir, Venera, weil ich dir zumutete, das zu übersehen. O, wie war ich plump, als ich das Geheimnis eures Körpers mit dem eurer Seelen verwechselte! Und wie habe ich gelogen, indem ich euch auseinander riß!
Venera, du hast recht, euch zu rächen, du hast tausendmal recht. Aber ich kann euch nicht ganz verlieren! Gib mich mir selber und der Erinnerung zurück; ich will nicht mehr als das: Berühre mein Herz und verzeih! So warte ich auf den Morgen.“ Ylone, begreifst du, daß ich die Rache, die ich dir schuldete, nur äußerlich nehmen konnte nach diesem? Daß ich nicht genug verhärtet war, um mich seinem demütigen Leid zu verschließen? Daß ich die Probe vor uns selber nicht ganz bestand, weil ich einen Brief schrieb in jenen Stunden, der mich ihm offenbarte. Freilich, er wird nie wissen, daß ich nur halbe Rache nahm, denn er hat ihn nie erhalten, und ich floh vor dem Morgen, bevor er von der Auferstehung meiner Liebe ahnen konnte.
Aber dir, Ylone, bin ich Rechenschaften schuldig, ich schäme mich vor uns, daß die Frau einen Augenblick lang die Freundin überragte. Versuche zu verstehen, und lies:
„Ich höre dein Herz laut an das meine schlagen, du! Wie schwer deine Liebe an meiner Türe lehnt! Ich weiß, du fühlst, daß ich sie dir hundertmal geöffnet habe in dieser Nacht. Ich weiß, du ahnst meine Widerstandslosigkeit durch die Wand. Einmal will ich dich erträumen wie du nicht bist. Diese Nacht soll nicht unausgekostet und halbgelebt modern wie eine unreife Frucht. Zwar: sie will meine Liebe zu Ylone versuchen, aber diese Liebe wächst über jeden Tag und jede Nacht und wird auch sie überstehen.
Schmerzliche Arien ziehen durch mich. Ich höre dein Herz um meine Türe flattern, ein kranker Vogel, der aus dem Neste fiel. Es ist aus dir gefallen und schreit sich müde. Aber jetzt nehme ich deinen Schmerz an meinen Mund und will ihn in einem Kuß verbergen. Schlaf steht um uns und Abend. Aber in mir leuchten die Sterne. Nie war ich so hell und blühend wie jetzt in dieser Sehnsucht, mit der ich mich dir versagen muß. O Lust dieses Schmerzes! O Tanz dieser Ruhe in uns! Öffne dich der Widmung dieser dich suchenden Stunden, du! Nun will ich dir alle Sterne pflücken und dich mit einem smaragdenen Schloß von unendlicher Zärtlichkeit umgeben.
Alle Tore tun sich auf, wie liebende Frauen, und führen in dich, Kirche. Ich bin gesammelt, wie zu einem Festgottesdienst, wenn das Allerheiligste an meiner Andacht vorbeigetragen wird. Jetzt läuten dich alle Glocken der Welt ein, du Feiertag, jetzt züngelst du bunte Fahne aller Feste, jetzt brechen alle Hymnen und Gebete an dich wie berauschende Blumen auf; ekstatisch begegnen sich unsere unendlichen Wesen, die sich über die Endlichkeit erhoben. Wie zwei körperlose Harfen sind wir auf den ewigen Ton gestimmt; vor der Macht unserer Liebe stürzt alles ein, wir steigen hinunter in unsere verborgensten Schluchten und sind allein auf der Welt. Zwischen deinem Vor-Lächeln und deinem Nach-Kuß liegt die Ewigkeit. Ich danke dir für das Geschenk dieser Ewigkeit, und wenn auch diese Stunde eine Dämmerung haben wird — denn kurz und vergänglich ist jede Ewigkeit — wenn sie auch untergeht und wir auslöschen mit allen wartenden Lampen der Nacht: der Duft dieses unendlichen Augenblicks kann nie verwehen.
Fühle, daß mein Körper nicht bei dir sein darf in dieser heiligen Nacht! Vielleicht hätte mich seine Schwere verhindert, mich an deine Seele hinzugeben. Vielleicht wäre ich bei dir weit fort gewesen, so aber war ich dir nah wie nie durch die Entfernung. Ich gab dir alles, wenn ich mich auch von ferne gab. Ich empfing dich wie Danae den goldenen Gott. Deine Liebe wird nicht in meinem Leibe enden, sondern wird göttlich und endlos sein, wie ihr Fall vom Himmel.
Fühlst du, daß ich dir mehr schenkte in diesem Brief, als dir je aus einer Schnur von Tagen kommen könnte?
Lebe wohl, nun werden wir wieder in der Kälte des Weltalls einsam schweben. Nun muß ich wieder auf den harten Stufen des Gartens schlafen, der in dich mündet. Nun nehme ich mich zurück, nun stehle ich mich; denn wenn ich zu Ylone komme, muß alles aus meinem Gesicht vergangen sein, was an dich erinnern könnte. Nun träume ich dich ein letztes Mal. Lebewohl!
Ich war leise mit dir wie mit einer Kranken nach diesem, Ylone. Ich suchte das lautloseste Schweigen und legte es wie einen Verband um dein Herz. Ich streute meine innigsten Worte wie Blüten vor deine Füße, damit du leichter gingst. Ich bekleidete dich mit den Blicken meiner Liebe und steckte dir meine Küsse an. Ich pflückte die seltensten Blumen aus meinen Gärten und legte sie in deine gefalteten Hände. Ich ging niemals fort, ohne dir etwas mitzubringen: einen träumenden Weg, einen jungen Wind, das Schluchzen eines Vogels, zwei Lächeln eines Kindes oder den duftenden Seufzer eines Baums.
Vorsichtig legte ich meine Geschenke vor die Stille, in die du dich eingeriegelt hattest. Denn manchmal tratest du heraus, um nach dir zu suchen. Du, die niemals die Erde berührt hatte, gingst nun schwer und unruhig auf ihr umher, um dich wieder zu finden.
Und dann kam jener ewige Abend. Die Zimmer waren so brünstig von Sommer. Sie machten schwach. Du rettetest dich an die offenen Fenster und hieltest dich in die laue Nacht hinaus. Die Stadt fieberte und lag in den schäumenden Delirien der krankhaften Dunkelheit. Lichter durchstachen den Raum, den du gequält nach jenem Lichte abtastetest. Ach, da war ein Geruch von Erde, Mond und Unvergänglichkeit, der berauschte und schmerzte in einem. Die Luft vibrierte von Sehnsucht, die aus tausend Fenstern lehnte, daß man aufschluchzte wie ein Brunnen. Atem der Gärten fiel süß in das Zimmer, und wir standen in ihm wie in einer Laube aus Parfüm. Man wurde von weichen Winden verführt, sich aufzulösen in der Erregung des Sommers, sich an das All zu verlieren. Ich sah dich erschauern vor der gewaltigen Melodie dieses Abends. Sah, wie du den Rhythmus deiner weißen Arme zerbrachst, die du an die blühende Luft geschmiegt hattest, und dein weinendes Gesicht hineinwarfst. Und aus Furcht vor der riesigen Nacht, die das Gefühl der Verlassenheit erhöhte, flohst du zurück in die Begrenzung des Zimmers. In diesem Augenblick spürtest du mich im Raum. Dein suchender Blick fiel mir gerade in die Augen. Ich glaube, du erkanntest mich seit Wochen zum erstenmal; denn bisher hattest du an mir wie an einer Fremden vorbeigefühlt. Dein Mund wurde voll Bitten und blieb doch stumm. Deine Kniee brachen ein und warfen dich vor mir nieder. Aber bevor du dich demütigen konntest, hielt ich dich schon in meiner Liebe.
Ich hatte dich so aufbewahrt und gesammelt in mir, daß ich dich dir ganz zurückgeben konnte. Jeder Augenblick deines Gefühls hatte Flügel bekommen und flatterte dir entgegen. Jedes deiner Lächeln suchte dich, und deine ungeträumten Träume warteten darauf, von dir geträumt zu werden. Deine Gedanken hatten noch ihre weißen Gewänder an und neigten sich dir zart wie präraffaelitische Engel. Du konntest dich in mir wie in einem Spiegel sehen, der dein Bild von früher unverändert zurückwarf. Aber ich verhängte diesen Spiegel sorgfältig, um dich nicht zu erschrecken. So wie man nach einer Sommerreise heimkommt und langsam die Leinwand vom verdeckten Spiegel abnimmt, um nicht zu sehr überrascht zu werden; denn seitdem haben uns viele Spiegel gesehen und verändert gesehen, und er ist der einzige, der uns unverändert behalten hat.
So ließ ich dich stückweise und in Zwischenräumen einsehen in mich, damit du dich langsam wieder aufbauen konntest wie ein Mosaik, aus dem ein Sturm einige Steinchen gebrochen hat. Um jedes unserer Worte begann sich von neuem die samtene Stille von Feiertagen zu breiten. Es kamen wieder Abende, in denen wir seidene Bücher mit seidenem Inhalt in die Hände nahmen und uns von ihnen streicheln ließen. Glänzende Tage waren zwischen zwei Dämmerungen wie in amethystene Steine gefaßt. Da floß ein leiser Wind aus den Fächern deiner Hände: Musik. Sie legte sich genesend über deine Seele, die in Gebet gewandet war. Und einmal brach deine Stimme zwischen den Tasten auf wie ein Lied:
Wir haben es geträumt, Venera. Es war ein Stern, der vom Himmel fiel, damit wir uns in ihm noch tiefer lieben sollten. Doch er fiel zu plötzlich und hat uns mit seinem Fall erschreckt. Aber aus dir, du Liebevolle, strahlt er erkannt und leise wieder.
Deine Blicke tasteten nach mir, und langsam kam dein Kuß auf mich zu.
Da zersprang das Glas unsrer Herzen, Geliebte . . .
End of the Project Gutenberg EBook of Der gläserne Garten, by Claire Goll *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER GLÄSERNE GARTEN *** ***** This file should be named 38505-h.htm or 38505-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/8/5/0/38505/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance with this agreement, and any volunteers associated with the production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works, harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees, that arise directly or indirectly from any of the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause. Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of electronic works in formats readable by the widest variety of computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email [email protected]. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director [email protected] Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. 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Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.