The Project Gutenberg EBook of Kasperle auf Reisen, by Josephine Siebe This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org Title: Kasperle auf Reisen Author: Josephine Siebe Illustrator: Karl Purrmann Release Date: July 23, 2011 [EBook #36813] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KASPERLE AUF REISEN *** Produced by Jens Sadowski
Eine lustige Geschichte
von
Josephine Siebe
Mit vier farbigen Vollbildern von Karl Purrmann
Vierte Auflage
Verlag von Levy & Müller in Stuttgart
Nachdruck verboten
Alle Rechte, insbesondere das Übersetzungsrecht, vorbehalten
Druck: Chr. Verlagshaus, G. m. b. H., Stuttgart
Erstes Kapitel. In Meister Friedolins Haus
Zweites Kapitel. Der alte Schrank
Drittes Kapitel. Was am Waldsee geschah
Viertes Kapitel. In Protzendorf beim Bauer Strohkopf
Sechstes Kapitel. Kasperle im Schloß
Achtes Kapitel. Ein neues Heimathaus
Neuntes Kapitel. Kasperle in der Schule
Zehntes Kapitel. Eine neue Gefahr
Elftes Kapitel. Abenteuer über Abenteuer
Zwölftes Kapitel. Kasperle wird ein Gespenst
Dreizehntes Kapitel. Der bunte Garten
Vierzehntes Kapitel. Die Reise mit Herrn Severin
Fünfzehntes Kapitel. Wieder daheim im Waldhaus
Mitten im Walde stand irgendwo vor etwa hundert Jahren ein altes Haus. Wie alt es war, wußte niemand ganz genau; die Leute in der Umgegend sagten, ein paar hundert Jahre könne es schon stehen. Früher war der Wald drum herum groß und weit gewesen, man hatte sich recht darin verlaufen können. Dann waren die Dörfer näher gerückt, am Rande war viel abgeholzt worden, und vom uralten Häuschen führten schließlich drei Straßen ins Land.
Überall da, wo die Straßen endeten, lag ein Dorf, im Osten Schönau, im Süden Lindendorf und im Westen war eins, das die Leute Protzendorf nannten. Dort wohnten lauter sehr reiche Bauern, die arg hochmütig waren. Mit den Bewohnern der andern Dörfer verkehrten sie gar nicht, und die Kinder aus Protzendorf kamen auch nie zum Waldhäuschen gelaufen. Das taten die Kinder aus den andern Dörfern nämlich sehr gern, denn im Waldhäuschen lebte ein Holzschnitzer, der gar wunderliche, schnurrige Dinge schnitzte. „Kasperleschnitzer“ hieß er in der Umgegend; er schnitzte emsig den ganzen lieben Tag lauter Kasperlepuppen, und seine kleine Frau Annettchen zog die Puppen an. Da saß manchmal eine bunte Gesellschaft auf der Holzbank im Waldhäuschen, und die Kinder aus Schönau und Lindendorf kamen oft gelaufen, sich die Kasperlepuppen anzusehen. Sie erfuhren es immer, wenn wieder eine Anzahl Puppen zum Verschicken in die weite Welt fertig waren. Liebetraut, des Kasperleschnitzers Pflegetochter, kam dann geschwind in eins der Dörfer gelaufen und sagte es den Kindern, denn das Mädchen war mit allen Kindern gut Freund. Ja, manchmal hängte Liebetraut vor eins der kleinen Fenster im Waldhäuschen einen roten Vorhang; dann spielte sie mit den Puppen den Kindern etwas vor, und das ganze kleine Waldhaus war umjauchzt von Lachen. Den Kindern wurde das Abschiednehmen von den Kasperlepuppen immer sehr schwer, doch die wurden in eine große Kiste gepackt, reisten in die weite Welt hinaus, und keine kehrte mehr ins Waldhaus zurück.
In Lindendorf und Schönau wußten die Leute nicht viel davon, daß der Kasperleschnitzer eigentlich ein berühmter Mann war. Aber auf den Jahrmärkten und Messen im weiten deutschen Land und darüber hinaus, da war sein Name bekannt, und jeder, der ein Kasperletheater besaß, schätzte sich glücklich, wenn er Puppen hatte, die von dem Meister Friedolin geschnitzt waren. Alle sagten es, weit und breit seien keine lustigeren und vergnüglicheren Puppen zu finden. Und angezogen waren sie — ei Potzwetter! Frau Annettchen und Liebetraut wußten für die Kittelchen und Mützchen immer wieder etwas Neues zu ersinnen, ganz wundernett putzten sie die Puppen heraus.
Es ging friedlich und fröhlich zu im kleinen Waldhaus. Reichtümer gab’s nicht darin, aber Hunger brauchten die Bewohner auch nie zu leiden. Meister Friedolin selbst war ein stiller Mann; er saß von früh bis spät bei seiner Schnitzarbeit, aber er hörte es gern, wenn seine Frau Annettchen lachte und Liebetraut sang. Von draußen rauschten die Bäume herein, der Vögel Stimmen erschallten, und Frau Annettchen sagte manchmal: „So schön wie bei uns ist es nirgends.“
Die blonde Liebetraut war auch ein rechtes Sonnenkind. Woher sie gekommen, wußte niemand; ein Wanderbursch hatte eines Tages im Herbst ein kleines Bündel ins Waldhaus gebracht und gesagt: „Hier, Frau, das habe ich draußen auf der Straße gefunden.“ Aus dem Bündelchen hatten Frau Annette zwei große, blaue Augen angestrahlt, und da hatte die gleich gerufen: „O so ein liebes, trautes Kindle! Das möchte ich gleich behalten!“ Und beim Behalten war es geblieben. Niemand wußte, wem das Kind gehörte, niemand kannte seine Eltern. Da taufte der Pfarrer in Schönau die Kleine auf den Namen Liebetraut, und Meister Friedolin und Frau Annette wurden ihre Eltern. Das war aber schon lange her, inzwischen war Liebetraut ein hübsches, großes Mädchen geworden, an dem seine Pflegeeltern eine rechte Herzensfreude hatten.
Auch Liebetraut fand, im Waldhäuschen sei es am allerschönsten in der Welt. Mit den Kasperlepuppen hatte sie immer ihren besonderen Spaß. Sie sagte oft: „Schade, daß sie nicht lebendig sind!“ Und wie sie das einmal wieder sagte, an einem rechten Wintertag war es, — draußen schneite es in großen Flocken, alle Wege waren schon verschneit, und um das Waldhäuschen brauste der Sturm — da sagte plötzlich der sonst so stille Friedolin: „Einen lebendigen Kasper hat mein Ur-Ur-Urgroßvater besessen.“
Darob mußte Liebetraut herzhaft lachen. Aber der Meister belehrte sie ganz ernsthaft: „Nein, nein, Kind, darüber ist nicht zu lachen, das ist wahr. Du weißt es doch, daß mein Ur-Ur-Urgroßvater schon ein Holzschnitzer war und hier im Waldhause gewohnt hat. Der hat nun freilich keine Kasperlefiguren geschnitzt, sondern Heiligenbilder und feine, schöne Dinge für den Hausrat.“
„Wie die Uhr,“ rief Liebetraut dazwischen. Sie schaute auf die alte Kastenuhr, die ein zierliches Schnitzwerk umrankte. Da gab’s Bäume und Blumen und allerlei Getier des Waldes.
Der Meister Friedolin nickte. „Ja freilich,“ sagte er, „die Uhr hat mein Ahn geschnitzt und sonst noch allerlei für Kirchen und Schlösser. Er war ein angesehener Mann, und sein Schnitzwerk hatte großen Ruf. Da ist er denn auch manchmal über Land gegangen und hat da und dort wochenlang gearbeitet; auf manchem großen Schloß ist er gewesen. Er hat alleweil gesagt, schön sei das schon, auf einem Schloß wohnen, aber er bleibe doch lieber in seinem Waldhaus.
Und einmal, da ist er wiederum auf der Heimreise gewesen, und weil er solche Sehnsucht nach zu Hause gehabt, hat er sich recht gesputet. Der Wald, der damals unser kleines Haus umgab, war viel größer als jetzt. Bei Nachtzeit ist es nicht recht geheuer darin gewesen, und es hat sich selten jemand getraut, in der Dunkelheit durch den Wald zu gehen. Mein Ahn aber hat gedacht: Ach was, mitten im Wald liegt ja mein Haus, bis dahin werde ich schon kommen! Es ist ganz heller Mondschein gewesen, wie Silber ist es an den hohen Bäumen heruntergeflossen, und die Waldwiesen haben ordentlich geglänzt. Da, in dieser stillen Helle, hat mein Ahn auf einmal ein sonderbares Geräusch gehört; als ob jemand lachte, so hat es geklungen. Er ist stillgestanden und hat sich umgeschaut, und auf einmal sieht er einen ganz wunderfitzigen kleinen Kerl auf einer Lichtung immer Purzelbäume schlagen. Flink ist er hingegangen, und schwipp — schwapp hat er das Kerlchen am Hosenboden gepackt. Das war nun allerdings ein närrischer Kumpan, den er da erwischt hatte. So groß wie ein Büble von sieben bis acht Jahren ist er gewesen. Das Bürschchen hat eine große Hakennase gehabt und einen riesengroßen Mund. Auf dem Kopf hat es eine feuerrote Zipfelmütze getragen mit lauter goldenen Glöckchen dran; dazu hat der kleine Kerl ein ganz buntes Kleid angehabt, das aber so zerrissen gewesen ist, als hätte er’s schon fünfzig Jahre auf dem Leibe.
‚Wer bist denn du?‘ hat mein Ahn gefragt.
Der kleine Kerl hat erst sein Gesicht ganz wunderlich verzogen und zum Antworten so recht keine Lust gezeigt. Doch weil mein Ahn ihn mit einem gar festen Griff hielt, hat er ihm endlich doch Auskunft gegeben. Er sei ein echtes, rechtes, lebendiges Kasperle, hat er gesagt. Hoch im Norden habe er bei einem berühmten Magier gelebt, der dort in einer alten Stadt ein uraltes Haus besessen habe. Der Magier habe ihn immer fest verschlossen gehalten und oft seinen rechten Spaß an ihm gehabt. Aber das einsame Leben in dem uralten Hause sei ihm, dem Kasperle, langweilig geworden, und eines schönen Tages, als der Magier nicht alles fest verschlossen gehabt habe, sei er ausgerissen. Seit vielen Jahren treibe er sich nun in der Welt herum; jahrelang sei er Hofnarr bei einem Fürsten gewesen, dann habe er auf Messen und Märkten sein Wesen getrieben.
Mein Ahn dachte bei sich: Ein richtiges Kasperle zu finden ist ein schönes Ding, den nimmst du mit heim. Und er nahm den Kleinen, der auch ganz gutwillig folgte, mit sich in das Waldhaus. Dort hat das Kasperle nun viele Jahre gelebt. Mein Ahn hat angefangen nach seinem Gesicht Puppen zu schnitzen, und weil das Kasperle die sonderbarsten und merkwürdigsten Gesichter ziehen konnte, sind die Puppen ganz besonders gut geraten. Bald wollten viele Leute solche Kasperlepuppen haben, und als schließlich mein Ahn starb und sein Sohn an seine Stelle trat, gab der es auf, anderes Schnitzwerk zu machen, sondern schnitzte nur noch Kasperlepuppen. So ist es dann auch geblieben. Der Sohn lernte immer vom Vater die Kunst, und wenn ich selbst einen Sohn hätte, sollte mir der auch Kasperleschnitzer werden.“
Meister Friedolin schwieg, und Liebetraut fragte ganz aufgeregt: „Aber das Kasperle, Vater, wo ist denn das Kasperle geblieben?“
Der Meister schnippelte nachdenklich an einer Puppe herum. „Ja, wenn ich das wüßte!“ brummelte er. „Mein Großvater selig hat’s noch gewußt; aber der ist eines Tages so schnell verstorben, und mein Vater ist damals noch ein ganz kleiner Junge gewesen, da hat er das Geheimnis nicht erfahren. Mein Großvater soll’s einem Freund gesagt haben, aber wer der gewesen ist und wohin der gekommen ist, das weiß kein Mensch. Jedenfalls, ich hab’ das Kasperle mein Lebtag nicht gesehen und mein Vater selig auch nicht.“
„O wie schade!“ rief Liebetraut. „Wie wäre das lustig und vergnüglich, hätten wir ein richtiges Kasperle hier!“
Der Meister schmunzelte. „Das glaube ich wohl, du Tollkopf,“ sagte er, „das könnte dir gefallen, ihr kaspertet den ganzen lieben langen Tag hier im Häuschen herum!“
„Jetzt kommt er schon wieder!“ unterbrach auf einmal Frau Annettchen das Gespräch. Sie schaute ordentlich etwas ärgerlich zum Fenster hinaus; der Gast, der draußen ankam, schien ihr gar nicht zu gefallen. Aus einem Schlitten, der vor der Haustür hielt, stieg ein dicker Mann in einem Pelzrock; der schüttelte sich erst draußen etwas den Schnee ab, dann kam er in das Häuschen. Er öffnete die Tür zur Wohnstube und schrie laut und sehr freundlich „guten Tag“ hinein.
Sein Gruß wurde sehr kühl erwidert; Liebetraut lief gleich davon, und die sonst so freundliche Frau Annettchen sagte gar nichts. Das schien indes Herrn Pumpel, der ein Händler und Hausierer war, gar nicht anzufechten. Er setzte sich auf einen Stuhl und fing an, mit seiner lauten, lärmenden Stimme allerlei zu erzählen, dies und das von seinen Fahrten, von seinen Geschäften, was er alles kaufte und verkaufte, und da sagte auf einmal Frau Annettchen ganz laut und streng: „Unsere alten Schränke kriegen Sie aber doch nicht, Herr Pumpel. In unserem Häuschen wird nichts gerührt und gerückt, solange mein Mann und ich leben.“
„Na, na, na!“ brummte Herr Pumpel, er zwinkerte mit den Augen und sah aus wie jemand, der sich eben sehr geärgert hat.
„Gelt, Friedolin,“ rief Frau Annettchen, „unsere Schränke kriegt Herr Pumpel nicht?“
„I wo!“ Der Meister schüttelte bedächtig den Kopf. „Ich hab’ einmal nein gesagt, und dabei bleibt’s.“
Da wußte Herr Pumpel, er war wieder einmal vergeblich gekommen, und nach ein paar Augenblicken nahm er Abschied und fuhr brummend und verstimmt wieder davon.
Kaum war er zum Zimmer hinaus, da steckte Liebetraut den Kopf zur Türe herein und fragte froh: „Ist er wieder weg? Hat er wieder die alten Schränke gewollt?“
Frau Annette bejahte, und dann redeten die drei Bewohner des Waldhäuschens von Herrn Pumpel und warum der in aller Welt nur ihre alten, wurmstichigen Schränke kaufen wollte. Schon sein Vater hatte das gewollt, aber da hatte Meister Friedolins Vater nein gesagt, und jetzt sagte Meister Friedolin auch nein.
Die Schränke, um die es ging, standen im Obergeschoß des Häuschens. Sie waren uralt, zeigten ein wenig Schnitzwerk, waren aber von keiner besonderen Schönheit. Sie hatten wohl immer schon an ihrem Platz gestanden und sollten weiter dort stehen, mochte Herr Pumpel so viel darum gefahren kommen, wie er wollte.
„Gut, daß er wieder weg ist,“ rief Liebetraut. Sie rückte ihr Stühlchen dicht neben Meister Friedolins Platz, nahm ein schwefelgelbes Puppenröckchen in die Hand, um daran zu nähen, und bat: „Vater Friedolin, erzähl’ noch was von deinem Ahnen, der das Kasperle fand.“
Und Meister Friedolin schnitzte und erzählte dazu, Frau Annettchen und Liebetraut nähten, und alle drei fanden wieder einmal, nirgends auf der ganzen Welt könnte es schöner sein als in ihrem uralten Waldhäuschen.
Herr Pumpel fuhr ganz bitterböse davon. Er ärgerte sich gewaltig, daß er die alten Schränke nicht hatte haben können. Er brummte und schalt darob so viel, daß sein Kutscher dachte: Was er nur an den alten Schränken hat? Immer wieder fährt er danach; ich denke beinahe, es wird etwas Besonderes damit sein. Vielleicht steckt ein verborgener Schatz drin, denn sonst fährt doch wirklich kein vernünftiger Mensch bei einer solchen Kälte in den Wald.
Es war wirklich sehr, sehr kalt, und es blieb noch viele Tage so. Auf einmal aber kam der Tauwind; der fing ein gewaltiges Blasen an, und da schmolz der Schnee und lief davon — heidi, weg war er! Um das Waldhäuschen sauste und brauste es mächtig in diesen Tagen, aber Liebetraut lief trotz dem Sturm immer wieder vor die Türe, steckte ihre kleine Nase hinaus und rief jubelnd: „Es riecht nach Frühling; ganz gewiß, er kommt bald.“ Und dann patschte sie einmal draußen im feuchten Walde herum, und als sie wiederkam, brachte sie für Mutter Annettchen die ersten Schneeglöckchen mit.
Das gab eine Freude im Waldhäuschen! Ein richtiges kleines Fest wurde es, denn auf den Frühling freuten sich die Waldhausleute immer. Und diesmal ließ sich der Frühling gar nicht wie sonst manchmal sehr lange bitten. Er kam ganz geschwinde angezogen, und bald konnte Frau Annettchen sagen: „Nun heizen wir nicht mehr, jetzt wärmt schon die Frühlingsluft.“ Da wurden alle Fenster weit aufgemacht, und durch einen Schlitz zwischen zwei großen Tannen guckte die liebe Sonne gerade in das Häuschen hinein. Wunderherrlich war es! Liebetraut lief alle Tage und pflückte Frühlingsblumen. Damit füllte sie lauter bunte Töpfchen, und wenn die Kinder aus Schönau und Lindendorf gelaufen kamen, dann gefiel es ihnen noch besser als sonst im Waldhäuschen. Putzniedlich fanden sie es und wären am liebsten gleich drin geblieben.
An einem dieser schönen Frühlingstage war es, da saß der Meister Friedolin noch fleißiger als sonst an seinem Arbeitstisch. Es sollte in den nächsten Tagen eine Kiste Kasperlepuppen in die weite Welt gehen, und einige Figuren mußte er vorher noch fertig schnitzen. Wie er so recht mitten in der Arbeit war, brach ihm an seinem Schnitzmesser die Spitze ab. Das war nun wirklich ärgerlich. Obgleich gerade Frau Annettchen vom Frühling redete, brummelte er doch eine ganze Weile, bis er sich endlich erhob, um aus dem Vorratsschrank ein neues Schnitzmesser zu holen. Er stieg die alte Treppe hinauf, die unter jedem Schritt ächzte und krachte, just als wollte sie etwas aus vergangenen Zeiten erzählen. Oben auf dem halbdunklen Flur des oberen Stockwerkes standen ein paar alte große Schränke. Das waren die, welche Herr Pumpel so gerne hatte haben wollen. In diesen Schränken wurde seit langen, langen Zeiten alles verwahrt, was Meister Friedolin zu seiner Kasperleschnitzerei brauchte.
An diesem hellen Frühlingstag flitzte die Sonne auch durch das kleine Flurfenster; die beiden Schränke bekamen einen Schein von ihrem Lichte ab. Das kam dem Meister Friedolin sehr zu passen. Er öffnete erst den einen Schrank, und als er das Gesuchte darin nicht fand, tat er den andern auf. Weil es gerade so hell war, kramte er ein bißchen in den Schränken herum. Er sah nach, ob dies und das noch da war, und dabei fiel ihm auf einmal in dem einen Schrank auf, daß auf der einen Seite ein Spältchen offen war. Na nu, dachte er, der Schrank wird wohl altersschwach und platzt noch gar! Er schob, zog ein bißchen an dem Spalt, und da ging auf einmal ein Türlein auf, und der Meister Friedolin sah zu seinem Erstaunen in einem schmalen Fach eine Figur stehen, die war etwa so groß wie ein sieben- bis achtjähriger Bub. Die hatte er doch noch nie gesehen! Der Meister schüttelte erstaunt den Kopf. Wo kam das Ding nur auf einmal her? Endlich aber faßte er danach und zog die Puppe aus dem Fach heraus. Und wie er sie so anfaßte, war es ihm, als rühre sich die Gestalt. Er stellte sie flink auf die Erde und sah sich das Ding an. „Nein, so etwas!“ rief er. „Das ist ja wirklich ein Kasperle!“
Kaum hatte er das gesagt, da fing der kleine Kerl an sich zu schütteln und zu bewegen, er nickte mit dem Kopf, hob die Arme, und eine dicke, dicke Staubwolke ging von ihm aus.
„Hatzi — hatzi — hatzi!“ Der Meister nieste, der sonderbare kleine Kerl nieste, und Frau Annettchen, die das unten hörte, rief: „Friedolin, du kriegst wohl einen Schnupfen?“
Die Stimme von unten schien das Männlein aus dem Schranke ganz munter zu machen. Er fing auf einmal an zu lachen, und hops — hallo! lief es die Treppe hinab. Der Meister Friedolin starrte dem Dinge höchlichst verwundert nach. Er konnte sich die Sache gar nicht erklären. Und niesen mußte er immer wieder, er nieste und nieste, und inzwischen polterte unten das kleine seltsame Ding in die Wohnstube hinein.
Frau Annettchen schrie laut auf vor Entsetzen, und Liebetraut, die gerade mit Blumen in der Hand in das Zimmer trat, ließ die erschrocken fallen. „O du meine Güte,“ rief Frau Annettchen, „was ist denn das für ein Popanz!“
Der kleine Kerl blieb mitten in der Stube stehen, er sah sich rund um, schüttelte den Kopf, und wieder flog eine dichte Staubwolke auf. „Hatzi, hatzi!“ nieste er, Frau Annettchen nieste, Liebetraut nieste, und Meister Friedolin kam niesend in die Stube. „Hallo, da ist das Ding!“ rief er und packte den wunderlichen Gesellen. „Jemine, das sieht ja beinahe wie ein Kasperle aus!“
„Ich bin doch Kasperle!“ sagte der Kleine kläglich. „Wo ist denn die Madame Erdmute und der Meister Ephraim?“
„Was schwätzt du da?“ Meister Friedolin schlug sich plötzlich mit der Hand vor die Stirn. „Das waren ja meine Urgroßeltern. Heiliger Bimbam, ich glaube gar, das ist das verschwundene Kasperle! Du,“ — er schüttelte den Kleinen, daß der Staub nur so herumflog, — „besinne dich mal: wie bist du denn in den Schrank gekommen, und was hast du drin gemacht?“
„Ich hab’ doch geschlafen!“ Der Kleine gähnte laut. Und auf einmal fing es in ihm an ganz erschrecklich zu knurren; das rumpelte und pumpelte wie die Wackersteine im Magen des schlimmen Wolfes. „Oh, oh, oh,“ jammerte er, „ich hab’ solchen Hunger, ach, so schrecklichen Hunger.“
„Um Himmels willen,“ schrie Frau Annettchen, „der stirbt ja noch vor Hunger! Wer weiß, wie lange der nichts gegessen hat!“
„Kann sein bald hundert Jahre,“ murmelte Meister Friedolin. „Nu, nu, das ist doch nicht möglich, daß der so lange im Schranke gesteckt hat!“
„Hunger, au, au, ich hab’ so schrecklichen Hunger!“ schrie der kleine Gast, und da rannten Mutter Annettchen und Liebetraut erschrocken in die Küche und brachten herbei, was nur da war. Brot, Wurst, Butter, Milch, und alles stopfte der wunderliche Geselle in seinen großen Mund. Er schluckte und schluckte, wurde zusehends dicker, bis er endlich beide Backen aufblies und sehr vergnügt rief: „Ich kann nicht mehr!“
„Na, das ist ein Glück!“ sagte Meister Friedolin. „So eine Esserei hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen. Aber nun sag mir mal, du —“
„Kasperle heiß ich,“ rief der Kleine.
„Also gut, du Kasperle, wie bist du in den Schrank gekommen?“
Kasperle riß seine Augen weit auf, den Mund dazu, dann seufzte er, schüttelte sich wieder und murmelte: „Ich weiß nicht.“
„Aber besinn dich doch,“ mahnte der Meister, „du mußt es doch wissen!“
Kasperle sah sich in der Stube um, fremd und erstaunt, doch plötzlich erblickte er die große alte Kastenuhr und schrie: „Die hat der Meister gemacht.“
Den Waldhausleuten wurde es ganz unheimlich. War der schnurrige Kauz nun wirklich das Kasperle, das einst mit den Urahnen zusammengelebt hatte? Wie war es in den Schrank gekommen? Hatte es wirklich so viele, viele Jahre geschlafen?
„Besinn dich doch!“ sagte Meister Friedolin.
„Ich weiß nicht.“ Kasperle suchte wieder, das Nachdenken schien ihm arge Mühe zu machen. Ganz traurig wurde darüber sein Schelmengesicht. „Ich weiß nicht,“ sagte er nur immerzu kläglich. Und wieder schüttelte er sich heftig, und dabei fiel ein großer vergilbter Zettel von seinem Kittel ab.
Liebetraut hob den geschwinde auf. Sie blickte drauf und rief: „Da steht etwas über Kasperle, hier, Vater, sieh!“
Meister Friedolin nahm den Zettel, setzte bedächtig seine Brille auf und las: „Wer dies Kasperle findet, der soll es fein sorgsam hüten, bis es aufwacht, sintemalen es ein echtes Kasperle ist. Mein Lehrjunge Johann Heinrich Pumpel hat böswilligerweise dem Kasperle einen Schlaftrunk gegeben, ein Wunderelixier, das einstens mein Großvater aus dem Lande Italien mitgebracht hat. Davon kann einer viele, viele Jahre in Schlaf sinken. Nach Ablauf der Zeit wacht er dann lebendig wieder auf. Doch ist es ein Teufelszeug, und es weiß jetzt kein Mensch mehr, wie es gemacht wird. Das Kasperle schläft nun schon die vierte Woche, und weil ein Gerede in der Gegend ist, ich hätte einen Zauber im Haus, schließe ich es lieber in den Schrank ein. Dieses schreibe ich auf, weil niemalen ein Mensch weiß, wie seines Lebens Gang ist, und es könnte sein, das Kasperle geriete einst in fremde Hände. Der Pumpel hat seinen Teil gekriegt, mehr Haue, als ihm lieb war; er wird wohl zeitlebens daran denken. Mein Sohn soll das Geheimnis wissen, der soll es wieder seinem Sohne sagen und so fort, bis einmal das Kasperle wach wird. Es soll auch jeder gut und freundlich zu dem Kasperle sein, ihm kein Leid tun. Nur muß man es sorgsam hüten, denn das Kasperle bekommt manchmal, sonderlich im Frühling, eine törichte Lust auszureißen, und es könnte ihm schlimm ergehen in der weiten Welt, doch bekommt es immer wieder Sehnsucht nach dem Waldhaus.“
„Das hat der Meister Ephraim, der Urgroßvater, geschrieben,“ sagte Meister Friedolin, als er fertig gelesen hatte. „Und nun weiß ich auch, warum der Händler Pumpel so gern den Schrank wollte; der wußte, wer drin steckte. Das echte Kasperle, nein so etwas! Und geschlafen hat es fast neunzig Jahre.“
„Ein Wunder, wirklich ein Wunder!“ Frau Annettchen war die Geschichte ordentlich unheimlich, und sie sah das Kasperle mißtrauisch von der Seite an.
Dieses nickte immer vor sich hin, ein bißchen nachdenklich und ein bißchen betrübt, und Liebetraut fühlte plötzlich tiefes Mitleid mit dem kleinen Kerl. Sie trat zu ihm, streichelte ihn sanft und sagte freundlich: „Ein neues Kittelchen muß er aber haben; da seht nur, seins ist ja ganz morsch.“
Kasperle blickte zu dem schönen Mädchen auf, und er sah die Güte in ihren Augen strahlen; da gewann er sie lieb. Er lehnte sich an sie an und bettelte: „Näh’ mir gleich ’nen Kittel! Ich will dir auch immer folgen.“
Liebetraut fielen die Worte des Meisters Ephraim ein, und sie fragte schnell: „Immer folgen und auch nicht ausreißen?“
„Nein, nicht ausreißen,“ versprach Kasperle treuherzig.
„Gibst du dein Wort, kleines Kasperle?“ Liebetraut hielt des Kleinen Hand fest, und der nickte wieder und beteuerte: „Ich reiße nicht aus, aber — ich will auch nicht mehr in den Schrank.“
„I bewahre, da kommst du nicht mehr hinein!“ sagte Meister Friedolin. Der hatte nämlich sein Schnitzmesser genommen und begann der Puppe, die er schnitzte, Kasperles Gesicht zu geben, wie der flehend zu Liebetraut emporsah. Hei, wie das ging! So flink war das Schnitzen noch nie gegangen. Der Meister dachte bei sich: Ei, nun sollen Meister Friedolins Kasperlepuppen erst recht auf Messen und Märkten gefallen!
Das Kasperle aber rieb sich jetzt den letzten Schlaf aus den Augen, und je mehr es sich umsah, desto besser gefiel es ihm wieder im Waldhaus. Da schoß es plötzlich vor Freude einen Purzelbaum, hopp! hoch über Mutter Annettchen hinweg. Und ehe die kleine Frau noch wußte, wie ihr geschah, saß das Kasperle schon auf ihrem Wandbrett und begann mit den schönen blanken Zinntellern Fangeball zu spielen.
„Warte, du Irrwisch!“ schalt Mutter Annettchen, und dann tat sie einen Seufzer. „I, da haben wir ja einen rechten Kobold im Haus!“
Ein Kobold war nun Kasperle gerade nicht, aber ein unnützer Schelm war er. Das merkten die Waldhausleute gleich am ersten Tag. Das polterte, klirrte und krachte nur so im kleinen Haus, mal saß Kasperle oben, mal unten. Er kroch in alle Ecken, und fand er ein Stück vom uralten Hausrat, erhob er ein großes Geschrei. Viel zu erzählen, wie es damals gewesen war, wußte er freilich nicht, das hatte er alles verschlafen. Nur die Sachen erkannte er wieder und die Namen wußte er noch. Frau Annettchen nannte er immer Madame Erdmute. Der gefiel das gar nicht. Ihr war das Kasperle überhaupt etwas gar zu wild, und sie war froh, als es Zeit war, schlafen zu gehen. Sie mahnte: „Ins Bett, ins Bett! Abends Licht verbrennen und morgens die Sonne unnütz scheinen lassen, ist Verschwendung. Flink, ins Bett!“
Da erhob Kasperle ein großes Geschrei. „Ich will nicht schlafen gehen, ich will nicht schlafen gehen! Ich habe doch fast neunzig Jahre geschlafen und bin nicht mehr müde.“
„Potzwetter, das muß ich sagen, neunzig Jahre, da sollte einer wirklich ausgeschlafen haben!“ sagte der Meister. „Kasperle mag aufbleiben.“
„Allein aufbleiben? I du meine Güte, der möchte eine nette Wirtschaft anrichten! Das geht nicht,“ meinte Mutter Annettchen.
„Ich will mit aufbleiben, ich nähe gleich seinen Kittel fertig.“ Liebetraut war schon dabei, für Kasperle ein neues Röcklein zu nähen.
Erst sah Mutter Annettchen etwas bedenklich drein, das Aufbleiben mochte ihr nicht recht gefallen. Aber Meister Friedolin meinte, so schlimm wäre das nicht, und ein ordentlicher Kittel täte Kasperle wirklich not.
So durfte denn Liebetraut aufbleiben. Die Pflegeeltern gingen zu Bett, und das zappelige Kasperle versprach, es würde stille sein und nicht Tische, Stühle und Schränke und sonst allerlei umwerfen. Es setzte sich in eine Sofaecke und schaute ganz brav zu, wie Liebetraut nähte. „Mach’ einen Kittel, wie ihn kleine Menschenjungen tragen,“ bettelte er.
„Warum denn?“ Liebetraut sah den Kleinen erstaunt an. Da schlitzte der ein wenig die Augen zu und brummelte: „Es brauchen doch nicht alle zu sehen, daß ich ein Kasperle bin!“
„O Kasperle,“ rief Liebetraut, „ich merke es schon, du denkst ans Ausreißen! Das wird also nichts. Du bekommst einen richtigen bunten Kasperlekittel. Da, die grasgrünen, feuerroten und himmelblauen Flecke kommen alle darauf.“
Kasperle brummte und schmollte ein bißchen, als aber Liebetraut mahnte: „Denk’ an dein Versprechen!“ da hing er die Nase und wurde still. Er sah gleich ganz tiefbetrübt aus, und Liebetraut sagte mitleidig: „Erzähle mir was, Kasperle!“
„Erzähle du mir was, Liebetraut!“ rief Kasperle. „Ach bitte, bitte, bitte, Kasperle hört schrecklich gern Geschichten!“
„Na, dann paß’ auf!“ sagte Liebetraut, und sie begann feine, liebe Geschichten zu erzählen, vom Wald, von Blumen, Bäumen, von schelmischen Waldgeistlein und lieben, lustigen Menschenkindern. Sie erzählte und erzählte, und wenn sie einmal etwas innehielt, gleich schrie Kasperle: „Mehr, mehr!“
Aber dann merkte Liebetraut auf einmal, daß Kasperle ganz still war. Da ließ sie ihre Arbeit sinken, blickte auf und sah — Kasperle war eingeschlafen. Sie lachte leise vor sich hin. Na, dachte sie, wenn einer neunzig Jahre geschlafen hat und kann dann noch nicht eine Nacht wachen, das ist schon ein kleiner Faulpelz! Sie selbst nähte emsig weiter, merkte es gar nicht, daß draußen der helle Tag heraufzog, und gerade als sie den letzten Stich tat, öffnete sich die Türe und Mutter Annettchen trat ein. „Aber Mädchen,“ rief diese, „die Lampe ist ja ganz niedergebrannt und —“
„Kasperle ist eingeschlafen,“ sagte Liebetraut, sie hob das fertige Kittelchen hoch, „und ich bin fertig.“
„Gott sei Dank, daß der kleine Irrwisch doch noch schlafen kann!“ Mutter Annettchen lachte. „Ich hatte schon Angst,“ redete sie weiter, „er würde nun neunzig Jahre keine Nacht mehr schlafen mögen. Wir hätten ihn dann wirklich in den Schrank sperren müssen.“
„Ich will nicht in den Schrank gesperrt werden,“ schrie Kasperle erschrocken. Der war bei den letzten Worten aufgewacht. Und vor Schrecken schoß er gleich einen Purzelbaum über den Tisch hinweg. Hops, bums! Da purzelte er dem Meister Friedolin, der eben aus der Schlafkammer kam, an den Magen, und der gute Meister rief erschrocken: „Uff! Na, man merkt, daß ein Kasperle im Hause ist!“
Eine ganze Woche war das Kasperle schon im Waldhaus, und es hatte schon mehr dumme Streiche gemacht als zehn Buben in einem Jahr.
Lieber Himmel, was richtete der kleine Kerl alles an! Immer saß er irgendwo, wo er nicht sitzen sollte. Einmal kletterte er in den Geschirrschrank, einmal fiel er in der Vorratskammer in die Milch, dann wieder zog er das Ofenloch auf, und eine Rußwolke flog durch die Stube, oder er brachte Frau Annettchens Näharbeit auseinander, daß die Flicken überallhin verstreut wurden. Manchmal drohte Meister Friedolin: „Warte, ich stecke dich in den Schrank!“ Aber wenn Kasperle dann so jämmerlich weinte und greinte, tat es dem Meister immer wieder leid.
Am wenigsten schalt Liebetraut auf Kasperle; dabei hatte ihr der unnütze kleine Strick schon manchen Schabernack gespielt. Freilich war er danach immer wieder zutraulich und umschmeichelte Liebetraut, da konnte ihm die nicht böse sein. Sie redete auch immer wieder den Pflegeeltern zu, und Meister Friedolin und Mutter Annettchen hatten doch wieder ihren Spaß an dem unnützen Schelm.
Das Waldhäuschen war klein, und Kasperle ging es wie einst vor bald hundert Jahren: es wurde ihm langweilig darin. Und weil er allein nicht in den Wald gehen durfte, bekam er erst recht Sehnsucht danach. Er dachte mehr und mehr, wie schön es doch wäre, wenn er einmal wieder die weite Welt durchstreifen könnte.
Liebetraut merkte wohl Kasperles Sehnsucht, und sie mahnte an jedem Tag: „Denk’ an dein Versprechen!“ Da nickte Kasperle und seufzte dazu und dachte bei sich: Es wäre ganz gut, wenn man ein Versprechen ins Wasser werfen oder es im Ofen verbrennen könnte, damit es weg wäre.
Einmal, an einem besonders schönen Frühlingstag, ging Liebetraut nach Schönau. Sie hatte allerlei einzuholen, denn das Pfingstfest stand dicht vor der Tür. Frau Annettchen kramte und wirtschaftete im Häuschen herum, alles sollte zu dem Feste blitzsauber sein; dabei war ihr das Kasperle recht im Wege, denn das wuselte wie ein Irrwisch durch die Stuben. Mal war es da, mal war es dort, einmal warf es den Scheuereimer um, dann fuhr es mit dem Besenstiel durch eine Fensterscheibe, und Frau Annettchen wurde recht böse auf den Unnützling. Schließlich rief sie ärgerlich: „Geh zum Meister!“
Das ließ sich Kasperle nicht zweimal sagen. Er lief flugs hinaus und suchte hinter dem Hause Meister Friedolin auf. Der stand dort und strich seine neuen Kasperlepuppen an. In Reih’ und Glied waren die auf Holzpfählen aufgestellt, eine sah drolliger aus als die andere, denn Meister Friedolin hatte sie alle nach dem kleinen lebendigen Kasperle geschnitzt.
„Heio,“ schrie Kasperle, „das bin ich!“ Und flink tippte er die erste Puppe an die Nase, da blieb sein Fingerlein kleben, weil die Farbe noch naß war.
„Ungeschick, du!“ schalt Meister Friedolin ungeduldiger als sonst. „Marsch, geh, du hast hier nichts zu suchen!“
Da lief Kasperle tiefbetrübt davon. Er lief wieder in das Haus hinein, er lief wieder hinaus und dachte bei sich: Wenn sie mich wegschicken, dann gehe ich; dann gilt auch mein Versprechen Liebetraut gegenüber nicht. Und ganz eilfertig rannte er ein Stück in den Wald hinein. Das gefiel ihm gar gut. Die Vögel sangen und zwitscherten in den Bäumen; die rauschten leise, und unten am Boden blühten feine, zarte Waldblumen. Kasperle stapfte lustig davon. Ein Weg war da, über den glitzerte die Sonne, ein anderer verlor sich im tiefen Schatten. Einen Augenblick überlegte Kasperle, welchen Weg er gehen sollte. Er schlug schließlich den Schattenweg ein und kam dabei bald an einen kleinen Waldsee. Der war von Wasserlilien umstanden, und in ihm badeten zu Kasperles größtem Erstaunen ein paar Buben. Die platschten höchst vergnügt im kühlen Wasser herum, und Kasperle wäre am liebsten mit hineingestiegen, doch fürchtete er sich etwas vor dem Wasser und vor den Buben. Darum schlich er nur vorsichtig an dem Rande entlang, und dabei entdeckte er die Sachen, die die Buben ausgezogen hatten. Heio, dachte er, das ist fein! Jetzt werf’ ich meinen Kasperlekittel fort und zieh’ Jacke und Hose von den Buben an, dann laufe ich in die weite Welt. In seiner Freude vergaß er ganz und gar sein Liebetraut gegebenes Versprechen. Er kroch hinter einen Busch, zog sich ein Paar Höslein und eine blaue Jacke heran und schlüpfte hinein. Die Büblein, denen die Sachen gehörten, mußten ebenso groß wie Kasperle sein, denn dem paßte beides wie angegossen. Er hatte einen ungeheuren Spaß an der Geschichte, und als er fertig war, warf er sich in das Gras und quiekte vor Vergnügen.
Wenn die Buben im Weiher nicht selbst so gelärmt hätten, dann hätten sie Kasperles Lachen hören müssen. Aber die spritzten sich, tauchten auf und tauchten unter und merkten nichts von allem, was am Ufer geschah. Sie sahen nicht, wie auf einmal ein Bube durch den Wald lief; erst eine Weile später, als sie aus dem Wasser stiegen, merkten sie, was geschehen war. Da suchte der Fritz seine Hosen und fand sie nicht, und als Peterle in sein Jäcklein schlüpfen wollte, ja, da konnte er viel danach ausblicken, nirgends war es zu finden. Nur der Christophel hatte seine Sachen beisammen, und da blähte der sich auf wie ein Fröschlein und schalt die beiden liederlich. „Sucht nur!“ schrie er. „Wer weiß, wo ihr alles hingeworfen habt! Ich hab’ mein Zeug ordentlich beisammen.“
Das ging nun Fritz und Peterle doch über den Spaß. Sie meinten nun nicht anders, als der Christophel habe ihnen die Sachen versteckt, und für einen solchen Schabernack, dachten sie, muß einer Prügel haben. Und eins, zwei, drei fielen sie über den Christophel her. Doch der war nicht faul und wehrte sich tapfer. Plumps, pardauz! lagen sie auf einmal alle drei im Grase und rauften sich. Sie schrien dabei, daß die Vögel beinahe vor Schreck von den Bäumen fielen und eine besonders dicke Froschmadame im Weiher ohnmächtig wurde. Da erhoben die Frösche zornig ihre Stimmen, und wer weiß, was nicht noch alles geschehen wäre, wenn nicht der Herr Förster, der durch den Wald ging, den Lärm gehört hätte. Der war flink zur Stelle; er sah die raufenden Buben und besann sich nicht lange, wie da Frieden zu stiften sei. Hopp! stand der Fritz auf den Beinen, und klatsch! hatte er einen Katzenkopf, und ehe Peterle und Christophel sich noch recht besonnen hatten, war es ihnen genau so gegangen. Erschrocken blieben alle drei steif und kerzengerade vor dem Förster stehen und vergaßen das Ausreißen.
„Na, warum habt ihr euch denn gehauen?“ fragte der Förster schmunzelnd. „Es ist euch wohl nicht warm genug?“
Ei potztausend, warm war es den dreien schon, trotz dem langen Bade vorher! und jedem brannte ein Bäcklein hochrot, denn der Förster hatte eine feste Hand. Dessen rascher Ärger aber war schnell verraucht, er sah die drei Schelme lachend an, und die fanden den Mut, ihm ihr Mißgeschick zu erzählen. Fritz und Peterle verklagten Christophel, der verteidigte sich heftig, und beinahe wären die drei Freunde sich wieder in die Haare gefahren. Aber der Förster runzelte bedenklich die Stirn, er packte Christophel fest an den Schultern und fragte: „Hast du Jacke und Hosen versteckt?“
„Nein!“ Christophel sah mit seinen himmelblauen Augen den Förster treuherzig an, und der wußte da gleich, der Bube hatte die Wahrheit gesagt. Aber wo waren die Sachen? Etwa gestohlen, hier in seinem Walde, den er zu behüten hatte? Dem Förster schien das ganz unmöglich zu sein, er brummelte: „Vielleicht habt ihr die Sachen gar nicht angehabt?“
„Aber meins waren doch Hosen!“ rief Fritz entrüstet.
Na freilich, ohne Hosen konnte jemand nicht gut von Schönau bis in den Wald laufen, der Förster sah das ein. Doch unnütze Buben konnten wohl ihren Kameraden den Streich gespielt haben, darum sagte er: „Lauft nur flink heim; es wird euch irgend so ein unnützer Bengel aus Spaß die Sachen genommen haben.“
„Aber ohne Hosen kann ich nicht heim!“ schrie das Fritzle, diesmal sehr kläglich.
War das eine verzwickte Geschichte! Der Förster sann nach. In seinem Hause waren drei Buben groß geworden, sie waren jetzt schon in die Welt hinausgezogen, aber seine Frau bewahrte wohl etliche Bubensachen auf. An seinem Haus nach Schönau vorbei war es zwar ein Umweg, aber bis zu ihm ging es durch den Wald; da konnte einer schon mal ohne Höslein laufen. Höchstens lachten die Vögel und die Bäume über das sonderbare Menschenkind. Der Förster hieß also die Buben ihm folgen, Fritzle ohne Hosen, Peterle ohne Jacke, und Christophel ging zum Trost mit.
Die Frau Försterin sah zwar recht erstaunt drein über die Gäste, die da ihr Mann anbrachte. Sie hatte aber ein gutes, mitleidiges Herz und hatte auch wirklich von ihren nun schon groß gewordenen Buben allerlei Sachen da. Die holte sie vor, und es fanden sich richtig Höslein für das Fritzle und für Peterle eine Jacke. Weil die Jacke blanke Knöpfe hatte und an den Hosen ein Paar grün und rot gestickte Träger hingen, waren beide mit dem Tausch wohl zufrieden, und Christophel bedauerte es beinahe, daß er alle seine eigenen Sachen noch hatte. Die gute Försterin sagte nämlich: „Wenn sich Hosen und Jacke nicht finden, dann mögt ihr in Gottes Namen diese behalten!“
Die Buben schieden vergnügt vom Försterhaus, sie kamen sich mit ihrem Abenteuer höchst wichtig vor, und als sie in der Nähe von Schönau Liebetraut trafen, erzählten sie der, was ihnen begegnet sei. Und Liebetraut sagte wie der Förster: „Da haben euch ein paar einen Schabernack gespielt; ein paar rechte Taugenichtse müssen es gewesen sein.“
Nun gab es in Schönau schon etliche Buben, denen so ein Streich zuzutrauen war, und Fritz, Peterle und Christophel setzten auch gleich beim ersten Dorfhaus sehr vorwurfsvolle Mienen auf, und sie erzählten jedem, der es nur hören wollte, was ihnen geschehen war. Da sagte wohl einer, der Jaköble vom Müller könnte es gewesen sein, ein anderer riet auf den tollen Hans, und die drei Buben waren noch nicht lange daheim, da ging schon ein Geklatsch und Getratsch durch das Dorf, das arg war. Zuletzt freilich konnten alle Buben beweisen, wo sie gewesen waren, und Fritz, Peterle und Christophel hätten beinahe von ihren entrüsteten Kameraden Haue gekriegt. Doch söhnten sie sich wieder miteinander aus, weil sie lieber alle zusammen über die sonderbare Geschichte schwätzten. Ganz Schönau regte sich darüber auf, wer es gewesen sein könnte.
Auch Liebetraut dachte auf ihrem Heimweg an die seltsame Begebenheit, und wie sie so durch den stillen Wald schritt, schaute sie sich unwillkürlich um, als könnte sie die verlorenen Sachen der beiden Buben erspähen. Dabei sah sie auf einmal im Gebüsch etwas hängen, wie ein großer, bunter Lappen sah es aus. Und da Liebetraut nicht furchtsam war, ging sie beherzt näher, und wie sie so dicht an den Büschen stand, rief sie laut: „Kasperle, aber Kasperle, was machst du hier?“
Doch es kam keine Antwort, und nun erst sah Liebetraut: es war nur Kasperles Kittel, der da zwischen den Büschen hing. Der Wind blähte ihn ein wenig auf, darum schien es, als stecke noch das Kasperle drin. Doch von dem war weit und breit keine Spur zu erblicken. Liebetraut fielen die Buben ein, die um Hose und Jacke geklagt hatten, und ein ganz schlimmer Verdacht stieg in ihr auf. Wenn Kasperle ausgerissen war? Sie nahm hastig den Kittel vom Strauche und rannte, so schnell sie nur konnte, dem Waldhäuschen zu. Sie riß dort die Tür auf, stürmte in die Stube und rief ihrer Mutter zu: „Wo ist Kasperle?“
„Draußen beim Vater,“ antwortete Frau Annettchen, die eben das Abendessen richtete.
Da rannte Liebetraut zu Meister Friedolin. Der strich just seine letzte Kasperlepuppe an und sah ganz erstaunt drein, als Liebetraut nach Kasperle fragte. „Der ist doch drin, ist doch wieder ins Haus gelaufen!“
Doch Kasperle war nicht drin, er war auch nicht draußen. Liebetraut suchte das ganze Haus ab, sie guckte in alle Winkel und Ecken, öffnete alle Kästen und Schränke und rief zärtlich den Namen des kleinen Schelms. Doch der gab keine Antwort, er war und blieb verschwunden. Liebetraut rannte in den Wald hinaus, Meister Friedolin folgte ihr, sie suchten und riefen, doch kein Kasperle war zu finden. Die Sonne war schon längst untergegangen, die Vögel schliefen bereits in ihren Nestern, da tönten immer noch die rufenden Stimmen durch den Wald: „Kasperle, Kasperle, komm doch wieder!“
Der Mond kam herauf, er warf silbernen Schein auf das Waldhäuschen, und als er so hineinblickte, sah er drinnen drei Menschen traurig am Tisch sitzen, und alle drei klagten betrübt: „Unser Kasperle ist ausgerissen!“ Sie dachten nicht mehr an die vielen Dummheiten, die der unnütze kleine Schelm gemacht hatte, sie dachten nur daran, daß sie ihn liebgehabt hatten. Liebetraut hielt die Hände vor das Gesicht, sie weinte bitterlich um ihren schlimmen kleinen Kameraden. „Ach Kasperle, Kasperle,“ klagte sie, „warum hast du uns nur verlassen! Und wie wird es dir in der Welt ergehen!“
Wo aber war das Kasperle hingelaufen?
Das war in Fritzles Hosen und Peterles Jacke vergnügt in den Wald gerannt, froh über seine neue Freiheit. In seiner Freude vergaß der Strick alles Gute, was er im Waldhäuschen gehabt hatte, und er beschloß, in die weite Welt zu wandern. Und weil er wußte, daß auf den Straßen, die nach Schönau und Lindendorf führen, manchmal Menschen daherkamen, die im Waldhaus einsprachen, rannte er den Weg nach Protzendorf entlang. Der wurde von den Bewohnern der anderen Dörfer gern vermieden, und Kasperle traf auch wirklich an diesem schönen, sonnigen Tag keinen Menschen darauf. Vor Freude über das Gelingen seiner Flucht begann er auf dem Wege Purzelbäume zu schlagen. Wie eine Kugel fast rollte er die Straße entlang, und beinahe wäre er so nach Protzendorf hineingepurzelt. Doch da lag ein großer Stein auf dem Wege; an dem stieß sich Kasperle, es krachte ordentlich, und ein Weilchen blieb der kleine Kerl erschrocken liegen. Doch der Stein sagte nichts, es kam auch niemand, da rappelte sich Kasperle auf und sah sich um. Vor ihm, ein wenig tiefer im Tale, lag Protzendorf. Stattlich und wohlhäbig sah es aus, aus den Essen stieg Rauch empor, denn die Protzendorfer Bäuerinnen buken alle miteinander Pfingstkuchen.
Kasperle reckte seine große Nase in die Luft und schnupperte. Hm, das roch fein! Und gleich fühlte er auch ein gewaltiges Rumpeln in seinem Mäglein, und er sperrte seinen übergroßen Mund auf wie ein junger Rabe seinen Schnabel. Doch es fiel keiner Protzendorfer Bäuerin ein, etwa zu kommen und dem Kasperle frischen Kuchen zu bringen. Das gab es nicht. Kasperle seufzte zwar sehr, schließlich aber stand er doch auf, reckte und streckte sich und trabte dann ins Dorf hinein.
Der dicke Bauer Matthias Strohkopf, der reichste Mann von Protzendorf, hatte an diesem Tage früh Feierabend gemacht. Er tat das oft, denn er war so faul, daß selbst die Protzendorfer, die alle ein bißchen träge waren, ihn den „faulen Matthias“ nannten. Der Bauer saß vor seiner Haustüre, neben sich auf einem Tisch hatte er sein Vesperbrot stehen. Er stopfte gerade ein Butterbrot in den Mund, und dazu blickte er auf einen Teller mit frischen Kuchen, den seine Frau ihm just gebracht hatte.
Da kam Kasperle anspaziert. Der sah den dicken Bauer und den frischen Kuchen, und da der Kuchen ihm wohlgefiel, besann er sich nicht lange, lief herzu und steckte eins, zwei, drei! ein Stück in den Mund und noch eins, und ehe der Bauer Strohkopf sich von seinem Erstaunen erholt hatte, war der halbe Teller leergegessen.
Potztausend noch mal! So etwas war dem Bauer sein Leben lang noch nicht widerfahren. „Du Frechdachs!“ schrie er, hob seine dicke Hand und wollte Kasperle schlagen. Doch der nicht faul, tat einen Sprung über Tisch und Bauer hinweg und blieb ein paar Schritte entfernt auf der Erde sitzen. „Ich hatt’ so argen Hunger!“ klagte er, und dabei schnitt er ein so jämmerliches verschmitztes Gesicht, daß „der faule Matthias“ trotz seinem Ärger lachen mußte. So einen wunderfitzigen, schnurrigen kleinen Kerl hatte er noch nie gesehen. „Woher kommst du denn?“ schrie er ihn an.
Da rutschte Kasperle auf Fritzles Hosenboden ein Stückchen näher und klagte: „Von weit, weit, weit her! Bin ein armes, verlassenes Büble, hab’ niemand mehr auf der weiten Welt.“
Und so kläglich sah dabei das schlimme Kasperle drein, daß der dicke Bauer ganz gerührt wurde. Er brummte zwar: „Das ist noch kein Grund, um andern den Kuchen wegzufressen,“ aber er winkte doch mit der Hand, Kasperle solle näherkommen.
Der kleine Strick kam auch heran. Er ließ die Nase hängen, als könnte er nie ein Wässerlein trüben. Doch wie seine kleinen schwarzen Spatzenaugen glitzerten und funkelten, das sah der Bauer Strohkopf nicht. Der sagte gnädig: „Du bist zwar sehr frech vornhin gewesen, doch will ich’s dir nicht nachtragen. Ich brauche gerade einen Gänsejungen, dazu will ich dich meinetwegen nehmen. Gelt, das hättest du dir nicht träumen lassen, daß der reiche Strohkopf dich aufnimmt?“
Da sperrte Kasperle nun wirklich seinen Mund wie ein Scheunentor auf, denn was ein Gänsejunge war, das wußte er nicht. Er sagte nicht ja und nicht nein, und der dicke Bauer fragte auch nicht weiter. Der dachte, wenn einer als Gänsejunge zum Strohkopf kommt, der kann froh sein. Potzhundert noch mal, das ist eine Ehre! — Und weil gerade sein Großknecht Florian aus dem Hause kam, rief er dem zu: „Florian, wir haben einen neuen Gänsejungen. Da, nimm ihn mit!“
Der gute Florian nun tat seinen Mund eigentlich nur zum Essen auf. Er dachte auch: Mit einem Gänsejungen macht man nicht viel Umstände. Und schwipp, schwapp! packte er Kasperle beim Genick und zog ihn mit sich. Er zerrte ihn zum Gänsestall, tat den auf, brummte: „Da!“ schob Kasperle hinein und schloß die Türe hinter ihm zu. Die müssen sich erst befreunden, dachte Florian; bis zum Nachtessen ist dazu Zeit.
Da saß nun Kasperle im Gänsestall, und seine weißen und grauen Schützlinge umringten ihn schnatternd. Das gefiel dem kleinen Kerl ganz und gar nicht. In einem Gänsestall war er noch niemals gewesen, und als die Gänse ihre Schnäbel so weit auftaten und gar so arg schnatterten, begann er sich zu fürchten. Er schnitt fürchterliche Gesichter, und weil die Gänse auch noch nie ein lebendiges Kasperle gesehen hatten, kam ihnen der Gast in ihrem Stall höchst sonderbar vor. Sie schnatterten immer lauter, dem Kasperle wurde es himmelangst, und er sah sich nach Rettung um. In einer Ecke des Stalles stand ein hohes Gestell, wie ein Schrank sah es fast aus, und Kasperle, nicht faul, schwang sich hinauf. In den einzelnen Fächern des Gestelles aber saßen dicke, brave Gänse auf ihren Nestern und brüteten. Die erschraken nun gewaltig, als Kasperle ihren Nesterschrank erkletterte. Zischend fuhren sie von ihren Nestern auf, Kasperle erschrak und hielt sich an dem leichten Gestell fest. Das wankte, und pardauz! fiel es um. Da lag Kasperle, da lagen Nester und Eier, und zischend und schnatternd fuhren die Gänse wütend auf Kasperle los. So etwas! Sie im Brüten zu stören, das war doch unerhört! Zwack, biß eine Kasperle ins Bein, zwick, die andere ins Ohr, zisch, hieb eine ihm mit dem Schnabel über die Nase. Kasperle brüllte, die Gänse schnatterten lauter und lauter, — es war ein Höllenlärm.
„Jemine, was ist im Gänsestall los?“ rief draußen auf dem Hof die Magd Karline. Sie dachte: Es ist vielleicht gar ein Marder eingebrochen, und rasch rannte sie herbei, riß die Türe auf und sah in allem Wirrwarr das schreiende Kasperle am Boden sitzen. Seinen Mund hatte er ungeheuerlich weit aufgerissen, und Karline klappte erschrocken die Türe zu. „Ein Kobold, ein Kobold ist im Gänsestall!“ schrie sie draußen.
Der Lärm hatte die Bäuerin herbeigelockt, Berta, die Jungmagd, kam an, Florian lief herzu, und der stürzte in den Gänsestall hinein und zerrte das schreiende Kasperle heraus.
„Herrje, was ist das?“ rief die Bäuerin. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, und Berta kicherte in ihre Schürze hinein. „Wie der aussieht!“ sagte sie.
„Ein Kobold ist’s, ein Popanz!“ kreischte Karline.
„Nä, unser neuer Gänsejunge ist’s, und jetzt kriegt er Haue,“ brummte Florian, Und klitsch, klatsch, schlug er auf Kasperle ein. Ein Spaß war es nicht, wenn Florian zuschlug. Kasperle verging Hören und Sehen, er brüllte ganz mörderlich, und endlich kam auch der dicke Bauer selbst herbei und wollte wissen, was geschehen war. Da redeten seine Frau und die drei Mägde durcheinander, Kasperle kreischte, im Stall schnatterten die Gänse, Florian aber zeigte nur auf den Stall. „Nachsehen!“ brummte er. Und klitsch klatsch, klitsch klatsch, prügelte er weiter auf Kasperle los, bis die Bäuerin ihm endlich den Kleinen entriß. „Du zerschlägst ihn ja ganz!“ schalt sie.
„Der hat’s verdient!“ knurrte Florian.
„Ja zum Kuckuck, der hat’s verdient!“ schrie der Bauer Strohkopf. Er hatte inzwischen im Gänsestall gesehen, was Kasperle angerichtet hatte, und er wollte schon mithauen. Doch die Bäuerin hielt mitleidig seine Hand fest, ihr tat das arme Kasperle leid. Und dem dicken Bauer erging es wieder sonderbar. Als der dem Kasperle so recht in sein klägliches Gesicht sah, legte sich sein Ärger, ja er mußte lachen; das Kasperle sah zu drollig aus. Und auf einmal erging es den andern auch so, sie mußten lachen; selbst Florian grinste.
Das arme Kasperle mochte seinen Rücken noch so viel reiben und noch so betrübt seufzen, es wurde doch nur ausgelacht. Da dachte es an Liebetraut; die hätte nicht gelacht, nur freilich jetzt würde sie traurig sein, weil es sein Versprechen nicht gehalten hatte und fortgelaufen war. Kasperle ließ die Nase hängen; ach nein, zurücklaufen konnte er nun nicht mehr ins Waldhaus! Und vor der dunklen Nacht, allein im Walde, fürchtete er sich auch, und so folgte er still der Bäuerin ins Haus, und als ihm drinnen ein so gutes Düftlein nach frischem Kuchen entgegenzog, da wurde er gleich wieder vergnügt. Heisa, es war doch ganz fein beim reichen Bauer Strohkopf, und das Gänsehüten war gewiß nicht so schwer!
Beim Abendessen in der großen Wohnstube saß der neue Gänsejunge ganz unten am langen Tisch. Oben saßen der Bauer und die Bäuerin, neben ihnen Florian, dann kamen Karline und die andern Knechte und Mägde. Sie waren alle fleißig gewesen, und sie dachten eigentlich alle nur an das Essen. Erst sah keines recht den neuen Gänsejungen an, bis Berta plötzlich leise lachte. Da blickte der Paul neben ihr auf, und er sah unwillkürlich auch den neuen Gänsejungen an. Nein, so ein spaßiger kleiner Kerl, wie das war! Paul lachte ganz laut, und da blickten auch Karline und Mine auf, und alle sahen Kasperle an, wie der seinen Mund auf- und zuklappte, und mit einem Male lachten alle am Tisch, am lautesten aber lachte der dicke Bauer selbst. Und kaum merkte Kasperle, daß alle über ihn lachten, flink fing er an, Gesichter zu schneiden. Er zappelte auf seinem Stuhl hin und her und kasperte, bis sogar der schweigsame Florian mitlachte. Die Bäuerin bekam Angst, dem Bauer könnte der Bauch platzen, so sehr lachte der. Sie mahnte ein paarmal: „Hör’ auf, lach’ dich nicht krank!“ Aber dann lachte sie selbst wieder laut und lauter. Zuletzt fiel Karline unter den Tisch, und Paul purzelte mit seinem Stuhl um. Da nahm Florian Kasperle am Jackenzipfel und rief: „Jetzt ist’s genug für heute, sonst platzt wirklich noch wer!“ Und Florian zog Kasperle aus der Stube, brachte ihn in eine kleine, kleine Kammer, die ein vergittertes Fensterlein hatte und in der gerade Platz für ein Bett war. Kasperle durfte hineinkriechen; das tat er gern, und er kümmerte sich gar nicht mehr darum, daß Florian brummte: „Morgen mußt du Gänse hüten.“
„Rrrrrrrrr!“ Florian drehte sich erschrocken um. Was war denn das auf einmal? „Rrrrr!“ klang es wieder, und nun merkte Florian: der neue Gänsejunge war es, der so ganz erschrecklich schnarchte. „Dummheit ist’s,“ brummelte Florian und schüttelte den Kleinen. Er konnte aber viel rütteln und schütteln, Kasperle schnarchte nach Kasperleart wie eine große Säge: „Rrrrr! Rrrrr!“
„Hol’ ihn der Fuchs! Mit dem ist’s nicht richtig,“ knurrte Florian. Und er verriegelte sorgfältig die Kammer; er traute dem Kasperlein nicht recht und dachte bei sich, der Bauer hätte gut einen andern Gänsejungen annehmen können.
Am nächsten Morgen weckte Florian Kasperle in aller Herrgottsfrühe, und als Kasperle nur knurrte und murrte und nicht gleich zum Aufstehen bereit war, goß ihm Florian schwapps einen Krug Wasser über den Kopf. Da sprang nun freilich Kasperle flink heraus, und als er den langen Florian mit seinem bärbeißigen Gesicht vor sich stehen sah, begann er sich schrecklich zu fürchten. Ganz brav und still tat er alles, was der ihm sagte; er folgte ihm zum Gänsestall und stand dort wie ein armes Sünderlein, als seine schnatternden Feindinnen alle nacheinander aus dem Stalle spazierten. Florian gab ihm einen langen Stab in die Hand und sagte: „Geh, hüt’! Kannst mit dem Schäfer gehen!“
Der Schäfer nun war ein Bruder des Florian, noch viel stiller und brummiger als dieser. Er hieß Damian, und im Dorf nannten sie ihn nur „Damian ohne Maul“. Und Damian tat auch an diesem Morgen seinen Mund nicht auf, er winkte nur, und das Kasperle folgte ihm mit seinen Gänsen. Es ging zum Dorf hinaus über Wiesen, da kam ein lustiges Bächlein gerannt, und hier stieß Damian seinen Stock auf den Boden. Flugs machte Kasperle, der dachte, das gehöre dazu, es ihm nach. Aber als Damian mit seinen Schafen weiterzog, da folgte er ihm wieder. Erst merkte es Damian gar nicht, bis die Gänse gar zu laut schnatterten. Unwirsch drehte er sich um und zeigte stumm mit seinem Stock nach dem Bächlein. Kasperle erhob ebenso geschwind seinen Stab und zeigte auch hin. Da wurde „Damian ohne Maul“ fuchswild. Nun mußte er am frühen Morgen reden. Das war doch wirklich zu anstrengend! „Dort bleiben!“ brüllte er Kasperle an. Der Kleine erschrak, er taumelte nach rückwärts, und die Gänse, denen er beinahe auf ihre Füße trat, nahmen dies gewaltig übel. Sie schnatterten zornig los und wollten ihrem Hirten erst gar nicht folgen. Doch Kasperle hatte jetzt mit seinem langen Stock mehr Mut, er fuchtelte damit grimmig in der Luft herum und schnitt dazu ein bitterböses Gesicht. Da bekamen die Gänse Angst, und sie spazierten ganz brav, eine hinter der andern, dem Bächlein zu. Dort schnatterten sie vergnügt, sie meinten, nun könnten sie schmausen und sich gütlich tun. Doch Kasperle meinte das gar nicht. Dem hatte es gefallen, wie die Gänse so brav vor ihm hergelaufen waren, und er gedachte sich ein Späßlein zu machen. Er begann die Gänse zu jagen. Kaum stand eine, schwipp! traf sie der lange Stab. Die guten Tiere mochten schnattern, soviel sie wollten, rundum und wieder rundum jagte sie ihr Hirte.
Er selbst hopste und sprang dabei, als sollte er seinen Gänsen etwas vorkaspern. Die armen Gänse konnten kaum noch laufen, ihr Schnattern wurde immer kläglicher, aber schwipp, schwipp! traf Kasperles langer Stab sie, und weiter ging es, immer rundum, rundum.
„Damian ohne Maul“ pflegte sonst sich um weiter nichts als seine Schafe zu kümmern. Heute aber dachte er doch an den neuen Gänsejungen, weil sein Bruder ihm gesagt hatte: „Paß auf!“ Und da er nicht allzuweit seine Schafe weidete, ging er einmal nachsehen.
Ei potzwetter! Das war ein Spiel, das er da sah! Kasperle hopste rundherum, die Gänse rannten rundherum, Damian aber sah wohl, daß denen das Rennen wenig gefiel. Dabei sollten die armen Watschelchen nun fett werden!
Schwipp, schwipp! Kasperle schlug die dickste Gans gerade auf den Kopf. Da packte ihn jemand am Hosenboden. Und „Damian ohne Maul“ hielt sich nicht mit Reden auf. Nun machte sein Stock schwipp, schwipp, und Kasperle spürte das sehr genau, er schrie mörderlich, und die Gänse schauten mit weit offenen Schnäbeln zu. Eia, es ging ihrem kleinen Hirten gar übel! Wenn die älteste Gans hätte reden können, sie hätte jetzt gewiß das Sprüchlein gesagt:
„Was du nicht willst, daß man dir tu’,
Das füg’ auch keinem andern zu!“
Endlich meinte Damian, sein Stock wäre nun lange genug auf Kasperle herumgewippt. Kasperle fand, viel viel zu lange, und er heulte jämmerlich, als „Damian ohne Maul“ ihn ins Gras setzte. Der sagte wieder nichts, aber so klug war das Kasperle schon, um zu wissen, was die Prügel bedeutet hatten. Ganz verdattert blieb er still im Grase sitzen, und weil die Gänse alle müde und hungrig waren, dachten sie nicht ans Fortlaufen. Es ging darum ganz friedlich am Bächlein zu. Kasperle streckte sich lang aus, er hielt seinen Stock kerzengerade in die Luft und nahm sich vor, er würde bald weiter in die Welt hineinlaufen.
In Protzendorf hatten sich die Leute von dem putzigen Gänsejungen des Bauern Strohkopf erzählt, und zwei Buben waren blitzneugierig, den zu sehen. Die beiden hießen August, und weil des einen Vater der Windmüller und der des andern der Wassermüller war, wurden beide im Dorf nur Windgustel und Wassergustel genannt. Unnütz waren alle beide, und gute Freunde waren sie auch. Ihre Väter zankten sich manchmal, der eine schalt auf den Wind, der andere auf das Wasser, aber Windgustel und Wassergustel machten alle ihre Dummheiten zusammen. An diesem Pfingstsonnabend nun gingen sie Kasperle suchen. Vielleicht wußte der Späße und Dummheiten, die sie noch nicht kannten.
Sie fanden Strohkopfs neuen Gänsejungen im Grase liegen, und als sie ihn anriefen, tat er erst, als höre er sie nicht, aber Windgustel und Wassergustel wußten schon, wie man einen Buben zum Reden bringt. Sie zogen ihn an seinen Beinen auf dem Rasen entlang; da sprang Kasperle auf mitten in seine Gänse hinein.
Himmel, erschraken die! Sie dachten: Nun geht das Rundumgelaufe wieder los. Doch statt dessen gab es ein lautes Gelächter. Windgustel und Wassergustel fanden nämlich das herumspringende Kasperle höchst komisch, und Windgustel dachte gleich: Uje, könnte ich doch so feine Gesichter schneiden!
Am Lachen merkte Kasperle, daß die beiden nicht als Feinde gekommen waren, und blitzschnell verwandelte sich sein böses Gesicht in ein sehr vergnügtes. Nach zwei Minuten waren die drei die allerbesten Kameraden, obgleich die beiden Dorfbuben dachten, einen so sonderbaren Jungen hätten sie noch nie gesehen. Was konnte der für Grimassen machen, wie Arme und Beine verrenken! Da mußte einer schon wirklich ein solcher Sauertopf sein wie „Damian ohne Maul“, um nicht zu lachen, doch Windgustel und Wassergustel waren keine Sauertöpfe, die lachten, beinahe barsten sie auseinander. Und nachher schimpften sie. Kasperle erzählte ihnen nämlich von dem Schäfer, und da sagten die beiden Unnützlinge, das sei von dem grob gewesen, und das mit den Gänsen sei fein. „Mach’s noch mal!“ bat Windgustel.
„Erst nachsehen, wo der Damian ist,“ rief Wassergustel. Er sprang auf, sah nach und kam nach einem Weilchen grinsend zurück und verkündete den Kameraden: „Er schläft.“
Das war schon ein rechtes Glück für die Gänse. Kasperle wollte nämlich gern dem schlafenden Damian einen Streich spielen, und alle drei ließen die Gänse, wo sie bleiben wollten, und schlichen sich zum Schäfer. Der lag nun wirklich unter einem großen Feldbirnbaum und schlief, und ein Stückchen weiter weideten die Schafe, von Flick, dem treuen Hund, bewacht.
Die drei Freunde standen vor Damian, schauten ihn an und überlegten, was sie ihm wohl antun könnten.
„Einen Frosch aufs Gesicht setzen,“ schlug Windgustel vor.
„Ihm die Knöpfe abschneiden,“ sagte Wassergustel.
Kasperle aber sah den kleinen Abhang hinter dem Birnbaum; da konnte sich einer verstecken, und er dachte: Ich schlage Purzelbaum über ihn weg, gerade über seinen Bauch. Kasperles Äuglein glitzerten vor lauter Schelmerei, er wollte gerade den Kameraden sagen, was er, vorhatte, als plötzlich Flick laut bellte. Der sah es wohl: die drei, die da neben seinem Herrn standen, hatten nichts Gutes im Sinn.
Hui, da bekamen die drei Schelme aber Beine! Rutsch, sausten sie den Abhang hinab, weg waren sie! und als „Damian ohne Maul“ erwachte, sah er sich erstaunt um. Warum hatte denn sein treuer Flick so laut und warnend gebellt? Umsonst tat Flick doch so etwas nicht! Vielleicht galt es gar dem Gänsejungen, dem schlimmen Strick. Der Schäfer stand auf und ging nachschauen, und da fand er alle drei Buben ganz still und einmütig am Bachrand sitzen. Kasperle hatte seine Rute in der Hand wie ein richtiger Gänsejunge. Die Gänse selbst aber weideten still auf dem Rasen. Es sah alles sehr friedlich aus, und Damian kehrte wieder um.
An diesem Abend trieb Kasperle seine Gänse heim, als hätte er schon immer Gänse gehütet, und der Großknecht Florian, der ihn kommen sah, dachte: Na, vielleicht wird’s mit ihm! Nur — sein Gesicht ist gar zu unnütz. Und dann sah er, wie sein Bruder Damian den Kopf schüttelte, und das war immer ein schlimmes Zeichen.
Windgustel und Wassergustel hatten Kasperle versprochen, sie wollten ihm morgen am Feiertag das ganze Dorf zeigen, jeden Winkel darin, denn sie dachten: Bauer Strohkopf läßt doch sicher am Feiertag seine Gänse im Stall. Aber Florian trieb Kasperle wieder in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett. Er dachte: Ein Gänsejunge, der einen Tag im Dienst ist, der braucht keinen Feiertag; Feiertagskuchen ist genug.
Als Kasperle noch halb verschlafen auf den Hof stolperte, hielt dort schon Damian mit der Herde. Dem taten die Schafe leid; warum sollten die um den schönen Frühlingstag kommen? Also zogen beide wieder einträchtig hinaus, und am Bächlein hob Damian drohend den Stock; da hob auch Kasperle flugs den seinen empor und machte genau so ein drohendes Gesicht wie der Schäfer. Das war dem doch zu toll. So ein Frechling, der ihn noch verhöhnen wollte! Er sprang auf Kasperle zu, der nicht faul, wutschte ihm zwischen den langen Beinen durch, und plumps! lag „Damian ohne Maul“, so lang er war, im Bächlein. Das spritzte hoch auf, die Gänse flohen vor Schreck, und Flick kam eiligst herbei, um zu sehen, was eigentlich seinem Herrn geschehen war. Kasperle aber trieb seine Gänse, so schnell er konnte, ein Stücklein abwärts. Er rannte, die armen Watschelchens mußten auch rennen, bis er an einen leeren Schuppen kam. Dahinein trieb er die Gänse, pflockte die Türe von außen fest zu, und dann lief er selbst einmal wieder in die weite Welt hinein. Gänsejunge sein hatte er satt.
Doch „Damian ohne Maul“ war rasch hinter dem Ausreißer her. Er sah von weitem, wie Kasperle die Gänse versteckte. Da machte er noch längere Schritte, und Kasperle hörte ihn kommen und merkte wohl, er mochte flink Purzelbaum schlagen, mochte sich rollen und kugeln, Damian erwischte ihn doch. Er sprang eine Böschung hinauf, oben ging die Landstraße entlang. Vielleicht gelang ihm da die Flucht. Aber Damian kam näher und näher, doch da zur rechten Zeit rollte ein schöner Wagen heran. Vier Pferde waren davor gespannt, neben dem Kutscher saß ein stattlicher Diener, und Kasperle besann sich nicht lange, er sprang, so rasch er konnte, hinten auf dem Wagen auf. Da gab es freilich nur einen schmalen Sitz, aber besser war es schon so, als dem Damian in die Hände zu fallen.
Der Schäfer schrie laut dem Wagen nach, er rannte auch noch ein Stück hinterdrein, aber niemand hörte auf ihn. Eine Biegung kam, — weg waren Wagen und Kasperle, und Damian kehrte zornig zu seinen Schafen zurück. Die mußten nun mit den Gänsen zusammen weiden. Mittags ging’s heim, und auf dem Hofe rief „Damian ohne Maul“ zornig: „Ausgerissen!“
„Wer? Ein Schaf?“ fragte der Bauer, der das gerade hörte.
„Nein!“ Damian schüttelte den Kopf. „Kasper!“
„Ausgerissen? Mein neuer Gänsejunge?“ Der Bauer riß die Augen weit auf. Wie war denn so etwas möglich? Bei ihm riß doch sonst niemand aus! „Warum denn?“ fragte er. „Erzähl’ doch!“
Zum Feiertag auch noch eine Geschichte erzählen müssen, das war zuviel für Damian. Er schüttelte den Kopf und tippte an seine Stirne; das sollte heißen, bei Kasperle sei es nicht richtig. Dann ging er und legte sich in sein Bett und verschlief den schönen Pfingstnachmittag.
Windgustel und Wassergustel aber erhoben ein großes Geschrei, als sie von dem Verschwinden ihres neuen Freundes hörten. Sie redeten laut, nur Damian sei daran schuld, und klagten, wie der den armen Kasper gehauen habe; das Rundumjagen der Gänse verschwiegen sie. Der Bauer Strohkopf wurde bitterböse auf den Schäfer, und bis zum dritten Feiertag sagten alle im Dorf, „Damian ohne Maul“ habe den armen kleinen Waisenjungen gar so schlecht behandelt. Nur Florian sagte es nicht.
Doch am dritten Feiertag, den man in Protzendorf noch recht behaglich feierte, geschah etwas Seltsames. Es kam ein Mann mit einem grünen Wäglein angefahren, der stellte geschäftig mitten auf dem Dorfplatz ein Kasperletheater auf, aber eins, das sich sehen lassen konnte. Auf dem größten Jahrmarkt hätte es sein Besitzer zeigen können, so schön war es. Die Puppen waren ziemlich groß und sehr prächtig angezogen; am allerbesten gefiel aber allen das Kasperle. Wie der anfing, seine Späße zu machen, staunten alle; auch die Erwachsenen kamen hinzu, und auf einmal rief da der Bauer Strohkopf: „Das ist ja mein Gänsejunge!“
Potzwetter ja! Jetzt sahen es die andern alle: das war Kasper, der Gänsejunge; genau so hatte er ausgesehen, wenn er abends am Tisch seine Gesichter schnitt.
Da kletterte der Räuberhauptmann im Kasperletheater empor, und nun schrien Windgustel und Wassergustel: „Das ist er auch!“ Genau so bitterböse hatte Kasperle dreingesehen, als er am Wasser gelegen hatte. Es war zu sonderbar, alle Puppen glichen etwas dem Gänsejungen. Die Zuschauer umdrängten immer aufgeregter die kleine Bude, und der Kasperlemann hörte hinten den Lärm. Er kam heraus und fragte, was geschehen sei, und da erfuhr er die Geschichte von der wunderlichen Ähnlichkeit. Der dicke Bauer Strohkopf erzählte von dem ausgerissenen Gänsejungen.
Hei, da spitzte der Kasperlemann seine Ohren! „Er ist’s, er ist’s!“ schrie er laut. „Den muß ich fangen! Wohin ist er gelaufen? Schnell, schnell, sagt’s!“ Der Kasperlemann packte „Damian ohne Maul“ beim Jackenknopf. Da erhob der die Hand, zeigte nach Westen, brummelte „Hm!“ und mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.
Der dicke Bauer Strohkopf aber schrie: „Ha, nun merk’ ich: Ausgerissen war der Strick! Wo stammt er denn her? Was hatte er denn ausgefressen?“
Da erzählte der Kasperlemann den staunenden Protzendorfern die Geschichte von Kasperle, der so viele, viele Jahre im Schrank geschlafen habe, und wie ihn Meister Friedolin wiedergefunden. Er selbst, sagte er, kenne den Namen des Meisters Friedolin schon lange; der sei unter den Puppenspielern im Lande weit und breit berühmt. Vor einiger Zeit nun habe er neue Puppen gebraucht, und als er die gekauft, sei ihm aufgefallen, daß diese noch viel, viel besser gewesen seien als früher. Da habe er gedacht, er sollte doch einmal diesen geschickten Meister Friedolin aufsuchen. Und weil er jetzt gerade in der Nähe gewesen sei, habe er gestern im Waldhäuschen vorgesprochen. Alle darin seien sehr traurig gewesen, und auf sein Befragen habe ihm Meister Friedolin von dem wiedergefundenen und verlorenen Kasperle erzählt. Der liefe nun in fremden Hosen und fremder Jacke in der weiten Welt herum, und er selbst habe sich vorgenommen, den Ausreißer zu suchen und dem Meister zurückzubringen, denn dahin gehöre er.
„Ist recht,“ schrie der Bauer Strohkopf. „Sucht ihn nur, und nachher muß ihn mir der Meister Friedolin manchmal borgen. Hähä, hähä! So hab’ ich in meinem Leben nicht gelacht wie über den schnurrigen Kauz!“
„Na ja, er ist doch auch ein richtiges Kasperle!“ sagte der Puppenspieler. „Der versteht das Kaspern schon!“
Und der war ihr Freund gewesen! Windgustel und Wassergustel sahen sich an. Ein bißchen gruselig war ihnen eigentlich die Geschichte, aber dann erklärten sie doch beide: „Wir helfen suchen, wir ziehen mit dem Kasperlemann.“
Schwapp! bekam Windgustel von seinem Vater einen Katzenkopf, und Wassergustels Mutter stieß ihren Buben an: „Biste närrisch? Du bleibst zu Hause und gehst in die Schule.“
Der Windmüller sagte das gar nicht, aber sein Bube merkte schon, was er dachte. Also blieben die beiden daheim, der Kasperlemann aber packte sein Krämchen zusammen und zog davon, um Kasperle zu suchen. Der Bauer Strohkopf rief ihm noch nach: „Ich geb’ ’n Taler fürs Finden.“ Dem tat es doch bitter leid, daß Kasperle nicht mehr am Tisch seine Späße machte.
Kasperle fuhr inzwischen sehr vergnügt durch das Land. Der lustige Sitz gefiel ihm gut, und je schneller es ging, desto froher wurde er. Da konnte ihn Meister Friedolin nicht so leicht finden und vor allem nicht Damian. Vor dem schweigsamen Schäfer hatte er nämlich arg viel Angst. Wenn Leute dem Wagen begegneten, dann nickte und winkte Kasperle, und die Leute nickten und winkten wieder, und der Herr Graf, der im Wagen saß, nickte auch freundlich, und er wunderte sich, daß die Leute immer so lachten. Kinder liefen wohl immer noch ein Stückchen hinterdrein, weil der lustige kleine Kerl, der da hinten aufsaß, ihnen gar so gut gefiel.
Dorf reihte sich an Dorf, immer weiter ging die Fahrt. Einmal fuhr der Wagen auch durch den Wald. Da rauschten die Bäume und die Vögel sangen. Kasperle sah in der Ferne ein kleines Haus liegen, und er dachte an das Waldhäuschen und an Liebetraut. Aber so schnell ihm der Gedanke kam, so schnell lief er ihm auch wieder davon. Es kam nämlich jemand angegangen, mit seinen kleinen Mauseohren hörte Kasperle die Schritte. Der da kam, war ein sehr würdiger gelehrter Herr, der an diesem Pfingstsonntag in den einsamen Wald gegangen war, um über ein sehr gelehrtes Buch nachzudenken. Als er den Wagen kommen sah, blieb er stehen, und weil er ein höflicher Herr war, grüßte er höflich, und der Herr Graf dankte ebenso höflich und beugte sich dabei auch noch aus dem Wagen heraus. Und da sah er, wie der gelehrte Herr zurückwich und entsetzt die Hände hob, als erblicke er ein Gespenst.
Na, was war denn das? Der Graf wunderte sich ungemein, Kasperle aber zappelte vor Vergnügen auf seinem Sitz hin und her. Er hatte nämlich dem würdigen Herrn soeben eine lange Nase gezogen und dazu sein Räubergesicht gemacht. Da konnte einer schon erschrecken.
Der gelehrte Herr starrte auch noch eine Weile ganz verdattert dem Wagen nach. Er dachte: Dies war doch der Graf von Singerlingen! Was fällt denn dem ein, sich so einen Kobold auf seinen Wagen zu setzen! Unerhört so etwas!
Da war der Wald zu Ende, ein Dorf kam, und über dem stieg auf mäßiger Anhöhe ein helles Schloß empor. Von seinen Türmen flatterten Fahnen lustig im Winde, und die Fenster glitzerten und blinkten im Sonnenschein. Im Schloß war morgen Hochzeit; zu der fuhr der Graf. Es war schon mancher schöne Wagen an diesem Tage zum Schloß hinaufgerollt, und die Dorfkinder harrten darum alle an der Straße; sie waren neugierig, wer noch angefahren käme. Als der Wagen des Grafen von Singerlingen vorbeirollte, gab es plötzlich ein lautes Lachen auf der Dorfstraße, und schreiend und jauchzend stürmten alle Kinder hinterdrein. Die Pferde wurden fast scheu bei dem Gebrüll, und der Graf schüttelte in seinem Wagen immer mehr den Kopf. Das war doch sonderbar heute! Der Kutscher und der Diener ärgerten sich, aber alle drei merkten doch nichts von Kasperle, der hinten aufsaß.
Der Kutscher des Grafen dachte, als sie dem Schlosse immer näher und näher kamen: Vor einem Schloß muß man gut vorfahren. Er ließ darum erst die Pferde etwas langsam gehen, damit sie sich ausruhen konnten, dann zuletzt trieb er sie an. Sie fuhren im Trab vor dem Schlosse vor, ruck, da hielten sie.
An so etwas hatte Kasperle freilich nicht gedacht. Der hatte gemeint, das Gefahre ginge so weiter, und bei dem jähen Ruck verlor er darum das Gleichgewicht und sauste in weitem Bogen von seinem Sitz herab.
Vor dem Schloß stand Rosemarie, die Tochter des Schloßherrn, in einem rosenfarbenen Kleid. Die hatte dem Grafen von Singerlingen einen schönen Willkomm sagen sollen; sie schrie statt dessen aber laut: „Da fällt ein Junge vom Wagen!“
Kasperle war mitten in ein schönes Blumenbeet hineingefallen. Da blieb er drin liegen, steif und starr, und rührte sich nicht. Der Graf von Singerlingen aber rief erstaunt: „Wo ist denn der hergekommen?“
„Vom Wagen ist er gefallen,“ sagte das kleine Rosenmädchen. „Ach, und nun ist er tot!“
„Der hat hinten aufgesessen; so was machen Jungens schon,“ brummelte der alte Diener des Grafen. „Darum haben die Leute auch so über uns gelacht. Und tot ist er sicher nicht.“
Nein, tot war Kasperle nicht, aber etwas verdöst, und als ihn zwei Diener aufhoben, machte er ein so schrecklich dummes Gesicht, daß alle um ihn herum lachten.
Der Graf, dem das Schloß gehörte, seine Frau, die Gäste, alle kamen und staunten das dumme, dumme Kasperle an. Der Graf von Singerlingen aber betrachtete ihn durch sein Augenglas und sagte immerzu: „Komisch, sehr komisch!“
Wo er herkäme, wollte der Schloßherr wissen. Kasperle kniff die Augen zusammen, machte ein sehr betrübtes Gesicht und erzählte genau wie dem dicken Bauer, daß er ein armes verlassenes Waisenbüble sei und in die weite Welt hinaus wolle.
O du Schelm! dachte der alte Diener, dem das Kasperle nicht geheuer vorkam. Er hätte auch gern seinen Herrn vor dem Kleinen gewarnt, aber dem Grafen ging es wie dem dicken Bauer Strohkopf, ihm gefiel das Kasperle ungemein. Er bat darum die Schloßfrau, sie möchte den Kleinen aufnehmen bis zu seiner Heimfahrt. Das sagte ihm die Gräfin zu, bei sich dachte sie freilich: Wo er schlafen soll, weiß ich nicht. Es waren so viele Gäste im Schloß, um die Hochzeit der ältesten Grafentochter mitzufeiern, und in einer Stunde sollte auch noch ein richtiger Herzog kommen. Da war jeder Winkel besetzt, und in der ganzen Nachbarschaft hatte die Gräfin Betten borgen müssen. Sie sagte aber zu einem Diener, er solle den Kleinen zur Hausverwalterin führen, die würde schon für ihn sorgen.
Die wird sich über den Knirps freuen! dachte der Diener. Er nahm Kasperle am Arm und führte ihn etwas unwirsch in die große Vorküche, in der gerade Frau Emma, die Hausverwalterin, die Kuchen ansah, die aus der Backstube gekommen waren.
Fein, hier gefällt’s mir! dachte Kasperle und schnupperte vergnügt herum. Wie die Kuchen gut rochen! Ja, so ein Schloß war noch besser als ein Bauernhaus. Doch Frau Emma sagte nicht: „Fein!“ und nicht: „Der gefällt mir,“ als sie Kasperle sah, sondern sie rief sehr geärgert: „Was soll ich mit dem Popanz? So einen Jungen habe ich überhaupt noch nicht gesehen. Weg mit ihm, den kann ich hier nicht gebrauchen! Er mag meinetwegen helfen Kartoffeln schälen.“
„Mag ich nicht,“ rief Kasperle, aber da wurde Frau Emma gleich sehr böse, und sie befahl zornig: „Er soll Kartoffeln schälen!“
Und schwups! nahm eine Magd Kasperle und zerrte ihn in einen Nebenraum hinein. Dort saßen drei junge Dirnen, zu denen sagte sie: „Da ist einer, der soll euch helfen.“
„Der uns helfen?“ Die drei kicherten laut, und dann nahm eine eine riesenweite Küchenschürze, band die Kasperle um, die zweite reichte ihm eine Schüssel, die dritte gab ihm ein Messer in die Hand, und alle drei riefen: „Nun hilf uns!“
Ei, da waren sie aber an einen flotten Helfer geraten! Potztausend, das ging! Schnippel schnappel, schnippel schnappel! Hierhin flog ein Stück Kartoffel, dahin eins; Kasperle hatte gleich die ganze Kartoffel zerschnitten. Und dann wickelte er sich die Küchenschürze um die Beine, warf Schüssel und Messer auf die Erde und schrie: „Ich hab’ Hunger!“
Die Mägde lachten. Aber dann liefen gleich zwei, um etwas für das Kasperle zu holen, die dritte aber streichelte ihn und fragte, woher er käme. Und dann schmauste Kasperle und erzählte, und zuletzt schnitt er Gesichter. So etwas hatten die drei Mägde noch nie gesehen.
Als Frau Emma nach einem Weilchen in die Nähe der Türe kam, lauschte sie ärgerlich. So ein Gelächter! Zornig tat sie die Türe auf. Da saßen die drei Mägde, lachten und lachten, und Kasperle kasperte auf dem Küchentisch herum. Die Kartoffeln aber waren alle ungeschält. Frau Emma verstand keinen Spaß. Sie fuhr drein wie ein Hagelwetter, und die Mägde duckten erschrocken die Köpfe. Das Kasperle aber trieb die Frau aus dem Raum. „Geh, hilf Geschirr waschen!“ herrschte sie ihn an. „Da hinein!“ Sie schob den Kleinen in einen großen Raum, in dem gewaschen und geputzt wurde.
Hier führte die Herrschaft die alte Liesetrine, und die machte gleich ein schiefes Gesicht, als sie den kleinen Helfer sah. „So einen Dreikäsehoch kann ich nicht brauchen,“ schrie sie. „Raus mit ihm, raus! Der schlägt mir nur alles kaputt.“
Na, dachte Kasperle gekränkt, versuchen kann sie es doch erst mit mir! Und er wollte zeigen, wie geschickt er sei. Er nahm also flink ein reines Tuch, von denen ein großer Stoß auf einem Tisch lag, dann wollte er von einem Gestell einen Teller nehmen, um ihn säuberlich zu putzen. Er hatte oft gesehen, wie Liebetraut das machte. Da schrie die alte Liesetrine: „Halt, halt, vergreif’ dich nicht dadran! Die Teller —“ Klirr, da sausten sämtliche Teller von oben herab, noch ehe Liesetrine mit ihrer Warnung fertig war. Heisa, gab das eine Aufregung! Liesetrine klagte: „Die allerbesten Teller sind es, die allerbesten!“ Ein paar Mägde schnatterten durcheinander, und da tat sich auch noch die Türe auf, und ein Diener streckte den Kopf herein und fing an über den Lärm zu schelten. Von der andern Seite guckte Frau Emma durch ein Schiebefensterchen und schalt auch.
In all dem Lärm entwischte Kasperle ganz heimlich. Husch, war er draußen! Er drückte sich an der Wand entlang und geriet in einen halbhellen, kühlen Gang. Hier verhallte der Lärm etwas, und Kasperle sah, daß vier Türen auf den Gang mündeten. Jede hatte ein kleines Fensterchen, und Kasperle konnte gerade, auf den Zehen stehend, hindurchsehen. Ei potztausend, war das fein, was er da erblickte! Er sah in die Speisekammern des Schlosses hinein, in denen die leckersten Dinge standen. Dem kleinen Schelm lief das Wasser im Munde zusammen; er merkte jetzt erst, wie hungrig er war. Er klinkte an einer Türe, an der andern, an der dritten, — sie waren alle verschlossen; die vierte aber ging auf, die hatte Frau Emma in der Eile dieses Tages nicht zugeschlossen. Und gerade in dieser Kammer standen die süßen Speisen: Fruchtschalen, Kuchen und Torten.
Kasperle besann sich nicht lange. Er fing an zu schlecken und zu lecken. Wie das schmeckte! Viel, viel besser, dachte er, als das Käsebrot beim Bauer Strohkopf. In einer Ecke stand ein ganzer Kübel Schlagsahne. Kasperle wußte erst nicht, was dieser weiße Schaum war, und weil er im Waldhäuschen einmal neugierig an Seifenschaum geleckt hatte, dachte er, es könnte wohl etwas Ähnliches sein. Aber naschhaft, wie er war, steckte er doch sein Fingerlein hinein und versuchte. Das war fein. Er schleckte den Finger ab, tauchte wieder ein, steckte die ganze Hand hinein, und weil der Kübel etwas hoch stand, kletterte er schließlich auf den Rand, um besser lecken zu können.
Da sagte auf einmal draußen jemand: „Was ist denn das? Hier steht ja eine Türe auf!“
Kasperle erschrak mächtig. Er wollte sich flink in eine Ecke flüchten, doch dabei verlor er das Gleichgewicht, und gerade als Frau Emma in die Speisekammer trat, plumpste Kasperle in die Schlagsahne hinein. Die spritzte hoch auf, und Frau Emma, die nur etwas zappeln und krabbeln sah, hielt Kasperle für eine Katze, sie stürzte schreiend aus der Speisekammer und rief um Hilfe.
Da war Kasperle geschwinder wieder aus dem Kübel heraus, als er hineingekommen war, und er wutschte flink aus der Kammer. Doch Frau Emma sah ihn, und merkte auch, daß das zweibeinige Ding keine Katze sein konnte; sie wollte ihn greifen, aber Kasperle, der von oben bis unten voll Schlagsahne war, entglitschte ihren Händen. Türen gingen auf, Menschen kamen, und Kasperle sah einen großen steinernen Pfeiler; hinter den rutschte er. Von da aus hörte er Frau Emma klagen, Mägde und Diener schelten, und plötzlich riefen alle: „Es fahren wieder Gäste vor.“
Da rannten alle weg, und Kasperle kroch aus seinem Versteck heraus. Satt war er, nun hätte er gern geschlafen, aber er wagte nicht, jemand zu fragen, wo denn das Kämmerlein sei, das er bekommen sollte. Beim Umschauen entdeckte er eine schmale Treppe, die nach oben führte. Ei, vielleicht war es dort stiller, und er fand wohl ein Plätzchen zum Ausruhen. Oben geriet er in einen kleinen Flur, auf dem mündeten viele Türen. Der kleine Schelm schlich etwas an der Wand entlang, so recht gemütlich war es ihm nicht. Der schmale Flur lief in einen breiten hinein, da war wieder Tür an Tür; alle waren sie weiß und hatten goldene Verzierungen, ganz prächtig sah es aus. Eine dieser Türen stand ein Ritzchen auf, und das neugierige Kasperle konnte nicht widerstehen, es steckte seine Nase hindurch. Das war aber ein feines Zimmer, in das er blickte! Selbst die Wände waren mit Seide bekleidet, und an der einen Wand stand ein breites goldenes Bett. Kein Mensch war im Zimmer, und das Bett lockte Kasperle arg. In dem mußte es sich doch sicherlich gut schlafen.
Sachte schlüpfte er ins Zimmer, und eins, zwei, drei war er in dem schönen Bett. Das war ganz von Seide, und Kasperle rollte sich wie ein Igel drin herum. Ei, da lag sich’s besser als in Bauer Strohkopfs Kammer! Doch freilich, in Protzendorf hatte ihn bis zum Morgen niemand gestört, aber hier! — Kasperle richtete sich erschrocken auf, viele Stimmen erklangen draußen, und er bekam Angst. Mit einem Satz war er aus dem Bette heraus, strich es schnell ein wenig glatt und kroch dann flink darunter.
Es war aber auch die höchste Zeit, denn gleich darauf tat sich die Türe auf, und ein älterer Herr, gefolgt von einigen Dienern, trat ein. Die redeten miteinander allerlei, was Kasperle nicht recht verstand, und dann trat der Herr an das Bett heran und sagte seufzend: „Ich bin heute sehr müde; ich wollte, der Tag wäre erst zu Ende!“ Bei diesen Worten strich er etwas über die seidenen Kissen, weil er sich wunderte, daß diese nicht so ganz gerade lagen. „Was ist denn das?“ rief er auf einmal erstaunt. Der Herzog, denn das war der ältere Herr, zog verdutzt seine Hand zurück. Er betrachtete sie, schüttelte den Kopf, strich wieder über das Bett und rief dann entrüstet: „Friedrich, in — meinem Bett ist — Schlagsahne!“
„Schlaaagsahne!“ Friedrich riß den Mund vor Erstaunen weit auf und kam eilfertig herbei. Er strich auch über das Bett, leckte ein bißchen am Finger und rief verdutzt: „Schlagsahne!“ Und dann lief er zur Klingel, läutete heftig, und es dauerte nur ein paar Augenblicke, da kam ein Kammerdiener daher. Der verbeugte sich dreimal und fragte dreimal, was der Herzog wünsche.
Da deutete dieser auf das Bett und sagte: „Was ist das? Drüberstreichen!“
Der Kammerdiener strich erstaunt über das Bett, wich dann erschrocken zurück und strich noch einmal darüber, leckte auch ein wenig am Finger und rief ebenfalls: „Schlaaagsahne!“ Und dann rannte er, holte den Haushofmeister herbei, der Graf kam selbst, und alle standen sie um das Bett herum und riefen: „Schlagsahne!“
Der Herzog schüttelte immerzu den Kopf, so erstaunt war er über die seltsame Geschichte. Und bei diesem Kopfgeschüttele sah er auch einmal in den großen Spiegel, der dem Bett gerade gegenüberhing. Darin sah er das ganze Bett und — der Herzog schrie plötzlich laut auf und sank in einen Stuhl. „Da, da, da!“ rief er zitternd und deutete unter das Bett und auf den Spiegel, denn in dem hatte er Kasperle erblickt, der neugierig seine große Nase etwas weit vorgestreckt hatte.
„Es steckt jemand unter dem Bett,“ rief der Haushofmeister zuerst. Da krochen auch schon zwei Diener hinunter, und das Kasperle konnte sich noch so klein machen, es wurde doch erwischt; an den Beinen zogen es beide hervor, und beide riefen entrüstet: „Er klebt ganz und gar, er ist auch voller Schlagsahne.“
„Ah!“ sagte der Herzog verwundert, als das Kasperle vor ihm stand. Nach der Nase hatte er nämlich gedacht, ein großer, ausgewachsener Räuber stecke unter dem Bett.
„Ah!“ rief auch der Graf zornig. „Das ist der, den mein Herr Vetter von Singerlingen mitgebracht hat, und der bis jetzt nichts wie Dummheiten gemacht hat. Haue muß er kriegen!“
„Jawohl und eingesperrt werden!“ sagte der Haushofmeister, und der Herzog nickte dazu. Nur weil er gerade sehr müde war, flüsterte er: „Aber erst morgen hauen.“
„Ja, morgen soll er Haue bekommen, jetzt wird er in den Keller gesperrt,“ rief der Graf streng.
Die Sache stand schlimm für das Kasperle, arg schlimm. Es war wohl am besten, er bettelte gleich recht eindringlich um Gnade, vielleicht verzieh ihm der Herzog doch. Und es war gut, daß er glitschig war, da gelang es ihm, einen Augenblick den Händen der Diener zu entwischen. Er tat einen Riesensprung auf den Herzog zu und kreischte mit weinerlicher Stimme: „Bitte, bitte, bitte!“
Doch der Herzog war ein etwas schreckhafter Herr. Er lehnte sich ängstlich weit, weit in seinen Stuhl zurück, und auf einmal purzelten Stuhl und Herzog hintenüber.
„Um Himmels willen!“ Der Graf, der Haushofmeister, die Diener, alle griffen erschrocken zu, und da schoß das Kasperle plötzlich einen riesigen Purzelbaum über alle hinweg, und draußen war er. Die Türe flog dem einen Diener, der nacheilen wollte, so unsanft an den Kopf, daß er zurückwich. Aber dann lief er doch auf den Flur, der Kammerdiener folgte und schrie laut: „Hilfe, Hilfe! Haltet ihn, haltet ihn!“
Ja, wen sollten alle Diener halten, die angelaufen kamen? Von dem Kasperle war keine Spur zu sehen. Hatte denn den der Erdboden verschluckt? Er war spurlos verschwunden. Auf dem langen, langen Flur rannte kein Kasperle dahin, die Türen waren alle verschlossen, er hatte also auch in kein Zimmer schlüpfen können. Weg war der Schelm, ganz weg. Die Diener rannten die Flure entlang, die Treppen auf und ab, das ganze Schloß geriet in Aufregung, alle fingen an zu suchen, und die Gäste wußten gar nicht, was sie suchten. Und dann rief der Graf nach dem herzoglichen Leibarzt, weil er dachte, der Herr Herzog hätte sich vielerlei gebrochen, aber der hatte sich glücklicherweise gar nichts gebrochen, nur der Stuhl hatte seine Beine gebrochen. Doch seufzte und stöhnte der Herzog wirklich, als wäre er selbst entzweigegangen. Es war eine schreckliche Aufregung im ganzen Schloß. Schließlich aber sagte der Herzog, nun möchte er zu Mittag essen, er habe Hunger. Und da dachten alle: Gott sei Dank! Sie hatten nämlich alle Hunger, denn es war schon spät; um diese Zeit tranken andere Leute, die nicht gerade auf einem Schlosse wohnten, ihren Nachmittagskaffee.
Der Graf befahl noch, alle drei Nachtwächter, die er hatte, sollten überall suchen und sollten Kasperle gefangennehmen, wenn sie ihn kriegten. Und dann wurde zu Mittag gegessen. Das schmeckte allen sehr gut, und alle wurden wieder ganz vergnügt. Sie sagten aber doch alle, mit dem fremden Jungen, das sei sicher nicht mit rechten Dingen zugegangen.
Rings um das Schloß wachten die Wächter, die großen Hunde umliefen es, Kasperle fanden sie aber doch nicht. Wo war der nur? Wie weggeblasen war er. Die Diener und Mägde durchsuchten wirklich das ganze Schloß, sie schauten sogar in verschlossene Kisten und Schränke hinein, — der unnütze Schelm war nicht zu finden.
Nur eine im ganzen Schloß wußte, wo das Kasperle steckte, Rosemarie. Die hatte am Fenster gestanden, als von unten herauf ein lautes Lärmen erklungen war. Da hatte sie erstaunt hinausgesehen und Kasperle erblickt, der wie eine reife Pflaume am Baum in dem Geäst des uralten Efeus hing, der die Schloßmauer bedeckte. „Der fremde Junge!“ Rosemarie hatte es verwundert gerufen, und da purzelte Kasperle auch schon in ihr Zimmer, denn weiter konnte der nicht klettern. Er war ohnehin vor Angst und Eile schon ganz außer Atem.
Unten war das Rufen lauter und lauter geworden, und Kasperle war auf einmal zu Rosemaries größter Verwunderung unter das Sofa gekrochen. Von dort her jammerte er kläglich: „Sie hängen mich auf!“
Rosemarie hatte sehr viel Mitleid mit dem kleinen Schelm gehabt, sie hatte ihn vorgelockt und ihn in ihrer großen Puppenstube versteckt. Das war ein kleines Zimmer, in dem alles für Rosemaries Puppen eingerichtet war. In das Bett der größten Puppe ging Kasperle gerade noch hinein. Ein bißchen zusammenkrümmen mußte er sich freilich, wie ein Igel, aber Rosemarie sagte: „Das schadet nichts, hier findet dich niemand.“
Es war auch niemand im ganzen Schloß auf den Gedanken gekommen, in Rosemaries Puppenstube nachzusehen. Ihre Lehrerin dachte, sie hätte die ganze Zeit mit ihren Puppen gespielt, weil sie so still in der Stube gesessen hatte. Als Rosemarie hinausging, schloß sie sorgsam die Vorhänge am Puppenbett, und das Kasperle lag in dem weißen Mullbettchen, von himmelblauen Seidenvorhängen umgeben. Das Bettchen war fein und weich, nur für so einen kleinen strampeligen, unnützen Kasper zu zart und fein.
Der seufzte denn auch arg, als Rosemarie gegangen war. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte in der Puppenstube alles umgekramt; er hatte aber doch große Angst, man könnte ihn finden, darum blieb er still liegen.
Endlich kam Rosemarie wieder. Die hatte den Gästen gute Nacht sagen müssen und sollte nun selbst bald zu Bett gehen. Sie sollte sich ausschlafen, denn morgen war die Hochzeit; die wollte sie ganz und gar mitfeiern. Leise zog sie den Vorhang auseinander, begierig, ob der fremde Kasper wohl schlief.
Kasperle sah sie betrübt an, er seufzte kläglich und murmelte: „Ich kann in dem Bett nicht liegen!“
„Du mußt aber drin bleiben,“ flüsterte Rosemarie ängstlich. „Ach, Kasper,“ klagte sie, „was hast du angerichtet! Der Herzog ist bitterböse, und es sind schon dreißig Landjäger gekommen, die sollen das Schloß bewachen, damit niemand hinaus kann. Und morgen früh soll noch einmal alles, alles abgesucht werden. Dann kommen sie gewiß auch hier herein, und wenn sie dich finden, wirst du ins Gefängnis gesteckt.“
„Brrrr!“ Kasperle schüttelte sich, dazu war er doch nicht in die weite Welt gelaufen, um eingesteckt zu werden. „Ich fliehe,“ brummte er.
„Dann fassen dich die Hunde oder fangen dich die Landjäger.“ Rosemarie seufzte bekümmert. Auf einmal aber hellte sich ihr Gesichtchen auf. „Ich weiß was,“ sagte sie. „Ich gebe dir den Turmschlüssel. Gleich neben dem Turm geht es hinaus, und vielleicht ist gerade da kein Landjäger. Komm, jetzt sitzen alle beim Essen, da zeige ich dir flink den Weg.“ Sie packte fürsorglich noch ein Stück Torte ein, das sie selbst hätte essen sollen, und steckte es Kasperle zu, und dann lief sie ganz, ganz leise voran. Kasperle folgte ihr, die Schuhe in der Hand. Rosemarie stieg eine schmale, schmale Treppe hinab, dann ging sie einen Gang entlang und öffnete am Ende eine Türe, und beide betraten ein rundes Gemach. Ein Tisch stand in der Mitte, Stühle darum, es war noch so hell, daß Kasperle alles sehen konnte. Aus dem runden Zimmer führte ein schmales Treppchen abwärts, und Rosemarie belehrte Kasperle, dort müsse er hinabsteigen, die Tür unten aufriegeln, dann sei er am Parkende und komme vielleicht hinaus. Wie sie das sagte, erfaßte sie ein tiefes Mitleid mit dem armen fremden Jungen. Sie fand, er hätte doch gar nichts Schlimmes getan. „Du armer Kasper!“ flüsterte sie, und über ihr liebliches Gesicht liefen helle Tränen.
In diesem Augenblick kam sich das Kasperle selbst sehr, sehr arm und verlassen vor, und er fing an ganz erschrecklich zu heulen. Rosemarie hielt ihm rasch mit beiden Händchen den Mund zu, denn Kasperle hatte eine Stimme, die selbst durch eine dicke Turmmauer hindurchschallte. Er schwieg dann aber auch gleich und sah Rosemarie erschrocken an; doch als die sagte: „Nun muß ich gehen,“ da purzelten dem Kasperle wieder die Tränen wie ein Bächlein aus den Augen. Er war jedoch still, versprach auch, er wolle fein brav alles befolgen, was Rosemarie ihm geraten hatte, und dann hielt er ein Weilchen die feine, kleine Hand des Grafenkindes fest.
Ach, wie himmelgern wäre er jetzt hiergeblieben in dem schönen Schloß und wäre Rosemaries Spielkamerad geworden! Er legte den Kopf auf die Seite und schielte Rosemarie traurig an. Da sagte die plötzlich: „Weißt du, wie du aussiehst? Wie — wie meine Kasperlepuppe.“ Und ganz jäh begann sie sich ein wenig vor dem fremden häßlichen Jungen zu fürchten, und sie sagte rasch: „Ich muß gehen.“ Sie nickte Kasperle noch einmal zu und glitt dann leise aus dem Zimmer. Kasperle hörte sie zuschließen, dann war er allein.
Er blieb noch ein paar Minuten still sitzen, weinte bitterlich und vergaß darüber Rosemaries gute Lehren. Statt sachte das Trepplein hinabzusteigen und unten die Turmtüre aufzuschließen, wollte er erst einmal durch das Fenster hinausschauen. Er öffnete das kleine Fensterchen, das klirrte und knarrte arg, und dann streckte Kasperle den Kopf hinaus und sah sich um. Ach, war das eine schöne frische Luft draußen! Kasperle schaute in die Höhe und schaute nach rechts und nach links, und dann schaute er auch hinab.
„Wauwau, wuwuwu!“ ging es plötzlich unten los; ein großer Hund stand da und bellte zu Kasperle hinauf. „Wauwau, wuwuwu!“ Ganz drohend klang seine Stimme.
Kasperle wollte schnell den Kopf zurückziehen. Doch so schnell ging das nicht, das Fensterchen war eng und Kasperles Kopf dick, und ehe der wieder drin war, tauchte draußen ein Landjäger im Gebüsch auf.
Gab das ein Hallo! „Er steckt im Turm!“ schrie der Mann. Und dann drohte er hinauf: „Nu, warte du, dich fange ich!“ Er maß schnell das kleine Fenster mit seinem Blick, nein, da konnte selbst ein kleiner Junge nicht hindurchkriechen. Und weil er zu dem Pförtlein unten keinen Schlüssel hatte und auch wußte, daß dies immer verschlossen war, lief er eilig in das Schloß hinein, seinem Hund aber rief er zu: „Sultan, paß auf!“
Kasperle hörte ihn davonlaufen, und er besann sich einen Augenblick, was zu tun sei. Dann nahm er flink Rosemaries Kuchen vom Tisch, rannte blitzschnell das Treppchen hinab und schloß unten auf. „Wauwauwau!“ bellte ihn Sultan zornig an. Das Kasperle aber nicht faul, warf dem Hund geschwinde den Kuchen in den Rachen. Rrrabsch! Sultan vergaß das Bellen. So ein feiner Kuchen flog ihm nicht oft ins Maul. Er schleckte und schluckte, und da hatte Kasperle auch schon die kleine Türe erreicht. Sie knarrte und quietschte, da war sie schon auf, aber inzwischen hatte auch Sultan seinen Kuchen verschluckt, und er besann sich auf seine Wächterpflicht. Doch Kasperle war flinker draußen als er am Türchen. Das schlug ihm vor der Nase zu, und draußen kollerte Kasperle vor lauter Eile den Schloßberg hinab in einen kleinen Bach hinein. Das Wasser spritzte hoch auf, dem Bächlein gefiel dies Hineingeplumse gar nicht.
Oben auf dem Schloß wurde der Lärm lauter und lauter. Jetzt bellte nicht Sultan allein, auch die andern Hunde fingen an zu bellen, Stimmen wurden laut, Rufe ertönten, und Kasperle begann vor Angst zu zittern. Er rannte in seiner Furcht eine Weile in dem Bach weiter, bis er an ein Gebüsch kam; da schlüpfte er hinein. Er kroch hindurch und sah vor sich eine weite Wiese liegen, dahinter stand dunkel der Bergwald. Dort konnte er sich vielleicht verstecken. Aber statt über die Wiese zu laufen, fing Kasperle an Purzelbaum zu schlagen. Das ging so geschwinde, wie Tauwasser einen Berg hinabrennt. Da war der Wald, und Kasperle tauchte in seinen dunklen Schatten unter.
Es war aber auch die höchste Zeit. Auf dem Schloß hatten sie den Turm leer gefunden, und die Landjäger schlugen einen gewaltigen Lärm. Den hörten der Graf und seine Gäste, und als der Herzog vernahm, daß Kasperle gesehen worden war, verlangte er, man solle ihn eilig verfolgen. Er war noch immer bitterböse auf den kleinen Kerl. Dem, der ihn finden würde, versprach er eine hohe Belohnung.
Da rannte alles, was Beine hatte, um Kasperle zu suchen. Man fand auch bald, wo er ausgerissen war, denn Sultan stand und bellte die kleine Mauerpforte immerzu wütend an. „Den haben wir bald,“ sagte der Landjäger, „Sultan findet ihn schon.“
Doch Sultan fand ihn nicht. Der stand plötzlich am Bach still, schnupperte und schnupperte, aber das Wasser hatte Kasperles Fährte hinweggespült. Wo war das Kasperle?
Landjäger, Hunde, Mägde, Diener, alles rannte im Schloß umher, um das Schloß herum, Kasperle fanden sie nicht. „Er ist noch im Schloß,“ sagten die einen, „nein, er ist entwischt,“ behaupteten die Landjäger; „man muß im Walde suchen.“ Die Mägde meinten, Kasperle sei ein Gespenst, ein Kobold; aber die Hausverwalterin sagte, ein Gespenst schlecke nicht so viel Schlagsahne. Und sie sah zehnmal in den Speisekammern nach, sie dachte, Kasperle hätte sich gewiß darin versteckt.
Kasperle kletterte unterdessen den hohen Waldberg empor, der steil in die Höhe stieg. Der Wald war hier so dicht, daß sich ein kleiner Schelm schon darin verstecken konnte. Aber vor den Landjägern und den Hunden hatte Kasperle doch eine jämmerliche Angst. Darum rannte er, so schnell er konnte. Und das war nicht immer leicht. Dürre Äste, knorrige Wurzeln, auch einmal ein umgestürzter Stamm erschwerten das Fortkommen sehr. Kasperles Nase war zuletzt ganz zerschunden, so oft hatte er sich daran gestoßen. Und je höher es hinaufging, desto schlechter wurde der Weg. Steingeröll bedeckte den Boden, und ein Menschenbube wäre wohl nicht so schnell in die Höhe gelangt. Aber Kasperle stieg und stieg immer höher, bis auf einmal vor ihm eine grüne Bergwiese lag.
Es war Abend geworden, und am dunkelblauen Himmel stand schon ganz blaß und fein der Mond. Auch ein Sternlein glitzerte, aber Kasperle sah es gar nicht. Der sank müde am Waldrand nieder. Er kniff die Augen zu, und da schlief er auch schon. Und die großen Waldbäume hatten Mitleid mit dem armen, verirrten kleinen Kerl. Sie, die immer nach oben schauen, zum Himmel empor, haben gütige, fromme Gedanken, sie haben Mitleid mit den Kleinen, die sich quälen müssen auf der Erde. Und der kleine Kerl, der da so müde und abgehetzt unter ihnen schlief, tat ihnen leid. Sie rauschten ihm ein schönes, feierliches Schlummerlied, erzählten ihm Geschichten, und Kasperle schlief auf dem weichen Waldboden besser als der Herzog im seidenen Bett. Er hörte nicht, wie weiter unten im Wald die Hunde bellten und die Landjäger mit Hussageschrei den Flüchtling suchten. Bis zur Bergwiese stieg keiner hinauf, denn der Weg war so steil und beschwerlich, daß niemand dachte, Kasperle könnte denselben gegangen sein.
Kasperle schlief noch süß und fest, da kehrten die Landjäger schon in das Schloß zurück, und sie sagten nun auch: „Der hat sich im Schloß versteckt.“ Und sie bewachten das Schloß weiter, und die Hausverwalterin hütete ihre Speisekammer. Und doch fehlte darin am nächsten Tag ein großes Stück Torte. Sie sagte: „Das war der Junge,“ und die Mägde sagten es auch. Berta und Dörte aber, die beiden jüngsten, die leckten sich heimlich den Mund ab, sie hatten nämlich die Torte gegessen. Sie schrien aber am lautesten, der fremde Junge sei es gewesen.
Der Herzog wurde vor Ärger, und weil er so furchtbar erschrocken war, am Tag nach der Hochzeit krank. Vielleicht hatte er auch zu viel Kuchen gegessen, wer kann das wissen! Und der Graf rief immerzu: „Schafft mir nur den Jungen her, damit ihn der Herzog bestrafen kann! Der Herzog soll sich doch in meinem Schlosse nicht krank ärgern.“
Der kleinen Rosemarie war das Herzchen bitter schwer. Die hätte gern ihren Eltern alles gestanden, aber sie wagte es nicht. Sie fürchtete, der Herzog könnte dann auch so bitterböse auf sie werden, und sie wußte doch, sie konnte nicht einmal sagen: „Es tut mir leid.“ Dazu freute sie sich viel zu sehr über Kasperles Rettung. Aber sie ließ tief betrübt ihr Näslein hängen und ging still und blaß einher, und ihre Mutter begann sich recht um sie zu sorgen. Der Herzog krank, Rosemarie krank, es war gar nicht gemütlich im Schloß in diesen Tagen. Der gute Graf von Singerlingen dachte: Das muß ein bißchen lustiger werden, ich muß mir etwas Vergnügliches ausdenken. Und als er hörte, unten in dem winzigen Städtchen, das am Fuße des Schloßberges lag, sei ein Puppenspieler angekommen, schickte er hinab, der Puppenmann möchte heraufkommen.
„Ich habe eine Überraschung,“ sagte der Graf von Singerlingen bei Tisch. Und dann erzählte er von dem Puppenspieler.
Der Herzog, der etwas verdrießlich am Tisch saß, mußte lachen. „Das ist freilich eine schnurrige Überraschung für große Leute,“ sagte er. „Doch der Mann mag kommen, auch ein Puppenspiel kann lustig sein.“
So gab es am Nachmittag eine Vorstellung im Schloß. Der Kasperlemann aus dem Städtchen kam herauf, er stellte seine kleine Bühne auf, und dann streckte Kasperle seine große Nase heraus und — ja, was er sagen wollte, das hörten die Zuschauer gar nicht, alle riefen: „Der fremde Junge! Genau so sah er aus.“
Kasper ist’s! dachte auch Rosemarie erschrocken, und ganz jäh begann sie bitterlich zu weinen. Sie schluchzte so herzbrechend, daß der Kasperlemann seine Reden und der Herzog seinen Ärger vergaß. Der fragte milde nach Rosemaries Kummer, und da bekannte die Kleine alles, und sie war froh, es sagen zu können, zu sehr hatte das Geheimnis ihr Herz bedrückt.
„O Rosemarie,“ rief die Gräfin ganz erschrocken, „warum hast du geholfen und den schlimmen Jungen ausreißen lassen!“
„Mit Verlaub,“ redete da der Kasperlemann hinter seiner Bühne hervor, „das ist gar kein Junge, das ist ein Kasperle, ein lebendiges Kasperle.“
„Potzwetter noch einmal!“ Der Herzog sah den Kasperlemann ganz grimmig an und rief: „Was redet Er da für Unsinn? Ein lebendiges Kasperle, so etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gehört!“
Der Kasperlemann aber kam geschwind näher und verbeugte sich immerzu ganz tief. Er stippte mit der Nase beinahe auf dem Boden auf, bis der Herzog endlich rief: „Genug, genug, jetzt will ich wissen, was das mit dem Kasperle für eine Geschichte ist.“
Da erzählte der Puppenspieler vom Waldhaus und von Protzendorf und daß er Kasperle fangen wolle, und wenn er, wer weiß wie weit ziehen müßte.
War das eine sonderbare Geschichte! Der Herzog ließ sie sich dreimal erzählen, und dann mußte der Puppenspieler auch noch heilig versichern, alles sei bestimmt wahr. Ein Kasper also war der fremde Junge gewesen.
Die kleine Rosemarie dachte daran, wie sie im Turm sich vor ihm gefürchtet hatte, und daß sie sich jetzt nicht mehr fürchten würde; er war ja nur ein Kasperle. Und ihr kleines Herz brach fast vor Mitleid, als sie jetzt den Herzog sagen hörte: „Der muß gefangen werden! So einen seltsamen Kauz will ich besitzen. Wer ihn fängt, der soll eine hohe Belohnung haben. Mit dem Puppenschnitzer im Waldhaus werde ich schon einig werden; der muß mir das Kasperle überlassen. Schnell, schnell, es sollen zehn Landjäger mit Hunden ausreiten, und es soll überall nachgeforscht werden! Das Kasperle will ich haben.“
Und der Puppenspieler vergaß, daß er dem Meister Friedolin versprochen hatte, er, nur er allein solle Kasperle bekommen. Die hohe Belohnung verlockte ihn, und er gelobte dem Herzog, ihm das Kasperle zu bringen, wenn — er es erst hätte.
Der Herzog aber sagte, er würde Kasperle in einen goldenen Käfig stecken, er dürfe ihm nicht mehr ausreißen, — wenn er ihn erst hätte. Und die Landjäger sprengten davon. Unten im Städtchen erzählte es einer dem andern: „Wer das richtige Kasperle findet, der bekommt viel, viel Geld.“ Manche Leute rannten da gleich flink in die weite Welt hinein, um Kasperle zu suchen; die dachten gar, der sitze nun wohl mitten auf der Landstraße und lasse sich fangen wie ein Schmetterling.
Die kleine Rosemarie aber lag in ihrem Bett und weinte bitterlich. Als ihre Mutter noch einmal zu ihr kam, da war das Kopfkissen der Kleinen naß von den vielen Tränen. Und Rosemarie klagte der Mutter, wie leid ihr das arme verfolgte Kasperle tue, das in einen Käfig gesetzt werden solle. Die Mutter tröstete linde, noch sei Kasperle ja nicht gefangen. „Vielleicht findet er noch heim in das Waldhaus; mir scheint, das ist seine beste Heimat,“ sagte sie.
„Ich will beten, daß Kasperle heimfindet,“ flüsterte Rosemarie und faltete fromm ihre Hände. Und dann schlief sie ein und träumte: Kasperle saß in einem goldenen Käfig, und da kam ein Vogel, sang und sang, und plötzlich war um den Käfig herum der grüne Wald, und Kasperle spazierte vergnügt hinein. Er nickte ihr noch fröhlich zu, und dann war er verschwunden. Auf einmal aber kam der Herzog gelaufen und die Landjäger und viele, viele Leute, und alle riefen: „Wo ist Kasperle?“ Da fing die kleine Rosemarie an zu lachen, sie lachte und lachte und wachte schließlich von ihrem eigenen Lachen fröhlich auf. Vielleicht wird Kasperle wirklich nicht gefangen, dachte sie getröstet.
Auf der Bergwiese lag das Kasperle und schlief. Der kleine Schelm hörte kein Hundegebell, kein Hussageschrei, nichts; in die einsame Höhe drang kein Laut von unten herauf. Und als Kasperle endlich erwachte, da lag die ganze Wiese im Sonnenglanz, und viele feine, zarte, bunte Blüten waren aufgeblüht. Wie ein grünseidenes Festgewand, mit Edelsteinen bestickt, breitete sich die Wiese vor dem Kasperle aus. Das rieb sich staunend die Augen. Wie wunderschön war es hier! Im Halbkreis umschloß der hohe Tannenwald die Wiese, und über ihr stiegen steile Bergspitzen himmelan. Darüber glänzte der Himmel tiefblau, und ein feines Summen und Schwirren erfüllte die Luft. Bienen, Käfer, Fliegen und bunte Falter flogen von Blüte zu Blüte, und hoch in der Luft kreiste ein Vogel. Ein Adler war es, doch das wußte Kasperle nicht, sonst hätte er sich wohl vor dem König der Vögel gefürchtet. Kasperle schaute und schaute, er vergaß darüber seine Not, bis auf einmal sein Mäglein mit einem lauten Gerumpel mahnte: „Frühstückszeit ist lang vorbei!“
Ja, Frühstück, woher das nehmen? Kasperle fuhr in seine Taschen, die waren leer, und es half ihm nichts, daß er an die gefüllten Speisekammern im Schloß dachte, und an den Kuchen, den Sultan gefressen hatte. Und Beeren, mit denen er wenigstens ein kleines Loch im Magen hätte ausfüllen können, gab es auch nicht. Vom Blumenduft aber kann kein Kasperle satt werden.
Er erhob sich also und beschloß weiterzuwandern. Über die Berge hinüber, dachte er; bis dahin würden sie ihm doch vom Schloß aus nicht nachkommen. Wie hoch die Berge waren, ahnte er gar nicht. Er begann tapfer zu laufen, überquerte die schöne Blumenwiese, und dann ging das Klettern los. Wohl eine Stunde mochte er gestiegen sein, als er einen schmalen Pfad sah, der am Berge dahinlief. Dem Weg war freilich anzusehen, daß er nicht oft begangen wurde; ein Weg führt aber meist zu einem Ziel, und Kasperle rannte, so schnell er konnte, den Pfad entlang. Sein Hunger war inzwischen riesengroß geworden, und auf einmal meinte er, er könne nicht weiter; er setzte sich auf einen Stein und begann bitterlich vor Herzeleid und Hunger zu weinen.
Da ertönte plötzlich ein feines Klingen, es schwoll an, wurde stärker und stärker, und das Kasperle dachte: So klang es doch immer Sonntags im Waldhaus, wenn sie in Schönau zur Kirche läuteten! Heisa, da mußte eine Kirche in der Nähe sein! Und wo eine Kirche war, wohnten Menschen. Da rannte Kasperle auch den Glockentönen nach. Er brauchte nicht weit zu gehen, nur um einen Felsen herum, da sah er schon tiefer unten ein Dorf liegen. Um ein große, weiße Kirche scharten sich die Häuser; friedsam und behaglich sah das aus. Aus jedem Schornstein aber stieg lustig ein feines Rauchwölkchen zum Himmel empor. Da merkte Kasperle, es war Mittagszeit, und die Glocke läutete diese ein. Sie rief und lockte, und Kasperle wäre am liebsten kopfüber den Berg hinabgekugelt, um da unten mitzuschmausen. Er blieb aber doch still auf dem Berge sitzen, weil er sich fürchtete, unter die Menschen zu gehen. Wenn nur nicht der schreckliche Hunger gewesen wäre! Kasperle bog sich ganz zusammen, so hungrig war er, und weinend sah er auf das Dorf hinab. Ach, die hatten es unten alle gut! Die waren nicht so mutterseelenallein und verlassen wie das arme Kasperle!
Von dem Dorf stieg just um diese Zeit ein Mann zu den hohen Bergen empor. Es war dies Herr Habermus, der Schullehrer. Der wollte auf der schönen Bergwiese, über die Kasperle vorher gelaufen war, Blumen suchen. Dort wuchsen seltene Heilkräuter, und Herr Habermus war ein kräuterkundiger Mann. In das einsame Dorf, das den Namen Waldrast führte, kamen wenig Menschen, und wenn Krankheit herrschte, war es mühsam und beschwerlich, einen Arzt herbeizuholen. Da gingen dann die Dörfler lieber zu ihrem Schullehrer; der half ihnen mit seinen Kräutertränklein, so gut es ging. An diesem schönen, hellen Tag nun gedachte Herr Habermus seine grüne Botanisierbüchse voll Kräuter zu füllen und fand dafür das weinende Kasperle. „Jemine,“ schrie er, als er den Kleinen erblickte, „was ist denn das?“ Er dachte wirklich, es sei ein Berggeistlein oder so etwas, obgleich er eigentlich nicht an solche Dinge glaubte. Aber das Kasperle kam ihm doch zu sonderbar vor, auch war dieser Bergpfad gar kein Weg, auf dem sonst Fremde daherkamen. „Heda!“ rief er und packte das weinende Kasperle. „Wo kommst du denn her? Wo willst du hin? Warum weinst du denn?“
Drei Fragen auf einmal, das war ein bißchen viel. Kasperle sagte schluchzend wieder sein Sprüchlein her, er sei ein armes verlassenes Waisenbüble und wolle in die weite Welt gehen.
Herr Habermus hatte ein gutes, mitleidiges Herz, dem tat Kasperle gleich ungemein leid. „Nun, nun,“ sagte er, „da mußt du nicht so schrecklich weinen; in der weiten Welt wird schon noch Platz für so ein Büble sein!“
„Ich hab’ doch Hunger!“ schrie Kasperle so laut und kläglich, daß Herr Habermus gleich ganz erschrocken seine grüne Büchse um und umdrehte. Die hatte ihm seine liebe Frau mit Butterbroten und Pfingstkuchen wohl gefüllt, und der Schullehrer drückte Kasperle Brot und Kuchen in die Hände und wollte gerade ermahnen: „Iß!“ da — schrippschrapp! hatte Kasperle schon beides in seinen großen Mund gesteckt. Schluck, schluck, hinunter war es!
„Potzwetter,“ schrie Herr Habermus, „du kannst das Essen gut!“ Er füllte wieder Kasperles Hände, und wieder schluckte der eins, zwei, drei! alles hinab. Es wird nicht reichen, dachte Herr Habermus bekümmert. Aber es reichte. Kasperle wurde plumpsatt, und der Schullehrer sagte: „Nun erzähl’ mir mal, wo du eigentlich herkommst.“
Das war eine schwere Sache. Kasperle erzählte verlegen von Protzendorf, er klagte Damian und Florian bitter an, und der gute Herr Habermus dachte, der kleine Schelm sei wer weiß wie lange dort Gänsehirt gewesen. „Bist du denn auch ordentlich dabei in die Schule gegangen?“ fragte er mitleidig.
„In die Schule?“ Kasperle riß seinen Mund vor Erstaunen noch weiter auf als zuvor aus Hunger. Denn daß er, ein Kasperle, jemals in eine Schule gehen sollte, daran hatte er nie gedacht. „Nä!“ rief er und schüttelte immerzu den Kopf. „In die Schule, — nä!“
„Nanu, bist du überhaupt noch nicht in eine Schule gegangen?“ fragte Herr Habermus ordentlich entsetzt.
„Nä, nie!“ Das ganze Kasperle wackelte nun hin und her, und Herr Habermus schüttelte auch den Kopf; das war doch wirklich eine schlimme Geschichte! Hier mußte geholfen werden, der Bube mußte in die Schule gehen. Ei, das wäre noch etwas, ein Büble in der weiten Welt herumlaufen zu lassen, immer an der Schule vorbei! „Das geht nicht,“ rief er; „mein Sohn, du mußt in die Schule gehen!“
Hätte der gute Herr Habermus gerufen: „Kasperle, ich muß dir die Ohren abschneiden,“ dann hätte es den nicht mehr erschrecken können. Im Waldhaus hatte Meister Friedolin manchmal gedroht: „Na warte, ich schicke dich noch in die Schule!“ Und Windgustel und Wassergustel, seine Freunde in Protzendorf, hatten ihm gesagt, an der Schule seien nur die Ferien gut. Und Kasperle glaubte dies den beiden Faulpelzen mehr als Herrn Habermus, der jetzt sagte: „Ei, ein rechter Junge muß in die Schule gehen und muß sich darauf freuen, denn in einer Schule ist es wunderschön!“ Und dann legte Herr Habermus den Finger an die Nase; er dachte nach, wie dem Kasperle zu helfen sei. Und als er eine Weile nachgedacht hatte, sagte er: „Mein Sohn, ich nehme dich mit nach Waldrast. Wir haben nur zwei Kinder, also ist Platz im Schulhause. Du kannst der Frau in der Küche helfen und mir beim Kräutersuchen; doch wenn ich Schule halte, spazierst du hinein. Du sollst etwas Ordentliches lernen. So, nun marsch, jetzt gehen wir nach Hause! Das Kräutersuchen lasse ich heute sein. Na, meine Frau wird Augen machen, wenn sie den Gast sieht, den ich mitbringe!“
Dem Kasperle war es zumute, als hätte ihn ein Wirbelsturm rundum gedreht. Auf einmal sollte er, das richtige, echte Kasperle, in eine Schule gehen! Wie würde denn das sein? Ganz verwirrt ging er hinter dem Schullehrer her, der auf einem schmalen Zickzackweg ins Tal hinabstieg. So kamen sie beide am Dorf an, und gleich am ersten Haus unter einer großen Tanne saßen etliche Buben und Mädel. Die staunten über den seltsamen Buben, der da mit hängendem Kopf hinter ihrem Schullehrer hertrabte. Flink liefen sie nach, um sich das Kasperle genauer anzusehen. Dies Angeschaue verdroß Kasperle, er drehte sich auf einmal blitzschnell um und machte sein Räuberhauptmanngesicht.
„Huhuhu!“ Die Mädel kreischten laut, die Buben lachten, Herr Habermus aber drehte sich ärgerlich um. „Was soll denn der Lärm?“ fragte er.
„Der da macht so ’n komisches Gesicht!“ Lauter kleine Zeigefinger streckten sich aus und deuteten auf Kasperle.
Doch da wurde Herr Habermus ernstlich böse. „Schämt euch!“ rief er. „Was kann der arme Junge für seine große Nase! Ein armes Waisenkind ist’s, dem es arg schlecht gegangen ist in der Welt. Komm nur, Kasper, morgen in der Schule werden sie sich schon mit dir vertragen!“ Und Herr Habermus stapfte wieder voran und das Kasperle hinterher.
Nach drei Schritten drehte der sich um und schnitt sein allerdümmstes Kasperlegesicht. Die Kinder kreischten laut vor Vergnügen, und der Schullehrer drehte sich wieder um. „Aber Kinder,“ mahnte er strenge, „was soll der Lärm!“
Und wieder streckten sich lauter kleine Zeigefinger aus, und wieder ertönte es im Chor: „Der da macht so ’n komisches Gesicht!“
„Kasper!“ Herr Habermus sah seinen kleinen Schützling fragend an, doch der sah so unschuldig drein, als könne er kein Wässerlein trüben. „Dumm, dumm!“ brummte der Schullehrer und ging weiter, denn das Schulhaus lag ganz am andern Ende des Dorfes. Trapp, trapp folgte Kasperle ihm. Da kam eine Schar Gänse angewatschelt, und flugs schnitt Kasperle auch denen sein Räubergesicht. Gab das ein Geschnatter und Geschrei! Die Gänse wuselten erschrocken durcheinander, die Kinder lachten, und Herr Habermus drehte sich wieder ärgerlich um. Da sah er wieder das Kasperle mit gesenktem Kopf ganz bescheiden hinter sich gehen, und er schalt auf Kinder und Gänse. „Geht heim,“ gebot er den Kindern, „laßt mir den Kasper in Frieden!“ Dann nahm er selbst Kasperle an der Hand und führte ihn seinem Hause zu, denn so ganz traute er dem Schelm doch nicht.
Die Frau Schullehrer sah arg erstaunt drein, als ihr Mann so bald schon und mit einem so sonderbaren Kerl zurückkehrte. „Jemine,“ rief sie, „was bringst du da für einen Popanz mit? Der sieht ja aus wie ’n Kasperle aus ’ner Jahrmarktsbude!“
Herr Habermus war sehr gekränkt. Er erklärte seiner lieben Frau, wie er Kasperle gefunden habe, und der Schlingel stand trübselig dabei und machte ein so unschuldiges Gesicht, daß er der Frau, die von heiterer Güte war, bitter leid tat. Sie nahm den Kleinen freundlich an der Hand und führte ihn in das Haus hinein.
Drinnen gab es freilich Geschrei und arg böse Blicke bei Kasperles Anblick. Für das Geschrei sorgten Lenchen und Lorchen Habermus, die drei- und vierjährig und noch ein bißchen dumm waren. Sie hörten freilich bald wieder auf zu schreien, als Kasperle ein lustiges Gesicht aufsetzte, ja sie jauchzten ihm vergnügt zu. In das laute Gelächter stimmte nur die Base Mummeline nicht ein; sie war es, die das arg böse Gesicht machte. Wie eine Gewitterwolke sah sie drein. Ihr paßte nicht der Gast im Hause, der unnütze Esser, und ihr gefiel das ganze Kasperle nicht. „Wie ein Spatzenschreck sieht er aus,“ behauptete sie und sah den Kleinen scheel an.
Dem Kasperle gefiel die Base Mummeline auch recht wenig. Er merkte gleich, an der hatte er keine gute Freundin. Drum machte er blitzschnell, als ihn die Base beim Abendessen so unwirsch ansah, sein Räubergesicht. „Hach,“ kreischte die Base, „wie sieht der Bengel aus! Man muß sich fürchten.“
Weil aber Kasperle, der Schelm, wohl aufgepaßt hatte, daß just niemand anders sein Räubergesicht sah, und er dann flink wieder ganz unschuldsvoll dreinblickte, schalt die Lehrerin: „Aber Base, das Büble tat doch nichts! Sei nicht so ungut!“
„Hach!“ Die Base fiel fast vom Stuhl vor Schreck. „Jetzt, jetzt hat er wieder so ausgeschaut,“ jammerte sie. „O du meine Güte, mit dem gibt’s noch ein Unglück!“
Der gute Herr Habermus sah etwas bedenklich drein. Es fiel ihm ein, wie die Kinder gekreischt und gelacht hatten, als er mit Kasperle durch das Dorf gegangen war, er sah auch in Kasperles Augen den Schalk glitzern und funkeln, da dachte er: Ich muß wohl aufpassen. Und als die Base Mummeline mal wieder „hach!“ und „ach!“ schrie, sagte er streng: „Nun ist’s genug; Kasper geht ins Bett. Er soll sich heute ausschlafen; morgen fängt die Schule wieder an, da muß er tüchtig lernen. Und Dummheiten werden nicht gemacht,“ fügte er drohend hinzu.
Na, ich mache doch nie Dummheiten! dachte Kasperle betrübt, als er sich im Bette ausstreckte. Ich doch nicht! Und dann lauschte er und hörte, wie nach einem Weilchen die Base Mummeline in ihre Kammer ging. Die lag neben der seinen. Da stieg das Kasperle flink auf das Fensterbrett, nahm einen langen Stock, der in einer Ecke lehnte, und bums, bums schlug er an der Base Fenster. Die hatte gerade ihre Haube abtun wollen und fiel vor Schreck mitsamt ihrer Haube kopfüber in die Waschschüssel. Sie pustete und ächzte und meinte nicht anders, als ein Gespenst sei draußen vor ihrem Fenster. Doch plötzlich besann sie sich, nahm ihr Licht und rannte in Kasperles Kammer hinüber. Doch da lag das Kasperle im Federbett ganz still und friedlich und war anzuschauen, als schliefe es. Die Base Mummeline schüttelte den Kopf. Das war doch wohl ein Gespenst gewesen und nicht der fremde Bube. „Hm, hm!“ brummelte sie und ging zur Türe hinaus, da aber drehte sie sich noch einmal um und — „hach!“ kreischte die Base wieder und stolperte vor Eile über ihre Pantoffeln. Das Licht fiel ihr aus der Hand, sie rannte an ihre Türe an und fand nicht in die Kammer. Der Schullehrer und seine Frau kamen angerannt und fragten erschrocken, was der Lärm bedeuten solle. „Da — da drin liegt ein Gespenst!“ jammerte die Base und zeigte nach Kasperles Kammer. „Es ist ein Gespenst!“
„Unsinn!“ Herr Habermus tat die Türe auf und sah hinein. Da lag Kasperle fromm und friedlich im Bett und schlief, er schnarchte sogar ein wenig. „Was die Base nur hat!“ brummte Herr Habermus ärgerlich und schloß sachte Kasperles Kammertüre. Ach, dessen bitterböses Räubergesicht hatte eben nur die Base Mummeline zu sehen bekommen, und die schlief die halbe Nacht nicht vor Grausen über den unheimlichen kleinen Gast.
Am nächsten Tag ging Kasperle zum ersten Male in die Schule. Er war sehr brav aufgestanden, hatte still am Frühstückstisch gesessen, und selbst die Base Mummeline hatte gedacht: Er ist doch gar nicht so schlimm. Dann wanderte Kasperle an Herrn Habermus’ Hand hinüber in die Schulstube, und der Schullehrer sagte: „Hier bringe ich euch einen neuen Mitschüler.“
Ein wildes Geschrei erhob sich. Herr Habermus sah ganz verdutzt drein; so waren doch sonst seine Schulkinder nicht. Er sah die an, er sah Kasperle an; der stand ganz still mit einem sehr dummen Gesicht neben ihm. „Aber stille doch!“ rief Herr Habermus. „Kasper, sage nun einmal allen guten Tag.“
„Guten Tag!“ brüllte Kasperle sehr vernehmlich, und sofort erhob sich ein allgemeines jauchzendes Gelächter. Buben, Mädel, Kleine, Große, alle lachten sie, manche quiekten hoch wie kleine Schweinchen, manche brummten wie Bären dazwischen. Gar nicht aufhören konnten sie. Und Kasperle lachte mit. Der riß seinen Mund auf, als sollte eine Kutsche mit vier Pferden bespannt hineinfahren.
Herr Habermus stand ganz verdutzt da. Er wußte nicht recht, lachte Kasperle, weil die Kinder lachten, oder lachten die über Kasperle. „Aber Kinder, Kinder!“ rief der Lehrer mahnend, der nicht ahnte, daß eben Kinder immer über ein echtes Kasperle lachen müssen, sie mögen wollen oder nicht. Und Herrn Habermus erging es sonderbar. Er wollte heftig schelten und konnte nicht. Das Lachen steckte an. Wenn er das lachende Kasperle ansah, dann zuckte es ihm um die Mundwinkel, er mußte immer fortsehen. „Jetzt setze dich einmal, da gleich vornhin,“ sagte er endlich, und Kasperle ging gehorsam an den Platz und setzte sich. Da ebbte das Lachen ab, denn nun konnten die Kinder alle Kasperle nicht von vorn sehen.
Herr Habermus atmete auf. Endlich trat Stille ein, und die Schule konnte beginnen. Erst sangen die Kinder ein Lied, und Kasperle hörte fein andächtig zu; das gefiel ihm gut. Danach sollten die Kleinen schreiben und die Großen biblische Geschichten erzählen. Herr Habermus trat zu Kasperle und zeigte dem, wie er schreiben müßte: auf, ab, und Kasperle fuhr flink auf und ab über die ganze Tafel, dazu nahm er noch die linke Hand.
„Linkshänder!“ schalt Herr Habermus, „nimm die rechte!“
„Er nimmt wieder die linke!“ rief plötzlich jemand von hinten vor. Das dicke Jaköble hatte es gerufen, und gleich schrieen ein paar nach: „Er nimmt immer die linke!“
„Die rechte Hand sollst du nehmen, Kasper!“ mahnte Herr Habermus.
Kasperle grinste und drehte sich um, und gleich fing die ganze Klasse zu lachen an. Da wurde der Lehrer ärgerlich. „Kasper,“ rief er, „weißt du nicht, was links und rechts ist?“
„Nä,“ sagte Kasperle. Er wußte das wirklich nicht. In seinem Schlaf hatte er vielerlei vergessen, darunter auch dies, und die Waldhausleute hatten es ihm noch nicht wieder beigebracht.
Ei du lieber Himmel! Herr Habermus seufzte, die Kinder lachten, und Kasperle lachte mit. Da war es wieder so laut wie nie zuvor im Schulzimmer, und der Lehrer wollte böse werden und konnte nicht. „Bleib ganz still sitzen, Kasper,“ gebot er, „und höre zu!“ Da blieb Kasperle steif sitzen und sperrte wieder den Mund himmelweit auf. Herr Habermus erzählte und fragte, die Kinder hoben die Hände und antworteten. Das gefiel Kasperle ganz ungemein, und auf einmal hob er auch seine Hände empor, beide zugleich. „Na, was weißt du denn?“ fragte der Lehrer. Er wollte gerade die Namen der zwölf Jünger wissen und nickte Kasperle zu, da schrie der laut: „Windgustel!“
„Waaas?“ Herr Habermus meinte nicht recht gehört zu haben, die Kinder jauchzten wieder, und Kasperle sah sich strahlend rundum und brüllte vernehmlich: „So, ja, er ist jünger als Wassergustel.“
„So ein Schafskopf!“ Herr Habermus dachte es nur, er hätte es aber beinahe gerufen. Er sagte jedoch streng: „Still jetzt, und du, Kasper, hebe die Hände nicht mehr, hör’ zu!“
Da wurde es wieder stiller, das Fragen ging weiter, die Kinder wußten gut Bescheid, die Hände flogen nur so hoch. Kasperle fand das wieder sehr spaßhaft, er hätte gerne mitgetan, aber die Hände sollte er ja nicht hochheben. Doch warum nicht die Beine? Das ging doch auch! Und hops! pendelten plötzlich Kasperles Beine in der Luft herum.
So etwas war noch nie vorgekommen. Die ganze Klasse schrie, lärmte und lachte, und der sonst so geduldige Lehrer wurde schlimm böse. Rausche, bausche, packte er Kasperle und setzte den recht unsanft auf die Bank nieder. Es krachte ordentlich, und Kasperle sah tief erschrocken drein. Er hatte doch nichts Arges tun wollen, und für ein Kasperle ist das Beine-in-die-Luft-Strecken kein schlimmes Ding. Er blieb ganz steif und starr sitzen, es wurde wieder Ruhe im Zimmer, und der Unterricht ging weiter.
Nach ein paar Minuten schon aber ertönte ein ganz helles Stimmlein, das rief: „Er weint!“ Die kleine Bärbe hatte es gerufen, und flugs schauten alle Waldraster Mädel und Buben zu Kasperle hin, denn nur der konnte gemeint sein. Und Kasperle weinte wirklich, aber wie! Die Tränen rannen stromweise über sein Gesicht, und auf einmal fing Kasperle ein Gebrüll an, als heulten mindestens sechs Buben zusammen. So jämmerlich klang es, daß gleich ein paar Mädel auch zu weinen begannen. Da mußte der gute Herr Habermus trösten, er sagte zu Kasperle: „Sei nur still, ich bin nicht mehr böse! Wenn du so heulst, kommt ja noch die ganze Stube unter Wasser.“
Weg waren da Kasperles Tränen, gleich war er wieder putzvergnügt, er grinste, schaute nach rechts, schaute nach links, schaute hinter sich, und wieder brach die ganze Klasse in ein jubelhelles Lachen aus.
Es war zum Verzweifeln an diesem Tag! Zum erstenmal wurde Herr Habermus mit seiner Klasse nicht fertig. Ja, und dabei merkte er es doch, niemand war eigentlich ungezogen, niemand wollte ihn ärgern. Es war wie verhext.
„Wir wollen singen,“ sagte er endlich. Er dachte: Darüber vergessen sie am besten das Lachen, und die Kinder klappten auch alle vergnügt ihre Bücher zu; singen taten sie alle gern. „Also zuerst: Der Mai ist gekommen,“ sagte Herr Habermus. „Kasper, kennst du das Lied?“
„Nä!“ schrie Kasperle vergnügt.
„Wir sagen’s ihm vor,“ riefen ein paar Stimmen.
„Sagt mal zuerst das Lied her!“ gebot Herr Habermus.
Das taten die Kinder, und nun geschah etwas Wunderbares. Kasperle stand auf und sagte ihnen gleich das ganze Lied nach. Da staunten alle, und der Lehrer, der dachte: Halt, der Schelm hat es gekonnt! sagte ihm schnell ein paar andere Verse vor, und Kasperle wiederholte die gleich. Herr Habermus sah auf das schreckliche Gekracksel, das der Bube auf seiner Tafel angestellt hatte, und er wunderte sich sehr. Erst hatte er gedacht: Der Kasper ist ja fürchterlich dumm! jetzt fand er ihn doch nicht so beschränkt. Wer so fix auswendig lernen konnte, der würde schon vorwärtskommen, meinte er. Er nickte Kasperle ganz freundlich zu, dann nahm er seine Geige, und die Singerei sollte beginnen.
Singen kann aber kein Kasperle, nur brüllen. Und Kasperle brüllte mit der allerschrillsten Stimme in den Gesang hinein, und jäh wurde aus der Singerei ein lautes Gelächter.
„Kasper, schweig!“ rief Herr Habermus. „Du lernst in deinem Leben nicht singen.“
Ach du lieber Himmel, das hatte schon Liebetraut immer gesagt! Kasperle schwieg traurig, er hätte doch so gern mitgesungen, aber dann saß er ganz andächtig da, hörte zu und sah wieder so unschuldig drein, als könnte er keine kleinen Dummheitle machen.
Herr Habermus dachte wieder: Er ist nicht schlimm, ja eigentlich ist’s ein lieber, lustiger Kerl, ich will schon Geduld mit ihm haben. Er war an diesem Tage aber froh, als die Schule zu Ende war, während die Kinder alle gerade heute noch himmelgern geblieben wären. Sie drückten sich sehr langsam aus den Bänken heraus, und da der Lehrer nicht wie sonst wartete, bis alle hinaus waren, sondern zuerst hinausging, vergaßen die Kinder alle miteinander das Heimgehen.
Herr Habermus saß schon ein ganzes Weilchen in seiner Stube und ordnete Pflanzen ein, als seine Frau kam und sagte: „Drüben im Schulzimmer ist ja so arger Lärm! Sind denn die Kinder nicht heimgegangen?“
Der Schullehrer lief eiligst hinüber. Schon draußen hörte er die Kinder lachen, und als er mit einem Ruck die Türe aufriß, sah er das Kasperle auf dem Katheder sitzen. Der hatte ein Bein drüber hängen, ein Bein untergeschlagen, und so erzählte er die Geschichte, wie Damian ins Wasser gefallen war.
Die Kinder umstanden alle das Katheder wie eine Jahrmarktsbude, und das Kasperle schwätzte auch wie auf einem Jahrmarkt. Und niemand sah und hörte den Lehrer kommen. Nur das Kasperle sahen die Kinder, und immer von neuem gellte ihr Lachen auf. Aber wie spaßig das Kasperle auch war, was es für Gesichter schneiden konnte!
Potzwetter, so ein Bube! Herr Habermus mußte an sich halten, um nicht mitzulachen, und ein paar Minuten schaute er stille zu, dann rief er in den Lärm hinein: „Wollt ihr wohl heimgehen!“
Der Schreck! Kasperle rutschte blitzschnell vom Katheder herunter, und die Buben und Mädel standen verwirrt und betroffen. Sie wußten gar nicht recht, wo sie eigentlich waren, sie hatten nur das Kasperle gesehen, nur an ihn gedacht. Doch Herr Habermus sah eigentlich nicht böse drein, nur ein bißchen betrübt. Er dachte nämlich: Ja, was habe ich da für einen kleinen Narren ins Haus gebracht! Wie soll das mit ihm werden? Er nickte den Kindern zu und sagte nur noch einmal: „Geht nun aber heim!“ Und da leerte sich das Schulzimmer im Umsehen. Auf einmal hatten es alle sehr eilig heimzukommen, sie purzelten beinahe über ihre eigenen Beine. Draußen schauten ein paar Bauern verwundert zu, die sagten zueinander: „Da hat’s doch was gegeben, und wie spät die Schule aus ist! Gar haben sie alle nachsitzen müssen.“
Die Kinder liefen alle eiligst ihren Heimstätten zu, und die meisten fingen schon draußen vor der Türe an, von dem wunderlichen neuen Schulgefährten zu erzählen. Den holte Herr Habermus inzwischen unter dem Katheder hervor, stellte ihn vor sich hin und sagte streng, doch nicht böse: „Kasper, was bist du für ein unnützer Strick!“
Kasperle schaute betrübt zu dem Lehrer auf. „Ich hab’ doch nur gekaspert!“ antwortete er kläglich.
„Ja, du bist doch —“ Herr Habermus stockte, er wollte sagen: „kein Kasper“, da sah er seinen Schützling an und dachte erschrocken: Er sieht doch wirklich wie Kasperle aus! Jemine, wen habe ich mir da ins Haus gebracht! Aber da steckte Kasperle zutraulich seine Hand in die seine und sah ihn so traurig bittend an, daß all sein Ärger verging. „Nun komm nur mit, du Schelm!“ sagte er. „Auf dem Katheder darfst du mir aber nicht mehr kaspern.“
„Nä,“ versprach Kasperle treuherzig, und dann nahm er seine neue Schiefertafel, die der Lehrer ihm geschenkt hatte, unter den Arm und schlitterte vergnügt hinter Herrn Habermus drein. Er schlitterte in die Wohnstube hinein und prallte unversehens mit der Base Mummeline zusammen. Die hatte gerade eine Schüssel Milch in den Händen, und da lagen dann plötzlich Base, Milch, Kasperle und Schiefertafel auf der Erde, und es gab ein allgemeines Zetergeschrei. „Er hat’s mit Absicht getan!“ kreischte die Base, die sich aus dem Milchsee aufrichtete. „Hach, jetzt sieht er mich wieder so an!“
„Er konnte nichts dafür,“ sagte die Frau Lehrerin. „Ich hab’s gesehen, nur ein bißchen geschwinde ist er zur Türe hereingekommen.“
„Er hat’s mit Absicht getan. Hach, das schreckliche Gesicht!“ Die Base Mummeline stand wütend und scheltend auf, und bitterböse saß sie dann am Tisch. Da wagte Kasperle gar nicht aufzusehen, sein Räubergesicht machte er auch nicht, denn er hatte Angst vor der Base Mummeline.
Nach Tisch gab es ein Ruhestündchen für den Lehrer, auch Lenchen und Lorchen sollten schlafen, obgleich sie heftig verlangten, sie wollten mit Kasperle spielen. Zu dem sagte die Frau Lehrerin: „Geh du und tummle dich draußen herum, macht aber keinen Lärm um das Schulhaus herum!“ Bei sich dachte die gütige Frau: Es ist ihm schon zu gönnen, daß er etwas spielt, und hier im Hause möchte die Base Mummeline doch immerzu schelten.
Kasperle sprang vergnügt hinaus, und kaum war er draußen, da packten ihn ein paar Buben. „Komm mit, du mußt uns noch was vorkaspern,“ baten sie.
„Nicht hier,“ sagte Kasperle ängstlich, „ich soll keinen Lärm machen.“
„Komm, wir gehen in Lappenmeyers alten Schuppen, da sieht uns niemand,“ schlug der lange Blasi vor. Das fanden die andern gut, und so zogen sie dem alten Schuppen zu, und das Trüpplein war wie eine Lawine. Es wuchs und wuchs unterwegs, Buben und Mädel fanden sich dazu, und dann verschwanden sie alle in Lappenmeyers altem Schuppen. Der lag abseits vom Dorf, mitten auf einer Wiese.
An diesem Nachmittag wunderten sich allerlei Leute in Waldrast. Ein paar Frauen sagten zueinander: „Warum die Kinder heute nur nicht in die Schule gehen? Wo stecken sie denn?“
„Ja, wo sind sie denn?“ fragte die Krämerfrau, die das hörte.
Da trat Herr Habermus aus dem Schulhaus heraus und fragte: „Wo sind denn die Kinder?“ Und seine liebe Frau trat neben ihn und schwang und schwang immerzu die Schulglocke. Die bimmelte zuletzt ganz zornig ins Weite: Die Schule fängt an, die Schule fängt an! Doch niemand hörte darauf: keine Bubenbeine, keine Mädelbeine kamen angetrabt, es blieb alles still. Nur von den Erwachsenen kamen mehr und mehr, ein paar erzählten, sie hätten die Kinder alle miteinander laufen sehen, aber wohin, das wußte niemand.
„Sie sind vielleicht in den Wald gegangen,“ sagte Frau Veronika Lappenmeyer.
„Aber es ist doch Schule!“ rief Herr Habermus entrüstet. In den Wald konnte man schon gehen in Waldrast, denn der dehnte sich vom Dorf entlang bis tief, tief ins Tal hinein, viele Stunden weit.
Indem kam ein Bursche mit einem Heuwagen angefahren. Der rief: „Frau Lappenmeyer, was ist denn in Ihrem Schuppen auf der Wiese los? Da drin brüllt es ja fürchterlich!“
Die Kinder sind’s mit Kasper. Herr Habermus dachte das nur, er rannte aber gleich los, die Dörfler folgten ihm, und alle miteinander drängten sie ihm nach, als er die Scheunentüre aufriß. Da waren sie wirklich. Kasperle saß hoch oben unter dem Gebälk, und unten standen Mädel und Buben und starrten lachend hinauf zu dem neuen Gefährten, der sich drehte und verrenkte und den allergrößten Unsinn schwätzte.
„Bimmelim, bimmelim, bimmelim!“ Die Frau Lehrerin war ihrem Mann mit der Schulglocke nachgelaufen, und in das Lachen und Jauchzen der Kinder hinein ertönte der wohlbekannte Klang. Alle erschraken, alle schauten sich verwirrt um. War es wirklich schon Schulzeit?
„Bimmelim, bimmelim, bimmelim!“ Die Glocke gellte ihnen in den Ohren, und ein paar schrien: „Wir müssen in die Schule!“ Und dann rannten sie an den Erwachsenen vorbei, rannten ihren Lehrer beinahe um und sahen vor lauter Eile und Eifer niemand und nichts. Und Kasperle sprang plötzlich von oben herab in einem weiten Bogen, auch er sah und hörte nichts, auch er raste den andern nach, und im Umsehen war der Schuppen leer.
Die Erwachsenen sahen sich ganz verdutzt an. „Die Kinder sind ja wie besessen!“ rief die Krämerin, die andern stimmten ihr zu, Herr Habermus aber kehrte bedrückt nach dem Schulhaus zurück. Kasper war daran schuld, nur er allein. Was war das für ein schlimmer Junge! Er darf nicht mehr in die Schule, dachte er und betrat das Schulzimmer. Da saßen alle brav auf ihren Bänken, rechts die Großen, links die Kleinen, und Kasperle saß wieder auf der vorderen Bank. Sein Gesicht strahlte, er sah so unschuldig drein, als könnte er nicht das kleinste Dummheitle machen.
Doch Herr Habermus ging mit gefurchter Stirn zum Katheder, dort sagte er streng: „Ihr seid alle zu spät gekommen, darum müßt ihr alle nachsitzen.“ Da senkten sich erschrocken und schuldbewußt alle blonden und braunen Buben- und Mädelköpfe, nur das Kasperle sah höchst verwundert drein, es krähte mit seiner lauten Stimme: „Es hat ja eben erst geklingelt!“
„Sei du still, du verläßt sofort die Schule!“ rief Herr Habermus streng. „Du bist an allem schuld. Marsch hinaus! Du darfst nicht mehr in die Schule kommen. Ich schicke dich überhaupt wieder fort.“
Einen Augenblick herrschte tiefes, erschrockenes Schweigen im Schulzimmer. Kasperle selbst saß ganz verdattert da, er war sich keiner Schuld bewußt. Dann erhob sich aber jäh ein lautes Geheule, so ein tiefbetrübtes, jämmerliches Geheule, wie es Herr Habermus noch nie vernommen hatte. Und nicht nur die Mädel weinten, die Buben schluchzten auch alle, und alle miteinander riefen flehend: „Kasper hat keine Schuld, Kasper soll dableiben; bitte, bitte, bitte, ach bitte, Kasper soll nicht wieder fort!“
Der Lehrer sah seine Schulkinder ganz verdutzt an, und deren Gebitte wurde immer lauter und dringlicher, und je mehr sie flehten, je lauter heulte das Kasperle. „Es ist rein, als hätte der die Kinder verhext!“ brummte Herr Habermus vor sich hin. Und mich dazu, dachte er, als er das Kasperle ansah und der kleine Kerl ihm einmal wieder herzlich leid tat. Böse, nein, böse war er gar nicht mehr auf ihn.
„Also mag er bleiben, weil ihr alle so bittet,“ sagte er schließlich. „Das Nachsitzen sei euch auch geschenkt, aber eine Strafarbeit gibt es, ein Stück zu schreiben, und wehe, wer sie nicht gut macht! Und nun stille — jemine, Kasper, was ist denn nun wieder los?“
Das Kasperle war unter die Bank gerutscht, und von dorther ertönte wieder sein furchtbares Jammergebrüll. „Ich kann doch nicht schreiiiben,“ klagte er, „ich kann nicht schreiiiben!“
„Dummer Bube,“ brummte Herr Habermus, „du brauchst natürlich nicht die Strafarbeit zu schreiben, du brauchst bloß Striche zu machen, und nun, potzwetter, sei still, sonst —“
Da kam Kasperle auf die Bank, ehe der Lehrer noch ausreden konnte, und dann saß er da mit dem allervergnügtesten Gesicht. Daß ihm die Schule Spaß machte, war ihm an der Nasenspitze anzusehen. Er gab kreuzdumme Antworten, und immer wieder durchbrauste ein lautes Lachen die Schulstube. Herr Habermus wollte schelten und konnte es nicht, denn eigentlich tat Kasperle gar nichts Böses. Da klingelte es, die Schule war aus. Sonst atmeten die Kinder meist alle auf, waren froh, hinauszukommen, heute bettelten selbst die allergrößten Faulpelze: „Ach, bitte, bitte, wir wollen noch bleiben, es ist so wunderschön in der Schule!“
Und der gute Lehrer tat ihnen wirklich den Willen. Er erzählte ihnen von den Blumen und Bäumen, von Felsen und Bergen, von den feinen Schmetterlingen und den dicken Brummkäfern, und alle lauschten still, am aufmerksamsten aber das Kasperle, und der schrie dann auch am lautesten: „Schon?“ als Herr Habermus sagte: „Nun ist’s aber wirklich genug, nun geht heim, nicht zu laut, und vergeßt eure Arbeiten nicht!“
Und dann verließen die Waldraster Kinder das Schulhaus, und sie kamen so vergnügt heim wie noch nie, trotz der Strafarbeit, und an diesem Abend brummten allen Vätern und Müttern in Waldrast die Köpfe, so viel schwätzten die Kinder von ihrem neuen Schulgefährten.
Kasperle schlief an diesem Abend putzvergnügt ein; pardauz! fiel er ins Bett, und bums! da schlief er auch schon. Der gute Schullehrer von Waldrast aber, Herr Habermus, sagte noch sorgenvoll zu seiner lieben Frau: „Mit dem fremden Buben werden wir viel Sorge und Verdruß haben. Hätte ich ihn doch lieber nicht mit heimgebracht!“
Doch die Frau Schullehrerin antwortete heiter: „Mach’ dir keine Sorge, Mann! Ein lieber kleiner Kerl ist der Kasper doch, und mit der Zeit wird er schon ein rechter braver Schulbube werden.“
Danach sah es freilich am andern Morgen nicht aus. Kaum betrat das Kasperle die Schulklasse, gleich ging der Lärm los. Alle schrieen: „Du mußt uns was vorkaspern, bitte, bitte, bitte!“
Doch Kasperle dachte an das Verbot des Lehrers, auf dem Katheder dürfe er nicht kaspern, und darum kletterte er eins, zwei, drei auf den großen braunen Schulschrank hinauf. Die Buben schrien laut: „Hallo!“ und die Mädel rissen vor Erstaunen den Mund weit auf. Jemine, so flink war noch nie jemand auf den Schulschrank gekommen! Das war ein Spaß! Herr Habermus hörte das Geschrei drüben in seiner Wohnung, und noch ehe die Base Mummeline die Klingel geschwungen hatte, lief er schon hinüber. Er riß die Türe auf und schrie: „Potzwetter, was ist das für ein Lärm!“
Platsch! fiel Kasperle vor Schreck vom Schulschrank herab. Er fiel auf einen Tisch gerade auf Heine Fistelmeyers neue Schiefertafel; die nahm das übel und ging mit einem lauten Krach kaputt. Kasperles Beine zappelten in der Luft herum, sie trafen Fritze Schrumps’ Nase, trafen ein Tintenfaß; das sauste in einem weiten Bogen herab, und auf der Mädelbank gab es ein lautes Gekreisch. Fünf gute Schulschürzen bekamen dicke schwarze Tintenkleckse. Ihre Besitzerinnen heulten, ihre Freundinnen heulten zur Gesellschaft mit, Heine Fistelmeyer heulte, Fritze Schrumps heulte, Kasperle heulte, etliche lachten und jauchzten, — es war wieder einmal ein Lärm wie bei Teufels Großmutter.
Da verlor der sonst so nachsichtige Lehrer die Geduld. Klatsch, klatsch, klatsch, ging es, Kasperle bekam seinen Teil, die ärgsten Schreier bekamen etwas ab, und schnell merkten es alle, mit ihrem Schullehrer war heute nicht gut Spaß zu machen. Nach und nach trat Ruhe ein, nur die fünf Mädel, die bekleckste Schürzen hatten, weinten ganz leise, und Kasperle heulte laut. Himmel, konnte der brüllen! Selbst die fünf Mädel verstummten schließlich, alle staunten sie das heulende Kasperle an, und allmählich erfaßte sie alle ein tiefes, tiefes Mitleiden mit dem kleinen Irrwisch. Herr Habermus faßte den am Kragen, zog ihn vor und stellte ihn in eine Ecke. „So,“ sagte er streng, „da bleibst du stehen, bis du vernünftig geworden bist.“
Ach du lieber Himmel, heulte das Kasperle! Auf der Mädelbank hob ein leises Weinen an, eine nach der andern weinte, dann schluchzte einer auf der Bubenbank, erst heulten alle Kleinen, dann fielen die Großen ein, und nach ein paar Minuten weinte und schluchzte die ganze Schule mit Kasperle. Herr Habermus schüttelte erstaunt den Kopf. So etwas war ihm doch noch nie vorgekommen, daß alle heulten, weil einer gestraft wurde. Er wollte streng sein und nicht darauf achten, aber merkwürdig, Kasperles Weinen und das klägliche Echo rührten ihn sehr, er sagte endlich ganz freundlich: „Nun hört aber auf, Kinder, und du, Kasper, komm wieder an deinen Platz. Seid jetzt endlich stille!“
Flink trocknete Kasperle seine Tränen, er flitzte aus der Ecke heraus, und auf einmal begannen alle Kinder zu lachen, selbst Herr Habermus lächelte ein wenig. Er seufzte aber auch und dachte: Ach je, was wird es heute noch geben!
Kasperle wollte nun sehr artig sein, und er war es auch. Aber er gab wieder blitzdumme Antworten, und wenn er nur seinen Mund auftat, lachten wieder die andern Kinder, und in der Schulstube gab es wieder Lärm und Unruhe. Und nachher hallte die Dorfstraße wider vom jauchzenden Lachen der Kinder, und von den Müttern sagten etliche: „Den Buben hätte der Schullehrer nicht aufnehmen sollen. Ein Schlimmer ist’s, ein arger Unnützling!“
Die Base Mummeline hatte nämlich im Dorf allerlei herumgeredet, wie schlimm der kleine Gast im Lehrerhause sei. Kein gutes Härchen hatte sie an dem armen Kasperle gelassen, und manche glaubten ihr alles, manche die Hälfte. Ein wenig scheel sahen ihn die Erwachsenen alle an.
Und dann fingen auf einmal alle Kinder an zu kaspern. Dummheiten hatten auch sonst die Waldraster Kinder genug gemacht, aber solche Hanswurstsprünge, ein solches Gesichterschneiden war sonst nicht Mode gewesen. Da fing zum Beispiel Fritze Schrumps bei Tisch an zu zappeln, hielt die Beine in die Luft und überschlug sich samt seinem Stuhl. Seine Mutter dachte, er hätte Bauchschmerzen, aber sein Vater gab ihm eins auf den Hosenboden, darüber vergaß er das Kaspern. Am Abend aber kam Frau Bimmelmann, die nächste Nachbarin, gelaufen und flehte, Frau Schrumps möchte mitkommen, ihr Peter habe die Krämpfe, er schneide fürchterliche Gesichter. Und auf der Gasse trafen sie Fistelmeyers alte Muhme Trine, die jammerte, bei ihnen sei der Heine übergeschnappt, sie wolle vom Schullehrer einen Tee holen.
„Was auf den Hosenboden,“ schrie Vater Schrumps, „das wird schon helfen!“
Das Mittel von Vater Schrumps erwies sich in diesen Tagen als äußerst heilsam; und bald bekamen es die Waldraster Väter und Mütter heraus: ihre Buben und Mädel, aber besonders die unnützen Buben, wollten alle kaspern, wie des Schullehrers kleiner Schützling tat.
Das gab viel Ärger und Geschelte im Dorf, und der arme Herr Habermus bekam manches ungute Wort zu hören. Die Base Mummeline schürte noch das Feuer. Im Lehrerhaus selbst gab es alle Tage Lärm, immer hatte Kasper dies und das getan, so sagte wenigstens die Muhme. Und dabei wollte Kasperle wirklich brav sein, weil es ihm nämlich in Waldrast sehr gut gefiel. Er ging furchtbar gern in die Schule, und das Spielen mit seinen Kameraden machte ihm besonders Vergnügen, über das Geschrei der Base Mummeline wunderte er sich sehr; er fand es nur spaßig, wenn sie über den Scheuereimer purzelte, oder wenn alle Hühner in ihrer Stube herumgackerten, weil Kasperle sie hineingetrieben hatte. Auch brauchte die Base nicht so mörderlich zu schreien, weil sechs dicke Kröten in ihrem Bette saßen und allerlei Getier, Käfer und Tausendfüßler in ihrem Strickkorb herumkrabbelten oder gar ein Regenwurm sich in ihrer Kaffeetasse wand. Das war doch alles nur Spaß! Und über das Räubergesicht brauchte die Base auch nicht so zu erschrecken. So meinte wenigstens Kasperle, und seine Kameraden stimmten ihm zu.
Doch die Base zeterte und schrie. Herr Habermus schalt, Frau Habermus schalt, aber beide hatten dabei den unnützen kleinen Schelm von Herzen lieb. Der Schullehrer bekam es auch nicht fertig zu sagen: „Kasper, geh’ wieder in die weite Welt.“ Dazu tat ihm der in seiner Verlassenheit zu leid.
So ging ein Tag nach dem andern hin, und Kasperle blieb in Waldrast. Die Dorfbuben lernten das Kaspern immer besser, und der gute Herr Habermus plagte sich weidlich mit den Kindern ab, und daheim hörte er auch noch die Base Mummeline den ganzen Tag schelten. Er war daher sehr froh, als die eines Tages sagte: „Ich geh’ morgen in die Stadt.“
Es war eine große Sache, wenn in Waldrast jemand in die Stadt ging. Der mußte dann viele Stunden abwärts steigen und zurück wieder lange, lange den Berg hinaufsteigen. Wenn darum jemand sagte: „Ich geh’ in die Stadt,“ dann kamen gleich die Nachbarn und hatten diesen und jenen Wunsch, wollten allerlei gekauft haben und sagten auch: „Paß gut auf, was es Neues in der Welt gibt!“ In jenen Tagen stiegen die Briefboten noch nicht täglich in das entfernteste Dorf, und in Waldrast empfing höchstens einmal im Jahr irgend jemand einen Brief. In das Schulhaus kamen darum auch noch am gleichen Mittag etliche Nachbarinnen, eine wollte Gewürz, die andere Nähnadeln, die dritte einen Kupfertopf besorgt haben; so ging es weiter, und zuletzt hatte die Base Mummeline einen langen Zettel, auf dem alle Wünsche verzeichnet standen.
„Das wird zuviel zu tragen,“ sagte die Lehrersfrau; „Base, da tust du dir Schaden. Nimm den Kasper mit, der kann dir helfen.“
Ei du lieber Himmel, zeterte da die Base los! Mit dem schlimmen Buben sollte sie gehen! Na, da würde sie sicher vor Ärger unterwegs sterben, behauptete sie; der Kasper sollte ihr nur fern bleiben. Und die Base Mummeline rüstete ihren Korb, und Kasper blieb daheim. Der war arg froh darüber. Ja, schlimm genug, als er die Base in aller Morgenfrühe aufstehen hörte, schaute er ihr vom Fenster aus vergnügt nach, zog ihr eine lange Nase und schnitt, als sie sich noch einmal umdrehte, sein allerbösestes Räubergesicht.
Meine Güte, erschrak die Base! Sie kollerte fast mit ihrem Korb den Berg hinab, so rannte sie davon, und erst als Waldrast schon ein Stück hinter ihr lag, wagte sie es, aufzuatmen. „Na, warte du!“ Sie drohte mit der Faust dorthin, wo das Schulhaus lag, und dann wanderte sie bergab und dachte dabei: Könnte ich nur den Kasper aus Waldrast vertreiben! Die Base Mummeline ging auf einsamen Wegen durch tiefen Wald, über grüne Wiesen, an Felsen entlang bergab nach der fernen Stadt. In Waldrast aber kasperten die Buben an diesem Tage schlimmer als je, und das Kasperle war purzelvergnügt. Beim Mittagessen schalt keine Base, er hörte kein böses Wort, ja die Frau Schullehrerin lachte ein paarmal herzhaft über seine drolligen Gesichter. Der Schullehrer sah auch freundlich drein und Kasperle dachte: Wenn die Base doch nie wiederkäme!
Aber die Base Mummeline dachte gar nicht ans Fortbleiben. Die erlebte in der Stadt eine höchst seltsame Geschichte, und sie stieg am nächsten Tag, als sie alles eingekauft hatte, so schnell es nur ging, wieder nach Waldrast hinauf. Zu später Nachmittagsstunde kam sie im Dorfe an. Die Lehrersfrau war mit Lenchen und Lorchen bei der Pate Schönlein, der Lehrer saß in seiner Stube und arbeitete, und Kasperle wollte gerade aus dem Hause gehen zu seinen Kameraden, als er die Base daherkommen sah. Die sah ihn nicht, sie schritt aus, als hätte sie eine Schlacht gewonnen, und Kasperle schlüpfte ein wenig erschrocken in die Wohnstube. Als er draußen den Schritt der Base vernahm, da kroch er flink in einen dunklen Winkel am Ofen, die Hölle genannt. Warum er das tat, wußte der kleine Schelm selbst nicht genau. Der Gedanke an die lange Nase und das Räubergesicht bedrückte ihn etwas, und dann war die Base dahergekommen, als trüge sie den schönsten Rohrstock im Korb. Ein paar Minuten später tönte auch ihre Stimme durch das Haus, und der Lehrer kam eiligst aus seinem Zimmer heraus. Der Base erste Frage war: „Wo ist Kasper?“
Kasperle in der Hölle erschrak, und ganz leise schob er ein paar Holzscheite vor, damit ihn die Base nicht sehen sollte. Indem kam die Lehrerin zurück, sie begrüßte die Base, als wäre die von einer langen, langen Reise heimgekehrt. Aber die Base fragte auch sie flink: „Wo ist Kasper?“
„Ach, die Buben spielen alle am Bach, da wird er wohl dabei sein,“ meinte die Frau. Sie hatte Kasperle erlaubt, zu seinen Gefährten zu gehen.
Doch die Base begann erst sich im Zimmer umzusehen; sie guckte unter das Sofa, schloß den großen Schrank auf und sah auch in die Hölle hinein. Da lagen die Holzscheite vorne dran, und die Base sah Kasperle nicht. „Er ist nicht da,“ rief sie; „nun will ich euch erzählen, wer eigentlich der Kasper ist, na, ihr werdet staunen!“
Alle guten Geister, ja, da staunten Schullehrers wirklich, als die Base zu erzählen anfing! Und dem Kasperle im Ofenwinkel wurde es wind und weh, denn was hörte er? Seine ganze Geschichte erzählte die Base! Da war unten in der Stadt ein Kasperlemann gewesen, der hatte ein geschnitztes hölzernes Kasperle gezeigt und laut verkündet: „Wenn ihr einen findet, der so aussieht, dann fangt ihn; der Herzog von S. gibt dafür eine hohe Belohnung.“ Und dann hatte er erzählt, daß Kasperle ein urechtes lebendiges Kasperle sei, und was der alles auf dem Schlosse angerichtet habe. „Seht ihr,“ schrie die Base Mummeline, „ich hab’ es immer gesagt: mit dem Buben ist’s nicht richtig. Es ist gut, wenn er gefangen und fest eingesperrt wird. So will es der Herzog.“
Da seufzte der Schullehrer, und seine liebe Frau sagte mitleidig: „Armer kleiner Kerl!“
Dem Kasperle im Ofenwinkel liefen die Tränen über die Backen. Am liebsten wäre er vorgelaufen und hätte sich an die gute Frau angeschmiegt. Ach gewiß, die Schullehrersleute gaben ihn nicht her! Aber da sagte die Base Mummeline wieder laut und hart: „Der Kasperlemann kommt mir gleich nach; er bringt noch einige Landjäger mit, sie wollen das Kasperle gleich mitnehmen. Ich hab’ es nämlich gesagt, wo der Popanz steckt, und da, den schönen Goldgulden hab’ ich gleich bekommen. Ei, nun freue ich mich, daß der heillose Schelm aus dem Hause kommt und eingesperrt wird! Wir müssen nur sorgen, daß er nicht gar noch vorher ausreißt. Na, die Landjäger werden schon aufpassen!“
Und wieder sagte die gute Lehrersfrau: „Armes, armes Kasperle!“ und ihr Mann seufzte mitleidig. Die Base aber stand auf, sagte, nun wolle sie flink ihren Korb auspacken und dann aufpassen, wann Kasperle heimkomme. Der Schullehrer möge aber zum Schulzen gehen, damit der wisse, warum die Landjäger kämen. Das tat der Schullehrer auch. Er und die Base verließen die Stube, nur die Lehrerin blieb darin zurück.
Kasperle in seinem Ofenwinkel zitterte vor Angst. Ach, wenn er nur fliehen könnte, dachte er, irgendwo sich verstecken, bis der Kasperlemann und die Landjäger wieder fort waren! Aber dazu mußte er zuerst aus der Stube heraus, denn in die Hölle würden die Verfolger sicher schauen. Die Lehrersfrau saß still am Tisch, so mild, so gütig sah sie drein, daß Kasperle dachte: Sie verrät mich nicht. Und plötzlich kam er schnell aus seinem Loch hervor, und die Frau am Tisch schrak zusammen. „Kasper,“ rief sie, „da bist du ja! Hast du alles gehört?“
Kasperle nickte traurig. Er kam leise näher, umschlang die gute Frau und sah sie flehend an. „Ausreißen!“ bettelte er. „Ausreißen!“
„Ja, ja.“ Die Frau Lehrerin nickte. „Ich kann mir’s schon denken, daß du gern ausreißen möchtest, du armer kleiner Schelm, du!“ Und sacht streichelte sie das Kasperle. Sie sann ein paar Minuten nach, dann nahm sie vom Tisch ein großes Stück Brot, steckte dem Kleinen die Taschen voll, gab ihm noch ein paar Batzen und sagte schnell: „Versuche dein Heil! Geh hinten zur Küchentüre hinaus! Mein guter Mann wird mir’s schon verzeihen, daß ich dir geholfen habe.“
Sie gab dem Kasperle noch einen Kuß und ließ ihn in die Küche witschen. Von dort aus führte eine Türe in den Garten; neben dem lag der Kirchhof, und wie Kasperle so hastig davonrannte, sah er, daß die Kirchtüre aufstand. Ich verstecke mich auf dem Turm, dachte er, und husch, war er schon drinnen. Es war aber auch die höchste Zeit, denn vom Schulhause her erklang Base Mummelines Stimme: „Sie kommen!“
Sie kamen wirklich. Der Kasperlemann voran, drei Landjäger hintendrein, und die Dorfleute, die sie kommen sahen, rannten eilig herbei. Was war geschehen? Warum kamen die Landjäger in ihr friedliches Dorf? Sie fragten es alle ganz erschrocken, und es gab ein lautes Hinundhergerede, bis die Base etlichen sagte, Kasper werde geholt, ob sie den nicht gesehen hätten.
„Die Buben spielen am Bach,“ rief jemand, und gleich liefen ein paar hin, um dort das Kasperle zu fangen, denn die Base tat, als wäre der kleine Schelm ein schlimmer, schlimmer Bösewicht.
Aber wo war denn Kasperle?
Die Buben hatten ihn nicht gesehen, der Schulze hatte ihn nicht gesehen, der Schullehrer wußte nichts von ihm; niemand hatte das Kasperle gesehen. „Er ist ausgerissen!“ riefen die Base und der Kasperlemann. „Wir suchen,“ sagten die Landjäger. „Platz da, erst suchen wir das Haus ab.“ „Alle müssen suchen helfen,“ schrie der Schulze. „Na, das wäre doch eine Schande, wenn einer aus Waldrast ausreißen könnte, den unser Herzog fangen will! Vorwärts, alle müssen suchen!“
Und alle suchten. Kasperles Schulgefährten suchten am eifrigsten, und jeder dachte bei sich: Wenn ich ihn finde, lasse ich ihn ausreißen. Nur die Frau Schullehrerin suchte nicht, und niemand fragte sie. Still brachte sie Lenchen und Lorchen ins Bett, und als die bitterlich um ihren lieben Kasper weinten, tröstete sie die Kleinen und sagte linde: „Es wird ihm schon nichts geschehen!“
Die Bauern und Landjäger suchten in allen Häusern, Scheunen und Ställen, aber vergeblich, Kasperle war nicht zu finden. Endlich sagte einer: „Nun müssen wir noch in der Kirche nachsehen.“
„Sie ist ja verschlossen,“ sagte ein anderer, „und die Fenster sind auch alle zu.“
Der alte Küster hatte nämlich inzwischen die Kirche verschlossen, und weil er alt und müde war, kümmerte er sich nicht um den Lärm im Dorf. Er saß in seinem Lehnstuhl und schlief, und die Landjäger gingen alle um die Kirche herum und sagten: „Darin kann er nicht sein, er ist sicher ausgerissen.“ Aber wohin? War er in den Wald geflohen, saß er oben in den Bergeinöden? Auf dem Weg zur Stadt hätten sie ihn doch alle sehen müssen!
„Morgen früh wird die ganze Gegend abgesucht. Alles, was Beine hat, muß mitlaufen,“ sagte der Schulze. „Na, die Schande, wenn der Kasper entwischt wäre!“
„Ja, gleich bei Tagesanbruch wird gesucht,“ riefen alle, „und heute muß das Dorf bewacht werden; keine Katze darf hinaus und das Kasperle erst recht nicht.“
Und im Schulhaus sagte die Base Mummeline: „Ich bin zwar rechtschaffen müde, aber ins Bett gehe ich nicht. Ich wette, der Kasper geistert im Hause herum, und ich erwische ihn doch!“
Allmählich wurde es stiller und stiller im Dorf. Kasperle hörte drinnen im Kirchturmwinkel den Lärm verklingen, und nun wagte er sich erst einmal recht umzuschauen, wo er eigentlich war. Er saß in einer dunklen Vorkammer, eine Treppe neben ihm führte zum Turmaufgang, und von oben strömte noch ein matter Lichtschimmer herab.
Gerade dachte Kasperle, es wäre gut, bis hinauf zu steigen, als jemand draußen sagte: „Aber morgen müssen wir doch einmal in der Kirche nachsehen.“ Es waren die zwei Landjäger. Sie gingen vorbei, um mitten auf der Dorfstraße Wache zu halten. Da kletterte innen Kasperle angsterfüllt die ganz schmale, steile Treppe zum Turm hinauf. Er dachte: Dort oben suchen sie vielleicht nicht.
Im Turm der Waldraster Kirche wohnten seit vielen, vielen Jahren Eulen. Eine alte Eulenurgroßmutter, die gerade zur Zeit lebte, erzählte, schon ihre Urgroßmutter habe erzählt, daß ihrer Urgroßmutter Urgroßmutter im Turm gewohnt habe. Niemand störte je die Eulen. Wenn unten die Waldraster Buben den Strick zogen, um die Glocke zu läuten, immer die brävsten durften das tun, dann huschelten sich die Eulen nur tiefer in ihre Nester hinein. Die Glockenklänge waren ihnen vertraut, und wenn die Glocke auf- und abschwang, dann freuten sie sich nur. Nie stieg jemand in den Turm hinauf, denn die Treppe war morsch und das Hinaufklettern gefährlich.
Davon wußte Kasperle nichts. Er stieg immer höher, und die Eulen, die sich gerade ihren Tagesschlaf aus den Augen rieben, sahen erstaunt auf den kleinen, sonderbaren Kerl, der da die Treppe heraufkam. Sie erschraken sehr. Die alte Urgroßmutter schrie heiser: „Nehmt euch in acht, der hat es auf die Kleinen, die Nestlinge abgesehen!“ Da schrien alle Eulen; unheimlich klang es, und alle schwirrten empor. Und auf einmal flatterte und rauschte es Kasperle um den Kopf, und er sah in viele funkelnde, böse Eulenaugen. Er erschrak ganz fürchterlich. Eine ganz unbeschreibliche Angst vor diesen fremden, unheimlichen Vögeln ergriff ihn, und er wollte die Treppe eiligst wieder hinabsteigen. Doch er trat fehl und fiel, die Eulen kreischten laut, und das purzelnde Kasperle erfaßte in seiner Angst den Glockenstrick, der ihm vor der Nase herumbaumelte.
„Bum, bum, bum!“ tönte es dumpf.
Nun erschraken auch die Eulen, denn Glockenklänge um diese Zeit waren ihnen ganz ungewohnt. Sie flatterten immer aufgeregter hin und her, Kasperle klammerte sich fester an den Strick, und die Glocke geriet ins Schwingen. „Bum, bum, bum, bimbam, bimbam!“ Die Glocke begann lauter und lauter zu rufen. Kasperle wollte den Strick loslassen, aber die Glocke schwang heftiger hin und her, die Eulen flatterten wild und Kasperle hing am Strick und flog hin und her, flog zum Turmfenster hinaus, er konnte seine Füße nicht mehr auf den Boden setzen.
„Bum, bum, bum! Bimbam, bimbam!“ Über das schlafende Dorf rauschten die Glockenklänge. Die Hunde begannen zu bellen, die Menschen fuhren erschrocken in ihren Betten empor. Die Glocke läutete, was war das? Der Schneidermeister Pimperling sprang zuerst auf die Dorfstraße hinaus. „Feuer!“ schrie er, „Feuer! Feuer!“
Der Ruf fand Widerhall. Aus den Häusern stürzten die Leute, und alle schrien sie: „Feuer! Feuer!“ Und alle sahen sie sich um, wo es denn eigentlich brennen könnte. „Die Wassereimer her, die Wassereimer her!“ schrie der Schulze, denn eine Feuerspritze gab es damals noch nicht in Waldrast. Und alles lief und rannte, um Wassereimer zu holen, und einer fragte den andern, wo denn das Feuer sei, bis einer auf den Gedanken kam, das müßte doch der wissen, der die Glocke läutet. Ja, wer läutet sie denn?
Dem Kasperle aber im Glockenstuhl war es himmelangst geworden. Er hielt sich schließlich verzweifelt am Gebälk fest, ließ den Strick fahren und sauste nun etwas unsanft die Treppe hinab. Auf halber Höhe blieb der zuletzt liegen. Ganz verdattert von dem Geschehenen war er, und als er von draußen, von der Dorfstraße her, Lärm hereindringen hörte, wußte er erst gar nicht, was der bedeuten sollte, bis es dem dummen Kasperle endlich einfiel: die Glockentöne hatten alle aus dem Schlafe geweckt. Er hörte „Feuer! Feuer!“ schreien, er hörte lautes Rufen und Fragen vor der Kirchentüre, und da — Kasperle kugelte gleich die ganze Treppe hinab, jemand hatte draußen laut gerufen: „Ich wette, das ist der Kasper gewesen, der hat sich in der Kirche versteckt.“ Es war die Base Mummeline, die das rief.
„Die Türe ist aber verschlossen!“ rief jemand anders.
„Man muß den Küster holen, er muß aufschließen,“ verlangten ein paar Stimmen. „Flink, holt ihn!“
„Bim — bam, bim — bam!“ Das Läuten oben wurde schwächer, aber Kasperle hörte noch immer die Eulen oben kreischen und flattern. Wohin sollte er fliehen? Auf dem Turm waren die Eulen, die hackten ihm wohl gar die Augen aus; unten standen die Dorfleute, wehe wenn die ihn erwischten! Er hörte jemand rufen: „Da kommt der Küster, nun aufgepaßt, jetzt müssen wir den Kasper fangen!“
Es war wieder die Base Mummeline, die so rief, und das Kasperle sah sich ganz verzagt um. Wohin sollte er denn nur fliehen? Da sah er plötzlich neben sich eine lange Stange stehen, und — ein ganz unnützer Gedanke kam dem Kasperle.
Der Schlüssel knirschte im Schloß, die Türe ging auf. „Uje, ist’s hier aber dunkel! Holt flink ein paar Laternen!“ rief jemand. Und dann gab es einen Plumps, ein lauter Schrei erklang, die Base Mummeline war über die Stange gefallen, die Kasperle quer vor die Türe hielt.
„Au, Donnerwetter!“ Da lag der dicke Schulze.
„Himmel, Hagel, was ist das!“ Der eine Landjäger fiel dem Schulzen nach, und der Schneidermeister Pimperling quiekte: „Potz Hosenknopf und Ellenmaß, hier spukt’s!“
„Ich werde totgedrückt!“ kreischte die Base Mummeline.
„Laternen her, Laternen her!“ Einer nach dem andern fiel in den Vorraum hinein, und in diesem allgemeinen Gepurzele, in dem lauten Lärm gelang es Kasperle, sich sacht an der Wand hin ins Freie hinauszuschleichen. Er drückte sich ganz eng an die Mauer an und wutschte um den Turm herum, und er war gerade auf der andern Seite angelangt, als etliche Leute mit Laternen daherkamen. Das ganze Dorf versammelte sich am Turm, mit den Laternen wurden die hingepurzelten Leute beleuchtet, und alle riefen: „Das ist ein Streich von Kasper.“
„Man muß den ganzen Turm absuchen,“ sagte der Schulze, der sich stöhnend aufgerichtet hatte, und die Base kreischte: „Der darf uns nicht entwischen, dieser heillose Bösewicht!“
Der Schneidermeister Pimperling, der sehr klein, dünn und mutig war, erbot sich, auf den Turm zu steigen. Er nahm einen alten Nachtwächterspieß und eine Laterne und kletterte vorsichtig die Treppe hinauf. Er schaute dabei in jede Mauerritze, unter jede Treppenstufe, ob sich das Kasperle da nicht versteckt hätte, und unterdessen suchten unten etliche den Vorraum, die Kirche, alles ab, — kein Kasperle war zu finden.
Die Eulen erschraken, als das Licht in ihre Wohnstuben drang. Das blendete sie, und sie versteckten sich scheu. Die Glocke zitterte noch hin und her, aber soviel der Meister Pimperling auch herumleuchtete, Kasperle fand er nicht.
Unten sagte der Kasperlemann: „Wir müssen ihn finden, er muß doch da sein!“ Und er erzählte von der hohen Belohnung, die der Herzog geben wollte, und alle suchten noch eifriger, alle sagten: „Er muß doch da sein! Wer soll sonst die Glocke geläutet haben?“
Inzwischen rannte Kasperle sehr eilfertig dem Walde zu. Weil alle nach der Kirche liefen, bewachte keiner die Wege, die nach auswärts führten, und Kasperle gelangte ungesehen in den Wald. Er schlug nicht den Weg ein, der zur Stadt hinabführte, sondern lief seitwärts; dort wußte er, dehnte sich der Wald viele, viele Stunden weit aus. Durch diesen Wald hindurch führte der Weg in ein anderes, fremdes Tal, in das die Leute aus Waldrast nie gingen. In der tiefen Dunkelheit verlor Kasperle nun bald den Weg; er mußte wieder mühsam über Steine klettern und fiel über Wurzeln und umgestürzte Bäume, und als er so ein paar Stunden dahingelaufen war, sank er todmüde zu Boden. Er schlief auch gleich ein, und als er erwachte, sah er die Sonne durch das Gezweig uralter, hoher Tannen glitzern. Soweit er blicken konnte, war dichter Wald um ihn her, und ganz still war es.
Kasperle setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein und sah sich traurig um. Nun war er wieder mutterseelenallein in der weiten, weiten Welt, nun hatte er keine freundlichen Pflegeeltern mehr und keine lustigen Kameraden. Er dachte an das Waldhaus; ach, wäre er doch dort geblieben und nicht fortgelaufen! Dort war doch seine Heimat. Er wäre gern zurückgekehrt, aber wie sollte er den Weg finden? Er mußte dann doch an dem Schloß vorbei, in dem die liebliche Rosemarie wohnte! Aber dort kannten ihn alle, man würde ihn fangen und ins Gefängnis setzen. Kasperle hatte davor eine ganz schreckliche Angst. Der Herzog und die Base Mummeline, das waren seine Feinde, und als er nur an sie dachte, sprang er gleich auf und lief weiter durch den Wald. Er wanderte und wanderte, viele Stunden lang, der Wald nahm kein Ende; ganz undurchdringlich schien er zu sein.
Endlich setzte sich Kasperle wieder müde auf den Boden nieder. Er zog das Brot heraus, das ihm die gute Lehrersfrau noch gegeben hatte, und begann traurig zu essen. Und wie er so saß, vernahm er ein Plätschern und Rauschen; ein Bächlein mochte nicht allzu ferne fließen. Weil Kasperle durstig war, stand er auf und ging dem Rauschen nach. Nach einem Weilchen sah er den Wald sich lichten, und er kam an einen Bergbach, der kam mit viel Gebrause aus einer hohen, hohen Felsspalte herabgestürzt. Am Bach war der Wald etwas zurückgetreten, nur Himbeerbüsche wuchsen dicht an seinem Rand. Von ihnen waren viele reife Früchte in das Wasser gefallen, sie schimmerten rot aus den weißen Kieselsteinen heraus. Und hohe Stauden blauen Eisenhutes standen am Bachrand, mitten im Wasser aber lag eine winzige Insel. Da wuchsen große, weiße Blütendolden, auf denen lauter schimmernde, goldbraune Schmetterlinge saßen. Und im schäumenden Wasser, das aus der Felsspalte stürzte, glitzerte die Sonne. Das leuchtete, funkelte und glänzte in allen Farben, und Kasperle staunte verwundert; wie ein Märchenwinkel kam es ihm vor. Auch schien alles zu rufen und zu locken: „Komm, Kasperle, komm!“ Das Wasser spritzte ihm an die Nase, die Himbeerbüsche bogen sich unter der Last ihrer reifen Früchte, und da war Kasperle denn auch nicht faul. Er setzte sich hin und schmauste, trank erst vom klaren Wasser, aß dann zum Brot die Himbeeren und wurde plumpsatt. Da legte er sich an das Ufer des Baches, lauschte dem Tosen, mit dem der aus der Felsspalte hervorstürzte, und ließ sich die Sonne auf das Bäuchlein scheinen.
Sehr lange dauerte es nicht, bis Kasperle schlief. Er schlief und schlief in die warme, Sommernacht hinein. Einmal wachte er auf, da stand eine ganz schmale Mondsichel gerade über dem Waldwinkel, und das Bächlein rann wie ein Silberstrom aus seiner Felsspalte hervor. Ein Weilchen sah Kasperle zu, er sah die silbernen Lichter auf dem Wasser glitzern und sah über sich am dunklen Nachthimmel die feine Sichel und viele, viele Sterne. Das war schön und friedsam. Kasperle reckte und streckte sich und schlief weiter.
Auf einmal tönte laut eine Stimme in seinen Schlaf hinein: „Hallo, he, aufgewacht du!“
Kasperle richtete sich erschrocken auf und sah sich verwirrt um. Da stand neben ihm ein Bub, nicht viel größer als er, der trug ein Hemd und ein Höslein, geflickt wie eine Musterkarte, auf seinem Kopf saß ein verbeultes, verblichenes Hütlein mit einem mächtigen Busch Hahnenfedern daran. Es sah beinahe aus wie der Kopfschmuck, den der Räuberhauptmann im Kasperletheater zu tragen pflegte. Des Buben Augen blitzten lustig; der ganze kleine Kerl sah überhaupt so vergnügt in die Welt, daß Kasperle auch gleich lachen mußte.
Und wenn Kasperle lachte, das steckte an. Erst machte der fremde Bube Kulleraugen vor Erstaunen, als Kasperle seinen Mund von einem Ohr zum andern zog, aber dann lachte er laut heraus. Sein Lachen steckte wieder das Kasperle an, und so lachten sie eine gute Zeit um die Wette, und die Felswand gab vergnügt das Echo zurück. Sonst hörten es nur noch eine Anzahl Geißen, die kamen zierlich über die Steine geklettert und umringten die beiden Buben. Aber plötzlich sprang der fremde Bube auf und schrie: „Rosemarie fehlt!“ Und dann rannte er mit schnellen Sprüngen davon.
Rosemarie! Kasperle vergaß das Lachen vor Staunen. War das liebliche Grafenkind hier im Walde, und war er gar wieder dem Schlosse näher gekommen? Die Geißen umschnupperten ihn ganz zutraulich, er aber saß da, als wäre er aus allen Wolken gefallen. Doch da kam der fremde Bub schon wieder zurück, er trieb ein schneeweißes Zicklein vor sich her und rief schon von weitem: „Das ist Rosemarie; beinahe hätte sie sich verlaufen.“
Kasperle schüttelte den Kopf. „Nä,“ brummelte er entrüstet, „Rosemarie ist eine Grafentochter, keine Geiß!“
Der fremde Bube lachte hell auf. „Freilich, ein Geißenname ist’s nicht,“ rief er. „Rosemarie stammt aber auch von einem Schlosse; die alte Einöderin Bärbe hat sie dort geholt.“
„Ist das weit?“ fragte Kasperle scheu. Er dachte gar, das Schloß müßte ihm vor der Nase liegen.
„Weit — das Schloß?“ Der fremde Bube sah ihn erstaunt an, die Frage kam ihm sehr schnurrig vor. Was ging den andern das Schloß an? „Weit ist’s schon,“ sagte er; „die Einöderin braucht immer ein paar Tage dazu, sie stammt von dort.“
Da war Kasperle wieder zufrieden. Nun fiel ihm auch ein, es war eigentlich längst Frühstückzeit vorbei, und er kramte sein letztes Stück Brot aus der Tasche. „Ich hab’ Hunger,“ sagte er seufzend.
„Ich auch.“ Der fremde Bube zog auch ein Stück Brot aus der Tasche und sagte: „Ich komm’ hierher wegen der Himbeeren. So schön sind sie nirgends, und niemand weiß den Ort, selbst der brummige Matthias nicht.“
„Wer ist denn das?“ Kasperle setzte sich auch an einen Himbeerbusch, wie es der andere tat. Beide schmausten los, und dabei erzählte der fremde Bube, der brummige Matthias sei ein Förster; er wohne neben des Herzogs Jagdschloß Hirschsprung, das ganz nahe sei.
„Wohnt der Herzog hier?“ Kasperle ließ vor Schreck eine dicke Himbeere und sein Brot dazu ins Wasser fallen, und er fischte erst beides wieder heraus, als der fremde Junge sagte: „Bist du aber dumm! Der Herzog wohnt doch in seiner Residenzstadt, weit, weit von hier! Er kommt nur alle Jahre zweimal hierher, sonst steht das Schloß immer leer. Du weißt aber auch gar nichts! Woher kommst du eigentlich? Wie heißt du? Wer bist du?“
Kasperle seufzte tief. Er wollte schon wieder sein Sprüchlein sagen, aber des fremden Buben helle, klare Augen schauten ihn so ernsthaft an, da senkte er verwirrt seine Nase.
„Hast du was Schlimmes getan?“ fragte plötzlich der andere fast streng.
Kasperle schüttelte den Kopf, und dann erzählte er dem Buben, wer er sei. Alles erzählte er, und der andere lachte mit und sah mit traurig drein, und als Kasperle zu Ende war, streckte er ihm seine kleine, braune Hand hin und rief: „Armes Kasperle! Aber weißt du, ich will dein Freund sein. Ich bin das Geißenmichele und wohne in Hochdorf. Da, willste mein Brot?“ Michele wußte in aller Geschwindigkeit nämlich nicht, was er aus Mitleid dem Kasperle Gutes antun sollte, darum gab er ihm sein Brot. Dabei war des Michels Brotvorrat für seinen rechtschaffenen Bubenhunger gerade nicht sehr groß. Michele meinte aber, für einen Freund, den man so unversehens im Walde finde, müßte man auch einmal hungern können. Kasperle aber sah, mehr Brot war nicht im Säcklein, und schlug vor, sie wollten teilen. Also teilten sie, schmausten viele, viele Himbeeren dazu und berieten dabei, was aus Kasperle werden sollte.
Michele hätte das Kasperle am liebsten mit heimgenommen, doch das ging nicht; er hatte nämlich selbst kein rechtes Zuhause. Er war einer armen Witwe Sohn, die wohnte stundenweit ab in einem kleinen Dorf, und er hatte sich als Geißenbub verdingt, um der Mutter zu helfen, die noch für drei kleinere Kinder sorgen mußte. Bei einem Bauern schlief er auf dem Heuboden, dahin durfte er keinen fremden Buben mitbringen. Und Kasperle tat einen tiefen Seufzer und sagte traurig: „Ich muß weiterziehen.“
Doch da kam wie ein Blitz dem Michele ein guter Gedanke, und er überkugelte sich gleich einmal vor Freude und schrie dabei: „Hurra, das wird fein, fein, fein!“
Kasperle wollte natürlich gleich wissen, was fein würde, und da vertraute ihm Michele an, das Schloß sollte seine Wohnung sein. Und als Kasperle darob vor Erstaunen so steif und stumm wie ein Bäumlein wurde, erzählte Michele, im Schlosse wohne niemand, und der böse Matthias und seine Frau gingen selten hinein, auch sei das dann ja zu hören. Er aber wußte, daß eine ganz kleine Seitenpforte seit langer Zeit unverschlossen sei, wohl weil der brummige Matthias den Schlüssel verloren habe. „Ich bin schon manchmal drin gewesen; fein ist’s drin!“ tuschelte Michele seinem neuen Freunde geheimnisvoll zu. „Du kannst drin wohnen, und dann treffen wir uns alle Tage und hüten die Geißen zusammen. Wenn ich sage, ich hab’ arg großen Hunger, dann gibt mir die Bäuerin schon mehr Brot, dann langt es für uns beide.“
„Aber der Herzog!“ Kasperle sah so ängstlich drein, als spaziere der Herzog schon um die Ecke herum.
Michele lachte ihn aus. „Bist ein Hasenfuß; der Herzog, kommt höchstens zweimal im Jahr nach Hirschsprung, na, und das merkst du ja vorher. Komm jetzt rasch, ich zeige dir die Türe!“ Er sprang auf und sah nach den Geißen. Die zeigten keine Lust zu großen Klettereien; satt und faul lagerten sie auf einem Wiesenfleck, und die beiden Freunde konnten beruhigt zum Schlosse wandern. Weit war das nun wirklich nicht. Kasperle staunte. Ein paar Schritte ging es durch den Wald, da waren sie da. Auf einer Wiese, rings von Wald umschlossen, lag ein graues Schloß, es hatte einen dicken Turm und sah etwas düster aus. Unweit davon, am Wiesenrand, lag ein kleines Haus, die Försterei. Alles war wie ausgestorben, nicht einmal ein Hund bellte, als sich die Buben dem Schlosse näherten. Michele führte seinen Freund nun um die grauen Mauern herum und zeigte ihm neben dem Turm ein Pförtlein, das fast ganz hinter Gebüsch verborgen war. „Da hinein geht’s,“ sagte er, „und hier kannst du gleich in den Wald schlüpfen, und niemand sieht dich.“
Sie krochen beide durch das Gebüsch, und Michele drückte auf die rostige Klinke; sie gab nach, und da standen die beiden wirklich im Schloß. Ein schmaler, weißgetünchter Gang nahm sie auf, und Michele schritt ihn ganz keck entlang. Kasperle folgte etwas zaghaft, weil sich aber wirklich niemand und nichts im Schlosse regte, wurde er auch mutiger. Die beiden Freunde schlossen Tür um Türe auf, sie gingen durch alle Gänge, stiegen alle Treppen empor, und Michele war ganz empört, als Kasperle auf einmal sagte: „Im Grafenschloß war’s noch feiner.“
„Was Feineres gibt’s nicht,“ rief Michele und riß eine Türe auf. Die führte in einen Saal hinein, der nicht, wie die andern Zimmer, etwas düster eingerichtet war, sondern hellen, heiteren Hausrat zeigte. Die Sofas und Stühle waren alle mit rosafarbener Seide überzogen, an den Wänden gab es in breiten goldenen Rahmen heitere Bilder, und Engel, die Rosenkränze trugen, schwebten oben an der Decke.
Da sagte auch Kasperle, dies sei feiner als im Grafenschloß, und Michele, der schon ganz wütend gewesen war, gab sich zufrieden. Kasperle war nun auch sehr vergnügt, daß er im Schlosse bleiben sollte, und als sie beide beim Herumwandern in ein sehr schönes Zimmer kamen, in dem ein breites goldenes Bett stand, sagte er, hier möchte er schlafen. „Ich glaube, das ist dem Herrn Herzog sein Zimmer,“ flüsterte Michele etwas scheu. „Darin kannst du doch nicht schlafen!“
Aber plumps, da lag Kasperle schon in dem mit Seide überzogenen Bett und rief: „Hurra, hier schlafe ich: Das ist fein, fein, fein!“
Michele hätte sich am liebsten auch in das goldene Bett gelegt, aber er dachte an die armen Geißen, die er verlassen hatte. „Ich muß gehen,“ sagte er betrübt, und flugs sprang Kasperle wieder aus dem Bette heraus und erklärte: „Ich geh’ mit.“ Einträchtig verließen sie beide wieder das Schloß, kehrten zu den Geißen zurück, fanden die noch ruhig am alten Platz weiden, und sie setzten sich zu ihnen und berieten, wie sie es ferner zu halten gedächten. Michele wollte immer am Schloß vorbeiziehen und pfeifen, und sobald Kasperle dies hörte, sollte er ihm nachkommen; dann wollten sie zusammen spielen, Geißen hüten und ihr Brot verzehren. Beide freuten sich schon auf die Tage, die kommen würden, und einmal sagte Kasperle ängstlich: „Aber der Herzog, wenn der in sein Schloß kommt!“
„Ach, der kommt ja erst im Herbst!“ Michele schnippte mit der Hand, als könnte er damit den Herzog davonweisen, und Kasperle war beruhigt. Mit seinem neuen Freund zusammen trieb er dann die Geißen an zum Heimgehen, und als das Schloß sichtbar wurde, trennten sich beide. Kasperle schlüpfte wieder durch das Gebüsch, öffnete die kleine Türe und stand dann allein in dem Schloß. Sein Schritt hallte laut auf dem Flur wider, und da begann sich der kleine Hasenfuß zu fürchten. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt und dem Michele nachgelaufen, aber dann dachte er doch an das schöne seidene Bett, in dem er schlafen wollte, und er lief geschwind die Treppe hinauf und durch die Gänge, bis er das Zimmer erreichte. Dort schlüpfte er sehr eilig in das goldene Bett, zog sich die Decke über die Ohren und schlief wirklich nach fünf Minuten ein. Nichts störte ihn in dem einsamen Schlaf. Nur einmal hörte er ein fernes Blasen, aber so recht wachte er darüber nicht auf. Draußen auf der Waldwiese stand der Förster, den Michele den brummigen Matthias nannte, und blies auf seinem Hifthorn ein Abendlied. Feierlich tönte das durch den stillen Wald, und danach schwieg alles, nur die Bäume rauschten; sie erzählten sich, im einsamen Schloß sei ein wunderlicher kleiner Gast eingekehrt, von dem selbst der Förster nichts wisse.
Als Kasperle im seidenen Bett wieder erwachte, schimmerte es ganz golden durch die herabgelassenen Vorhänge. Er sprang aus dem Bett heraus und lugte durch ein Ritzlein hinaus, obgleich Michele ihn sehr gewarnt hatte, dies zu tun. Draußen lag die Waldwiese im ersten Frühsonnenschein, und selbst in das verschlossene Zimmer hinein drang das Singen und Jubilieren der Vögel, die den neuen Tag grüßten. Wie lustig es klang! Kasperle erhob purzelvergnügt sein Stimmlein und sang mit. Es war schon gut, daß in dem einsamen Schloß ihn niemand singen hörte, denn vor dem Gesang konnte schon einer davonlaufen. Es klang, als quietschten zehn schlecht geölte Türen und drei verrostete Wetterfahnen dazu, doch Kasperle fand seinen Singsang schön, und singend lief er in dem Schlosse treppauf, treppab, und dabei kam er auch in die Küche. Und da merkte er, daß er schrecklich hungrig war, und das Singen verging ihm. Er begann neugierig in alle Töpfe und Schränke zu schauen, doch nirgends fand er etwas Eßbares. Er dachte seufzend an die gefüllten Speisekammern im Grafenschloß, und gerade wollte er die Küche wieder verlassen, als er in einer Ecke eine Türe entdeckte. Rasch schloß er sie auf, ein halbdunkler Raum gähnte ihm entgegen, in dem es merkwürdig gut roch. Kasperle schnupperte und schnupperte, sah sich um und sah auf einmal von der Decke herab lange Würste hängen; auch ein paar Schinken und Speckseiten waren dabei. Kasperle war in die Räucherkammer geraten, in der es noch Vorräte vom letzten Besuch des Herzogs her gab.
Potzwetter staunte da Kasperle! Und lange besann er sich nicht, ob er zugreifen dürfe oder nicht. Er sprang hoch, sprang, bis er eine Wurst erwischte; an der zerrte er, bis er sie in seinen Händen hielt. Dann verschloß er die Kammer wieder und lief vergnügt mit seiner Wurst bis zur kleinen Pforte, an der Michele pfeifen sollte. Das dauerte noch ein Weilchen, und Kasperle biß inzwischen herzhaft in die Wurst hinein, und als Michele kam, hatte er schon ein gutes Stück verschmaust.
Der Kamerad machte große Augen, als Kasperle ihm von der Wurstkammer erzählte. „Das darfst du nicht, die Würste aufessen,“ sagte er bedrückt; „sie gehören doch dem Herzog!“
Doch Kasperle war ein leichtsinniger Strick. Der fand nichts Unrechtes am Wurstraub, sagte, die hätte der Herzog gewiß längst vergessen, und Michele glaubte ihm dies nur zu gern. So schmausten sie Wurst zu ihrem Brot, aßen tüchtig Himbeeren und verlebten mitsammen einen sehr vergnügten Tag. Die Geißen waren brav, die machten ihnen weiter keine Mühe, ja, als Kasperle dem Michele seine Gesichter vorschnitt, da stellten sie sich alle dazu und meckerten erstaunt; so etwas hatten sie doch noch nicht gesehen. Sie meckerten, und Michele lachte. Der streckte Arme und Beine von sich, so arg mußte er lachen. Zuletzt kriegte er Bauchweh vor Lachen, und er legte sich flink in die Sonne. Kasperle tat es ihm nach, und beide ließen sich von der Sonne halb braten, bis Kasperle wieder kaspern und Michele wieder lachen konnte.
So verging der Tag. Am Abend trieb Michele die Geißen heim, und Kasperle kehrte in das stille Schloß zurück. Er sah sich nicht mehr viel um, sondern kroch gleich in sein seidenes Bett. Darin schlief er, bis ihn wieder das goldene Scheinen hinter den Vorhängen weckte; da war wieder ein neuer heiterer Tag für ihn aufgegangen. Er lief wieder durch das Schloß, holte wieder ein Würstlein aus der Räucherkammer und stand schon an der kleinen Pforte, als Michele daherkam. Der sputete sich arg und rief schon von weitem dem Kasperle halblaut zu: „Verstecken, verstecken!“
Kasperle witschte flink in das Gebüsch, und als Michele herankam, tuschelte der ihm zu: „Der brummige Matthias steht vor seinem Hause, laß dich nicht sehen!“
Der Förster wunderte sich ein wenig darüber, daß der Geißenbub seine Herde so dicht am Schloß vorbeitrieb, aber Kasperle sah er nicht. Der flitzte unter die Geißen, lief auf allen vieren und war geschwinde im Walde verschwunden.
Und wieder verging den beiden Kameraden der Tag wie ein schöner Traum. Es wurde Abend, es wurde wieder Morgen, und so folgte ein Tag dem andern, alle waren sie sonnenreich und voll heiterer Lust.
Über eine Woche war so vergangen, da wachte Kasperle eines Morgens auf, und er wunderte sich, wie dunkel es war. Vielleicht ist’s noch Nacht, dachte er, aber dann vernahm er ein unablässiges Plätschern und Rauschen, und als er durch das Ritzchen im Vorhang hinausspähte, merkte er, es regnete. In wahren Bächen rann es vom Himmel herab, plitsch, platsch, immerzu. Düster, grau hingen die Wolken tief herab, der Wald sah aus, als schliefe er noch, nichts rührte und regte sich ringsum. Es kam auch kein Michele mit seinen Geißen. Der saß bei der Bäuerin und half Gemüse putzen, und er dachte dabei sehnsüchtig an seinen Freund Kasperle. Dessen Sehnsucht nach Michele war nicht minder groß. Er langweilte sich arg in dem einsamen Schloß, und weil er nicht wußte, was er anfangen sollte, begann er das Schloß von oben bis unten zu durchwandern. Er setzte sich auf alle Polsterstühle, räkelte sich auf allen Sofas herum, und zuletzt kam er wieder in des Herzogs Schlafzimmer. In dem hingen allerlei Bilder, darunter das einer Schäferin, die ein Lämmchen an einem himmelblauen Bande führte. Dies Bild gefiel Kasperle besonders gut. Um es besser zu sehen, rieb er ordentlich seine große Nase daran, ja er fing an, das Lämmchen zu streicheln. Dabei fühlte er an dessen Halsband eine kleine Erhöhung, und weil er wissen wollte, was dies bedeute, drückte er ordentlich fest darauf. Da rauschte es plötzlich sacht, das Bild wich von der Wand, und Kasperle sah erstaunt in einen kleinen Raum hinein; kühl und dumpf wehte es ihm daraus entgegen.
Erschrocken sprang Kasperle gleich in das goldene Bett hinein, er kroch unter die Decke, und da lag er eine Weile zitternd vor Angst. Aber alles blieb still. Nur draußen rauschte und rauschte unablässig der Regen. Kasperle steckte scheu den Kopf unter der Decke wieder hervor. Die geheimnisvolle Türe, die das Bild verdeckte, stand noch halb offen, und in dem Raum dahinter war es auch ganz still.
Kasperle seufzte schwer. Er hatte Angst, aber neugierig war er auch. Endlich siegte doch die Neugier, und er kletterte wieder aus dem Bett heraus und schaute hinter das Bild. Eine ganz enge, schmale Kammer war es, die sich vor ihm auftat; aus der führte ein Trepplein in die Tiefe. Die Kammer selbst war in ein grünliches Licht getaucht, und Kasperle sah, daß sie ein rundes Fensterloch hatte, vor dem der Efeu ganz dicht gewachsen war; man mochte wohl von draußen das runde Fenster gar nicht sehen hinter der dichten Efeuwand. In der kleinen Kammer selbst stand nur eine altmodische Kiste, in die Kasperle eiligst seine Nase steckte.
Potztausend, sah es darin aus! Ein paar silberne und goldene Becher und eine goldene Kette lagen drin und ein dicker Beutel voll Gold. Darüber war ein roter Samtvorhang gebreitet, der schon recht verblichen war. Kasperle nahm ihn sich um, hängte sich die goldene Kette an den Hals und spazierte so ein Weilchen hin und her. Doch dann erwachte wieder die Neugierde. Er warf alles in die Kiste zurück und begann das Trepplein hinabzusteigen, Stufe um Stufe. Etwas bänglich war ihm doch zumute, und als ihm von unten herauf eine feuchte Dunkelheit entgegengähnte, da kehrte er rasch um und schlüpfte wieder in das Schlafzimmer. Er zog das Bild wieder zurück, ganz leicht ging es nicht, aber plötzlich schnappte es ein, und von der geheimnisvollen Kammer war nichts mehr zu sehen.
Kasperle suchte nun wieder den Knopf am Halsband des Lammes, er fand ihn, drückte darauf, und wieder rauschte die Türe auf. Das muß Michele sehen, dachte Kasperle, als er die Türe wieder schloß. Er ging nun überall im Schloß herum und untersuchte alle Bilder, weil er dachte, hinter jedem Bild müßte eine geheime Türe sein. Doch soviel er den steifen Herren und Damen, deren Bilder die Wände schmückten, auch auf die Nasen, Münder, Augen und Bäuche drückte, keine Tür tat sich mehr auf. Darüber wurde es Abend, und Kasperle kroch wieder ins Bett. Er freute sich dabei auf den kommenden Tag, da würde doch sicher schönes Wetter sein.
Doch der Regen rann und rann. Am nächsten Morgen war es noch grauer; noch düsterer sah der Wald aus, und wieder blieb Michele mit seinen Geißen daheim. Kasperle langweilte sich und rumorte wieder im Schlosse herum. Das geheime Kämmerchen untersuchte er ganz genau, er ging auch ein paar Schritte die Treppe hinab, weit wagte er sich aber nicht. Er holte sich wieder eine Wurst aus der Räucherkammer; doch die wollte ihm gar nicht mehr so recht schmecken. Micheles Brot und die Himbeeren im Walde waren besser gewesen. Und draußen regnete es weiter. Immerzu, ohne Unterlaß rann es vom Himmel herab, und am nächsten Morgen war es wieder so. Da blieb Kasperle vor lauter Kummer im Bette liegen, bis auf einmal ein helles Licht das Zimmer erfüllte. Kasperle sprang auf und sah hinaus. Draußen war soeben die Sonne hervorgekommen, sie hatte endlich die Regenwolken besiegt. Hier und da schimmerte der Himmel tiefblau, und die grauen Wolken jagten davon, als hätten sie die allergrößte Angst, von Frau Sonne noch beim Schwänzlein genommen zu werden. Heisa, nun wurde morgen gewiß schönes Wetter!
Kasperle tanzte vergnügt im Zimmer herum. Dann rannte er wieder im Schloß treppauf, treppab, holte sich eine riesengroße Wurst, die er morgen mitzunehmen gedachte, und kroch dann vergnügt in sein seidenes Bett. Morgen, morgen würde er seinen Freund Michele wiedersehen.
In dieser Nacht kam auch der Mond zum Vorschein. Er war zwar noch blaß, und es fehlte ihm ein ganzes Stück am Rundsein, doch ging schon ein feiner, wunderbarer Glanz von ihm aus. Er stand gerade über der Waldwiese vor dem Schloß, als Kasperle einmal aufwachte und verschlafen dachte: Nun regnet es schon wieder. Er sah durch das Vorhangritzchen, da sah er den Mond glänzen, und das Rauschen, das er hörte, kam vom Wald herüber. Aber noch etwas anderes hörte er: Getrappel und dann Stimmen; vom Försterhaus herüber tönte es, und im klaren Licht des Mondes sah Kasperle einen Reiter vor dem Hause drüben halten. Es wurde ihm ganz unheimlich, und rasch kroch er wieder in sein Bett, tief unter die seidene Decke. Da schlief er denn auch bald ein.
Als Kasperle am Morgen aufwachte, dachte er erstaunt: Was ist denn das? Es rummelte, knarrte, klappte und klirrte laut im Schloß, es war gar nicht so still wie sonst. Ja, und auf einmal ertönte ein lautes Rufen: „Matthias, Matthias, jetzt wollen wir erst in dem Herzogszimmer scheuern!“
Mit einem Satz war Kasperle aus dem Bett heraus. Eine furchtbare Angst ergriff ihn. Menschen waren im Schloß! Wenn ihn die nun erwischten! Ein paar Augenblicke wußte er vor Entsetzen gar nicht, was er tun sollte; doch da fiel ihm die Kammer hinter dem Bilde ein. Flugs schlug er auf den Knopf, die Türe rauschte leise auf, Kasperle nahm seine Sachen und die Wurst und witschte in die Kammer. Es war die höchste Zeit, denn draußen dröhnten schon schwere Schritte über den Flur, und kaum hatte sich die Bildtüre geschlossen, als der Förster und seine Frau das Zimmer betraten. Kasperle vernahm einen lauten Schrei, die Försterin hatte das zerwühlte Bett erblickt. „Matthias, Matthias,“ rief sie, „es ist wahrhaftig jemand im Schloß gewesen! O du meine Güte, und in des Herrn Herzogs Bett hat er gelegen! Wenn das unser gnädiger Herr wüßte!“
Der Förster brummte und knurrte, Kasperle hörte ihn sagen, es müßte gerade ein Gespenst gewesen sein, von einem lebendigen Menschen hätte er doch etwas merken müssen, auch seien ja alle Türen verschlossen gewesen. „Matthias, die kleine Pforte war ja auf!“ schrie die Försterin. „Weißt du, von der der Schlüssel verloren gegangen ist. Jemine, jemine, wenn etwas gestohlen worden ist!“
Die Försterin weinte und klagte, der Förster knurrte und brummte, und Kasperle hörte ihn sagen, daß er die kleine Pforte verriegeln wolle.
„Nein, nein,“ rief seine Frau, „unser großes Vorlegeschloß tu dran, das hält besser!“
Kasperle erschrak. Wenn der Förster die Türe mit einem Schloß verschloß, dann konnte er nicht hinaus und —. Da sagte die Försterin: „Und morgen kommt der Herr Herzog schon. Spute dich, Matthias, damit wir fertig werden!“
Alle guten Geister! Morgen wollte der Herzog kommen, und geschlossen sollte werden. Wie sollte er denn da zum Michele kommen? Kasperle dachte: Ich klettere in der Nacht unten zu einem Fenster hinaus und schlafe im Walde. Damit tröstete er sich über diesen Tag hinweg. Den mußte er freilich in dem Kämmerlein verbringen, denn der Förster und seine Frau wirtschafteten immerzu im Schloß herum, und er wagte es nicht, sein Versteck zu verlassen. Doch als es dunkelte, wurde es still im Schloß, er hörte noch Türen klappen, dann schwieg alles, und endlich wagte er es, die Bildtüre zu öffnen. Er nahm seine Wurst unter den Arm, die er schon halb aufgegessen hatte, und schlich sich leise durch des Herzogs Schlafzimmer, drückte an der Tür die Klinke nieder und — merkte, er war eingeschlossen.
Von außen war das Zimmer verschlossen, und als Kasperle versuchte, das Fenster zu öffnen, sah er erst, daß dies vergittert war. Er konnte nicht hinaus, er war gefangen. Kasperle stöhnte, seufzte und weinte und rannte verzweifelt im Zimmer hin und her; es half ihm alles nichts, er konnte nicht hinaus. Zuletzt kroch er wütend in des Herzogs Bett, das mit feinem schneeweißem Linnen überzogen war. Und heulend wühlte sich Kasperle in die Kissen, und er schlief in dieser Nacht nicht wie ein Säcklein, sondern wachte immer und immer wieder auf. Am Morgen vernahm er lauten Lärm: Hörnerblasen, Wagenrollen, Hufschlag und Stimmengewirr. Und als er erschrocken aufsprang und hinausspähte, sah er draußen einen ganzen Zug Reiter ankommen, ein paar Wagen dabei; der Herzog hatte die Fahrt zu seinem Jagdschloß in den frühesten Morgenstunden gemacht, weil es ein heißer Tag zu werden drohte.
Das war der Herzog, sein Feind. O jemine! Kasperle sah ihn aus dem Wagen steigen, und da entwischte er flink in sein Versteck. Er zitterte vor Angst, und ganz verdattert und bedrückt hockte er auf der Geldkiste nieder. Wie sollte er nun entfliehen?
Im Schloß wurde es laut. Kasperle vernahm Schritte, und dann hörte er auch, wie in des Herzogs Schlafzimmer die Türe aufgeschlossen wurde und ein lautes, erschrockenes Rufen ertönte. Himmel, das Bett! Daran hatte das dumme Kasperle gar nicht gedacht.
In seinem Versteck konnte er genau alle Stimmen unterscheiden. Jemand schalt heftig, das war der Herzog, und dann weinte jemand, das war die Försterin. Sie schwor, das Zimmer sei ganz in Ordnung und verschlossen gewesen; es müsse gerade ein Gespenst im Schlosse sein. Und sie beschrieb, wie gestern so viele Türen offen gestanden haben und auch das Bett zerwühlt gewesen sei. Nur ein Gespenst habe das anrichten können. Von den verschwundenen Würsten sagte sie nichts, das hatte noch niemand gemerkt, auch von dem offenen Pförtlein schwieg sie, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte.
Als die Försterin immerzu rief: „Ein Gespenst, ein Gespenst muß im Schlosse sein!“ bekam es Kasperle mit dem Lachen. Er hielt sich selbst die Hand vor den Mund, um nicht laut hinauszuplatzen. Weil er aber irgend etwas tun mußte, um seiner Lustigkeit Luft zu machen, schlenkerte er das linke Bein hin und her; er traf dabei einen der silbernen Becher, und der rasselte mit großem Getöse zu Boden.
Nebenan erhob sich ein lautes Geschrei. Der Herzog rief: „Was war das, was war das?“ und die Försterin antwortete schluchzend: „Das Gespenst, das Gespenst!“
„Es muß alles genau untersucht werden,“ befahl der Herzog. „Auch soll das Schloß ringsum bewacht werden. Schnell, schnell, sucht alle Räume ab!“
Dem Kasperle schlug das Herz. Er hörte, wie sich das laute Rufen weiter im Schlosse fortsetzte, und er hörte auch, wie nebenan jemand sagte, der Leibarzt müsse kommen, der Herzog sei vor Schreck krank geworden. O heiliger Bimbam! Wenn der Herzog krank war, legte er sich vielleicht ins Bett, und das Kasperle war noch mehr gefangen.
Und wirklich, der Herzog legte sich auch ins Bett. Er war nämlich an diesem Tag zu früh aufgestanden, das war seine schlimmste Krankheit. Während der Leibarzt kam und der Kammerdiener allerlei gute Dinge herbeibrachte für den Herzog, saß nebenan Kasperle trübselig auf der Geldkiste. Er kaute an der Wurst herum, die schmeckte ihm gar nicht mehr, denn er war durstig geworden und sehnte sich nach dem schönen Quellwasser, das er mit Michele zusammen getrunken hatte. Dazu wurde es allmählich dunkel in dem Kämmerchen, das winzige runde Fenster mit dem dichten Grün davor ließ wenig Licht ein. Auch ging draußen der Tag zu Ende, und zuletzt umgab Kasperle nachtschwarze Dunkelheit. Doch auf einmal kam ein feiner, schmaler Lichtstreif in die Kammer, und Kasperle sah zu seinem Erstaunen an der Wand ein rundes, helles Loch. Er rutschte vorsichtig von seiner Kiste herunter, tappte sich zu dem Loch hin und sah nun zu seinem großen Erstaunen durch die kleine Öffnung gerade in des Herzogs Schlafzimmer hinein. An der Stelle hing innen in des Herzogs Zimmer das Bild eines Urahnen. In seinem Schwertknauf war das kleine Guckloch, und es sah niemand im Zimmer Kasperles glitzernde Äuglein neugierig hereinspähen. Der Herzog lag im Bett, der Leibarzt saß daneben, dabei noch zwei Herren. In dem einen erkannte Kasperle gleich den Grafen, Rosemaries Vater. Sie sprachen von der seltsamen Unordnung, die in dem Schlosse geherrscht hatte; der Herzog erzählte davon dem Grafen, der erst später gekommen war. Kasperle spitzte arg seine Ohren, und dabei drückte er sich fester an die Wand. Da rief drinnen der Herzog: „Was raschelt da so?“
Kasperle fuhr erschrocken zurück, verlor dabei das Gleichgewicht und purzelte mit ungeheurem Getöse von der Kiste herab. O jemine, gab das wieder einen Aufstand! „Es ist nebenan,“ rief der Herzog, „in dem Saal, schnell, schnell, man muß nachsehen!“
Da rannte und lief alles, was Beine hatte, in den großen Speisesaal, der an des Herzogs Zimmer grenzte. Die Wände des Schlosses waren ungeheuer dick, und es kam niemand auf den Gedanken, hinter den riesigen Schränken, die im Speisesaal standen, könnte die Mauer ganz dünn sein. Die Schränke wurden abgesucht, Geschirr stand darin, Wäsche lag in den Fächern, von einem raschelnden, purzelnden Gespenst war aber nichts zu sehen. Von der schmalen Kammer zwischen den Wänden ahnte niemand etwas.
Dem armen Herzog war es vor Schreck ganz übel geworden. Als Kasperle endlich wagte, wieder durch das Löchlein zu schauen, sah er den Herzog Kamillentee trinken. Und gerade hörte er den Kammerdiener sagen: „Wenn das Gespenst nur nicht das Kasperle ist!“
„Wer, was, das Kasperle? Wie kommst du darauf?“ Der Herzog richtete sich erschrocken auf und machte solche böse Kulleraugen, daß Kasperle sich flink zusammenduckte.
„Ja,“ sagte drüben der Diener, „ein Landjäger hat erzählt, sie hätten vor einiger Zeit das Kasperle beinahe in Waldrast gefangen, doch sei es da wieder auf unglaubliche Weise entwischt. Und nirgends ist das Kasperle seitdem gesehen worden. Waldrast ist nahe, da ist es doch möglich, daß sich der kleine Kobold hier versteckt hat.“
„Ja, ja,“ rief der Graf aufgeregt, „so wird es sein! Sicher steckt dieser Unhold hier irgendwo im Schloß.“
Aber der Herzog meinte doch, dies sei nicht gut möglich, beinahe möchte er an ein Gespenst glauben.
„Mit Verlaub,“ sagte da der Haushofmeister, der eben eingetreten war, „ein Gespenst frißt doch nicht die Räucherkammer beinahe leer! So etwas habe ich noch nie von einem Gespenst gehört.“
Da riefen alle, nein, das hätten sie auch noch nicht gehört, und so etwas wäre dem Kasperle schon eher zuzutrauen. Und als der Haushofmeister nun erzählte, wie viele Würste in der Räucherkammer fehlten, da befahl der Herzog streng: „Man muß suchen, auf dem Boden, in den Kellern, überall, auch in den Schornsteinen, und wer das Kasperle findet, dem gebe ich einen hohen Orden. Er wird auch Graf, wenn er das nämlich nicht schon ist. Das Kasperle, den Unhold, will ich aber streng bestrafen, wehe ihm!“
Sie redeten alle so viel durcheinander, wo wohl der kleine Unhold stecken könnte, daß niemand den tiefen Seufzer vernahm, den Kasperle ausstieß. Ach, es war schon schlimm! Er war gefangen, wurde verfolgt, und wer weiß, wie übel es ihm erging, wenn er entdeckt wurde! Als alle drinnen in des Herzogs Zimmer laut redeten, legte sich Kasperle müde auf den Fußboden nieder, vielleicht konnte er seine Angst verschlafen. Und Kasperle schlief wirklich ein, und im Schloß schliefen nach und nach auch alle ein. Sie hatten sich müde gesucht, und schließlich sagten sie: „Es ist sicher ein Gespenst, ja, und Gespenster findet man nicht.“
Selbst der Herzog war eingeschlafen in seinem schönen Bett, um das Kasperle ihn sehr beneidete. Der Kleine wachte aber mitten in der Nacht auf, der Mond schien ihm gerade auf das Gesicht. Ganz wunderlich war es. Hinter dem runden Fensterloch stand noch schief, aber glänzend der Mond und erleuchtete die winzige Kammer. Ach, dachte Kasperle, wäre ich doch jetzt auf der Waldwiese! Und weil er sich sehr arm und verlassen vorkam, seufzte er recht tief und vernehmlich.
„Johann,“ schrie nebenan der Herzog, „hörst du, es hat geseufzt!“
„Jawohl, es hat geseufzt,“ antwortete der Diener verschlafen. „Es ist doch ein Gespenst!“
Das kam Kasperle spaßig vor, daß er nun wieder ein Gespenst sein sollte. Er seufzte noch einmal und noch einmal, und da schrie drinnen der Herzog, man solle flink alles ableuchten, um zu sehen, was da seufze. Flugs schwieg Kasperle wieder, weil aufs neue das halbe Schloß lebendig wurde. Diener kamen, der Haushofmeister kam, Kammerherren rannten herbei, und alle lauschten auf das Seufzen. Aber Kasperle war muckstill, da wurde es auch drüben still, alle gingen wieder zu Bett.
Der Herzog war gerade wieder eingeschlafen, als das Geseufze wieder anfing. „Das Gespenst seufzt wieder!“ Der Herzog schrie, der Diener schrie, und wieder rannten alle herbei, horchten und hörten doch nichts. Kasperle zappelte vor Vergnügen, und bums! klirrte und dröhnte die alte Kiste, an die er gestoßen war.
„Das Gespenst, das Gespenst!“ Nebenan redeten viele Stimmen durcheinander, und Kasperle verhielt sich nun ganz still, denn auf einmal sagte jemand, man müsse die Wände morgen abklopfen; vielleicht sei einmal jemand eingemauert worden, und der geistere nun herum.
„Das ist recht,“ antwortete der Herzog, „man soll morgen gleich den Hofbaumeister holen.“
O weh! Da verging dem Kasperle wieder der Übermut. Wenn der Hofbaumeister die Wände abklopfte, fand er sicher die geheime Türe, und man entdeckte ihn, das Kasperle. Er wurde muckstill, und nichts störte fortan den Herzog mehr. Dabei schlief Kasperle nicht einmal. Der dachte an die Flucht, und er beschloß, morgen doch die Treppe hinabzusteigen, vielleicht fand er da einen Ausgang.
Als die Sonne aufging und Licht durch das grüne Fensterloch in das Kämmerchen floß, rüstete sich Kasperle zur Flucht. Seinen letzten Wurstzipfel nahm er mit und den Geldsack aus der Truhe. Das raschelte und klirrte wieder, und der arme Herzog nebenan erwachte von dem Geräusch. Weil dann aber alles still blieb, dachte er, er habe geträumt. Er klingelte nach seiner Morgenschokolade. Das hörte Kasperle noch, als er das schmale Trepplein in die Tiefe hinabstieg. Ach lieber Himmel, er hätte auch lieber Schokolade getrunken, als in die Finsternis zu steigen! Er tastete sich den schmalen Gang entlang, in den die Treppe mündete; feucht und kühl war es, und ein paarmal huschte etwas vor dem erschrockenen Kasperle vorbei, es mochten Ratten sein. Kasperle ächzte vor Angst, dumpf dröhnte das Echo wieder, und in der Küche ließ just in dem Augenblick die Köchin des Herzogs die Morgenschokolade fallen. „O du meine Güte,“ schrie sie, „nun geistert es hier auch, hört nur!“
Alle Küchenjungen und Küchenmägde hatten das Geächze vernommen, denn Kasperle war gerade unter der Küche hinweg gewandert. Endlos schien der Gang zu sein, er ging weiter und weiter, aber auf einmal sah Kasperle es in der Ferne hell werden. Nun rannte er, so schnell er mit dem Geldsäcklein vorwärts kam, plötzlich sah er dicht vor sich dichtes, dichtes Gebüsch. Er kroch hindurch, da stand er im Wald, und nicht weit davon lag das Schloß. Kasperle wollte weiterrennen, denn er dachte an die Wächter, die das Schloß bewachten, doch da hüpfte und sprang es um ihn herum, und neben ihm schrie Michele: „Endlich kommst du, endlich!“
Kasperle hielt nicht an. Er packte Micheles Hand und zog ihn mit fort, die Geißen folgten, und erst als alle weit drinnen im Walde waren, begann Kasperle seine Abenteuer zu erzählen. „Da,“ sagte er stolz und hielt Michele den Geldbeutel hin, „den habe ich dir mitgebracht.“
Aber Michele griff nicht nach dem Beutel. Der sah den Freund tief erschrocken an. „Kasperle,“ sagte er leise, „das Geld gehört dem Herzog; das — das — ist — gestohlen!“
„Nä!“ Kasperle riß seine Augen weit auf. „Ich hab’s doch gefunden!“
„Aber das Schloß gehört dem Herzog, und alles, was drin ist, gehört dem Herzog!“ Michele war blutarm, und er wäre himmelgern lieber ein Geigenspieler statt ein Knechtlein geworden, und doch rührte er den Beutel nicht an. „Du mußt das Geld zurücktragen,“ sagte er, „es gehört dir nicht. Weißt du, schon die Würste zu nehmen war arg böse.“ Und Kasperle mochte sagen, was er wollte, Michele blieb dabei.
Da schaute das Kasperle seinen Freund nachdenklich an und flüsterte leise: „Du bist gut.“ Er ließ den Kopf hängen, denn er schämte sich, daß er nur ein unnützes Kasperle war; er wäre auch gern so ein braver kleiner Menschenjunge wie das Michele gewesen. Und so schrecklich es ihm war, noch einmal durch den langen, langen, finstern Gang zu gehen, er sagte doch, er wolle es tun.
„Gleich,“ riet Michele, „ehe der Hofbaumeister die Türe findet.“ Er kramte aus seiner Tasche ein Stückchen Licht und eine Schachtel Streichhölzer heraus; auf den Besitz war er sehr stolz, aber für den Freund gab er die Herrlichkeiten hin.
Und Kasperle kroch wirklich durch das Gebüsch in den unterirdischen Gang hinein. Innen zündete er das Lichtlein an, da war es gar nicht so schlimm, er kam bis zur Treppe, und da — wurde das Kasperle wieder unnütz. Er schleuderte nämlich den Geldsack heftig gegen die Türe, der Herzog sollte noch einmal tüchtig erschrecken. Doch was war das, — die Türe ging auf! Das schwere Säcklein hatte die geheime Feder getroffen.
Ein lautes Schreien erscholl, und Kasperle rannte Hals über Kopf die Treppe hinab, in den Gang hinein. Das Licht ging ihm aus, er wagte gar nicht, es wieder anzuzünden. Er rannte und rannte, endlich wurde es hell, er kroch durch das Gebüsch. Unweit davon weidete Michele seine Geißen. „Ausreißen!“ rief Kasperle, „ausreißen!“
Michele ahnte, es war etwas Schlimmes geschehen. Er trieb seine Herde an, und die armen Geißen mußten wieder laufen, daß ihnen Hören und Sehen verging. Erst als sie an dem Ort angelangt waren, an dem die Freunde sich zuerst getroffen hatten, hielt Michele an. Kasperle sank ganz atemlos zu Boden, Michele brachte ihm Wasser, gab ihm Brot, und erst dann konnte der kleine Schelm erzählen, was geschehen war. Er blickte dabei Michele verlegen an. Was würde der sagen?
Doch Michele war eben auch ein Bube mit Freude an unnützen Streichen. Er lachte und meinte, der Herzog habe sich gewiß über das Geldsäcklein gefreut, und nun wüßten sie auf dem Schloß doch, wo die geheime Schatzkammer sei. „Aber nun hast du keinen Unterschlupf,“ fügte er traurig hinzu. „Hier zwischen den Felsen ist zwar eine kleine Höhle, aber lange drin hausen kannst du nicht. Und — und“ — Michele tat einen ganz tiefen Seufzer — „was machst du, wenn ich nicht mehr komme?“
Kasperle riß erschrocken seine Augen und seinen Mund weit auf. Michele wollte nicht mehr kommen! Ja warum denn nicht? Da erzählte ihm der Kamerad, in den nächsten Tagen zögen sie mit allen Rindern und Geißen aus dem Dorf für ein paar Wochen auf eine hochgelegene Bergwiese; da müsse er mit, um alle Tage die Milch hinabzufahren.
„Ich geh’ mit,“ schrie Kasperle, denn das Hausen auf der Bergwiese schien ihm lustig zu sein.
Doch Michele schüttelte betrübt den Kopf. „Es geht nicht,“ sagte er ernsthaft, „du mußt weiterwandern; hier finden sie dich. Bei uns ist auch schon ein Landjäger gewesen, um nach dir zu suchen.“
Kasperle ließ bedrückt den Kopf hängen. Ach, das Weiterwandern machte ihm keinen Spaß mehr, und am liebsten wäre er in das Waldhaus zurückgekehrt! Doch wo war das? Er wußte den Weg zurück nicht mehr, zuviel war er kreuz und quer gelaufen, und Michele wußte es auch nicht. Der gab aber verständigen Rat. Am letzten Tag wollte er Kasperle ein großes Brot herauftragen, der dafür seine Batzen gab, die die Schulmeisterin ihm geschenkt hatte. Dann sollte der Kleine immer oben auf dem Bergrücken weiterwandern und ein paar Tage alle Dörfer meiden, bis er in das Fürstentum S. gelangt sei. Dort, meinte Michele, könnte ihn der Herzog wohl nicht fangen lassen. „Wenn du an einen blaugelben Grenzpfahl kommst,“ sagte Michele, „dann bist du an der Grenze.“
Kasperle versprach, sich alles zu merken, auch fortan sehr vernünftig zu sein. Er tat auch, wie Michele ihm geraten, kroch in die Felsenspalte, als der Freund mit seinen Geißen heimwärtszog, und drin schlief er die Nacht besser als im Gespensterkämmerlein.
Das Geldsäcklein, das Kasperle so heftig an die Türe geschleudert hatte, war dem Herzog gerade auf den Magen gefallen. Platsch, da lag es, platsch, da lag auch die Schokolade, und der Herzog schrie, als hätte er das vom Kasperle gelernt. „Das Gespenst, das Gespenst!“ brüllte er, und wieder rannte, wer das Schreien hörte, herbei, und alle starrten in die schmale Kammer hinein, und keiner traute sich recht hineinzugehen. Vielleicht saß das boshafte Gespenst noch irgendwo in der Ecke. Endlich kamen etliche Kammerherren, auch Rosemaries Vater; die untersuchten das Kämmerlein, sahen die Schatzkiste, sahen auch die Treppe und stiegen in den dunklen Gang hinab. Auf dem Flur drängten sich die Küchenmägde zusammen und jammerten: „Das Gespenst wird uns alle totmachen!“
Der arme Herzog lag ganz käseweiß in seinem Bette, und der Leibarzt gab ihm Magentropfen und sagte, Kamillentee würde wieder helfen. Ehe der Herzog aber noch Kamillentee getrunken hatte, kamen die Kammerherren zurück; einer hielt einen Wurstzipfel in der Hand und sagte: „Den muß das Gespenst verloren haben. Und da Gespenster doch keine Würste essen, muß es schon jemand Lebendiges gewesen sein.“
„Das Kasperle war’s,“ rief der Herzog. „Ich glaube auch, ich habe es gesehen, als die Türe aufging.“
Der Graf meinte auch, es könnte wohl Kasperle gewesen sein, denn ein Einbrecher hätte nicht mit dem Geldsack Fangeball gespielt, sondern den lieber mitgenommen.
„Die ganze Gegend muß abgesucht werden,“ befahl der Herzog, „irgendwo muß doch der kleine Kobold zu finden sein!“
Als Michele an diesem Abend seine Herde heimtrieb, ging er dicht am Schloß vorbei. Er traf auch eine Küchenmagd, und als er die ein bißchen dies und das fragte, da erzählte ihm die flugs alles, was geschehen war. Dem Michele wurde das Herz schwer, und er konnte in der Nacht gar nicht ordentlich schlafen vor lauter Angst um Kasperle. Er trieb am andern Morgen seine Herde so früh aus, daß die Bauersfrauen schalten, es sei noch bald nachtschlafene Zeit. Als Michele am Schloß vorbeikam, sah das auch noch ganz verschlafen aus; an der Stelle aber, wo der geheime Gang in den Wald lief, stand ein Wächter. Der blickte grimmig drein und schrie Michele zu: „Nimm heute deine Geißen in acht, Bub, nachher wird der Wald von Jägern und Hunden abgesucht.“
Ei, da rannte das Michele, und die armen Geißen konnten nicht genug hopsen und springen. Michele trieb sie zu immer größerer Eile an, und der Wächter lachte hinter ihm her. Hätte der nur geahnt, zu wem das Michele eilte! Der fand Kasperle noch in seiner Felsspalte sitzen, und aufgeregt erzählte er ihm die neue Gefahr. „Bleib da drinnen,“ sagte er, „ich pflanze flink einen Busch davor, da sieht dich niemand.“
Und Michele tat, wie er gesagt hatte. Er grub einen Busch aus, pflanzte den vor die kleine Höhle und machte das so geschickt, daß wirklich der Eingang verdeckt wurde. Kasperle saß innen, Michele außen. So schwätzten sie zusammen.
Die Mittagsstunde kam, es blieb ganz still im Walde, und gerade sagte Kasperle, nun wolle er ein bißchen herauskommen, als aus der Ferne her lautes Rufen und Hundegebell erklang. Da schlugen den beiden Kameraden die Herzen arg, denn näher und näher kam der Lärm. Und auf einmal trat der brummige Matthias mit zwei andern Jägern aus dem Walde heraus. Als der Förster Michele so ruhig seine Geißen weiden sah, rief er nur hinauf: „Ist hier jemand vorbeigekommen?“
„Nä, niemand!“ schrie Michele, und er dachte mit heimlichem Lachen vergnügt bei sich: Nun sage ich es doch richtig; wer innen sitzt, ist doch nicht vorbeigegangen!
Die Jäger zogen weiter. Einer der Hunde freilich kam angesprungen, der roch am Boden des Kasperles Spur. Doch Michele fing jämmerlich an zu schreien: „Meine Geißen, meine Geißen!“ Da lockte Matthias den Hund zu sich, und Kasperle blieb unangefochten in seiner Felsspalte sitzen.
Danach wurde die Ruhe nicht mehr gestört, und wieder zog Michele mit seinen Geißen heim, und Kasperle blieb einsam zurück. Er dachte voll Sehnsucht an des Herzogs seidenes Bett; da hatte er schon weicher drin gelegen!
Und wieder brach ein heller, schöner Tag an. Das war aber ein Abschiedstag. Michele kam mit dem Brot, zum letztenmal trieb er heute die Geißen aus. Ganz trübselig hockten die beiden Freunde zusammen, und als das Michele scheiden mußte, da fing Kasperle bitterlich zu weinen an.
Der Freund versuchte ihn zu trösten, aber Kasperle heulte wie ein kleiner Gießbach, und zuletzt heulte Michele mit. Das einsame, verlassene Kasperle tat ihm bitter leid, und am liebsten wäre er mit ihm in die weite Welt gelaufen. Zuletzt aber mußten sie doch scheiden. Kasperle blieb allein in seinem Felsenloch sitzen, und Michele trieb trübselig seine Geißen heim. Er ließ den Kopf hängen, rannte unterwegs beinahe etliche Bäume um und ebenso das Schloß, wenigstens stieß er fest mit der Nase daran, und ein Wächter rüffelte ihn grob darum. Der schrie auch: „He, hier treibt sich ja ein fremder Bube herum!“ und es war gut, daß der brummige Matthias den kleinen Geißenhirten kannte. So entkam der und wurde nicht weiter nach dem Kasperle gefragt.
Kasperle hockte traurig in seiner Höhle. Schlafen mochte er gar nicht, und als der Mond aufging, der nun schon ziemlich voll und rund war, da rüstete sich Kasperle, weiter in die Welt hinein zu wandern. Er buckelte das Rucksäcklein auf, das Michele ihm noch von sich gegeben hatte, und in dem das Brot steckte, nahm einen Stock, den ihm der Freund geschnitten, und wanderte in die stille Nacht hinaus.
Der Mond goß helle silberne Lichtströme auf Kasperles Weg. Ganz einsam war der, nur einmal sah der kleine Schelm ein Dorf in der Ferne liegen. Da dachte er an Micheles gute Lehren und machte einen weiten Bogen darum herum. Als es Tag wurde, suchte er sich tief im Wald einen verborgenen Platz, da lag er und schlief, bis der Abend dämmerte, dann stand er auf und wanderte weiter.
Fünf Nächte lang wanderte das Kasperle so einsam dahin, und sein Brot hatte er bis auf ein Schnitzchen aufgegessen. Endlich erblickte er in der Morgenfrühe einen Grenzpfahl, und in der Ebene, unten im Tal, sah er eine größere Stadt liegen. Er schlief nur ein paar Stunden an diesem Tage, zur Mittagszeit aß er seinen letzten Brotschnitz, und dann stieg er ins Tal hinab. Doch die Stadt war ferner, als er gedacht hatte, und die Sonne hatte sich schon ihr schönes rotes Abendkleid angezogen, als Kasperle endlich an einem der Stadttore anlangte. Um die Stadt herum lief nämlich noch eine uralte Mauer. Die hatte Tore und Türme, und von den kleinen Turmfenstern herab hingen rote Hängenelken, und Geranium blühte daran.
Kasperle sah aber gar nicht, wie hübsch das war, der erblickte etwas viel viel Schöneres. An der Stadtmauer außen lag ein großer Garten, in dem tausendfältig bunte Sommerblumen blühten. Da säumten die schönen Malven die Wege, golden leuchteten Beete voll gelber Ringelblumen; Rittersporn und Eisenhut, Braut im Haar und Hiobstränen, alles blühte dicht nebeneinander. Gelbe Rosen, rote Nelken hingen von der alten Stadtmauer herab, und Kasperle staunte die bunte Pracht an und dachte, der Festsaal im Herzogsschloß sei nicht halb so schön als dieser Garten. Zwischen den Beeten ging ein alter, weißbärtiger Mann herum, der begoß sorgsam Pflanze um Pflanze. Er bückte sich, hob die Gießkanne auf, goß sie leer und füllte sie wieder an einem Brünnlein. Es sah aber so aus, als würde ihm dies alles recht schwer. Und wie er gerade wieder eine Gießkanne füllen wollte, stand auf einmal Kasperle neben ihm. Der nahm die Kanne, — schwipp, schwapp, begann er mit einem großen Geplantsche zu gießen. Dazu lachte er über das ganze Gesicht, und der alte Gärtner lachte mit. Dem gefiel der kleine Helfer, der einfach über den Zaun gestiegen war, ganz gut. Er setzte sich auf eine Bank, und Kasperle goß den Garten; er meinte, eine vergnüglichere Arbeit habe er noch nie getan. Es gefiel ihm sehr gut in dem bunten Garten, in dem ein kleines, ganz grün überwachsenes Haus stand. Und als Kasperle fertig war, setzte er sich auf die Bank neben den alten Gärtner, blinkerte den zutraulich an und fragte: „Darf ich bei dir bleiben?“
Der Alte lachte. „Du bist ja ein schnurriger Bube!“ sagte er. „Wer bist du denn? Woher kommst du? Wie heißt du?“
Kasperle seufzte tief. Bei dem alten Mann ging es ihm wie beim Michele, er konnte seine Lügengeschichten nicht erzählen, er schämte sich. Betrübt ließ er den Kopf hängen, und der alte Gärtner fragte ernst, doch voll Güte: „Du bist wohl ausgerissen, Kleiner?“
Wieder seufzte Kasperle, aber sagen konnte er nicht, wer er war; er hatte zu große Angst vor den Menschen bekommen. Da nahm der Alte ihn sacht an der Hand, führte ihn in das kleine Haus und sagte freundlich: „Bleibe nur bei mir in meinem Garten! Morgen sagst du mir wohl, wer du bist.“
Und Kasperle blieb. Sie aßen zusammen Abendbrot, und der alte Gärtner erzählte von seinen Blumen, wie die wuchsen und blühten, und Kasperle wurde nicht müde zuzuhören. Inzwischen war die Sonne ganz untergegangen, und der Alte sagte zu Kasperle, er solle schlafen gehen; er zeigte ihm auch eine kleine Kammer, darin stand ein Bett. Das dünkte dem Kasperle herrlich weich nach den vielen Nächten, die er im Walde auf dem Boden geschlafen hatte. Durch das offene Fenster strömte der Duft der vielen, vielen Blumen in die Kammer, und wie Kasperle so lag, hub es auf einmal an zu klingen und zu tönen, eine wundersame Musik war es, und Kasperle wurde darüber hellwach. Er hatte noch nie etwas Schöneres gehört als diese feine, sanfte Musik. Ganz seltsam ergriff die ihn, und er mußte weinen. Dicke, dicke Tränen liefen dem Kasperle über das Gesicht, er dachte an seine Verlassenheit, und eine große Sehnsucht nach dem Waldhaus erfaßte ihn wieder. Immer lieblicher, zarter wurde das Klingen, und zuletzt schlief Kasperle darüber ein.
Er schlief sanft bis zum hellen Morgen, bis ihn der alte Gärtner weckte. „Komm,“ sagte der, „jetzt wollen wir wieder in den Garten gehen und gießen, damit die Blumen am Tage nicht durstig werden; es wird ein heißer Tag heute werden.“
Kasperle sprang vergnügt auf, und vergnügt goß er die Blumen. Manche brauchten viel Wasser, manche hatten nur wenig Durst. Der alte Gärtner sagte ihm das alles, er nannte ihm auch die Blumen. Und dann mußte Kasperle Beeren pflücken, die reif an den Büschen hingen. Er durfte auch davon essen, die andern mußte er aber in kleine Körbe tun, die gar zierlich mit Blättern ausgelegt waren. Der Alte selbst pflückte Frühbirnen von einem Baum.
Beide waren sie noch eifrig bei der Arbeit, als etliche Frauen und Kinder kamen. Die kauften das Obst und wollten auch Blumen, sie verlangten Salat und allerlei Gemüse für die Küche. „Ei, Ihr habt Euch ja einen Lehrburschen zugelegt!“ sagte die eine der Frauen, die Kasperle erblickte. Die Kinder aber starrten den kleinen Gärtnerburschen erstaunt an, und der, dem dies Angestaune gar nicht recht war, schnitt ihnen blitzschnell sein Räubergesicht.
Kreischend liefen die Kinder erst ein Stück weg, doch sie kamen gleich wieder und bettelten: „Mach’s noch mal!“
Da mußte Kasperle lachen und schnitt die lustigsten Gesichter. Die Kinder jauchzten laut, und der alte Gärtner und die Frauen sahen erstaunt hin. „Ihr habt aber einen putzigen Lehrburschen, Meister Helmer!“ sagten die Frauen. „Wo habt Ihr denn den her?“
Der alte Gärtner schwieg. Kasperle kam ihm gar sonderbar vor, und als die Frauen und die Kinder endlich wieder gegangen waren, fragte er seinen kleinen Gast: „Ei du, was bist du denn für ein Schelm? Sage doch, wo hast du deine Grimassen gelernt?“
Da sah ihn Kasperle treuherzig an und erzählte ihm nun, wer er sei. Aber darüber wurde der Alte bitterböse: „Schäme dich,“ rief er, „einem alten Mann solche Lügengeschichten zu erzählen! Ein Kasperle willst du sein? Ei, mein Lebtag habe ich noch nicht gehört, daß ein Kasperle etwas anderes als eine Holzpuppe ist! Pfui, ist das häßlich, so zu lügen!“
Kasperle stand ganz verdattert da, er wußte gar nicht, wie er es dem erzürnten Gärtner erklären sollte, daß er wirklich ein Kasperle sei.
Indem tat sich die Gartentüre auf, und ein feiner junger Mann trat herein. Der schaute verwundert den Alten an und sagte: „Was habt ihr denn, Meister Helmer? Ich habe Euch doch noch nie so schelten hören.“
„Ach, Sie sind’s, Herr Severin!“ rief der Gärtner. „Nun hört einmal, was mir dieser Schelm, den ich gestern aus lauter Mitleid aufgenommen habe, für Lügengeschichten aufbindet!“ Er erzählte ärgerlich, was Kasperle ihm eben gesagt hatte, und Herr Severin blickte dabei das Kasperle ernsthaft mit seinen schönen, dunklen Augen an. Dann schüttelte er sacht ein wenig den Kopf. „Er hat nicht gelogen, Meister Helmer,“ sagte er, „es ist wirklich ein echtes, lebendiges Kasperle. Es gibt nur ganz wenige Kasperles in der Welt, und mein Lehrer, der ein hochweiser Herr war, hat mir einmal erzählt, irgendwo im Atlantischen Ozean liege eine winzige Insel, auf der die wunderschönsten Blumen blühen; dies sei die Heimat der Kasperles. Blieben sie dort, dann würden sie freilich sehr alt, aber sonst würden sie leben und sterben wie wir Menschen. Verließ aber ein Kasperle die Insel, dann könne er wohl Jahre schlafen, aber nicht sterben, er müsse immer ein kleines, törichtes Kasperle bleiben und jedes Kind müsse über ihn lachen.“
Als Kasperle diese Geschichte hörte, wurde es ihm plötzlich ganz wind und weh zumute. Er fing bitterlich an zu weinen. Wo seine Heimat lag, hatte er vergessen, er wußte gar nichts mehr; alles hatte er verschlafen, aber wie ein Traum war ihm der Gedanke an den blühenden Garten. Da sagte der fremde schöne Mann mitleidig: „Du armes verlaufenes kleines Kasperle, du!“ Das klang beinahe wie gestern die Musik und tröstete Kasperle wundersam. Ganz leicht und froh wurde er wieder, als ihn der Fremde linde streichelte.
Meister Helmer schüttelte zwar noch immer den Kopf, die Kasperlegeschichte kam ihm zu sonderbar vor, aber sein kleiner Gast mußte noch einmal erzählen, was er alles erlebt hatte. Und Kasperle erzählte, und seine Zuhörer lachten und sahen mitleidig drein, und dann sagte Herr Severin: „In einiger Zeit reise ich fort, dann will ich suchen, das Waldhaus zu finden, denn das ist nun doch deine Heimat, kleines Kasperle.“
„Und bis dahin bleibst du bei mir,“ sagte Meister Helmer. „Ich will wohl achtgeben, daß dir nichts geschieht.“
Da war Kasperle vergnügt wie zuvor, und als Meister Helmer sagte: „Geh, pflücke für Herrn Severin einen Strauß,“ da lief er eilig im Garten hin und her und pflückte einen ganz kunterbunten lustigen Strauß. Der Gärtner und Herr Severin lachten, als sie ihn sahen, und Herr Severin sagte, dies sei ein so fröhlicher Strauß, wie er noch nie einen gehabt habe. Dann ging er. Er wohnte dicht an dem schönen Garten in einem der alten Stadtmauertürme, und Meister Helmer sagte zu Kasperle, Herr Severin sei ein gar großer Künstler. Wenn er ein Instrument spiele, bekomme es eine Seele. Und von weit her, aus fernen Landen, werde oft nach ihm geschickt, er solle kommen, damit etwa eine Orgel auch eine Seele bekäme.
Das verstand Kasperle nicht recht, aber er wußte nun, daß es Herr Severin gewesen war, der gestern Abend so schön gespielt hatte. Er freute sich schon darauf, die liebliche Musik wieder zu hören. Und wirklich schwebten am Abend die sanften Töne wieder über den blühenden Garten. Die Blumen dufteten, und Kasperle saß lange neben dem alten Gärtner vor dem Hause und hatte alle Angst verloren, es könne ihm jemand etwas Böses antun.
Am nächsten Morgen sagte Meister Helmer: „Kasperle, heute ist Sonnabend, da kommen viele Leute und kaufen Sonntagssträuße. Geh, binde welche, binde sie so bunt und lustig wie gestern den für Herrn Severin.“
Das war eine Lust! Kasperle fing eilends an Blumen zu schneiden, und er band sie so bunt überecks zusammen, daß Meister Helmer lachen mußte, als so Strauß neben Strauß im Brunnenbecken lag. Und wie der Gärtner lachten auch die Leute, die kamen, um Sonntagssträuße zu kaufen. Selbst eine ganz griesgrämige alte Muhme lachte über das ganze Gesicht, als ihr Meister Helmer einen Strauß gab. „So einen Strauß hab’ ich noch nie gesehen,“ rief sie; „ei, da muß man ja lachen, ob man will oder nicht!“
Immer mehr Menschen kamen, alle wollten sie bunte Kasperlesträuße haben, und alle lachten sie über den drolligen Gärtnerburschen, der wie ein Hase im Garten herumhüpfte. Er band Sträuße um Sträuße, endlich sagte der Gärtner, nun sei es genug, sonst blieben keine Blumen mehr übrig. Aber staunend sah er, wie geschickt Kasperle die Blumen gepflückt hatte; es schien, als fehlten gar keine. Da lobte er seinen kleinen Helfer, und als am Abend Herr Severin kam, erzählte er ihm, wie brav Kasperle sei.
Ja, brav war das Kasperle schon, daneben aber doch ein unnützer Schelm! Ein Kasperle muß eben kaspern, und Kinder müssen lachen, wenn sie ein Kasperle sehen. Das ist einmal so! Die Kinder der Nachbarschaft hatten es bald heraus, was Kasperle für ein Schelm war. Die sagten es andern Kindern, und schon nach etlichen Tagen gab es ein großes Gelaufe zu Meister Helmers Garten. Die Kinder standen am Zaun und warteten, und wenn Kasperle in den Garten kam, ertönte gleich ein großes Jubelgeschrei. Dann schnitt Kasperle sein Räubergesicht, schaute wie ein dummer August drein oder machte gar eine Teufelsgrimasse. Meister Helmer mußte dann wohl auch lachen, aber als Herr Severin das einmal sah, warnte er: „Kasperle, Kasperle, du verrätst dich noch!“
Und schon am nächsten Tage wurde es dem Kasperle himmelangst. Ein paar Buben riefen, ihm nämlich zu: „Kasper, kommst du übermorgen mit auf den Jahrmarkt? Da ist ein Kasperlemann, der kann es sicher nicht so fein wie du!“
Kasperle vergaß vor Schreck alles Gesichterschneiden. Wenn das der Kasperlemann war, der ihn überall suchte! Ganz kläglich erzählte er Meister Helmer vom Jahrmarkt; da versprach der ihm, er wolle nachschauen gehen.
Am nächsten Tage gab es viel zu tun, und merkwürdigerweise kamen gar keine Kinder. Kasperle half fleißig, er hopste und sprang vom Garten ins Haus, war mal da, mal dort, und gerade war er wieder drin, als Herr Severin in den Garten kam. Der trug einen großen, schwarzen Kasten auf dem Rücken, ging rasch in das Haus hinein und rief Meister Helmer zu, er möchte ihm flink nachkommen. Innen im Hausflur erwischte er Kasperle, hielt den fest und zog ihn mit in die Stube. Dort setzte Herr Severin seinen Kasten hin, öffnete ihn und sagte: „Flink, flink, Kasperle, geh dahinein!“
Kasperle gehorchte, und klapp! schlug der Deckel hinter ihm zu, und Herr Severin setzte sich auf den Kasten und begann fein und lieblich auf seiner Geige zu spielen. Doch er kam nicht weit. Mit ungeheurem Geschrei rannten viele Kinder in das Haus hinein, ihnen folgte der Kasperlemann und ein paar Wächter, und alle brüllten sie: „Wo ist das Kasperle, wo ist das Kasperle. Wir wollen Kasperle fangen, der Herzog verlangt Kasperle. Wo ist es, wo ist es?“
Ein paar Buben aber tuschelten leise Meister Helmer zu: „Wir helfen ihm, daß er ausreißen kann.“
Meister Helmer schaute sich verdutzt um. „Kasperle war eben hier,“ murmelte er, und Herr Severin nickte und sagte auch: „Er war eben hier.“ Dabei spielte er aber ruhig weiter und erzählte: „Meister Helmer, ich verreise; da, ich habe schon meinen Koffer gepackt. Morgen ganz früh reise ich mit der ersten Post.“
„Das ist ja ganz gleichgültig, ob Sie reisen oder nicht,“ schrie der Kasperlemann grob; „das Kasperle müssen wir finden, es muß hier sein!“
„Wir suchen das Haus ab,“ riefen die Wächter streng und sahen Herrn Severin drohend an. Der nickte freundlich: „Ja, das tun Sie nur! Vergessen Sie aber den Garten nicht!“
„Zuletzt war er ja im Garten,“ sagte Meister Helmer, der das wirklich glaubte. Bei sich dachte er: Hoffentlich hat er schon ausreißen können! Da rasten Kasperlemann, Wächter, Kinder, alle in den Garten. Herr Severin nahm seinen Kasten auf den Rücken, seine Geige unter den Arm und sagte, Meister Helmer solle ihn heute abend doch noch einmal besuchen; dann ging er leise singend aus dem Haus, durchschritt den Garten, und niemand hielt ihn auf.
Alle suchten und suchten, der Kasperlemann kletterte selbst auf die Stadtmauer und überzeugte sich, ob Kasperle wohl da hätte ausreißen können. Und dann liefen Kasperlemann, Wächter und Kinder in das Haus hinein, kein Winkel blieb undurchsucht. Sie schauten sogar ins Salzfaß, in Meister Helmers Kaffeetopf, Kasperle war nirgends zu sehen. Der Kasperlemann schrie und klagte: „Er ist uns entwischt, weil wir alle ins Haus gerannt sind. O wie dumm, dumm, dumm!“
„Wir werden ihn schon fangen!“ trösteten die Wächter. „Ah bah, papperlapapp, ein Kasperle kriegen wir schon!“
Und dann fragten sie den guten Meister Helmer. Der mußte erzählen, wie Kasperle zu ihm gekommen war, und was er getan und gesagt hatte. Dazwischen schrie der Kasperlemann: „Entwischt, entwischt, dumm, dumm, dumm!“ und die Wächter riefen: „Ah bah, papperlapapp, den fangen wir schon!“ Ein paar Buben aber brüllten plötzlich laut: „Ausgerissen, hurra, ausgerissen, hurra!“ Und dann rannten sie auf die Straße und erfüllten die mit ihrem Gelärme. Sie erzählten es jedem, der es hören wollte, der Kasperlemann habe seine Bude aufgestellt für den Jahrmarkt morgen, und dabei habe er ein Kasperle gezeigt, das ganz genau so ausgesehen habe wie der kleine Gärtnerjunge, und er habe dabei gefragt: „Habt ihr schon so einen flinken Kasper gesehen?“ Da hätten sie gerufen: „Meister Helmers Lehrbursche sieht gerade so aus!“ Ja, und so sei es gekommen. Und dann brüllten sie wieder die Straße entlang: „Ausgerissen, hurra! Fein, fein, fein, ausgerissen!“
Der Kasperlemann aber ärgerte sich schwefelgelb. Je mehr die Buben brüllten, desto zorniger wurde er. „Morgen hätte ich Graf sein können,“ schrie er, „wenn dies blitzdumme, vermaledeite Kasperle nicht wieder ausgerissen wäre. Dumm, dumm, dumm!“
Herr Severin hatte inzwischen still den schwarzen Kasten in sein Turmzimmer hinaufgetragen, und oben hatte er Kasperle herausgelassen. Ganz verstriezelt sah der sich um, und Herr Severin hatte ein wenig gelacht und gesagt: „Kasperle, du kleiner dummer Schelm, diesmal wärst du beinahe erwischt worden!“
Ach ja, wirklich beinahe! Kasperle schlug das Herz laut, wenn er an das Gelärme dachte, das sich um ihn herum erhoben hatte.
Nach einer Stunde kam Meister Helmer. Der freute sich herzhaft, als er Kasperle unversehrt wiedersah, und er hätte ihn gern wieder zu sich genommen, aber er stimmte doch Herrn Severin zu, als der sagte: „Kasperle muß fort. Morgen reise ich und nehme ihn mit im schwarzen Kasten. Und nun, Kasperle, spitze deine Ohren: es geht zurück ins Waldhaus. Ich weiß nun, wo es liegt, aber —“
Kasperle hatte gerade vor Freude einen Purzelbaum schlagen wollen, als dies „Aber“ ihn zurückhielt. Ein wenig ängstlich sah er Herrn Severin an, und der sagte ernsthaft: „Ja aber, Kasperle, du mußt arg vernünftig sein, denn wir kommen an allerlei Orte, wo man dich kennt. In Waldrast soll ich nach der Orgel schauen, und — auf Schloß Hirschsprung erwartet mich der Herzog. Da mußt du dann immer im Kasten bleiben und darfst keine dummen Streiche machen. Wirst du das können?“
Kasperle seufzte schwer, doch dann versicherte er treuherzig, er wolle ganz ungeheuer folgsam sein. Ja, und dabei glitzerten seine Äuglein schon wieder sehr lustig, denn der Gedanke, so ungesehen ins Herzogsschloß und nach Waldrast zu kommen, machte ihm großen Spaß. Viel lieber hätte er freilich Rosemarie und das Michele wiedergesehen, und als er an diesem Abend noch mit Herrn Severin zusammensaß, erzählte er dem viel von den beiden, und der sagte: „Nun, wer weiß, vielleicht sehen wir sie noch. Auf einer Reise trifft man oft wunderlich mit den Menschen zusammen!“
Am nächsten Morgen, noch war die Sonne nicht recht aufgegangen, mußte Kasperle in den schwarzen Kasten steigen. Ein wenig eng ging es drin zu, denn Herrn Severins Werkzeug und allerlei mußten auch noch hinein, und Herr Severin meinte, schwer sei das Kasperle schon, als er den Kasten aufhob. Dann ging es hinaus. Im bunten Garten stand Meister Helmer, und da ringsum kein Mensch zu sehen war, durfte Kasperle noch einmal aussteigen und noch einmal flink durch die Gänge laufen. Wie schön war doch der Garten! Kasperle wurde das Herz schwer, als es an das Scheiden von Meister Helmer und seinen vielen Blumen ging. Doch Herr Severin trieb zum Aufbruch, gleich würde die Post vorbeikommen. Und Kasperle kroch wieder in seinen Kasten, und da kam schon mit Traratrara die gelbe Postkutsche angefahren. Der schwarze Kasten wurde oben aufgestellt. Herr Severin stieg in den Wagen, und heidi! fort ging die Reise.
„Lieb Städtchen, ade! Scheiden tut weh,“ blies der Postillion, und rissel, rassel fuhr der Wagen ins Land hinein.
Mittags kamen sie an ein Gasthaus, da hielt der Wagen. Die Gäste stiegen aus, und Herr Severin sagte, er müßte ein Zimmer haben und allein essen, dies halte er immer so. Potzhundert, dachte der Wirt, das ist aber ein Vornehmer! Und er ließ Herrn Severin das Essen in einem besonderen Zimmer auftragen. Da spazierte dann Kasperle aus seinem Kasten heraus, schmauste mit, und nachher wunderte sich der Wirt über den gewaltigen Appetit, den der vornehme Herr gehabt hatte.
Und weiter ging die Fahrt, immer weiter. Endlich kam ein Wirtshaus mit einem feuerroten Ochsen im Wirtshausschild. Da stieg Herr Severin aus und sagte dem Postillion Lebewohl. Der meinte, nun müsse der Herr sich aber gewaltig schleppen, denn Waldrast liege hoch in den Bergen, und der schwarze Kasten sei arg schwer.
„Wird nicht so schlimm sein,“ meinte Herr Severin und schritt am roten Ochsen vorbei auf schmalem Wiesenweg in den Wald hinein. Innen öffnete er den Kasten, und Kasperle durfte nun neben ihm herspazieren. Sie paßten beide freilich sehr auf, ob jemand käme, aber niemand begegnete ihnen auf dem Weg. Herr Severin spielte auf seiner Geige, Kasperle hielt tapfer Schritt, und nach etlichen Stunden kroch er wieder in den schwarzen Kasten, denn die Turmspitze von Waldrast wurde sichtbar.
Kasperle zog in Waldrast ein. Niemand sah ihn, er aber sah durch sein Guckloch allerlei, zuerst die Base Mummeline, die auf der Straße stand und auf ein paar Buben schalt. Und dann sah Kasperle das liebe Schulhaus, er sah Herrn Habermus, der kam, den fremden Künstler zu begrüßen. Kasperle hörte die gute, freundliche Stimme reden, und der Kasten wurde ihm drückend eng. Ganz bitter schwer war es ihm, daß er niemand guten Tag sagen durfte, und als Herr Severin etwas später im Wirtshaus den Kasten öffnete, fand er Kasperle klitschnaß von Tränen.
Herr Severin tröstete gut und linde; er zeigte Kasperle, daß sie dicht neben dem Schulhaus wohnten. Von seinem Fenster aus konnte Kasperle denen drüben in die Stuben sehen, und gerade wollte er das tun, als die Base Mummeline ans Fenster trat. Hei, fuhr da Kasperle zurück! Ganz böse sah er gleich aus, und Herr Severin hob warnend den Finger: „Kasperle, Kasperle, mache keinen dummen Streich!“
Kasperle wollte das bestimmt nicht. Wenn nur die Base Mummeline nicht gewesen wäre! Aber allemal, wenn er ans Fenster trat, immer erschien sie drüben. Kasperle kam gar nicht dazu, die Schullehrerin und ihre Kinder zu sehen, und er hatte doch so große Sehnsucht nach ihnen.
Ja, als er einmal gerade wieder um die Ecke schauen wollte, öffnete drüben die Base die Türe, und sie kam tripp trapp ins Wirtshaus herüber. Die Wirtin war ihre gute Freundin, und Kasperle wußte auch, die war genau so neugierig wie die Base selbst. Er rutschte flink in den Kasten, und nach einem Weilchen kamen auch richtig die beiden Frauen in das Zimmer. Die Base Mummeline sah sich neugierig darin um, und Kasperle hörte sie sagen: „Er hat alles in dem schwarzen Kasten.“
„Den machen wir auf,“ tuschelte die Wirtin, und schon fingerten die beiden Frauen an dem Kasten herum. Nun wußte Kasperle wohl, so leicht bekam den niemand auf, aber ungemütlich war es ihm doch; er dachte: Ich verjage sie. Er steckte den Kopf in sein Rucksäcklein und blies und brummte plötzlich hinein, ganz schauerlich klang es, und die beiden Frauen fielen beinahe um vor Schreck. „Uhuhuuuh!“ tönte es, und die Base Mummeline jammerte: „Er hat den Teufel drin!“
Aber die Wirtin war beherzter. „Das muß ich sehen,“ sagte sie und ging wieder auf den Kasten zu, aber noch war sie nicht dran, als die Türe aufgerissen wurde und Herr Severin ins Zimmer kam. Der hatte schon unten das Uhuhuuuh vernommen. Die beiden Neugierigen erschraken arg, doch die Base Mummeline faßte sich schnell und rief ganz streng: „Ihr habt einen Teufel im Kasten.“
„Ei, nur einen, der es auf Neugierige abgesehen hat!“ sagte Herr Severin lachend. „Nehmt euch in acht, manchmal fährt er auch mit einem lauten Knall heraus.“
„Huch!“ kreischten die Frauen, und rumpel pumpel rasten sie hinaus, die Treppe hinab, und Kasperle platzte bald vor Lachen in seinem Kasten. Herr Severin lachte mit, er sagte aber doch, es sei gut, daß sie morgen schon weiterzögen, Kasperle dürfe die Leute nicht mehr schrecken, es könne ihm doch schlecht bekommen. Und am Abend schloß Herr Severin vorsichtig das Zimmer. Er ging noch in das Lehrerhaus hinüber, und er dachte, das Kasperle einschließen ist schon am sichersten. Aber auch am langweiligsten, dachte Kasperle. Der sah immer wieder geschwinde einmal zum Fenster hinaus, und als draußen alles still geworden war, hockte er sich auf das Fensterbrett und blickte sehnsüchtig nach dem Schulhaus hinüber. Ach, nur einmal hineinsehen hätte er mögen! Gerade vor seinem Fenster stand ein dicker Holzapfelbaum. Wenn er an dem Baum hinabkletterte, dann —. Aber da dachte er an Herrn Severins Verbot, auch lag unten ein Hund, und die Geschichte kam ihm etwas bänglich vor. Aber ein paar unreife Holzäpfel der Base Mummeline ins Zimmer werfen, das ging vielleicht doch; so platsch ins offene Fenster hinein, das wäre doch ganz spaßig!
Die Base wurde immer fuchswild über so etwas. Kasperle kicherte leise vor sich hin, griff in die Äste und pflückte etliche Äpfel. Das Werfen konnte er gut, und so ging es, eins, zwei, drei! wirklich glatt in der Base Stube hinein. Wohin die Äpfel trafen, das sah Kasperle nicht, aber ein arges Zetergeschrei hörte er; es klirrte etwas, und er rutschte erschrocken vom Fensterbrett herab. Drüben hatte er wohl ein Unheil angerichtet.
Der Lärm dauerte eine Weile an, dann wurde es still. Im Schulhaus saß die Base Mummeline im Ofenwinkel und heulte, und alle standen um sie herum und trösteten sie. Auch Herr Severin stand dabei, und der dachte immerzu: Kasperle, du bist ein arger Schelm! Da war die Base in ihr Zimmer gekommen und hatte einen Wasserkrug getragen, und just als sie eben an der Türe stand, kam es, eins, zwei drei! Klirr! ging der Krug in Scherben, bums! flog ein großer Apfel an der Base recht große Nase, klirr! einer in den Spiegel, und da soll man nicht schreien und zetern! Die Base sah Herrn Severin schief an und sagte, der Herr werde schon wissen, woher die Äpfel kämen; mit seinem schwarzen Kasten sei das nicht richtig.
Da tat Herr Severin ganz böse, und er sagte, die Base Mummeline möchte nur kommen, er wolle ihr schon den Inhalt des Kastens weisen. Doch davon wollte die Base nichts wissen, ja, sie lief eiligst in ihr Zimmer und ging sehr geschwinde in ihr Bett. Sie kroch tief unter ihre Decke, aber es flog nun kein Holzapfel mehr in ihre Stube.
Herr Severin aber nahm seine Geige und spielte darauf. Das klang fein und lieblich, und in Waldrast vergaßen sie darüber das Zubettgehen. Sie lauschten dem schönen Spiel und wünschten, der Geiger möchte noch lang im Dorfe bleiben. Doch kaum glitzerten am Morgen die ersten Sonnenstrahlen auf den Spitzen der Berge, da zog Herr Severin mit seinem schwarzen Kasten von dannen.
„Das war ein Schlimmer,“ sagte die Base Mummeline hinter ihm her, „man müßte seinen Kasten untersuchen.“ Aber das glaubte ihr niemand, am wenigsten der Schullehrer und seine Frau. Ja, der gute Herr Habermus fand die Geschichte mit den Holzäpfeln gar nicht wunderbar und gruselich, er sagte: „So etwas und noch mehr bringen auch die Waldraster Buben fertig. Wer weiß, wer es gewesen ist!“
An Kasperle dachte niemand. Der zog inzwischen vergnügt mit Herrn Severin den Weg entlang, den er vor etlichen Wochen in Angst gelaufen war. Im Walde war es still, und niemand begegnete den Wanderern. Sie schliefen auch im Walde und gelangten endlich an des Micheles Hüteplatz. „Michele ist nicht mehr da,“ sagte Kasperle traurig. Aber der Michele war doch da. Der saß vor der Felsspalte und pfiff auf einer Flöte, die er sich selbst gemacht hatte. Seine Geißen weideten vergnügt um ihn herum. Da erhob Kasperle laut seine Stimme, und Michele sah sich um, als erwache er aus einem Traum. Und dann sprang er über Steingeröll und Wurzeln, toller als seine Geißen, er packte Kasperles Hände und drehte den Freund rundum. Er war ganz atemlos vor Freude und konnte erst gar nichts sagen. Kasperle mußte erzählen, und Herr Severin sprach auch ein Wörtlein dazu. So erfuhr Michele alles. Er selbst war geschwinde mit seiner Erzählung fertig, er sagte nur: „Den Geißen schmeckt’s hier besser, darum bin ich heute mal hergezogen.“
„Das hat sich freilich gut getroffen.“ Herr Severin sagte es, während er sacht an seiner Geige herumstimmte; er sah wohl des Micheles sehnsüchtigen Blick.
„Da, nimm und spiel’ mir etwas vor!“ sagte er plötzlich und reichte dem Buben die Geige hin.
Der erschrak ordentlich. Daheim der Schneider-Jakob, der im Dorf zum Tanz aufspielte, der hatte ihn freilich schon manchmal auf seiner Geige spielen lassen. Die sah aber anders aus als die des schönen fremden Herrn. Der Bub wagte kaum, sie recht anzufassen, doch als er sie hielt, kam die Lust zu spielen über ihn, und er strich zart mit dem Bogen darüber hin.
Kasperle machte so große Augen, als er nur konnte, wie Michele spielte. Herr Severin hörte aber still zu, und als Michele verlegen innehielt, sagte er: „Im Herbst, wenn ich heimreise, dann will ich kommen und dich mit mir nehmen. Deiner Mutter will ich für etliche Jahre so viel geben, wie du als Geißenhirt verdienst, du aber sollst bei mir lernen, was ein rechter Geiger braucht. Willst du?“
Hei, ob das Michele wollte! Er und Kasperle machten solche Freudensprünge, daß beinahe die Geißen neidisch wurden, weil sie nicht so hoch hüpfen konnten. Und als Herr Severin und Kasperle weiterzogen, blieb das Michele so glückselig zurück, als säße es mitten auf der schönen Himmelswiese. Geiger sollte er werden, spielen dürfen, was ihm die Bäume vorrauschten und das Bächlein flüsterte! Er dachte: Das verdanke ich Kasperle, allein dem Kasperle! und er ahnte nicht, daß Herr Severin bei Kasperles Erzählung gedacht hatte: Der Bube, der so arm ist und doch ein volles Geldsäcklein zurückweist, von dem niemand etwas ahnt, der gefällt mir. Kann er geigen, dann will ich ihm helfen, ein rechter Künstler zu werden.
Kasperle war purzelvergnügt über des Kameraden Glück. Er wollte vor lauter Freude singen, aber da sagte Herr Severin geschwinde: „Sei still, sei still, sonst fangen die Bäume an zu schelten über dies Geschrei. Flink, krieche lieber in den Kasten, sonst treffen wir gar noch einen Jäger, der dich erkennt!“
Da flitzte Kasperle sehr eilig in seinen Kasten, Herr Severin nahm ihn auf den Rücken, und er war heilfroh, als das Schloß vor ihm auftauchte. So ein richtiges lebendiges Kasperle zu schleppen, war wirklich nicht leicht!
Im Schloß wurde der fremde Künstler wohl empfangen. Nur wunderten sich alle über den großen schwarzen Kasten, den er bei sich hatte. „Darin ist ein seltenes Spielwerk,“ sagte Herr Severin, „das muß ich immer bei mir führen.“ Und er verschloß sorgsam das Zimmer, auch mußte Kasperle noch tief ins Bett schlüpfen, damit ihn ja niemand zu sehen bekam. Das war langweilig; viel lieber hätte er im Schloß etwas herumgegeistert oder zugesehen, wie Herr Severin des Herzogs Spinett eine Seele gab.
Herr Severin saß in dem Saal, ganz allein, das hatte er so gewollt, als sich sacht eine Türe auftat und ein kleines Mädchen hereinkam. Die ging ganz, ganz leise auf den Fußspitzen und lauschte andächtig, als der Künstler spielte. Herr Severin sah sie an und dachte: Sie sieht doch aus wie Rosemarie, von der das Kasperle erzählt hatte! Da ließ er das Spinett singen, und er selbst sang halblaut dazu:
„Rosemarie, du kleine,
Rosemarie, du feine,
Einer hat mir aufgetragen,
Schönes Grüßlein dir zu sagen.
Trallallala, trallallala!
Rosemarie, du kleine,
Rosemarie, du feine,
Sage mir, ob du wohl weißt,
Wie der kleine Schelm doch heißt?“
„Kasperle heißt er!“ klang es lieblich neben ihm. Rosemarie stand am Spinett und sah Herrn Severin mit ihren großen Augen fragend an: „Wo ist Kasperle?“
„Du bist also wirklich Rosemarie,“ sagte Herr Severin. „Kasperle kommt ins Waldhaus zurück, er geht wieder heim.“
Rosemarie lächelte holdselig, und sie tippte mit feinem Fingerlein auf das Spinett, da klang es wie: „Grüße, Grüße, viele Grüße!“
„Ich werd’ es bestellen, und wenn du schweigen kannst, kleine Rosemarie, dann wirst du auch noch einmal das Kasperle sehen.“
Rosemarie sah Herrn Severin ernsthaft an, sie legte ihr Fingerlein fest auf den roten Mund, und dann huschte sie geschwinde aus dem Saal, denn jemand kam, im Nebenzimmer tönten Schritte.
Der Herzog war es. Der wollte hören, ob das Spinett nun schon eine Seele habe, und dann wollte er wissen, was für ein seltenes Spielwerk der Künstler im schwarzen Kasten habe. Der Herr Herzog war nämlich etwas neugierig, und er war ganz verdrießlich, als Herr Severin sagte, dies dürfe er nicht zeigen, dies Spielwerk gehöre nicht ihm, und er habe versprochen, es niemand zu zeigen.
Ich werde es schon sehen! dachte der Herzog und ging brummelnd davon. Herr Severin bekam Angst. Wenn ein Herzog etwas gern will, dann ist das so eine Sache. Wer konnte wissen, ob der nicht seinen Landjägern befahl: „Macht mir den Kasten einmal auf!“ Sorgenvoll ging er durch die vielen Gänge, an vielen geschlossenen Türen vorbei nach seiner Stube, und dabei lief ihm eine schwarze kleine Katze über den Weg. Halt, dachte er, die kommt mir zurecht, und er fing schnell das Kätzchen und nahm es mit.
In seinem Zimmer saß Kasperle verdrießlich wie einer, dem die Pfingstfreude verregnet ist. Sein Gesicht wurde aber gleich hell, als Herr Severin ihm von Rosemarie erzählte. „Gewiß hat der Herzog sie mit ihren Eltern eingeladen,“ sagte Kasperle.
„Ja, mein Kasperle, jetzt könnte dir das auch geschehen sein, wenn du nicht gar so unnütz und neugierig gewesen wärst. Aber nun mußt du in den Kamin kriechen, weit hinauf wie ein Schornsteinfeger.“ Und Herr Severin erzählte Kasperle von des Herzogs Verlangen.
Da bekam aber Kasperle einen Schreck, denn vor dem Herzog hatte er die allergrößte Angst. Er kroch flink in den Kamin, das ging ganz gut, und Herr Severin steckte das schwarze Kätzlein in den Kasten. Kaum waren sie beide fertig, da kam ein Kammerherr, der sagte, er wolle dem fremden Geiger das Schloß zeigen, der Herzog habe es befohlen. Und inzwischen will er in den schwarzen Kasten sehen, dachte Herr Severin und lachte heimlich.
Er hatte recht gehabt. Kaum waren die beiden aus dem Zimmer gegangen, als Kasperle Schritte hörte, Stimmen wurden laut, und er vernahm des Herzogs Befehl: „Öffnet den Kasten!“
Jemine, dachte Kasperle, wie schade, daß ein Kamin kein Guckloch hat! Er wollte versuchen, etwas zu sehen, und gerade war er bis ans Ofenloch gerutscht, als der Kasten aufging und die schwarze Katze fauchend heraussprang. Ritsch, saß sie dem Herzog auf der Schulter, und ehe sie noch jemand fassen konnte, sprang sie zum offenen Fenster hinaus.
„Prschiii!“ Kasperle war Ruß in die Nase gekommen, er mußte laut niesen. „Hazzi, prschiii!“ Und puh! quoll eine dicke, dicke Rußwolke aus dem Kamin, und der Herzog prustete, spuckte, nieste, und dann rannte er aus dem Zimmer, und seine Diener rannten ihm nach. Sie dachten alle, die schwarze Wolke sei aus dem Kasten gekommen, und der Herzog schalt arg, der Künstler sei ein Hexenmeister. Und schämen tat er sich auch.
Herr Severin lachte sehr, als er in seine Stube zurückkehrte und die Bescherung sah. Das Kasperle sah aus wie ein kleiner Schornsteinfeger, er gefiel sich selbst gar nicht. Aber Herr Severin half ihm sich waschen, da wurde er wieder blank und kroch vergnügt in seinen Kasten zurück. Danach ging Herr Severin zum Herzog und sagte, er wolle fort, denn das wunderbare Spielzeug sei nun beinahe kaputt, und der Herzog seufzte sehr und bat Herrn Severin inständig, ihm abends noch etwas vorzuspielen.
Der Geiger versprach das auch, doch bat er, es dürften keine Kinder dabei sein. „Ach,“ rief der Herzog, „die gibt es ja gar nicht im Schloß! Nur die kleine Gräfin Rosemarie ist da, die stört doch nicht.“
„Doch, sie stört, sie muß ins Bett,“ erklärte Herr Severin und tat ganz streng.
Da durfte Rosemarie abends nicht in den Saal kommen, um dem Spiel des fremden Künstlers zu lauschen. Aber alle Dienstboten standen hinter den Türen, und Herr Severin spielte so wundersam, daß der Herzog zu weinen anfing.
Inzwischen aber saß Kasperle selig und vergnügt mit Rosemarie zusammen in einer winzigen Stube neben Herrn Severins Zimmer. Die wurde nie benutzt und war mehr eine Rumpelkammer, aber den beiden gefiel es ausgezeichnet darin. Der gute Herr Severin hatte Rosemarie gesagt, wo sie Kasperle finden würde. Kasperle erzählte Rosemarie alles, was er erlebt hatte, und dazwischen schmauste er Kuchen und Schokolade; dies hatte Rosemarie ihm mitgebracht. Rosemarie graute sich nun nicht mehr vor Kasperle, und als der erzählte, wie er immer wieder hatte fliehen müssen, da weinte sie bittere Tränen. „Du armes, armes Kasperle!“ sagte sie sanft; „wie gut, daß du ins Waldhaus zurückkommst!“ Dann drohte sie aber auch einmal ein wenig und schalt: „Ei, du Unnütz du!“ Und alle, die Kasperle geholfen hatten, die Schullehrersleute, Meister Helmer und vor allem das Michele gewann Rosemarie gleich lieb. Das Michele aber wollte sie sehen. „Der muß auch mein Freund werden,“ sagte sie. „Und wenn er groß ist und so schön spielen kann wie Herr Severin, dann —“ „heiratest du ihn,“ rief Kasperle. Und plötzlich rollten ihm die dicken, dicken Tränen über das Gesicht. „Und ich bin dann immer noch ein Kasperle!“ klagte er.
Doch Rosemarie tröstete ihn. Vielleicht hätte er bis dahin seine Heimatinsel gefunden. „Ich will auch suchen, wenn ich groß bin,“ versprach sie, „und Michele soll suchen, und Herr Severin tut es sicher auch.“
Da war Kasperle schon wieder getröstet. Er stopfte noch den letzten Rest Kuchen in seinen großen Mund, und dann erzählte er noch flink die Geschichte mit den Holzäpfeln. Darüber lachte und lachte Rosemarie, bis Herr Severin kam und sagte: „Ei, flink ins Bett, Rosemarie du feine, es ist schon arg spät!“
„Auf Wiedersehen morgen!“ flüsterte Rosemarie noch, dann huschte sie zum Zimmer hinaus. Es merkte niemand, daß sie noch nicht ins Bett gegangen war. Und nachher träumte sie immerzu von Kasperle, von Michele und von dem schönen, bunten Garten. Doch als sie aufwachte, da war Herr Severin mit seinem schwarzen Kasten weggezogen; Kasperle war fort, Rosemarie konnte ihn nicht mehr sehen.
Herr Severin zog mit Kasperle wieder durch den Wald. Abwärts ging’s, immer tiefer ins Tal hinein, bis sie in einem kleinen Nestlein die gelbe Postkutsche wieder erreichten. „Trara, Trara!“ blies der Postillion, Herr Severin stieg ein, der schwarze Kasten wurde aufgeladen, und fort ging es in die Weite. Kasper schaute aus seinen Gucklöchern sich die Welt an. Da sah er das Schloß, in dem Rosemarie gewohnt hatte, nun kam der Weg, den er mit dem Grafen von Singerlingen gefahren war. Und weiter ging es, immer weiter. Die Postkutsche rollte an einer Schafherde vorbei, ein langer Schäfer bewachte sie; Himmel, das war Damian! Ein Dorf tauchte auf, es war Protzendorf.
„Bis hierher geht es und nicht weiter,“ sagte der Postillion. „Ja, die Protzendorfer sind fein geworden, zu denen fährt jetzt die Post.“ Da wurde der schwarze Kasten wieder abgeladen, und Kasperle sah durch sein Guckloch die Protzendorfer Kinder den Postwagen umstehen. Seine einstigen Freunde Windgustel und Wassergustel stießen sich bald die Nasen daran. Und die Protzendorfer waren alle miteinander, der Gastwirt voran, arg enttäuscht, daß der fremde Herr nicht bleiben wollte. Sie meinten nämlich, in ihrem Dorf, in dem die Säulein alle auf der Straße herumliefen, müßte es jedem gefallen. Herr Severin aber dachte bei sich: Lieber nicht, dem Kasperle ist halt nicht zu trauen, und das wäre doch übel, wenn man ihn so kurz vor dem Ziel erwischen würde. Also nahm er seinen schwarzen Kasten und wanderte weiter, und Kasperle konnte weder Florian einen Schabernack spielen, noch seine einstigen Freunde begrüßen.
Es gab von Protzendorf nach dem Waldhaus einen Fußweg, der führte durch den dichtesten Wald und war wenig begangen. Ihn schlug Herr Severin ein. Kasperle durfte den Kasten verlassen, und beide wanderten fröhlich dem Waldhaus zu. Kasperle sprang wie ein Eichkätzchen, und Herr Severin strich die Fiedel dazu; wie Vogelzwitschern klang es, wie der Gesang der Nachtigall.
Und wie sie beide so dahingingen, sagte auf einmal eine liebe, warme Stimme: „Ach lieber Gott, das ist ja Kasperle!“ Ganz tief im Grünen, unter einer uralten Tanne, saß Liebetraut, und neben ihr weidete ein Reh. Herr Severin blieb stehen, Kasperle aber stürzte mit einem so lauten Jubellaut Liebetraut zu, daß das Reh eilends entfloh. „O Kasperle, du liebes, schlimmes Kasperle!“ sagte Liebetraut, „wo kommst du her?“
„Nicht böse sein!“ bettelte Kasperle und huschelte sich an Liebetraut an. Das schöne Mädchen lächelte, sie streichelte des Kasperles Strubelkopf und sagte froh: „Nur gut, daß du wieder da bist, du Schelm, du Ausreißer, du mein kleiner Liebling du!“
Und nun erzählte Kasperle, wie es ihm ergangen war, und Liebetraut lachte und weinte; dann sagte sie, der Kasperlemann sei schon zweimal dagewesen und habe gefragt, ob das Kasperle noch nicht zurück sei. Doch könne er hier nichts machen, gerade das Waldhaus liege an der Grenze, und der Fürst dieses Landes und der Herzog, die seien nicht gut Freund mitsammen. Hier dürfe ihn drum der Herzog nicht mehr fangen, aber in Protzendorf wohne jetzt ein Landjäger, um aufzupassen, und Florian und Damian hätten gesagt, wenn sie Kasperle fingen, würde es ihm übel ergehen.
„Komm,“ bettelte Kasperle ängstlich, „wir wollen ins Waldhaus!“
Liebetraut stand auf, und alle drei schritten sie dem Waldhaus zu. „Jetzt kommt gleich die Grenze,“ sagte Liebetraut; „Kasperle, schlupf’ flink in den Kasten, mir wird so bange! Manchmal steht ein Landjäger an der Grenze.“
Da kroch Kasperle in den Kasten, und kaum hatte den Herr Severin wieder zugeklappt, da trat wirklich ein Landjäger aus dem Gebüsch. „Halt!“ schrie der, „ich muß alles untersuchen, ob hier nicht jemand ein Kasperle über die Grenze trägt.“
Herr Severin begann auf seiner Geige zu spielen, wundersam klang es, dazu sagte er: „Ich komme von des Herzogs Jagdschloß, aber der Herzog hat mir kein Kasperle geschenkt.“ Darüber mußte der Landjäger lachen, und weil er auch dachte: So ein feiner Mann, der so schön spielen kann, was hat der mit einem Kasperle zu schaffen! ließ er Herrn Severin und Liebetraut ziehen. „Dies vermaledeite Kasperle!“ schalt er; „seit Wochen suchen wir danach, mal ist es da, mal ist es dort, und nie fängt man es.“
„Ja, ja, es ist wohl ein schlimmer Schelm, paßt nur gut auf, daß es Euch nicht an der Nase vorbeiläuft!“ sagte Herr Severin lustig.
„Mir nicht!“ schrie der Landjäger; „ha, ich bin ein ganz Schlauer, mir entwischt das Kasperle nicht!“
Herr Severin fing rasch wieder an auf seiner Geige zu spielen. Diesmal war es ein heiteres Stücklein, das sollte das Lachen übertönen, das aus dem schwarzen Kasten klang. Kasperle wollte nicht lachen, er konnte aber nicht an sich halten. Er kicherte immerzu, und der Landjäger rief Herrn Severin noch nach: „Ei, Herr, Ihr könnt aber fein spielen, es ist ja beinahe, als lache Eure Geige!“
„Paßt auf, daß Kasperle Euch nicht entwischt!“ rief Herr Severin noch, und da lachte auch Liebetraut. Lachend schritten sie weiter, und auf einmal tauchte das Waldhaus vor ihnen auf. Nun ließ Herr Severin das Kasperle wieder aus dem schwarzen Kasten heraus. Da tat der einen lauten Freudenruf. Vor ihm lag das Waldhaus, ganz umblüht von einem sommerbunten Garten. Seine Fenster standen offen, und an einem der offenen Fenster saß Meister Friedolin und schnitzte. Kasperle rannte mit lautem Jubelgeschrei auf das Haus zu, und dem Meister Friedolin entfiel sein Schnitzmesser vor Staunen. Je, was war denn das!
Kasperle war wieder da, das Kasperle!
Mutter Annettchen kam herbei, sie hielt die Bratpfanne in der Hand, so schnell war sie vom Abendessenkochen weggelaufen.
Und Kasperle mußte erzählen immerzu, und dazwischen mußte er essen, und Herr Severin wurde genötigt, als Gast im Waldhaus zu bleiben. Er bekam das allerschönste Zimmer im Oberstock. Da schaute ihm der Wald in die Stube hinein, und Herr Severin spielte darin bis spät in die Nacht so wunderschön, daß Liebetraut auf ihrem Bette saß und vor Freude weinte.
Kasperle aber schlief fest und traumlos. Und als er am nächsten Morgen aufwachte, stand Liebetraut an seinem Bette, die lachte ihn an und sagte: „Kasperle, weißt du es denn, du bist wieder daheim, bist im Waldhaus!“
Kasperle sprang mit einem Satz aus dem Bett. Im Waldhaus, daheim! Nun wurde er nicht mehr verfolgt, brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Wie herrlich das war!
Herrn Severin gefiel es so gut im Waldhaus wie dem Kasperle. Er mußte freilich nach einigen Wochen wieder in die Weite ziehen, mußte spielen vor fremden Leuten und mußte Instrumenten eine Seele geben. Aber er wollte wiederkommen, und dann wollte Liebetraut seine liebe Frau werden, und sie wollten alle mitsammen im Waldhaus wohnen. Auch das Michele, denn Herr Severin sagte, sein Versprechen müsse er halten. Ach, das Michele!
Kasperle kugelte sich im Wald herum vor Freude, wenn er daran dachte, daß Michele kommen würde. Dann war er nicht mehr allein, dann hatte er einen lieben, lieben Kameraden.
„Denkst du noch an das Fortlaufen?“ fragte ihn Liebetraut manchmal. Da schüttelte er immer heftig den Kopf und schrie: „Nein, nein, nein, ich will immer, immer im Waldhaus bleiben!“
Er hütete sich auch wohl, im Wald über die Grenze zu laufen, und als nach etlichen Wochen der Kasperlemann wieder erschien, da kroch Kasperle in das Bett und zog sich die Decke tief über die Ohren. Aber der Kasperlemann merkte doch, daß Kasperle wieder daheim war; er schnüffelte im Hause herum, doch Liebetraut hatte Kasperles Kämmerlein abgeschlossen und trug den Schlüssel in ihrer Tasche. Da mußte der Kasperlemann abziehen, und Kasperle blieb im Waldhaus. Er ließ sich auch nicht verlocken, als ein paar Tage später ein Handelsmann erschien, der ihm wunderschöne Dinge versprach und ihn bat, er solle ihm nur ein Stück seinen Kasten tragen. O nein, Kasperle war draußen in der Welt gescheit geworden, der ließ sich nicht fangen! Und der Herr Herzog konnte sich so viel ärgern, soviel er wollte, Kasperle bekam er doch nicht.
Im Winter kam dann Herr Severin wieder. Im Waldhaus gab es eine stille, fröhliche Hochzeit. Und dann, nach einigen Wochen, kam ein Gast; der gute Herr Habermus war es, der brachte das Michele mit. Da gab es ein frohes Wiedersehen, und als Herr Habermus nach etlichen Tagen wieder heimreiste, sagte er: „Kasperle, du warst zwar ein schlimmer Schüler, aber ich hätte dich doch gern wieder in meiner Schule sitzen. Freilich, im Waldhaus hast du es am allerbesten.“
Und das war wahr. Nirgends, fand Kasperle, sei es so schön wie im Waldhaus; nur vielleicht auf der Kasperleinsel war es noch schöner. Doch niemand wußte, wo die lag, niemand kannte des Kasperles eigentliche Heimat.
Die ferneren
Schicksale und Abenteuer
Kasperles und seiner Freunde
Rosemarie und Michele finden die Leser in
den Bänden „Kasperle auf Burg Himmelhoch“ und „Kasperls
Abenteuer in der Stadt“ erzählt (Verlag Levy & Müller, Stuttgart).
End of the Project Gutenberg EBook of Kasperle auf Reisen, by Josephine Siebe *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK KASPERLE AUF REISEN *** ***** This file should be named 36813-h.htm or 36813-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/3/6/8/1/36813/ Produced by Jens Sadowski Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. 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