The Project Gutenberg EBook of Der Mensch ist gut, by Leonhard Frank

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Title: Der Mensch ist gut

Author: Leonhard Frank

Release Date: February 5, 2011 [EBook #35176]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MENSCH IST GUT ***




Produced by Jens Sadowski





Leonhard Frank

Der Mensch ist gut

 

 

 

 

 

 

 

 

Sechstes bis fünfzehntes Tausend

Max Rascher, Verlag, Zürich, 1918

 

 

 

 

 

 

 

Copyright 1918 by Max Rascher, Verlag, Zürich

 

 

 

 

 

Den kommenden Generationen

 

 

 

 

 

Geschrieben 1916 bis Frühling 1917

Inhalt

Der Vater

Die Kriegswitwe

Die Mutter

Das Liebespaar

Die Kriegskrüppel

I
Der Vater

Ihr Otterngezüchte, wer hat denn euch gewiesen,
daß ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet?

Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt.
Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt,
wird abgehauen und ins Feuer geworfen.

Ev. Matth. Kap. III

Robert war Servierkellner in einem deutschen Hotelrestaurant. Gewöhnlich. Blond. Und wenn er, in devoter Verbeugung erstarrt, vor dem Gaste stand und eine Bestellung entgegennahm, kroch der Gedanke durch sein Gehirn: jeder andere Beruf verträgt sich eher mit der Menschenwürde.

Auf ihn wirkte das hingeschobene Trinkgeld wie eine Ohrfeige, für die man sich bedanken mußte. Und wenn das Trinkgeld von einem Gaste kam, der ärmer als der Empfangende war, stieg in Roberts verletzter Menschenwürde sichtbar die Verachtung empor, steigerte sich manchmal zu Rachsucht und Frechheit. Es kam vor, daß Robert solch einem Gaste das Trinkgeld zurückschob. Vornehmen Gästen Kredit zu gewähren, war ihm eine Erlösung.

Im Jahre 1894 bekam seine Frau den lange vergeblich erwarteten Sohn. Und Roberts Liebe stürzte sich auf dieses Kind. Das bekam alles: ein Kinderzimmer, sterilisierte Kindermilch, einen federnden Kinderwagen, einen weißlackierten Stall. Hampelmänner. Später Dampfmaschinchen, Eisenbahnen, Luftballons, Trommeln, Säbel, Schießgewehrchen. Bleisoldaten. Später ein Spazierstöckchen, einen Matrosenanzug mit einer Mütze, auf der stand „S. M. S. Hohenzollern“, einen rindsledernen Bücherranzen, eine Rechenmaschine mit roten und weißen Kugeln, einen polierten Griffelkasten.

Der Sohn bekam Geigenstunden, mußte Klavierspielen lernen. Und durfte das Gymnasium besuchen. Er sollte studieren. Nicht Kellner werden. Schon mit zehn Jahren besaß der Sohn ein Fahrrad. Und gehörte mit zwölf Jahren der patriotischen Jugendvereinigung an.

Roberts Dasein erschöpfte sich im Dasein des Sohnes. Und der Satz: jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, war ihm zur Weltanschauung geworden. Robert flog, die Bestellungen auszuführen, verbeugte sich, dankte fürs Trinkgeld, verbeugte sich, dankte, sparte, scharrte zusammen, rechnete, strebte, wurde Zimmerkellner, dann Oberkellner, wies heimlichen Liebespärchen stille Zimmer an für ein paar Stunden, drückte Augen zu, sank in einen Abgrund der Liebe für seinen Sohn, schickte ihn auf die Universität, bekam graue Haare, war selig im Dienen, selig in seinem Sohne, besaß hundert Photographien von ihm, hatte die Kinderkleidchen aufgehoben, das Spielzeug: die Säbelchen, die Gewehrchen, die Bleisoldaten. Das Mützchen, auf dem stand „S. M. S. Hohenzollern“.

Der Sohn war zwanzig Jahre alt. Er bekam die Einberufung an einem Dienstag, bekam ein halbes Jahr später das Eiserne Kreuz.

Und im Sommer 1916 bekam Robert die Nachricht, daß sein Sohn gefallen war. Auf dem Felde der Ehre.

Eine Welt war erschlagen.

Der Erschlagene las immer wieder: „Gefallen auf dem Felde der Ehre.“ Den Zettel trug er bei sich in der Brieftasche, zwischen den Banknoten. Er las ihn, wenn ein Fremder kam und ein Zimmer verlangte, wenn er an der Billardecke stand und Bestellungen erwartete, wenn er, von der Glocke gerufen, durch den langen Gang lief, las ihn, bevor er das Zimmer betrat, und nachdem er, die bezahlte Rechnung und das Trinkgeld in der Hand, das Zimmer wieder verlassen hatte. Er las ihn in der Küche, im Weinkeller, auf dem Klosett. „Gefallen auf dem Felde der Ehre.“ Ehre. Das war ein Wort und bestand aus vier Buchstaben. Vier Buchstaben, die zusammen eine Lüge bildeten von solch höllischer Macht, daß ein ganzes Volk an diese vier Buchstaben angespannt und von sich selbst in ungeheuerlichstes Leid hineingezogen hatte werden können.

Das Feld der Ehre war nicht sichtbar, nicht vorstellbar, war Robert nicht begreifbar. Das war kein Feld, kein Acker, war keine Fläche, war nicht Nebel und nicht Luft. Es war das absolute Nichts. Und daran sollte er sich halten. Sein ganzes Leben lang. Hinter ihm lag nichts, und vor ihm lag nichts. Robert stand in der Mitte auf dem Nichts.

Seine Hände servierten, quittierten, empfingen Trinkgelder. Wofür? Es gab keine Banknoten mehr. Und sein Sparkassenbuch war für ihn das Feld der Ehre. Und das Feld der Ehre war nicht begreifbar.

Robert gab die besten Zimmer auf Wunsch um die Hälfte des festgesetzten Preises ab, gab noch einen Salon dazu, ein Badezimmer. Wurde zum Servierkellner degradiert. Gab im Restaurant ohne Widerstreben die teueren Speisen und Weine billiger ab, wenn den Gästen die Rechnung zu hoch erschien. Wurde daraufhin nur noch zur Mithilfe herangezogen, wenn im großen Hotelsaal ein Fest, eine Versammlung war.

Gab es etwas Gleichgültigeres, als aus der Lebensstellung verdrängt worden zu sein? Das alles war nur das Feld der Ehre. War ein absolutes Nichts.

Oft fand er sich in seines Sohnes Zimmer, wohin er während des Krieges die Photographien, Kinderkleidchen, Säbelchen, Trommelchen, Gewehrchen, Bleisoldaten zusammengetragen hatte, und empfand nichts beim Betrachten dieser vergilbten und verkratzten Überbleibsel, ging, automatisch wie er eingetreten war, wieder hinaus.

Dieser Zustand, in dem Robert sich nur noch wie eine Maschine bewegte, dauerte wochenlang, bis eines Tages der Mensch in ihm die Kraft fand, sich dem Schmerze zu stellen. Seiner Hand entfiel die Photographie des Söhnchens — in Infanterieuniform, mit präsentiertem Gewehrchen —, und Robert sauste, von einem Dampfhammerschlag getroffen, hinunter in den Abgrund, das Herz bloßgelegt dem Schmerze und der Liebe. Robert schrie. Nur einmal. Und ganz kurz.

Von etwas Unnennbarem berührt, wich er der Erlösung, die im Schmerze liegt, aus.

Und als seine Frau ihn trösten wollte mit den Worten, die sie von dem unter dem gleichen Leide stehenden Kolonialwarenhändler, Bäcker, von der Nachbarin übernommen hatte: jetzt müsse man sich halt damit abfinden, schrak sie zurück vor Roberts gefährlich blickenden Augen und schwieg fernerhin.

Auch Robert schwieg, tat die Arbeit, die man ihm zuwies. Und da man ihn, der wiederholt Gäste fortlaufen ließ, ohne daß sie bezahlt hatten, nur noch als Wasserträger im Hotelcafé verwenden wollte, erklärte er sich auch hierzu bereit.

Robert wußte, daß etwas geschehen werde. Deshalb ertrug er weiter diese gefährliche Ruhe. Denn wie konnte es möglich sein, daß nichts geschah durch ihn, der nichts mehr verlieren konnte, da er schon alles verloren hatte? Der von einer dünnen Kellnerhaut überzogen war, unter welcher der Mensch schrie, entsetzlich lautlos der Schmerz, die Liebe schrien? Durch den geringsten Anlaß konnte die Haut zerspringen. Dann stieg der Schrei.

Die Kindergewehrchen und Säbelchen hatte er, sich aus den Augen, hinüber ins Hotel getragen und hinter das Klavier gesteckt. Denn wenn er dieses Spielzeug nur anblickte, brannte ihn die Schuld. Aber wenn er einen mit dem Kriegsorden verzierten Leutnant bediente, zitterten seine Hände nicht.

Und als eines Tages ein patriotischer Jugendverein — halbwüchsige Jungen unter Gewehr — die Straße herauf und am Hotel vorbei das Lied trug: „Kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad’ . . .“, fraß sich das Schuldbewußtsein glühend in Robert hinein. Denn auch er hatte seinen Sohn solche Lieder gelehrt und lehren lassen und voll Vaterstolz ihm zugehört.

In wilder Spannung stand er unterm Hotelportal und fühlte, daß sein Sprung auf die vorbeimarschierenden, schlechtberatenen Jünglinge ein Sprung in die Luft sein würde. Denn hinter den Jünglingen und hinter dem Kampfliede stand etwas, das nicht zu begreifen war: ein unsichtbarer, unkörperlicher Gegner. Gott hielt ihn zurück vor dem Sprunge. Gott hob ihn auf für die Minute, da der Feind greifbar werden würde, fühlte Robert.

Und eines Tages hatte er den Feind, der im Menschen selbst und nicht außer ihm ist, so scharf erkannt, daß seine Augen die eines schuldbewußten Mörders wurden. Da geschah es, daß Tränen wilden Zornes ihm hinter die Augen traten, wenn er ein Mädchen sah, das ihren Bräutigam, eine Frau, die ihren Mann, ein Elternpaar, das seinen Sohn verloren hatte und doch lächeln und wie immer das Glas Bier bestellen konnte.

Einer Mutter, der ihre Stütze fürs Alter, ihre Hoffnung, der Zentralpunkt all ihrer Liebe — ihr einziger Sohn zerstampft worden war auf dem Felde der Ehre, und die zu Robert sagte, ‚jetzt muß man sich halt damit abfinden‘, griff er wild an den Hals.

Gott strich über des Kellners Hände und legte dessen plötzlich von Liebe durchbebten Finger der Mutter sanft auf die Schulter. Denn nicht die Frau war schuld, nicht sie war der Feind und nicht ihre Worte, sondern das, was hinter den Worten stand. Und das war etwas, das nicht da war. Es war das Nichtvorhandensein der Liebe.

Das mörderische Schuldbewußtsein brannte die kleine Vaterliebe weg, so daß das Urgefühl der großen Liebe aufstehen konnte in ihm.

In tiefster Demut, in deren Mittelpunkt die unversiegbare Kraft der Liebe stand, verrichtete er die Arbeit des Pikkolos, trug den Gästen Wasser zu, spülte Gläser aus, ging, als die Glocke ihn rief, in den großen Hotelsaal.

Schlosser, Maurer, Schreiner, Spengler, Tapezierer, Glaser — zerarbeitete Männer, die haarigen, abschreckend häßlichen Tieren mit Menschenaugen glichen — füllten den großen Hotelsaal: die Bauarbeitervereinigung hielt ihre Jahresversammlung ab.

Robert brachte dem Redner, der auf dem Podium stand, eine Flasche voll Wasser und hörte, ans Klavier gelehnt, hinter dem die Säbelchen und Schießgewehre steckten, dem Redner zu.

Der erklärte, daß Unterstützungsgelder an arbeitslose und kranke Mitglieder dieses Jahr nicht ausbezahlt werden könnten. Denn es seien so gut wie keine Beiträge eingelaufen. Zudem habe man den Mitgliedern, die im Felde standen — und die gingen allen andern vor —, fortlaufend Unterstützungsgelder geschickt. „Die Reserven sind aufgebraucht. Die Kasse ist leer.“

Siebenhundert Augenpaare von siebenhundert dumpf schweigenden Menschen blickten ratlos auf den Redner. Die Frauen, deren Küchentöpfe leer waren, und die Frauen, deren Männer im Felde standen oder schon gefallen waren, hatten rotgefleckte Wangen bekommen. Die Eisenplatte, die seit zwei Jahren über ganz Europa lag, lag sichtbar auch auf diesen siebenhundert in Leid und Not verkrampften Lasttieren.

Ein kleiner junge hatte das Kinderschießgewehr hinterm Klavier, das auf dem Podium stand, hervorgezogen und zielte, den Schaft an der grauen Backe, hinunter auf die siebenhundert reglosen Männer und Frauen. Alle blickten auf das Loch des Rohrlaufes aus Weißblech.

Und draußen standen, den Gewehrschaft an der Backe, in Schuld und Sünde Millionen Menschen gegenüber Millionen Menschen, die in Schuld und Sünde standen.

Da tat Robert den Sprung. Es war ein ganz langsamer Sprung. Er ging traumwandlerisch sicher auf den jungen zu, nahm ihm das Spielzeug von der Backe weg und trat vor, bis an den Rand des Podiums.

Und während der Redner Wasser trank und seine Abrechnungslisten zurechtlegte, sagte Robert:

„Das hier ist ein Schießgewehr. Das habe ich . . . ich selbst habe das meinem jungen gekauft. Damit hat er gespielt. Damit hat er sich unmerklich die Liebe aus seinem Herzen hinausgespielt. Damit hat er schießen gelernt. Ich habe ihn das Schießen, habe ihn das Morden gelehrt. Mein Sohn ist gefallen. Er ist tot. Ich bin sein Mörder . . . Vaterstolz, Ruhmsucht, Gedankenlosigkeit und Gewohnheit haben mich zum Mörder werden lassen. Und doch habe ich nur getan, was auch ihr getan habt. Auch von euch hat mancher seinen Sohn . . . verloren.“

Robert hieb das Gewehrchen gegen die Knie und legte die zwei Stücke ruhig zu seinen Füßen nieder. „Das hätte ich vor fünfzehn Jahren tun müssen . . . Habt ihr es getan? . . . Also seid auch ihr Mörder.

Unsere Männer und unsere Söhne erschießen Männer und Söhne. Und jene Männer und Söhne erschießen unsere Männer und Söhne. Und jeder Daheimgebliebene hofft: mein Mann, mein Sohn kommt zurück; mögen die anderen fallen und sterben.

Solches kann nur ein Wahnsinniger wünschen . . . Ich frage euch: Ist der kein Mörder, der ein unschuldiges Kind so erzieht, daß es erst zum Mörder werden muß, bevor es selbst ermordet wird? Wird der so erzogene Unschuldige, wenn er einen gleichfalls schlechtberatenen Unschuldigen erschießt, nicht zum Mörder? Es gibt heute in Europa keinen Menschen mehr, der nicht ein Mörder wäre! . . . Wir sind verblendet und Mörder, weil wir den Gegner außer uns suchen und zu finden glaubten. Nicht der Engländer, Franzose, Russe und für diese nicht der Deutsche, sondern in uns selbst ist der Feind. Und wir sehen deshalb in anderen Menschen den Feind, weil der tatsächliche Feind etwas ist, das nicht da ist. Das Nichtvorhandensein der Liebe ist der Feind und die Ursache aller Kriege. Ganz Europa weint, weil ganz Europa nicht mehr lieben kann. Ganz Europa ist wahnsinnig, weil es nicht lieben kann.

Oder ist es nicht Wahnsinn, wenn ihr euch freut über die Notiz: zweitausend französische Leichen lagen vor unserer Linie? Ist die Einwohnerschaft von Paris nicht wahnsinnig, wenn sie sich freut über die Notiz: zweitausend deutsche Leichen lagen vor unserer Linie?

Wir schreien vor Schmerz, oder die Augen bleiben trocken vor Schmerz, wenn unser Sohn fällt. Solange wir nicht ebenso vor Schmerz schreien, wenn ein Franzose fällt, lieben wir nicht. Solange wir nicht fühlen: ein Mensch, der uns nichts getan hat, fiel und starb, solange sind wir Wahnsinnige. Denn dieser Mensch, der fiel und starb, hatte eine Mutter, einen Vater, eine Frau, die vor Schmerz schreien. War ein Mensch. Wollte so gerne leben! Und mußte sterben. Wofür? Warum? Wir, seine Mörder, ließen ihn sterben, weil wir nicht lieben.“

Robert machte während des Sprechens ganz kleine Bewegungen mit der Hand, daß die weiße Serviette baumelte. Es war so schwer, auch den anderen mitzuteilen, was man selbst fühlte und erkannt hatte. Und dabei war das Ganze doch so einfach, so selbstverständlich. Aber die Menschen hatten sich von der Selbstverständlichkeit weggestellt. Sie hatten die Liebe einfach vergessen, wie man seinen Schirm stehenläßt.

„Man braucht ja nur zu lieben, dann fällt kein Schuß mehr. Dann ist der Friede da. Kinder sind wir dann auf unserer Erde . . . Der ganze Erdteil weint. Daran merkt man doch, daß der Erdteil fähig ist zur Liebe. Ganz hoffnungslos wäre erst dann alles, wenn Europa lachen würde, weil ganz Europa blutet. Aber es gibt kein Haus in Europa, in dem nicht die Tränen fließen. Das ist die Liebe, die aus den Menschenaugen heraus weint, weil sie vertrieben worden ist aus den Herzen der Menschen.

Was tut ihr, wenn jetzt im Augenblick ein euch fremder Mensch in diesen Saal hereintritt und einem von euch, den er nie gesehen hat, das Bajonett in den Leib stößt? Ihr würdet den Wahnsinnigen nicht begreifen. Genau dasselbe tun eure Männer und Söhne; auch sie stoßen Männern und Söhnen, die sie nie gesehen haben, das Bajonett in den Leib, daß der Durchstoßene aufschreit, sich krümmt und fällt. Was hat er eurem Sohne getan? Und was hat euer Sohn dem getan, der ihm das Bajonett in den Leib stieß? . . . Habt ihr euch schon einmal vorgestellt, auf welche Weise euer junger Sohn, der so gerne, ach so gerne noch hätte leben mögen, sterben mußte? . . . Mädchen, vergegenwärtige dir den letzten Blick deines Bräutigams, der verwundet, dürstend sechs Stunden lang in der Sommerhitze im Stacheldraht hing. Stelle dir seinen letzten furchtbar langen Blick vor.“

„Frau“, sagte Robert zu einer Erbleichenden, leise, daß es alle siebenhundert hörten, „was hat dein Mann, den du liebst, der dir Brot und Kinder gab, dem getan, der ihm das Bajonett in den Leib stieß?“

Die Frau wimmerte, ihr Kopf sank dem neben ihr Sitzenden auf die Schulter.

„Die Menschen sind wahnsinnig, wirklich und wahrhaftig wahnsinnig, weil sie die Liebe vergessen haben. Und weil sie die Liebe vergessen haben, glauben sie, es müsse alles so sein, wie es ist . . . Unser Volk, wie wir es sehen, besteht nur noch aus Krüppeln und elend aussehenden Kindern, Frauen und Greisen. Wenn man jetzt noch die Arme und Beine, die losgetrennten Körperteile, die Millionen zerrissener Leichen, unter denen auch eure Söhne und Männer sind, von den Schlachtfeldern holen und auf eure Straßen werfen würde, euch vor die Augen, würdet ihr auch dann noch sagen: man muß sich halt damit abfinden? Oder würdet ihr endlich bereit sein zum Lieben, was auch dabei herauskomme? Würdet ihr dann endlich sagen: ich will nicht leben, wenn ich nicht lieben darf? Würdet ihr einsehen, daß diejenigen, die euch das Lieben verbieten, Feinde sind? Feinde des Menschen! Volksfeinde! Seht ihr nicht die Berge zerrissener Menschenleiber? Sie liegen vor euren Augen, liegen auf euren Straßen, daß kein Wagen mehr fahren kann und ihr keinen Schritt mehr machen könnt. Eure Söhne! Eure Söhne! Eure Männer! Väter! Blutig! Zerrissen! Unkenntlich!“

Ein Schrei stieg aus der Saalmitte empor. Hinten, beim Saaleingang, erklang ein tierisches Stöhnen. Einem alten Manne fiel die Stirn in die Hand. Ein Mädchen verließ die Stuhlreihen; sie hatte große Augen bekommen und stürzte in die Knie.

„Wir dürfen uns nicht länger belügen und sagen: nur der Zar, der Kaiser, der Engländer ist schuld.“ Robert legte langsam die Hand mit der Serviette an die Brust: „Ich bin schuld. Und du bist schuld. Und du und du . . . Denn auch wir hatten, ebenso wie der Zar, der Engländer, der Kaiser, der Millionär und der Milliardär, die Liebe vergessen. Nehmt die Schuld auf euch, damit ihr der Liebe wieder teilhaftig werden könnt. Denn nur wer hier sich schuldig fühlt, kann entsündigt werden und wieder lieben.

Und jetzt wisset: die Liebe trägt in sich ein hartes Gebot. Die Liebe sagt: wer nicht liebt, ist schuldig und böse und soll weichen, damit der Liebe auf Erden keine Schranken mehr gesetzt werden können. Wir wollen fallen und sterben dafür, daß der Liebe die Regierung Europas übergeben werde.“

Die Menschengesichter unten im Saale waren aufgelöst.

Weitersprechend stieg Robert vom Podium herunter. Alle waren aufgestanden, drängten ihm nach.

„Das Gebot der Liebe ist: wer sich nicht schuldig fühlt, die Schuld nicht auf sich nimmt, liebt nicht, ist unser Feind und muß weichen. Das ist Gesetz. Neues Gesetz! Ihr, die ihr nichts mehr verlieren könnt, da ihr alles schon verloren habt . . .“

Roberts Worte gingen unter in den hundertstimmig wiederholten Worten: „Alles verloren! Wir haben nichts mehr zu verlieren! Wir, die wir nichts mehr zu verlieren haben . . . Nichts! Nichts!“

Die Nachricht hatte sich schon verbreitet, als sie durch die Straßen zogen. Voran der Kellner, ohne Hut, im schmierigen Smoking, die Serviette in der Hand. „Die wollen Frieden machen. Die wollen Frieden machen.“

Verkäuferinnen — verwaiste Bräute — verließen den Ladentisch und schlossen sich an. Zwei Schaufensterreiniger, alte Männer, ließen die Leiter stehen und schlossen sich an. Der Wagenführer der Elektrischen hörte das Wort „Friede“, erstarrte und sprang vom Wagen herunter, schloß sich an. Die Fahrgäste schlossen sich an. In wenigen Minuten hatte sich die Menge verdreifacht. Und verzehnfachte sich, als Robert, auf dem Platze angelangt, auf der Brunnenschale stand und sprach. Sein Mund zeichnete den letzten Satz in weithin sichtbaren Buchstaben an den Himmel: „Es ist schon die Axt an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“

Eine junge Frau stand da und tat nichts als lächeln und „Friede“ sagen. Reisende, die vom Bahnhof kamen, vergaßen alles und schlossen sich an, als die Menge weiterzog. Flammend. Schnell. Entzündet vom Glauben. Eine Schar Urlauber, feldmarschmäßig ausgerüstet, das Gewehr quer über dem Rücken und das Grauen des Schlachtfeldes in den Augen, schloß sich an. Alte Mütterchen kamen kaum mit. Kinder bekamen schmale Gesichter vor Staunen und ahnten das Große. Ein alter Polizeiwachtmeister mit grauem Spitzbart, das Trauerband am rechten Arme, bekam fanatische Augen und schloß sich an. Menschen, die dem Zuge entgegenkamen, machten kehrt, vom Feuer ergriffen. Radfahrer sausten durch die Straßen. „Die wollen Frieden machen!“ Die Wirtshäuser entleerten sich. Werkstätten, Baustellen entleerten sich. Transmissionen standen still. Eine Abteilung Soldaten unter Gewehr wurde mitgerissen. Gesänge der Liebe ertönten im Marschtempo. Kranke stiegen aus den Betten, schleppten sich ans Fenster. Kilometerlange Linien von Frauen, schräg bewegt, trieben aufeinander zu, stießen zum Zuge. Ein Zwanzigjähriger — Fanatismus und Geist auf der Stirn — sprang aus einer menschengefüllten Seitengasse heraus, auf den Kellner zu, küßte ihn. Und sein heißer Blick öffnete die Herzen.

Die ganze Stadt war aufgestanden und schrie ein Wort. Friede! Das so gesprochene Wort wurde zu vieltausendstimmigem, gewaltigem Gesange. Alle Kirchenglocken läuteten.

II
Die Kriegswitwe

Ihr Mann war Versicherungsagent gewesen, war gefallen, gestorben. Kopfschuß.

„Die Kugel hätte ihn auch in die Brust treffen können, ins Herz, in die Lunge. Die Kugel hätte ebensogut . . . den Magen meines Mannes zerfetzen oder die Wirbelsäule zersplittern können. Der eine stirbt so, der andere so. Das ist ganz gleich. Tot ist tot . . . Oder ein Bajonettstich in seinen Unterleib, daß mein Mann seine Gedärme, die er nie gesehen hatte, noch ein paar Minuten lang hätte betrachten können.“

Unwillkürlich legte die Frau schützend die Hand auf ihren hohen Unterleib: das Kind des toten Vaters bewegte sich.

„Versicherungsagent . . . Er hätte ebensogut irgend ein Handwerker, Kaufmann, Arbeiter, Beamter, Gelehrter sein können, ganz gleich was, die Kugel hätte ihn doch getroffen . . . Sauste auf meinen Mann zu und machte keinen Bogen um ihn herum, machte natürlich keinen Bogen um den armen Versicherungsagenten herum. Die Kugel wählt ja nicht aus. Trifft jeden . . . Ich, eine Versicherungsagentenwitwe, könnte ebensogut eine Beamten- oder Arbeiterwitwe sein. Zwischen mir und allen anderen gibts keinen Unterschied. Ich bin eine Kriegswitwe. Wie alle. Eine Kriegswitwe . . . Und wenn meinen Mann eine Granate so zerfetzt und in die Luft gesprengt hätte, daß nicht ein Teilchen seines Körpers mehr zu finden gewesen wäre? Ganz gleichgiltig! Tot ist tot . . . Mein Schicksal ist das Schicksal von Millionen Frauen. Einen Unterschied gibts gar nicht zwischen mir und allen anderen Frauen . . ., zwischen mir und der Nachbarin, die an der Ecke wohnt und seit drei Wochen auch keinen Mann mehr hat, zwischen mir und den . . . Ja wieviel Frauen sinds denn? Zwei Millionen vielleicht, die in ihrem Zimmer sitzen und, wie ich, an ihren toten Mann denken? Zum Fenster hinaussehen und an ihren toten Mann denken, Staub wischen, Kinder warten, Strümpfe stricken, kochen, auf die Arbeit gehen und an ihren toten Mann denken, an ihren toten Mann denken, toten Mann denken. Sich abends ins Bett legen und an ihren toten Mann denken. Zwei Millionen vielleicht? Zwischen all denen und mir gibt es keinen Unterschied. Unsere Männer sind tot . . . Der Nachbarin ihr Mann ist in einem Lazarett gestorben. Meiner durch Kopfschuß. War sofort tot. Ganz gleichgiltig . . . Kopfschuß! In die Stirn? Vielleicht bei der Nasenwurzel hinein? Oder durchs Auge hinein? Durch sein Auge? Ja aber, was geschah mit seinem Auge? Mit seinem lieben Auge. Mit dem Auge meines lieben Mannes . . . Ist ja ganz gleichgiltig; es ist ganz gleichgiltig, ob das Auge, die Brust, die Lunge, das Gehirn, der Unterleib zerfetzt wird. Tot ist tot . . . Millionen Kriegswitwen sitzen wie ich da und stellen sich vor, wie der Mann eigentlich gestorben sein mag. Es ist aber ganz gleich, wie er den Tod fand. Fand? Sucht man denn den Tod? . . . Und ob er jetzt Schlosser oder Student, Fabrikarbeiter oder Bauer, Gelehrter oder Beamter gewesen wäre, ganz gleich. Das ist ganz gleich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir. Gott sei Dank.“

‚Wieso denn Gott sei Dank?‘

Sie stand schwerfällig auf; die Hand blieb auf die Tischkante gestützt. „Das lindert.“ ‚. . . Was lindert?‘ „. . . Doch, das lindert. Es ist doch ein Unterschied, daß es nicht mir allein, sondern Millionen Frauen so geht. Ein bedeutender Unterschied. Der Unterschied ist sehr groß. Und es lindert. Ich würde es einfach nicht ertragen, wenn es mir allein so ginge. Sich das nur vorzustellen! Könnte ich es denn ertragen? Ich ganz allein! Das wäre unmöglich . . . Es geht Millionen Frauen so wie mir.“

Schon eine Weile hatte sie gedankenversunken in den Spiegel gesehen; jetzt erst bemerkte sie die Miene befriedigter Rachgier in ihrem Gesicht. Und sah ganz plötzlich Millionen Frauengesichter, schmerzbehangen.

„Das läßt einen das Unglück leichter ertragen, ertragen . . . Es geht eben allen so wie mir. Wir müssens ertragen, wir Frauen.“

„Und wenn du einen Menschen leiden siehst, so verdopple sich dein eigener Schmerz“, heißts, glaube ich, in der Bibel. Ganz im Gegenteil. Das lindert. Entweder lügt die Bibel oder wir Kriegswitwen lügen. Alles ist auch nicht wahr, was in der Bibel steht. Wir Kriegswitwen lügen nicht. Wer behauptet, daß wir Kriegswitwen lügen! Wir haben unsere Männer dem Vaterlande geopfert. Auf dem Altare des Vaterlandes geopfert. „Al . . . tar des Vater . . . landes“, schmeckte sie mit der Zunge, sah fernhin, versuchte, sich den Altar des Vaterlandes vorzustellen. Das gelang ihr nicht.

Immer wieder sah sie den Altar, vor dem sie als Mädchen das erste Abendmahl genommen hatte, sah Kerzen und das Christusbild. „Aber Altar des Vaterlandes? Gibts denn das überhaupt?“

Da machte ihr Wesen einen blitzschnellen Sprung zurück zu dem Glauben: „Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert . . ., wie alle andern Kriegswitwen auch.“

„Der Altar steht allerdings nicht in einer Kirche, sondern ist ein mit Elektrizität geladener Stacheldrahtzaun, in dem dein Mann hängen geblieben ist“, versuchte der Schmerz zu flüstern, „also müßte man eigentlich sagen: geopfert im Stacheldrahte des Vaterlandes.“

Es gelang ihr, den noch ganz undurchlittenen Schmerz um den toten Mann wegzuhalten mit den Worten: „Er starb den Heldentod fürs Vaterland.“

Stolz glitt mit diesem Worte in ihr armes Herz hinein.

„Die Befriedigung, daß es Millionen Frauen so geht, und die Worte: ‚Geopfert auf dem Altare des Vaterlandes, Er starb für eine heilige Sache, Er starb für den Sieg unserer Waffen‘, sind Betäubungsmittel gegen den Schmerz um deinen geliebten Mann; aber nicht immer kannst du Betäubungsmittel nehmen; einmal wirken sie nicht mehr“, flüsterte der Schmerz, der empfunden sein wollte und so fest in Worte eingepackt war, daß seine Stimme von der Kriegswitwe nicht gehört wurde.

Die Abzementierung des Gefühls, des Schmerzes war undurchdringlich; so undurchdringlich war die einzementierte Wortplatte — von den noch im dunkelsten Geiste alter Jahrhunderte Stehenden einzementiert in das empfängliche, gedankenlos-gläubige Gehirn des Volkes —, daß der noch undurchlittene Schmerz nicht eine Sekunde lang in ihr Herz vordringen konnte.

Der Gesichtsausdruck der Witwe wurde, da Gefühl und Schmerz nicht fließen konnten, von Tag zu Tag steinerner. Die Tränen wurden nicht vom Herzen geschickt; sie liefen von oben weg.

Und der immer steifer werdende Haß gegen den Feind machte sie im Traume zur Mörderin.

Ein verspäteter Brief des toten Mannes kam an. Der Schmerz setzte sich in den Brief hinein, wollte mit jedem Worte, das die Frau las, ihr ins Herz springen.

Das war abzementiert.

Er erzählte vom Schützengraben, vom Feuer des Feindes, vom Essen. „Ich rauche jetzt viel, das tut gut“, schrieb der tote Mann. „Und wann werde ich dich wiedersehen? Sende mir eine wollene Unterjacke; es ist kalt geworden. Und bleib mir treu.“

Die einzementierte Platte rückte; Schmerz schoß heiß auf. Ganz kurz. Dann saß die Platte wieder fest. Das eine Sekunde lang ungeheuer verändert gewesene Witwengesicht wurde wieder steinern.

In ihrem Kopfe war verwirrender Nebel zurückgeblieben, von dem sich vage der Gedanke loslöste: „Zwei solche wollene Unterleibchen müssen doch noch da sein, Trikotleibchen. Da könnte er immer das eine waschen, wenn er das andere anhat . . . Müssen doch noch da sein.“

Der Schrank öffnete sich. Das Unterleibchen wurde bei den zwei Ärmelenden gefaßt, untersucht. „Nur den Knopf, muß ich annähen.“

Der Schmerz hatte sich im Unterleibchen versteckt; sein Sprung ins Witwenherz wurde vom Nebel in ihrem Gehirn verhindert.

Während sie den Knopf annähte, packte sie in Gedanken das Unterleibchen schon ein, trugs zur Post: es rollte an die Front, wurde vom toten Mann ausgepackt, angezogen.

Da verschwand der Nebel. Und ihr ganzes Wesen flüchtete hinein in das Wort: „Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert, für eine heilige Sache . . ., wie alle andern Frauen auch, wie viele Frauen, wie zwei Millionen Frauen. . . . Es geht mir nicht allein so.“

Sie trug das Leibchen in den Schrank zurück. Da hing eine alte Hose. Bei den Knien war die Hose etwas heller und herausgedrückt, als seien die Kniee des Mannes noch in der Hose.

Sie tippte mit dem Zeigefinger gegen das herausgedrückte Hosenknie, in dem der Schmerz saß, lauernd, sprungbereit.

Und flüchtete, den Blick auf die schaukelnde Hose gerichtet, in die kleine Befriedigung hinein: „Die hätte er doch nicht mehr lange tragen können.“

Automatisch ging sie fort, um Einkäufe zu machen für den Haushalt. „Lange hätte er die nicht mehr tragen können . . . Wenn er zu den Leuten geht, um sie zu überreden, sich versichern zu lassen, und ist nicht gut angezogen, wer läßt sich da von ihm in die Versicherung aufnehmen . . ., wenn er schlecht angezogen ist. Die Leute sind ja gleich so mißtrauisch.“

Sie hatte ein schwarzes Kleid an. Ihr Gesicht war leblos, weiß, das Auge leblos: nicht starr, nicht ruhig, nicht glänzend; es sah tot aus. Die Witwe sah tot aus. Wie ein Gipsabguß. Mechanisch bewegte sich ihr Körper vorwärts, in den Kolonialwarenladen hinein.

„Aber wenn er abends heim kam, und es waren ihm ein paar Abschlüsse gelungen. Wie schön! Die Prozente! . . . Da sind ein paar ganz Hartnäckige. Gott, wie oft war er schon bei denen! Die sind sehr reich; die Versicherung wäre sehr hoch; und wenn ihm der Abschluß gelingt . . . Die Prozente! Wenn er vielleicht jetzt noch einmal hinginge, wer weiß? . . . Er soll doch noch einmal hingehen.“

Der alte, nach Petroleum riechende Kolonialwarenhändler bediente die Kriegswitwe mit besonderer und bedeutsamer Zartheit.

Und ihr stieg schmerzhaft schnell die unabänderliche Tatsache wieder ins Bewußtsein, daß ihr Mann zu den paar Hartnäckigen, die so reich waren, gar nicht mehr gehen konnte, weil er ja nicht mehr lebte.

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich; und der Kolonialwarenhändler, von ihrer Miene zum stärkeren Bezeugen seines Mitleids aufgefordert, zeigte deutlicher, daß er wohl wisse, was es für eine Frau bedeute, den Mann verloren zu haben. Seine gespannte Bereitwilligkeit, wie er ihre Bestellungen entgegennahm, tat ihr wohl. Mit einem leisen Druck legte er die gefüllte Düte vor sie hin, sah ihr, Oberkörper vorgebeugt, ins Auge.

Und die Hausfrau in ihr versuchte, das Zartgefühl des Kolonialwarenhändlers zu benützen: ob sie den Kaffee noch einmal zum alten Preis bekommen könne.

Da hob er die Schultern: das täte ihm leid.

Sofort verschloß sich ihr Gesicht. Und wie ein Grammophon ‚Die Wacht am Rhein‘, spielte ihr wundes Gehirn automatisch: ‚Ich habe meinen Mann auf dem Altare des Vaterlandes geopfert, für die Verteidigung des Vaterlandes, des heimatlichen Herdes hingegeben; er ist auf dem Felde der Ehre gefallen, damit dieser schmutzige Krämer weiter sorglos seine Kaffee verkaufen kann, und mir gibt er ihn nicht zum alten Preis.‘

Der Kolonialwarenhändler hob das Klappbrett des Ladentisches, schlüpfte vor, öffnete höflich die Tür: „Die enormen Einkaufspreise jetzt. Nicht zu sagen.“ Es täte ihm ja wirklich sehr leid, aber da sei nichts zu machen.

Tief beleidigt und scharfen Haß in den Augen, verließ sie den Laden.

Ein Schaufensterspiegel zeigte ihr, daß sie gebeugter ging, als es ihr momentaner Seelenzustand verlangt hätte. Bewußt brachte sie den Gesichtsausdruck in Übereinstimmung mit ihrer Körperhaltung und ging gebeugt und langsam weiter,

vorüber an einem spielenden Kinde, das, seinen mit Ahnung gefüllten Blick zu ihr emporgerichtet, im Halbkreise auswich und ihr nachsah.

Daß sie eine Kriegswitwe war, konnte jeder sehen. Auch die Leute im Trambahnwagen fühlten das sofort, schlossen jedoch die Augen. Denn da war nichts zu machen. Krieg ist Krieg. Und dabei fallen Männer. Alles Mitleid nützt nichts. Mitleid ist hier Schwäche. Außerdem gehts vielen so. Die Kriegswitwe stierte wie ein Mensch, der in seinem Blute liegt. Und alle gehen vorüber. Sie steckten die Gesichter in die noch feuchten Zeitungen, lasen die neueste Siegesnachricht: wieviel Feinde gefangen, wieviel gefallen waren, freuten sich und nahmen sich konzentriert vor: ‚Mich solls nicht packen . . . Aber denen werden wirs zeigen!‘

„Siebentausend!“ las laut ein gutmütig aussehender alter Mann und sah die Kriegswitwe an. „Siebentausend Gefangene! Ungeheuer blutige Verluste! Berge von feindlichen Leichen!“

Gesichter glänzten. Freudenworte sprangen durch den Wagen. Hände flatterten. Befriedigter Haß saß auf den Bänken.

Die bisher tot und blau gewesenen Augen der Agentenwitwe waren schwarz geworden vor befriedigter Rachgier. „Was steht da? Berge von feindlichen Leichen? Berge?“

Da trat, gleich einem Fremden, der unerwartet und unerwünscht in eine geschlossene Gesellschaft eindringt, von der Plattform aus der Kellner in den Türrahmen: „Über was freut ihr euch denn so? Über was? . . . Weil jetzt wieder einige tausend Euresgleichen auf dem Felde der . . . Ehre liegen? Blutig und zerfetzt! Noch atmend oder schon tot! . . . Vielleicht ist auch Ihr Sohn unter den zerstampften Opfern. Und liegt seit der gestrigen Schlacht ohne Hilfe schwer verwundet zwischen Toten und glotzt zu seinem Beine hin, das zwei Meter von ihm entfernt liegt. Glauben Sie denn, daß Ihr Sohn den wahren Grund gekannt hat, der ihn veranlaßte, zum Mörder zu werden, bevor er selbst ermordet wurde?“ fragte er, mühsam seine Erregung bändigend, den gutmütig aussehenden alten Mann,

in dessen Gesicht die Siegesfreude fassungslosem Staunen wich.

Der Zwanzigjährige, der seit dem Tage, da der Kellner in seiner Heimatstadt die Herzen für die Liebe aufgerissen hatte, mit durch das Land und durch die Städte fuhr und, scheinbar ganz unbeteiligt, auf der Plattform stand, machte plötzlich einen schnellen Schritt in den Wagen hinein, auf den Offizier zu, der abweisende Glasaugen bekam: „Steht auf gegen den Krieg. Protestiert! Alle! Alle!“

„Sie sind ruhig jetzt! Hier wird nicht so gesprochen“, sagte der Schaffner.

„Bleibt nicht sitzen in eurer Freude darüber, daß Ochsen und Kälber humaner als Menschen, humaner als eure Männer und Söhne geschlachtet werden.“

Sekundenlang stand das Schreckgespenst der Wahrheit im Wagen.

„Wenn man’s richtig überlegt, sind das natürlich auch Menschen . . . die Feinde“, sagte jemand und wunderte sich, daß er diese Worte gesprochen hatte.

Da wurden alle erlöst vom gutmütigen alten Manne, der sich schon wieder beruhigt hatte: „Ja, Menschen! Warum haben sie uns dann überfallen? . . . Hätten wir uns nicht verteidigen sollen?“

Das Leben kehrte zurück: Köpfe nickten. Augen blickten glänzend und hart. Die Agentenwitwe richtete sich straff auf.

Der Kellner blickte hilflos wie ein Toter.

Der gutmütige Alte stieß mit dem Zeigefinger auf seine Zeitung und rief, hassend und frohlockend: „Unsere Verluste sind ja ganz gering. Hier steht’s ja.“

„Immer heißt es: ‚Unsere Verluste sind gering‘. Wie steht’s dann damit, daß wir bis jetzt schon mehr als zwei Millionen Tote haben? Und wie viele sind, so wie ich, für das ganze Leben ruiniert?“ fragte ein invalider Soldat, in einem Tonfalle, der aus einer anderen Haßquelle kam, und starrte unbekümmert dem Offizier ins Gesicht.

„Berge von feindlichen Leichen!“ wiederholte der Alte und faltete die Zeitung zusammen.

Der Schmerz um den toten Mann war von einem Leichenhaufen zugedeckt. Erregt vom befriedigten Hasse, schritt die Agentenwitwe aus dem Wagen hinaus, die Mundwinkel in die Wangen zurückgezogen, daß die Lippen verschwunden waren und ihr mit Rachgier gefülltes Gesicht voller erschien.

Die Zeit ging hin. Mit Hilfe des Glaubens, daß ihr Mann für eine heilige Sache, für den endlichen Sieg gestorben sei, auf dem Felde der Ehre, und mit der lindernden Tatsache, daß es Millionen Frauen so ging wie ihr, hielt sie den Schmerz auch noch während der nächsten Wochen von sich weg.

Gläubiger schickten Rechnungen, dann Mahnungen, dann Drohbriefe, in denen noch der Satz stand: die Zeiten seien schlecht, jetzt brauche jeder sein Geld; dann kurze Mitteilungen, in denen die Pfändung unverschleiert angekündigt wurde.

Das hatte die Kriegswitwe, deren Mann doch auf dem Felde der Ehre gefallen war, nicht für möglich gehalten. Diese Rücksichtslosigkeit und Ungerechtigkeit übertraf alles, was ihr bisher widerfahren war, übertraf, wenn sie genau überlegte, sogar die Ungerechtigkeit, daß ihr Mann, gerade ihr Mann, der arme Versicherungsagent, der doch, weiß der liebe Gott, schon vor dem Kriege in Not und Krieg gestanden war, in den Krieg hatte ziehen und fallen müssen.

Monatelang trug sie noch das Gefühl und das gepeinigte Gesicht eines unschuldig verfolgten Menschen herum, bis sie, täglich und durch verschiedenerlei Erlebnisse immer wieder daraufgestoßen, einsehen mußte, daß das Leben keine Rücksicht auf ihr Schicksal nahm, das ja schließlich das Schicksal von Millionen Kriegswitwen war, sondern offenbar kraß weiterschritt, ganz unverändert, was die Geld- und Selbstsucht anlangte.

Dieser bitteren Erkenntnis setzte sie anfangs soviel Härte und dunkle Wut entgegen, wie in einem Menschenkörper Platz hat.

Aber das Leben war noch härter und mürbte täglich und mit mörderischer Monotonie weiter, bis die Witwe dieser aussichtslosen Wut müde wurde.

Der noch undurchlittene Schmerz hatte Zeit, konnte warten, bis die Schutzwehren — der Altar des Vaterlandes, das Feld der Ehre und die lindernde Tatsache, daß es zwei Millionen Frauen so erging — ins Nichts zurückstürzten und das Herz der Kriegswitwe bloßgelegt war für den Sprung des Schmerzes, hinein ins Witwenherz.

Und was dem Tage nicht ganz gelang, vollbrachten die Träume. Dem Tage, da ein Bekannter es sich wohl sein ließ bei der Bemerkung: „Liebe Frau, die Zeit lindert jedes Leid“, folgte die Traumnacht, in der der Schmerz erstaunlich deutlich erklärte: „Aber den noch undurchlittenen Schmerz kann die Zeit nicht lindern. Kann Liebe vergehen, bevor sie da war und empfunden worden ist? . . . Erst muß der wahnsinnig singende, mörderische Schmerz empfunden worden sein, ehe die Zeit ihn lindern kann.“

In derselben Nacht träumte die Witwe: der Mann kommt zu spät nach Hause. Sie liegt schon lange im Bett. Sie ist böse, schimpft: „Wo bleibst du denn!“ „Je, je, ich kann mich doch auch einmal ein bißchen unterhalten.“ „So! Und ich?“

Er zieht sich aus (jede seiner Bewegungen ist ihr genau bekannt), legt sich neben sie ins Ehebett. Sie beobachtet alles durch die Wimpern, hört seinen Erleichterungsseufzer und wartet auf des Mannes verlangende Hand, hüstelt, um ihm die Annäherung zu erleichtern, bewegt den Körper, lockt, bis der Mann zu ihr schlüpft.

Alles könnte schön sein, wenn sie nicht plötzlich merkte, daß nicht ihr Mann, sondern ein Fremder sie umfangen will.

„Es erfährts ja niemand“, sagt der Fremde. Und sie denkt: das ist wahr, es erfährts ja niemand. Ist bereit. Und alles wäre in Ordnung, wenn nicht im Rebenzimmer ein Mensch herumginge, der jeden Moment ins Schlafzimmer kommen konnte. Dieser Mensch ist der Schmerz um den toten Mann, hat eine feldgraue Uniform an, das Gewehr quer über dem Rücken.

Jetzt steht er unterm Türrahmen, ist aber nicht mehr der Schmerz in Uniform, sondern der Fremde, während bei ihr im Bett der Schmerz liegt, der zugleich ihr Mann ist.

Sie will ihren Mann zu sich nehmen und kann nicht, weil der im Türrahmen stehende Fremde nicht wegsieht. Und wie der Fremde endlich geht, die Tür hinter sich zuschlägt und die Treppe hinunterpoltert, kann der Mann seine Uniform nicht ausziehen. Und immer ist das Gewehr zwischen ihm und der Frau.

„Das Gewehr könnte losgehen“, sagt sie, „nimm das Gewehr weg.“ Sie will ihm helfen.

Und erwacht. Ruft nach ihrem Manne, horcht. Und tastet das Ehebett ab. „So eine Gemeinheit! Jetzt ist er noch nicht heimgekommen.“ Sie schimpft: „Dieser Lump!“

Der Mann lacht: „Schon seit zwei Stunden liege ich neben dir, und, du hast es nicht bemerkt.“

Sie ist froh, lacht auch. Er zieht sich aus, kommt zu ihr. Und wieder liegt das Gewehr, in dessen Rohrlauf ein Blumenstrauß steckt, hindernd zwischen ihnen. „Nimms doch weg . . . Warte, ich drehe das Licht an.“

Die Hand am Schalter, erwacht sie diesmal wirklich, dreht das Licht an, sucht neben sich im leeren Bett. „Der gemeine Kerl ist noch nicht da.“

Jetzt erst ergreift eine dunkle Faust das Herz. Und wie sie dem Schmerze entfliehen will aus den Worten: „Er ist den Heldentod gestorben“, preßt die Faust das Herz zusammen.

„Wie allen andern Frauen auch, geht es mir“, will sie flüstern. Und ihre Lippen formen diese Buchstaben nicht. Die Begriffe ‚Altar des Vaterlandes, Heldentod, Feld der Ehre‘ zerflattern, sinken ins Nichts zurück vor der entsetzlichen Wirklichkeit, daß der Mann niemals mehr zu ihr kommen kann.

Und wie ein Mensch, der ein auf seiner Handfläche liegendes Brettchen unter die Bohrmaschine hält, schmerzlos das monotone Wühlen des Bohrers fühlt, empfand sie, starren Auges, noch schmerzlos, das rapide, unabänderlich näherkommende Bohren, bis plötzlich der Schmerz das letzte Hindernis durchstoßen hatte und, wie der Bohrer in die Handflüche, hineinsauste ins Herz der noch schlaftrunkenen Kriegswitwe.

Sekündlich und mit der ganzen Kraft ihres Wesens versuchte sie, die Begriffe ‚Heilige Sache, Altar, Feld der Ehre, Heldentod‘ als Betäubungsmittel dem Schmerze wieder entgegenzustemmen.

Es gelang ihr nicht mehr, diese Begriffe wie bisher mit Glauben an sie, mit falscher Empfindung, mit irgend einer Bedeutung zu füllen. Da löste sich auch der Haß gegen den Feind in nichts auf.

Und der Schmerz um den toten Mann war, in den Zeitraum weniger Sekunden zusammengepreßt, ganz plötzlich so unmenschlich furchtbar, daß die Witwe, wollte sie nicht im Augenblick Besinnung und Verstand einbüßen, mit einem gewaltigen innerlichen Sprung von ihrem Leben der Lüge, Gedankenlosigkeit und Selbstsucht heraus — ins höhere Menschentum hineinspringen mußte. Sie hatte das tief entsetzliche Gefühl, die Kraft ihres Wesens reiche nicht aus zum Sprunge, umklammerte, aufrecht im Bette sitzend, mit beiden Händen den Hals, den Wahnsinnsschrei abzuwürgen, der gurgelnd hervorquirlte. Flog aus dem Bett in den Rock hinein. Und raste, halb angekleidet, durch die Straßen. Suchte sich eines Menschen zu entsinnen, der, vom gleichen Seelenschlag zertrümmert, ihren vom Wahnsinn schon bedrohten Zustand begreifen könnte. Und fand keinen in ihrer Welt. Alle trösteten sich selbst und wollten sie trösten mit dem Altare des Vaterlandes, mit dem Felde der Ehre.

Plötzlich sprang aus diesen trostlosen Worten der Kellner heraus und in den Türrahmen der Straßenbahn: ‚Steht auf! Auf! Protestiert! Alle! . . . Glaubt ihr denn, daß eure Söhne, eure Männer den wahren Grund kannten, der sie veranlaßte, Menschen zu morden, bevor sie selbst ermordet wurden? . . . Bleibt nicht sitzen in eurer Freude darüber, daß Ochsen und Kälber humaner als Menschen, humaner als eure Söhne und Männer geschlachtet werden.‘

Dunkel stieg der Protest in ihr auf.

Gegen Abend traf sie im Laden des Kolonialwarenhändlers mit der an der Ecke wohnenden jungen Arbeiterwitwe zusammen, deren Mann im Lazarett verendet war.

Die war in den wenigen Monaten eine alte Frau geworden; ihre Augen, durch das Weinen blutrot und um die Hälfte verkleinert, glichen nicht mehr Menschenaugen, sondern furchtbaren Wunden, die sich tief in die Höhlen hineingefressen hatten. Ihr Mann war erschlagen. Ihre Welt war erschlagen. Sie war erschlagen. Lebte nicht mehr.

Ihrem tödlichen Schicksale unterstellt, lehnte sie zermürbt und verbraucht am Ladentisch.

Und als der Kolonialwarenhändler den Tagesbericht vorlas: „Unsere todesmutigen Helden verteidigten mit bewunderungswürdiger Tapferkeit . . . jeden Handbreit Boden“, bat sie mit dünner Stimme, er möge ihr doch die drei Düten zusammen in eine Düte geben, so sei’s leichter zu tragen.

„Handbreit Boden! Handbreit!“ schrie die Agentenwitwe und erblickte, von Wut und Abscheu in die Vision hochgerissen, ein nur handgroßes Stück Erde, auf dem sich eine ungeheure Pyramide von hunderttausend zerfetzten Siegern und Besiegten erhob.

Der alte Kolonialwarenhändler erschrak, als seinem beifallslüsternen Patriotenblick ein von Mordwut verzerrtes, wildes Frauenantlitz entgegengestellt wurde. Instinktiv flüchtete er in das Wort hinein: „Sie sterben den Heldentod, auf dem Felde der Ehre.“

„Ja, Feld der Ehre! Ihr habt meinen Mann erschlagen. Mein Mann ist tot. Tot!“

„Aber Frau! Und die Heimaterde? Die muß doch schließlich verteidigt werden. Unsere heiligsten Güter stehen auf dem Spiele.“

Die Gedankenfetzen: ‚Güter, heilig . . . Güterschuppen steht auf dem Spiele, Heimat . . . Börsenspiel mit Heimaterde‘, passierten das Witwengehirn. Sie schleuderte die gefüllte Düte zurück. „A was! Heiligste Güter! Mein Mann war mein heiligstes Gut. Er lebte, hatte Augen, verstehen Sie — Augen! Hatte Arme, die er um mich herumlegen konnte, und hatte . . . hatte, hatte, hatte — war mein Mann. Ja, glotzen Sie mich nur an, ist mir gleichgiltig. Was sind denn eigentlich die heiligsten Güter? Wo denn? Ich hab sie nicht. Ich habe keine. Heiligste Güter! Heilig! Nichts als Lüge und Schwindel. Schwindel! Ah . . . ihr Hunde!“

„Aber Frau! Sie machen sich ja unglücklich, werden eingesperrt. Sie werden eingesperrt, das prophezeie ich Ihnen, wenn Sie so über . . . unsere heiligsten Güter sprechen.“

„Ich, eingesperrt?“

Unvermittelt fühlte der Kaufmann die Macht der Kriegswitwe, legte einen geradeliegenden Notizblock gerade.

Alter Schmerz hatte der anderen Kriegswitwe die Brauen hochgezogen, daß die Stirn nur noch aus drei dicken Querfalten bestand. Aus ihren Wunden liefen zwei Tränen heraus, glitten schnell in die Wangenlöcher, in den offenen Mund hinein. Ob sie noch etwas Malzkaffee dazu bekommen könne. Ihre langsame Hand schob das Geldstück hin.

„Wieviel Kaffeemalz? Ah so, es gibt keinen mehr.“

„Einsperren? Das wollen wir sehen, ob die mich auch noch einsperren.“

„Liebe Frau, hier dürfen Sie nicht so reden, hier bei mir . . . Sie müssen sich trösten, müssen sich trösten. Da hilft alles nichts. Vielen geht es so wie Ihnen. Ja, es geht Millionen so.“

„Dann halt adieu, wenn Sie keinen Malzkaffee haben“, sagte die andere Kriegswitwe. Das Tränenwasser lief in den gewohnten Bahnen herunter, schaukelte am Kinn. Die mit den drei kleinen Düten gefüllte große Düte in die konkave Brust hineingepreßt, ging sie langsam hinaus.

„Was gehen mich die andern an. Und wenn es zehn Millionen so geht. Das gibt mir meinen Mann nicht zurück.“ Der Schmerz hockte und hüpfte in ihrem zuckenden Gesicht. „Mein Mann ist fort, tot, weg, kommt nie mehr, nie mehr. Verstehen Sie: nie mehr!“

„Ist ja wahr, aber warum sagen Sie denn mir das alles? Habe ich den Krieg gemacht? Warum sagen Sie mir das alles?“

„Warum?“ fragte sie in ungeheuerem Erstaunen. „Warum kommen Sie mir mit Ihrem Felde der Ehre, mit Ihrem Heldentod, mit Ihren heiligsten Gütern daher? Sie . . . stehen da und verkaufen Ihr Zeug.“

„Wir werden siegen“, sagte der Mann einfach. „Dann ist der Krieg aus.“

Als hatte er ihr eine weißglühende Eisenstange wie eine Längsachse in den Körper gestoßen, bei der Schädeldecke hinein und beim Unterleib heraus, drehte sie sich einmal blitzschnell um sich selbst, herumgeschleudert vom höllischen Schmerze, der ihr Herz gesprengt hatte mit der Vorstellung: der Krieg ist aus, alle Menschen freuen sich grenzenlos . . ., und mein Mann ist tot, kommt nicht zurück. Kommt nie mehr! „Und was wird dann mit mir? He? Sie! He, was wird dann mit mir? He! He!“

„Sagen Sie mal, bin ich denn schuld daran? Sie tun ja gerade, als ob ich . . . Was kann ich dafür.“

Von einem Blitze der Intuition grellweiß erleuchtet, erkannte sie: „Ja, du bist schuld, du, du . . . ihr Hunde! Ihr alle seid schuld daran. Alle!“

Da konnte der Kaufmann nur die Schultern heben, wie er tat, wenn er eine Ware nicht billiger abgeben wollte.

Und als sie schon hinausgerast war auf die verkehrsreiche Straße, sprach er noch: „Sie werden todsicher eingesperrt. Sie sperrt man ja glatt ein.“ Sah die Banknote liegen. „Und ihr Geld vergißt sie auch noch. Die scheint endgiltig närrisch zu sein . . . Was wünschen Sie?“

Die Kundin wünschte Petroleum, stellte die Kanne auf den Ladentisch.

„Na, jetzt das ist mir aber eine“, begann er und erzählte der neuen Kundin die ganze Sache. „. . . Was sagen Sie dazu?“

„Recht hat sie“, erklärte die Frau mürrisch. „Was haben denn wir davon, wenn die Land erobern. Wir haben nichts davon.“

„Ist Ihr Mann auch im Krieg?“

„Schon tot ist er, wenn Sie’s wissen wollen.“

„Er starb für unsere gerechte Sache, Frau, müssen Sie sich sagen.“

„Ja, Sache“, sagte die Frau, dumpf wie ein Hund, der verhalten knurrt. Dann sagte sie noch, was sie jedem sagte: „Sie haben seinen Kopf nicht gefunden. Nur das Andere. Die Erkennungsmarke war weg; deshalb wollten sie mir erst keine Unterstützung geben.“

„Aber jetzt bekommen Sie doch, wie?“

„Meine zwei Söhne sind auch schon verreckt. Im Westen.“

„Jetzt bekommen Sie doch?“

„Ich pfeif darauf. Verdiene mir selbst mein Geld. Will nichts haben von diesen . . .“

Der vorsichtige Kolonialwarenhändler schnitt das Gespräch ab; denn neue Kunden waren eingetreten. „Nun, was sollst du holen?“

Das Kind streckte sich, legte das in Papier eingewickelte Geld auf den Ladentisch.

„Da vorne auf dem Platz ist eine Menschenansammlung. Jemand spricht gegen den Krieg“, erzählte ein grauer Alter, der Zigarren verlangte. „Und plötzlich kommt eine Frau gesprungen. Ganz außer sich. Die schreit und schimpft nicht schlecht . . . Was will der Schutzmann machen: — es ist eine Kriegswitwe.“

„So, schreit sie? Die wird natürlich eingelocht . . ., wenn sie solche Sachen daherredet.“

„Nun, so ohne weiteres kann man eine, die ihren Mann im Kriege verloren hat, auch nicht einsperren . . . Wenn sie doch ihren Mann verloren hat. Das ist keine Kleinigkeit.“

„Aber das Vaterland ist doch schließlich auch keine Kleinigkeit. Und . . . unsere Kultur, was?“

Während der Alte seine Zigarre anzündete: „Schon recht, gewiß . . . Vaterland . . . gewiß . . ., aber wenn eine ihren Mann . . .“

„Na ja, da haben Sie auch wieder recht.“

„. . . verloren hat, kann sie schon rabiat werden. Das ist zu verstehen . . . Es ist ein Riesenmenschenauflauf. Dreitausend Menschen, schätze ich. Können auch viertausend sein. Die Frauen schreien . . . Gerade als ob sie am Kreuz hingen, als ob jede an einem Kreuz hinge. Der Redner kann nicht mehr weitersprechen . . . Ich bin weggegangen. Will nichts zu tun haben mit so was. Bin ein alter Mann.“ Übrigens habe er sich schon lange gewundert, daß bis jetzt nicht mehr Kriegswitwen . . .

„Ja, es ist schon am besten, man kümmert sich nicht darum.“

Auch manche von den Männern, die um die schreiende Agentenwitwe, um den verstummten Kellner herumstanden, dachten das. Die Frauen dachten das nicht; es waren viele Kriegswitwen darunter und Mütter, die ihre Söhne verloren hatten.

Der Schutzmann sagte: „Schreien Sie jetzt nicht mehr.“

Die Agentenwitwe schrie: „Ich schreie!“

Ein Bürger dachte: man kann’s ihr nicht verdenken. Und ging nach Hause.

Die Trambahnwagen konnten nicht weiterfahren. Droschkenkutscher standen auf den Böcken, Fahrgäste streckten die Oberkörper, schief wie gotische Gestalten, aus den Wagenfenstern heraus. Die Menge vergrößerte sich rapid. Auch die Seitengassen, die zum Platze führten, waren schon schwarz von Menschen.

Der Schutzmann faßte die Kriegswitwe am Arme: „Gehen Sie jetzt heim.“

„Loslassen! Loslassen!“

„Heim? Habe ich denn ein Heim?“ Ihr Lachen war Tiergebrüll, riß Hohngelächter aus tausend Frauenmündern heraus. Sie hatte sich mit einem kurzen Ruck losgemacht von der Schutzmannsfaust.

Ein Frauengesicht, höhnisch und gefährlich, schoß dem Schutzmann vor die Augen: „Gehen Sie einmal nach Hause in ein Heim, in dem niemand mehr ist.“

„Auseinander jetzt!“ rief der Schutzmann. „Macht euch nicht unglücklich.“

Das war für alle Kriegswitwen zum Lachen.

„Bin schon unglücklich. Mehr kann ichs nicht werden“, schrie die Agentenwitwe, immer mit dem gleichen schmerzdurchtobten Tiergebrüll.

Dieselbe Gefühlswelle bewegte gleichzeitig alle Witwenleiber. Und alle Münder schrien dem Schutzmann und einander zu: „Wir sind schon unglücklich. Unglücklich!“

Die Macht der Frauen war sehr groß.

Der Schutzmann sah plötzlich wie ein hilfloses Kind aus.

Da krachte ein Schuß. Knapp neben dem Zwanzigjährigen.

Menschenohren horchten, daß es nachtstill wurde. Dann stieg der tausendfache, wilde und ganz wortlose Schrei. Das klang in der Ferne wie Kirchengesang.

Johlen. Gebrülle. Die Menge war ein einziger, langsam bewegter Riesenkörper geworden. Der Schuß hatte die Gemüter von Zwang und Ordnung entbunden und in anarchische Freiheit hineingestellt.

Der Schutzmann drückte sich, seitwärts gedreht, durch die drohend enge Menschengasse durch und verschwand.

Jetzt erst bemerkten der Zwanzigjährige und die Nächststehenden, daß nicht ein Schuß gefallen, sondern ein Automobilschlauch geplatzt war.

Die Agentenwitwe machte mit den Händen ganz kleine, gebundene Bewegungen, die mit den Zuckungen ihres Gesichtes korrespondierten, und bemühte sich, den andern zu erklären, wie qualvoll es sei, wenn ihr ein alter Anzug, ein Trikotleibchen, eine gebrauchte Hose des toten Mannes vor die Augen komme. „Ich sehe den Stuhl an, auf dem sonst mein Mann gesessen war, sehe den Stuhl an . . . Und wenn ich unsern Sekretär ansehe, vor dem oft mein Mann gestanden war, ist das gar kein Sekretär mehr . . .“

Alle sahen in der Zimmerecke den lackierten Muschel-Sekretär stehen, der die unabänderlich sich gleich bleibende Einsamkeit war und jede aufkeimende Hoffnung erschlug. Qualvolle Hilflosigkeit strich lautlos über die Menschengesichter und erzeugte bei allen den toten Blick.

Da griff der Kellner auf den Grund der Sehnsucht und rief: „Wir wollen Frieden machen!“

Sofort öffneten sich die Menschengesichter; eine Wolke heißen Gefühles ballte sich zusammen und platzte: das Wort ‚Friede‘ donnerte hoch, umdonnerte minutenlang den Kellner, der auf einem leeren Lastwagen stand und sich unter tiefer Qual den Entschluß abrang, in die plötzlich entstehende, offene, fruchtbare Stille die kalte Wahrheit hineinzustoßen:

„Aber wir können nur dann helfen, Frieden zu machen, wenn wir wissen und zugeben, daß auch wir den Krieg mitverschuldet haben.“

„Was sagt der? Was?“ Die Agentenwitwe war vor Empörung und Staunen gelähmt.

„Nur wer denkt und die Menschen liebt, kann ihnen den Frieden bringen . . . Wir denken nicht und lieben nur uns selbst.“

Die Gesichter veränderten, verschlossen sich; eine leere Fläche entstand zwischen der Menge und dem Kellner.

Der sagte: „Schon vor dem Kriege war die Liebe tot in uns. Wir waren gedankenlose, meinungslose Maschinen. Deshalb hat jeder Einzelne von uns den Krieg mitverschuldet.“

„Krieg mitverschuldet? Wir haben den Krieg nicht gewollt. Das Volk nicht! . . . Wir nicht!“ Eine Welle des Zornes bewegte die Menge.

„Laßt euch das sagen. Das müßt ihr euch sagen lassen. Wir müssen erst umkehren zur Wahrheit: wir hatten das Gute — die Liebe — vergessen; wir hatten uns gar nicht überlegt, was gut ist; wir haben überhaupt nichts überlegt, überhaupt nicht gedacht und Zeit unseres Lebens das Böse wachsen lassen, bis es uns zur Gewohnheit geworden war, und wir mit entsetzlicher Selbstverständlichkeit glaubten, daß das Böse — Egoismus, Gewalt, Macht, Erfolg, Geld und Autorität — das Erstrebenswerteste im menschlichen Dasein sei. Und dieses zur Selbstverständlichkeit gewordene, kalte, mörderische Prinzip jeden Europäers, den Mitmenschen übervorteilen zu wollen, mußte die Menschen dazu führen, daß sie am Ende einander erschlagen . . . Dann wird von Ehre, Heldenmut, Heldentod, von einem Felde der Ehre gesprochen.“

Da flog, die Zustimmungsrufe auseinanderschneidend, die Agentenwitwe durch die vor ihren geballten Händen entstehende Menschengasse durch, bis zum Wagen. Ihr Schmerz hatte sich gegen den ersten gedreht, der anderer Meinung war als sie. „Krieg mitverschuldet? Wir? Mein Mann? Mein Mann wollte nur leben“, schrie sie fassungslos. Kletterte hinauf. Wurde heruntergezogen. Kletterte wieder halb hinauf. Erleben, das keinen Widerstand mehr fand, durchströmte und befreite sie.

Noch bevor sie vom Wagen wieder losgerissen werden konnte, beugte sich der Kellner herab und berührte mit seiner Hand sanft ihren zerrauften Scheitel.

„Red du nicht so weiter“, drohte ein Arbeiter.

Johlende, halbwüchsige Burschen, zum Kriege noch nicht tauglich, klebten auf den Mauervorsprüngen.

„Wir alle haben rücksichtslos nach nichts anderem gestrebt, als so viel Erfolg wie nur möglich zu haben, unbekümmert, daß wir dadurch das Bild unserer Seele zerstörten, unbekümmert, ob dadurch ein Mitmensch ins Leid und in das Elend sank. Wie ich, habt auch ihr die erfolgreichsten Gewalttätigen, die am meisten Macht, Besitz und Autorität auf sich vereinigen, gedankenlos als Autoritäten anerkannt und bewundert . . . Wir alle waren stolz, wenn unsere schlecht beratenen Kinder patriotische Kampf- und Mordlieder sangen. Und als die mächtigen Autoritäten die Truppen marschieren ließen, jubelten wir und waren begeistert. Wir jubelten, als die ersten Siegesnachrichten einliefen. Wir jubelten. Und kümmerten uns nicht darum, daß beim Erstürmen einer Festung fünfzigtausend Menschen zerrissen werden. Zerrissen werden mußten, damit durch diesen ungeheuer verbrecherischen Gewaltakt die Erfolgreichsten noch mehr Macht, die Besitzenden noch mehr Besitz bekommen können. Wir kümmerten uns nicht darum, weil wir selbst nichts anderes als das Verlangen nach Erfolg, Besitz und Macht in uns trugen. Und dieses Verlangen logen wir um in Patriotismus. Wir müssen den Frieden bringen. Wir haben den Krieg mitverschuldet. Wir sind Mörder. Wir müssen uns entsündigen.“

Gefährliches Murren wuchs an, verdichtete sich zu einzelnen Zornrufen, die sich schnell aneinanderreihten, bis zuletzt ein einziger langer Schrei, so dick wie der Platz, zum Himmel stieg.

Den Tumult durchstach die sich überschlagende Stimme der Agentenwitwe: ihr Mann sei kein Mörder gewesen. „Kein Mörder! Mein Mann nicht! Kein Mörder!“ Ihr Wort ‚Mörder‘ tanzte messerscharf und hoch über das zusammengeballte Brüllen der Menge hin. Sie taste, streckte ihre Hände, halb flehend und halb würggespreizt, zum Kellner hoch.

Der trug in den Gesichtszügen die Kühnheit eines Menschen, welcher infolge übergroßen persönlichen Leides persönliche Gefahr nicht mehr fürchtet und persönliches Leid nicht mehr kennt.

Ein junger Mensch, fanatisiert und bleich, klärte erregt die Nächststehenden auf: das sei ein Mensch, der’s gut meine.

„Ja, gut meine! Krieg mitverschuldet! Mein Mann Krieg mitverschuldet!“

„Ruhe jetzt! . . . Ruhe!“ Das Wort wurde von dieser Gruppe weitergegeben, lief in Diagonalen kreuz und quer. Und erzeugte schnell erwartungsvolle Stille für den Sprecher.

„Wir haben erst dann das Recht, nach dem Frieden zu rufen, wenn wir nicht mehr, wie bisher, gedankenlos und meinungslos falsche Pflichten erfüllen. Und wir können erst dann den Frieden auf Erden verwirklichen, wenn wir aufhören, die großen Nichtigkeiten in den Mittelpunkt des Lebens zu stellen, wenn wir keine entseelten, gewohnheitsmäßig funktionierenden Besitzanhäufungs-Automaten mehr sind, sondern Wesen mit dem göttlichen Wissen, daß jeder Mensch unser Bruder ist, daß alle Menschen dieser Erde Träger der ewigen Seele sind, und daß das Wort: ‚In dem Augenblicke, da du dir vornimmst, einem Menschen zu schaden, hast du schon dir selbst geschadet‘, unumstößliches, göttliches Gesetz ist.

Nur der Mensch, der sich zu seiner Seele bekennt, die ihm verbietet, dem Bruder zu schaden, ist reich, steht ununterbrochen im glühenden Fluß der Gefühle. Wir sind ganz verarmt . . . Das gewohnheitsmäßige Übervorteilen des Mitmenschen, das Verlangen nach Besitz und die gewohnheitsmäßige Anhäufung von Besitz, weswegen die Europäer heute einander erschlagen müssen, haben uns ganz erniedrigt, gemein und arm gemacht . . . Die Kathedrale der Seele ist zusammengebrochen im Europäer. Deshalb wird er Offizier, Staatsbeamter, Börseaner, deshalb ist er habgierig, brutal, elegant, schuftig, gebildet, deshalb stiehlt er, raubt und wuchert, wird reich, bleibt arm, mordet, duelliert sich, macht Kriege und Geschäfte, läßt Erfolglosere für sich arbeiten, so schwer für sich arbeiten, daß der großen Mehrzahl des Volkes nicht eine Minute Zeit zur Selbstbesinnung bleibt, so daß auch diese Armen nicht mehr an die Liebe im Menschen glauben können, und ihr ganzes entgöttlichtes Streben darauf richten müssen, ebenfalls in die Klasse der Besitzenden aufzurücken.

Wir alle — Reiche und Arme — sind brutal wie Mörder, schamlos und gierig wie harte Wucherer, wir alle sind Offiziere und Börseaner, auch wenn wir erfolglose Sklaven geblieben sind . . . Glückliche, unendlich reiche Kinder könnten wir sein auf unserer unendlich reichen Erde, und sind erfolggierige Geldmenschen, bedauernswerte, erlebnisarme Schurken, die zu staatlich sanktionierten Mördern wurden. Der Krieg ist durch den Krieg nur sichtbarer geworden.“

Die Menge, berührt vom Worte des Kellners, war schwankend geworden; nie empfundene Gefühle standen auf, gerieten in Schwingung, erklangen und verdichteten sich zu vereinzelten Zustimmungsrufen.

Da schrie die Agentenwitwe einen Satz, der die Nächststehenden in den Mittelpunkt des Gefühles traf und, mit Zusätzen versehen und von Mund zu Mund weitergegeben, die Menge durchlief, so daß den Kellner plötzlich die tausendfach gebrüllten Schreifetzen umtosten: „Ganze Volk! Leid gestürzt! . . . Millionen Tote! . . . Hunger! Kriegsgewinne! Hallunken!“

Im tiefsten Grunde des Brüllens klang ein ferner Jubel mit.

Mit der ganzen Kraft seines Wesens versuchte der Kellner, die Menge erst auf der Irrtumsspirale zurückzuführen bis zum Ausgangspunkt, wo die Wahrheit steht, während die Agentenwitwe ohne Besinnen mit den Irrtümern vorwärtsstürmen wollte und die ganze Menge geschlossen hinter sich hatte.

Noch einmal gelang es ihm, die anarchisch bewegte Menge aufzuhalten und still werden zu lassen, da er sagte: „Unsere Autoritäten konnten uns marschieren lassen, jeden Einzelnen von uns als Menschenmetzger anstellen und ganz Europa in ein Menschenschlachthaus verwandeln, weil unsere Lebensauffassung entsetzlich genau ihrer Lebensauffassung entspricht. Weil wir, in notwendiger Folge unserer Gedankenlosigkeit, Meinungslosigkeit, unseres Verlangens nach Geachtetwerden, nach Besitz, Stellung und Macht, bisher immer nur die Luft geatmet, die Worte gesprochen, die Gedanken gedacht und nach den Gefühlen gehandelt haben, die uns von der Autorität geliefert worden sind . . . Von der Autorität, die mit dem gleichen Munde, mit dem sie den Befehl zum Feuern auf Menschen gibt, uns von Zivilisation spricht. Bedeutet das nicht, von allem Anfang an in der Lüge ertrunken sein, von Zivilisation zu sprechen, solange noch durch jede Straße Europas Menschen gehen, die an der Seite Messer hängen haben, dafür bestimmt, in Menschenleiber hineingebohrt zu werden? Zivilisation!

Zehn Millionen Menschen sind jetzt verendet. Warum? Für was sind diese zehn Millionen Menschen gestorben? Hat ein einziger von euch darüber nachgedacht, weshalb die Europäer ihre Jugend, ihre Jünglinge abschlachten? Warum dieser Krieg ausgebrochen ist? Ausbrechen mußte!“ Er wartete. Lange,

bis ein abgearbeiteter Mann die für ihn selbst verbraucht und nicht mehr überzeugend klingende Antwort gab: „Unser Volk ist angegriffen worden und mußte sich verteidigen.“

Getroffen von diesem oft vernommenen Satze, rief der Kellner: „Und ich sage euch, so lautet — und mit mindstens demselben Recht wie bei unserem Volke — die Antwort von jedem Volke, von jedem Einzelnen jeden Volkes; von den neunzigjährigen Greisinnen, die nur noch lallen können, bis zum Premierminister jeden Volkes lautet die Antwort: ‚Wir sind angegriffen worden und mußten uns verteidigen.‘ . . . Wie kommt das? Wo ist die Wahrheit?

Die Wahrheit ist, daß ein meinungsloses, kritikloses Volk gar nicht wissen kann, ob es angegriffen wurde oder angegriffen hat, und daß nichts leichter war, als es glauben zu machen, es sei angegriffen worden. Die furchtbare Wahrheit ist, daß die falschen Ideale, deren vollkommener Sieg den Tod der Ideale — der Menschlichkeit, der Liebe — bedeuten würde, daß diese Lügenideale — Macht, Gewalt, Erfolg, Autoritätsglaube, Heldentum, Weltherrschaft, Vaterlandsverteidigung — im Gehirne jeden Europäers ein solch mächtiges Eigenleben führten, daß jeder zum Schießen bereit war.

Ich sage euch: die Kultur eines Volkes ist unabhängig von der Besitzanhäufung. Die Größe eines Volkes liegt nicht in seinen Interessensphären, nicht bei seinen Rohstoffquellen, nicht auf seinen Absatzgebieten. Größe, Kultur, Glück und Zukunft eines Volkes liegen niemals auf dem Wasser. Aber der geistige Tod eines Volkes liegt in seinen Geldschränken. Der Geist Europas, die Menschlichkeit und die Liebe sind im Gelde erstarrt, Und das bedingt mit entsetzlicher Sicherheit das Elend, die Zukunftslosigkeit, den Untergang des europäischen Menschen.“

Auch die Agentenwitwe war erstarrt. Auch die Menge war erstarrt und quälend still.

Die robuste Kriegswitwe, von deren Mann der Kopf und die Erkennungsmarke nicht hatten gefunden werden können, stellte ihre Petroleumkanne auf den Wagen, zu Füßen des Kellners. Alle Fenster, rund um den Platz, waren schwarz von Menschen.

Der Kellner, tief leidend unter dem Gesetze, daß die Liebe hart sein muß, weil sie das Herz der Wahrheit ist, redete eindringlich hinunter zum düsteren Gesicht: „Wir haben zugesehen, wie Kampfparteien gebildet wurden; wir haben Kanonen, Schiffe, gewaltige Menschenmordmaschinen erfunden, gebaut. Bezahlt. Bewundert! Trotzdem wir hatten wissen können, daß die von uns bezahlten, bewunderten Massenmordmaschinen eines Tages sich gegen die Menschheit und auch gegen die Brust unserer Männer, Söhne, Väter richten würden. Das war unausbleiblich . . . Dann wird gesagt und geglaubt, von den meinungslosen, gedankenlosen, von den immer noch gedankenlosen Volksmassen geglaubt: wir sind angegriffen worden und müssen das Vaterland verteidigen, unsere Kultur schützen. Es wird von Heldentum und von einem Felde der Ehre gesprochen . . . War alle Ehre nicht schon tot, noch bevor der Krieg begonnen hatte? Ist es eine Ehre, ist es Heldentum, um Besitz und Macht und für falsche Ideale Menschen zu erschlagen? Wenn das Ehre ist, dann wollen wir ehrlos sein, um wieder ehrenvoll leben zu können. Wenn das Heldentum ist, dann wollen wir Feiglinge sein, damit der Mut in dieser Welt nicht aussterbe . . . Man spricht von Zivilisation. Ist das Zivilisation, daß ganz Europa schon vor dem Kriege ein einziger großer Fabriksaal war, in dem nicht Menschen lebten, sondern Maschinen automatisch sich bewegten? Maschinen aus Fleisch und Blut, die nicht mehr denken, keine Meinung haben, keine Erinnerung mehr daran haben, daß sie einmal Menschen waren, sondern wie die Maschinen aus Stahl, die sie bedienen, betrieben werden? Betrieben werden von der Notdurft, von dem Verlangen nach Achtung der Mitmaschinen, vom Verlangen nach Besitz, betrieben von Gewohnheit, Egoismus und Lüge. Lüge, in der die europäische Menschheit ertrunken ist, so daß es keinen Europäer mehr gibt, der eine eigene Meinung hätte, keinen, der das Feuer der Wahrheit in den Augen trüge . . . Wenn das Vernunft ist, dann wollen wir unvernünftig sein, dann wollen wir wahnsinnig sein, damit die Weltvernunft sich in uns am Leben erhalten kann. Wenn das nützlich ist, dann wollen wir unnütze Menschen sein. Wenn das Resultat der Organisation und Ordnung ist, daß die Menschheit verelendet, blutet und sich abwürgt, dann wollen wir diese mörderische Ordnung sprengen mit Unordnung, damit der Sinn des Lebens sich wieder manifestieren kann. Wenn Organisation, Ordnung, Gewalt, Macht, Gewohnheit, Meinungslosigkeit, Lüge, Besitz und Egoismus . . . Zivilisation ergibt, dann wollen wir Wilde sein, wollen wir die Liebe im Herzen tragen und das Gesetz: jeder liebe jeden, so wird jeder von allen geliebt . . . Das wollt ihr nicht? Habt den Mut, Menschen zu erschlagen und nicht den Mut, Menschen zu lieben? Weil ihr lieben würdet, aber die anderen euch nicht lieben, sondern ausnützen und erdrücken würden? Wollt nicht Märtyrer sein? Da Märtyrer ausgenützt, erdrückt, eingesperrt und hingerichtet werden . . ., weil sie lieben? Es fliege die Frage donnernd über den Erdball: was ist menschenwürdiger und ehrenvoller, Menschen, die uns nichts angetan haben, im Kriege zu erschlagen und selbst zu sterben, oder dafür zu leiden und zu sterben, daß der Liebe die Regierung der Erde übergeben werde?“

Der Blick der schweigenden Menge fragte dumpf zurück. Zwei Equipagenpferde, zwischen Menschen eingekeilt, bewegten sich. Die Agentenwitwe fühlte körperlich, wie, von ihrer Seele überglänzt, die Finsternis in ihr zur blendend weißen Fläche wurde. Ihr Gesicht war plötzlich tränennaß.

Der Kellner warf die Hand an den Hals, die andere in den Nacken; seine Augen wurden groß und sahen:

„Zehn Millionen Leichen! Zehn Millionen Menschen sind jetzt verendet. Das fließende Blut dieser zehn Millionen Ermordeten — vierzig Millionen Liter dampfendes Menschenblut — könnte einen ganzen Tag lang die riesenhafte Wassermenge des Niagarafalles ersetzen und durch seine Sturzkraft den elektrischen Strom für eine ganze Weltstadt liefern . . . Sämtliches Rollmaterial der Eisenbahnen von ganz Preußen würde nicht ausreichen, allein die losgetrennten Köpfe dieser zehn Millionen Ermordeten auf einmal zu transportieren. Zivilisation! . . . Stellt euch den phantastisch langen Eisenbahnzug vor: es steht der erste Wagen schon in München, im Berliner Hauptbahnhof noch der letzte, und alle sind gefüllt mit blutigen Menschenköpfen. Zivilisation! . . . Man lege die zehn Millionen armen ermordeten Mörder Kopf an Kopf, Fußsohlen an Fußsohlen! Das gibt eine sechzehntausend Kilometer lange, lückenlose Leichenlinie, ein sechzehntausend Kilometer — nicht Meter — Kilometer langes Grab, das ganz Deutschland umspannt. Sechzehntausend Kilometer Leichen! Zivilisation!“

Ein wildes Schluchzen, das wie das Bellen eines Hundes klang. Aufgelöste Gesichter drehten sich einander zu. Weit offene Augen. Wortloses Fragen. Die Agentenwitwe sah Farben kreisen. Und taumelte dem Nächststehenden an die Brust.

Das Gesicht der Menge leuchtete wieder weiß auf.

„Ich sage euch: von diesem Zeitalter der Nützlichkeit, Ordnung, Organisation und Vernunft, von diesem Zeitalter des Egoismus, des Geldes, der Macht, Gewalt, Lüge und Autorität wird nichts übrig bleiben als ein Grauen davor und für die noch späteren Geschlechter ein Gelächter.“

Da spannte er weit die Arme aus, daß hinter ihm der von der Abendsonne rosig beleuchtete Kirchturm zum riesenhaften Kreuzespfahl wurde:

„Wir wollen uns jetzt endlich besinnen. Wollen denken. Uns daran erinnern, daß der Mensch gut und unser Bruder ist. Wir wollen endlich herausreißen aus unseren Herzen: die Gewohnheit, die Lüge, die Gewinnsucht, die Bewunderung der Gewalt, Autorität und Macht, damit nicht auch der Same der noch ungeborenen Geschlechter den Keim in sich trage zu neuem Morde.“

Plötzlich klang Kraft und großes Flehen in seiner Stimme:

„Jeden Tag werden zehntausend Menschen getötet, die so gerne, ach so gerne noch hätten leben wollen. Und doch sitzt der Schuster wie sonst in seiner Werkstatt, besohlt Stiefel, macht der Schreiner Möbel, steht der Fabrikarbeiter vor der Maschine, den ganzen Tag, der Kaufmann hinterm Ladentisch; es schreibt der Beamte Kanzleibogen voll und der Buchhalter rechnet, der Kellner bedient . . ., während jeden Tag zehntausend Menschen fallen und verenden, die vorher selbst Menschen töten mußten. Welch ein wahnwitziger, gedankenloser Egoismus! Wenn wir das Recht nicht verlieren wollen, uns noch Menschen zu heißen, dann müssen wir ohne Besinnen von den Hämmern, Hobeln, Schreibpulten und Maschinen weglaufen auf die Straße, den Nächstbesten am Arme packen, ihn packen, und unsere Stimme muß ihm das Herz durchgellen: ‚Es werden jeden Tag zehntausend Menschen erschlagen. Was sollen wir tun? Wie dürfen wir arbeiten, unserem Verdienste nachgehen, schlafen, essen, während jeden Tag zehntausend Menschen ermordet werden? Das darf nicht sein. Was sollen wir tun?‘ . . . Ich rufe euch zu, ich trage die Worte in euere Herzen hinein: wer heute, da täglich zehntausend Menschen grauenvoll verenden, seine Hand hebt zur Arbeit, ist ein Mörder. Denn er läßt Menschen töten und fragt nicht: was soll ich tun, daß sie nicht erschlagen werden.“

Da erbrach, ihre Petroleumkanne schwingend, die robuste Kriegswitwe ein wildes Gelächter.

Und die Sätze: „Man muß doch leben; was bleibt uns übrig; wir müssen doch verdienen, essen“, sprangen, von ihr zuerst geschrien, aus tausend Mündern heraus, dem verstummten Redner entgegen. Es schwoll der Tumult, vom Hasse in ein Ganzes zusammengeschmolzen, und stieß den Schrei ab und zum Himmel empor: „Was sollen wir denn tun! Was? Was sollen wir tun?“

Das war eine furchtbare Frage. Eine Frage, rund umstellt von grinsenden Ungeheuern, die eine Antwort nicht hereinlassen wollten.

‚Wenn ich ihnen sage: jede Arbeitsleistung fügt sich in das Getriebe ein, das die Fortsetzung des täglichen Massenmordes ermöglicht, deshalb wird der Schlosser, der heute eine Schraube dreht, praktisch zum Mörder, wie auch der Bäcker, der heute Brot backt, rufen sie: wir müssen doch verdienen, leben, essen und deshalb arbeiten.‘

‚Aber das dürft ihr nicht. Arbeiten dürft ihr nicht. Arbeiten ist heute Mord.‘

Das weiße Gesicht der Menge war eine Frage, die gleich einer Lichtreklame selbsttätig die blutrote Antwort „Revolution“ langsam, Buchstabe nach Buchstabe, an den dunklen Himmel schrieb.

Die tödlich bedrohte Liebe, die dem Untergange nahe Menschlichkeit, die den Kellner gewählt, ihn aus dem mörderischen Wahnsinn dieses Zeitalters herausgehoben und ihm das Wort auf die Lippen gegeben hatte, erleuchtete ihn, so daß die ewige Seele, für alle sichtbar, ihm in die weitgeöffneten Augen trat:

„Wir wollen nicht das Unmögliche versuchen: die Gewalt mit Gewalt auszurotten. Wir wollen nicht töten. Aber von dieser Sekunde an soll alle Arbeit ruhen. Denn alle Arbeit würde noch im Dienste dieses Zeitalters des organisierten Mordes stehen. Das Zeitalter des Egoismus und des Geldes, der organisierten Gewalt und der Lüge hat in dieser weißen Sekunde, hat in uns eben sein Ende erreicht. Zwischen zwei Zeitalter schiebt sich eine Pause ein. Alles ruht. Die Zeit steht. Und wir wollen über die Erde, durch die Städte, durch die Straßen gehen und im Geiste des kommenden neuen Zeitalters, des Zeitalters der Liebe, das eben begonnen hat, jedem sagen: ‚Wir sind Brüder. Der Mensch ist gut.‘ Das sei unser einziges Handeln in der Pause zwischen den Zeitaltern. Wir wollen mit solch überzeugender Kraft des Glaubens sagen: ‚Der Mensch ist gut‘, daß auch der von uns Angesprochene das tief in ihm verschüttete Gefühl ‚der Mensch ist gut‘, unter hellen Schauern empfindet und uns bittet: ‚Mein Haus ist dein Haus, mein Brot ist dein Brot.‘ Eine Welle der Liebe wird die Herzen der Menschen öffnen im Angesichte der ungeheuerlichsten Menschheitsschändung.

Und wenn der Zehnmillionenmord, den jeder Einzelne von uns mitverschuldet hat, Martyrium von uns verlangt, wenn die Menschheitsfeinde Gewalt gegen uns anrollen lassen, so wollen wir uns sagen: ‚Wir haben erschlagen, gelitten, geblutet, gearbeitet für falsche, lügenhafte Ideale, sind schuldig, sind Mörder geworden; wir wollen uns entsündigen, wollen den gegen uns gehetzten Brüdern, dem Heere der Gewalt, uns als stilles, unüberwindlich starkes Heer des Geistes und der Verbrüderung entgegenstellen, bereit zum Leiden für das ewig unverrückbare Ideal der Menschheit: für die Liebe.‘ Und unsere Brüder werden, bezwungen von unserem Glauben an das Gute im Menschen, in ihren Augen plötzlich die Frage tragen, die zugleich die Antwort ist: der Mensch ist gut.

Der Mensch ist gut. Er ist gut. Geht hin, jeder durch seine Straße, in die Häuser, läutet, klopft an. Und verkündet den Satz des neuen Zeitalters: ‚Der Mensch ist gut.‘ . . . Es stehen die Transmissionen! Es stehen die Maschinen! Die Arbeit ruhe! Die Zeit steht. Heutige Gesänge der Liebe durchfliegen die Städte, öffnen die Herzen, die Tore der Paläste, die Magazine. Und Menschenarme, die dem Morde dienten, umfangen jetzt den Bruder . . . Und wenn wir dann in diesem Geiste wieder zu arbeiten beginnen, wird unsere Arbeit nicht mehr Mord sein, sondern Geschenk für den Bruder, und seine Arbeit Geschenk für uns . . . Jetzt ruhe die Arbeit. Die Zeit steht. Die Pause zwischen zwei Zeitaltern ist da.“

Das Gesicht der Agentenwitwe war von wilder Hingabe zerklüftet; das Kind in ihrem Leibe bewegte sich.

Da geschah etwas Unerwartetes: ein bärtiger Herr sprang aus seiner eleganten Equipage heraus, stand auf dem Bock und brüllte: „Landesverräter! Vaterlandsverräter! Herunter mit dem Schuft, der den Sieg, der das Durchhalten unseres Volkes verhindern will!“ Wutspeichel spritzte aus seinem Munde heraus.

Das weiße Profil der Menge drehte sich dem Bärtigen zu.

Der warf die Fäuste vor und bewegte sie, in großem Bogen die Menge überdachend, wagrecht über die Köpfe weg, stieß sie himmelwärts und knallte sie auf seine Brust:

„Mein einziger Sohn ist gefallen. Auf dem Felde der Ehre! Ist tot. Und dieser bleiche Schuft wagt es, das Volk gegen das Vaterland aufzuhetzen. Tausendfachen Tod diesem bestochenen Hundsfott, der den Sieg verhindern will! Umsonst wäre mein Sohn gestorben. Umsonst wären alle Söhne und Väter gestorben. Millionen wären umsonst gefallen. Alles Blut würde umsonst geflossen sein, wäre der Sieg nicht unser.“ Er riß den Browning aus der Hintertasche.

So still war es auf einem Platze nie gewesen.

Der Kellner sagte: „Mein junger Sohn ist gefallen. Umsonst wäre sein und alles Todesblut geflossen, wenn in diesem dampfenden roten Meere auch diesmal das Prinzip des Egoismus, der Gewalt und der Macht nicht verlöschen würde, umsonst, wenn die Liebe auch nach diesem Kriege das Menschenherz nicht berühren könnte. Umsonst die den Himmel verdunkelnde Menschheitsschändung, wenn aus Lüge, Macht, Gewalt, wenn aus Mord . . . Sieg hervorgeht, der den neuen Krieg in sich tragen muß. Nicht Demütigung für ein Volk sei das Ende und der neue Anfang, sondern Demut aller Völker . . . Demut, die tiefen Glanz, Stille, Menschlichkeit und Lebensfreude in sich schließt.“

Der Bärtige war fassungslos. „Schuft! Und das Vaterland? Unser heiliges Vaterland? Unsere heiligsten Güter? Unser Vaterland!“

Dunkle, unbezähmbare Wut war urplötzlich in der robusten Kriegswitwe entstanden. Da stieg, von ihr entladen, ein vielstimmiger Protestschrei, der erst an seinem Ende in helles Gelächter und in den Hohnruf: „Heiligste Güter!“ zersplitterte.

Die Morgenröte einer kommenden Zeit traf das Gesicht des verblüfften Bärtigen; er legte den Browning neben sich auf den Bock.

Der Kellner sagte weich: „Das Vaterland ist eine Gasse, in der wir als Kinder am Abend gespielt haben, ist ein von der Petroleumlampe sanft beleuchtetes Tischrund, ist das Schaufenster des Kolonialwarenhändlers im Nachbarhause; das Vaterland ist im Garten der Nußbaum, auf dessen Früchte wir gewartet haben, ist ein Flußtal, die Biegung eines Flußtales; das Vaterland ist eine altersgraue Holzpforte an der Rückseite des Gartens, ist der Geruch von Äpfeln, die auf dem Ofen brieten, ist Kaffee- und Kuchengeruch im durchwärmten Elternhause, durch Wiesen ein schmaler Pfad, der zur Stadt zurück oder aus der Stadt hinausführt, ist ein Gang auf diesem Pfade, das Verklingen eines Kinderliedes, das Abendläuten an einem bestimmten Tage unserer Kindheit . . . Nicht der Staat — die Organisation der Lüge, Macht, Gewalt und Autorität — ist das Vaterland für den Menschen, sondern die Erinnerung an freundliche Minuten der Kinderzeit, die Erinnerung an die von Hoffnung noch verschönten Blicke ins zukünftige Leben.“

In diesem Momente, da er das Gesicht der Menge ansah, erkannte er entsetzlich klar, daß bei der großen Mehrzahl auch diese Erinnerungen vom ununterbrochenen Lebenskampfe, von den Leiden des Krieges, vom Hasse gegen seine Entfeßler aufgefressen worden waren, und fühlte, daß ein Wort der Liebe jetzt noch nicht vordringen konnte bis zu diesen verarmten, haßverkrampften Witwenherzen. Nur bei wenigen war der suchende Kinderblick wieder erwacht und zum Rückblick auf das vergangene Leben geworden.

Und als der Bärtige der Witwen nicht mehr vorhandene Gefühle für das Vaterland erneuern wollte mit dem Worte „national“, stieg aus des Kellners plötzlicher Hoffnungslosigkeit, die Liebe in die Herzen führen zu können, Zorn auf, der zur Menge hinunter den Satz trug: „International ist alles Große: die Kunst, der Gedanke, der Glaube, die Sinne, das Leben, der Tod.“

Und der Zwanzigjährige schrie zurück: „Es gibt National-Banken, National-Speisen, National-Registrierkassen, National-Hymnen.“

Vor Wut verlor der Bärtige die Sprache, konnte das Gegenargument, daß auch die Sprache national sei, nicht finden und griff automatisch zum Browning, um mit dem zu argumentieren.

Der robusten Witwe mit der Petroleumkanne waren der Bärtige und sein Gefährt zu elegant. Noch bevor er den Mund wieder öffnen und den Browning heben konnte, rief sie unwirsch: „Halt’s Maul, du!“ Und ihr Wort war von einer Armgebärde begleitet, die hundert Fäuste mit in die Höhe riß. Sie stürzte zum Bock, kletterte hinauf.

Sein Wutschrei: „Verräterisches Pöbelpack! Man wird euch einsperren. Alle einsperren!“ gab das Signal für alle zum Sturze auf den Bärtigen, so daß der Browningschuß, der dem Kellner gegolten hatte, schräghoch ging und den Kirchturm traf.

Ein Schrei dauerte minutenlang.

„Uns könnt ihr nicht einsperren. Zwei Millionen Kriegswitwen könnt ihr nicht einsperren.“

Der Petroleumstrahl schoß farblos durch die Luft.

Hochgebäumte Pferde. Die Equipage brannte hell und farbig. Wurde von den rasenden Pferden zerstörerisch schnell über den Platz und die Straße hinauf getragen, von der stürmenden Menge verfolgt.

Die robuste Kriegswitwe stand, ringend mit dem Bärtigen, flammenumloht auf dem Bocke.

Eine Anzahl Witwen und Mütter, im Blick noch das große Fragen, blieben zögernd zurück.

Die Agentenwitwe trug im schmerzdurchwirkten, aufgelösten Gesicht den unbegreiflich tiefen Glanz stiller Bereitschaft, als sie zum Kellner trat, der in der Dämmerung erschöpft an der Hausmauer lehnte und auf das in der Ferne verklingende, fanatische Triumphgebrüll der Kriegswitwen lauschte. Er glaubte, den anhaltenden, zündenden Schrei der robusten Witwe herauszuhören.

Teile von Gedanken, für die er vorhin Worte nicht gefunden hatte, kehrten wieder: ‚Die Gewalt, den Menschen gelehrt und aufgezwungen, untersteht dem furchtbaren Gesetze alles Bösen, muß weiter wirken . . . Wer in dieser Welt der Schmerzen das Leid nicht auf sich nehmen kann, bleibt böse.‘

Er blickte zur Agentenwitwe hin, die in ungeheurer Befreiung vor dem neuen Anfang stand, entrückt, wie vor einer Wiege, in der sie selbst lag. Horchte auf das ganz ferne Knallen mehrerer Schüsse. (Das stärker werdende ferne Gebrüll wurde wieder hörbar, schwach, wie das Summen einer Fliege.)

‚Revolution steht auf den Stirnen der Menschen; und was auf den Stirnen der Menschen steht, wird Ereignis.‘

Von schwarzen Blitzen durchzuckt, brach aus seinem Herzen lautlos donnernd die entscheidende Menschheitsfrage heraus: ‚Werden Wille und Sehnsucht die Gewalt sprengen, die Finsternis durchstoßen, den Geist befreien und sich von ihm führen lassen in das Land der Seele, wo die tiefste, die radikalste Revolution, die Revolution der Liebe zum Ereignis werden kann? Oder wird auch jetzt die Gewalt weiter bestehen und weiter siegen über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die der Menschheitszukunft in ewigem Flusse immer neu geboren werden vom tiefsten Sinne der Welt: von der Liebe?‘

Der Platz, vom Tumulte verlassen, sah verbraucht aus.

Dämmerung, Luft und Sein gebaren auf ihm eine stille Sekunde.

III
Die Mutter

Ihr Sohn war nicht als Freiwilliger an die Front gefahren.

Wenn die Mutter aus dem Bette stieg, um sechs Uhr morgens, sah sie ihren Sohn. Sah ihn, wenn sie in der noch kalten Küche stand. Sah ihn im Hausflur. In der Holzlage. Im Keller. Auf der Straße. Immer.

Durch ihren Schlaf schreitet der Sohn durch; er marschiert durch. Wird kleiner, nebelig, verschwindet. Und marschiert trotzdem ununterbrochen durch. Durch jeden Schlaf. Durch jede Nacht und jeden Traum.

Der Sohn sitzt auf einem Stuhle, an der verschwimmenden Peripherie des schweren Angsttraumes, der an ihr Bett den harten Hauswirt stellt: „Jetzt endlich das Geld für die Miete!“

Drohender Hauswirt, alle Qual der Pfennigsorgen, alle Mühe und Not der Täglichkeiten werden gewichtlos, verdunsten; denn der Stuhl mit dem Sohne rückt in den Mittelpunkt des Traumes, ihr auf die Brust.

Sie wischt den Staub von den lackierten Muschelmöbeln; der Sohn steht neben ihr, begleitet sie: vom Schrank zur Kommode, vom Bett zum Tisch.

Sie sieht ihn und sich hinauswandern zur Kaserne. Viele junge Männer, noch in Zivilkleidern. Ärmliche Köfferchen und Pappschachteln. Viele Menschen stehen vor der Kasernenhofmauer: Frauen, Kinder, Bräute, Mütter. Machtlos.

Diese entsetzlich kalte, mitleidlose Eisenkonstruktion der Bahnhofshalle. Stumme und weinende Mütter und Frauen. Trockene Gaumen. Zerrissenes Lächeln der jungen Soldaten. Wie Leichen mit Blumen geschmückt. Wilde, mit Blumen geschmückte Machtlosigkeit.

Der Zug fährt ab. Er fährt. Fährt. Verschwindet.

Einsames, furchtbares Nachhausegehen.

Zwischen der Mutter Hand und den Deckel des Kochtopfes schiebt sich die graue Gestalt des Sohnes. Die Überlegung, ob das Gemüse noch etwas Salz brauche, wird zerschnitten vom Sohne, der in den Schützengraben springt. Immer wieder rasend schnell in den Schützengraben springt, aus dem heraus die Bajonette nach ihm stoßen.

Jeder Gedanke wurde vom Denken an ihren Sohn durchschnitten.

Während der Bäcker das Brot für sie einwickelte, entdeckte sie in einer von weißen Schußwölkchen bösartig still belebten, öden Flachlandschaft, die sie nie gesehen hatte, den Sohn, wie er mit der ihm eigenen Handbewegung sich über das rechte Auge streicht.

Und in dem Moment, da sie sagte: „Frisches Brot wäre mir lieber gewesen“, streckt der Sohn den Kopf zu weit aus dem Schützengraben heraus.

Entsetzt ließ sie das Brot auf den Ladentisch zurückfallen, preßte beide Fäuste an die Wangen und starrte; sieht, wie der feindliche Soldat auf den Kopf des Sohnes zielt.

„Jesus! Kind, wie kannst du mir . . .“

Sohn beugt sich zum Kameraden hinab.

„. . . das antun.“

Der feindliche Soldat senkt das Gewehr.

„Morgen gibt es wieder frisches Brot.“

Die Mutter verließ die Bäckerei, den Blick stier auf der Szene: der gegnerische Soldat lugt, das Gewehr wieder schußbereit an der Backe, zum hinabgebeugten Sohn hinüber.

„Wenn er sich jetzt aufrichtet. Mein Gott, wenn er sich aufrichtet . . . Allmächtiger Gott, lasse den Kameraden eine Geschichte erzählen, damit mein Sohn zuhört, sich nicht aufrichtet. Lasse den Kameraden eine Bitte aussprechen, die mein guter Sohn erfüllen wird, so daß er sich nicht aufrichtet.“

Das feindliche Gewehr sinkt.

Da steigt des Sohnes Kopf: das feindliche Gewehr hebt sich zur entsetzlichen Wagrechten.

Ein Schrei der Mutter.

Sie glotzte auf die zwei langhaarigen Hunde, die knapp vor ihr aufeinander losfuhren. Gefletschte Zähne. Ineinander verbissene Mäuler.

(Graue Gestalten verlassen den Graben, huschen farblos über die farblose Fläche. Wildes, entsetzlich lautloses Handgemenge.)

Die Mutter stürzte sich zwischen die zwei kämpfenden Hunde, die der Sohn und der gegnerische Soldat sind. Mit ihren alten, von der Lebensarbeit stumpf gewordenen Händen riß sie die Hunde auseinander, die knurrend in entgegengesetzten Richtungen forttrabten. (Die farblosen Gestalten huschen in die Gräben zurück.)

Die Mutter lehnt atmend an der Hausmauer und vernimmt das lautlose Stöhnen, das aufsteigt vom tiefsten Urgrund des Weiblichen, vom mystischen Punkt: Mutterliebe.

Die Mutter hat während der drei Kriegsjahre gelernt, vollkommen lautlos zu stöhnen. Denn würde ihr und aller Mütter Stöhnen Ton, ganz Europa würde Tag und Nacht ununterbrochen klingen von wildklagendem, dumpfem Stöhnen, für das noch keine Sprache Worte gefunden hat.

Über Europa lastet Stille, das qualvollste Leid: das ‚Leid Machtlosigkeit‘. Furchtbarste Stille, unter der Menschenherzen sich krümmen. Lebendem Wurme am Angelhaken ist kein Ton gegeben.

Und an den Fronten zucken, in geistschänderischem Kreise aufgestellt, die Rohrläufe der Geschütze vor, gleiten zurück, zucken, vor, zurück, werden heiß: ein Donnerkreis. Kreis von Blut. Zerfetzten Menschenleibern. Losgetrennten Armen, Beinen. Ein Riesen-Kreis-Grab umspannt das stille Europa. Grab-Blut-Geschützdiagonalen durchschneiden es, grenzen stille Leidbezirke ab, in denen die Mutter Europas bebend kniet, nicht atmen kann. Denn sie hört den Schuß krachen, sieht die Kugel fliegen, auf den Sohn zu, sieht Milliarden Kugeln fliegen. Denn sie sieht beständig eine Kugel fliegen. Auf den Sohn zu.

Das Herz tut ihr weh. Tag und Nacht. Schon drei Jahre lang. Drei Ewigkeiten.

Die Mutter — ein wandelndes, verzerrtes Herz, das Antlitz, Gehirn und Augen bekommen hatte, die kopflose Mutter, die nur noch mit dem Herzen dachte und sah, deren Gefühl die Last, die Angst, die Schmerzen, das Leid, den Jammer ganz Europas trug, die europäische Mutter eilte, das Brot gegen die schlaffen Hautsäcke ihrer Brust gedrückt, nach Hause, den Feldpostbrief zu erwarten, der den krachenden, blutigen Kreis des Menschenmordens — „vielleicht, vielleicht doch nicht, vielleicht doch“ — verlassen haben und mit der nächsten Post in der verdüsterten Vorstadtwohnung eintreffen konnte.

Sie eilte. Ihre Gedanken, alle vom Herzen gedacht, eilen voraus: sehen den Briefträger.

Der winkt. ‚Ich habe etwas für Sie‘, sucht, reicht ihr einen Brief. ‚Halt, noch etwas.‘ Reicht ihr noch zwei. Noch fünf. Reicht ihr eine Hand voll Briefe. Alle sind vom Sohne. Sie rennt mit den Briefen die Treppe hinauf.

Und biegt in die leere Gasse ein. Blickt: ‚Kein Briefträger.‘

Während sie die Treppe hinaufsteigt, sieht sie den Sohn, wie er vor dem Leutnant steht.

Der sagt: ‚Wenn ich noch einmal bemerke, daß Sie absichtlich nicht schießen, melde ich Sie. Dann werden Sie erschossen.‘

Von wilder Angst befallen, bleibt die Mutter auf dem Treppenabsatze stehen und fleht: „Schieße!“

Der Sohn hebt das Gewehr, zielt auf den Franzosen.

Die Mutter sieht die französische Mutter, die in Paris am Fenster sitzt und an ihren Sohn denkt, auf den in diesem Augenblicke gezielt wird vom Sohne.

Die Mutter schreit: „Schieße nicht!“

Der Leutnant: ‚Schießen! Oder Sie werden erschossen.‘

Fleht die Mutter: „Schieße! O Gott, schieße!“ Sieht die französische Mutter. „Nicht! Schieße nicht!“

Läßt das Gewehr sinken. ‚Ich schieße nicht, Herr Leutnant.‘

‚Ihn sofort abführen‘, befiehlt der Leutnant.

Und die Mutter brüllt: „Um Gotteswillen! Schieße! Schieße!“

Da reißt der Sohn das Gewehr an die Backe, zielt: der Franzose wirft die Hände hoch, krümmt sich und stürzt aufs Gesicht.

Die Mutter preßt die Hand aufs Herz, deutet entsetzt mit der Rechten nach Paris zum Fenster, wo die französische Mutter sitzt, eben den amtlichen Brief öffnet und liest: „Ist gefallen.“ Sieht, wie die französische Mutter aufschreit, gläsern glotzt.

Langsam, wie mit einer furchtbaren Mordtat belastet, steigt die Mutter die zweite Treppe hinauf, und ihr sehendes Herz verfolgt den mörderischen Lauf der Kugel, die durch den Franzosen durch und weiter fliegt, nach Paris, der französischen Mutter ins Herz.

Aber der Sohn lebt, wird nicht erschossen, weil er erschossen hat, auf das Flehen der Mutter hin.

Immerzu sieht das Herz der Mutter, wie die Kugel ihres Sohnes den Franzosen durchschlägt, weitersaust, bis nach Paris: der französischen Mutter ins Herz.

Schritte klingen auf der Gasse. Blitzschnell fährt ihr Oberkörper durchs Fenster: ‚Nicht der Briefträger.‘

Ungedacht, ungewollt, dunkel steigt vom Urgrund des Seins schicksalhaft das Gesetz „Schuld und Sühne“ auf und stellt die Mutter vor die tödliche Gewißheit: der zum Mörder gewordene Sohn wird ermordet werden.

Ihr Oberkörper fährt durchs Fenster. Der Blick blitzt die Gasse hinunter, die Gasse hinauf. Kein Briefträger.

Und wie sie den Blick zurückzieht: — Landschaft mit künstlich aufgeworfenen Hügeln. Schutzwehre, Dämme, Hecken. Ausgetretene, lehmige Pfade.

‚Wir schleppen die mit Munition gefüllten Bastkörbe an die vorderste Linie. Über uns zeichnen Granaten drohende Bogen an den Himmel. Weiße Explosionen. Links und rechts, vor und hinter uns. Erdwolken. Leichen. Menschenteile. Unermeßlich furchtbar‘, hatte der Sohn geschrieben.

Die Mutter sieht, wie weiter rückwärts, noch in Sicherheit vor den einschlagenden Granaten, der Sohn und der Kamerad den Munitionskorb hochheben, ihn vorschleppen in die rote Feuerwolke.

Und kann den Sohn nicht zurückhalten, ihn nicht zurückreißen, ist machtlos.

‚Hat es geläutet?‘ Sie zerrt die Tür auf. Stiert in den leeren Hausflur.

Und als die Wohnungsglocke später wirklich läutete und das Aufreißen der Tür den Briefträger zeigte, griff die Hand der Mutter nach einer Postkarte, auf der stand: ‚Den verehrlichen Mitgliedern zur Kenntnis, daß der Gesangverein ‚Frohsinn‘ bis auf weiteres die Singproben ausfallen lassen muß, da immer mehr Sänger dem Rufe des Vaterlandes gefolgt sind und es keinen Zweck mehr hat. Der Schriftführer‘.

Sie legte die Karte auf den Tisch, neben den Suppenteller des Vaters. „Nächste Post . . . Jetzt kann vor vier Stunden kein Brief kommen.“ Vom Sohne,

der in diesem selben Augenblicke, da seine Mutter das in Angst, Qual und Machtlosigkeit dachte, im Schützengraben auf einer Munitionskiste saß.

Seine lehmgelbe Hand hielt einen Brief, den er selbst vor länger als einem Jahre in einem Schützengraben in Rußland an eine imaginäre Person geschrieben, abgesandt und jetzt, machtlos eingemauert in einen Schützengraben der Westfront, zurückbekommen hatte, mit der Aufschrift: Adressat unbekannt.

Als er beginnen wollte, zu lesen, brüllte das tausendfache Brüllen der Geschütze ihm zu, er brauche nicht den Brief zu lesen, er könne die Wirklichkeit ablesen, die entsetzlich genau der an der Ostfront gleiche.

Er hob den Blick: eine weite, öde, gelbliche, leere Fläche, stellenweise dicht bedeckt mit alten und frischen Leichen, langsam sich bewegenden Verwundeten, die nicht geholt werden konnten und langsam starben.

‚Alles geschieht nahe der Erde. Niedrig, tückisch, gefährlich, flächig, farblos, grau . . . Frischfröhliche Reiterattacken, nach denen wir uns auch vor dem Kriege nicht gesehnt hatten, gibt es nicht mehr‘, las er. Und sah hinaus: der Brief aus gelber Erde lag flach aufgeschlagen vor ihm.

Zwischen dem feindlichen Graben und dem des Sohnes lagen sie: flach, schon halb in die Erde versunken. Tote. Eigentlich nur Uniformfetzen; Gesichter und Hände waren schon der Erde gleich geworden. Eine zweite Erdschicht, die aus Toten bestand. Ganz nahe beim Sohn lag ein Toter und glotzte blau. Auch der konnte, obwohl er kaum zwei Meter entfernt lag, nicht geholt werden. Denn hob sich nur ein Kopf, so hoben sich zehn feindliche Gewehre. Der Tote lag schon sechs Wochen vor dem Graben, glotzte und stank. Das Wimmern des Verwundeten, der neben dem Toten lag, hörte nie auf. Horte seit drei Tagen und seit drei langen Nächten nie auf.

‚Brand- und Leichengestank ist unsere Luft. Seit drei Jahren‘, las der Sohn.

Und betrachtete seinen links neben ihm hockenden Kameraden, der gesund-rote, dicke, feste Backen hatte und, vollkommen gleichgiltig gegenüber all dem Entsetzlichen, das um ihn herum geschah, vor sich hin glotzte. Apathisch. Stumpf. Entseelt.

‚So weit bin ich noch nicht. Ich schreibe noch Briefe. An die Mutter. An die Mutter. Schreibe alles Elend, alle Schmach, alles Grauen aus mir heraus, um atmen zu können. An die Mutter . . . Und dann kann die Mutter nicht atmen.‘

Ein qualvolles Lächeln der Selbstverachtung zog seinen linken Mundwinkel herunter, bei der Erinnerung, daß er, damit seine seit drei Jahren im Zeichen von Blut-, Brandstiftungs- und Morddunst stehenden Gefühle nicht ganz unkontrolliert bleiben, ihm die Seele nicht auf Lebenszeit verhärten sollten, immer wieder Briefe geschrieben hatte. Viele Briefe. An die Mutter. Beichten. Anklagen. Selbstanklagen. Schreie. An fingierte Adressaten. Nicht mehr an die Mutter. Um die Mutter zu schonen. Briefe. Briefe. Um sich mitzuteilen. Um nicht zu vergessen. Um sich der Furchtbarkeiten bewußt zu bleiben. Um nicht ein ebenso vollkommen fatalistischer, vollkommen abgestumpfter, gegen alle Entsetzlichkeiten gleichgiltig gewordener, maschinierter Mörder zu werden, wie sein neben ihm hockender armer Kamerad, der sich die Seele aus dem Leibe hinausgemordet hatte. Der auf Befehl geschossen hatte. Geschossen hatte. Weiter schoß, schoß, schoß. Automatisch wie ein automatisches Gewehr.

‚Hinter uns, mörderisch genau eingestellt, kracht die Geschützkette, schleudert Granaten über uns weg in die feindlichen Stellungen. Ununterbrochen. Ununterbrochen Mord! Tag und Nacht. Zahllose Granaten, die den ununterbrochen herüberfliegenden Granaten begegnen. An der ganzen Front entlang. Laut meckerndes Maschinengewehrfeuer. Menschen fallen und sind still. Menschen fallen, stöhnen, brüllen, wimmern, bellen. Fernes Maschinengewehrfeuer. Gegnerisches Maschinengewehrfeuer. Bomben und Minen platzen. Schußwölkchen. Zahllose Schußwölkchen, soweit ich sehen kann . . . Alles flach, grau, farblos, tückisch.‘

Der Sohn sah auf: sah alles, was er gelesen hatte. Und sein vor Entsetzen kranker Blick traf heute zum tausendsten Male den Soldaten, der schwer verwundet und lebendig seit fünf Tagen und fünf langen Nächten im Stacheldrahte hing, grauenhaft langsam die Glieder bewegte. Ganz lautlos. Immer matter. Manchmal schrie er. Immer den gleichen Ton, für den noch keine Sprache das Wort gefunden hat.

„Ein Mensch schreit“, fühlte des Sohnes ganzes Wesen. „Ein Mensch schreit.“

‚Menschen, Millionen Menschen, Menschen schießen aufeinander, ermorden, erschlagen, erwürgen, zerfetzen einander. Seit drei Jahren. Warum?‘

Interesse und gleichzeitig Staunen darüber, daß er sich für einen Gedanken noch interessierte, berührte den Sohn, als er las:

‚Aber nicht gegen das, was hier im Felde geschieht, muß gekämpft werden. Denn diese paradoxe Menschenschlächterei ist nur vordergründlich, ist nur die Oberflächenwirkung des gemeinen Geistes im Lande. Wenn dieser räuberische Geist, der als das lügenhafte Ideal „Nationalismus“ gepredigt und gefeiert wird, überwunden ist, verrosten die Geschütze von selbst.

Wir wollen uns opfern,
wollen lieben,
denkend die Gefühle sieben,
daß der Präsident der Erde
Präsident der Liebe werde.‘

Der Leutnant, den Revolver in der Knabenfaust, schritt gebeugt durch den Graben, vorbei am Sohne, vorbei am Kameraden, der zielte und schoß.

Lautlos, ununterbrochen und qualvoll langsam bewegte der im Stacheldraht hängende Soldat die Glieder.

Der Sohn suchte die Sätze, die er vor einem halben Jahre geschrieben hatte. ‚Gestern ist ein Kamerad neben mir Mensch geworden. Er legte das Gewehr weg, sah uns an, lächelte beseligt. Und als der Vorgesetzte befahl: „Nicht lachen! Schießen!“ lächelte der Mensch ihn an und schüttelte den Kopf. Mit welch kindlicher, grenzenloser Liebe lächelte er uns an. Er hatte durch eine mystische Kraftkurve den Geist der Disziplin, der Knechtschaft, den Geist des Militarismus überwunden, war wieder Mensch: war wahnsinnig geworden. Er wurde ins Irrenhaus gebracht. Es hieß, er würde wieder gesund werden, wieder schießen können. Vielleicht schießt er jetzt auf dem Balkan.‘

Das Geschützfeuer war immer wilder geworden, hatte sich vervielfacht, stieg rasend an. Die einschlagenden Granaten rissen Unterstände, Ballen und Menschen auseinander. Trotzdem verließen, vom Befehle vorgestoßen, lange, dichte Reihen lehmiger Gestalten die gegnerischen Gräben, wurden vom flankierenden Maschinengewehrfeuer glatt auf die Erde gestrichen.

Heulen. Schreie. Wimmern, zuckende Körper. Augen glotzten tot. Ungezählte frische Leichen lagen auf den alten Leichen.

Und nach dem abschließenden wilden Grabenkampfe las der Sohn: ‚Hunderttausende überwinden den Militarismus durch den Wahnsinn. Zehn Millionen verwesen. Zehn Millionen sind Krüppel. Und von den übrigen werden die meisten als präzis funktionierende Mordmaschinen heimkehren. Wie den Kindern das ABC, hat man ihnen den Geist der Gewalt eingepflanzt. Der sitzt. Muß weiter wirken. Mein neben mir hockender einfacher Mordkamerad, der reine Repräsentant seiner Millionen einfacher Mordkameraden, wird in der Heimat automatisch jeden niederstechen wollen, der Recht vor Gewalt zu setzen versucht. Auch der wildeste Schmerzensschrei berührt die im täglich gleichen Laufe von drei Jahren gegen alle Entsetzlichkeiten abgestumpften reinen Träger der Gewalt nicht mehr. Wie auch euch in der Heimat das Leid der Menschen nicht mehr trifft, da ihr, ohne den Verstand zu verlieren, in der Zeitung lesen könnt: dreißigtausend sind gefallen.‘

Da erlebte der Sohn etwas, dem er sich nicht entziehen konnte: er fühlte, wie seine rechte Körperhälfte dagegen war, diesen Brief doch noch an die Mutter zu senden; und fühlte gleichzeitig, wie die Herzseite ihn zwang, den Brief abzuschicken an die Mutter: das einzige europäische Wesen, das niemals abgestumpft und gleichgiltig werden konnte gegenüber dem Leide der Menschen, die alle von Müttern geboren wurden.

Vergebens versuchte er, das immer noch von Sekunde zu Sekunde rasend ansteigende Artilleriefeuer nicht zu hören. Die Erde knallte. Seine Ohren knallten. Sein Gehirn knallte. Er sah, wie der Hammer des neben ihm hängenden Telephons trommelte, las von des Leutnants Lippen das auf die Membrane gebrüllte Wort „Jawohl“ ab. Und wußte, daß die Todesstunde gekommen war für die Grabenbesatzung, die zum Sturmangriffe vorgeschickt wurde.

Fäuste packten die Gewehre. Bajonette starrten. Graue Gestalten, im Graben eng zusammengedrängt. Das waren keine Menschengesichter mehr. Gesichter aus Glas. Augen aus Glas. Das Denken, jede Überlegung war aus dem Sein der Soldaten hinausgefallen.

Auch der Sohn steckt das Bajonett auf den Rohrlauf, denkt noch: ‚Und dann kann die Mutter nicht atmen, wenn sie den Brief bekommt.‘ Denkt: ‚Falle ich?‘ Und wurde vom Befehle vorgestoßen,

während die Mutter machtlos am Eßtische stand und des Vaters Suppenteller füllte.

Ihr abwesender Blick traf die farbige Photographie des beliebtesten Heerführers, die der Vater gekauft und an die Wand gehängt hatte. Der lange Perpendikel der höher hängenden Schwarzwälderuhr schwang über dem Gesichte des Heerführers hin und her.

Genau senkrecht unter dem beständig überquerten Heerführergesicht saß der Vater und las zur Suppe ‚Ein kühnes Patrouillenstückchen‘ in der Zeitung.

Die Mutter wußte nicht, ob sie sich den Sohn hinter der Front oder in der vorderen Linie denken sollte,

während in dieser Sekunde der Sohn, von geschwungenen Gewehrkolben und wildglotzenden Menschengesichtern überdacht, im feindlichen Graben ins Knie glitschte.

‚. . . und machte ihn kurzerhand nieder‘, las der Vater zu Ende. „. . . Was gibts denn?“

„Es ist wieder kein Brief gekommen.“

„Nein, was du zu essen hast . . . Wird schon kommen. Ist ja noch immer gekommen.“

Dann las er den Leitartikel, in dem geschrieben stand, daß das Volk, in unerschütterlichem Vertrauen zu seiner bewährten Regierung, ausharren und infolge seiner Einigkeit neugestärkt aus diesem blutigen Ringen hervorgehen werde. Angefangen bei den geistigen Spitzen und durch alle Volksschichten durch, wisse jeder Soldat, jeder Heim-Krieger, jedes Schulkind, daß dieser Krieg, ein uns aufgezwungener Krieg sei, und daß das Vaterland in Gefahr war.

Das las er der Mutter vor. Und sagte: „Da ist wieder einmal alles ganz klar auseinandergesetzt . . . Diese ausländischen Sakramentslumpen!“

Die Mutter hätte nicht sagen können, weshalb sie unter die Uhr trat und den Perpendikel anhielt, so daß er das Gesicht des beliebten Heerführers in zwei Teile schnitt. Sie sagte müde: „Woher soll denn ein Schulkind wissen, ob uns der Krieg aufgezwungen worden ist . . . Und auch wir gewöhnlichen Leute, was wissen denn wir davon.“

„Das weiß doch jeder Mensch. Und die Kinder . . ., für was sind denn die Schullehrer da. Und wir, wir könnens doch jeden Tag in der Zeitung lesen . . . Was gibts denn?“

„. . . Nur diese Karte ist gekommen . . . Iß halt noch einen Teller Suppe. Vor dem Metzgerladen sind zwei Polizisten und vielleicht dreihundert Frauen gestanden. Ich habe nichts mehr bekommen.“

„Hättest eben früher dort sein müssen . . . Wenn nur dieser Saukrieg einmal ein Ende hätte . . . Diese ausländischen Sakramentslumpen!“

Hungerschwäche und Angst um den Sohn, den sie plötzlich lautlos auf das Gesicht stürzen sah, verdunkelte der Mutter den Blick. Und als sie wieder sehen konnte und den alten Vater betrachtete, der schwer arbeiten mußte und stark abgemagert war, weil er oft nur eine Wassersuppe vorgestellt bekam, schob sie ihm ihren Teller hin. „Das Vaterland war in Gefahr? Nun und jetzt? Eine größere Gefahr für das Vaterland ist überhaupt nicht möglich. Jetzt ist das ganze Volk in Gefahr. Ich weiß ja nicht — ich brauche aber nur in seinem Briefe nachzulesen —, wieviel schon gefallen sind, und wieviel Krüppel sind und wieviel im Lande krank werden und sterben, weil sie so wenig zu essen haben. Und die Kinder, die so aufwachsen! Schau sie nur einmal an. Und daß sie jahrelang nur von Mord reden hören. Was werden denn das für Menschen. Von uns alten Leuten will ich ganz schweigen. Und von den Soldaten draußen sollen ja so viele krank sein. Du weißt schon wie.“

„Was der dir immer schreibt.“

„Daß das Volk jetzt in allergrößter Gefahr ist, das kann man leicht wissen. Das weiß jeder. Dazu braucht man nicht viel Verstand zu haben . . . Der Krieg wäre auch sicher gar nicht gekommen, wenn die vorher gewußt hätten, was jetzt daraus geworden ist. Die haben sich einfach verrechnet. Und grauenhafter Weise nicht wie der Kaufmann nur um eine Geldsumme, sondern um das Blut von Millionen. Um das Blut unserer Söhne. Jetzt würden sie nicht mehr anfangen . . . In seinem letzten Briefe schreibt er: ‚Der Schuß, der den Einzelnen trifft, hat das ganze Volk in die Brust getroffen.‘ Und so ist es.“

„Brust getroffen! Wenn wir doch siegen!“

„Was gibts da noch zu siegen, wenn die Lebenskraft, ja, ‚die beste Lebenskraft des Volkes‘, schreibt er, ‚versiegt ist durch den Tod von Millionen junger Männer; wenn das Volk nur noch aus Verrohten und aus Krüppeln, Kranken, Irrsinnigen, verhungerten Kindern und Frauen und aus ganz alten Leuten besteht‘.“

„Ja warum nicht gar.“ Er klammerte sich an seine Zeitung an, las die neueste Siegesnachricht des Kriegsberichterstatters: in sein sofort wieder beruhigtes Gehirn ließ sich ein Ausschnitt leichenbedeckte Erde nieder. ‚. . . in einer seitlichen Ausdehnung von mindestens 500 Metern, bei reichlich achtzig Meter Tiefe . . . Von unseren sturmerprobten Stoßtruppen im Handgemenge unter auffallend geringen Verlusten mit einer Bravour genommen, die . . .‘

„Lies das, dann kommst du gleich auf andere Gedanken.“

„Ja, ich will die Zeitung gar nicht mehr lesen.“ In der des Denkens ungewohnten Mutter löste sich ein Gefühl los und sank bleischwer in die Worte hinein: „. . . Wenn nur alle einmal nicht mehr daran denken wollten, was in der Zeitung steht; wenn nur alle einmal an die Menschen denken wollten, die jetzt da sterben müssen.“

„Das ist ja Unsinn.“ Der Vater packte die Zeitung fester, sah den leeren Suppenteller an, sah die danebenliegende Postkarte. „Und was ist denn das?“

„. . . Nur diese Karte ist gekommen.“

. . . „daß der Gesangverein ‚Frohsinn‘ bis auf weiteres die Singproben ausfallen lassen muß, da immer mehr Sänger dem Rufe des Vaterlandes gefolgt sind und es keinen Zweck mehr hat.“

Eine schwarze, durch nichts auszufüllende Lücke tat sich auf in seinem Leben. Er suchte in der Zeitung nach Fettgedrucktem.

„Keinen Zweck mehr hat. Unsinn!“

Plötzlich schrie er wütend die verstört blickende Mutter an: „Warum hältst du denn die Uhr auf“, begann noch einmal, ‚Ein kühnes Patrouillenstückchen‘ zu lesen.

„Dann ist ja gar kein Zusammenhalt mehr, wenn die Proben jetzt ganz ausfallen . . . Singen hätten wir immer noch können“, sagte der Vater,

während der Sohn, verdreckt, mit Menschenblut bespritzt und vor Grauen und Entsetzen gläsern glotzend, mit den wenigen noch übriggebliebenen, verdreckten und mit Menschenblut besudelten Kameraden über die gefallenen Kameraden weg, wieder zurück in den Graben taumelte.

Die Artillerie arbeitete weiter. Die Schüsse krachten in rasender Folge. Der Sohn fiel sofort in Schlaf.

Die Mutter trat unter die Uhr: der Perpendikel schwang weiter hin und her über dem Gesichte des beliebten Heerführers. Das sah in dem düstern Hofzimmer aus, als hätte der Heerführer an Stelle des Gehirns eine Maschinerie, die unabänderlich weiterging, wenn nicht ein Mensch vortrat und sie aufhielt.

Wenn nicht ein Mensch oder Gott selbst vortrat.

So eine wunderschöne, unbeschreiblich süße, herrlich durch den Weltenraum schwingende Musik hatte der Sohn noch nie gehört. Wer sie vernahm, wurde gut. Scharfrichter warf das Beil weg, stürzte in die Knie zu dem am Blocke knieenden Mörder. Und beide begriffen ihr früheres Leben nicht mehr.

Der Sohn fragte den guten Herrn, der ihn in den deckenlosen, vom Sternenfirmament blau überdachten Saal geführt hatte, wer diese Musik geschrieben habe.

Der gute Herr mit den traurigen Augen flüsterte: „Diese Musik hätte ein Soldat geschrieben, der gefallen ist.“

„Ach“, flüsterte der Sohn, fühlte aber im selben Augenblicke, wie sein ganzes Wesen sich in weißfließendes Glück verwandelte. Denn plötzlich sah er ‚Die einfache Stadt‘: Gebäude von solch unsäglich durchseelter Architektur, daß, im Angesichte dieser göttlichen Klarheit, alle schweren, dunklen Gefühle aus den Menschen hinaus- und in das Nichts zurückfielen. Der Sohn stand so im Glücke, daß er kaum wagte, es zu betasten mit der Frage: „Wer hat diese Stadt gebaut ?“

Die Lippen des guten Herrn bebten.

„Nein! Schweig“, flüsterte der Sohn, entsetzt, wie nie in seinem Leben.

„Wahrlich, diese Stadt hätte ein Soldat gebaut, der gefallen ist.“

Da verschwand die Stadt. Und der Sohn hielt ‚Das Buch der Menschheitszukunft‘ in der Hand. Und las in einer Sekunde das ganze Buch von Anfang bis zu Ende. Denn öffnete man es, so flossen alle seine Bilder und Gedanken zusammen in ein einziges Wort. Und wessen Seele von diesem Wort berührt wurde, der war erlöst und gut. Liebe stand auf seinem Angesichte. „Da brauchen wir dieses herrliche, allmächtige ‚Buch der Menschheitszukunft‘ ja nur vor das Auge der Menschheit zu legen, und die Welt ist von allem Bösen erlöst und der milden Regierung der Liebe heimgegeben. O, fließende Verschwisterung“, flüsterte der Sohn. „Wer hat denn dieses Buch geschrieben?“

„Das hatte ein junger Dichter geschrieben, der gefallen ist.“

Schwarzer Donner klang von fernher.

Von seiner klagenden Seele getragen, flog der Sohn erbebend vor die dunkle Frage hin: „Welcher Nation gehörten diese Toten an ?“

Das Gesicht des guten Herrn wurde zu zwei trostlos weinenden Augen, deren Blick langsam und deutlich die Worte sprach: „Das weiß man nicht.“

Plötzlich sah, mit allen grausigen Einzelheiten, der Träumende, was er vor einer halben Stunde beim Sturmangriff wirklich erlebt und gesehen hatte: das leinenweiß gewordene Gesicht des jungen Franzosen, der in das Bajonett des Sohnes hineingerannt war.

Und er brüllte in der ewigen Sekunde, die zwischen Schlaf und Wachsein stand, dem zum Unteroffizier werdenden guten Herrn in unermeßlichem Entsetzen zu: „Aber ich weiß es. Ich!“

„Auf! Noch ein Sturmangriff!“ schrie der Unteroffizier, der den Sohn wachgerüttelt hatte.

„Ich! . . . Ich weiß es.“

„Warum schlafen Sie denn dann?“

Der ganze Himmel donnerte. Von Menschenblut noch durchnäßte Soldaten, im Graben eng zusammengedrängt. Gesichter aus Glas. Augen aus Glas.

Die Welle entseelter Menschen wurde vom Befehle vorgestoßen. Und das zu einem einzigen ungeheuren, erderschütternden Knall zusammentönende Knallen der mit rasender Schnelligkeit feuernden Geschützkette wurde mild überflüstert von des Sohnes Seele, die ihm gebot, zu sühnen, indem er sterbe, damit er lebe.

Er stand reglos, umtobt von den in wildem Kampfe ineinander Verbissenen. Hier, im Mittelpunkte des Knallens, war es totenstill. Es wurde handwerklich und ganz lautlos gemordet.

Eine nachkindliche, zweite Naivetät beseelte ihn mit der Frage: „Weshalb tun die Menschen das? Das darf kein Mensch befehlen. Kein Mensch darf diesem Befehle folgen.“

Die Sekunde gebar ihm ein letztes, noch irdisches Bild: er sah den ganzen Erdball sich zu einer Trommel ordnen, auf der der Militarismus mit Granaten einen Wirbel schlug.

‚Menschen, die einander nie gesehen, einander nichts getan haben, Menschen, die sich lieben, ja, sich lieben, Kameraden, Kameraden erschlagen einander‘, fühlte er noch, vom Jenseits schon berührt. Und das schon nicht mehr gedachte, nicht mehr gefühlte, als zerfließendes, jenseitiges Bild geschaute Ahnen besuchte ihn: ‚Die Seele, die den ganzen Umfang dieser Furchtbarkeiten sähe, müßte sterben; die Seele macht das Auge zu.‘

Die Augen des Sohnes, der inmitten von mordenden und fallenden Menschen reglos stehen blieb, waren weit geöffnet.

Das Bajonett fuhr unterm Kinn beim Halse hinein, durch den Kopf: sein Körper schlug, wie der Akrobat, einen Bogen nach rückwärts, daß die Fußsohlen und die Handflächen die Erde berührten, und verharrte tot, von Leichen gestützt, in dieser Stellung, einem Brückenbogen gleich.

Die Mutter, die unter der Haustür stand und auf den Briefträger wartete, baute sich das Glück auf, daß der Sohn leicht verwundet und auf diese Weise dem Unausdenkbaren entronnen sei. Er befindet sich schon auf der Heimreise. Er kommt sogar mit einem früheren Zuge an, als die Mutter erwartet hat. ‚Gut, daß ich früher da war‘, fühlt sie. Und steht in der Bahnhofshalle, an das Gitter gelehnt, blickt hinaus, die Schienen entlang, auf denen der Zug eben einläuft. ‚Entronnen‘, fühlt sie, ‚entronnen‘, sieht, wie der Sohn aus dem Zuge herausspringt und schon von ferne den verwundeten Arm grüßend hebt. ‚Eine kleine, ganz ungefährliche Verwundung, sonst könnte er den Arm ja nicht heben. Glücklich dem Tode entronnen‘, fühlt immerzu die Mutter, fühlt gleichzeitig immerzu das schwarze Gespenst, daß ja alles nur ein Wunsch von ihr war. Und springt, lautlos jubelnd, in das Glück hinein: dem Sohne an die Brust.

Der Postbote bog langsam um die Ecke, den sortierenden Blick auf die Briefe in seiner Hand gerichtet. Und die Mutter stürzte in die Wirklichkeit zurück: dem lächelnden Postboten entgegen, der ihr den seit vierzehn Tagen und vierzehn Nächten erwarteten Brief gab; einen der Beruhigungsbriefe des Sohnes, in denen er, gepeinigt von Selbstanklagen und in Angst um die Mutter, seine mit Schrecknissen angefüllten Beichtbriefe wirkungslos zu machen versuchte.

‚Eigentlich, genau besehen, weißt Du, geht es mir ausgezeichnet. Ich war körperlich nie so gesund wie jetzt. Denk an, körperlich nie so gesund wie jetzt‘, schrieb der tote Sohn. ‚Und wenn ich zurückkomme, dann gehen Du und ich zusammen einige Wochen aufs Land. Einmal sind wir vornehm und gehen auch aufs Land. So viel Geld habe ich gespart. Wir wohnen an einem Flusse. Direkt, am Flusse. Du in einem sonnigen Zimmer, ich daneben; es ist eine Verbindungstür da. Unsere Fenster gehen auf den Fluß hinaus. Hinter dem Flusse sind die Hügel, steht der Wald. Es wird gerade Frühling sein, wenn ich zurückkomme. Solltest mich sehen: so gesund wie jetzt war ich nie‘, wiederholte der Sohn, der, von Leichen gestützt, als toter, verwesender Brückenbogen zwischen den Schützengräben stand.

Das Glück floß breit in der Mutter.

Wie immer, wenn sie einen Brief erhalten hatte, war ihr der Sohn so nahe, daß sie seine körperliche Anwesenheit fühlte, mit ihm sprach, ihm Ratschläge erteilte, solche von ihm annahm, ihm Vorwürfe machte. ‚Jetzt setze dich einmal dorthin, dort in die Kanapee-Ecke.‘

‚Nun, also jetzt sitze ich.‘

‚Sieh mal, du weißt doch, daß der Vater für nichts Interesse hat, als nur für seine Zeitung und für seinen Gesangverein.‘

‚Aber das kann ja vielleicht gar nicht anders sein, Mutter. Er ist fünfundsechzig Jahre alt und steht seit fünfzig Jahren täglich von früh sechs bis abends sechs an der Hobelbank. So ist er aufgewachsen; so ist er alt geworden. Deshalb hat er nichts als seine Zeitung und seinen Gesangverein.‘

‚Aber er konnte sich doch denken . . .‘

‚Er hat längst vergessen müssen, daß er ein Mensch ist, Mutter. Abgerackert und totmüde ist er seit fünfzig Jahren am Feierabend. Er darf nicht denken; denn sonst würde er sich vielleicht daran erinnern, daß er einmal ein Mensch war.‘

‚Davon wollte ich überhaupt gar nicht reden. Ich wollte ja . . .‘

Der Sohn saß nicht mehr in der Kanapee-Ecke. Er war, vom Tode bedroht, in der vordersten Linie.

‚Ich wollte ja den einundneunzigsten Psalm beten‘, dachte die Mutter, die im Laufe eines Lebens immer sich gleichgebliebener grauer Not und absoluter Aussichtslosigkeit, daß jemals eine Besserung eintreten könnte, ihren Glauben verloren und das Beten verlernt hatte; die fünfundsechzig Jahre unter der Eisenplatte geatmet hatte, unter der die europäischen Träger der Armut stehen und vergehen, und durch die sie hoffnungslos getrennt bleiben vom Geiste, vom Lichte, vom Leben, vom Menschentum. Nur wenn der Sohn auf dem wüsten Wege, der, durch die Eisenplatte, empor zum Geiste führt, von einer Gefahr bedroht gewesen war, hatte die Mutter den einundneunzigsten Psalm gebetet.

Sie mußte nicht suchen: die Bibel, immer nur und oft an dieser Stelle gebraucht, tat sich beim einundneunzigsten Psalm auf. Und die Mutter sah, wie die auf ihren Sohn zusausenden Kugeln, vom Gebete in ihrem mörderischen Fluge aufgehalten, vor des Sohnes Brust senkrecht zu Boden fielen, als sie die mit Bleistift unterstrichenen Stellen wiederholte:

„Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt, und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,

der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.

. . . Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,

daß du nicht erschrecken müssest vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen,

vor der Pestilenz, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die im Mittage verderbt.

Ob tausend fallen zu deiner Seite, und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen“,

betete die Mutter, Und blieb, in Hoffnung und in düstere Angst gespalten, sitzen und war nicht erlöst.

Denn die Welt war nicht erlöst, da nicht alle Menschen gleich den Müttern und nicht alle Mütter . . . Mütter waren.

Der Brief, den der Sohn in Rußland an eine imaginäre Person geschrieben, nach einem halben Jahre an der Westfront zurückerhalten und doch noch an die Mutter geschickt hatte, traf erst Wochen nach dem Tode des Sohnes ein, zu einer Zeit, in der die Mutter noch immer nicht wußte, daß der Sohn schon gefallen war. Von den fetten Schützengrabenratten schon halb aufgefressen war.

Der Sohn hatte vergessen, die Überschrift zu ändern; die bebende Mutter las:

„Sehr geehrter Herr, erlauben Sie mir, Ihnen den Seelenzustand meines Freundes zu schildern. Es ist Ihnen gewiß auch schon widerfahren, daß Sie beim Hinabsteigen einer Ihnen seit Jahren vertrauten Treppe, im Dunkeln vor der letzten Stufe irrtümlich vermuteten, schon ganz unten zu sein: Ihr zum Ausschreiten vorgestrecktes Bein findet keinen Boden. Sie kennen diese körperliche Erschütterung, die so plötzlich eintritt, daß Dunkelheit und Tiefe, in die Ihr Bein versinkt, in die Höhe und in das überraschte Gehirn hineinsausen und einen seelischen Schreck verursachen. Stellen Sie sich vor, Sie würden drei Jahre lang, so ununterbrochen wie Sie atmen, in diese unerwartet vor Ihnen sich auftuende Tiefe hineintreten, drei Jahre lang ununterbrochen diesen kleinen Seelenschreck erleben. Und stellen Sie sich jetzt, wenn Sie können, diese beständige Seelenerschütterung millionenfach gesteigert vor.

Dagegen gibt es, wie unglaublich Ihnen das auch erscheinen mag, ein Hilfsmittel. Die Gewohnheit. Die meisten Menschen vermögen an Stelle ihrer Seele die Gewohnheit zu setzen. Das tun die Millionen entseelten Soldaten, die dann gewohnheitsmäßig weiterschießen, weiter ihre Gewehrkolben in feuchte Menschengehirne hineinschlagen, weiter das leise zischende Bajonett in weiche Unterleiber hineinstoßen und nicht erschüttert werden, weil der sich Krümmende genau so glotzt wie der, der sich gestern krümmte und fiel.

Es gibt, sehr geehrter Herr, noch ein Mittel. Den Wahnsinn. Diesen Vorgang brauche ich Ihnen nicht näher zu erklären; ich brauche Ihnen einstweilen (denn ich werde Ihnen noch viele Briefe schreiben) nur zu sagen, daß die Träger einer stärkeren Seele, eines empfindlicheren Gewissens sich in die Gewohnheit nicht hineinzuretten vermögen und deshalb natürlich wahnsinnig werden müssen.

Ich habe versucht, Ihnen die Seelenerschütterung begreiflich zu machen, die ein drei Jahre lang uns unterbrochen treppab steigender Mensch empfände, der drei Jahre lang bei jeder Stufe ununterbrochen mit dem zum Ausschreiten vorgestreckten Bein in die nicht erwartete Tiefe sänke. Und habe gesagt, daß diese beständige Seelenerschütterung beim Frontsoldaten millionenfach gesteigert ist. Setzen Sie beispielsweise an Stelle der nicht mehr erwarteten Treppenstufe folgenden unwahrscheinlichen Vorgang (auch die Menschenschlächterei ist absolut unwahrscheinlich): Sie mieten ein möbliertes Zimmer im vierten Stock und öffnen zum erstenmal die Balkontür, treten hinaus, um sich an der schönen Fernsicht zu erfreuen, und stürzen hinunter, weil hinter der Tür kein Balkon ist. Stellen Sie sich vor allem den Moment vor, in dem Ihr überraschtes Bewußtsein in blitzartiger Erschütterung erkennt, daß kein Balkon da ist und daß Sie rettungslos hinunter in die Tiefe stürzen müssen. Da der Mensch Mitgefühl mit seinem Nächsten hat, werden Sie, auch wenn Sie nicht dieser Unglückliche sind, sondern unten auf der Straße stehen und zusehen, wie ein Mensch vom vierten Stocke herabstürzt, ebenfalls diese plötzliche Seelenerschütterung erleben. Und wenn Sie eine Woche lang ununterbrochen zusehen müßten, wie Menschen aus dem vierten Stocke herabstürzen, würden Sie endlich zu lachen beginnen, das heißt, wahnsinnig werden. Oder Sie würden die Augen zumachen, das heißt, sich allmählich daran gewöhnen, daß Menschen vom vierten Stocke herabstützen.

Vergegenwärtigen Sie sich jetzt, wenn Sie können, diesen Seelenschlag in unausrechenbarer Steigerung und ununterbrochen drei Jahre lang erfolgend, dann werden Sie begreifen, daß die große Mehrzahl meiner armen Kameraden sich in die Gewohnheit und die übrigen sich in den Wahnsinn hinein retten müssen.

Und nun bitte ich Sie, eine Seele schreit in Todesnot, ich bitte Sie, raten Sie mir, was soll mein Freund tun, der nicht wahnsinnig und auch nicht eine gewohnheitsmäßig funktionierende Mordmaschine werden kann, da er, göttlich auserkoren, Träger eines beständig wachen Gewissens, Träger einer beständig fließenden Seele ist.

Ich bitte Sie, verschieben Sie jede noch so wichtige Tätigkeit und beantworten Sie mir erst diese Frage, wenn Sie eine Antwort auf diese Frage haben. Legen Sie diese Frage allen Ihren Freunden und Bekannten, legen Sie diese Frage der ganzen Menschheit vor. Eine Seele wartet auf Antwort.

Sollte jedoch Ihre Antwort sein, daß meine Ausführungen die gefühlsmathematische Notwendigkeit ergeben, solch einem Menschen bleibe nichts anderes übrig, als zu fallen und zu sterben, dann brauchen Sie mir nicht zu antworten, da ich selbst schon seit langer Zeit diese Antwort auf die Frage meines Freundes bereithalte. Sollten Sie und die Welt dieselbe Antwort haben, so würde die Erfahrungstatsache, daß unter den Gefallenen immer die Besten des Volkes sind, zu der seelischen Gesetzmäßigkeit erhoben werden, daß unter den Gefallenen die Besten des Volkes sein müssen. Daß die erkorenen, jungen Träger der Wahrheit fallen müssen. Daß die jungen, feurigen Träger des ewig unverrückbaren Menschheitsideales ‚Liebe‘ fallen müssen. Daß die jungen Dichter nicht zurückkehren können. Daß bei ihnen allen einmal der Augenblick kommen muß, in dem sie ganz bei sich selbst angelangt sind, ihr Körper sich bedingungslos der Seele unterordnet und ohne Gegenwehr den Todeshieb empfängt . . .“

Weiter las die Mutter nicht. Die Möglichkeit, weiter zu lesen, war nicht mehr vorhanden; die Denkfähigkeit war aus der Mutter hinausgefallen. Und ihr Gefühl war abgekapselt. Sie saß ganz unbewegt am Tische und sah interesselos den zweiten Brief an, den sie noch nicht geöffnet hatte, weil die Adresse nicht vom Sohne geschrieben war.

Dieses amtliche Schreiben enthielt die kurze Nachricht, daß der Sohn gefallen sei. „Auf dem Felde der Ehre“. Die ahnungslose Mutter ließ das Schreiben uneröffnet liegen.

Plötzlich und schnell, als dürfe nicht eine Sekunde Zeit verloren werden, wurde ihr Körper vor die Kommode gestellt; sie nahm aus dem Drahtkörbchen, das einen bemalten Porzellanboden hatte, den alten Trostbrief heraus und las:

‚Eigentlich, genau besehen, weißt Du, geht es mir ausgezeichnet. Ich war körperlich nie so gesund wie jetzt. Denk an, körperlich nie so gesund wie jetzt . . . Zurückkomme, dann gehen Du und ich einige Wochen aufs Land . . . In einem sonnigen Zimmer, ich daneben . . . Verbindungstür da . . . Gerade Frühling sein . . .‘

Neue Hoffnung durchbrach die Kruste. Und in der Mutter stand ein ungeheurer Wille auf, den Sohn aus der Todesgefahr heraus-, in diese Frühlingswochen hineinzureißen, wo nur noch Glanz und Liebe war.

Ihr werde es gelingen, bis zum Kaiser vorzudringen. Und wenn es nicht anders ginge, sie werde hinauslaufen an die Front, in den Schützengraben und ihren Sohn holen. Sie werde sagen: ‚Das ist mein Sohn. Mein! Mein Sohn!‘ „Es gibt Mittel und Wege. Mittel und Wege. Viele Mittel und Wege. Ich werde totkrank, damit der Sohn Urlaub bekommt. Was auch geschieht, ich lasse ihn nicht mehr fort. Ich werde ihn einsperren. Ich werde ihn verstümmeln. Verstecken. Keller. Wald. Meinen Sohn in meinen Leib zurücknehmen.“

Automatisch öffnete sie das amtliche Schreiben. Las: ‚Feld der Ehre gefallen‘.

„Wer denn? Wer?“ Sah auf.

Die glänzende Kante des lackierten Kleiderschrankes, das Gesicht des beliebtesten Heerführers, der hin- und herschwingende Perpendikel stürzten auf sie zu.

Ohne den Bruchteil einer Sekunde zu warten, machte sie eine blitzschnelle Drehung türwärts. Und flog schreilos aus dem Zimmer, den dunklen Gang vor, aus der Wohnung hinaus, die Treppe hinunter, die Gasse hinunter, die breite Asphaltstraße hinunter. Immer in der Mitte: schwarz, vornüberstürzend, lautlos. Sie hatte Filzschuhe an.

Passanten blieben stehen; es bildeten sich Gruppen. „Was hat sie?“ Das selten berührte Gefühl gedankenlos lebender Menschen wurde von etwas Unbegreiflichem getroffen. Kein einziger wußte, daß es die absolute Ziellosigkeit war, die sie erschüttert aus dem Rennen der Mutter herausfühlten. Und als ein junger Arbeitet das amtliche Schreiben, das er gefunden und aufgehoben hatte, vorlas, sanken die Worte in die aufspringenden Herzen hinein. Junge Leute galoppierten der Mutter nach.

Sie hetzte durch Stadtviertel, dem Schrei entgegen, der zusammengeballt in ihrem Halse saß und nicht durch konnte.

In allen Straßen bildeten sich Gruppen betroffener Menschen, die von den Nachspringenden über das Unglück der Mutter aufgeklärt wurden, sich ihnen anschlossen.

Eine Kompanie junger Soldaten, feldmarschmäßig ausgerüstet, blumengeschmückt, singend auf dem Wege zum Bahnhof, sauste auf die Mutter zu und im Fluge an der Rasenden vorbei.

„. . . dir die Hand nicht geben . . .“

Ein Lastfuhrwerk. Ein Schutzmann zu Pferde.

„. . . dieweil ich eben lad’ . . .“

Schon weit hinter ihr verklingend.

Erst Minuten später sprengte das von ihrer Seele im Fluge aufgenommene Mordlied den Schrei, der sich im Halse zusammengeballt hatte.

Der Schrei platzte. Die Mutter schrie und rannte. Schrie länger als ein Atemzug reicht. Stolperte. Fiel nicht. Holte Atem. Schrie weiter.

Das war kein Klagegeschrei. Rennen und Schrei kamen aus einer Quelle und verschmolzen in Eins. Stille auf der ganzen Erde. Nur die europäische Mutter schrie. Schrie jetzt die unterdrückten Schreie dreier Jahre.

Niemand wagte den Versuch, sie aufzuhalten. Denn hier schrie nicht ein Mensch; hier schrie die Menschheit. Alle fühlten das.

Und eher könnte es einem neben dem Geleise Stehenden gelingen, den heransausenden D-Zug mit dem Zeigefinger aufzuhalten, als daß es aller Macht der Welt zusammen gelänge, Schweigen zu erzwingen, wenn die getroffene Menschheit schreit.

Der Schrei wurde gehört. In Paris, London, Rom, in Amerika, in Kasernen und in Dachkammern. Er wurde in Petersburg gehört. Er sauste hinein in die Herzen. Und er riß die Herzen der Menge auf, die der springenden Mutter straßenentlang folgte.

Die ganze Stadt fühlte zum ersten Male plötzlich den Tod der Millionen Söhne, das Leid der Millionen Mütter, da sie das Leid dieser einen Mutter sah.

Ihr Schrei war schon nicht mehr der einer Frau; er war tief und rauh geworden, geschlechtlos: ein Menschenschrei, unterbrochen von kurzen Atempausen, in denen das horchende Herz der Menschheit stockte.

Ein junger Schutzmann überholte galoppierend die gewaltige Menge und packte den Arm der schreienden Mutter, die mit dem Schutzmann weitersprang, als habe sie einen brüderlichen Leidensgenossen bekommen. Seine Hand wurde lahm und sank, als er, beim Blick in ihr Gesicht, fühlte, daß er dem Schmerze der Menschheit ins Gesicht sah.

Jetzt erst stieg der tausendstimmige Entrüstungsschrei der Menge, getragen wie ein Choral, und der junge Schutzmann ahnte, von diesem Tone tief getroffen, daß hier nicht Sensation, sondern der unbesiegbare Geist der Menschlichkeit sich kundtat.

Hemmungslos, blind für alle Hindernisse, sprang die vornüberstürzende Mutter wie eine schwarze Kegelkugel die Asphaltstraße, die vom Dome abgeschlossen war, hinauf, durch das offene Portal in die Kirche hinein, lautlos weiter geradeaus, durch den Mittelgang, bis vor den Altar,

über dem der Sohn am Kreuze hing und hinuntersah zum Priester, der, von Kindheit an in der Lüge versunken und ertrunken, eben zum schmerzverzerrten Gesicht empor log:

„. . . der du unseren Waffen deinen göttlichen Beistand schenktest, Lob und Preis und Dank sei dir, der du unsere Waffen gesegnet und mit Sieg gekrönet hast.“

Sie rannte die drei Stufen hinauf, prallte gegen den Priester.

Durch alle Türen drängte die Menge herein. Und die Veranlassung dazu verbreitete sich schnell unter den Kirchenbesuchern: fast nur alten Frauen, von denen die meisten ihrer Söhne beraubt waren. Mütter, die, von tödlicher Verzweiflung getrieben, ihre letzte Zuflucht bei Gott suchten, und von Gott, von der Liebe getrennt blieben durch die Lügenmauer, die der um Sieg und Segen für unsere Waffen und um Verderben und Tod für den Feind bittende Priester vor ihren Seelen auftürmte.

Die Mutter vernahm seine letzten Worte und stand, wie von Gott gesandt, eine ewige Sekunde aufgerichtet vor dem Priester. Da flog das von Gott selbst ihr auf die Lippen gegebene Wort „Lüge!“ durch die Kirche und zerriß die ungeheure Spannung.

Sie warf in einem wilden Schwung die Hände empor zum schmerzverzerrten Sohne. Der geängstigte Priester wollte die Mutter wegreißen. Während des kurzen Kampfes prallten beide gegen den Altar:

der Sohn schwankte und neigte sich und sank nach vorne in die empfangenden Arme der Mutter.

Der entsetzte Priester trat zurück.

Ein Hauch zog durch die Kirche, verdichtete sich zu vielstimmigem Geflüster und wurde ein Ton, den die Orgel aufnahm und motivisch mit dem melodisch ansteigenden Vorspiele verband.

Die erhöhte Mutter stand, das Gesicht den Gesichtern zugedreht, den umschlungenen Sohn an der Brust, reglos vor dem Altare, entschlossen zum Sturme gegen Gewalt und Mord. Und alle sahen, daß sie das persönliche Leid hinter sich gelassen hatte und nach dem wilden Schmerzenslauf durch die Stadt in dieser Sekunde den dunklen Mächten entronnen und eingetreten war in die weißfließende Liebe.

Ganz in ruhevollem Glanze versunken, stieg die Verklärte die drei Stufen herunter, ging langsam durch den Mittelgang.

Und die unglücklichen Mütter brachen, vom Unnennbaren berührt, los von der Lüge und folgten. Es wurde kein Wort gesprochen, und nicht ein Mensch blieb zurück.

Nur noch der Priester stand seitwärts neben dem Altare, die weitgeöffneten Augen auf die einmütig Abziehenden gerichtet. Da brach sein Kopf auf die Brust, als habe er einen Hammerschlag in den Nacken bekommen. Er hob das nicht wieder zu erkennende Gesicht und folgte

dem Zuge, der schweigend und mit göttlicher Selbstverständlichkeit die Stadt durchzog und von Minute zu Minute mächtiger anschwoll, beständig vergrößert durch die plötzlich Sehendgewordenen.

Drei Jahre, gefüllt mit Begeisterung, mit Blut, mit zehnmillionenfachem Morde, mit Glauben an die Lüge, mit Standhaftigkeit, Arbeit, Hunger, mit Leid und Leid und Leid waren durchschritten. Nichts war unversucht geblieben; alles war ertragen worden. Vergebens. Der blutige Kreis hatte keinen Ausweg.

Jetzt schritten die Menschen geschlossen und still in den Ausweg: in die Wahrheit hinein. Ohne Worte der Erklärung. Die Neuhinzukommenden fragten nicht. Niemand sprach ein Wort. Die Wahrheit braucht nicht den Ton. Die Wahrheit ist still.

Der für die Menschen am Kreuze gestorbene Sohn, von der Mutter Europas dem Kriege vor das Mordgesicht gehalten, öffnete von neuem die Herzen für die Liebe, deren weißglühender Strom den kilometerlangen Zug beständig durchfloß und allen Widerstand der noch von dunklen Mächten Gefesselten verbrannte.

Aus den Augen eines reitenden Schutzmannes, der den Zug begleitete, brach plötzlich das innere Licht. Er stieg ab.

Und das Pferd, getrennt von seinem Herrn, ganz verbunden mit den Menschen, schritt mit und blickte tief, kindlich und gut.

Stumpfe Menschen, vom Leide ausgehöhlt, empfingen den Keim neuen Lebens. Väter, Mütter, Kriegswitwen, Krüppel, in den mildglänzenden Augen die unmeßbar tiefe Freude von Menschen, die alles hingegeben und verloren hatten und nun plötzlich zusammen mit Brüdern gingen.

Von Zweifel und Frage nicht berührt, dicht hintereinander, fast am Platze marschierend, dem Ziele zu, das alle im Herzen trugen.

Ein endloser, schweigender Zug von Brüdern, dem Menschheitsziele entgegen, über den Untergang hinaus, hinein in das neue Zeitalter, das im Zeichen der Wahrheit, der Freiheit und der Liebe steht.

Sie schritten ganz langsam eine breite, unabsehbar lange Asphaltstraße hinunter und nahmen, tief vertraut mit der Atmosphäre der großen Zeitwende, in der die Ereignisse ohne Frage und Antwort begriffen werden, mit göttlicher Selbstverständlichkeit wahr, daß ihrem Zuge ein gewaltig langer Bruderzug entgegenkam. Ganz langsam und schweigend.

Voran der Kellner, auf dessen von Mund zu Mund getragenes Wort Millionen horchten.

Neben ihm die Versicherungsagentenwitwe, die vom Kellner dem Hasse entrissen und in den tieferen, in den radikalsten Protest gegen den Mord: in die Liebe gestellt worden war.

Der von diesen beiden angeführte Revolutionszug der Liebe traf mit dem unabsehbar langen Revolutionszug der Liebe, den die Mutter und der Gekreuzigte anführten, bei einer asphaltierten, breiten Querstraße zusammen.

Keine Frage. Keine Erklärung. Kellner und Agentenwitwe und die Mutter mit dem gekreuzigten Sohne blieben voreinander stehen, Auge in Auge.

Die Seitwärtsgehenden beider Züge bogen links und rechts in die Querstraße ein: ordneten sich zu einem riesenhaft großen, schwarzen Menschenkreuz, zu dessen Mittelstück das neben der Mutter stehenbleibende, reiterlose Pferd des Schutzmannes wurde.

Unvermittelt kam die Erleuchtung über abgearbeitete, vom Hunger geschwächte Menschen. Sie lösten sich los, standen plötzlich auf Balkonen.

Und sprachen hinunter zum schwarzen Menschenkreuz, in dessen Mitte der gekreuzigte Sohn ragte.

Das zu den Rednern emporgerichtete Gesicht der verbrüderten Menge leuchtete weiß. Und die Worte des neuen Zeitalters sanken, wie vor zweitausend Jahren, hinein in die durch mörderisches Leid wieder für die Liebe bereit gewordenen Menschen.

IV
Das Liebespaar

Früh um fünf Uhr läutete die Wohnungsglocke langgezogen in den Traum des Rechtsanwaltes hinein.

Der Schlaftrunkene tappte durch den dunklen Wohnungsflur zur verschlossenen Tür. „Wer ist da?“

„Die Polizei.“

Sofort fiel ihm ein, daß er am Tage vorher in einer Gesellschaft gesagt hatte: „Der Hotelkellner, der die revolutionären Friedensdemonstrationen verursacht und dabei den Leuten erklärt, daß militärische Eroberungen menschenunwürdig und militärische Siege nicht maßgebend sind für den inneren Wert einer Nation, leistet für die Zukunft des Volkes mehr als unser berühmtester Heerführer.“

Und jetzt lassen mich die Scharfrichter der Menschlichkeit verhaften, dachte der Rechtsanwalt und öffnete. „Wen suchen Sie?“

„Der bin ich selbst.“

„Sie möchten ins Leichenschauhaus kommen, Herr Doktor. Dort ist ein Selbstmörder eingeliefert worden, bei dem nur Ihre Visitenkarte gefunden wurde. Sonst nichts.“

„Sonst nichts? . . . Ich meine, sonst liegt nichts vor?“

„Sie möchten feststellen, wer der Selbstmörder ist.“

Noch Morgenstille in Berlin. Dämmerung in den Asphaltstraßen.

Eine leicht bewegte, in Viererreihen streng geordnete Menschenmenge steht an der Markthalle entlang. Grau, spukhaft und ungeheuer bedrückt.

„Auf was warten die Leute?“ fragte der Anwalt einen alten Arbeiter, der zerrissene, mit Bindfaden geflickte Lackschuhe anhatte.

„Es gibt städtische Fische . . . Um ein Uhr mittags beginnt der Verkauf.“

„Und da stehen die Leute jetzt schon hier? Früh um fünf Uhr?“

Wie die Worte klingen in der Stille, dachte er.

„Wir stehen schon seit gestern abend um zehn Uhr hier . . . Die Rückwärtigen, die erst gegen Mitternacht gekommen sind, kriegen wahrscheinlich nichts . . . Vielleicht aber doch; wahrscheinlich aber nicht.“

Der Anwalt ging mit dem Schutzmann weiter. ‚Man hat diesem wunderbaren, geistig entsetzlich ruinierten Volk die Pflicht, für den Staat zu leben und zu sterben, eingegeben, und an diesem Brocken würgen die siebzig Millionen — daheim und an den Fronten — so lange, bis sie erstickt sein werden im Dienste eines Staates, dessen Geist — vorsichtig gesprochen — schwer mitschuldig ist am Kriege. Millionen sind schon an dieser falschen Pflicht erstickt. Wann wird dieses Volk ebenso stoisch für die Freiheit dulden?‘

„Hier ist das Leichenschauhaus.“

„Danke. Ich schreibe den Bericht heute noch an das Polizeipräsidium.“ ‚Wenn täglich Tausende an der Front krepieren, weshalb da nicht täglich Hunderte in der Stadt für die hohe Idee? Für die Freiheit? Für die Verbrüderung? . . . Wo ist der Idealismus dieses Volkes geblieben?‘

Der lag im Leichenschauhause, in Gestalt von momentan zwanzig Selbstmördern, die, ohne zu revoltieren, protestlos die Kulturgemeinschaft verlassen hatten.

Ein mit den letzten Errungenschaften der Hygiene ausgestatteter Raum: große Glasscheiben, große Ventilatoren, große Eisblöcke, die langsam schmolzen und die Leichen frisch erhielten. Kein Gestank. Peinlichste Ordnung,

etwas gestört, dadurch, daß fünf Selbstmörder, für welche Pritschen nicht übrig geblieben waren, auf dem reingewaschenen, weißen Steinplattenboden lagen.

‚Jetzt, beim Morgengrauen, wird an den Fronten die phantastisch wilde Mörderei armer Menschen schon wieder begonnen haben‘, dachte der Anwalt und betrachtete die zwei Erhängten, die, schief und steif, in der Ecke hockten, nebeneinander: ein Ehepaar, dem der Krieg zum Stricke geworden war. Aus den weitaufgerissenen Mündern heraus strotzten die zwei Zungen: dick, steif, lang, blau.

‚Und wieviele Mütter, Bräute und Väter Europas liegen in dieser Sekunde wachend in den Betten, mit starr offenen, sehenden Augen? . . . Es gibt städtische Fische‘, dachte der Anwalt. ‚So beginnt der Tag.‘

Beim Fenster lag ein Haufen blutiger Dreck, Gedärme, Knochen: ein alter Mann, der vom vierten Stocke aus hinunter auf das Pflaster gesprungen war, nachdem sein Sohn den Heldentod gefunden hatte.

Auf dem niedrigen, breiten Fenstersims, in das die Dampfheizung eingebaut war, lag langgestreckt eine sehr elegante, leichtgeschminkte alte Dame, die Gift genommen hatte und mit ihren toten Augen einen toten Jüngling anstarrte, dessen Lippen leises Erstaunen offen hielten.

‚Und wie haben der alte Mann und die alte Dame und der Knabe gelitten, bevor sie den letzten Schritt taten? Und wie die Millionen Soldaten, bevor sie ins Nichts stürzten?‘

Die übrigen sechzehn Kriegsselbstmörder lagen langgestreckt oder krampfkrumm, blutig oder giftbleich auf den abwaschbaren, weißlackierten Pritschen, über denen die drei großen Horizontalventilatoren kreisten. Auch in die Fenster waren sausende Ventilatoren eingebaut, die das Wort ‚Krieg‘ Tag und Nacht in die Länge zogen.

Der Leichenwärter führte den Anwalt zu dem vierzigjährigen Manne, der, von links gezählt, auf der fünften Pritsche lag und ein ungeheuer klagendes, zart hellblaues Gesicht hatte.

Der Anwalt erkannte in der Leiche sofort den Philosophen, dessen Einleitungsband einer ‚Gegensatzphilosophie‘ erst kürzlich erschienen war.

Schrecken und Zorn wechselten in schneller Folge in den Augen des Anwaltes, beim Erblicken dieses hellblauen Gesichtes, das erstarrt war in der Klage darüber, daß ein dreist-materialistisches, ungeistiges Zeitalter nicht erlaubt hatte, das Lebenswerk aufzubauen und zu vollenden.

„Weshalb hat er sich denn umgebracht? Weshalb denn?“

„Weiß nicht. Aber gewöhnlich liegt die Einberufung zum Militärdienst auf dem Tische; oder die Nachricht, daß der Mann gefallen ist, der Sohn . . . Bei dem Mädchen dort wars der Bräutigam.“ Er deutete auf das Mädchen, das, von links gezählt, auf der sechsten Pritsche neben dem Philosophen lag und wie er ein zart hellblaues Gesicht hatte.

Beide hatten sich mit Gas vergiftet.

„Weshalb griff er denn dem Schicksal vor? Er hätte sich doch sagen können: nicht alle fallen an der Front.“

„So habe ich bis vor zwei Jahren auch gedacht; seither habe ich mit vielen Angehörigen gesprochen . . . Es ist bei vielen nicht die Furcht vor dem Tode; es ist die Furcht vor der Kaserne. Es gibt Leute, die den Kasernenhof . . . und so weiter, nicht ertragen.“ Der Leichenwärter setzte sich, stützte den Ellenbogen auf eine Bahre, auf der eine Wasserleiche lag: ein schlammiges, grünes Etwas ohne Nase und Augen. Der Bauch war hoch aufgetrieben. Wasser tropfte immer noch gleichmäßig von der reinen, weißen Bahre hinunter auf den reinen, weißen Boden. Die Leiche war drei Wochen lang geschwommen.

‚Ist das Leichenschauhaus auch ein Feld der Ehre, auf dem Menschen liegen, die gestorben sind für des Reiches Größe und Weltmachtstellung?‘ „. . . Wer ist dieser Ertrunkene?“

„Das weiß man nicht. Zurzeit werden siebzehn Leute in Berlin vermißt. Einer von diesen ist er . . . Man kommt gar nicht mehr zu sich.“ Der Leichenwärter war stark abgemagert, sah übermüdet und schwindsüchtig aus und trug ein offenes Hemd mit Schillerkragen.

„Viel zu tun?“ . . . ‚Weshalb frage ich ihn das?‘

„Es geht ununterbrochen. Ununterbrochen! Jeden Tag werden durchschnittlich acht bis zehn Selbstmörder eingeliefert . . . Vor dem Kriege einer, höchstens zwei im Tage.“

„Jeden Tag acht? Allein in Berlin?“ Dabei werden längst nicht alle Selbstmörder ins Leichenschauhaus gebracht, weiß ich aus Erfahrung, dachte der Anwalt. „Elektrisches Licht ist auch hier?“ ‚. . . Weshalb frage ich das?‘

Ein paar Sekunden blieb es still im Schauhause. Die Morgendämmerung lag noch über den Leichen, schmolz sie zusammen zu einer dunklen Masse.

„Ja, auch elektrisches Licht . . . Und rollbare Pritschen. Elektrische Weckapparate. Dynamoventilatoren. Überhaupt das Allerneueste auf diesem Gebiete . . . Dieses Luftsaugröhrensystem ist ganz neu.“ Er stand müde auf, drehte am Schalter; drei Bogenlampen zischten, spritzten grellweißes Licht:

die zwanzig Leichen schienen lebendig geworden zu sein. Stille und wilde Gesichter. Manche sahen aus, als wollten sie etwas sagen.

„Auch ein Sauerstoffapparat für die mit Gas Vergifteten ist da. Und ein kleines Wartezimmer für die Angehörigen. Nebenan wohne ich.“

„Wohnen Sie? . . . Alles tadellos.“ ‚. . . Was geschieht mit diesem Volke? Warum ruiniert man dieses Volk? Dieses geduldige, fleißige, tüchtige, temperamentlose, gründliche Volk, das protestlos alle Qualen des Daseins trägt und protestlos stirbt, an der Front und in der Stadt. Dieses Duldervolk, dem mit Hilfe des denkbar raffiniertesten Systems das Denken und damit schon von vornherein jeder Einzelprotest unmöglich gemacht worden ist . . . Wenn es endlich einmal protestiert, wird sein Protest geduldig, fleißig, temperamentlos und ungeheuer gründlich, ungeheuer blutig sein . . . falls seine Herren in dem von Gott gesetzten Augenblick nicht freiwillig gehen.‘

Ohne gefragt worden zu sein, sagte der Wärter: „Ich führe eine Statistik der Todesarten Berliner Selbstmörder. Momentan habe ich drei Erhängte, fünf Wasserleichen, zwei Giftleichen, sieben Gasleichen, drei, die sich aus dem Fenster gestürzt haben, und nur einen, der sich erschossen hat; einen Soldaten, der auf Urlaub war. Dort liegt er . . . Die Pritschen reichen nicht mehr aus. Am häufigsten sind die Gasleichen.“

„Weiß man, weshalb sich der Soldat erschossen hat?“

„Wird seine Frau nicht so vorgefunden haben, wie sich das gehört. Oder er wollte nicht mehr hinaus. Viele wollen nicht mehr hinaus . . . Der Mann bringt sich wegen seiner Frau um. Und die Frauen bringen sich um, weil die Männer gefallen sind. So löscht kreuzweise Eines das Andere aus.“ Er deutete auf das Mädchen, das neben dem Philosophen lag: „Das ist eine Ladnerin; bei ihr wars der Bräutigam.“

„Das haben Sie mir schon gesagt.“ ‚. . . Und jetzt liegt der Philosoph neben der Ladnerin. Der Knabe neben der alten Dame. Die Wasserleiche neben der Giftleiche. Und am häufigsten sind die Gasleichen. Und an der Front liegen Millionen Leichen. Und in Berlin lebt, siegt und verdient man weiter. Die Elektrischen fahren. Und in den Theatern wird gespielt. Und darauf ist man stolz. Denn das ist ein Zeichen von Kultur.‘ „Haben Sie von der revolutionären Friedensdemonstration gehört?“

Der Leichenwärter gab keine Antwort; er wischte wieder das Wasser auf, das von der Leiche heruntergetropft war auf den weißen Steinplattenboden.

Plötzlich zerbrach ein letzter Widerstand, eine letzte Vorsicht im Anwalt: er entschloß sich, sofort den Hotelkellner aufzusuchen.

Unwillkürlich drehte er beim Abschiednehmen das Licht aus. Die Leichen schwammen wieder zu einer dunklen Masse zusammen.

Die Rechnung des Leichenwärters war einfach: ‚Da sich in Berlin, das drei Millionen Einwohner hat, in den letzten drei Jahren achttausendfünfhundert Menschen wegen des Krieges umgebracht haben, werden sich in ganz Deutschland, das siebzig Millionen Einwohner hat, wohl hundertneunzigtausend Menschen wegen des Krieges das Leben genommen haben . . . Und wieviele sind aus Gram über den Heldentod ihrer Angehörigen allmählich eingegangen? Und wieviele sind wahnsinnig geworden? Und wieviele Protestler sitzen im Zuchthause? Wieviel Schwache, Widerstandsunfähige sind krank geworden und eingegangen, bei denen der Befund des Arztes nur hätte lauten können: eigentlich sind sie verhungert?‘

Der Wärter war ein vorsichtiger Mann; er stand in seinem Privatzimmer vor dem Tisch und wog seine Tagesbrotration pedantisch genau ab; er wollte nicht verhungern; er wollte den Krieg überleben; er war interessiert, zu erfahren, welches positive Resultat das Leid und der Tod so vieler Menschen nun eigentlich haben werde.

‚Das sind die Hinterlandkriegstoten: bis jetzt, vorsichtig gerechnet, hundertneunzigtausend Kriegsselbstmörder in Deutschland. Macht mindestens eine Million Selbstmörder in allen kriegführenden Nationen zusammen. Kommen hinzu die zehn Millionen Heldentote. Total: elf Millionen Tote . . . Kommen hinzu die zehn Millionen lebens- und arbeitsunfähig gewordenen Krüppel. Und fünfhundert . . . nein achthundert, nein tausend verpulverte Milliarden, für die den Zins zu erschuften, den arbeitenden Massen überlassen werden wird . . . Wenn ich nun noch das leider nicht zahlenmäßig errechenbare Seelenleid der Hinterbliebenen als unbekannte Pauschalgröße hinzunehme, habe ich ein Recht, auf das positive Resultat, das dieser ungeheure Gesamteinsatz zeitigen wird, neugierig zu sein.‘

Er betrachtete, mit diesem Gedanken beschäftigt, das von einer mächtigen elektrischen Glocke überdachte Klappensystem, das — wie das Klappensystem in einer Telephonzentrale mit den Teilnehmern — durch elektrische Drahtleitung mit den Toten verbunden war. Gift- und Gasleichen und solche, bei denen die Todesursache nicht bekannt war, lagen drei Tage unter Kontakt mit dem Weckapparat. Ein Erwachungsseufzer, die winzigste Fingerbewegung löste den Kontakt aus.

Eine Weile saß der Wärter ganz reglos am Tische; er hörte nur das Rauschen der Ventilatoren in der Leichenhalle, glitt immer tiefer in einen Gefühlstrichter hinunter und kam wieder zu dem alles zusammenfassenden Schlusse: ‚Wenn man sich überlegt, daß alle, daß auch die kompliziertesten, phantastischesten Scheußlichkeiten, die sich ein Menschengehirn auszudenken vermag, in diesem Kriege begangen worden sind, daß man sich keine Grausamkeit, keine Ungerechtigkeit, keine Niedertracht ausdenken kann, die nicht begangen worden wäre, und daß, außer diesem Vorstellbaren zahllose Schandtaten geschehen sind, die man sich gar nicht ausdenken kann, ist Jeder, der im Angesichte dieser Bluttatsache nicht als Protestler im Zuchthause sitzt, nicht irrsinnig wird oder sich das Leben nicht nimmt, ein robustes, gemeines, erbärmliches Individuum. Ein anständiger Mensch, ein Mensch erträgt das Leben nicht, in dem solches möglich ist und auch noch als Heldentum gefeiert wird . . . Unter den hundertneunzigtausend Kriegsselbstmördern waren — und in den Irrenhäusern und Zuchthäusern sind — die anständigsten, edelsten Menschen unseres Volkes.‘

Da riß das markerschütternde Läuten der Totenglocke den Wärter aus der Tiefe des Gefühlstrichters heraus. Im selben Moment sah er, daß eine Klappe gefallen war, sah die Zahl 6. „Einer aufgewacht!“ Stürzte hinüber in die Leichenhalle.

Und wurde, trotz seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung: ‚tot ist tot; und lebendig ist lebendig‘, von einem gewaltigen Schrecken in den Türrahmen festgenagelt:

denn zwei Wiedererwachte, der Philosoph und die Ladnerin, die erst vor einer Stunde kurz hintereinander eingeliefert worden waren, saßen aufrecht auf den Pritschen.

Schneller, als die Frage: ‚Sind die Gasleichen vielleicht infolge der ganz besonders frischen Ventilatoren- und Eisluft wieder zu sich gekommen?‘ in seinem Kopfe entstand, sprang er zum Sauerstoffapparat, mit den roten Schläuchen zu den zwei Wiedererwachten, schob ihnen die Mundstücke zwischen die Lippen. „Tief einatmen!“ Und rannte zum Apparat zurück, drehte die Kurbel.

Die mächtige Totenglocke läutete weiter.

Ein Lächeln, so winzig und fein, als habe er es aus der endlosen Ferne des Todes mit herüber ins Leben gebracht, saß zwischen den halbgeschlossenen Augenlidern des Philosophen.

Die weißgesichtige Ladnerin hatte das klare Gefühl, daß sie wieder bei Bewußtsein war, noch nicht erlangt.

„Tief . . . gleichmäßig und tief . . . einatmen und ausatmen . . . und einatmen“, bat der kurbelnde Wärter.

Die summenden Horizontalventilatoren bestimmten das Atemtempo. Die achtzehn nicht wiedererwachten Leichen umgaben — wie an den Fronten die Heldentoten ihre noch mordenden Kameraden — bleich und blau, steif und krumm, blutig, totenstill und ungeheuer interesselos die zwei Atmenden.

Der Philosoph war schon bei dem Gedanken angelangt: ‚Ich hatte die Einberufung bekommen, hatte mich konsequenterweise umgebracht, war . . . tot im Leichenschauhause gelegen. Das ist ein Vorteil. Jetzt werden sie mich wohl in Ruhe lassen. Werden doch wenigstens einen, der von den Toten auferstanden ist, in Frieden lassen. Werden doch nicht zum zweiten Male versuchen, einen konsequenten Geist in den Kasernenhof zu stellen, um ihn für den Menschenmord brauchbar zu drillen. Man hat doch auch Christus, nachdem er gestorben und wieder auferstanden war, nicht noch einmal gekreuzigt.‘ Das ferne, kleine Lächeln der Befriedigung steckte noch immer zwischen seinen halbgeschlossenen Augenlidern.

Während er folgsam atmete, saß er in Gedanken schon wieder am Schreibtisch bei seinem unvollendeten Lebenswerke, dessen Geist und Idee dem Kasernenhofgeist entgegengesetzt waren.

„Einatmen! Ausatmen! Tief atmen!“ Der Wärter schaltete den Strom für den elektrischen Betrieb des Sauerstoffapparates ein,

sprang hinüber in sein Privatzimmer, um einen leichten Tee für die Wiedererwachten zu kochen.

Die Totenglocke trommelte immer noch: rufend, alarmierend, ohrenbetäubend.

Elementarster Lebenswille stand auf in der entsetzten Ladnerin, als sie die dunkelvioletten Zungen der Erhängten, die aufgetriebene Wasserleiche, den Haufen blutigen Drecks, Gedärme und Knochen erblickte.

Vom Grauen wurde ihr Oberkörper auf die Pritsche zurückgedrückt; sie wandte hilfesuchend die Augen weg vom Tode, nach links, wo das Leben aufrecht auf der Pritsche saß, streckte ihre flehende Hand aus.

Und plötzlich lagen die vom Tode umgebenen zwei Lebenden Hand in Hand und senkten Jeder den Blick auf den Seelengrund des Andern: der Philosoph aus Freundlichkeit und deshalb, weil ihm zur Schärfung seiner Erkenntnisfähigkeit die Menschheitsschande nicht erst plakatiert zu werden brauchte, die Ladnerin, um auf dem Grauen nicht in den Wahnsinn hineinzugleiten.

Der Wiedererwachte legte den Schlauch weg; als Philosoph ohne Verdienst und Privatvermögen hatte er sich daran gewöhnen müssen, körperliche Schläge schnell zu überwinden. Er beobachtete aufmerksam seine wieder folgsam ein- und ausatmende Leidensgenossin: eines der geduldigen, ältlichen Mädchen, die, damit ihre glücklicheren Schwestern gepflegt, sorgenlos und mit äußerlichem Glanze umgeben im Leben stehen können, sich für einen Monatsgehalt von hundertzwanzig Mark in die Tretmaschine der ewig gleichen Täglichkeiten einspannen lassen müssen und sich ihre Brautausstattung — einmal drei Hemden, im nächsten Jahre die Bettstellen, dann die Matratzen, hin und wieder ein Stück von der Kücheneinrichtung — allmählich anschaffen und endlich, wenn die Haut grau, das Blut schon still geworden ist und die Sehnsucht nach dem Wunder schon im Sterben liegt, dem Bräutigam in eine nur etwas anders geartete Tretmaschine folgen.

Dieses kleine, armselige Lebensziel hatte der Krieg gefressen: der Bräutigam war zerstampft worden.

‚Auf dem Felde der Ehre. Für Deutschlands Weltmachtstellung. Für Kaiser und Reich und Erzgruben und Eisenbahnkonzessionen‘, dachte der Leichenwärter.

Und der Philosoph dachte: ‚Zwei sehen einander, werden miteinander bekannt. Und heiraten, ohne einander zu kennen. Dreißig Jahre später kennen sie einander auch noch nicht. Und wenn der eine stirbt, weiß der andere immer noch nicht, mit wem er eigentlich verheiratet gewesen war. Denn jeder gibt sich sein Leben lang die größte Mühe, nur ja nicht zu erfahren, wie und wer er selbst ist. Wie könnte er da die Fähigkeit besitzen, zu erkennen, wer ein Anderer ist? . . . Wenn aber zwei tot im Leichenschauhause zusammentreffen, miteinander wieder aufwachen, sozusagen als Geschwister von der ‚Allmutter Nichts‘ neu geboren werden —‘

Der Philosoph betrachtete die Dampfheizung, die Warmwassereinrichtung mit den vernickelten Hähnen und der großen, weißglasierten Schüssel darunter. ‚Diesen Komfort werden wir allerdings nicht haben in unserer Wohnung.‘

Der Wärter kam mit dem Tee zurück. „Sie atmen nicht?“

„Sagen Sie mir“, fragte der Philosoph dagegen, „für was ist denn eigentlich die Dampfheizung nötig in diesem Hause, wo doch für einen glatten Betrieb die erste Grundbedingung ist, daß alles . . . frisch bleibt?“

„Ganz leichter Tee. Und ohne Zucker muß er getrunken werden . . . Wenn ich in einem kalten Winter die Temperatur von wenigstens ein Grad über Null nicht beibehalten könnte, müßte ich ja die Wasserleichen von den Pritschen loseisen.“

„Also alles bedacht! Hier wenigstens ist für alles gesorgt, wie?“

„Ja, hier fehlt nichts . . . Die Organisation für die Toten ist bei uns einwandfrei. Und die Organisation für das Massensterben ist, wie wir jetzt zugeben müssen, bei uns ebenfalls einwandfrei.“

„Sie sind also auch gegen den Krieg?“ Der Philosoph betrachtete die achtzehn Selbstmörder, die blauzüngig, starrgesichtig und stumm gegen den Krieg protestierten. „. . . Dieses Leichenschauhaus ist ja geradezu ein pazifistischer Schlupfwinkel.“ Er stieg von der Pritsche herunter.

Die Ladnerin hatte das Mundstück noch zwischen den Lippen, sah aus wie ein Kind, das in ein Spielzeug bläst.

‚Am allermeisten, mehr als die graue Not ihres Lebens und mehr als ihr Selbstmordversuch, rührt mich an ihr die Spitzen-Halskrause: dieses schüchterne, mißglückte Bestreben, schön zu erscheinen‘, dachte der Philosoph.

 

Die Truppen näherten sich im Laufschritt. Der vorauswippende Leutnant, mit geschultertem Degen, schien nur aus einer Brust zu bestehen.

„Ob sie schießen werden?“ Der Rechtsanwalt riß den Philosophen in ein Haus. „Hat noch einen Ausgang. Durch die andere Tür kommen wir auf den Platz und näher an das Denkmal heran.“

Eine gewaltige Menschenmenge. Auf dem Sockel des Denkmals stand der Kellner.

Die beiden verstanden keines seiner Worte. Hörten nur das fanatische Bravogebrüll von der anderen Seite herüberklingen.

Hoch auf dem Maste, knapp unter dem weißviolett leuchtenden Bogenlampen-Dreistern, hing der Zwanzigjährige. Mit wilder Körpergebärde.

„Den werden sie herunterknallen.“

In der Allee stand eine lange Reihe Fuhrwerke, die den Platz nicht überqueren konnten.

Plötzlich hing an Stelle des Zwanzigjährigen hoch am Lampenmaste ein flatternder, roter Fetzen.

Das tausendfache Jauchzen wurde von den im Laufschritt ankommenden Truppen auseinandergeschnitten. Die Menge — junge Burschen und hauptsächlich Frauen mit aufgelösten Gesichtern — wich durch das dreiteilige Tor und in die Parkanlage zurück.

Eine knabenhaft hohe Kommandostimme. Klatschen auf Gewehrkolben. Drohendes Gelächter. Fliehende, dunkle Rücken.

Eine Frau mit loderndem Antlitz trat vor: „Schießt! Schießt!“ Sie wurde verhaftet.

Der Kellner stand dicht beim Leutnant und sah ihm in die Augen.

Als der Philosophiedoktor und der Rechtsanwalt den Platz schon verlassen hatten und sich umwandten, sahen sie, wie ein Soldat am Lampenmaste emporkletterte und die Hand nach dem roten Fetzen ausstreckte.

„Es ist doch nicht unmöglich, daß die revolutionäre Geistigkeit das letzte, entscheidende Wort haben wird“, sagte der Anwalt.

Sie gingen eilig durch eine menschenleere Geschäftsstraße; nur in der Ferne rannte ein dunkler Frauentrupp davon.

„Leider ist die revolutionäre Geistigkeit, bis auf zwei oder fünf halbverhungerte Vertreter, die gleich Irrsinnigen in einem Blut- und Lügenmeere ohne Balken machtlos herumschwimmen, schon in den Massengräbern oder in den Zuchthäusern. Das muß zu ihrer Ehrenrettung den kommenden Generationen gesagt werden . . . Hier! Sehen Sie, hier!“

Das Schaufenster war eingeschlagen; der Lebensmittelladen leergeplündert. Frauen hatten die Gelegenheit, daß Polizei und Truppen auf dem Platze beschäftigt waren, schnell benutzt.

„Das ist nackter Hunger. Kein revolutionärer Geist“, sagte der Philosoph. Und hob einen geräucherten Fisch von der Straße auf. „. . . Wegen des Fisches und auch aus Kameradschaftlichkeit.“

Er schob ihn unter seinen schwarzen Havelock. „Dieses rapid ins Geldverdienen hineingeratene Volk hat, aus einem öden Materialismus heraus, vor dem Kriege ‚Hoch‘ geschrien, bei Kriegsausbruch nichts, als ‚Hoch‘ geschrien. Und jetzt schreit es nur deshalb nicht mehr ‚Hoch‘, weil der Magen schreit.“

„Wenn aber in jenem entscheidenden Moment die Führer nicht abgeschwenkt wären, in das Lager, das sie bis dahin bekämpft hatten? Dann würden wenigstens die . . . organisierten Massen schon lange in den Protest hineinmarschiert sein, ebenso geschlossen, wie sie in den Krieg marschiert sind.“

„Und ebenso ahnungslos, wie sie in den Krieg marschiert sind . . . Daran können Sie das menschenunwürdige und überaus gefährliche System einer Organisation erkennen, die ihre Mitglieder nur für den Klassenkampf um materielle Vorteile drillt, sie in allen Städten jährlich in dreihundertfünfundsechzig Parteiversammlungen nur zum Durchbringen von Resolutionen im politischen Parteiinteresse benutzt, anstatt sie . . . geistig zu befreien, sie zu denkenden Menschen eigener Entschlußfähigkeit für das Gute zu machen . . . Da braucht sich im entscheidenden Moment nur der Hauptführer als Dummkopf zu erweisen, braucht nur der Hauptführer zum Verräterchen zu werden, und die . . . organisierten, denkunfähigen Massen schwenken mit ab, folgen ihm in den Krieg, ebenso geschlossen, wie sie ihm in den Protest gefolgt wären . . . Die Geistigkeit ist verurteilt, untätig am Rande dieses Krieges zu verharren. Denn zwischen ihr und dem Volke besteht nicht der geringste bewußte Kontakt. Und selbst der Tod der Millionen konnte bei den Hinterbliebenen nicht den geringsten geistesverwandten Gefühlsprotest auslösen. Nur der Magen protestiert. Das ist Materialismus. Christus und Kant, Schiller und Goethe sind vor dem Kriege für eine Leberwurst, für drei Mark Wochenlohn mehr, für eine Wohnung mit Dampfheizung, für das Aufrücken in die ungeistige bürgerliche Lebenshaltung, oder für das Verharren in ihr hingegeben worden. Materialismus: angefangen beim entseelten, maschinierten Fabrikarbeiter, über den vor Bequemlichkeit stinkenden Kanapeebürger und über den Kapitalisten, den modernen Philosophen und Dichter weg, bis hinunter zum ersten Diener des Staates. Hier haben Sie die Ursache des Krieges . . . Dieser gewaltige Block von Egoismus, Gemeinheit und granitener Dummheit kann schwerlich von heute auf morgen gesprengt werden.“

„Und deshalb, meinen Sie, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als den Gashahn zu öffnen, wenn die Einberufung kommt?“

„Es gäbe noch etwas anderes: ich könnte (‚weg von meinem Werke, weg von meinem Werke‘) den Sprung in die blutnasse Gegenwart, den Sprung ins blutnasse Volk machen und, gleich den vielen dunklen Volksexistenzen, die vom Gifte der Organisation verschont geblieben sind und deshalb protestierend auf die Straße steigen konnten, zusammen mit den, vor Machtlosigkeit schon irrsinnig gewordenen, wenigen jungen Dichtern, die noch leben, unter beständiger Todesgefahr versuchen, das wegzureden, was seit Jahrzehnten in das Volk hineingeredet worden ist . . . Der dritte Weg, den der Stellungsbefehl dem Untertanen aufreißt, existiert für mich nicht. Da das tiefste Wort von Jesus Christus: ‚Jede Sünde kann euch vergeben werden, nur die Sünde wider den Geist nicht‘, sich mit meiner Weltanschauung scharf deckt, kann ich nicht in den Kasernenhof gehen, oder ins Kriegspresseamt, oder in irgend ein Ernährungsamt . . . Ich bin mit einer Ladnerin und mit meiner Philosophie verheiratet. Und kann zur Not in ein Christushoch, in ein Sokrateshoch, in ein Kanthoch einstimmen. In ein Hindenburghoch oder in ein Kaiserhoch kann ich nicht einstimmen; denn ich bin kein Sozialdemokrat.“

Das Sprechen hatte ihn angestrengt und erregt; ein Abglanz geistiger Heiterkeit war nie ganz aus seinem Gesichte verschwunden.

Und entstand wieder, als er, heftig atmend im vierten Stocke angelangt, seine Frau begrüßte.

Die scheintot gewesene Ladnerin hatte sich wenig verändert; die Spitzenkrause schmückte noch ihren kindlich-dünnen Hals. Und in ihren Augen stand der innere Blick, den Menschen haben, die halb dem Tode gehören.

Behutsam führte er seine schon schwangere Frau in den niedrigen, schiefdeckigen Raum, der Wohn-, Schlaf-, Arbeitszimmer und Küche in einem war.

Und sah plötzlich, daß auf dem weißgescheuerten Küchentisch, den er auch als Schreibtisch benutzte, wieder ein Stellungsbefehl lag.

Der ungeheure Schrecken, gepaart mit augenblicklichem Erkennen seiner Situation, riß ihn sofort auf die reine Fläche, wo alle Dinge und Gedanken im schärfsten Lichte stehen, so daß keinerlei Ausflucht, Vorspiegelung, Selbstbelügung mehr möglich ist.

Da fühlte er wieder das furchtbare innere Weinen, das nicht bis in sein geistesstarr werdendes Gesicht vordrang. Es glich dem kalten Antlitz Gottes, als er dachte:

‚Es gibt zwei Pole: das korrumpierte, krummgenagelte Weltgeschehen und das höchste, herrlichste Ziel für den Menschen: das ‚Reine Ich‘ und eine menschliche Gemeinschaft, für die er als Reines Ich handeln, leben und auch sein Leben hingeben kann. Diesem Ziele kann der Mensch nur so lange zustreben, solange er mit der Korruption, der Lüge, dem Zwange, dem Ungeiste unablässig kämpft. In dem Moment, da er eine Handlung begeht, die zu diesem Streben im Widerspruche steht, ist die Linie gebrochen. Der Mensch, der für eine, für seine Idee kämpft und stirbt, ist groß, denn er kämpft und stirbt auf dem Wege zu sich, stirbt im Kampfe um sein Reines Ich. Der Mensch, der sich zwingen läßt, zu handeln, zu kämpfen, zu sterben für eine Idee, die zu dem Streben nach seinem Ich im Widersprüche steht, ist der Ärmste der Armen; denn er verliert das Kostbarste, das einzige, das der Mensch in Wahrheit besitzen kann: verliert sein Ich, verliert sich, ist nicht mehr, wird von den andern, die selbst nicht sind, besessen.‘

In Gedanken las er das Wort ‚Stellungsbefehl‘.

‚. . . Wenn ich dieser Aufforderung, mich zu stellen — wem stellen? ich habe mich nur mir selbst, nur der reinen Idee zu stellen, und einer menschlichen Gemeinschaft nur dann, wenn sie das Streben der Menschen nach ihrem Ich als berechtigt anerkennt und fordert — wenn ich dieser Aufforderung folge, werde ich, zusammen mit einer Reihe von Menschen, vermutlich zuerst im Kasernenhof aufgestellt, in dem der Grundsatz herrscht: ‚Du hast keine eigene Meinung zu haben‘. Und der Grundsatz: ‚Macht und Gewalt stehen über Geist und Recht‘. Ein Unteroffizier, ein Vorgesetzter — nur das Reine Ich ist mein Vorgesetzter — ein Unteroffizier, ein Mensch, der sich, der sein Selbst aufgegeben hat, also nicht mehr ist, ein Etwas wird im Auftrage derer, die ihn besitzen, sagen: ‚Das dürft ihr nicht tun; und das müßt ihr tun.‘ Ich werde also gezwungen, irgend etwas zu tun, oder nicht zu tun. Gezwungen! Das heißt: ich werde schlecht behandelt, eingesperrt, oder erschossen, wenn ich mich diesem Zwange nicht füge. Mit andern Worten: ich werde erschossen, wenn ich weiter gehe auf dem Wege, der zur Wahrheit, zum Geiste, zu Gott, zum Reinen Ich führt . . . Ich werde erschossen, wenn ich mich bemühe, so zu sein, wie ich bin!‘

Der Philosoph rief seine Frau, die im Hintergrunde des Zimmers reglos am kalten Gasherd saß, vom Dunkel schon halb verschlungen.

„Weißt du, was Militarismus ist?“

Sie wollte antworten: ‚Wenn uns das Einzige, das Liebste, das wir haben, genommen, erschlagen wird.‘ Und sagte: „Du meinst die Schiffe, die Kanonen . . . die Rüstungen.“ Sie konnte nicht weinen.

„Nein, diese Sachen aus Stahl und Eisen, die dem Volke so viel Geld und Arbeitsschweiß kosten, sind ungefährlich, verglichen mit dem, was Militarismus ist. Gefährlich und tötlich ist der geistige Zwang, der negative Geist, der konservierende Kollektiv- und Staatsgeist, der sich gegen den Geist richtet . . . Ich werde dir an einem Vorfall erklären, was Militarismus ist.“

‚Er will mir nur deshalb erklären, was Militarismus ist, um mir begreiflich zu machen, daß ihm nichts anderes übrig bleibe, als sich umzubringen‘, fühlte die Frau und sah schon jetzt ihre armen Einwände zerflattern.

„Was ich dir jetzt erzähle, denke ich mir nicht zurecht. Alle Zeitungen haben das berichtet:

Ein deutscher Soldat, der ein Stück der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz zu bewachen hatte, sah, wie ein Mensch über die Grenze sprang. Die Pflicht dieses Soldaten war, hörst du, seine Pflicht war, gut zu zielen und sofort auf diesen Menschen zu schießen, diesem Menschen dadurch, daß er ihn verwundete oder erschoß, das Passieren der Grenze unmöglich zu machen. Das war seine . . . Pflicht. Aber sein Wesen, sein eigenes Ich stand dunkel auf gegen diese . . . Pflicht. Er wollte nicht schießen und . . . schoß. Sah, wie der Getroffene fiel, sich bäumte und verröchelte. Und wurde . . . wahnsinnig. Der Widerstand gegen das Morden muß also sehr stark gewesen sein; aber die Disziplin war noch etwas stärker . . . Hier hast du auf der einen Seite, repräsentiert durch diesen Soldaten, die guten Eigenschaften des Volkes, und auf der andern Seite, gleichfalls repräsentiert durch diesen Soldaten, den Militarismus.“

Die Frau bewegte die trocken gewordenen Lippen.

„Du meinst“, sagte der Philosoph, „der Soldat hätte ja nur so zu tun brauchen, als ziele er, hätte in die Luft schießen können. Das wäre dann sozusagen nur eine kleine Notlüge gewesen. Aber selbst dies lassen die Disziplin und das falsche Pflichtbewußtsein, die seit Generationen mit allen erdenklichen Mitteln in das Volk hineingepaukt worden sind, nicht zu . . . Außerdem trieb den Soldaten auch noch der Wunsch, von seinen Kameraden nicht für empfindlich und schwächlich gehalten zu werden. Dieses falsche Ehrgefühl, das sich allmählich beim ganzen Volke herausgebildet hat, ist das Allergefährlichste. Einem Menschen ohne Besinnen einen gutgezielten tötlichen Treffer in den Kopf hineinzujagen, ist eine Ehre; ihn nicht zu treffen, ist ein wenig ehrenrührig . . . Dieser arme, bedauernswerte Mann will nicht schießen, zielt schnell und genau, schießt, trifft gut und wird wahnsinnig. Das ist Militarismus.“

„Du mußt hingehen. Vielleicht kommst du nur in ein Bureau.“ Das hatten nur ihre Lippen gesprochen.

„Nein! . . . Höre, ein vielleicht noch klareres Beispiel dafür, was Militarismus ist: ein Soldat bekommt den Befehl, einen siebzigjährigen Bauern zu erschießen. Das war in Serbien. Der Soldat weiß nicht einmal, weshalb der Alte erschossen werden soll. Der Soldat bekam nur den Befehl, in dem stand, daß er den Alten in das zwei Stunden entfernt liegende Dorf zu führen und dort zu erschießen habe . . . Sein ganzes Wesen, das heißt, sein eigenes Wesen empört sich dagegen, diesen vollkommen wehrlosen alten Mann zu erschießen, dessen Verbrechen er nicht einmal kennt, und der auf dem Wege zwei Stunden lang seine Unschuld beteuert in einer Sprache, die der Soldat nicht versteht, und mit Tränen und Gebärden, die der Soldat ungeheuer versteht. Zwei Stunden lang kämpft der Soldat, während er neben dem Opfer über Feld geht, mit seinem Gewissen, hinter dem starr die Pflicht und die Disziplin stehen. Dieser Soldat hat für sich persönlich folgende Lösung gefunden: er schoß zuerst den Alten nieder, und dann erschoß er sich selbst . . . Jetzt meinst du vermutlich wieder: wenn sein Gewissen, der dunkle, wilde Drang nach Wahrheit, nach seinem eigenen Ich, nicht zuließ, den Alten zu erschießen, ohne auch sich selbst zu erschießen, hätte er doch wenigstens nur sich selbst erschießen und den Alten laufen lassen sollen . . . Aber das wäre ja gegen die Disziplin, wäre ja eine Pflichtverletzung und wäre ehrenrührig gewesen. Das eben ist Militarismus. Nicht die Kanonen, sondern der negative Geist des Zwanges ist der Militarismus, den der Grenzsoldat und dieser Soldat als gegen den Geist, gegen das Gewissen, gegen ihr eigenes Ich gerichtet empfunden haben, und den gleich ihnen noch viele empfinden. Diese erleiden ein tragisches Schicksal; denn sie erkennen dunkel das vor Gott und den Menschen sündhafte dieses Geistes, leiden unter diesem Geiste. Und können sich nicht vor ihm retten. Millionen andere — nicht nur die Soldaten, sondern das Volk in seiner großen Mehrzahl — haben, zwar nicht vor Gott, aber vor ihrem, allerdings nur scheinbar vorhandenen, eigenen Selbst — das Recht, im Dienste dieses Geistes zu kämpfen, Menschen zu ermorden und selbst zu sterben; denn sie morden in dem guten Glauben, nicht zu morden, sondern für ein Ideal zu kämpfen, für ein Vaterland, für den Staat, für eine Gemeinschaft, die wert ist, beschirmt und erhalten zu werden. Man hat sie von ihrer frühesten Kindheit an mit diesem Geiste getränkt und gefüttert, ihr eigenes Wesen, ihr Ich in diesem Geiste total ertränkt. Sie sind für ihre Handlungen nicht verantwortlich zu machen. Denn sie konnten zu eigenem Denken, zu der Fähigkeit, sich moralisch zu entscheiden, konnten zu sich selbst, zu ihrem Ich nie kommen; sie sind nicht, sind nicht vorhanden, sind keine Menschen, sondern denkunfähige, seelenlose, unverantwortliche Automaten, die funktionieren . . . Verstehst du jetzt, daß es sehr schwer sein wird, den Militarismus umzubringen?“

Er bekam keine Antwort; die Frau war ganz plötzlich, von einer Sekunde zur andern, eingeschlafen.

Unter dem Philosophen versank die Welt. Sein Wesen wurde grau vor Einsamkeit.

Erst Minuten später betrachtete er wieder das Gesicht der Schlafenden, das den Ausdruck furchtbarster Trauer und Klage trug.

Sie sieht aus wie ein ungeborenes Wesen, das klagt, weil es nicht geboren werden kann, dachte der Philosoph. Und wußte plötzlich: ‚Sie ist eingeschlafen, weil sie erkannt hat, daß sie selbst eines dieser Wesen ist, die zu eigenem Denken, zu eigenem Leben, zu sich selbst nicht kommen durften.‘

Wilde Liebe und schmerzdurchtobtes Erbarmen drückte des Philosophen Kopf auf die Tischplatte. Vor seinem inneren Gesicht stand klar der Gedanke: ‚Für eine Gemeinschaft zu handeln, deren Geist die Mitglieder zwingt, nicht zu denken, kein eigenes Leben, kein eigenes Ich, kein warnendes Gewissen zu haben, sondern seelenlose, unverantwortliche Automaten zu sein, die, wenn sie nicht jede befohlene Schandtat willenlos ausführen, eingesperrt oder erschossen werden, für eine solche Gemeinschaft zu handeln, ist ein Verbrechen wider den Geist, das nicht vergeben werden kann. Es bleibt die sittliche Pflicht gegen Gott, gegen unser reines Ich, diese Gemeinschaft zu bekämpfen und damit für die Möglichkeit zu arbeiten, daß einmal eine Gemeinschaft entstehe, in welcher der Mensch . . . gut sein darf, in welcher der Mensch er selbst, ein Ich, ein für seine Handlungen moralisch verantwortliches Ich und als solches . . . gut, das bedeutet: für die Gemeinschaft sein kann.‘

„Vielleicht kommst du nur in ein Bureau.“

Der Philosoph hob den Kopf; die Frau hatte aus dem Schlafe gesprochen. Ihr Gesicht war tränennaß. Durch eine leise Berührung erwachte sie sofort.

Er sprach eindringlich und sanft: „Nehmen wir einmal an, ich käme nur in ein Bureau. Und müßte nur ganz untergeordnete Arbeiten verrichten . . . Vielleicht nur Stellungsbefehle ausfüllen, mit den Namen derer, die daraufhin, meinungslos-pflichtbewußt oder vielleicht gegen ihren Willen, sich einfinden und, nach der Ausbildung, Menschen erschlagen oder selbst sterben würden für eine Gemeinschaft, deren Geist schwer mitschuldig ist an diesem Kriege.“

„Ich weiß nichts mehr.“ Die Frau hätte schwören können, daß sie diese vier Worte nicht gesagt habe.

„Es könnte aber auch sein, daß ich, eingefügt als meinungsloser Handlanger in die Maschinerie dieses höllischen Geistes, den Befehl schreiben müßte:

‚Sie haben den Mann, namens so und so, serbischer Staatsangehörigkeit, siebzig Jahre alt, nach . . . zu führen und ihn dort zu erschießen.‘

Was sollte ich dann tun?“

Nach minutenlanger Stille fragte er noch einmal: „Was sollte ich dann tun?“

Die Frau wußte und gab auch diesmal keine Antwort. Aus ihren Augen heraus fragte stumm das ganze Volk: ‚Was sollen wir denn tun?‘

In der Stube stand schon die Finsternis. Und in ihr die dunkle Gewalt, die den Körper töten kann.

Da fühlte plötzlich der Philosoph, wie im tiefsten Urgrund seiner Seele, im mystischen Punkt, die Flamme entstand, die rapid zur Feuersbrunst wurde und seine Bereitschaft, sich wieder protestlos ins Leichenschauhaus zu legen, sekündlich verbrannte.

In ihm stand ein ungeheurer Wille auf: die Bereitschaft eines tödlich verzweifelten reinen Geistes, sich der Notdurft der Gegenwart anheimzugeben.

Von dieser Stunde an begann der stürmische Pilgergang.

Die schwangere Frau hatte nur ein wollenes Brusttuch mitgenommen aus ihrer Wohnung, in die sie nicht mehr zurückkehrten. Der Stellungsbefehl lag auf dem Tische.

Aus der unvermittelt in ihm entstandenen wilden Hoffnung, daß das unmeßbare Leid dreier Kriegsjahre den Aufstieg des Menschenrechtes ermöglicht habe, wuchs dem Philosophen die Kraft zu dem Versuche, den vergewaltigten Menschen zu erklären, weshalb ihr Ausharren und ihre Arbeit Mord und gegen sie selbst gerichtet sei.

Seine Stimme hallte durch die Stadtviertel, in denen der Gestank der Armut und des Hungers stand.

Die ‚Unbekannten‘: dunkle Existenzen, aus dem nie versiegbaren Behälter der Volksseele plötzlich emporgestoßen in die ewige Freiheitsidee, stiegen auf die Straße. Volk, dem Zwange entrissen, ins Menschentum hochgerissen, stieg auf die Straße.

Und während die Führer des Volkes in blutüberströmter Bescheidenheit weiter über kleine Reformen resultatlos diskutierten, weiter unverdrossen neue besetzte Länder, neue Versenkungen und neue Kriegserklärungen buchten, neuen Zwangserlassen gegen das gemarterte Volk und neuen Dankadressen an die Sieger zustimmten, während so das Volk zu Millionen im Blute ersoff, versuchten in der überreif gewordenen Zeit der Philosoph und seine Anhänger, zusammen mit dem Kellner und dem Zwanzigjährigen, die gequälten, vergewaltigten Herzen für die Idee der Freiheit und der Liebe aufzureißen. Versuchte mit letzter Hingabe der Philosoph, dem Volke zu zeigen, auf welcher Seite im Lande der Feind, die Brutalität und die Dummheit waren.

Das Netz maßlosen Leides und dunklen Aufruhrs lag über der Stadt.

Erst bei der wuchtigen Massenerhebung gegen den Raubrittergeist einiger zehntausend mittelalterlicher Existenzen, gegen den Raubrittergeist, der den Krieg losgebunden hat, traf die Gewalt den Philosophen, als er in der Menschengasse, die von herangaloppierenden Schutzleuten in die Menge hineingeritten worden war, das Recht des Menschen proklamierte; vor dem Leutnant,

der den Befehl zum Feuern gab.

Die Frau ging langsam auf den Ermordeten zu: schritt langsam hinein in die zweite Gewehrsalve junger Soldaten, die, bleich und im Herzen schon empört, noch in der falschen Pflicht standen. Die vierzig- und fünfzigjährigen Landsturmmänner hatten sich geweigert, ins Volk und damit sich selbst ins Herz zu schießen.

Am andern Morgen lagen der Philosoph und die Ladnerin, als Repräsentanten des Volkes, wieder im Leichenschauhause, nebeneinander.

Die Idee, die nicht erschossen werden kann, brach in Millionen Herzen ein.

Der Wärter stand vor dem Paare. Und plötzlich rückte er die zwei Pritschen dicht zusammen. ‚Man liebt doch die Menschen. Liebt doch die Menschen . . . Die armen Menschen.‘

Das Leichenschauhaus war vergrößert, die Wand, die das Zimmer des Wärters und das Wartezimmer für die Angehörigen abgesondert hatte, war herausgebrochen, der weiße Steinplattenboden fortgesetzt und die Pritschen um sechzehn Stück vermehrt worden.

Der Bruch war, wie bei Typenmöbeln, die glatt aneinander gefügt werden können, nicht zu bemerken.

Ein vierter, neuer Horizontalventilator kreiste zusammen mit den drei alten über den zweiunddreißig Leichen.

V
Die Kriegskrüppel

‚Die Metzgerküche‘ ist ein sehr großer Raum, doppelt so lang wie breit, und so niedrig, daß der Stabsarzt, im langen, von frischem und altem Menschenblute steif gewordenen Operationsmantel, die Handfläche an die Decke legen kann.

‚Ein Kino hätte man hier nicht einrichten dürfen. Ein Kino nicht‘, fällt ihm immer wieder ein. Denn schließlich sind alle seine Wünsche zusammengeflossen in den einen unerfüllbaren Wunsch, wieder einmal ruhig in einem Kino sitzen zu dürfen.

Auf dem Steinplattenboden Strohsack neben Strohsack. Auf jedem Strohsack ein Mensch; auf jedem Strohsack das, was von einem Menschen übriggeblieben ist. Zugedeckt bis zum Kinn:

Die abgesägten Hände, Arme, Füße, Beine schwimmen in Blut, Watte und Eiter in einem meterhohen, zwei Meter breiten, fahrbaren Kübel, der bei der Tür in der Ecke steht und jeden Abend ausgeleert wird. Tadellose Ordnung. Kein Strohhalm auf den nur zwanzig Zentimeter breiten Zwischengängen und im Mittelgang. Fünf Reihen Strohsäcke.

Der mit Zinkblech beschlagene Operationstisch steht im Mittelgang.

Die Fenster werden geschlossen. Und drei Minuten später steht wieder der dicke, warme Gestank von faulenden, brandigen Wunden, Eiter, altem Blute, Todesschweiß, Schmerzausdünstung, Karbol und Lysol in der Metzgerküche, so daß ein gesunder, kräftiger Mensch, der, an frische Luft gewöhnt, hereintritt, eine Minute später Farben vor seinen Augen kreisen sieht und den Boden unter seinen Füßen schwanken fühlt.

In der Metzgerküche, knapp hinter der Front, wird die erste Hilfe gewährt. Schnell. Keine Sekunde Zeitverlust. Hier wird amputiert. In die Metzgerküche werden, direkt vom Schlachtfeld weg, die Amputationsbedürftigen geschleppt, wahllos: Offiziere und Soldaten. Eine Viertelstunde Zeitverlust kann den Tod bedeuten.

Diejenigen Amputierten, die nicht bewußtlos sind, nicht schlafen und doch reglos liegen, ganz unbeweglich und lautlos liegen, glänzende Fieberkugeln im Gesicht, sind verloren, entschweben schon.

Die andern brüllen, schmeißen sich hoch, krümmen, winden sich, wimmern wie neugeborene Katzen, lachen im Fieberirrsinn oder bewegen die verstümmelten Körper ganz langsam, aber ununterbrochen.

Das Leben der Glücklichsten besteht abwechselnd darin, daß sie aus der Ohnmacht erwachen und wieder ohnmächtig werden. Dazu trägt der dicke Gestank bei. Es ist nicht sehr hell in der Metzgerküche.

Der Stabsarzt muß nach ein bis zwei Amputationen, muß nach jeder halben Stunde hinaus in die Luft, damit ihm während der nächsten Amputation die Säge, das Messer nicht aus der Hand fällt.

Jeden Tag werden vier bis sechs Tote hinausgetragen.

Frisches Stroh, frische Leintücher. Frische Verwundete. Kein Halm auf den Zwischengängen. Ordnung. Der Gliederkübel in der Ecke füllt sich. Und leert sich pünktlich um sechs Uhr abends. Die Strohsäcke liegen genau ausgerichtet in linealgeraden Reihen.

Der Stabsarzt sägt.

In die Metzgerküche kommt keine Zeitung. Hier wird gelitten. Hier interessiert man sich nicht für Siegesnachrichten und nicht für Lügennachrichten. Hier interessiert man sich für das Bein, das abgesägt wurde und vom Sanitäter eben in den Kübel geworfen wird. Man will sein Bein wiederhaben. Es noch einmal in die Hände nehmen. Man will es betrachten. Sehr genau betrachten.

„Mein Bein! Es ist mein Bein. Meines! Mein Bein!“ Zuerst schreit er nach seinem Beine, dann bettelt er: „Gib her. Komm, gib her. Gib mir’s.“

Der Bettelnde liegt nicht in den Fensterreihen; er liegt in der dunklen Reihe, im vierten Bett, von der Rückwand aus gezählt. Er muß doch wieder schreien, das Schmerzgebrüll, Gewimmer, Geheule überschreien, damit der Sanitäter ihn hört.

„So ein Unsinn! Verfluchter Unsinn!“ schimpft der erschöpfte Sanitäter. Und trägt dem Bettelnden ein langes Bein, das zwischen dem Knie und der Schnittfläche am Schenkel ein furchtbares, tiefes, brandiges, stinkendes Loch hat. Legt es ihm waagrecht auf die gierig ausgestreckten Hände.

Der Soldat betrachtet, die Augen weit aufgerissen, von einem mystischen Schauer durchjagt, das lange, schwere Bein, das zwanzig Jahre ihm gehört hat, hält es weg von sich, immer weiter weg, weicht mit dem Oberkörper immer weiter zurück. Und schmeißt das Bein, plötzlich von tödlichem Ekel geschüttelt, in den Mittelgang. Brüllt: „Das ist nicht mein Bein.“

Es war nicht sein Bein. Der erschöpfte Sanitäter hatte ein falsches Bein aus dem Kübel herausgezogen.

Der Mann im vierten Bett ist jetzt ruhig. Er ist ohnmächtig geworden.

Der neben ihm Liegende, der auch nur noch ein Bein hat, dreht das Gesicht zum Ohnmächtigen hin und sagt zu ihm: „Du schläfst ein, Lieber, und hast zwei Beine, und wenn du aufwachst, hast du nur noch ein Bein.“ Dabei lächelt er: ein Lächeln, das dafür zeugt, daß die gramvollste Hoffnungslosigkeit mit einem Lächeln ausgedrückt werden kann. „Schläfst ein, Lieber, und hast zwei Beine, und wenn du aufwachst, hast du nur noch ein Bein.“ Diesen Satz hat er gefunden und sagt ihn immer wieder.

Das vierte Bett in der dunklen Reihe, von der Rückwand aus gezählt, quält den Stabsarzt. Mit diesem vierten Bett hat er Unglück. Entweder sterben ihm die Inhaber des vierten Bettes unter der Säge, oder sie führen sich ganz besonders wild auf.

‚Wieder das vierte Bett‘, denkt der Stabsarzt, krank vor Überarbeitung, wirft einen Blick auf das Bein, das noch im Mittelgang liegt und die tadellose Ordnung stört. Einen Blick zur niedrigen Decke. ‚Ein Kino hätte man hier nicht einrichten dürfen. Ein Kino nicht.‘ Und sägt vorsichtig und mit Kraft den Oberarmknochen knapp unterm Schulterblatt durch.

Der Soldat auf dem Operationstisch, ein uniformierter Knabe, hat nur eine blutnasse Hose an. Der Oberkörper ist mager. Schmale Brust. Unausgewachsen. Der Knabe ist bewußtlos. Die blauen Lippen sind fest aufeinandergepreßt. Nur beim rechten Mundwinkel ist ein kleines, ganz rundes Loch offengeblieben wie bei einem total erschöpften Wettläufer, der durch einen Mundwinkel die Luftmassen hinausstößt.

Manchmal schreien und stöhnen gleichzeitig alle Verwundeten wilder auf, als würden in dieser Sekunde alle Wunden von einem bösen Weltgeist betastet. Dann werden die Mittel angewandt.

Es werden verschiedene Mittel angewandt, um den Schmerz erträglicher zu machen. Der eine hat gefunden, daß der Schmerz geringer wird, wenn er die Zunge herausstreckt, mit all seiner Kraft die Zunge so weit wie nur irgend möglich herausstreckt. Noch einen Millimeter weiter. Er hockt aufgerichtet im Strohsack, die Zunge lang und blau gebläkt, und keucht.

Ein anderer kann sich nur helfen, wenn er „Uu!“ schreit. Er hat das Alphabet durchprobiert. E hilft ihm nicht. I hilft ihm nicht. Nur U. Er brüllt mit der ganzen Kraft seiner Lungen: „Uu!“

Der Stabsarzt sägt.

Einer muß, die Muskeln angespannt, den Arm senkrecht emporrecken und die Luft zurückhalten, so lange zurückhalten, bis der Schrei als wild ansteigendes „O!“ aus seinem Munde herausplatzt. Das hilft ihm.

Der Stabsarzt sägt.

Langsam und unaufhörlich schwingt einer den Oberkörper hin und her. Wenn er das nicht tut, kann er den Schmerz nicht aushalten.

Ganz feines Wimmern neugeborener Katzen.

Einer schlürft, als habe er einen zu heißen Bissen im Munde. Bewegung bei der Tür: zwei Amputationsbedürftige werden hereingetragen.

„Ganz unmöglich! Kein Platz!“ Dabei sägt der Stabsarzt weiter, ein dünnes Handgelenk durch.

Die Bahrenträger bleiben stehen. Ratlos.

„Tragt sie hinüber in den ‚Tanzsaal‘.“

„Zu Befehl! Aber in den Tanzsaal haben wir eben sechs getragen. Man hat uns hierher geschickt. Der Tanzsaal ist überfüllt.“

„Uu . . . !“

„Hier auch! Voll! Voll! Alles voll! Kein Platz mehr!“

Ganz feines Wimmern neugeborener Katzen.

Der Oberkörper kreist langsam und ununterbrochen.

Es wird Platz gemacht: die Strohsäcke werden noch enger zusammengeschoben, so daß auch die Zwischenräume von zwanzig Zentimetern nicht mehr da sind. Ein einziges, langes, genau ausgerichtetes, brüllendes, stöhnendes, wimmerndes, ordentliches Schmerzenslager.

Als wild ansteigendes „O!“ platzt der Schrei aus dem Munde heraus, während die Bahrenträger gehen.

Die Zunge bläkt lang und blau. Warmer, dicker Gestank. Die Metzgerküche ist nur eine kleine Nebenabteilung vom immer vollen ‚Tanzsaal‘, der fünfmal mehr Strohsäcke faßt als die Metzgerküche.

‚Und wieviel „Tanzsäle“ gibt es in Europa? Wie viele, in denen erste Hilfe gewährt wird? Und wie viele, in denen solche liegen, die in Schmerzen auf die Heilung warten? Wie viele Schmerzenslager gibt es knapp hinter der Front? Und wie viele in allen Städten und Städtchen des Heimatlandes? Wie viele in Rußland, Frankreich, England, Italien? Wie viele Schmerzenslager gibt es in Europa?

Für was, für wen leiden diese Millionen ihre Schmerzen? Warum müssen Millionen Menschenbeine, Millionen Arme abgesägt werden? Für was wird gekämpft und ermordet? Und verstümmelt und gesägt und gelitten? Für was ist dieser Krieg? Für was?‘ denkt der Stabsarzt und schneidet erst sauber und exakt ein Pfund Menschenfleisch aus einem Oberschenkel heraus, bevor er zu sägen beginnt. ‚. . . Viel zu niedrig für ein Kino.‘ Farben kreisen vor seinen Augen.

Den Gekreuzigten in der Metzgerküche ist es ganz gleichgültig, ob sie knapp hinter der Front, oder in der Heimatstadt, oder gefangen in Feindesland, oder in einem indischen Urwald sich winden, „Uu“ schreien, „O“, die Zunge bläken, fein wie neugeborene Katzen wimmern. Und wer den Krieg gewinnt, das ist ihnen so gleichgiltig wie der Schneefall von vorgestern.

‚Der Bürgermeister irgendeines kleinen Dorfes soll ganz allein den Weltkrieg gewinnen, wenn dadurch meine Schmerzen nur um einen Grad geringer werden. Und wenn ich mein Bein wieder hätte‘, denkt der plötzlich ganz schmerzlos und gefährlich still liegende, zwanzigjährige Dichter, der schon entschwebt, ‚mein weißes, langes, hunderttausend Kilometer langes Bein mit dem herrlichen Knie wieder hätte, würde ich das Leben lieben so ewig wie . . . die Sonne

tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.‘

‚Mein Bein! das heißt, wenn ich mein Bein wieder hätte, wäre ja überhaupt gar nicht Krieg . . . Krieg ist ja gar nicht möglich. Krieg gibt es nicht. Krieg ist Einbildung, Ist Lüge. Mein Bein allein ist die Wahrheit.‘ „Die Wahrheit“, sagte er laut und deutlich in die Metzgerküche hinein. Und schließt die Augen.

Fünf Minuten später wird er tot hinausgetragen.

Frisches Stroh. Frische Leintücher. Kein Strohhalm im Mittelgang. Ordnung. Eine Fußsohle ragt über den Rand des Gliederkübels heraus.

Der andere Beinlose dreht sich um und sagt zum frischen, leeren Strohsack: „Du schläfst ein, Lieber, und hast zwei Beine, und wenn du aufwachst, hast du nur noch ein Bein.“

Die Augen des jungen, kräftigen Bauschlossers im Nebenbett glotzen glanzlos und wütend. Er hat keinen rechten Arm mehr. Mächtiger Brustkasten. Gesundes Blut. Mächtige Muskeln, gewölbt, glatt. Wie geölt. Er weiß, daß er alles überstehen wird, knirscht den Schmerz nieder. Und grübelt in seine Zukunft hinein: ‚Ein Dübelloch werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr schlagen . . . Künstlicher Arm? . . . Ist Scheiße. Mit einem künstlichen Arm schlägt keiner ein Dübelloch in harten Stein . . . Ein Bein, meinethalben ein Bein; warum fehlt nicht das rechte Bein, anstatt des rechten Armes. Das Bein! Das Bein!‘

Im ersten Bett der Fensterreihe, bei der Tür, liegt ein junger Offizier, der kein Bein mehr hat. Seine Gedanken steigen auf, über sich windende, brüllende Menschen weg, bis zum Strohsack des Schlossers, und schieben sich zwischen dessen Verzweiflungsgrübelei als gedachte Gegenreden hinein: ‚Wenn nur ein Arm fehlen würde. Ein Arm! Ich würde mir einen weiten Mantel machen lassen. Weite Ärmel. Künstliche Hand in der Tasche. Und auf der Straße würde kein Mensch etwas bemerken. Auch mit den Frauen wäre es nicht so arg, lange nicht so arg. Aber wenn ein Bein fehlt. Bei einer Frau sein . . . und nur ein Bein.‘

‚Mir kann doch niemand weismachen, daß einer, der einen künstlichen rechten Arm hat, mit der Schrubbfeile arbeiten kann. Aber ohne Bein geht das alles.‘

‚Und reiten? Mit einem Bein?‘

‚Oder schmieden und schweißen kann . . .‘

‚Bei einer Frau liegen, mit nur einem Bein.‘

‚. . . oder nieten, oder eine Schloßfalle feilen, die genau passen muß . . . mit einem künstlichen Arm? Ja, Scheiße . . . Warum fehlt mir nicht ein Bein? Ein Bein!‘

‚Tanzen ohne Bein? . . . Ausgetanzt! . . . Ohne Arm kann man tanzen . . . Alles ist aus.‘

‚Ohne Arm . . . Mein ganzes Geschäft ist futsch.‘

Beide haben während der letzten Tage alle Möglichkeiten abgegrübelt. Und plötzlich stellen sie sich der Wahrheit: gestehen sich ein, daß es sich im Grunde ja gar nicht um das nicht mehr Tanzen-, Reiten-, Feilen-, Schmiedenkönnen handelt, sondern nur um das schöne Bein, einzig und allein um den prachtvollen, dicken Arm. Um mein, mein, mein Bein, meinen Arm, meinen, meinen Arm. Um meinen! Meinetwegen nie mehr tanzen, nie mehr reiten, und mögen sich die Weiber zweibeinige Männer nehmen, wenn ich nur mein schlankes Bein wieder hätte . . . Ich scheiße ja auf das ganze Schlosserhandwerk; ich werde Landstreicher; wenn ich nur meinen Arm wieder hätte, wieder hätte, wieder hätte.

‚Meinetwegen blind sein.‘ Beinahe gleichzeitig steigt diese Überlegung in beiden auf. ‚Nur das Bein, nur den großen, starken Arm wieder haben. In Gottes Namen blind sein; aber die Glieder beisammen haben‘, denken sie tausendmal im Tag, tausendmal in der Nacht. ‚Lieber blind sein.‘

Und der neben dem Gliederkübel liegende blinde Soldat, dessen schwere Schenkelwunde überraschenderweise verheilte, so daß eine Amputation nicht nötig ist, denkt ununterbrochen und wird sein ganzes Leben lang denken: ‚Meinetwegen beide Beine weg, beide Arme weg. Nur nicht blind sein. Nicht blind sein. Nie mehr sehen . . . Ich werde meine Frau nie mehr sehen. Nie . . . mehr . . . meine Frau sehen . . . Und wer führt mich? . . . Und nie mehr eine Straße sehen . . . Wie sieht ein Pferd aus? Braun. Es gibt auch Schimmel . . . Und die Hunde? Wie laufen sie? Wie laufen die Hunde? Und und und und . . .‘ Tausend Gegenstände stürzen vorbei. Zuletzt versucht er krampfhaft, sich vorzustellen, wie das Gepäcknetz in einem Eisenbahnwagen aussieht. Das gelingt ihm nicht. Er schläft darüber ein. Und sieht sofort wieder alles. Strahlender Helligkeit weicht die Finsternis, die, begleitet von einem wild ansteigenden O-Schrei, von langgezogenem U-Gebrüll, von ganz feinem Wimmern neugeborener Katzen, von der Erdkugel hinunterstürzt.

Der bärtige Bauer hockt aufgerichtet in seinem Strohsack und winkt den Sanitäter heran, in ungeheurer Spannung. Er winkt, macht: „Pst!“

„Nun, was denn?“

„Es mußte also nicht abgenommen werden? Aber furchtbare Schmerzen habe ich in der Wade.“

Der Sanitäter hat gehört, daß es Reflexgefühle gibt. Er sagt beruhigend: „Das sind nur Reflexschmerzen.“

Des Bauern Bein mit der schmerzenden Wade liegt schon seit zwei Stunden im Gliederkübel.

„So, nur Reflexschmerzen? Aber die Wade zieht und brennt und reißt . . . So, nur Reflexschmerzen?“ fragt er noch einmal und steigt zu kirchturmhohem Glück empor; denn jetzt weiß er ja ganz bestimmt, daß er sein Bein noch hat. Und sinkt beseligt in Ohnmacht.

Aus der er wieder erwachen wird.

Der fiebernde Stabsarzt kann nicht mehr; er sieht den reglos und langgestreckt auf dem Operationstisch liegenden Menschenkörper doppelt. ‚Und wenn ich den Arm erst heute abend abnehme, stirbt der Mann vielleicht. Und wenn ich den Arm erst morgen früh abnehme, stirbt der Mann sicher.‘ Der Stabsarzt beginnt. Sein kleiner, leichenblasser Unterarzt taumelt schon wie ein leicht Angetrunkener.

Der Stabsarzt schneidet und denkt: ‚Krieg‘.

Er denkt: ‚Dieses Wort „Krieg“ offenbart den gedankenlosen Menschen nicht den billionsten Teil von der unmeßbaren Menge Ungeheuerlichkeiten, die mit dem Worte „Krieg“ bezeichnet werden . . . Das Wort selbst ist schwach wie der Atemzug eines Säuglings; und verglichen mit dem Inhalte des Wortes „Krieg“, ist ein Taifun, der Schiffe und Städte und Inseln verschlingt, nur ein Atemzug eines Säuglings . . . „Krieg“ ist ein Wort von fünf Buchstaben. Und wenn es ohne e geschrieben würde, hätte es nur vier Buchstaben‘, denkt der fiebernde Stabsarzt. Dabei operiert er.

Der Stabsarzt hat in einer klinischen Wochenschrift einen Artikel über Staatenbevölkerungspolitik gelesen: einen statistischen Bericht, in dem als ‚Minimalzahl‘ zehn Millionen Gefallene angegeben sind.

„Als Minimalzahl . . . Minimalzahl zehn Millionen Tote. Das ergibt die Minimalzahl, vorsichtig angenommen, die Minimalzahl . . . nur ja sehr behutsam und vorsichtig“, flüstert lautlos der Stabsarzt sich selbst zu und legt sehr behutsam und vorsichtig mit dem Messer den Oberschenkelknochen frei, „die Minimalzahl von fünf Millionen Amputierten.“

„Uu . . . ! Uu . . . !“

Der Stabsarzt richtet sich auf, betrachtet den nackten Mann, übersieht mit einem Blicke den eingeschrumpften Geschlechtsteil, die abgebundenen Hauptadern, den für die Säge freigelegten Knochen. ‚Sieht aus wie eine Stange des Lebens . . . Er liegt so, still, so langgestreckt. Seine Lippen sind so blau. Himmelblau . . . Und draußen donnern die Geschütze. Donnern seit drei Jahren die Geschütze. Warum? Wann wird man darüber nachzudenken beginnen? . . . Donnern stille und langgestreckt liegende Menschen zu mir in die Metzgerküche herein.‘

Er betrachtet die Sägezinken, die ganz eng beieinander und schon stumpf sind. ‚Knochenmehl vom Arme mischt sich mit dem Knochenmehl vom Bein.‘ Betrachtet den eingeschrumpften Geschlechtsteil. ‚Das Leben schrumpft ein . . . Minimalzahl fünf Millionen Amputierte. Minimalzahl . . . jeden Tag, seit drei Jahren, von früh bis in die Nacht hinein, jeden Tag: sägen, sägen, sägen . . . und wenn das Wort mit e geschrieben würde, hieß es: Segen . . . Säge ich Arme, Beine, Hände ab. Sägte fünf Millionen Beine, Arme, Hände ab. Ich allein, der Stabsarzt von Europa.‘

Er legt, wie der Schreiner an das Brett, den Daumennagel an den Knochen, setzt die Säge an, sägt und rechnet: ‚Siebzig Zentimeter lang ist ein Menschenbein. Der Arm nur sechzig.‘

‚Die Länge der abgeschnittenen Hände, Arme, Beine ineinander gerechnet, ergibt — vorsichtig . . ., sehr . . . vorsichtig . . . sein —, eine Minimaldurchschnittslänge von fünfzig Zentimeter für das amputierte Glied. Fünf Millionen amputierte Glieder mit einer Durchschnittslänge von je fünfzig Zentimeter ergeben zwei Millionen fünfhunderttausend Meter . . . sind gleich zweitausendfünfhundert Kilometer Menschenglied.‘

„Uu . . .!“

‚Der Herr segne und behüte euch Amputierte, er lasse sein Angesicht leuchten über euch und gebe euch seinen Segen, Segen . . . sägen, sägen, absägen. Zweitausendfünfhundert Kilometer Menschenglied absägen . . . Bei der Peripherie von Berlin das Menschengliedgeleise begonnen: die zwei ersten Arme in Geleisespannweite niedergelegt. Dann zwei Beine, dann zwei Arme, dann zwei Beine, Arme, Beine, Arme, zwischenraumlos zusammengefügt, als Geleise gelegt, bis nach Essen. Um Essen herum. Und — vorbei an Dörfern, Städten, vielen Dörfern, bergauf, bergab, Flußläufe, Wälder, Felder entlang — flach nach Berlin zurück und herum, bis die Hände der zwei letzten Arme die Hände der zwei ersten Arme fassen können . . . Ein Geleise von blutigen, brandigen, stinkenden, amputierten, jungen Menschengliedern, durch Schwellen abgeschnittener Menschenhände verstärkt und zusammengehalten. Ein Gliedergeleise, herumgelegt um den Militarismus: ein Menschengliederkranz, der umgelogen wird in einen Lorbeerkranz.‘

„Uu . . .!“

‚Wer fährt auf diesem Geleise? Wer setzt sich diesen Gliederlorbeerkranz aufs Haupt?‘ grübelt der sägende, fiebernde Stabsarzt. ‚Wer? Wer setzt ihn auf? Will ihn am düsteren Ende vielleicht doch niemand aufsetzen?‘

Der Spalt klafft; der Knochen ist durchgesägt. Er rückt das Bein bis ans Ende des Operationstisches, so daß der Soldat plötzlich ein kurzes und ein sehr langes Bein hat. Denn der Stabsarzt sieht den Zwischenraum nicht; er sieht nur noch Beine, Millionen Beine, alle von ihm allein abgesägt. Sieht Farben: Rot, das in Violett übergeht und zu einer gelbumrandeten, giftgrünen Scheibe wird, in deren Mittelpunkt klar und scharf der Gedanke steht: ‚Die Herren, die mit einem Worte, mit einem Wunsche, mit einem Traume, mit einem Gedanken, mit einem Befehle dazu beigetragen haben, daß dieser Krieg kam, müssen an Ketten gelegt werden.‘

Plötzlich weiß er mit lautlos donnernder Gewißheit: ‚Werden an Ketten gelegt werden‘, und beugt sich tief und treu zu seiner blutigen Arbeit hinunter.

Bewegung bei der Tür: acht Krankenträger marschieren hintereinander herein, mit vier Bahren, auf denen zwei ganz stille Männer liegen, ein brüllender und einer, dessen zersplittertes Bein, nur noch durch die Haut gehalten, verdreht am Rumpfe hängt. Die Ferse steht nach oben.

Der Stabsarzt sagt sehr ruhig: „Hier ist kein Platz mehr.“

Der bärtige Bauer erwacht aus der Ohnmacht, hat unerträgliche Schmerzen im Bein, das er nicht mehr hat. Und ist ungeheuer glücklich. Schiebt die Hand vorsichtig unter die Decke zum schmerzenden Beine, greift behutsam an die Schmerzen und greift doch kein Bein.

„Diesmal müßt ihr die Leute in den Tanzsaal hinübertragen.“

Der blonde Soldat hockt aufgerichtet im Bett, bläkt die Zunge lang und blau und keucht. Sein Nachbar kreist den Überkörper, langsam und ununterbrochen. Der O-Schrei platzt.

„Zu Befehl! Aber der Tanzsaal ist überfüllt.“

„Uu . . .!“

Ganz feines Wimmern neugeborener Katzen.

„Uu . . .!“

„Drüben beim Tanzsaal ist ein großes Klosett; legt die Leute ins Klosett.“

Der mit Glück, Schmerzen und Zuversicht, ausgefüllte bärtige Bauer wundert sich über seine Ungeschicklichkeit, das Bein nicht zu finden, das ihm so entsetzlich weh tut. Er greift resoluter an die Schmerzzentrale und langt immer ins Leere. Tastet den wütenden Schmerz der ganzen Länge nach ab und hat dabei ganz unbegreiflicherweise doch die Empfindung, immerzu in die Luft zu langen, trotzdem er den Schmerz gleichsam in der Hand hält.

„Auch das Klosett ist besetzt, Herr Stabsarzt.“

„Uu . . .!“

Der Stabsarzt, tief und treu bei der Arbeit und innerlich erleuchtet von der Gewißheit: ‚Werden alle an Ketten gelegt werden‘, sagt weich: „Meine Kollegen dürfen halt das Klosett nicht benützen; sie müssen hinters Haus gehen.“

Der bärtige Bauer winkt: „Pst!“

„Das sind nur Reflexschmerzen“, beruhigt der Sanitäter.

Ein Lächeln wächst in der Metzgerküche, wächst im Gesicht des ersten Bahrenträgers: „Nicht so besetzt, Herr Stabsarzt. Von Kranken besetzt. Es liegen zehn Kranke im Klosett . . . Überall. Ganz überfüllt.“

Welcher Mensch weiß, woher das Lachen kommt? Der Stabsarzt erinnert sich, daß er bei seiner Konfirmation in dem Moment, da ihm der Pfarrer den Kelch mit dem Blute des Herrn an die Lippen ansetzte, gelacht hat, lachen mußte, in das Blut des Herrn hineingelacht hat.

Der Stabsarzt lacht. Das Lachen donnert unterirdisch in ihm, quirlt zum Halse empor. Und platzt heraus. Er lacht und sägt. Er meckert, brüllt, winselt, lacht in allen Tongraden. Und sägt.

Sprechen kann er nicht. Nur seine Hand, die das Messer hält, sagt: ‚Bitte, abstellen. Stellt nur ab.‘

Der bärtige Bauer sieht plötzlich wie ein Christus aus, schlägt, den Blick noch geradeaus auf die Wand geheftet, die Decke zurück, senkt den Blick. Und sieht, daß da, wo die ungeheuren Schmerzen sind, kein Bein ist. Blitzschnell saust er vom kirchturmhohen Glück herunter, kommt ins Bett zu hocken und glotzt. Glotzt den großen, weißen Verbandstumpf an, der knapp unterm Rumpfe sitzt. In seinem Gehirn ist gar nichts. Nicht der fernste Abglanz eines Gedankens ist in seinem Gehirn. Das Gehirn ist leer. Er gleitet in die Ohnmacht hinein,

Die vier Bahren werden in den Mittelgang gestellt. Verstellen den Mittelgang.

„Ja aber! ja aber!“ schreit der Stabsarzt auf und springt, das blitzende Messer in der Hand, zur ersten Bahre, trennt mit einem schnellen Schnitt das ganz lose hängende Bein vom Rumpfe. „Ja aber! ja aber! Der Mann . . .“ ‚verblutet ja‘, will er sagen, und sagt: „. . . ist ja schon tot.“

Aus den Hauptadern tropft noch das wunderbar rote Blut heraus. „Ist verblutet . . . Den könnt ihr gleich wieder mitnehmen“, sagt der Stabsarzt, reicht dem Sanitäter das Bein. Und wird plötzlich zur Karussellachse der Welt, die sich schwankend um ihn zu drehen beginnt. Farben kreisen. Grün herrscht vor. Vorbei gleiten der Pfarrer mit dem Kelche, der bärtige Bauer, der Gliederkübel, das vierte Bett. Die Geschütze donnern. Die lang und blau gebläkte Zunge gleitet vorbei und verlängert sich aus sich selbst heraus, wird ungeheuer lang, saust aus sich heraus und vorwärts, unbegreiflich schnell hinaus an die Peripherie der Welt, rundet sich zum weltumspannenden Menschengliederkranze, in dessen Mitte ganz allein der Stabsarzt steht und schwankt und sanft und weich in Ohnmacht gleitet. Alles gleitet.

„Uu . . .!“

 

Der Lazarettzug mit Irren, die durch das Grauen oder durch die Schußverletzung in das gewaltige Heer der Lebendig-Toten eingereiht worden sind, mit Blinden, deren feste Arbeitshände sich in kraftlose, durchsichtige Krankenhände verwandelt haben, mit Amputierten, mit Schwerverwundeten, kriecht langsam durch die Landschaft, bohrt sich ganz langsam vorwärts in die heimatliche Landschaft hinein. Frühherbst.

„Zweiundzwanzig“, sagt das Kind, das an der Landstraßenschranke steht und dem Zuge nachsieht.

Es sind nur zwanzig Wagen; das Kind hat die Lokomotive und den Tender mitgezählt. In jedem Wagen zwanzig Kranke, langgestreckt und unbeweglich in den übereinander befestigten Betten.

Die Blinden stehen im Laufgang an den Fenstern und schauen hinaus in die wunderbare, schimmernde Herbstlandschaft. Sie fühlen die Sonne und sehen die Finsternis.

Die Irrsinnigen sind beisammen in einem Wagen. Eine Bank an den vier Wänden entlang. Genügend viel Sitzplätze. Aber alle Irren hocken am Boden, in einem dreifachen Kreise, und lachen, lächeln, schwätzen, schweigen, schütteln schlau den Kopf. Nur einer steht. Er betrachtet die Wand. Er betrachtet seit sechzig Stunden die Wand.

Im Wagen hinter dem Tender ist die Apotheke und das Operationszimmer, mit dem Zinkblechtisch in der Mitte. Im vorletzten Wagen schlafen die Sanitätssoldaten. Im letzten Wagen des Zuges liegen die, die während der Reise verendet sind. Der letzte Wagen füllt sich allmählich.

Niemand weiß den Grund, auch der Stabsarzt weiß nicht, weshalb die Irren, die kurz vorher noch lachend und schwätzend in dreifachem Kreise am Boden gehockt sind, jetzt ganz still an den vier Wänden entlang auf der Bank sitzen. Einer dicht neben dem andern. Aufrecht. Schweigend. Blicklos. Alle Hände liegen auf den Schenkeln. Ernste Puppen.

Ein Irrsinniger, ganz unverwundet, ein dreißigjähriger Mensch, in dessen ernstem Gesicht noch die Züge früheren Geistes zu sehen sind, steht auf, streckt ein geöffnetes, leeres Streichholzschächtelchen dem Stabsarzt hin und sagt: „Sehn Sie, hier sind die Augen meiner Mutter. Meine Mutter hat sich um mich die Augen herausgeweint und sie mir in diesem Schächtelchen zugeschickt . . . Braune Augen. Sie hat sie sich herausgeweint.“

„Ja, das stimmt“, sagt der Stabsarzt, der in vielen ‚Metzgerküchen‘ und ‚Tanzsälen‘ drei Jahre lang knapp hinter der Front amputiert hat und, von einem Plane, von einem Entschlusse, von einer scharf umrissenen Absicht plötzlich erleuchtet, sofort nach dem Erwachen aus der Ohnmacht Urlaub verlangt und erhalten hat.

Der Stabsarzt liebt die Nebenwege und Winkelzüge nicht. Nach seiner Meinung sind das herrschende europäische Winkelzugsystem, die Halbheiten, der Lügenknäuel mit schuld am Kriege.

‚Wenn mich der Oberst fragt, warum ich Urlaub haben will, antworte ich nicht: Weil ich überarbeitet bin, sondern ich sage zu ihm: Ich habe drei Jahre lang Soldatenbeine und -arme abgesägt; jetzt habe ich die Absicht, dafür zu wirken, daß Soldatenbeine nicht mehr abgesägt werden. Dazu muß ich ins Land zurück.‘

In zwei Ecken erheben sich ganz gleichzeitig zwei Irre; sie hocken auf den Boden nieder. Und unversehens steht der Stabsarzt wieder im Mittelpunkt eines dreifachen Kreises von Irren, die am Boden hocken, lächeln, lachen, schweigen, schwätzen. Einer schreit lustig und ausdauernd „Bö!“ zur Wagendecke empor. Dabei schließt er die Augen; seine Nase bekommt Runzeln, und der gespitzte Mund wirkt klein und rund. „Bö!“

Der Stabsarzt wird von der Alarmglocke aus dem Wagen der Irrsinnigen herausgerissen. Und springt, schneller als der Zug fährt, in der Fahrtrichtung den Gang vor, in einen Wagen. Und hinein in die Blutlache am Boden.

Der von den Schmerzen auf die Pritsche festgenagelte, reglos liegende Soldat kann nur mit seinen Augen den Stabsarzt aufmerksam machen auf den Kameraden, für den er geläutet hat.

Der Kamerad hat den Verband von seiner zerfetzten Hüfte heruntergerissen, ist dabei aus dem Bett gestürzt, macht ein sehr befriedigtes Gesicht und ist schon tot. Er wird, vorbei an den Blinden, die fragend und tot blicken, hintergetragen in den Leichenwagen. Ein armlanger, scharfzackiger Fetzen von einem großen Geschoß hat ihm die rechte Bauchwand eingedrückt, die Hüfte zersplittert und die Hoden weggerissen. Zehn Tage und zehn lange Nächte hat er gebraucht zu dem Entschlusse, den Verband herunterzureißen.

Alle liegen, von den Schmerzen auf die Pritschen festgenagelt, reglos wie Tote. Jeder fühlt dem nächsten Stoß entgegen, der bei jeder Schienenverbindung erfolgt. In jeder Sekunde ein Stoß, hinein in die Schmerzzentrale.

Das schmale, lange, rollende Spital, gefüllt mit dickem Karbol- und Wundgestank, tastet sich, von frischer Luft umspielt, durch die schwerfarbige, schimmernde Herbstlandschaft, vorüber an den Grenzdörfern, deren Bewohner an den Schranken stehen, Hüte und Taschentücher schwenken, „Hurra!“ schreien. Viele Militärzüge, mit Truppen, die an die Front oder in Urlaub fahren, passieren diese Gegend.

Der Sanitäter steht am Fenster und schüttelt den Kopf, winkt mit der Hand ab; die schon zum Hurraschreien aufgerissenen Münder bleiben rund und lautlos offen. Langsam kriecht der Zug vorüber an den Verstummten, die nur die Hinterkopfe der liegenden Soldaten sehen. Die Kolbenstange der Lokomotive steigt, greift vorsichtig und behutsam wie die Hand eines Taschendiebes vor, sinkt, zieht zurück, stiehlt sich vor. Langsam.

Der Stabsarzt kann die Gefühle der Dorfbewohner am Aussehen und an der Lage des Dorfes erkennen, an der Profillinie der umliegenden Wälder und Hügel; daran, wie das Dorf in die Landschaft hineinkomponiert ist, erkennt der Stabsarzt: ‚Die werden nicht hurra schreien.‘ Der Stabsarzt macht über viele Gedankenzwischenglieder weg einen Sprung zu dem Gedanken: ‚Die Landschaft ist das Vaterland für den Menschen, die Heimat; nicht der Staat.‘

‚Die schönen Felder, die schönen Felder, oh, das Vaterland‘, denkt der Soldat, der für den Kameraden geläutet hat und hinaussieht auf die Felder, die, langsam und sanft einen Bogen beschreibend, an seinen Augen vorüberziehen. Er hat seit langer Zeit die heimatliche Erde nicht gesehen. Und in die Weichheit seines Herzens brennt sich tief das unabänderliche Unglück ein: „Was sind für mich die schönen Felder, die Wälder, das Vaterland . . . Mein Arm, den ich nicht mehr habe, ist mein Vaterland . . ., das ich nicht mehr habe.“

Und der Bauer, im Bett über ihm, weiß, daß kräftige Beine vor Müdigkeit singen, wenn man einen kilometerlangen Acker Furche neben Furche umgelegt hat, und weiß, daß er nie mehr pflügen wird, da er nur noch ein Bein hat.

‚Schön, schön, wunderbar, aber nicht für mich‘, ist der Gedanke, der in jedem Wagen von zwanzig auf Lebenszeit ins Siechtum gestellten Soldaten gedacht wird, von dreihundertfünfzehn Soldaten gedacht wird. Fünf sind während der Reise gestorben. Und die fünfundzwanzig Irren leben auf einem anderen Planeten.

‚Das Unikum‘, ein Soldat, dem beide Arme und beide Beine fehlen, auch dieser Rumpf denkt noch; er denkt: ‚Schön, schön, wunderbar, aber nicht für mich.‘

‚Was nützen mir die schönen Auen.‘ Diese Verszeile, die am Morgen ein irrer Soldat in den Wagen hineingerufen hat, entsteht immer wieder im Gehirn des Unikums. Meistens schläft er; er schläft ein mit der Verszeile: ‚Was nützen mir die schönen Auen.‘

Er ist nicht der einzige, dem der Stabsarzt beide Arme und beide Beine amputiert hat; aber alle anderen sind gestorben. Das Unikum ist am Leben geblieben.

Der Stabsarzt schlägt die Decke zurück, betrachtet das Unikum und denkt: ‚Wie schmal ist der Zug im Vergleiche zu der weiten Breite der Landschaft, durch die er fährt . . . deshalb fährt auch die Landschaft nicht durch den schmalen Zug, sondern der Zug fährt durch die breite Landschaft.‘

Derartig überspitzte Gedanken hat der Stabsarzt oft in der letzten Zeit. Mit ihnen will er die Realität festhalten. Die Realität, die er im Laufe von drei Jahren, ausgefüllt mit Gliederabschneiden, in einer solchen Furchtbarkeit kennengelernt hat, daß er oft stundenlang an das Vorhandensein der Realität nicht glauben kann. Aber er rechnet mit ihr, will mit ihr rechnen. Seine Absicht, wegen der er Urlaub genommen hat, veranlaßt ihn, sich die Realität nicht entgleiten zu lassen. Er will die furchtbare Realität in den Dienst seiner Absicht stellen.

Deshalb erlöst er auch das Unikum nicht mit einer Dosis Morphium, obwohl er, der Träger eines tiefen, von eigener Meinung diktierten Verantwortungsgefühls, schon viele, die nicht so elend waren, durch Morphium erlöst hat.

Knapp unter den Schulterblättern, knapp unter dem Rumpfe starren die Gliederstumpfe. Rosaviolett. Nach obenhin braungrüne Ränder. Die Spitzen, zusammengedrehte Mißgewächse aus Muskelsträngen und Haut, sind grau.

Wie der Säugling im Kinderwagen, ist der Rumpf auf die Bettpritsche festgeschnallt. Dem Rumpfe wird das Gesicht gewaschen. Dem Rumpfe wird die Nase geputzt. Der Rumpf wird gefüttert. Der Rumpf wird auf das Klosett gesetzt. Wird dabei gehalten. Der Rumpf hat noch einen Geschlechtsteil. hat Augen, in denen die Seele steht, hat einen Mund, mit dem er sagt:

„Bitte, Herr Stabsarzt, sagen Sie mir, wie soll ich leben? Was soll ich tun? Was soll ich tun?“

‚Diese Frage soll einer von den Herren beantworten, die an Ketten gelegt werden‘, denkt der Stabsarzt. Und schweigt; denn er weiß die Antwort nicht.

„Hurra . . . a!“

Der langgezogene Schrei eleganter Sommerfrischler, die an der Schranke stehen, trifft die Ohren von dreihundertfünfzehn still und langgestreckt liegenden Schwerverwundeten, trifft die Ohren des Rumpfes.

„Was soll ich tun, Herr Stabsarzt?“

Der Sanitäter steht am Fenster, schüttelt den Kopf, versucht, mit der abwinkenden Hand die Begeisterungsschreie in die Münder zurückzudrücken.

„Hurra . . . a!“

Der Stabsarzt zieht den Blick von dem Stück angeschnallten Menschenfleisch zurück; er sieht die weiche, schmachtende Hüftlinie der schönen Blondine, deren hochgestreckte Hand mit dem Spitzentüchlein winkt, vorübergleiten. Und weiß die Antwort nicht. ‚Diese entzückende Körperlinie . . . Wie schön. Wunderschön. Aber dumm, so dumm.‘

„. . . a!“

Die behutsam vorgreifende Kolbenstange der Lokomotive zieht den Zug am anhaltenden Schrei vorüber. Langsam.

„Schmeckt Ihnen das Essen?“ fragt der Stabsarzt. Und wendet sich weg. Denn er fühlt wieder, daß ihm der Glaube an das Vorhandensein der Realität entgleiten will, beim Anblick des Rumpfes.

„Zu Befehl, Herr Stabsarzt!“

‚Zu Befehl! . . . Das ist nicht möglich. Nicht möglich! Daß er zu Befehl gesagt hat‘, schreit innerlich der tief entsetzte Stabsarzt. ‚Nicht möglich!‘ . . . Der seelenmordende Herrengeist, der Geist der Knechtschaft, Disziplin, Unterordnung und der falschen Pflichterfüllung, der selbst diesen Rumpf noch sagen läßt ‚zu Befehl‘, hat den Krieg losgebunden.

Der Stabsarzt denkt noch brennend scharf, daß dieser höllische Ungeist, hinter dem schuldig und starr und gewaltig und gierig das Kapital steht, mit Halbheiten, mit kleinen oder großen Reformen nicht überwunden werden kann; und wird von einer Empfindung, die vom tiefsten Urgrunde des Seins aufsteigt, plötzlich zum Rumpfe zurück und auf die Knie gerissen.

Unbewußtes Zartgefühl veranlaßt ihn, die Hände nicht zu gebrauchen, da ja auch der Rumpf Hände nicht gebrauchen kann in dieser großen Sekunde, in der das Wort „Bruder“ wiedergeboren, neugeboren, der Wahrheit und der Menschheit zurückgegeben wird vom Stabsarzt, der, die Hände auf dem Rücken, die Augen, die Stirn, die Wangen des Rumpfes küßt und in wilder Hingabe „Bruder“ sagt. „Wir sind Brüder. Du und ich sind Brüder.“

Zwanzig erschütterten Soldaten wird das verarmte Herz berührt von dem Worte „Bruder“. Nicht mehr erhofftes Glück steht groß im Wagen.

Der Stabsarzt steht in der Mitte und verkündet allen das neue, das wieder erneute Gesetz der Liebe: „Ich sage euch: wir sind Brüder.“ Er sagt das Wort laut, nicht weich. Die Wahrheit klingt im Tonfall seiner Stimme.

Finsternis reißt entzwei; die Morgenröte der neuen Zeit steigt, trifft und verklärt die zwanzig Soldatengesichter.

Verkünde einem zu lebenslänglichem Zuchthause Verurteilten, der schon zehn Jahre, Nacht um Nacht, dreitausendfünfhundert lange Tage in der gleichen Zelle geatmet hat und der weiß, daß er diese Zelle nie verlassen wird, verkünde ihm plötzlich, er sei frei, könne gehen, könne jetzt sofort hinausgehen in die Freiheit, so wird er noch eine halbe Stunde in seiner Zelle bleiben wollen. Das plötzliche Glück ist so ungeheuer groß, daß es ihn zu verbrennen droht.

Auch der Rumpf wagt nicht, sich dem Glücke sofort zu überlassen. Schon allein die ihn plötzlich durchfließende Gewißheit, daß auch für ihn ein Glück noch möglich ist, kann seine Seele verwirren. Er wagt noch nicht, das Wort „Bruder“ zu flüstern, und weiß, daß er es flüstern, sprechen, beten wird. „Bruder.“ So schläft er ein. Und träumt sofort die wunderbare Antwort, die ihm der Stabsarzt gab auf die Frage: „Was soll ich tun? . . . Bruder.“

Der revolutionäre Geist der Liebe durchdringt den Zug, dringt in alle Wagen, in die Herzen aller Soldaten ein. Und wird von der Lokomotive langsam in das Innere des Landes getragen, der Absicht des Stabsarztes zu dienen, der im Gang bei den Blinden steht, vor einem Soldaten, der kein Gesicht mehr hat.

Von der Stelle, wo das Kinn war, bis zum Haaransatz bei der Stirn: — eine Fläche. Oben verbreitert durch die Ohren. Kein Mund. Keine Zähne. Keine Nase. Keine Augen. Alles ist weg. Zwei Löcher, wo die Nase war. Ein kleines, lippen- und formloses, narbiges, schiefes Loch, wo der Mund war. Die Augenlider, die Augenbrauen, die Augen sind ganz weg: eine grauenvolle Fläche, entstellt durch farbige Narben und Mißgewächse aus Haut.

Der Stabsarzt sieht die flache, leere Riesennarbe an und fragt: „Sagen Sie, Lieber, erkennen Sie Ihre Kameraden schon an der Stimme?“

Der Soldat macht eine ungeheure Anstrengung, ein Wort zu formen. Die rote Zungenspitze durchstößt immer wieder das schiefe, lippenlose Loch. Er gestikuliert mit den Händen.

Jetzt erst erinnert sich der Stabsarzt, daß der Mann nicht sprechen kann, weil er keinen Mund, keine Zähne mehr hat. Und drückt in grenzenloser Liebe die Narbe an seine Wangen.

Der Gefühlssturm, der den Soldaten durchfliegt, wird nicht sichtbar, da der Soldat kein Antlitz hat. In wilder Erregung tastet er nach der Menschenhand, preßt sie. Und steht im Glücke, das nicht sichtbar werden kann.

Der Stabsarzt verkündet den Blinden das neue, das erneute Gesetz.

Herzen ziehen sich zusammen. Krampfhaft. Schmerzlich. Und öffnen sich weit.

Die Alarmglocke ruft. Zusammen mit dem aufgeregt winkenden Sanitäter springt der Stabsarzt in den Wagen der Irrsinnigen hinein.

Das in der Lokomotive über dem Manometer angebrachte Telephon klingelt. Der Lokomotivführer wird hastig aufgefordert, schneller zu fahren und im nächsten Dorfe zu halten.

Ein Irrer hat sich unterm Knie die Sehnen, die Hauptadern, die tieferliegenden Arterien durchschnitten, die ganze Wade weggeschnitzt. Bis zum Knochen. Das Blut strömt. Niemand weiß, woher er die kleine Giletterasierklinge hat.

Alle Irren sitzen dicht nebeneinander an den vier Wänden entlang, reglos auf der Bank. Ernstes Publikum. Der Schwerverwundete wird hinausgetragen. An den Blinden vorbei. In den Operationswagen.

Die Apfelbaumallee gleitet schnell nach rückwärts. Schneller. Saust nach rückwärts. Die Stöße erfolgen schneller, heftiger. Schmerzensschreie werden laut.

Telegraphenstangen, ein vereinzelt stehendes Haus, ein pflügender Bauer, eine Scheune stürzen nach rückwärts. Die weiße Landstraße saust mit dem Zuge.

Der Irre ist schon entkleidet. Liegt auf dem Operationstisch. Wehrt sich wütend. Kann schwer gehalten werden. Donnernd über eine Brücke, Wasser blitzt auf.

Das Blut strömt dick. Wird vom Herzen stoßweise zu den offenen Adern hinausgepumpt. Der Stabsarzt kann die Adern des Wütenden nicht abbinden. Läßt ihn festschnallen. Äthermaske.

Der Turm der Dorfkirche erscheint gleichzeitig mit dem Ertönen des langgezogenen Warnungspfiffes.

Die Mütze des herbeieilenden Stationsvorstandes leuchtet rot auf. Und während der Zug einläuft und, unter Schmerzen für die Verwundeten, heftig stoßend allmählich auf ein Nebengeleise rangiert wird, ist der Stabsarzt schon mitten in der blutigen Arbeit.

Der Zug steht.

Jetzt erst vernehmen die still werdenden Bauernkinder das laute, vielstimmige Stöhnen.

Der Stabsarzt arbeitet hastig. Die obere Gesichtshälfte des Narkotisierten gewährt den Anblick eines friedlich Schlafenden; der ganz schmal geöffnete, starre Mund lächelt ein spitziges, bewußt boshaftes Lächeln. ‚Ich sterbe doch.‘

‚Ich muß das Bein retten . . . Gerade dein Lächeln veranlaßt mich, das Bein zu retten‘, denkt der Stabsarzt, während er mit der Sonde arbeitet, mit der Pinzette die Arterien zurechtlegt in ihre anatomische Ordnung, die Arterien und die Hauptschlagadern abklemmt, die durchschnittene, zurückgeschnellte Sehne hervorzerrt. Schnell, exakt, fast schon automatisch. ‚Wärst du unheilbar irr, dann würdest du mir nicht dieses schadenfrohe Lächeln zeigen können, das deiner Tat so genau entspricht. Bist heilbar. Und kannst deine Beine brauchen!‘

Dabei sieht er, so oft er den Kopf hebt, über die Bauernkinder, die auf den Zehenspitzen stehen und doch nur die blutigen Arzthände sehen können, schnell hinweg und zur Güterhalle, wo eine Menschenansammlung ist, die sich beständig vergrößert: Weiber, Bauern, einige Soldaten, die auf Urlaub sind. Die rote Mütze des Stationsvorstehers. Auf einer Kiste steht ein Mensch und spricht.

Satzfetzen dringen bis zum Stabsarzt herüber.

Ein kleiner Bauernjunge neigt sich zu einem andern, flüstert, deutet mit dem Zeigefinger. Er hat ein Instrument aufblitzen sehen. Sein Mund bleibt offen.

„. . . und wenn im Kriege fremdes Land erobert wird, dann ist das gar keine Ehre, sondern Raub“, hört der Stabsarzt, wundert sich, daß jetzt das boshafte Lächeln verschwunden ist.

„Wenn ein Bauer glaubt, er könne, nur weil er kräftiger ist, einem schwächeren Bauern Land wegnehmen, dann ist er kein Ehrenmann, sondern ein Räuber.“

Der Stabsarzt vernimmt zustimmende Antworten. Und einen lauten Zuruf. Sein Staunen wird zu Befriedigung. Seine Absicht steht groß und ausführbar vor ihm.

„. . . natürlich, da haben Sie ganz recht, natürlich ist der Bauer außerdem noch dumm. Denn er wird gestraft. Muß gestraft werden.“

‚Werden an Ketten gelegt werden.‘

„Es wird einen Prozeß geben. Streit und Haß . . . Ebenso ist es, wenn im Kriege Land erobert wird: Haß, Vergeltung. Ein neuer Krieg.“

‚Ist denn das wirklich eine Frau? Eine Frau?‘ denkt der Stabsarzt und hört sie sagen:

„Mein Mann war Versicherungsagent . . .“

Die Glocke der Dorfkirche beginnt zu läuten, übertönt die weiteren Worte. Der D-Zug saust durch die Station. Der Operierte wird vorsichtig vom Tische heruntergehoben.

Die Art, wie die Bauersleute um die Sprechende herumstehen, zuhören, kommt dem Stabsarzt bekannt vor. ‚Das Ganze sieht improvisiert aus.‘ Der Stabsarzt möchte hingehen. ‚Und vielleicht fünf Minuten lang sprechen . . . Drei Minuten Zeit könnte ich mir vielleicht nehmen.‘

Das Stöhnen der dreihundertfünfzehn Soldaten klingt zusammen in einen Ton. Im Wagen der Irrsinnigen platzt eine Lachsalve.

Der Stationsvorsteher springt von der Menschenansammlung weg zum Lazarettzug: der Schnellzug sei durch; der Lazarettzug müsse jetzt weiterfahren, damit die Strecke frei werde.

‚Tatsächlich, der Vorsteher läuft gleich wieder hin. Interessiert sich.‘ Das freut den Stabsarzt sehr. Jetzt erst erinnert er sich, daß er, wenn der Zug langsam an den Dörfern vorübergefahren war, vor den Kneipen, vor den Kirchen, vor den Rathäusern schon öfters solche improvisiert aussehenden Gruppen herumstehender Bauern bemerkt hat, die aussahen, als warteten sie auf etwas.

‚Hat die alte Ordnung, Zucht und Meinungslosigkeit Risse bekommen? Ist auf unkontrollierbaren Wegen der neue Geist schon bis zu den Bauern gedrungen? . . . Die Bewohner vieler Dörfer haben nicht hurra geschrien, sind stumm und nachdenklich an den Schranken gestanden, im auffallenden Gegensatze zu den noch hurra schreienden Bewohnern der Grenzdörfer.‘

Der Zug hat nach mehrfachem Vor- und Rückwärtsfahren, unter Pfiffen und Pufferstößen und unter Wimmern, Stöhnen und Keuchen der Verwundeten das Hauptgeleise wieder erreicht. Und rollt.

Während der Stabsarzt zurückblickt und sieht, wie der Weichensteller aus dem Hebelhäuschen schnell heraus und auch auf die Gruppe zuläuft, stoßen seine Gedanken vor in die kommende Zeit. Er empfindet das erstemal in seinem Leben, mit einer ihn tief berührenden Feierlichkeit, daß der Gedanke Macht und Wirkung erlangt hat; daß die Untertanen, die bisher als meinungslose, gedankenlose Einzelzellen dem nationalen Riesenuniversalgehirn willen- und machtlos zugeteilt und untergeordnet waren, begonnen haben, sich loszureißen, Einzelwesen mit eigenem Gehirn, eigener Meinung zu werden.

‚Sie beginnen zu denken. Das ungeheure Leid hat die Verkalkung zerbrochen. Der Geist zieht über das Land. Das Alte bricht auseinander, getroffen vom Leide und von der wilden Sehnsucht nach Freiheit. Die einzelnen und das Volk wollen ihr Schicksal selbst gestalten. Der einzelne beginnt zu denken.‘

Mit feierlicher Gewißheit weiß der Stabsarzt, daß der Anbruch des neuen Zeitalters, in dem der Mensch gut sein darf, nahe herbeigekommen ist. Frohlockend fühlt er, daß seiner Absicht, der neuen Zeit, dem neuen Geiste, dem revolutionären Geiste der Liebe zum Durchbruch zu verhelfen, die Ereignisse entgegenkommen.

Damit, wie der Stabsarzt durch den Gang und durch die Wagen schreitet, zu den Verwundeten spricht, sie anblickt, revolutioniert er den ganzen Zug. Das Überzeugende liegt mehr im Tone seiner Stimme und im Ausdruck seines Gesichtes als in den Worten, mit denen der Stabsarzt ohne Haß und ohne Freude den Soldaten beweist: „Die werden an Ketten gelegt werden.“

Augen glänzen. Verehrung und stürmische Liebe empfängt überall den Stabsarzt.

Er bittet zwei Sanitäter, einen hilflosen Krüppel vom Bett herunterzuheben. Der Krüppel soll zeigen, ob er schon laufen kann; er bekommt seine zwei Spazierstöckchen in die Hand. Die Stöckchen sind nur fünfzig Zentimeter hoch. Der Krüppel gewährt den Anblick eines halbgeöffneten Taschenmessers. Der Krüppel ist ein rechter Winkel. Ein Geschoß hat ihm den Rückenwirbel zersplittert. Und der Rückenwirbel ist falsch zusammengewachsen. Der Krüppel kann sich nicht aufrichten. Kann sich in seinem Leben nie mehr aufrichten. Er geht, ein wandelnder rechter Winkel, am Stabsarzt vorüber, wendet sich um, langsam wie eine Kuh, hebt mühsam das Gesicht, fragt den Stabsarzt mit den Augen. Und muß den Kopf gleich wieder sinken lassen: das Gesicht steht wieder horizontal zum Boden. Der Mensch mit den zwei niedrigen Spazierstöckchen sieht aus wie ein vierbeiniges Tier.

Der Stabsarzt überlegt, was er schon während der ganzen Reise überlegte: ob er wagen soll, den Rückenwirbel noch einmal zu brechen und den Mann aufzurichten, damit der Wirbel richtig zusammenwachsen kann. ‚Es ist fast unmöglich, eine tödliche Verletzung des Rückenmarkes dabei zu vermeiden‘, denkt der Stabsarzt. Denkt: ‚Werden an Ketten gelegt werden.‘

Und läßt den Menschenwinkel wieder auf das Bett zurücklegen.

„Und im Grunde sind wir alle Kameraden“, sagt zu sich selbst ein Soldat, der sich vorstellt, daß auf vielen Geleisen von Europa langsam solche Züge fahren, gefüllt mit Krüppeln, Irren, Blinden. „Sie haben uns verwundet, wir haben sie verwundet. Und im Grunde sind wir alle Kameraden.“

Das lange, schmale Spital schiebt sich durch die schon abendliche Herbstlandschaft. Der Stabsarzt muß immer wieder das Wort ‚Auflösung‘ denken, wenn er vom Fenster aus die improvisierten Gruppen herumstehender Bauern sieht. Auch einen mit hinkenden Soldaten untermischten großen Zug von Bauern, dem ein Kruzifix und eine rote Fahne vorangetragen werden, überholt langsam das Spital. An die Realität dieses Ereignisses will der Stabsarzt nicht glauben. Erst die Einzelheiten überzeugen ihn: ein Feldarbeiter, der seine Hacke schultert, eine Ackerfurche entlangläuft und sich dem Zuge der Bauern anschließt; ein beinloser Soldat, der, neben der Fahne, mitkrückt; die lange Staubwolke, die hinter dem Zuge steht.

Der rote Schein der untergehenden Sonne trifft den Zug, das Kruzifix, durchleuchtet rosa die Staubwolke und glühend die rote Fahne.

‚Die Herren trieben die Lüge auf die Spitze: sie befahlen, die Kirchenglocken in Geschosse umzugießen, und die Priester gebrauchten zu diesem Befehle die Worte Gott und Christentum. Sie vergaßen, daß der Untertan begonnen hat, zu denken.‘

Die Hauptstraße eines Städtchens, an dem das Spital vorbeikriecht, ist schwarz von langsam sich bewegenden Menschen.

‚Das Leid zog durch das ganze Volk, ließ sich in jedem Hause nieder. Das Leid entfesselt das Ereignis.‘

Im Stabsarzt läßt sich die Stille nieder, voll und schön wie die Nacht, aus der das Frührot bricht.

Überrascht bleibt er vor dem Wagen der Irrsinnigen stehen: sie hocken nicht am Boden in dreifachem Kreise, sitzen nicht, ernsten Puppen gleich, reglos an den Wänden entlang, sondern gehen alle im Wagen umher, um einander herum, in Schlangenlinien kreuz und quer, beständig und unregelmäßig, meditierend, gestikulierend, den Blick zu Boden gerichtet. Tief mit sich selbst beschäftigt. Der Schein der untergehenden Sonne trifft rot ihre Gesichter.

Ein Irrer wendet sich plötzlich um, geht schnell auf den Stabsarzt zu und sagt: „Jehova sitzt in meinem Bauche . . . Jehova ist eine der Wissenschaft ganz unbekannte Masse.“ Er lächelt den Stabsarzt wohlwollend, mitleidig und mit einem Schein von Schadenfreude an, weil der davon nichts weiß. Hebt die Schultern: „Tut mir leid, eine der Wissenschaft ganz unbekannte Masse.“

Erst als der Stabsarzt den zweiten Alarmruf vernimmt, klingt auch der erste, den er überhört hat, in seinen Ohren.

Der übermüdete Sanitäter, der den operierten Irren bewachen sollte, war sitzend eingeschlafen und zu spät aus dem Schlafe aufgefahren.

Die blutigen Fetzen des Verbandes liegen auf dem Boden, im blutnassen Bett, hängen vom Bein herunter. Fleischfetzen hängen vom Bein herunter. Der Operierte hat die sorgfältige Arbeit des Stabsarztes zerstört. Hat die Fingernägel in die Wunde tief hineingebohrt und alles herausgerissen. Das Herz pumpt das Blut stoßweise zu den offenen Adern hinaus. Der Mann ist bei Bewußtsein und keucht. Das Bein ist verwüstet. Muß amputiert werden.

Der Kranke liegt still, blickt den Stabsarzt wie aus einem tiefen Abgrunde heraus ruhig und müde an. Und sagt plötzlich, langsam und klar: „Lassen Sie bitte. Will nicht.“

Der Stabsarzt bittet zögernd zwei Sanitäter, den Blutüberströmten in den Operationswagen zu tragen.

Und wendet sich um zu einem anderen Kranken, der vorgebeugt auf dem Stuhle sitzt und, mit jedem Buchstaben mehrere Male Atem holend, „Herr Stabsarzt“ zu sagen versucht.

Der Mann hat einen Schuß in den Magen bekommen. Das Zwerchfell ist verletzt. Luft ist in die Brusthöhle eingedrungen und komprimiert die Lunge. Unaufhörliche schwerste Atemnot. Auch wenn er nicht spricht, muß er ununterbrochen in rasender Folge Atem holen. Sein Gesicht ist blau. Er ist total abgemagert. Sieht zum Stabsarzt auf mit einem Blicke, der aus Bitten, Frage und Angst besteht. Und atmet. Und atmet. Schnell wie ein Hund, der einem Automobil nachgerast ist. Er will am Leben bleiben. Sein bittender Angstblick fragt, ob es ihm einmal wieder besser gehen werde.

„Ja, es wird besser werden“, sagt der Stabsarzt. Und denkt: ‚Im Laufe von drei bis vier Jahren . . ., wenn nicht vorher seine Kraft schon erschöpft und seine komprimierte Lunge nicht schon vorher abgestorben ist.‘

Schon oft hat der Stabsarzt überlegt, welcher von seinen Kranken der Beklagenswerteste sei. Und hat sich, wenn er machtlos vor diesem Atmenden stand, der während des ganzen Tages und in den schlaflosen Nächten nie eine Sekunde lang von seiner schweren Not zu erlösen ist, für ihn entschieden.

Und wenn er dann vor dem Rumpfe steht — — —

Und wenn er vor dem Menschen steht, der keine Augenbrauen, keine Augenlider, keine Augen, keine Nase, keinen Mund, kein Gesicht mehr hat — — —

Und wenn er vor dem ‚Rechten Menschenwinkel‘ steht —

Und wenn er im Wagen der Irrsinnigen steht — — —

Langsam kriecht der Zug durch die breite Landschaft in den Abend hinein.

Der Stabsarzt steht vor dem Operationstisch. ‚Das Kniegelenk wenigstens kann gerettet werden‘, denkt er. Und beginnt: klemmt die Hauptadern und die tieferliegenden Arterien ab, zerrt so weit wie möglich die Sehne vor, die unter dem Stumpfe verwachsen und, zusammen mit der Haut und den Muskelsträngen, das Polster für das künstliche Glied liefern soll.

Der langsam fahrende Zug klappert dazu langsam die Melodie von ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, tröpfelt die Melodie in das vergebens widerstrebende Gehirn des Stabsarztes hinein. Er will dem langsamen Tempo des Zuges die Melodie von ‚Nun danket alle Gott‘ unterlegen. Es gelingt ihm nicht. ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ behauptet sich hartnäckig.

Furchtbare Wildheit erstarrt im Gesichte des Stabsarztes. Der Knochen ist durchgesägt. Unterm Knie. Der Sanitäter schiebt das abgesägte Bein zur Seite.

Der Amputierte liegt reglos. Seine Lippen sind weiß.

‚Sein Mund weint . . . Kann denn ein Mund weinen?‘ denkt der Stabsarzt, nimmt die Metallklemmen von den Adern ab, reinigt noch einmal sorgfältig die blutrünstige Innenseite der aufgesparten Haut.

Und während er die Hautlappen und die durchschnittenen Muskelstränge unter dem Stumpfe miteinander verbindet, klappert langsam der Zug weiter sein ‚Deutschland, Deutschland über alles‘. Und zu der Melodie entstehen im Gehirn des Stabsarztes plötzlich von selbst neue Worte, fallen in sein Herz:

„Dunkle, wilde Leidenssphäre
Hüllet die Millionen ein.
Seht das neue Feld der Ehre:
Kampf um Liebe, Recht und Sein!
Die gewaltgen Krüppelheere
Brechen in den Lichtkreis ein
Jener großen, tiefen Lehre:
Menschen werden Brüder sein.“

Eine weithin übersehbare Ebene, die schon in abendblauer Dämmerung liegt. Der Zug schleicht langsam weiter, vorüber an großen Reklametafeln.

Der Stabsarzt denkt: ‚Von allen Seiten kommen die langen, schmalen Spitale ins Land, auf allen Geleisen tragen die Lazarettzüge die Krüppel ins Land. Täglich seit drei Jahren. In alle Städte, in alle Städtchen, in alle Dörfer.‘

Er sieht in der Ferne die niedere, schwarze Silhouette von Berlin. Das ist das Ziel der Reise.

Er will nicht glauben, daß dies die Sonne ist: eine ganz kleine Scheibe, nicht größer als eine halbierte Blutorange, steht tief am gefleckten Himmel krank und düster hinter Berlin.

‚Wie eine tödliche Wunde.‘

„Dunkle, wilde Leidenssphäre
Hüllet die Millionen ein“,

singt der Stabsarzt im Tempo des Zuges und trocknet, den Blick auf Berlin gerichtet, die Hände ab am Tuche, das sich rosa färbt.

 

„Wenn Sie den Vertrag nicht einhalten, gerate ich mit meiner ganzen Familie ins Elend.“

„Das täte mir ja sehr leid, wirklich sehr leid . . . Aber in unserer Branche muß, wie Sie ja wissen werden, mein Vertreter fortwährend mit in der Regel sehr vornehmen und, sagen wir . . . empfindlichen Damen verkehren und unterhandeln. Im Geschäftsinteresse. Er muß diese Damen unausgesetzt mit allen möglichen Feinheiten bearbeiten. Das verlangt nun einmal das Geschäftsinteresse. Es handelt sich in jedem einzelnen Falle um den Gewinn oder den Ausfall von Tausenden. Sehen Sie ein, mein Vertreter muß diesen Damen doch . . . die Hand geben können. Das zum Beispiel ist unbedingt notwendig. Aber Sie können das nicht . . . gut, da Sie ja keine Hände haben . . . Tut mir ja wirklich sehr leid, aber diesen Direktorposten können Sie nicht versehen. Das ist unmöglich.“

„Das mag ja . . .“

„Wirklich unmöglich!“

„. . . vor dem Kriege so gewesen sein, . . .“

„Ganz und gar unmöglich!“

„. . . aber für jetzt, für diese Zeit gilt das sicher nicht mehr. Jetzt ist doch jeder anständige Mensch in dieser Hinsicht rücksichtsvoll. Jetzt stößt sich doch niemand daran, stößt sich doch eine noch so vornehme Dame nicht daran, daß ein Mensch . . . keine Hände hat.“

„Jetzt? Gewiß, jetzt vielleicht noch nicht. Aber — es tut mir ja wirklich sehr leid, Ihnen das sagen zu müssen — meiner Meinung nach wird das nicht immer so bleiben. Es wird nicht einmal allzu lange so bleiben . . . Das Leben geht weiter. Bekanntlich. Und ich brauche für mein großes, erstklassiges Unternehmen einen repräsentativen Vertreter, der im vollen Besitze seiner, sagen wir . . . gesellschaftlichen Fähigkeiten ist. Das begreifen Sie. Ja wirklich leid . . . Eine entsprechende Entschädigung — in Grenzen.“

„Danke. Da bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf den gesetzlichen Rechtsstandpunkt zu stellen. Ihr früherer Vertreter hat, während Sie im Militärdienste waren und bevor er selbst einrücken mußte, einen rechtsgültigen Vertrag mit mir abgeschlossen. Er war von Ihnen ermächtigt, Angestelltenverträge abzuschließen. Der Vertrag ist juristisch unanfechtbar.“

„Also tun Sie mir den Gefallen und reden Sie nicht von Verträgen. Verträge sind nur . . . Papier. Kanzleipapier.“

Auch der verstümmelte Herr erhebt sich. „Darin wird Ihnen kein Richter der Welt, kein objektiver Richter recht geben. Keiner wird sagen, Verträge seien nur Papier.“

„Möglich. Aber, sagen Sie selbst, was kann ich tun? Es handelt sich hier um den exponiertesten, wichtigsten Posten meines ganzen Unternehmens. Halte ich den Vertrag ein, dann wird meine Firma mit mathematischer Sicherheit von der Konkurrenz überflügelt. Und in der Not . . . was tut ein Mensch, der vorwärtskommen will, der etwas erreichen will, sagen wir, ein bestimmtes Ziel erreichen will, was tut der nicht alles in der Not . . . Wir haben in dieser Hinsicht schon ganz andere Dinge erlebt.“

Der Herr ohne Hände fragt noch ganz ruhig: „Und wenn nun alle nach . . . diesem Prinzip handeln würden? Wenn das ganze Geschäftsleben unseres Landes nach dem Prinzip: Verträge sind nur Kanzleibogen, gehandhabt würde?“

Der Kaufmann hebt die Schultern. „Jeder sehe, wie er fertig werde . . . Soweit wie möglich will ich ja gerne die Sache wiedergutmachen.“

„Ich sage Ihnen aber: Verpflichtungen müssen eingehalten werden. Verträge müssen eingehalten werden. Das ist ein moralisches Gesetz, das in ganz Europa sogar zum geschriebenen Gesetze erhoben worden ist.“ Das Gesicht des Verstümmelten wird dunkelrot. „Und ich sage Ihnen: es gibt im deutschen Volke noch Menschen, die das Raubsystem nicht mitmachen. Die unser Volk wieder rehabilitieren werden . . . Auf Kosten der Straßenräuber Ihrer Art.“

„Das ist eine Beleidigung. Ich kann Sie belangen“, schreit der Kaufmann in falschem Zorn.

Der Verstümmelte geht. Sein Schicksal ist das Schicksal der Kriegsbeschädigten.

Hunderttausende werden mit ähnlichen Gründen abgefertigt von den Unternehmern. Hunderttausende — Schlosser, Schreiner, Spengler, Maurer, Schmiede, Bergleute, Handlanger, Taglöhner, Erdarbeiter, Bauarbeiter — verlassen als Abgewiesene, still geworden und hoffnungslos, die Fabriken, die Werkstätten, die Baubüros. In den Arbeitsnachweisen hängen Tafeln, auf denen steht: ‚Für diese Arbeiten kommen nur kräftige, unbeschädigte Leute in Frage.‘ ‚Kräftige, unbeschädigte Leute haben den Vorzug.‘ ‚Für diese Stellen kommen . . .‘

In keinem Berliner Grandhotel sind Servierkellner angestellt, die künstliche Hände haben. Der Anblick einer Kunsthand verschlägt kultivierten Gästen, die fünfzehn Mark für das Diner bezahlen, den Appetit. Sie bezahlen in einem anderen Grandhotel lieber zwanzig Mark für das Diner und lassen sich dafür von gepflegten Händen bedienen, die gewachsen sind. Das weiß der gebildete Hotelier. Aber sein Konkurrent weiß das auch. Der Servierkellner begreift das auch sehr schnell und wird Zuhälter oder Bordellwirt.

Kinder und Frauen, die sich während des Krieges in die Berufe eingearbeitet haben, lassen sich nicht verdrängen, werden von den Unternehmern den Krüppeln vorgezogen. Nur wenn große Aufträge schnell ausgeführt werden müssen und Mangel an tüchtigen Arbeitskräften ist, stellt der Unternehmer Krüppel vorübergehend ein. Auf Akkordarbeit. Die Entlohnung entspricht genau der Leistung. Die Leistung bleibt weit zurück hinter der des unbeschädigten Arbeiters. Der Krüppel wird entlassen, sobald Ersatz für ihn zu haben ist.

Für Sentimentalität ist jetzt nicht die Zeit. Jetzt nicht. Gewaltige Steuern. Atemlose Hetze des Unternehmers nach Verdienst. Sein oder Untergang.

Das Tempo eines Kartonagenarbeiters, der, wenn er das Allernötigste verdienen will, jetzt nicht mehr in zwölf Minuten vierzehnhundertmal, sondern sechzehnhundertmal in zehn Minuten denselben Handgriff machen muß, kann der Beschädigte, auch wenn ihm nur ein halber Finger fehlt, nicht einhalten.

Das Mitleid mit den invaliden Vaterlandsverteidigern fliegt weg. Das Wort des Kaufmanns ‚Das Leben geht weiter‘ schlägt seinen Bogen über die Enterbten des Lebens.

Und gegen die verkrüppelten Kopfarbeiter — Lehrer, Wissenschaftler, Bank-, Magistrats- und Staatsbeamten — holt das Leben von einer andern Seite her aus: junge, streng erzogene Bürgermädchen vertrauen einander freimütig den Entschluß an, Krüppel zu heiraten, um versorgt zu sein, und sich dann an den Gesunden, die selten und nicht zu haben sind, schadlos zu halten. Das werde jeder Mensch begreifen.

Der verstümmelte junge Kaufmann steht noch im kostbar und geschmackvoll eingerichteten Vorraume des Geschäftspalastes. Sieht wie eine jener vornehmen Damen vorfährt, vom Besitzer devot empfangen wird. Und begreift in einer Sekunde, daß das Leben weitergeht. Sein knabenhafter Glaube an die strömende Dankbarkeit gegenüber den tapferen Opfern des Krieges fliegt weg, als er die Verbeugung und das zerfließende Gesicht des Geschäftsinhabers sieht, hinter dessen Rücken das Unternehmen zittert und wackelt und die gewaltigen Steuern und die rücksichtslos strebende Konkurrenz grinsen.

Die heimatlosen, alternden Landstreicher, die Leierkastenmänner, die verkrüppelten Bettler, die an der Hausmauer auf dem Pflaster hocken und den Filz vorstrecken, sind keine aussterbenden Erscheinungen einer alten Zeit mehr, sondern zählen nach Hunderttausenden.

„Ich habe ‚Uu!‘ geschrien. Tag und Nacht ‚Uu!‘ geschrien. Das half mir“, erzählt in der Stadtbahn der verstümmelte Kaufmann einem jungen Burschen.

Der Stabsarzt nennt seinen Namen. Wird erkannt. Und läßt sich die Adresse des Verstümmelten geben. Nichts sonst wird gesprochen. ‚Ist auch nicht nötig‘, fühlen beide.

Es liegt in der leidgesättigten Zeit, daß Dinge, die früher erklärt werden mußten, jetzt als Selbstverständlichkeit ohne Erklärung von manchen Leuten begriffen werden.

Die Absicht, die den Stabsarzt veranlaßt, in Fühlung zu bleiben mit den dreihundertfünfzehn revolutionierten, invaliden Soldaten, die in Berliner Irrenhäusern, Krankenhäusern und zum Teile bei ihren Angehörigen untergebracht sind, führt ihn auch mit dem Kellner zusammen.

Der Kellner sagt unvermittelt: „Uns alle wird man hinrichten . . . vorher.“ Und das kleine Lächeln zeigt seine absolute Bereitschaft zum Sterben für die Idee.

Die Stille steht im Zimmer.

„Sehen Sie“, sagt der Stabsarzt, „das können die Herren heute nicht mehr wagen; sie wissen, daß für jeden Platz, der heute auf diese Weise frei wird, sofort hundert Anwärter da sind, hinter denen Millionen Anhänger stehen. Heute ist das so . . . Auch der mutige Sozialist sitzt nicht umsonst im Zuchthause; dieses Ereignis bohrt in hunderttausend Köpfen.“

Der Zwanzigjährige sagt: „Zum Beispiel könnte man die ganz hartnäckigen Untertanen auch auffordern: gut, stellt euch einmal glatt auf den Standpunkt der Regierung: ‚Kriege müssen sein. Sieg bringt Macht und Reichtum.‘ Und jetzt betrachtet das Resultat: Millionen Tote! Millionen Krüppel! Elend und Leid in jedem Hause! In jeder Familie! Ein ausgehungertes Volk! Syphilis! Tuberkulose! Tuberkulose! Hundert Milliarden Schulden, für die wir, unsere Kinder und Kindeskinder die Zinsen erarbeiten sollen! Und die ganze Welt gegen uns! . . . Und jetzt fragt euch: Hätten zwölf Männer, die aus dem Vertrauen der Massen emporgestoßen, das nicht verhindern können? Nicht verhindern können, daß die ganze Welt gegen uns aufsteht? Besitzen diese Männer aus dem Volke nicht so viel einfache Lebensklugheit, daß sie diesen Krieg und den Zusammenstoß der ganzen Welt gegen uns hätten verhindern können?“

Der verstümmelte junge Kaufmann tritt ein; er kommt von der Unterredung mit dem Besitzer des Geschäftspalastes, erzählt sachlich, was er eben erlebt hat. Und geht wieder.

‚Solche und Milliarden ähnliche Erlebnisse, dazu der Hunger, die phantastischen Steuern und Milliarden andere Erlebnisse‘, denkt der Stabsarzt und denkt an die ‚Metzgerküche‘, ‚ballen sich zusammen . . . Und platzen endlich.‘

Jemand sagt: „Wirklich, eine Sekunde spielt jetzt labil im Raume, schwebt jetzt labil zwischen zwei Ewigkeiten. In dieser Sekunde geschieht der neue Anfang.“

Und der Stabsarzt denkt: ‚Man kann nur auf die Sekunde warten, lauern, in der das Leid so ungeheuer geworden ist, daß das Volk nicht mehr nur leidet, sondern auch darüber nachzudenken beginnt, was und wer dieses ungeheure Leid verursacht hat. Man muß fühlen, wann dieser Augenblick da ist. Dann muß man die Sekunde aufreißen. Den letzten kleinen Stoß geben.‘ Er denkt brennend an die zwischen zwei Ewigkeiten labil spielende Sekunde, der sich die Ereignisse nähern. ‚Vielleicht schon morgen? In einem Monat? In einem Jahre? In einer Woche? . . . In einer Woche?‘

Der Zwanzigjährige bemüht sich, den Gedanken zu formulieren, daß die Bewegung nicht vom Hunger — „wenigstens nicht vom Hunger allein“ — ihren Antrieb bekommen dürfe. „Das ist nicht durchgreifend genug und reicht nicht weit . . . Dreht sich ins Alte zurück.“

„Der Mensch ist gut“, sagt der Kellner. „Das Gute im Menschen und das unermeßlich furchtbare Leid werden die Bewegung verursachen.“

‚Die Leidtragenden‘, denkt der Stabsarzt, denkt an die zweitausendfünfhundert Kilometer amputiertes Menschenglied.

Und der Kellner sieht die Agentenwitwe, die fanatisierten Kriegswitwen. Er sieht die Mutter, die den gekreuzigten Sohn dem gewaltigen Zuge der Mütter voranträgt.

Alle schweigen. Alle glauben an die Sekunde.

Und plötzlich gewähren alle den Anblick von zertrümmerten Kindheiten, von seelisch restlos erschöpften Menschen, denen nichts mehr geblieben ist als ihre Idee und der Ausblick in die nahe Zukunft.

Da tritt dieser Mensch ein, über den ein Wort auszusagen, dessen Namen zu nennen, keine Tortur der Welt von den im Zimmer Versammelten erzwingen kann.

Und draußen in den Straßen der Millionenstadt, in allen Häusern aller Städte, in allen Dörfern arbeitet das Leid, rundet sich die Zeit, rollt der Sekunde entgegen.

Massenstreiks, nicht nur vom Hunger verursacht, entstehen von einem Tage zum andern, brechen aus, brauchen nicht gemacht, nicht organisiert zu werden. Sind da: Plötzlich legen Hunderttausende das Werkzeug hin. Trotz des raffiniert und glänzend organisierten Zwanges, ruhen die Maschinen.

Aus jedem Fenster jeden Hauses schaut dunkel das Leid heraus. Es gibt keinen Pflasterstein mehr, der nicht schon vom Leide berührt worden ist. Denn es gibt keinen Menschen mehr, den das Leid nicht schon getroffen hat. Und verwandelt hat.

Und das Ungeheuerste wird zum Ereignis: es kommt vor, daß man auf der Straße Menschen begegnet, denen man ansieht, daß sie nicht nur leiden, sondern auch . . . denken.

Der Stabsarzt, immer unterwegs, von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Krüppel zu Krüppel, blickt auf der Straße die Menschengesichter an und denkt: ‚Der Geist bricht los. Und wo der Geist losbricht und Macht und Wirkung erlangt, gehen die Herren der Gewalt von selbst . . ., wenn sie klug sind.‘

 

Seismographen, die ausschlagen, noch bevor das Erdbeben Ereignis ist, gibt es nicht. Es gibt Seelenseismographen, Menschen, die fühlen, wann die Sekunde da ist, in der das verhärtete, versteinerte Leid eines ganzen, niedergehaltenen, unermeßlich gequälten Volkes plötzlich in Fluß gerät und die Dämme des organisierten Zwanges, der Gewalt, der Lüge, der Autorität, der falschen Pflicht sprengt.

An diesem Tage reißt der Stabsarzt die erste Sekunde des neuen Zeitalters auf:

mit einem Krüppelzuge, der schon früh um neun Uhr aus zwanzigtausend amputierten Soldaten besteht.

Eine halbe Stunde später fünfzigtausend; das Leid schmettert die niedergehaltenen, plötzlich fanatisierten Arbeitermassen in den Zug hinein. Jedes Lazarett am Weg wird vom vorüberwallenden Krüppelzuge ausgesaugt.

Blinde, die Hand auf den Schultern der Armlosen. Irre, die ernst und schweigend, aufgeregt sprechend, gläubig lächelnd, mitgehen. Beinlose in Selbstfahrern. Zwischen Krücken rhythmisch baumelnde Soldatenkörper. Hinken der Invaliden. Stampfen der Stöcke, Krücken und Kunstbeine auf dem Asphalt.

Ein grauer Zug. Stiller Zug. Endlos. Langsam durch die Straßen. Nicht einem Ziele zu. Sie bewegen sich im Ziele. Tragen das Ziel in sich. Sind selbst das Ziel: denkende Seelenträger.

Sie sprechen nicht. Beratschlagen sich nicht. Das verlorene Augenlicht, die Gliederstumpfe, der entschwundene Verstand, das losgebrochene Leid des ganzen Volkes spricht: lehrt alle leiddurchseuchten Zuschauer, Spaziergänger und Geschäftigen in einer Sekunde das Abc: ‚Einander zu erschlagen, einander zu zerfetzen, ist der Sinn des Lebens nicht.‘

Bei den Zuschauern platzt die dünne Haut. Ekstase flammt. Schreie steigen. Die Wahrheit gerät in Fluß. Die Seele tagt. Und reiht die Träger der befreiten Seele ein in den Zug.

Kein Mensch bleibt zurück. Die durchkrückten Straßen sind leergesaugt.

Kleine Trupps stoßen aus den Nebengassen im Laufschritt auf den Zug zu.

Siebzig Fensterausschnitte eines Lazaretts, dicht ausgefüllt mit den Köpfen heißblickender Soldaten, werden plötzlich siebzig leere, schwarze Löcher: und dreihundert Krüppel und Invalide, noch in der blauweißgestreiften Anstaltskleidung, humpeln, hinken, schwanken, krücken mit dem Zuge.

Kinder, auf dem Wege in die Schule, verlängern den Zug. Verzweifelte, auf dem Wege zur Kirche, verlängern den Zug. Die Bewohner der engen Gassen, in denen der Gestank der Armut steht, verlängern den Zug. Aus den Parterrefenstern einer Fabrik springen die Arbeiter heraus.

Zwei Regimenter siebzehnjähriger Infanteristen, auf dem Wege zum Religionsunterricht, werden geschluckt.

Dem Zuge voran fährt langsam ein flacher Lastwagen, auf dem sonst mehlgefüllte Säcke transportiert werden. Zwölf kräftige Männer, die zusammen fünf Arme und sieben Beine haben, stehen und sitzen auf dem Wagen. An der Längsstange, an der sonst das zum Schutze für das Transportgut bestimmte Segeltuch befestigt ist, hängen große, farbige Papierlampions. Blau. Rot. Grün. Violett. Rot. Ein Reihe schaukelnder, erleuchteter Papierlampions. Auch die Sonne leuchtet.

Der Atmende, dem ein Geschoß den Magen und das Zwerchfell verletzt hat, ist um acht Uhr früh verendet. Sein noch uniformierter Leichnam sitzt neben dem Kutscher auf dem Bock. Die angebundene Leiche wackelt. Das Gesicht ist weißlich-grün. Die toten Augen sind offen.

Von der Stange, an der die leuchtenden Papierlampions schaukeln, hängt ein Seil herunter; und in der Schlinge, die unter den Armen um die Brust herumgelegt ist, hängt der Soldat, der kein Kinn, keinen Mund, keine Nase, keine Augen, kein Gesicht mehr hat. Links von ihm hängt ein Seil herunter, das den ‚Rechten Menschenwinkel‘ hält. Er stützt sich auf seine fünfzig Zentimeter hohen Spazierstöckchen. Die Asphaltstraße gleitet vorüber unter seinem Gesicht, das der Krieg horizontal gestellt hat.

In der Mitte hockt der Rumpf erhöht auf einem thronartigen Aufbau mit Rückenlehnen, an welcher der Rumpf festgeschnallt ist. Der Rumpf ist nackt. Eine Infanteriemütze sitzt schief auf seinem Kopfe. Die inkarnierte Liebe lebt in seinen tiefen, ruhigen Augen.

Untertanen, die ihn erblicken, bekommen weiße Lippen, erleben die Sekunde. Menschen, die ihn erblicken, brüllen auf und brechen brüllend in die Knie. Kinderhänden entfallen die kleinen Spielzeug-Degen, das Schießgewehrchen aus Blech. Elegante Damen brechen im Weinen zusammen und erheben sich als Magdalenen.

Jesus Christus allein hat, als er am Kreuze hing und für die Menschheit starb, im Leiden so tiefstes Glück der Liebe empfunden, wie der nackte, von farbigen Lampions beleuchtete, auf den Thron des Krieges festgeschnallte Rumpf empfindet.

Schutzleute erbleichen, erlahmen, erleben die Sekunde. Sein Anblick saugt die Straße leer. Saugt die Menschen aus den Häusern heraus. Aus den Ladengeschäften heraus. Aus der Lüge heraus. In die Wahrheit, in die Liebe hinein.

Es gibt keinen Soldaten, der den Befehl, auf den Rumpf zu schießen, ausführt. Die Division, die hineinschießt in den Zug der Krüppel, in den Zug der Kameraden, gibt es nicht.

Die Rolläden der Geschäfte, an denen der Zug vorüberwallt, rasseln herunter. Ladnerinnen, Hausdiener, Liftjungen schließen sich an. Staunende Kommis zögern, begreifen das Ereignis, daß die vom Leide durchstürmten Bewohner der Millionenstadt in Bewegung geraten sind, und schließen sich an.

Der Zug schließt die Werkstätten, schließt die Büros, schließt die Geschäfte, schließt die Fabriken. Der Zug zieht durch lange Geschäftsstraßen, in denen er noch nicht gewesen ist. Und doch sind alle Rolläden schon heruntergelassen. Das Ereignis fliegt dem Zuge voraus. Es gibt in der ganzen Stadt keinen Menschen mehr, dessen Seele nicht schon berührt worden ist von dem Ereignis.

In den Vorstädten bilden sich schnell marschierende Züge, die zum Hauptzuge stoßen.

Aus den letzten Fabriken brechen die Arbeiter aus: Fanatismus in den ölverschmierten, rußigen, bleichen Gesichtern.

Dieser Mensch, der zum Kellner ins Zimmer getreten ist, spricht zu den Arbeitern. Und deutet auf den Wagen, von dem der Rumpf pyramidisch aufsteigt als nacktes Symbol des Krieges.

Gewaltige Züge leiddurchtobter Mütter, Kriegswitwen, Väter, Bräute stoßen im Eiltempo durch die Menge, lösen sich auf, bilden sich neu.

Die Bekenner der Wahrheit verlassen die aufspringenden Zuchthauszellen, finden den Zug, geführt von dem einen, dessen Namen die ganze Menschheit kennt und ehrt: Liebknecht!

Die breiten, unübersehbar langen Asphaltstraßen sind zu schmal und zu kurz für den Zug. Der Zug schwillt von Sekunde zu Sekunde. Strömt über. Steht. Ist kein Zug mehr. Alle Straßen stehen voll Menschen.

Die entfesselten Bewohner der Millionenstadt stehen.

Plötzlich fliegt die Nachricht von Herz zu Herz, daß auch in den großen Provinzstädten das Leid geplatzt ist und die Menschen zusammengeschweißt hat in Züge von Frauen, die ihre Männer, von Müttern und Vätern, die ihre Kinder, von zahllosen Kindern, die ihre Väter, von Soldaten, die ihre Glieder, von Blinden, die das Augenlicht, von Irren, die den Verstand verloren haben.

Das ganze vergewaltigte Volk steht.

Die uniformierte Leiche des Atmenden auf dem Bocke glotzt tot und wackelt. An seinem Seile schwankt rhythmisch der rechte Menschenwinkel. Der Krieg ist plakatiert auf der Riesennarbe, die an der Stelle des Menschengesichtes grinst. Der nackte Rumpf thront erhöht und blickt die Menschheit an.

Hingabe reißt die Untertanen hoch ins Menschentum. Leidausströmende Freiheitsschreie ordnen sich zu Liebesgesängen. In den Gesängen der Liebe pulst die Ekstase der Verbrüderung und Freiheit.

Die vom Blitz der Liebe getroffene, erleuchtete und dem Zwange entrissene Militärwache des Gebäudes, in dem der Herr und alle Machthaber versammelt sind, wird aus der Wachstube herausgesaugt und geschluckt vom Revolutionsheere der Kameraden, in deren Augen die Freiheit brennt.

Dieser Mensch, der zum Kellner ins Zimmer getreten ist, geht ganz allein durch das Tor; In das Gebäude hinein.

In dieser weißen Sekunde wird es vor dem Gebäude totenstill.

Die Stille wirft Wellen, breitet sich aus; eine Bewegung zieht über den Platz:

die Menge, die Menschheit steht, steil durchstoßen und im Tiefsten berührt von dem Triumphe, das zukünftige Geschehen in das Zeichen der großen Liebe gestellt zu haben, und blickt empor zum Fenster, an dem, neben dem Herrn in Uniform und den Gesichtern der Machthaber, der Mensch erscheint und herunterdeutet:

Der Atem setzt aus.

Der Mensch tritt vom Fenster zurück. Die Gesichter verschwinden. Die Uniform verschwindet.

Verschwindet aus der Welt.

Minuten später telegraphieren die vor den Morseapparaten sitzenden Beamten, die kurz vorher noch Bekanntmachungen, Erlasse, Befehle, Zwangsverordnungen in das gemarterte Volk hineingestoßen haben, die Namen der neuen Männer: den Aufstieg der Freiheit und der Liebe ins Land.






End of the Project Gutenberg EBook of Der Mensch ist gut, by Leonhard Frank

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